Erziehung und Demokratie: Europäische, muslimisch und arabische Länder im Dialog 9783050062303, 9783050046471

Demokratische Lebensbedingungen sind nur möglich, wenn Menschen mit Hilfe von Erziehung und Bildung über die Fähigkeit v

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Table of contents :
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Inhalt
Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain     7
Zukunftsfähige Bildung in Demokratien: Globalisierung und Di
I. Demokratie, Politik, Öffentlichkeit
Politik, Gerechtigkeit und Erziehung
Menschenwürde und Demokratie
II. Religion, Politik, Bildung
Islam, religiöse Bildung und Politik in der modernen Welt
Bildung und das Hindernis der Tradition Zur Lektüre von Abd
Den Koran in Europa lehren – als europäischen Text
Förderung der Demokratie in der arabischen Welt
Veränderung der Bildung für eine Veränderung durch Bildung
Politik und Bildung im heutigen Algerien Der Blick auf ein s
Erziehung, Religion und Politik. Das Beispiel von Ibn Khaldu
Die Philosophie der Bildung und ihre politischen Implikation
Dozenten-„Evaluierung“ und die Universität Partizipation und
III. Bildung, Diversität, Partizipation
Christoph Wulf  271
Friedenskultur und Erziehung zum Frieden Perspektiven für ei
Diversität unterrichten und lernen
Eine erzieherische und politische Herausforderung
Demokratische Bildung. Perspektiven einer Pädagogik der Teil
Danksagung  321
Autorinnen und Autoren  323
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Erziehung und Demokratie: Europäische, muslimisch und arabische Länder im Dialog
 9783050062303, 9783050046471

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Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain (Hrsg.), Erziehung und Demokratie

Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain (Hrsg.)

Erziehung und Demokratie Europäische, muslimische und arabische Länder im Dialog

Diese Publikation wurde vom Auswärtigen Amt, der Deutschen UNESCOKommission und der Freien Universität Berlin gefördert.

ISBN

978-3-05-004647-1

© 2009 by Akademie Verlag GmbH. Printed in the Federal Republic of Germany. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlags in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen verwendbare Sprache übertragen werden. Redaktion, Gestaltung und Satz: Michael Sonntag, Salzburg Druck: KOMAG Druck- und Verlagsgesellschaft, Berlin Einbandgestaltung: Hans Baltzer, Berlin

INHALT CHRISTOPH WULF, FATHI TRIKI, JACQUES POULAIN . . . . . . . . . . . Zukunftsfähige Bildung in Demokratien: Globalisierung und Diversität als Herausforderung. Eine Einleitung

7

I. Demokratie, Politik, Öffentlichkeit REYES MATE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik, Gerechtigkeit und Erziehung

19

FATHI TRIKI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prinzip Demokratie

37

MOHAMED ALI HALOUANI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschenwürde und Demokratie

45

JACQUES POULAIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die philosophische Urteilsbildung: Bedingungen ihrer Universalisierung im Kontext der Globalisierung

51

KLAUS KRÜGER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Repräsentation und Bildung der Öffentlichkeit Das Beispiel der frühen italienischen Stadtrepubliken

68

LYDIA GOEHR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agon und Hybris in Politik und Kunst

99

II. Religion, Politik, Bildung MUHAMMAD QASIM ZAMAN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Islam, religiöse Bildung und Politik in der modernen Welt

119

ABU YAAREB MARZOUKI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Reformation und islamische Bildung

133

MUSTAPHA LAARISSA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung und das Hindernis der Tradition Zur Lektüre von Abdallah Laroui

150

ANGELIKA NEUWIRTH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Koran in Europa lehren – als europäischen Text

167

ANTOINE SEIF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung der Demokratie in der arabischen Welt Veränderung der Bildung für eine Veränderung durch Bildung

189

BENMEZIANE BENCHERKI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik und Bildung im heutigen Algerien Der Blick auf ein schulisches Curriculum

201

ABDUL KARIM AL-BARGHOUTI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung in einer Welt der Unterdrückung

211

MEHREZ HAMDI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehung, Religion und Politik. Das Beispiel von Ibn Khaldun

220

ANWAR MOGHITH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Philosophie der Bildung und ihre politischen Implikationen im modernen Ägypten

226

HANY M. EL-HOSSEINY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demokratie und Reform an ägyptischen Universitäten

234

JOHN BORNEMAN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dozenten-„Evaluierung“ und die Universität Partizipation und Rechenschaft in den Demokratien der USA, Großbritanniens und Österreichs

253

III. Bildung, Diversität, Partizipation CHRISTOPH WULF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedenskultur und Erziehung zum Frieden Perspektiven für eine zukunftsfähige Bildung

271

CHRISTINE DELORY-MOMBERGER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diversität unterrichten und lernen Eine erzieherische und politische Herausforderung

291

ECKART LIEBAU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demokratische Bildung. Perspektiven einer Pädagogik der Teilhabe

300

HASSAN WAHBI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negatives Lernen

312

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain

ZUKUNFTSFÄHIGE BILDUNG IN DEMOKRATIEN: GLOBALISIERUNG UND DIVERSITÄT ALS HERAUSFORDERUNG Eine Einleitung

Wenn Menschen mit Hilfe von Erziehung und Bildung in die Lage versetzt worden sind, ihre gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse so zu gestalten, dass sie sich an den Menschenrechten orientieren, dann liegen demokratische Lebensbedingungen vor. Erziehung und Bildung dürfen nicht auf die Maximierung von Leistungsfähigkeit und Demokratie und gesellschaftliches Zusammenleben nicht auf die Befolgung von Gesetzen und Regeln reduziert werden. Demokratie zielt auf Lebens-, Interaktions- und Kommunikationsverhältnisse, die sich an den Werten gesellschaftliche Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit orientieren und für neue soziale und individuelle Entwicklungen offen sind. In vielen Teilen der Welt sind Gesellschaften und ihre Bildungssysteme in Gefahr, den Reichtum und die Vielfalt ihrer Werte und Lebensformen auf die Realisierung rigider religiöser Vorstellungen bzw. auf die Durchsetzung politischer und ökonomischer Herrschaft mit der Überbetonung zweckrationalen Denkens und Handelns zu reduzieren. Dagegen erhebt sich in vielen Ländern Widerstand. Zu dem gehören auch Individuen und Gruppen, die sich für die Förderung partizipatorischer Erziehungs- und Bildungsprozesse einsetzen, die die Entwicklung von Gemeinschaften und Individuen unterstützen und in denen Menschen lernen, ihre unterschiedlichen individuellen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen demokratisch zu gestalten. Bildung und Demokratie stehen in einem Interdependenzverhältnis. Die Realisierung eines demokratischen Zusammenlebens erfordert Kompetenzen, für deren Entwicklung es der Erziehung und Bildung der nachwachsenden Generation bedarf. Bildungssysteme können ihren Aufgaben nur gerecht werden, wenn bestimmt wird, was unter Demokratie verstanden wird. In einem durch die Menschenrechte gegebenen Rahmen sind verschiedene Akzentsetzungen möglich. Insofern zwischen Demokratie und Menschenrechten ein Wechselverhältnis besteht, gewinnen die mit Begriffen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und soziale Gerechtigkeit verbundenen Werte und Zielvorstellungen eine zentrale Bedeutung für die Gestaltung demokratischer Le-

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Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain

bensverhältnisse. Nach unserer Auffassung haben Politik und Bildung die Aufgabe, zu einer Verwirklichung dieser Ziele und Werte beizutragen. Dabei stoßen sie immer wieder auch an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Einige Gesellschaften bezeichnen sich als Demokratien, ohne dass in ihnen demokratische Verhältnisse verwirklicht sind. Selbst Länder, die lange als Demokratien galten, verstoßen immer wieder gegen demokratische Werte und Prinzipien. So werden z. B. Mehrheitsentscheidungen verwirklicht, deren Akzeptanz zwar prinzipiell ein wichtiges Element demokratischer Entscheidungsprozesse ist, die jedoch in manchen Fällen nicht als demokratisch gelten können, weil sie gegen die Menschenrechte verstoßen. Die Mehrheitsentscheidungen, die zum Irakkrieg geführt haben, sind dafür ein Beispiel. Gewaltenteilung und Menschenrechte gehören zu den konstitutiven Bedingungen von Demokratie. Zu letzteren gehören die grundlegenden Rechte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die zahlreichen Freiheitsrechte wie das Recht auf Meinungsfreiheit und Eigentum, die sozialen Menschenrechte wie das Recht auf Selbstbestimmung und auf Gleichheit von Mann und Frau sowie die auf die Rechtssicherheit bezogenen Rechte. So wichtig die Menschenrechte für die Gestaltung von Demokratien sind, zwischen ihnen und ihrer gesellschaftlichen Verwirklichung besteht eine prinzipiell nicht aufhebbare Differenz, an deren gradueller Verringerung zu arbeiten eine zentrale Aufgabe demokratischer Staaten ist. Zur Gestaltung der demokratischen Öffentlichkeit und des privaten Lebens sind viele Kompetenzen erforderlich, zu deren Entwicklung Erziehung und Bildung beitragen können. Dies setzt voraus, dass alle Menschen wenigstens Zugang zu einer Grundbildung haben, die nicht auf die Erzeugung ökonomischer Leistungsfähigkeit reduziert wird; diese Grundbildung ist in erster Linie Selbstzweck, der dadurch legitimiert ist, dass Bildung einen unersetzbaren Beitrag zur menschlichen Entwicklung liefert. Zur Bildung von Menschen in demokratischen Gesellschaften gehört die Vermittlung von Achtung und Respekt vor anderen Menschen und deren prinzipielle Anerkennung und Wertschätzung. Das erfordert die Fähigkeit, sich auf heterologisches Denken, d. h. ein Denken vom Anderen her einzulassen, ohne dessen Andersartigkeit zu ontologisieren. Die Erfahrung des Anderen ist, wenn sie gelingt, eine relationale Erfahrung, die dynamisch ist und sich angesichts von Raum, Zeit und Gegenüber verändert. In einer globalisierten Welt ist die Erziehung zum Umgang mit Alterität eine Grundbedingung des Dialogs zwischen Menschen verschiedener Kulturen. In diesem Sinne ist Bildung in einer globalisierten Welt interkulturelle Bildung. Dieses Verständnis von Bildung ist umso notwendiger, als viele mit Nationalstaat und Nationalkultur verbundene Zielsetzungen kontrovers sind. Dies gilt vor allem für Ziele, Werte und Normen, die in implizitem oder sogar explizitem Widerspruch zu den Menschenrechten stehen. Zwar dominiert in allen Bildungssystemen die Ausrichtung auf eine nationale bzw. regionale Kul-

Einleitung

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tur, doch ist diese Orientierung in den verschiedenen Ländern unterschiedlich stark. Im Zusammenhang mit der Globalisierung sind darüber hinaus neue Perspektiven entstanden, die eine Überprüfung der nationalkulturellen Grundlagen von Erziehung und Bildung erfordern.

Globalisierung als Herausforderung Unter Globalisierung wird eine Dynamik verstanden, die die Weltgesellschaft, die verschiedenen Regionen der Welt, die Nationen und die lokalen Kulturen einander angleicht und die durch das wildwüchsige Zusammenwirken vieler Elemente bewirkt wird. Besonders wichtig sind dabei die Globalisierung der internationalen Finanz- und Kapitalmärkte, der Unternehmensstrategien und Märkte, der Forschung und Entwicklung, der politischen Strukturen mit der Abnahme des Einflusses der Nationalstaaten, der Konsummuster, Lebensstile und kulturellen Stile, der neuen Medien und des Tourismus sowie der Wahrnehmungsweisen, Bewusstseinsstrukturen und der Formen von Individualität und Gemeinschaft (Wulf 2006; Wulf/Merkel 2002). Im Unterschied zu vielen Erwartungen haben diese Prozesse nicht zur erhofften Demokratisierung der Gesellschaften und ihrer Bildungssysteme geführt. Stattdessen sind mit diesen Entwicklungen neue Probleme entstanden, wie die Herauslösung des Ökonomischen aus dem Politischen, die Globalisierung vieler Lebensformen unter Missachtung kultureller Diversität sowie die starke Bedeutungszunahme der neuen Medien und der Bilder für die menschliche Weltwahrnehmung (Hüppauf/Wulf 2006). Besonders die Herauslösung des Ökonomischen aus dem Politischen führt zu unerwünschten sozialen und kulturellen Entwicklungen. Die Möglichkeiten der Beteiligung der Bürger an politischen, die kapitalistischen Wirtschaftsentwicklungen steuernden Entscheidungen verringern sich. Es kommt zu sozialen Härten, die ihrerseits wieder zu politischen Verhärtungen führen. Eine ideologiekritische Analyse dieser Entwicklungen macht die Ambivalenz der Globalisierung deutlich. Die verbreitete Ideologie, dass die Befreiung der Märkte zur Emanzipation und zur Steigerung der Autonomie der Menschen führt, ist unglaubwürdig geworden. Hinter dieser Ideologie wird das ungebrochene, den eigenen Vorteilen dienende wirtschaftliche Interesse der großen Industrie- und Handelnationen und des Neoliberalismus sichtbar. Auch die Globalisierung der Lebensformen ist eine ambivalente Entwicklung. Mit ihr geht eine Tendenz der Angleichung und Vereinheitlichung einher, die darauf zielt, die Unterschiede zwischen den Regionen der Welt, den Nationen, den diversen Kulturen zu nivellieren. Häufig wird dies als Abwertung der eigenen Kultur und ihrer Werte erlebt und führt zu Gegenwehr, Aggression und Feindschaft. Die Universalisierung der Lebensformen stößt auf die Grenzen ihrer Durchsetzbarkeit. Die meisten Menschen möchten in all-

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mählich gewachsenen Lebensformen leben und ertragen nur ein begrenztes Maß an Veränderungen. In den ihnen vertrauten Lebensformen finden sie Lebenssinn und Sicherheit. Daher erfordert die vereinheitlichende Globalisierung der Lebensformen eine Ergänzung durch eine Differenzierung der Lebensformen. Für diese Entwicklung spielen die Neuen Medien eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe wird die Welt in Bilder verwandelt und als solche allerorts und zu jeder Zeit zugänglich gemacht. In Form von Bildern und Tönen werden die Informationen und Ansichten der Welt akzeleriert und fast simultan ubiquitär zugänglich. Diese Entwicklung hat Heidegger bereits vorausgesehen, als er behauptete, dass die Welt zum Bild werde und der Mensch ihr unbeheimatet gegenüber stehe. Diese Verbildlichungs- und Abstraktionsprozesse nehmen zu und führen zu veränderten Formen der Welt- und Selbstwahrnehmung. Die Dominanz einer globalisierten Ökonomie über das Politische und Soziale, die Globalisierung der Lebensformen und die zunehmende Verbildlichung der Welterfahrung bewirken Entwicklungen, die durch die Veränderung der Arbeitswelt, den Bedeutungsverlust der Nationen, die Annäherung und wechselseitige Durchdringung von Kulturen auch zu neuen Bedingungen für die Entwicklung und Verbesserung demokratischer Gesellschafts- und Erziehungsverhältnisse führen und weiterer Erforschung bedürfen. Die intensiven Auseinandersetzungen mit Neoliberalismus, Kapitalismus und Globalisierung der letzten Jahre haben die kontrovers diskutierte Frage aufgeworfen, inwieweit diese Entwicklungen zur Ausbreitung und Verbesserung demokratischer Lebens- und Arbeitsverhältnisse geführt haben. In jedem Fall haben diese Kontroversen gezeigt, dass die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Vervollkommnung des Menschen eine neue Aktualität gewonnen hat. Um hier eine überzeugende Antwort zu finden, bedarf es umfangreicher globaler, historischer und ethnographischer Forschung sowie philosophischer Reflexion, deren Ergebnisse einen Beitrag zu einer anthropologischen Orientierungshilfe für Erziehung und Bildung liefern können, die ohne Vorstellungen vom Menschen und seiner Bildsamkeit nicht realisierbar sind. Wenn Menschen ihre humanen Möglichkeiten nur mit Hilfe von Erziehung und Bildung entwickeln können, dann bedeutet dies, dass Vervollkommnung des Unvollkommenen ohne Erziehung und Bildung nicht möglich ist. Schon Kant hat diese Zusammenhänge gesehen, als er betonte, dass die Erziehungsbedürftigkeit und prinzipielle Angewiesenheit des Menschen auf Bildung ein Merkmal des Menschen, eine conditio humana sei, deren Ausgestaltung je nach Kultur, historischer Zeit und individuellen und sozialen Bedingungen unterschiedlich ist. In einer durch Globalisierung gekennzeichneten Welt bedarf es daher einer anthropologischen Fundierung von Bildung durch Forschung und Reflexion, um das, was den Menschen gemeinsam ist, mit dem in Bezug zu setzen, was sie unterscheidet (Wulf 2002, 2009).

Einleitung

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Lernen und Bildung heute Aus solchen anthropologischen Überlegungen lässt sich schließen, dass Erziehung und Bildung in demokratischen Gesellschaften einen komplexen Prozess darstellen, der das Lernen von „Wissen, Handeln, Zusammenleben und Sein“ umfasst (Delors 1996). Mit dem Lernen von Wissen wird vor allem das Lernen bezeichnet, das in Institutionen wie der Schule stattfindet. Ziel ist es hier, curricular ausgewählte Inhalte, Methoden und Techniken zu erwerben, die für die Allgemeinbildung von Kindern und Jugendlichen wichtig sind. Eine institutionell vermittelte Allgemeinbildung umfasst zugleich auch körperliche, soziale, emotionale und sprachliche Elemente, die als Wissen vermittelt und gelernt werden. Im Zentrum des Erwerbs von Wissen stehen die Auseinandersetzung mit Sachverhalten und der systematische Erwerb neuer Inhalte. Ziel ist nicht nur ein Dazulernen, sondern auch ein innovatives Umlernen, bei dem das bisherige Wissen neu strukturiert wird. Dieses Lernen zielt auf die Wahrnehmung und das Erlernen des Neuen sowie auf seine Verknüpfung mit dem vorhandenen Wissen und seine Erinnerung zu einem späteren Zeitpunkt. Das Handeln lernen zielt darauf, eine inkorporierte Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Dazu gehört ein praktisches, politisches und technisches Wissen. Im Zusammenhang mit dem Lernen von Handeln werden Körperliches, Sprachliches, Emotionales und Soziales nicht zu objektivierbarem Wissen, sondern zu Handlungswissen. Dieses Wissen ist ein praktisches Wissen, das in erster Linie nicht analytisch vermittelt wird, sondern eher in sozialen Situationen wie rituellen Arrangements gelernt wird. Auch beim Erlernen von Lesen, Schreiben, Rechnen und Kommunizieren spielt dieses praktische Handlungswissen eine wichtige Rolle. Praktisches Wissen wird in hohem Maße mimetisch gelernt (Wulf 2005) und ist ein wichtiger Teil des Habitus eines Menschen, in dem sich theoretisches, soziales und praktisches Wissen überlagern. Das Zusammenleben in den Gesellschaften der Gegenwart erfordert ausgeprägte Kompetenzen. In pluralen Lebenspraxen muss gelernt werden, flexibel zu leben und kompetent mit Diversität umzugehen. Das setzt voraus, dass Kinder lernen, ihre Gefühle zu artikulieren, Unterschiede zu akzeptieren und Konflikte gewaltfrei auszutragen. Partizipation und demokratisches Verhalten sind wichtige Aufgaben und Formen des Lernens, die nur im praktischen Zusammenleben bewältigt werden. Schließlich ist Lernen zu sein, d. h. seine Existenz anzunehmen, eine wichtige Aufgabe von Erziehung und Bildung, bei der es darum geht, sich und andere in ihren jeweiligen Ausprägungen zu akzeptieren. Dazu bedarf es der Förderung sozialer Kompetenz, wechselseitiger Wertschätzung und des Selbstwertgefühls. In diesem Zusammenhang ist die biographische Orientierung des Lernens wichtig, die dazu beiträgt, den individuellen Charakter von Bildungsprozessen zu verstehen und auf dieser Grundlage entsprechende Lernprozesse zu fördern.

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Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain

Mit diesen vier Dimensionen werden zentrale Aspekte von Erziehung und Bildung bestimmt, die je nach historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen unterschiedlich gestaltet werden. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen in muslimischen und arabischen Ländern von denen in europäischen Ländern und in den USA. In den islamisch beeinflussten Ländern spielt die Religion eine viel größere Rolle als in den westlichen Ländern. Auch sind die materiellen und ideologischen Bedingungen von Erziehung und Bildung unterschiedlich, so dass es darum gehen wird, Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den verschiedenen Gesellschaften, Bildungssystemen und Kulturen herauszuarbeiten (Wulf et al. 2006, 2007).

Zu diesem Band Demokratie, Politik, Öffentlichkeit. In einem ersten Abschnitt wird das Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit, Demokratie und Gerechtigkeit untersucht. Ausgangspunkt ist die Einsicht in eine verbreitete Entpolitisierung der Politik, in deren Rahmen die Simulation des Politischen immer mehr Raum einnimmt. Damit einher gehen eine Krise der Öffentlichkeit und ein Rückzug ins Private. Dazu haben sicherlich auch Erfahrungen der Machtlosigkeit angesichts manifester und struktureller Gewalt beigetragen. Politik wird immer mehr zu einer „Biopolitik“ (Foucault), in deren Rahmen eine Umwertung des Verhältnisses von „Fortschritt“ und „Barbarei“ erfolgt. In diesem Prozess gewinnen die Auseinandersetzungen um die Verwirklichung von Gerechtigkeit, die seit Aristoteles im Zentrum der Politik steht, ein neues Gewicht (Mate). Demokratien dürfen nicht auf demokratische Verfahren reduziert werden. Aktive Demokratien, in denen die Prinzipien der Alterität und der Individuation im Zentrum stehen, sind Ziel der Entwicklung. Wie Individualismus und Gemeinschaftlichkeit miteinander verschränkt werden, ist das zentrale Problem aktiver Demokratie, deren Realisierung ohne die Berücksichtigung des Solidaritätsprinzips nicht möglich ist (Triki). In ihrem Zentrum steht die Achtung der Menschenwürde, die die Einschränkung eines wildwüchsigen Strebens nach Freiheit bzw. ungebundener Freizügigkeit erforderlich macht. Humanität lässt sich nur durch die Berücksichtigung von Grenzen verwirklichen, die durch die Menschenwürde bestimmt werden (Halouani). Die Beachtung der Menschenwürde ist das Kriterium politischen Handelns und philosophischen Urteilens. Um sie zu schützen, bedarf es des philosophischen Urteils, mit dessen Hilfe sich die sozialen Ungerechtigkeiten des Liberalismus, die zu Verarmung und Exklusion führen, der Kritik unterziehen lassen. Ohne die Kraft des philosophischen Urteils können die Zumutungen der kapitalistischen Entwicklung und sozialen Entfremdung nicht identifiziert, kritisiert und korrigiert werden. Um Fragen der Wahrheit und der Gerechtigkeit im globalen Ausmaß anzuge-

Einleitung

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hen, bedarf es der Bildung der politischen Urteilskraft (Poulain). Um das Spezifische der gegenwärtigen Situation der Gemeinwesen zu begreifen, bedarf es auch einer historischen Perspektive. Ein Blick auf die politische Repräsentation und die Bildung der Öffentlichkeit in den frühen italienischen Stadtrepubliken dient dazu, die Geschichtlichkeit der heutigen Situation zu begreifen. Darüber hinaus bilden sich in dieser Zeit neue Formen demokratischer Selbstorganisation und Selbstbestimmung in politischen, ökonomischen und juridischen Zusammenhängen, die sich von den dynastischen Herrschaftspraktiken bzw. Monarchien unterscheiden und mit denen sich der neuartige Bürgersinn der italienischen Kommunen in der Renaissance entwickelt. In der Malerei dieser Zeit werden neuartige Formen der Repräsentation kultureller und politischer Identität dargestellt (Krüger). Wie das Verhältnis der Malerei und der anderen Künste untereinander und zur Politik ist, wird in dem diesen Teil beendenden Beitrag untersucht, in dem weniger das philosophische Urteil als vielmehr der Agon philosophischer Reflexion im Mittelpunkt steht (Goehr). Religion, Politik, Bildung. Ging es bisher um Grundprobleme der Demokratie, so steht in diesem Teil das Verhältnis von Politik und Religion sowie von Religion und Bildung im Mittelpunkt. Wie diese Beziehungen bestimmt werden, gehört zu den zentralen kontrovers diskutierten Fragen von Demokratie und der Bildung in muslimischen Gesellschaften. Welches Verständnis des Islam ist zeitgemäß, damit dieser die Modernisierung der muslimischen Gesellschaften nicht behindert, sondern fördert? Die gleiche Frage stellt sich in Bezug auf das Bildungswesen, das von vielen Seiten als sehr reform- und entwicklungsbedürftig angesehen wird. Einmal geht es darum, wie sich die muslimischen Gesellschaften und Bildungssysteme bisher entwickelt haben und weiter entfalten werden, zum anderen aber darum, was unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen aus dem Islam wird. Ein Weg, weiterführende Perspektiven zu gewinnen, besteht darin, zu untersuchen, wie wichtige arabische Denker wie der syrische Journalist Muhammad Rashid Rida, der lange in Ägypten gelebt hat, oder Sayyid Ahmad Khan, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Indien tätig war, diese Probleme angegangen sind und wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts z. B. in Ägypten versucht wurde, die Dichotomie zwischen Islam und Modernität, zwischen religiöser und weltlicher Bildung zu überwinden (Zaman). Im Unterschied zu dieser Perspektive wird im folgenden Beitrag darauf bestanden, dass die muslimische religiöse und ethische Einheit das höchste spirituelle Ziel für die Ausübung religiöser Praktiken und für die islamische Erziehung sei. Nur durch eine grundlegende religiöse Reform könne die Krise und der Zusammenbruch der islamischen Kreativität überwunden werden (Marzouki). Immer häufiger mehren sich die Stimmen, die eine Reform der Tradition (Sunna) in den muslimischen Gesellschaften für erforderlich halten. Im Hinblick auf ihre Demokratisierung erscheint die Zurückweisung der Trennung zwischen dem öffentlichen und dem priva-

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Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain

ten Leben problematisch. Gefordert wird eine neue Bewertung der Geschichte und Tradition, um die Handlungsspielräume des Einzelnen und der Gesellschaften zu vergrößern. In den Schriften von Abdallah Laroui finden sich solche Überlegungen zur Neubewertung vieler traditioneller Sichtweisen im Hinblick auf Religion, die Rechte der Frauen, auf die Tugenden des Zweifels und der Reflexion. Es werden Fragen aufgeworfen, wie der Koran heute zu lesen und zu verstehen ist. An die Stelle einer Lesart wird das Recht auf die Deutungs- und Interpretationsvielfalt gefordert. Daraus ergeben sich eine negative Pädagogik und die Einsicht in die Vielfalt des Wissens. Wird diese akzeptiert, gewinnt die Arbeit an der Erinnerung und die Wiederholung eine neue Bedeutung für die Identität (Laarissa). Im Rahmen dieser Suche nach einem erweiterten Verständnis des Islams und der Deutungsvielfalt des Korans kommt seiner europäischen Lesart eine erhebliche Bedeutung zu. In dieser spielen der Zusammenhang mit den anderen monotheistischen Religionen, die gemeinsame Situation in der Spätantike und Fragen der Textexegese eine zentrale Rolle (Neuwirth). Zwar gab es bereits im 19. Jahrhundert in Kairo, Istanbul und Beirut die ersten Zentren moderner Bildung, doch führte dies nicht dazu, dass sich das Bildungssystem in der arabischen Welt wie in anderen Teilen der Welt weiter entwickeln konnte. Die vier zwischen 2002 und 2005 erschienenen Berichte des „Arab Human Development Report“ (AHDR) geben Gründe dafür und identifizieren Defizite im Bereich der Erziehung, der Demokratieentwicklung und in der Gleichbehandlung der Frauen. Sie machen deutlich, dass die Krise des arabischen Bildungssystems eine Krise der arabischen Kultur ist. Um mit den anderen Regionen der Welt gleichzuziehen, gilt es an der Überwindung diese Defizite zu arbeiten. Um das Bildungssystem nachhaltig zu verbessern und eine neue arabische Renaissance zu entwickeln, bedarf es einer Reform der Gesellschaft in Richtung auf eine Stärkung der Demokratie, einen Ausbau des Bildungswesens und eine Weiterentwicklung der Kultur (Seif). Dies gilt auch für die Situation in Algerien, wo die Richtung der Gesellschafts- und Bildungsreformen zwischen Traditionalisten und Reformern lange Zeit umstritten war. In einem mit Hilfe der UNESCO erarbeiteten Bericht zur „Neugestaltung der Pädagogik“ aus dem Jahre 2005 werden Perspektiven für eine Reformierung des Bildungswesens in Algerien erarbeitet, in denen die enge Verbindung zwischen Bildungsreform und Demokratie betont wird (Bencherki). Wenn keine friedlichen gesellschaftlichen Bedingungen gegeben sind und Gewalt und Unterdrückung das Leben beeinträchtigen, kann eine Demokratisierung und eine Modernisierung des Bildungswesens nicht gelingen, in der den jungen Menschen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbstentfaltung geboten werden (Al-Barghouti). Erziehung, die junge Menschen bei der Entwicklung ihrer Potentiale fördern will, soll nach Möglichkeit keine körperliche Züchtigung vornehmen. Sie soll versuchen, junge Menschen für das Absolute, die Transzendenz zu sensibilisieren und ihnen daher die Möglichkeiten

Einleitung

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und Notwendigkeiten zeigen, ihr Handeln dementsprechend zu bestimmen. (Hamdi). Ein Blick in die Geschichte des modernen Ägyptens macht deutlich, wie eng auch hier Gesellschafts- und Bildungsreform verschränkt sind. Im frühen 19. Jahrhundert lässt sich eine enge Verbindung zwischen Staat und Militär feststellen; die Ausbildung eines modernen Militärs war eine zentrale Aufgabe des Bildungswesens; hinzu kamen erste Versuche, Institutionen zur Entwicklung wissenschaftlicher Bildung zu schaffen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts artikulieren sich auch erste Bemühungen um die Förderung der Frauenbildung. Damit einher gehen Bemühungen, das Bildungswesen auszubauen, um damit auch zur Reform der Gesellschaft beizutragen. Ziel ist die Schaffung einer nicht auf Religion beruhenden nationalen Identität und einer damit verbundenen Bildung der Menschen zu verantwortlichen Bürgern. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts expandiert das Bildungswesen. Innerhalb von 30 Jahren wächst die Zahl der Universitäten von vier auf achtzehn. Durch diese starke Expansion leidet allerdings die Qualität der Institutionen. Es kommt zu einer erheblichen Ausbreitung fundamentalistischen Denkens unter den Studierenden, vor allem der Geisteswissenschaften. Besonders in diesen Fächern kommt es heute zu konfliktreichen ideologischen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Religion, Demokratie und Wissenschaft, bei denen offen ist, wie sie ausgehen werden (Moghith). Deutlich zeigen sich diese Konflikte in den Kämpfen um Demokratie und Reform in den ägyptischen Universitäten. Da es in den Universitäten an akademischer Freiheit, demokratischer Leitung und an demokratischen Werten und Einstellungen fehlt, haben auch die von der World Bank unterstützten Reformen nicht zum intendierten Erfolg geführt (El-Hosseiny). Selbst wenn demokratische Bedingungen gegeben sind, kann es zu Verstößen gegen sie kommen, und sei es aufgrund ungewollter Nebenwirkungen. So können etwa Formen der Evaluation universitärer Lehre solche Nebenfolgen bewirken. Durch diese kann z. B. die ursprüngliche Intention der Stärkung von Partizipation und Rechenschaftslegung, die in den amerikanischen Universitäten zur Demokratisierung beitragen sollte, das Gegenteil bewirken und im Namen eines falsch verstandenen Rechts auf Partizipation zur Verringerung der Qualität der akademischen Lehre führen (Borneman). Bildung, Diversität, Partizipation. Die Erzeugung bzw. Erhaltung von Frieden, der konstruktive Umgang mit kultureller Diversität und die Berücksichtigung von Nachhaltigkeit gehören zu den großen Herausforderungen der Menschheit, von deren Bewältigung deren Zukunft abhängt. Ohne Frieden ist kein menschenwürdiges Leben möglich; ohne einen konstruktiven Umgang mit kultureller Diversität kann Gewalt zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen nicht vermieden werden. Ohne Beachtung der Nachhaltigkeit werden die Grundlagen menschlichen Lebens zerstört. Angesichts dieser Situation muss eine zukunftsorientierte Bildung diese Bedingungen im Umgang mit der nachwachsenden Generation berücksichtigen. In diesem Prozess kommt der

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Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain

Entwicklung von Ritualen und Ritualisierungen, die auf Frieden, kulturelle Diversität und Nachhaltigkeit bezogen sind, erhebliche Bedeutung zu. Mit ihrer Hilfe gilt es entsprechende Einstellungen und Handlungsweisen zu inkorporieren und Verhaltensänderungen bewirken. Der performative Charakter von Ritualen eignet sich besonders dafür, nachhaltige Verhaltensänderungen zu schaffen. Mit Hilfe der sich dabei vollziehenden mimetischen Prozesse kann ein praktisches Handlungswissen entstehen, das zur Herausbildung eines entsprechenden Habitus beitragen kann (Wulf). Am Beispiel des Lernens von Diversität lässt sich zeigen, wie wichtig Verstehen, Anerkennung und Wertschätzung in der Erziehung und bei der Bildung einer gemeinsamen und zugleich Diversität einschließenden Weltsicht sind. Damit diese in den Menschen verankert werden kann, bedarf es auch der Einbeziehung ihres biographischen Hintergrunds (Delory-Momberger). Dies ist umso leichter möglich, wenn Bildung sich auf die verschiedenen Bereiche des Alltags, der Kultur und Kunst, der Öffentlichkeit, der Wissenschaft, der Arbeit und der Religion richtet. In diesen Prozessen muss gelernt werden, etwas zu tun, in der Gesellschaft zusammenzuleben, die Wahrnehmungsfähigkeit zu entwickeln, Gefühlen und Auffassungen Ausdruck zu verleihen, kritische Fragen zu stellen und mit Kontingenzen zu leben und ethisch verantwortungsvoll zu handeln (Liebau). Angesichts der zahlreichen Ansprüche, die an Erziehung und Bildung gestellt werden, muss man begreifen, dass das Lernen von Neuem zu einer Überlagerung des Alten und zum Umlernen führt. Menschen lernen manchmal auch gegen ihre Intentionen und gegen sich selbst. Ein Grund dafür ist, dass Menschen sich selbst nicht definitiv besitzen. Ver- und Umlernen sind für Bildungsprozesse von zentraler Bedeutung, die eine Öffnung für Neues bewirken und die Bereitschaft erfordern, auch etwas zu tun, bei dem man nicht mit sich selbst identisch ist (Wahbi).

Literatur Delors, Jacques (Hg.): Learning: The Treasure Within. Paris 1996: UNESCO. Hüppauf, Bernd/Wulf, Christoph (Hg.): Bild und Einbildungskraft. München 2006: Wilhelm Fink. Wulf, Christoph: Anthropology of Education. Münster, New York 2002: Lit. Wulf, Christoph: Anthropologie kultureller Vielfalt. Bielefeld 2006: transcript. Wulf, Christoph: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Köln 2009: Anaconda (2., erw. Aufl.). Wulf, Christoph/Merkel, Christine (Hg.): Globalisierung als Herausforderung der Erziehung. Theorien, Grundlagen, Fallstudien. Münster, New York 2002: Waxmann. Wulf, Christoph/Poulain, Jacques/Triki, Fathi (Hg.): Europäische und islamisch geprägte Länder im Dialog. Gewalt, Religion und interkulturelle Verständigung. Berlin 2006: Akademie. Wulf, Christoph/Poulain, Jacques/Triki, Fathi (Hg.): Die Künste im Dialog der Kulturen. Europa und seine muslimischen Nachbarn. Berlin 2007: Akademie.

I. Demokratie, Politik, Öffentlichkeit

Reyes Mate

POLITIK, GERECHTIGKEIT UND ERZIEHUNG

1. Politik 1.1 Wir leben in Zeiten der Entpolitisierung, in denen Politik zu etwas Selbstverständlichem geworden ist. So sieht der Ausgangspunkt aus: eine Zeit, in der man die Politik auf Formalismus, auf Formen, auf das Respektieren von Institutionen und Formalitäten reduziert hat. Wir fragen uns daher, aus welchem Grund oder mit welcher Motivation wir für Werte kämpfen sollten, an die wir glauben, wie etwa die Freiheit oder die Gerechtigkeit. Hierin liegt ein merkwürdiges Paradox: Wir können uns nicht vorstellen, in einem anderen politischen System zu leben als dem demokratischen und dennoch rühren wir nicht einmal den kleinen Finger, um es zu verteidigen, und wir sind nicht bereit, zu seinen Gunsten etwas Eigenes, was auch immer dies sei, herzugeben. Natürlich sind wir überzeugt, dass man die Demokratie verteidigen muss, aber ihre Verteidigung und ihre Aufrechterhaltung fallen für uns in den Bereich der Institutionen. Jeder trägt genügend dazu bei, indem er seine Steuern bezahlt. In Anbetracht dieses Geldes kann man gut die Dienste eines Wartungsunternehmens in Anspruch nehmen, selbst wenn es sich um Demokratie und ihre Werte handelt. Der Verlust der Gründe, für die demokratischen Werte zu kämpfen, ist vielleicht auf die breit geteilte Überzeugung zurückzuführen, nach der diese Werte für unsere Zeit offensichtlich und konsubstantiell sind; sie gehören zu unserem Leben ebenso wie die Berge und die Flüsse. Diese Offensichtlichkeit kommt aus der Tatsache, dass negative Erfahrungen wie beispielsweise Diktatur oder Elend weit von uns entfernt sind. Der Bürger, der in einer wohl etablierten Demokratie geboren wird, weiß nicht, was Mangel an Freiheit oder soziales Elend bedeuten. Er lebt in einer annehmlichen Welt, in der das Elend und die Unterdrückung getarnt oder exportiert werden. Im speziellen Fall der spanischen Situation müsste man hier die Mühe hinzufügen, die wir daran gesetzt haben, die Vergangenheit zu vergessen, die auf dem Altar des Zusammenlebens geopfert wurde (siehe den Artikel von Felipe González in der Tageszeitung El País vom 22. April 2001). 1.2 Es gibt keine negativen Erfahrungen. Dies ist ein Hauptthema bei vielen Schriftstellern und Denkern, die diesen Verlust anprangern, so weit sie ihn in

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ihrem täglichen Leben feststellen. Man ist daran gewöhnt, dass der Satz von Walter Benjamin häufig zitiert wird: „Wir sind arm an übertragbarer Erfahrung“. Merkwürdigerweise sagt er das angesichts von Soldaten, die nach Hause zurückkehren, gebrochen durch die schreckliche Erfahrung des Ersten Weltkriegs: Wie konnte man von jemandem, der so viel in so wenigen Jahren erlebt hatte, sagen, dass er „an Erfahrung arm“ war? Benjamin unterschied das Erlebte von der Erfahrung – beides sind unterschiedliche Dinge. Die Erfahrung setzt ein Raster voraus, ein Netzwerk, in das sich ein Erlebnis einschreiben lässt, wofür Zeit notwendig ist, um sich in dieses Gefüge einzufügen und ein Teil davon zu werden; das Erlebte dagegen ist ein Schock, ein Gewirr von Sekunden, eine Erschütterung, eine Auswirkung, die sich in sich selbst erschöpft. Es benötigt weder Zeit noch ein Gefüge. Nun ist unsere Zeit in der Tat eine Zeit des Erlebten und nicht der Erfahrungen, denn das, was jeder erlebt, schafft es nicht, zum Raster der Geschichte zu gehören. Die verschiedenen Episoden, aus denen sich das tägliche Leben zusammensetzt, verwandeln sich nicht in Erfahrungen. Dies war in den archaischen Gesellschaften – jenen unserer Vorfahren – zunächst einmal nicht der Fall, wo das tägliche Leben sich aus dem nährte, was jeder lebte, was in der Familie erzählt wurde und im Dorf zirkulierte, um so zum Bestandteil des kollektiven Lebens zu gehören. Aus diesen sozialen Erzählungen entstanden Leitsprüche, Sprichwörter und Sinnsprüche, die gewissermaßen die Kurzfassung der Weisheit des gemeinsamen Lebens bildeten. Heute prangen an Stelle der gemeinsamen Weisheit Slogans, die in industriellen Mengen produziert werden. Der moderne Mensch hat den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Wir finden uns alle in der gleichen Lage wieder wie die japanischen Touristen, die die Pietá des Vatikans oder der Notre Dame de Paris besuchen: Sie sehen diese nur, wenn sie sie mit ihrem Fotoapparat festnageln. Sie sehen sie durch ein Glas, das wie zum Hohn „Objektiv“ genannt wird. Um den Unterschied zwischen unserer Lage und der unserer Vorfahren aufzuzeigen, habe ich die Gesellschaft, in der letztere lebten, als archaisch charakterisiert. Dies, um zum Ausdruck zu bringen, dass der Erfahrungsverlust endgültig ist, wie auch das Verschwinden dieser Gesellschaft endgültig ist. Es gibt hier also keinen Raum für Nostalgie. Die Lösung der Probleme des Erfahrungsverlustes kann nicht über die Restaurierung einer Gesellschaft erfolgen, die es nicht mehr gibt. Um das Ausmaß dieses Verlustes zu begreifen, der sich in den alltäglichsten Verhaltensweisen manifestiert, kann es hilfreich sein, extremere Fälle zu analysieren, Fälle, in denen der Ernst und die Absurdität dieses Verlustes offensichtlich werden. Hannah Arendt nannte das 20. Jahrhundert das gewalttätigste in der Geschichte der Menschheit. Wir mussten neue Begriffe erfinden, um die neuen Formen von Barbarei zu charakterisieren („Verbrechen gegen die Menschlichkeit“). Unter allen gewalttätigen Episoden ist keine mit dem

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Lager vergleichbar. Wir können an die Konzentrationslager der Nazis oder an die ethnischen Vergewaltigungslager der Serben denken. In ersteren wurden Juden systematisch getötet, aus dem Grunde, dass sie jüdisch waren; in letzteren beschädigte man die Identität eines Volkes, indem man bosnische Frauen vergewaltigte und schwängerte, damit ihre Kinder nicht muslimisch würden. Was haben wir gelernt, welche Lektionen haben wir aus diesen extremen Angriffen auf die Menschlichkeit und in der Folge auf unsere eigene Humanität gezogen? Jean Améry stellt sich als Überlebender des Lagers von Auschwitz die gleiche Frage und richtet sie auch an die Adresse der Überlebenden selbst; er gesteht zu, dass diese aus dem Lager nicht „weiser [...] und auch nicht tiefschürfender herausgekommen sind [...] Wir kamen aus dem Lager völlig entblößt, beraubt von allem, leer, verwirrt, und es hat lange Zeit gebraucht, bis wir die alltägliche Sprache der Freiheit von neuem lernten.“1 Leer und orientierungslos sind sie herausgekommen, ohne das Erlebte in Erfahrung transformieren zu können, viele von ihnen obendrein stumm. Die Erklärung, die wir für diese fehlende Fähigkeit der Überlebenden selbst liefern können, mag uns helfen, die gleiche Unfähigkeit in weniger extremen Situationen zu begreifen. Ein Mensch im Lager konnte keine Erfahrungen machen, weil er auf einen rein biologischen Körper reduziert worden war. Im Lager verschwinden die Rechte, der Name, die Würde, die Biografie. Der Mensch wird auf den bloßen Körper reduziert, der durch eine Nummer, ein Brandzeichen wie für Tiere, bezeichnet wurde. Vergessen wir nicht, dass das Lager der Ort des Ausnahmezustandes schlechthin ist, denn alle Menschenrechte werden dort aufgehoben. Der Mensch ist lediglich ein Körper, eine Nummer. Diese Reduzierung auf den Zustand bloßer Körperlichkeit, diese Aufhebung des Rechts im Lager ist von höchstem Interesse, denn es ist die zivilisatorische Errungenschaft, die wir Politik nennen, die auf diese Weise eliminiert wird. Denn im Lager wird das Private öffentlich gemacht und das Öffentliche privat. Diese Verdrehung stellt den Tod der Politik dar. Einzig der Körper der Gefangenen ist im Lager öffentlich. Das, was die Nazis an den Juden interessierte, war in der Tat der Körper. Das Lager als öffentlicher oder politischer Ort wurde körperorientiert organisiert: Fragile Körper wurden sofort zerstört; Körper, die sich für Arbeit eigneten, wurden nicht nur in Hinblick auf die Produktion benutzt, sondern insbesondere auch, damit deren Eigentümer ihre Nicht-Zugehörigkeit zur menschlichen Art verinnerlichten. Wenn allerdings das Privateste öffentlich gemacht wird, verschwindet jede Art privaten Lebens, da das Öffentliche zum Privaten wird. Was einer Verneinung der Politik gleichkommt. Insofern keine Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem etabliert wird, gibt es dort, wo es nichts Privates gibt, auch nichts Öffentliches, denn das Öffentliche oder das Politische entsteht in –––––––––––––––––– 1 Jean Améry, Par-delà le crime et le châtiment, übers. v. F. Wuilmart. Arles 1994: Actes Sud, S. 47f. [dt. Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1988: Klett-Cotta].

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dem Raum zwischen dem privaten Leben der Einzelnen. Das nämlich meinen wir damit, wenn wir bekräftigen, dass das Öffentliche sich aus der freien Initiative der Privatpersonen ergebe; das Politische ergibt sich aus der Freiheit des Intimen oder des Privaten jedes Individuums. Erinnern wir uns daran, dass seit den Griechen die Möglichkeit von Politik an die Unterscheidung zwischen polis und oikos, zwischen bios und zoe [ζοιε; lat. vita] geknüpft ist. Zoe und oikos bezeichnen den vor-politischen Moment (das Haus, der Körper), der sich vom politischen Moment (polis, bios) unterscheidet, wo man das Heim verlässt und wo sich nicht das Problem des physischen Überlebens stellt, sondern das des „guten und ordnungsgemäßen Lebens“. Fassen wir zusammen: Im Lager verwischen sich die Unterschiede zwischen öffentlich und privat, weil der politische Körper mit dem biologischen Körper ausgetauscht wird. Die Politik wird dann auf das Private reduziert. Die Politik ist oïkonomie. Der öffentliche Raum, Ort der Freiheit und der Interaktion, wird folglich auf den Körper reduziert. Die Politik entscheidet über Sicherheit oder Unsicherheit, Beibehaltung oder Zerstörung des Körpers. Man muss sich jedoch dessen wohl bewusst sein, dass man auf diese epochale Krise – auf den Erfahrungsverlust – nicht antworten kann, indem man vorgibt, die Erfahrung zu restaurieren. In der Tat könnte die Moderne, die von Ernst Jünger als „allgemeine Mobilisierung“ charakterisiert wird, dies nicht tolerieren. Nach dieser Theorie erscheint die Macht als ein Bedürfnis oder ein Erfordernis höherer Kräfte, ob aus der Natur oder der Geschichte, die den Willen des Individuums umhüllen und mitreißen (es ist kein Zufall, dass der Begriff der „Bewegung“ dem Faschismus so gut gefällt). Die Dynamik dieser aufgezwungenen Logik zwingt die Macht, jede Ausübung der Freiheit durch das Individuum zu neutralisieren. Nichts widersetzt sich so sehr der entscheidenden Kraft „der allgemeinen Bewegung“ wie eine Forderung, die durch die individuelle Freiheit eines eigenen Projekts hervorgebracht wird. Dies wird als Angriff auf die unfehlbare Logik der Natur oder der Geschichte wahrgenommen, die die Dynamik der „allgemeinen Bewegung“ antreiben. Der Erfahrungsverlust ist wie eine Ausweisung der Sprache, wie eine Nutzung der Kommunikation nicht gemäß den kommunikativen Fähigkeiten und Notwendigkeiten des Menschen, sondern gemäß den Interessen der Kommunikation selbst. Eine Kommunikation entsprechend der Kommunizierbarkeit der Ereignisse läuft nicht auf das Gleiche heraus wie eine Kommunikation im Dienste der Interessen der Kommunikation selbst. Es gibt einen besonders exemplarischen Fall dieser so typischen Transformation unserer Zeit, demzufolge die moderne Macht, der zeitgenössische Staat, ebenso gut als Staats-Spektakel bezeichnet werden könnte wie als Nationalstaat. Ich nehme hier Bezug auf eine berühmte Fernsehübertragung, die in Temesvar (Rumänien) ausgestrahlt wurde und die Welt bewegt hat. Unter den Augen des Fernsehzuschauers wurden von Rettern des Vaterlandes Folter- und Sterbeszenen der Ceauscescus, Symbole und Protagonisten einer legendären kommunistischen Diktatur, ge-

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zeigt, im Versuch, auf diese Art und Weise die Ausübung ihrer neuen Macht zu legitimieren. Später erfuhren wir, dass all dies nur eine Montage war. In Wirklichkeit hatte es vor den Fernsehkameras weder Folter noch Tod gegeben, da die Ceauscescus bereits gestorben waren, aber der Zuschauer hat dies als wahr wahrgenommen, denn für ihn verschwindet die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Simulation. Ob die Szene sich der Wahrheit oder einer Täuschung verdankt, ist sekundär, denn beide sind vertauscht: Wesentlich ist, dass der Zuschauer sie als wahr wahrnimmt. Das ist es, was zählt. Wenn die moderne politische Dynamik einerseits durch den Grundsatz der „allgemeinen Mobilisierung“ und auf der anderen Seite vom „spektralen“ Prinzip der Fusion oder der Konfusion von Wirklichkeit und Bild beherrscht wird, dann bleibt der Anspruch der Erfahrung des Erleidens als generatives Prinzip politischer Inhalte buchstäblich jenseits der Realität. 1.3 Wir sagen jedoch nicht die ganze Wahrheit, wenn wir die jetzigen Zeiten als „Zeiten der Entpolitisierung“ beschreiben, in dem Sinn, dass es am Unterbau der Politik (Erfahrung) fehlt und dies jene bedauerliche Politik ermöglichen würde. Es gilt vielmehr, einen Schritt zurück zu machen und festzustellen, dass es sehr wohl eine Politik gibt, ungeachtet dieser Kritik der Entpolitisierung. Auf eine gewisse Art ist alles politisch. Einerseits entgeht nichts dem Panoptikum des Staates, andererseits will sich jede bestehende Wirklichkeit in Staat transformieren, auch wenn sie über Nation oder über Nationalität zu sprechen beginnt. Der Höhepunkt der Nationalismen zeigt die Kraft oder die Virulenz der Politik, insofern der Staat die maximale Gestalt der Politik darstellt und keine Gemeinschaft und kein Volk, das sich selbst respektiert, in letzter Instanz darauf verzichtet, einen Staat zu bilden. Aus dieser Perspektive dringt die Politik in uns ein. Das Übel, unter dem die zeitgenössische Politik leidet, ist ebenso alt wie ihre Substanz. Ich halte mich hier an die Definition der Politik von Carl Schmitt,2 die jener von Hegel entspricht. „Der spezifische Unterschied des Politischen“, schreibt Schmitt, „auf den sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung zwischen Freund und Feind.“ Schmitt spricht von „spezifischer Unterscheidung“, um zu verstehen zu geben, dass das Politische die spezifische Differenz eines Genres mit der Bezeichnung Kultur ist. Die Kultur umfasst die Gesamtheit menschlichen Denkens und Handelns, aber man darf nicht aus den Augen verlieren, dass dieses Denken und dieses Handeln auf der Basis von etwas Vorgängigem wirken, das durch den Menschen „kultiviert wird“. Es ist die Natur, die durch den Men–––––––––––––––––– 2 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Berlin 1963: Duncker u. Humblot, S. 26; J. Habermas, Vuelve Schmitt. De legitimador del nazismo a inspirador de la posmodernidad. In: El País, 6.11. 1986; L. Strauss, Observations sur le concept du politique de Carl Schmitt. In: L. Strauss, Le testament de Spinoza. Paris 1991: Cerf, S. 313-337; J. Derrida, Politiques de l’amitié. Paris 1994: Galilée, S. 104-128.

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schen kultiviert wird. Man kann also die Natur kultivieren, um sich ihr unterzuordnen oder sie sich unterzuordnen, aber der status naturalis konstituiert in jedem Fall die Grundlage der Kultur, liegt ihr zugrunde und dient ihr in gewisser Art und Weise als Rohstoff. Für Schmitt wie für Hobbes nämlich ist der status naturalis der „Krieg aller gegen alle“. Dies also liegt am Ursprung der Politik oder ist, um es mit Schmitt auszudrücken, „die Erbsünde in politischer Hinsicht“. Es ist wahr, dass eine Divergenz die beiden trennt: Für den Briten hat der natürliche Kriegszustand eine individualistische Konnotation, während für den Deutschen der Krieg die Völker in Gegnerschaft bringt. Eine weitere Divergenz, deren Folgen bedeutsamer sind, bringt sie in Opposition: Für Hobbes geht es darum, das ursprüngliche Politische aufzugeben, indem man die Politik in eine Verteidigung des Lebens umwandelt – etwas, das für Schmitt darauf hinauslaufen würde, das Menschsein abzulehnen. Die Politik muss dem ursprünglichen Geist treu bleiben und dies als Bereitschaft zum Tod verstehen. Bei Hobbes also ist Politik die Verneinung des ursprünglichen Politischen, während sie für Schmitt dessen Verstärkung entspricht. Aber bei genauerer Betrachtung legen beide, der eine wie der andere, den Nachdruck auf den Körper. In der Tat, was will man damit sagen, wenn man im einen Fall von der „Garantie des Lebens“ und im anderen von der „Bereitschaft zum Opfern des eigenen Lebens“ spricht, um Politik zu definieren? In beiden Fällen stellt das Leben das Wesentliche dar, insofern man, selbst wenn man sich dafür opfern muss (das Risiko, sein eigenes Leben zu verlieren), man sich für das Leben opfert (es geht darum, das Leben zu retten). Angenommen, der Körper sei das Thema der modernen Politik, muss man sofort feststellen, dass die Körper in einer Konfrontationsbeziehung stehen. Im Rahmen seiner Definition benutzt Schmitt zweimal das Wort „Unterscheidung“, um hervorzuheben, dass der betreffende Unterschied unterscheidet und teilt. Man muss den Unterschied zwischen den Völkern, oder mit anderen Worten, das, was die Politik ursprünglich war, als eine Opposition verstehen, die zur Konfrontation und letztlich zum Krieg führt. Die Analyse dessen, was Schmitt unter Feind versteht, erlaubt es, diesen Punkt zu klären: „Der Feind kann nur eine Gesamtheit einer Gruppe aus Individuen sein, die einer gleichartigen Gesamtheit in einem zumindest virtuellen, das heißt also, in einem tatsächlich möglichen Kampf entgegentreten.“3 Feind ist kein privates, sondern ein öffentliches Konzept, das die Möglichkeit des Krieges in sich birgt. Von dem Zeitpunkt an, wo der Krieg eventuell möglich ist, begleitet der Feind wie ein Schatten die Gemeinschaft selbst, die sich auf diese Art und Weise als eine menschliche Kampfgemeinschaft konstituiert. Um der Versuchung zu entgehen, den Feind in einem psychologischen Sinne zu verstehen, empfiehlt Schmitt, seinen Begriff des Feindes mit hostis und nicht mit inimicus zu übersetzen. Hostis bezeichnet jenen, mit dem wir eine öffentliche Konfrontation haben, während inimicus auf den privaten Bereich –––––––––––––––––– 3 Schmitt 1963, a.a.O., S. 29.

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des Hasses beschränkt ist. Der inimicus hasst uns; der hostis bekämpft uns. Ist das eigentliche – öffentliche – Feld des Feindes abgegrenzt, bleibt noch die Identität der Subjekte zu erläutern, die sich bekämpfen. Schmitt greift auf Platon zurück, für den nur ein Krieg zwischen Griechen und Barbaren ein echter Krieg ist, während die Kämpfe, die Griechen untereinander in Opposition bringen, als interner Streit einzuordnen sind. Die Hauptidee ist folgende: Ein Volk kann nicht mit sich selbst in Krieg treten, und ein Bürgerkrieg ist nur ein inneres Zerreißen, das nicht darauf abzielt, einen distinkten Staat zu bilden oder zu bewahren. Somit verweist hostis oder polemos für den Griechen auf den Barbaren zurück, während inimicus oder echthros einer der Eigenen sein kann. Mit ersterem bricht der totale Krieg aus (in dem das Sein oder NichtSein des Volkes aufs Spiel gesetzt wird); mit letzterem „nur“ der Bürgerkrieg. Der Feind ist also das andere Volk, aufgrund der einfachen Tatsache, dass es ein anderes Volk ist; als Folge davon ist der Freund unser eigenes Volk. Der Feind ist der Fremde, derjenige, der einer anderen Rasse oder Ethnie angehört. Die Gemeinschaft, zu der man gehört, konstituiert sich durch Verwandtschaft oder Abstammung. Die Politik wäre also eine Art Kultur der Natur, im wörtlichsten Sinn des Begriffs: Treue zum Blut und Negation des anderen Blutes. Jenseits der Diskurse verleihen Blut und Abstammungsbeziehungen der Gemeinschaft ihre Festigkeit. Wenn die Politik diese agonistische Beziehung mit den anderen Völkern aus den Augen verliert und die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen, durch wirtschaftliche Entwicklungen oder moralische Grundsätze ersetzt, wird sich nach Schmitt hieraus der Verlust der politischen Substanz ergeben. Werte wie Wahrheit, Freiheit oder Gleichheit werden sich, wenn sie von dieser Treue gegenüber dem eigenen Blut abstrahiert werden, zu Karikaturen ihrer selbst reduzieren. Frei sein bedeutet der Tradition folgen zu können, mit anderen Worten unseren Vorfahren, unseren Toten treu zu sein und ihr treuer Fortführer zu sein. Aus dem Vorangegangenen geht hervor, dass die Politik auf wirklicher Verwandtschaft oder durch Geburt konstituierten Verbindungen basiert.4 Die moderne Politik fügt dem Blut ein weiteres Element hinzu: die Erde, das Territorium. Der Staat ist ein Territorium, das durch jene geformt wird, die auf seinem Boden geboren werden. Die moderne Politik ist also ohne diese Triade Staat, Geburt, Territorium undenkbar. Sie hat Gott ersetzt durch das, was legitimierendes Prinzip der Politik ist. Selbst, wenn eine solche Beschreibung dazu einlädt, den Staat als eine Art Stamm zu denken, muss man sich daran erinnern, dass Hegel ihn als „ethische Totalität“5 bezeichnet und so dieser politischen Gestalt einen herausragenden Aspekt zuschreibt. Diese immense philosophische Wertschätzung des Staates –––––––––––––––––– 4 Derrida weist nach, dass wir alle, unabhängig von dem Urteil, das wir über Schmitt fällen, die Wohlbegründetheit dieser Hypothese anerkennen; vgl. Derrida, a.a.O., S. 127. 5 Vgl. Reyes Mate, La razón de los vencidos. Frz. La raison des vaincus, übers. v. C. Ballestero. Paris 1993: L’Harmattan, S. 113ff.

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ist Hegel zufolge durch die Tatsache gerechtfertigt, dass die Menschheit in ihm zum ersten Mal einer Gestalt begegnet, in der „die subjektive Freiheit und die objektive Allgemeinheit“, also die Interessen des Individuums und jene der Gemeinschaft sich einigen. Das bedeutet, dass die Mitglieder eines Staates hinter ihren Türen gezwungen sind, solidarisch zu sein, soweit sich das, was geschieht, ihrem freien Willen verdankt. Wenn wir uns fragen, weswegen der spanische Staat sich beispielsweise angesichts einer Katastrophe in Andalusien um die auftretenden Probleme kümmern muss, während angesichts einer Katastrophe im nur 18 Kilometer von der spanischen Küste entfernten Marokko dieser selbe Staat sich mit einer beliebigen karitativen Geste lossagt, so müssen wir die Erklärung in dieser Idee des Staates als „ethischer Totalität“ suchen: Was innerhalb der Grenzen geschieht, obliegt uns, weil es auf eine gewisse Art von unserem Willen abhängt; was in einem anderen Staat geschieht, obliegt uns nicht mehr, denn die politische Ethik reicht nicht über das Limit der Grenzen hinaus. Was jene anderen betrifft, die außerhalb sind, so ist dies eine ganz andere Angelegenheit, die sich aus der Wohltätigkeit ergibt. Nehmen wir also zur Kenntnis, dass, wenn der Staat eine „ethische Totalität“ ist, es keine moralischen Kriterien gibt, die über dem Staat stehen. In diesem Zusammenhang erzeugt der Staat notwendigerweise eine Art „ethischen Nationalismus“: Das Wohl wird gleichgesetzt mit dem, was unserem Volk, unserer Ethnie passt, die die Inkarnation der Vorstellung des Freundes ist. Denken wir jedoch an die Folgen, die sich aus dieser Hypothese für die universellen moralischen Theorien ergeben, wie die Menschenrechte, die auf Elemente gründen, die der Triade Staat-Geburt-Territorium fremd sind. Für die moderne Politik wirken die wohlbekannten Menschenrechte hemmend und fast unverständlich, insofern es aus dieser Perspektive kein anderes Recht gibt als jenes, das durch den Staat begründet und von ihm anerkannt wird. Wenn der Mensch über eine gewisse Art von Recht aus dem einfachen Grund verfügte, dass er ein Mensch ist, dann käme ihm dieses zu, ohne dass der Staat daran etwas auszusetzen hätte. Aber, wie ein spanischer Außenminister es formulierte, „für den Staat existiert ein Immigrant ohne Ausweispapiere nicht.“6 Das fällt mit dem zusammen, was Hannah Arendt angesichts der Millionen von Menschen beobachtete, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg ziellos auf der Suche nach einem Aufnahmeland herumirrten: Die Person, die bei irgendeiner Regierung ohne Ausweispapiere vorsprach, war verloren, denn „die Welt hat in der abstrakten Nacktheit eines menschlichen Wesens nichts Heiliges gesehen“.7 Für die Welt, für die Politiker, für den Staat zählt die menschliche Würde ohne Ausweispapiere nichts. ––––––––––––––––––

6 Vgl meinen Artikel El campo del moro, in El Periódico de Catalunya, 12.2. 2000, auch in Reyes Mate, A contraluz de lo políticamente correcto. Barcelona 2005: Anthropos, S. 99-102. 7 H. Arendt, L’impérialisme, übers. v. M. Leiris. Paris 1982: Fayard, S. 287 [dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986: Piper].

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Diese Erwägungen sind beileibe kein (schlechter) Witz, sondern entsprechen einer politisch korrekten Interpretation der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789. Zweierlei Interpretationen sind möglich: Entweder sind die Menschenrechte nur für die Bürger reserviert (politisch korrekte Version), oder den Menschen kommen die Bürgerrechte aufgrund der Tatsache zu, dass sie Menschen sind (eine Version, die die Staaten ablehnen). Nichts macht die Blöße des Staates so offensichtlich wie der Mensch ohne Ausweispapiere, ein Grund, aus dem es sich empfehlen würde, ihn als diejenige politische Gestalt unserer Zeit zu betrachten, die uns am meisten zu denken gibt. Der Mensch ohne Ausweispapiere, ob es sich um einen illegalen Immigranten handelt, einen Staatenlosen, einen Flüchtling oder einen Exilanten, lässt den trügerischen Charakter der Gestalt des Bürgers hervortreten. Die Staatsbürgerschaft basiert in der Tat nicht auf einer dem Menschen angeborenen Würde, die durch die Geburt impliziert ist, sondern sie ergibt sich aus einer Anerkennung des Staates, aus einem Akt des Imperiums; sie enthüllt uns, wer über die Menschenrechte entscheidet, was Macht bedeutet. Staat und Ausweislose stehen im Gegensatz zueinander, so dass die Staaten das Konzentrationslager erfunden haben, um Leute ohne Rechte in einem Nicht-Territorium zu platzieren.8 Die Konzentrationslager sind nicht von den Nazis erfunden worden, sondern von Staaten, die auf diese Art eine Lösung für das Problem der Menschen ohne Ausweispapiere gefunden haben. Offensichtlich hat man seither nichts Besseres erfunden. Der Ausweislose stellt nicht nur ein Geduldsspiel für die Arbeitsmarkt-, Erziehungs- und Gesundheitspolitik der Wohlfahrtsstaaten dar, wie man es alle Tage sieht, sondern das größte politische Problem der Zukunft und natürlich auch die größte Herausforderung, die an die politische Gestalt des Staates gestellt wurde.9 Ich habe das Konzentrationslager angesprochen, und ich möchte einen Moment dort verharren, nicht um über die Juden zu sprechen (die im Grunde in Ausrottungslagern interniert wurden), sondern über uns selbst. Das Lager ist ein Ort, an dem das Recht, die Rechte ausgesetzt worden sind; es ist also der Ort des Ausnahmezustands. In der politischen Philosophie spricht man vor allem über das Lager als Symbol der modernen Politik. Die These ist gewagt, denn es scheint, als würden wir versuchen, hierdurch einen –––––––––––––––––– 8 Joaquín Xirau bietet in dieser Hinsicht ein eloquentes Zeugnis. Er erzählt, wie er Antonio Machado und dessen betagte Mutter bei ihrer Flucht aus Spanien nach dem Eindringen der Truppen Francos in Barcelona begleitete. Sie unternahmen die Reise zu Fuß, eine Reise, die mit Tücken übersät war. Als sie ohne Gepäck und ohne Papiere an der französischen Grenze ankamen, waren sie der Gnade der französischen Polizei ausgeliefert, „die die Spanier ohne Papiere überprüften, um sie in ein Konzentrationslager zu bringen“. Die Gruppe von Xirau und Machado konnte dem entgehen, weil letzterer ein rettendes Papier bei sich trug: eine Einladung, an der Sorbonne einen Vortrag zu halten. J. Xirau, Obras completas I. Barcelona 1998: Anthropos, S. LIXf. 9 Vgl. G. Agamben, Política del exilio. In: H. C. S. Gorski (Hg.), Identidades comunitarias y democracia. Madrid 2000: Trotta, S. 82-92.

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Vergleich zwischen der liberalen Demokratie und dem Faschismus aufzustellen, was eine Übertreibung wäre und natürlich eine Beleidigung für die Opfer der Lager darstellen würde. Trotzdem darf man diese These nicht zu schnell abtun. Denn es geht nicht darum, zu behaupten, dass die expliziten Spielregeln dieselben seien, sondern darum, dass es eine Reihe unausgesprochener gemeinsamer Voraussetzungen gibt, deren Existenz die geringe Distanz erklären würde, die den Faschismus vom Liberalismus trennt. Der Soziologe Zygmunt Bauman sagt, der Holocaust sei nicht deshalb folgenschwer, weil er einmal stattgefunden hat, sondern weil jeder Beliebige von uns zum Henker werden kann. Zählen wir einige dieser Voraussetzungen auf, die uns innewohnen. In erster Linie ist dies die Natur des Liberalismus, in dessen Zentrum wir leben: Geht es darum, auf die Freiheit zu setzen oder auf die Sicherheit des Körpers und der Güter? Nach Foucault10 benutzt der Liberalismus Freiheit als eine Art Brennstoff in einem System, in dem das Gleichgewicht zwischen der Freiheit und der Sicherheit das Wesentliche ist. Der Hobbes’sche Liberalismus gibt vor, die Sicherheit der Personen und der Güter zu garantieren. Darüber hinaus wird der Liberalismus gegenwärtig als Antithese des Faschismus präsentiert, eine Behauptung, die eine genauere Analyse verdient. Der Faschismus, erinnern wir uns, hat gleichzeitig mit dem wirtschaftlichen Liberalismus existiert, er hat zu Beginn zahlreiche Liberale verführt; der Liberalismus ist bei der ersten indirekten Aufforderung des Faschismus wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt (daher das hohe Ansehen des Kommunismus bei den fortschrittlichen Intellektuellen, weil nur er fähig war, die faschistische Barbarei einzubremsen), ohne hier auf die These von Marcuse einzugehen, die die Komplizenschaft zwischen Liberalismus und Faschismus beschreibt.11 Zweitens geht es um die Beziehung zwischen Fortschritt und Barbarei. Auf den ersten Blick sind sie antagonistisch, aber vielleicht verbindet sie eine gewisse Verwandtschaft. Sie haben etwas gemeinsam: Der Fortschritt akzeptiert die „Human-Kosten“ als Preis für das Wohlergehen der kommenden Generationen; die Barbarei ist die Reduzierung des Menschen auf das nackte Leben. „Es [gibt] niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein Zeugnis der Barbarei zu sein“, schreibt Benjamin.12 Das läuft nicht darauf hinaus, zu sagen, dass sie das gleiche bedeuten, sondern dass wir einen Fortschritt nur auf dem Rücken von Besiegten kennen. An dritter Stelle ist die Parteilichkeit der Interpretationen von Geschichte zu nennen. Die gleiche Geschichte kann auf zwei sehr verschiedene Arten gelesen werden: Was für den Sieger Fortschritt ist, ist für den Besiegten Barbarei; die historischen Kosten, die für den Sieger eine vorübergehende Anomalie –––––––––––––––––– 10 Lehrveranstaltung von Foucault im College de France 1983. 11 Um die Geschicke des Liberalismus im 20. Jahrhundert zu verfolgen, vgl. E. Traverso, Le totalitarisme. Paris 2001: Seuil. 12 Vgl. W. Benjamin, Gesammelte Schriften I/2. Frankfurt/M. 1974: Suhrkamp, S. 696 [Über den Begriff der Geschichte].

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darstellen, von außergewöhnlichem Charakter, stellen für die Besiegten die Regel dar.13 Dieselbe Geschichte erlaubt also zwei Lesarten: Was aus der Perspektive der Sieger Emanzipation ist, ist für die Besiegten Unterdrückung. Für sie ist der Ausnahmezustand mit all seinen Folgen die Regel. Diese doppelte Sichtweise ein und derselben Wirklichkeit ist von höchster Bedeutung, denn die schönsten und universalistischsten Konstruktionen unserer Kultur könnten in der Tat aus den partikularen Interpretationen der Sieger resultieren. Die Unterdrückten wären die einzigen, die dieser Illusion nicht verfallen: Sie wissen aus Erfahrung, dass sie immer diejenigen sind, die für diese extrem partikulare Universalität bezahlen. Beunruhigend ist zudem, dass die einzigen bekannten Vorschläge einer Versöhnung der zwei Gesichtspunkte nur von einer der beiden Parteien ausgehen. Ich möchte hier auf die modernen Philosophien der Geschichte verweisen, oder auf die Ideologie des Westens, deren nachgewiesene Parteilichkeit die Tür für eine Universalität öffnet, die nicht exklusiv wäre. Sobald man also aus einem historiographischen Gesichtspunkt zugesteht, dass der Faschismus und der Liberalismus radikal verschieden sind, muss man sich die Frage stellen, wie der konkrete Mensch, der Bürger, im einen oder im anderen Fall wahrgenommen wird. Wir bedauern heute in den fortgeschrittenen Gesellschaften die Reduktion des Bürgers auf den Kunden, des Arbeiters auf den Konsumenten (Habermas). Kafka zeigte in seiner Analyse des Menschen zweifellos, wohin diese Tendenz führt. Er hat oft auf die Metamorphose des Menschen zum Insekt zurückgegriffen14 und verwies damit auf diese Entwicklung, die vom bios zum zoe führt, von der Politik zur Biopolitik; er beschrieb diese nicht-menschlichen Eingeweide der Politik, die wir kennen.

2. Gerechtigkeit 2.1 Sprechen wir nun über Gerechtigkeit, da sie übereinstimmend als Grundstoff der Politik aufgefasst wird. Zumindest gibt es eine Tradition der politischen Philosophie, für die Politik gleichbedeutend mit Gerechtigkeit ist. Für Aristoteles15 erlaubt die Politik, einen grundlegenden Konflikt der Gesellschaft zu lösen: die Konfrontation zwischen den Armen und den Reichen. In der Tat sind die Armen und die Reichen die „zwei Teile, aus denen der Staat besteht“ (1318a), und die Politik besteht nun darin, sie koexistieren zu lassen, eine schwierige Aufgabe: „Denn es sind immer die Schwächeren, die die –––––––––––––––––– 13 „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ,Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist“, schreibt Benjamin (ebd., S. 697). 14 Die Verwandlung beginnt folgendermaßen: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ 15 Ich verweise auf Aristoteles, Politik, Buch IV, Kap. III [die folgenden Zitate nach Aristoteles, Politik, übers. v. O. Gigon, München 1973: dtv].

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Gleichheit und die Gerechtigkeit anstreben, die Stärkeren aber kümmern sich nicht darum“ (1318b). Es ist unmöglich, mit so wenigen Worten mehr darüber zu sagen: Zwar besteht die Politik darin, für Gerechtigkeit zu sorgen, Gerechtigkeit jedoch, so scheint es, interessiert nur die Opfer von Ungerechtigkeit. Aristoteles verlässt sich nicht auf die Vorstellung einer Gerechtigkeit, die durch die Reichen vorangetrieben wird; er zieht es vor, von der Erfahrung der Ungerechtigkeit auszugehen. Was muss man tun, damit jene, die Urheber der Ungerechtigkeit sind, sich an der Gerechtigkeit beteiligen? Nur zwei Wege eröffnen sich uns: Entweder sie selbst vermitteln uns ihr Verständnis von Gerechtigkeit und das Opfer der Ungerechtigkeit akzeptiert dies (dies ist meistens der Fall) oder es liegt bei den Opfern der Ungerechtigkeit, uns ihre Idee von Gerechtigkeit mitzuteilen (dies ist im Allgemeinen nie der Fall). Die erste Lösung hat den Nachteil, dass die Urheber sich möglicherweise nie vorstellen können, was Ungerechtigkeit ist; die zweite würde nie das Aufkommen einer Theorie der Gerechtigkeit ermöglichen. Wesentlich bleibt dennoch, nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Politik sich nicht mit einer vagen Koexistenz, sondern mit einer gerechten Existenz befasst. Aristoteles hat dies zum Ausdruck gebracht, und Rorty bestätigt dies mit seiner üblichen Offenheit heute erneut: „Die zentralen politischen Fragen drehen sich um die Beziehungen zwischen den Reichen und den Armen.“16 2.2 Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist die Gerechtigkeit zu einem Hauptthema der politischen Philosophie geworden, was zum Optimismus anspornen müsste. Im Gegensatz zu den Klassikern behandelt man sie nicht länger als eine einfache Tugend; als Grundlage, die die Politik erst legitimiert, stellt Gerechtigkeit heute viel mehr dar. Oder wie Rawls schreibt: „Der erste Gegenstand der Gerechtigkeit ist die Grundstruktur der Gesellschaft.“17 Nicht irgendeiner Gesellschaft, sondern der modernen Gesellschaft, die eine plurale ist. Wie kommt man zu gemeinsamen Kriterien von Gerechtigkeit, wenn jeder eine andere Vorstellung von Gut und Böse hat? Indem man rationale Kriterien etabliert, und das bedeutet letztlich universelle Kriterien. Aber was bedeutet rational in einer so buntgescheckten Welt? Man darf das Rationale nicht auf der Seite des Inhalts, der Substanzen suchen (die nämlich sehr partikular sind), sondern auf der Seite des Verfahrens, eines neutralen und unparteiischen Verfahrens, das jedem Spielraum gewährt. Es gilt also, dem Aspekt der Entscheidung, dem Entscheidungsprozess, Aufmerksamkeit zu schenken. Moderne Gerechtigkeiten sind deliberativ und prozedural orientiert. Van Parijs bezeichnet die Theorien der Gerechtigkeit, in denen das Verfahren do––––––––––––––––––

16 R. Rorty, Utopías globales, historia, utopía. In: Pensamientos de los Confines, Buenos Aires, n 1/2, 1998, S. 115. 17 J. Rawls, Théorie de la Justice, übers. v. C. Audard. Paris 1987: Seuil, S. 33 [dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975: Suhrkamp].

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miniert, als liberal.18 Eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die gegenüber den verschiedenen Vorstellungen des guten Lebens neutral und unparteiisch ist, ist in der Tat den liberalen Theorien eigen. Wenn der Arme gerecht sein will, muss er seine Armut vergessen, und auch der Reiche darf nichts propagieren, und sei es auch nur sein schlechtes Gewissen. Man muss sich ein Tuch über die Augen binden – den Schleier der Unwissenheit –, so Rawls. Aber Neutralität und Unparteilichkeit zu Kriterien der Gerechtigkeit zu machen, führt dazu, die Gerechtigkeit zu reduzieren auf die Verteilung von Freiheit. Wir sagen nämlich eigentlich, dass die Kriterien der Gerechtigkeit rational sein müssen. Die Rationalität besteht in einer modernen (nämlich post-metaphysischen und pluralen) Welt darin, symmetrisch in den Entscheidungsprozess einzugreifen. Es ist die Zeit „des Dialogs“. Es geht also darum, in der Entscheidung die Gleichheit zu retten, in Hinblick darauf, dass dies die einzige Art und Weise ist, den sakrosankten Grundsatz der Autonomie des Subjekts zu bewahren. Tatsächlich nämlich bin ich nicht frei, wenn ich unter dem Druck von diesem oder jenem entscheiden muss; außerdem hat meine Freiheit wenig Wert, wenn sie definitiv im Moment der Entscheidung nicht so viel gilt wie jene der anderen. Im Bereich der Gerechtigkeit ist das Wesentliche also, zu für alle gültigen Kriterien darüber zu kommen, was gerecht oder ungerecht ist; damit dies geschieht, müssen diese Kriterien von allen unter gleichen Bedingungen beschlossen werden; um unter gleichen Bedingungen zu beschließen, muss jeder denselben Grad an Freiheit genießen, und jeder muss auch frei sein von Druck, von Erfahrungen und von Vorurteilen. Daraus geht hervor, dass Gleichheit grundlegend für Gerechtigkeit ist, wobei gilt, wohlverstanden, dass diese Gleichheit sich nicht in Bezug auf die „sozialen Ungleichheiten“ definiert, sondern in Bezug auf die Freiheit. Gleichheit in der Freiheit. So endet man dann damit, die Gerechtigkeit auf die Freiheit zu reduzieren.19 2.3 Gerechtigkeit ist jedoch keine Frage der Freiheit, sondern eine Sache des Brotes. Selbstverständlich sind Brot und Freiheit nicht unvereinbar. Sie gehen Hand in Hand. Allerdings in einer präzisen Reihenfolge. Bloch schreibt, „der Magen ist die erste Lampe, in die man Öl einfüllen muss“, und „der Hunger und die Liebe setzten die Welt in Bewegung“. Allerdings in dieser Reihenfolge. Gerechtigkeit auf ein Freiheitsproblem zu reduzieren läuft darauf hinaus, die Politik zu entpolitisieren. Dies würde die Abwertung erklären, die die Demokratie erfährt. Seit 1989 haben sich zweiundzwanzig neue Staaten gegründet, und jeder von ihnen ist eine liberale Demokratie. Mehr noch, diese Regimes wurden nicht gegen den Willen der reichsten und mächtigsten Länder der Welt etabliert, sondern mit ihrer Zustimmung. Das muss uns eigentlich –––––––––––––––––– 18 Ph. van Parijs, Qu’est-ce qu’une société juste? Paris 1991: Seuil, S. 244 19 Carlos Nino bemerkt dies zur rechten Zeit, wenn er diese liberalen Theorien zusammenfassend schreibt, dass „die Gerechtigkeit in einer egalitären Verteilung der Freiheit besteht“; vgl. Justicia. In: E. Garzón Valdés/F. J. Laporta (Hg.), El derecho y la justicia, Madrid 1996: Trotta, S. 478.

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überraschen. Bis vor sehr kurzer Zeit haben sich die mächtigen Staaten vor neuen Demokratien in Acht genommen (denken wir nur an die Feindseligkeit der Vereinigten Staaten angesichts der Demokratisierung der armen Länder in den fünfziger und sechziger Jahren). Heute unterstützen sie sie mit großem Tamtam. Vielleicht lässt sich diese veränderte Einstellung im Lichte der Bedeutung verstehen, die der Politik in den neuen liberalen Demokratien übertragen wird, verglichen mit jener, die sie in den alten Demokratien innehatte. Lange Zeit war die Demokratie nämlich ein Synonym für eine starke Forderung, denn mit dem Konzept der Freiheit in der Politik war die Idee einer Verteilung des nationalen Erbes zwischen allen Mitgliedern der demokratischen Gesellschaft verbunden. Demokratie war gleichbedeutend mit der Feststellung, dass der Staat nicht durch einige wenige gebildet wird, sondern dass die ganze Gesellschaft dazu gehört. Um es mit zwei Begriffen zu sagen: In diesen Demokratien war die Idee der Freiheit mit jener der Gerechtigkeit verbunden. Die neuen liberalen Demokratien haben nun dieses Problem nicht mehr, insofern Gerechtigkeit selbst dort eine Frage der Freiheit ist. Wie Federico Mayor, der vormalige Generaldirektor der UNESCO, scharfsinnig beobachtete, gibt es heute „zweifellos mehr Freiheit in der Welt, aber weniger Demokratie“. 2.4 Insoweit die materielle Politik uns interessiert, gilt es, eine Gerechtigkeit mit materiellen Inhalten zu fordern. In unseren Ausführungen zur Politik ließen wir den Mensch „animalisiert“, auf einen bloßen Körper begrenzt. Die „gerechte Existenz“, die Gerechtigkeit in der Existenz, stellt die Antwort auf diese Situation bzw. Bedrohung dar. Was können wir unter Gerechtigkeit verstehen? In erster Linie muss man sie vom Recht unterscheiden. Recht ist nicht Gerechtigkeit. Das Wesen des Rechts besteht nicht darin, Gerechtigkeit zu schaffen, sondern zu entscheiden und beschließen. Vorrangig ist, einen Konflikt zu beenden, indem man ein Urteil ausspricht. Roma locuta causa finita. Die englischen Fußballspieler, die die Gewohnheit hatten, Schiedsrichterentscheidungen nicht anzufechten, wussten dies sehr genau. Damit das Spiel weitergehen kann, muss man eine Entscheidung treffen und sich ihr unterwerfen. Das Urteil muss nicht gerecht sein, es muss gültig sein; aber seine Gültigkeit verdankt sich der Beachtung des Verfahrens und nicht der Wahrheit. Man darf also Gerechtigkeit und Recht nicht gleichsetzen. Die Gerechtigkeit ist die Anerkennung des absoluten Wertes des Einzelnen. Damit beginnt Gerechtigkeit. Das bedeutet zunächst, dass niemand Kanonenfutter, Opfer des Fortschritts oder Versuchs-Meerschweinchen ist. Man bestätigt den absoluten Wert des individuellen Lebens. Deshalb steht Gerechtigkeit im Gegensatz zu jeder progressistischen Philosophie der Geschichte (die den Fortschritt zur Zielsetzung der Menschheit macht), ebenso wie zu jeder abstrakten Theorie der Gerechtigkeit (die verlangt, dass wir die Existenz der Ungerechtigkeit ignorieren).

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Jede moralische Theorie, die die konkrete Erfahrung für unsinnig erklärt, für bar jeden Sinnes, ist anfechtbar. Diese Kritik findet auf die Menschenrechte Anwendung, für die jeder Mensch unabhängig von seiner Hautfarbe und seinen Lebensbedingungen jedem anderen Menschen gleich ist, einzig aus dem Grund, dass wir alle die gleiche Würde haben. Ungeachtet der zugrunde liegenden guten Absicht handelt es sich dabei um eine ideologische Hypothese; angesichts dessen, dass wir faktisch nicht gleich sind, läuft die Behauptung, dass wir es seien, eigentlich darauf hinaus, die reale Situation auf die leichte Schulter zu nehmen. Die Menschenrechte produzieren ein gutes Gewissen, während sie doch Entrüstung produzieren müssten. Wir dürfen nicht über Menschenrechte sprechen, denn das Wort Recht hat die Konnotation einer legalen Anerkennung (die aus unserem Menschsein resultiert), zu der nie ein Zugang gewährt wird; man müsste über eine moralische Forderung nach Gleichheit sprechen usw., allerdings ausgehend von der realen Ungleichheit. Natürlich ist dies keine Kleinigkeit. Von der Erfahrung der Ungerechtigkeit auszugehen, wenn man sich auf die Suche nach einer Theorie der Gerechtigkeit begibt, impliziert, dass man sich untersagt, die Gerechtigkeit aus der idealen Welt zu importieren oder sie in Richtung der abstrakten Konstruktion einer „idealen Dialog-Gemeinschaft“ zu verschieben. Die Gerechtigkeit ist die materielle Antwort auf die Erfahrung der Ungerechtigkeit. Die Behauptung des absoluten Wertes des Einzelnen bringt eine andere schwerwiegende Folge mit sich: die Aktualität bzw. die Kraft der in der Vergangenheit begangenen Ungerechtigkeiten, die nicht abgeschlossen worden sind. Für die Gerechtigkeit verjähren Ungerechtigkeiten nicht, ungeachtet der Zeit, die vergangen ist, und selbst wenn der Schuldner sich für zahlungsunfähig erklärt. Die gegen unsere oder von unseren Eltern oder Großeltern begangenen Ungerechtigkeiten verjähren aus zwei Gründen nicht. Stellen wir uns zunächst einmal vor, dass das Verbrechen verjährt, weil einige Jahre vergangen sind: Was verhindert dann, dass das Verbrechen sich reproduziert? Das Verbrechen verjährt, um das Leben der Lebenden zu vereinfachen, aber wenn nur das Leben der Lebenden zählt, warum sollte der Verbrecher dann aufhören zu töten, nachdem es ja eigentlich darum geht, mit jenen zu verhandeln, die übrig bleiben?20 Der zweite Grund steht mit dem Aufkommen des Erinnerns in der Politik in Zusammenhang. Wenn die Politik nur mit dem Recht zu kämpfen hätte, könnte sie sich den Luxus erlauben, die Vergangenheit zu annullieren, indem sie eine Form der Verjährung schüfe. Jedoch kommt wie in jeder anderen menschlichen Aktivität auch in der Politik die Erinnerung dazwischen, und sie eröffnet das, was das Recht annulliert. –––––––––––––––––– 20 Die Terroristen, für die es auf das Gleiche hinausläuft, zwei oder zweihundert Menschen zu töten, haben diese Logik durchaus verstanden: Sie wissen, dass im Verhandlungsfall das Leben der (Über-)Lebenden das entscheidende Element darstellt. Letztere sind bereit, jeden Preis zu zahlen – bieten Amnestie und Straffreiheit an – im Austausch für die Sicherheit des Lebens der Lebenden.

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Die Erinnerung ist eine grundlegende Komponente der Gerechtigkeit. Das ist eine alte Überzeugung, die wahr ist, auch wenn sie in Vergessenheit geraten ist. Das Gewicht der Erinnerung ist in den Gründungsmythen der modernen Politik präsent. Erinnern wir uns, wie Rousseau und Kant den Mythos des Paradieses und der Vertreibung aus dem Paradies neu ausformulieren: Die Menschheit hat eine Zeit ihres Lebens in der Unschuld und im guten Naturzustand verbracht; diese Etappe ist beendet, als der Mensch von seiner Freiheit und seiner Intelligenz Gebrauch macht. Dies ist der Sündenfall. Was wollen sie uns sagen? Dass diese Welt, die die unsere ist und Konflikte und Ungleichheiten im Überfluss hat, die Frucht unserer Freiheit ist, und dass wir dafür die Verantwortung übernehmen müssen. Wie? Durch den Gesellschaftsvertrag, der seit der Freiheit versuchen sollte, bescheiden das Zusammenleben wieder aufzubauen, mit dem uns die Natur eines Tages beschenkt hat. Die Erinnerung zwingt uns, die Verantwortung für die bestehenden Ungleichheiten zu übernehmen, denn sie sind vom Menschen hervorgebracht, von unseren Großeltern, von denen wir sie erben. Angenommen, die Ungleichheiten seien Ungerechtigkeiten, weil sie vom Menschen verursacht worden sind, und dass wir davon geerbt haben, dann reicht es nicht aus, „nur“ eine vernünftige und freie soziale Ordnung zu schaffen. Es gibt daneben ein Problem der Ungerechtigkeit im Blick auf die Vergangenheit. Was kann man aus all dem ableiten? Dass, wenn die derzeitigen Ungleichheiten eine Ungerechtigkeit sind, die Zeit ebenso Teil der Politik ist wie der Raum. Es ist nicht nur gerecht, dass Pinochet außerhalb Chiles Rechenschaft ablegen muss (Universalität des Raums), es wäre ebenso notwendig, dass jeder Richter fordern kann, ein Zeitgenosse müsse Verantwortung für eine vergangene und geerbte Ungerechtigkeit übernehmen (zeitliche Universalität). In Wirklichkeit steht nicht das Vergessen im Gegensatz zur Erinnerung, sondern die Ungerechtigkeit.

3. Erziehung Erziehung residiert dort, wo sich die Erfahrung verliert und das Wissen beginnt, die Welt des Wissens, dieses Wissens, das so viele Eltern und politische Autoritäten beunruhigt. Erziehung müsste darin bestehen, das zu lernen, was es erlaubt, ein guter Bürger und ein ehrlicher Mensch zu sein, all dies im Bewusstsein, dass wir von einem unermesslichen Verlust ausgehen; einem Verlust, den kein Wissen mildern oder ersetzen kann. Dieser Verlust resultiert daraus, dass man die Weisheit mit der wissenschaftlichen Erkenntnis gleichgesetzt hat, die zum obersten Analogon des Wissens geworden ist. Es gilt hier der Satz, den Horkheimer an Paul Tillich gerichtet hat – „die Wissenschaft ist

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statistisch, und ein Konzentrationslager reicht an Wissen aus“.21 Die Weisheit kann in der Erfahrung entstehen und wachsen, insbesondere in der negativen Erfahrung. Seien wir uns im Klaren, es handelt sich nicht darum, die verlorene Erfahrung wieder zu rekonstruieren. In der Vergangenheit war diese Erfahrung zweifellos verbunden mit dem Trivium (Logik, Rhetorik und Grammatik), aber es dient heute zu nichts, die Latein- oder Philosophiekurse noch zu vervielfachen oder die Geisteswissenschaften in ihrer alten Form zu retten. Das bedeutet aber auch nicht, dass wir uns auf die Weitergabe nützlicher Kenntnisse beschränken sollten. Es kann uns die Erkenntnis bleiben bzw. bleibt uns, dass das Erlebte weder Erfahrung noch Wissen im Sinne von Weisheit ist. Es bleibt uns die Möglichkeit, das, was wir wissen, in einem offenen Horizont neu zu dimensionieren. In der erwachsenen, reifen oder aufgeklärten Form von Wissen verliert man die Kindheit (enfance/infantia). Kindheit (ausgehend vom lateinischen infantia) bedeutet „ohne Sprache“. In der Kindheit gibt es keine Sprache. Und wenn der Mensch die Sprachfähigkeit erreicht, vertreibt er die Kindheit. Die Kindheit muss aus der Sprache herauskommen. Jedes Mal, wenn er spricht, bringt der Mensch eine Welt ohne Worte zum Schweigen, verschweigt sie. Dies ist die Gewalt, die die Sprache, die alles besitzen will, ausübt. Die gesprochene Sprache [parole] ist ratio und verbum, zwei Dinge, die nicht mit Kindheit koexistieren können. Aber zu wissen, dass es Kindheit (im Sinne von infantia) gibt, eine vorsprachliche Erfahrungszone, bedeutet auch zu wissen, dass die Sprache nicht alles ist, dass es jenseits der ratio und des verbum einen Namen gibt. Die Kindheit ist nicht nur ein Alter, sondern auch eine Dimension des Menschlichen, eine Dimension, die in Zeiten des Erfahrungsverlustes besonders präsent ist.22 In Zeiten der Apotheose der Sprache (die moderne Weisheit identifiziert sich mit dem wissenschaftlichen Logos, die Politik mit dem Parlament, die Ethik ist diskursiv usw.) das Schweigen zur Geltung zu bringen, ist ungeachtet aller Eloquenz nicht einfach. Aber hier läge die Aufgabe der Erziehung: die Kindheit als Transzendenz des Erwachsenen zur Geltung zu bringen. Die Kindheit verringert die Überheblichkeit der Sprache; vor der Sprache, so sagt man, gibt es das Schweigen; nachdem nicht alles Sprache ist, bleibt, nachdem es einmal ausgesprochen wurde, dieses am wichtigsten: was nicht gesagt werden kann. Das Schweigen, auf das wir verweisen, ist das sokratische Schweigen, das bleibt, nachdem man alles gesagt hat, was zu sagen war. Das Rückverweisen der Sprache auf das Schweigen ist Aufgabe des Intellektuellen. Es gab eine Zeit, wo Erziehung und Bildung, auf die Etymologie achtend, sich als Extraktion dessen verstanden, was jeder in sich trug. Man müsste diese Metapher neu interpretieren: Es handelt sich demnach darum, das emporzu––––––––––––––––––

21 Zitiert nach R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung. München 1986: dtv, S. 355. 22 Vgl. zu diesem Punkt G. Agamben, Enfance et histoire. Paris 2000: Payot.

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ziehen und hervorzuheben, was wir nicht sind, das, was dem Wesen, das wir zu sein glauben, fehlt. Diese hermeneutische Wende muss die oberste Metapher von Wissen betreffen: Für die Griechen war Wissen eine Vorstellung, eine „Theorie“. Das Bild der Vorstellung evoziert ein inneres Licht, das das beleuchtet, was uns umgibt. Jeder sieht entsprechend dem Licht, das ihn beleuchtet. Aber mit der Vorstellung gelingt es uns nicht, aus uns selbst herauszukommen, selbst wenn wir es schaffen, sehr weit zu sehen. Wir plädieren hier für einen Typus von Wissen, der auf uns zukommt, in uns eindringt und uns verändert. Die Metapher für dieses Wissen wäre der Gehörsinn und nicht das Auge, das Hören und nicht die Vorstellung. Bildung als Beachtung dessen, was wir nicht sind, dessen, was wir nicht haben, aber ohne das wir uns wahrscheinlich nicht vollenden. Bildung zu vermitteln würde dann bedeuten, aus jedem menschlichen Wesen einen Zeugen zu machen, der das bezeugt, was in der Sprache oder in dem Wissen, das in den Datenautobahnen zirkuliert, verschwiegen bleibt. Aus dem Französischen von Ursula Liebing

Fathi Triki

DAS PRINZIP DEMOKRATIE

Ich stütze mich im Folgenden auf Alain Badious Analyse des militärischen Exports der Demokratie. Der Irak ist ein typisches Beispiel einer solchen imperialistischen Politik mit bestialischen Zügen. Der heutige Irak besteht aus Leid, Anarchie, Verfall, Spaltung, Klans, extremer Gewalt, Ausdruck der Unmenschlichkeit. Darüber hinaus tendiert das Land keineswegs zur Demokratie, sondern zur Theokratie. Der zur Zeit der Diktatur nicht existierende öffentliche Bereich ist ganz einfach zu einem Bereich des Todes geworden. Allein der Krieg hat das Wort. Auf der einen Seite werden Massaker ohne Signatur verübt, Körper von Selbstmordanschlägen zerrissen. Auf der anderen Seite findet eine von den Armeen der Besatzungsmächte organisierte Säuberung statt, wodurch ganze Städte zerstört werden. Folglich setzt sich eine Widerstandsbewegung in Gang, die zwar blind, aber auch, so Badiou, legitim ist, „da der amerikanische Krieg keine Antwort auf eine Bedrohung, keine Gegenoffensive darstellte. Er kann nur als Aggression und Invasion gedeutet werden. Gemäß dem Naturrecht, dem Grundrecht der Menschen kann man sich also nur zum Widerstand gegen ihn bekennen.“1 Das zweite Beispiel ist die peinlich genaue Anwendung des demokratischen Systems auf Afghanistan, ohne dass die Gesellschaft dieses Landes darauf ausreichend vorbereitet wäre, ohne den Vorbedingungen einer Modernisierung und Demokratisierung Rechnung zu tragen. Das Ergebnis wird nicht auf sich warten lassen: Die alten Militärchefs der Stämme und Klans werden zwangsläufig Abgeordnete stellen, ihre Macht dadurch weiter und entscheidend ausbauen und so den Demokratisierungsprozess selbst zunichte machen. Zu diesem Problem meint Badiou, dass die Philosophie in doppelter Hinsicht eingreifen könne, ontologisch mit dem Gedanken der Differenz (Sein und Ereignis) und logisch mit dem Bezug auf lokale Erfahrungen, deren Bedeutung zu ergründen sei (Logik der Welten). In diesem Essay werde ich versuchen zu erörtern, inwiefern Demokratie zu einem Konzept erhoben werden muss, um den bloßen Modus eines Verfahrens zu überwinden, sich dynamischer zu gestalten und so gesellschaftliche Äußerungen wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde ohne Risiko integrieren zu können. Eine Philosophie der Demokratie ist möglich unter den von Badiou –––––––––––––––––– 1 Alain Badiou, Circonstances 2. Paris 2004: Léo Scheer.

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angegebenen Bedingungen, d. h. indem Differenz akzeptiert und eine Logik der Welten eingeführt wird. Dem vom Imperialismus aufgezwungenen Modell der Demokratie, das sich in eine Kriegsmaschine verwandelt, kann die Philosophie mit einigen Grundgedanken für eine zukünftige Demokratie entgegentreten, die von der kommunikativen Vernunft, der Vernünftigkeit getragen wird, wie sie von Farabi, Kant und Rawls entworfen wurde. In einer früheren Arbeit im Rahmen unserer Recherchen habe ich gezeigt, dass Demokratie in der heutigen Welt sehr verschiedene Gestalten annimmt und nicht immer den Kriterien der Freiheit und kommunikativen Vernunft entspricht. Ich habe drei mögliche Formen der Demokratie unterschieden: 1. Die nominalistische Demokratie. Hier erscheint der Name in der Benennung des Landes, seiner Verfassung und/oder seinen offiziellen Texten, unter Missachtung aller demokratischen Prinzipien und Grundregeln politischer Aktivität. Eine solche Scheindemokratie läuft darauf hinaus, dass die politische und gesellschaftliche Szene von Strukturen erfüllt wird, die ihres Wesens beraubt wahrhaft demokratische Länder nachahmen und in Erinnerung bringen. Das Ergebnis sind kontrollierte, umzingelte und gelähmte Oppositionsparteien, misshandelte Gewerkschaften, funktionsunfähige Nichtregierungsorganisationen. 2. Die Verfahrensdemokratie. In diesem Fall handelt es sich um ein Verfahren, das durch ein Mehrheitsvotum eine Entscheidung oder eine Wahl erzielen soll, die jedes Mitglied der Gesellschaft unabhängig von seiner Überzeugung anerkennen und in die Tat umsetzen muss. Jeder andere ideologische, ethische oder moralische Eingriff in dieses Verfahren (als Ausdruck des allgemeinen Willens, im Namen des Gemeinwohls, der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit usf.) verfälscht den Sinn der Demokratie. Ein solcher Eingriff, über den sich die Angehörigen einer Gesellschaft verständigen können, sei es spontan oder vermittels argumentativer Rechtfertigung, wäre nach den Theoretikern der Verfahrensdemokratie ein zweideutiges, ja gefährliches Konzept. Er könnte in einen „Populismus“ ausarten, der den Willen des Volkes mit der Wahl der Mehrheit gleichsetzt, um „populistische Institutionen“ zu schaffen und die Macht der Mehrheit jeder Kontrolle zu entziehen. Das allgemeine Wahlrecht, die demokratische Abstimmung und Wahl sind gewissermaßen die wirksamsten Mittel, der Tyrannei und der Vereinnahmung des Staates durch bestimmte Interessengruppen vorzubeugen und die Freiheit zu gewährleisten, deren ursprünglicher Sinn bekanntlich in der Abwesenheit von Zwängen und Nötigung besteht. Deshalb müssen sie im Rahmen einer Verfassung durchgeführt werden, welche die Verfahrensregeln für die Vollziehung öffentlicher Beschlüsse festlegt und die Ausübung der grundsätzlichen politischen Freiheiten garantiert. 3. Die aktive Demokratie. Die Verfahrensdemokratie hat wohl den großen Nachteil, dass die Theorie der Demokratie ihren eigentlichen Inhalt verliert, da sie zu einem bloßen Verfahren verkümmert, das die politische Elite einer strengen Kontrolle unterzieht und gegebenenfalls den Machtkampf verschärft. Der erste Grundsatz der Demokratie, die Freiheit, wird zwar beibehalten, aber auf

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ihren negativen Aspekt (Abwesenheit von Zwängen und Nötigung) reduziert; dabei vergisst man den zweiten Terminus, die Vernunft, die den Menschen als „vernünftiges Tier“ ausweist. Die aktive Demokratie bleibt zwar dem Geist der Verfahrensdemokratie verpflichtet, aber sie anerkennt der Bevölkerung das Recht, den öffentlichen Bereich einzunehmen und ihren Überzeugungen mit anderen Mitteln Ausdruck zu geben, wie z. B. im gewerkschaftlichen oder politischen Kampf, durch Widerstand oder zivilen Ungehorsam. Meine Hypothese ist folgende: Zur Bekräftigung der aktiven Demokratie unter Berücksichtigung des historischen Prozesses ihrer Entwicklung in der Welt ist es möglich, einige Grundprinzipien herauszustellen, um die sich jede Demokratie organisiert und die als Knotenpunkte einer möglichen Philosophie der Demokratie fungieren können.

1. Das Prinzip der Alterität Die demokratische Moderne zeichnet sich durch eine konfliktreiche Beziehung zur Alterität aus. Einerseits dynamisierte die Alterität den Aufbau der politischen Macht mit der Befreiung des Individuums vom Sozialen, andererseits wurde ein kompliziertes System der kontinuierlichen Ausschließung des Anderen durch verworrene gerichtliche Verfahren geschaffen. Es geht hier nicht nur um das theoretische Feld, das den Theoretikern des Gesellschaftsvertrags ermöglichte, die radikale Ur-Alterität (des Naturzustandes) zu überwinden und sich für eine mögliche Universalität des Menschen zu öffnen. Die Spaltung des gesellschaftlichen Raums in einen öffentlichen Bereich – des universellen und gesetzgebenden Staatsbürgers – und eine Privatsphäre – als Ausdruck der Individualität und Partikularität – hat dem Anderen neue Bedeutung verliehen, indem es zugleich ähnlich und verschieden, oder um es strategisch auszudrücken, Verbündeter und Feind ist. Die Dialektik des Ähnlichen und Verschiedenen belebt dauerhaft den gesamten demokratischen Prozess und schwächt sein Gleichgewicht sowie die damit verbundene Staatsbürgerschaft. In dieser Dialektik wird jedoch schon die Geburt des Individuums als solches zum wesentlichen Element jeder möglichen Demokratie. Als Ort dieser Partikularität behauptet jedes Ich (das eine Meinung kundgibt, handelt oder wählt) zugleich seine Identität und seine Differenz.

2. Das Individuationsprinzip Eine der grundlegenden Eigenschaften der Demokratie ist die Individualisierung der Lebensart, indem Handlungen und Verantwortungen des Einzelnen legitimiert werden, statt an die Verantwortung der Gemeinschaft zu appellieren. In der Tat zielt die Individualisierung auf eine größere Autonomie des Einzelnen

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und begründet den Willen zur Selbstbestimmung. In diesem Sinne handelt es sich nicht um die Isolierung des Einzelnen oder die Bekräftigung seines Egoismus. Sein Abstand von der Allgemeinheit entsteht durch den Willen zur Selbstbestimmung. Deshalb liegt der Grundwert des Einzelnen im Besitz einer ihm eigenen Privatsphäre, im Abstand von der Gemeinschaft und Gesamtheit. Es ist bekannt, dass die Schattenseite der politischen Totalität aus Disziplin, normalisierten, kontrollierten, abgerichteten und instrumentalisierten Individuen besteht. Darum erfolgt die Befreiung des Einzelnen vor allem durch den Abstand von dieser Totalität in einer Privatsphäre, die seinem Leben Sinn verleiht. Cornelius Castoriadis behauptet, dass „wir zumindest eine der Schöpfungen unserer – griechisch-westlichen – Geschichte positiv bewerten und uns zu eigen machen: die Infragestellung, die Kritik.“2 Die Privatsphäre, der Abstand von der Gemeinschaft und die Fähigkeit zur Infragestellung retten den Einzelnen als Staatsbürger vor der vollkommenen und endgültigen Integration in die gesellschaftliche Sphäre. Der Wert der Demokratie besteht darin, dem Einzelnen durch ihre Gesetze und Verflechtungen die Möglichkeit zu geben, Kritik zu üben, in Frage zu stellen, Vorschläge zu machen, Überlegungen anzustellen, Widerstand zu leisten, etwas zu erkämpfen, kurz: den öffentlichen Bereich zu besetzen. Es ist oftmals zu beweisen versucht worden, dass nichtwestliche Gesellschaften und besonders die arabisch-islamische Kultur keine Individuation kennen. In diesem Sinne hat ein französischer Soziologe behauptet, dass „alle Gesellschaften taub geworden sind für das, was ihnen nicht gleicht, mit Ausnahme der unsrigen, die Abkömmlinge der Menschenrechte und des bekennenden Universalismus sind.“3 Es stimmt, dass die Grundwerte der al umma al islamyya – der islamischen Gemeinschaft – den Anschein erwecken, Individuation sei hier unmöglich, da die politischen und gesellschaftlichen Beziehungen zum Kommunitarismus führen; das unmittelbare Ergebnis ist, dass der Einzelne in seinem Fürsichsein und seiner Freiheit hintan gestellt wird: Er muss sich den Anforderungen der Gemeinschaft fügen und ein so starkes Gefühl der Solidarität in sich tragen, dass er den Willen aufbringt, sich dem Konsens – al-ijma – seiner Gemeinschaft zu unterwerfen. Dieser Wille ist einer der Integrations- und Homogenitätsfaktoren, die die Lebensart der Muslime in ihren Gesellschaften bestimmen. Aber das will keineswegs bedeuten, dass das Individuum als Subjekt nicht von seiner Gemeinschaft unterschieden werden könnte und dass der Gedanke des Subjekts der islamischen Kultur fremd wäre. Eine sorgfältige Analyse des Status des Individuums im islamischen Denken kann seine Funktionsfähigkeit sowohl im theoretisch-metaphysischen als auch im praktisch-politischen Bereich zeigen. – Ich möchte eine kurze Beweisführung dieser These versuchen. ––––––––––––––––––

2 In Le monde morcelé [Die zerstückelte Welt], Paris 2000, S. 103. 3 André Akoun, Malaise dans la démocratie [Unbehagen in der Demokratie], in Prétentaine, Nr.9/10, April 1998, S. 252.

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Es ist zweifellos die westliche Philosophie, die im Zuge der wissenschaftlichen Revolution nach Galilei die Theorie des Subjekts hervorgebracht hat, unter deren Einfluss unsere Art zu denken und zu leben steht. Der moderne Okzident ist das Ergebnis dieser Subjektivität. Es ist also sinnlos, diese Art von Subjektivität in der islamischen Kultur zu suchen. Das heißt aber keinesfalls, dass das „muslimische“ Individuum vollkommen und endgültig mit seiner Gemeinschaft fusioniert. „Der Gedanke der Fusion“, schreibt Fathi Benslama, „ist nicht nur der kolonialen und rassistischen Arroganz verpflichtet, die heutzutage von den Medien verbreitet wird. Es handelt sich hier um eine solide Basis, genährt vom Anthropozentrismus zahlreicher großer Denker des Westens, die bewusst oder fahrlässig behauptet haben, dass das Ich der individuellen Subjektivität eine okzidentale Erfindung sei. Ein geringes Maß an Vorsicht hätte nahe gelegt, von einer westlichen Modalität der Subjektivität zu sprechen, aber dem modernen Okzident fällt es schwer, trotz seiner Macht, seines Reichtums und seiner zahlreichen Errungenschaften einzusehen, dass seine Subjektivität nur ein Spezialfall der menschlichen Subjektivierungsverfahren ist, der seine Besonderheit übrigens erst spät erreicht hat.“ Benslama führt mehrere Argumente an, die den Gedanken des individuellen Subjekts im Islam nachweisen. Im Bereich der Metaphysik bezieht er sich auf die Begriffe der tafrid, der Individuation bei Ibn Sina (Avicenna), der den Menschen als separates Wesen mit eigenem Dasein in Raum und Zeit definiert,4 und des Identischen oder der Selbstheit – huwa huwa („er ist er“) – bei Philosophen wie Miskawayh oder Ibn Arabi. Im sozio-ethischen Bereich beruft sich der Autor auf das ethische Traktat von Miskawayh (10. Jahrhundert) und schließt daraus, „dass das Individuum die Verwirklichung einer universalen Form ist, die sich in der Materie singularisiert. Folglich wäre das Individuum nichts weniger als die Figur des Universalen. – Seine Verwirklichung entspringt der Begegnung zweier Universalien, der Identität der Materie [...] und des Universellen der formalen Fertigkeiten [...] Somit wäre das Individuum Bindeglied zwischen Natur und Kultur.“ Im geistigen Bereich unterstreicht der Autor das Entstehen der Identität aus der Verdoppelung, aus den Spiegelungen der huwa. Ibn Arabi begründet damit die geistige Erkenntnis des abgesonderten Menschen, des Individuums. Dazu ist zu bemerken, dass die huwa, die Einzigartigkeit des Seins, immer ein ontologisches Fundament besitzt. Trotz dieser Beziehung des Individuums zum Sein und zu Gott wird nicht auf den Gedanken des Menschlichen, der Identifizierung und der Individuation verzichtet. Wichtig ist für uns, dass die Einführung des Individuums als Element des islamischen Denkens im gesellschaftlichen, geistigen und politischen Bereich die Bezugsgrundlage einer Untersuchung darstellen kann, in der Demokratie ––––––––––––––––––

4 Der Autor stützt sich hier auf Ibn Sinas Definition der Individuation als „das, wodurch dein Sein eine besondere Existenz hat, durch die es sich in Raum und Zeit individualisiert und die es vom Modell unterscheidet, das von den anderen Individuen der Gattung geteilt wird.“

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als ein in unserer Kultur verwurzeltes Element und die Beziehung des Menschen zur Zivilgesellschaft thematisiert werden. Diese Grundlage ermöglicht es uns, der Falle der kulturellen Besonderheit und des eingefleischten Partikularismus zu entgehen, wenn es um Habitus und Tradition geht. Trotz der Unterschiede und obwohl die Funktion der Kultur „aus keiner Natur der Dinge oder des Menschen abgeleitet werden kann“,5 bleibt die Freiheit des Individuums ein transzendenter, höherer Wert, der in den transzendenten Grundsätzen des Rechts verankert ist. Im Demokratisierungsprozess geht es also nicht darum, das okzidentale Subjekt zu universalisieren oder das „muslimische“ Individuum zu verwestlichen, sondern in der islamischen Kultur aufzuspüren, was an diesem transzendenten, höheren Wert teilhaben kann. Die Forderung nach einer universellen Ethik als Basis jeglicher Modernisierung ist auch in der arabisch-islamischen Kultur angelegt.6 Es dürfte schon genügen, eine wissenschaftliche und aufrichtige Neulektüre des Islam zu unternehmen, um ihn zu einem Ort der Freiheit zu gestalten.

3. Das Solidaritätsprinzip Der Gedanke der Solidarität beruht vornehmlich auf dem Willen zu einem demokratischen Zusammenleben in Würde, Gleichheit und Gerechtigkeit, sowie auf dem Imperativ der sozialen Kohäsion als Bedingung des Fortschritts. Im Zusammenhang mit der sozialen Kohäsion unterscheidet Durkheim7 zwei Arten von Solidarität: die mechanische Solidarität der auf Ähnlichkeit ihrer Mitglieder gründenden Gesellschaften und die organische Solidarität der Gesellschaften, in denen die Individuen nach Autonomie streben. Im ersten Fall hat das kollektive Bewusstsein Vorrang vor dem individuellen, wie z. B. in der religiösen Solidarität, von der weiter oben die Rede war. Im zweiten Fall ist das Bewusstsein des Einzelnen selbständiger, freier und daher verantwortlicher. Durkheim nimmt sogar an, dass aufgrund der bewussten, freien und überlegten Bindung des Einzelnen an seine Gemeinschaft die soziale Kohäsion durch die organische Solidarität verstärkt wird. – Diese organische Solidarität ist die Grundbedingung des aktiven Demokratieprozesses. ––––––––––––––––––

5 Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, La reproduction. Paris 1970, S. 22 [dt. in Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart 1971: Klett]. 6 Anzumerken ist, dass die Forderung nach einer universellen Ethik nicht nur in der Philosophie von Miskawayh, Farabi, Ibn Khaldun u. a. präsent ist. Im 9. und 10. Jahrhundert haben gebildete Männer – ’udaba – durch eine erstaunliche Vielfalt von Themen in der Nachbarschaft von Theologie und Wissenschaft eine neue Dimension in den Islam eingeführt, in der es darum geht, die Dinge so zu erkennen, wie sie sind, und den Wesen eine Form der autonomen Existenz zuzuerkennen. Siehe Fathi Triki, L’esprit historien dans la civilisation arabe et islamique [Der Historikergeist in der arabischen und islamischen Kultur]. Tunis 1992: Universität Tunis. 7 In Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt/M. 1977: Suhrkamp.

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Es ist bekannt, dass die heutige vom Marktwert beherrschte Welt mehr und mehr der berechnenden, individualistischen und egoistischen Rationalität unterworfen ist, zu ungunsten einer kollektiven, altruistischen und toleranten Vernunft. Im Zuge der Globalisierung werden die Verbrauchergesellschaften zu Orten der Einsamkeit und Individualisierung, die von dieser berechnenden Rationalität geprägt sind. Solidarität kann die über Abstammung und Nähe oder über berechnende Rationalität vermittelte Gesellschaftlichkeit in eine nicht-exklusive Geselligkeit verwandeln, die für das Andere und das Menschliche im Allgemeinen offen ist. Sie wird den Menschen durch stetes und schöpferisches Bemühen um demokratische Geselligkeit vor dem technologisch-wissenschaftlichen Solipsismus retten. Von diesem Grundgedanken ausgehend hat der amerikanische Philosoph Rorty der Philosophie der Verzweiflung als Folge des Gewaltzustands, der in unserer Welt herrscht, eine Philosophie der Solidarität entgegengesetzt. Gewiss hat Solidarität weder ein metaphysisches noch ein klares rationales Fundament, aber sie behauptet sich als Forderung nach Vernunft,8 als harmonievolle Mischung aus Gefühl und Vernunft, als Offenheit für andere, deren Leid es zu lindern gilt. Uns interessiert die Wahl der Solidarität als Gewähr für eine gerechtere, freiere und menschlichere Gesellschaft. Solidarität beruht nicht nur auf rationaler moralischer Pflicht, sondern vor allem auf dem Gefühl und der Anteilnahme, die nötig sind, um Leid, Demütigung, Empörung und Elend des modernen Solipsismus zu bekämpfen. In den 1930er Jahren hat der berühmte deutsche Philosoph Edmund Husserl in seinem Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaften9 gezeigt, dass der Gedanke Europas im Geist der Vernunft wurzelt. Die Krise Europas erkläre sich durch das vermeintliche Scheitern des Rationalismus, das nicht etwa auf den Aufschwung des Irrationalismus, sondern vielmehr auf die Technologisierung der Vernunft zurückzuführen sei. Husserl zieht daraus folgenden Schluss: „Die Krise der europäischen Existenz kann nur zwei Auswege haben: entweder den Niedergang Europas, das dann seinem eigenen rationalen Lebenssinn fremd geworden ist, den Sturz gewissermaßen in geistigen Haß und Barbarei, oder aber das Wiedererstehen Europas aus dem Geist der Philosophie heraus, dank dem Heroismus der Vernunft, die den Naturalismus endgültig überwindet.“10 Es gibt einen ausführli––––––––––––––––––

8 Schon Kant hat den Vorrang der praktischen reinen Vernunft betont (in Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788). In seinen Cartesianischen Meditationen unterstreicht Husserl den Gedanken der „Pflicht“ in der Ausübung der Vernunft: „Vernünftig sein heißt vernünftig sein wollen. Die Vernunft verträgt es nicht, in eine ‚theoretische‘, ‚praktische‘ oder ‚ästhetische‘ Vernunft eingeteilt zu werden. Mensch sein heißt, in einem teleologischen Sinne sein – es heißt sein müssen“ (siehe J. Derrida, Voyous. Paris 2003, S. 184.) 9 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana Bd. 6, hg. v. W. Biemel. Den Haag 1962. 10 Ebd.

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chen Kommentar dieses Zitats von Derrida, in dem der Heroismus der Vernunft erläutert wird. Für meinen Teil schließe ich daraus, dass „der Geist der Philosophie“ sich letztendlich in einer Ethik der Solidarität verwirklichen wird. Hierin liegt das Prinzip des demokratischen Zusammenlebens durch al ouns wa’l mahabba –Gesellschaftlichkeit – und philia – ϕιλια – Liebe.11 Im Sinne Husserls meine ich, dass auch die Krise der Menschheit „nur zwei Auswege haben kann“: entweder die Auflösung der Menschheit, die ihrem eigenen Wesen fremd geworden ist, den Sturz in Hass, Barbarei und ewigen Krieg, oder die Wiedergeburt der Menschheit aus dem Geist der Kritik und der Ethik der Solidarität, dank einem Kampf der Vernunft für die endgültige Überwindung des Tierischen im Menschen. Es sei abschließend bemerkt, dass mit dem Willen, über die Verfahrensdemokratie hinauszugehen und die Demokratie als eine Dynamik des öffentlichen Bereichs zu betrachten, eine nicht-exklusive Philosophie, eine Logik und Ontologie der Demokratie unumgänglich ist, die auf den Prinzipien der Alterität, der Individuation und der Solidarität beruht. In diesem Sinne wird die Demokratie ohne Hegemonie und Gewalt alle Kulturen durchdringen und transzendieren. Es sind dies die transkulturellen Fundamente des demokratischen Experiments. Amartya Sen hat mit Nachdruck gezeigt, dass Demokratie in ihrer Praxis und gesellschaftlichen Dynamik als Ausdruck des öffentlichen Bereichs keineswegs das Eigentum des Okzidents ist. In verschiedenen Gestalten hat es sie immer gegeben, zum Beispiel in nicht-westlichen Kulturen wie der indischen, der islamischen oder der chinesischen Kultur. Laut Amartya Sen ist Demokratie eine alte orientalische Tradition. Es gibt verschiedene Formen der demokratischen Erfahrung. Um ihre Praxis zu universalisieren, ist es nicht sinnvoll, das westliche Modell mit Bomben und Massakern durchsetzen zu wollen. Es wäre viel intelligenter und wirksamer, Demokratie anhand einer transkulturellen Philosophie zu universalisieren, die auf Prinzipien beruht, an denen alle Kulturen teilhaben: Alterität und ihr Korrelat Toleranz, Individuation und ihr Korrelat Freiheit, Solidarität und ihr Korrelat Gleichheit. Aus dem Französischen von Stefan Kaempfer ––––––––––––––––––

11 In Philosopher le vivre-ensemble [Über das Zusammenleben philosophieren] (Tunis 1998) haben wir gezeigt, dass mahabba etymologisch auf eine zärtliche Neigung verweist, die nach dem arabischen Philosophen Miskawayh folgende engere Bedeutungen haben kann: „leidenschaftliche Liebe (’ishq), freundschaftliche Liebe (sadaqa), verliebte Raserei (walah) und Kindesliebe (mawadda)“. Aber diese mahabba verwirklicht sich notwendigerweise über alouns, weil, so schreibt Miskawayh, „die dringende Notwendigkeit [besteht], eine Situation zu schaffen, in der die vereinzelten Individuen eine harmonische Gemeinschaft bilden und dank dieser gewollten Harmonie wie ein einziges Individuum erscheinen, dessen Glieder alle gemeinsam bei der Vollbringung einer selben Tat mitwirken, die für es nützlich ist“ (in Buch V des Tahdhib al Akhlaq, übersetzt und zitiert von Arkoun, Contribution à l’étude de l’humanisme arabe au IX/X siècle, Miskawayh, philosophe et historien. Paris 1970: Vrin, S. 303).

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MENSCHENWÜRDE UND DEMOKRATIE

Ruth Macklin vertritt, ebenso wie einige andere, die Auffassung, dass uns die theoretischen bzw. metaphysischen Schwierigkeiten des Konzepts der Menschenwürde veranlassen sollten, auf die Verwendung eines solchen Konzepts zu verzichten – aufgrund dessen, was sie seine konzeptuelle Nutzlosigkeit nennt. Wie sie in dem Artikel „Dignity is a useless concept“1 ausführt, genügt ihrer Ansicht nach der ethische Grundsatz des Respekts vor der Person für sich allein genommen, um die Bedeutungen und die Implikationen des Begriffs der Würde mit einzuschließen. In seinem Artikel „La notion de dignité humaine est-elle superflue?“ [Ist die Idee der menschlichen Würde überflüssig?] versucht Roberto Andorno, eine Antwort hierauf zu geben.2 Er vertritt die Auffassung, das Konzept ließe sich unter kein anderes subsumieren; ihm zufolge begründet es nämlich ungeachtet aller modernen und aktuellen Überlegungen zur Relativität moralischer oder ethischer Normen die gesamte ethische Denktradition vom griechischen Altertum bis in unsere Tage. Weiter schreibt er: „Es trifft zu, dass die Würde notwendigerweise den ,Respekt vor der Person‘ mit sich bringt, so wie dies Macklin annimmt. Dennoch lassen sich die beiden Konzepte nicht gleichsetzen. Der Respekt vor der Person ist lediglich die Folge ihrer Würde.“ Wenn man jedes menschliche Wesen bedingungslos respektieren muss, so argumentiert er weiter, ungeachtet seines Alters, seines Geschlechtes, seiner physischen oder geistigen Gesundheit, seiner Religion, seines sozialen Status oder seiner ethnischen Herkunft, dann doch eben genau deshalb, weil es einen intrinsischen Wert oder eine intrinsische Würde hat. Die Idee der Würde, so stellt er fest, ist also jener des Respekts vorgängig und zielt darauf ab, die Frage zu beantworten: „Warum muss man die Person respektieren?“3 Es trifft zu, dass die grundlegenden Texte zu den Menschenrechten implizit oder explizit den unbedingten Charakter der menschlichen Würde anerkennen, in dem Sinn, dass es sich um eine Vorstellung handelt, die im Rahmen all dieser Texte gerade das Wesen des Menschen ausdrückt, jenseits der Merkmale ––––––––––––––––––

1 British Medical Journal 327, 2003, S. 1419. 2 Roberto Andorno, Biomedicine and international human rights law: in search of a global consensus. In: Bulletin of the World Health Organization (WHO) 80 (12), 2002, S. 959-963. 3 Ebd., S. 960.

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und Zufälligkeiten, mit denen ein Individuum ausstaffiert sein kann. Heißt es nicht, „etwas steht dem Menschen zu einzig aufgrund der Tatsache, dass er ein Mensch ist“? Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es jedoch nicht meine Absicht, die theoretischen oder philosophischen Elemente der Grundlage dieses Konzeptes zu entwickeln. Vielmehr interessiert mich die Frage danach, welche Beziehung zwischen der Demokratie und diesem Merkmal der Würde, die ihrerseits als jedem menschlichen Individuum innewohnend erachtet wird,4 vorstellbar ist. Nachdem ich unter Demokratie die moderne, verfassungsmäßige und liberale Demokratie verstehe, behandle ich dieses Thema nur in der akzeptierten Bedeutung, die vom Grundsatz der Existenz einer politischen Freiheit ausgeht und mit der modernen Idee des Individuums als Subjekt sowie einem wirklichen politischen Pluralismus verbunden ist. Sicher, auch im Altertum wurde Demokratie durch den Zustand der Freiheit charakterisiert und aufrechterhalten.5 Allerdings handelte es sich um das klassische Freiheitskonzept, das die Antike gerne mit einer Haltung der absoluten Freizügigkeit verwechselte, mit der Auflösung oder dem Mangel an moralischer Zurückhaltung und Mäßigung – einem Zeichen jeder menschlichen Würde, wenn man so will – und mit einer Art Anarchie im buchstäblichen Sinn des Fehlens jeder verbindlichen Form von sozialer Ordnung. Auch die Revolutionen der Moderne galt es abzuwarten, damit sich eine neue Bedeutung von menschlicher Freiheit herausbilden konnte, dieses Mal verbunden mit der Entwicklung des autonomen, individuellen Subjekts als legitimer Quelle des Rechts und somit als Gesetzgeber: würdig, die Gesetze einer neuen, politischen Soziabilität zu verkünden, die auf einer ursprünglichen Konzeption von menschlichen Würde gründet und bereits Vorbotin der anfänglichen Formen moderner pluralistischer Demokratien ist. Aber auch wenn dies historisch gesehen so war, ist es doch eigentlich nicht zutreffend, weil die menschlichen Zivilisationen kein wie auch immer geartetes Äquivalent des Konzepts der menschlichen Würde gekannt haben. Denn –––––––––––––––––– 4 Patrice Canivez weist in seinem Buch Eduquer le citoyen? darauf hin, dass die Menschenrechte natürliche Rechte sind. Weil sie zur Natur des Menschen gehören, sind sie unveräußerlich (Art. 2) und unteilbar (Präambel), sie sind jeder wie auch immer gearteten politischen Autorität übergeordnet. Das Problem liegt in der Interpretation dessen, was mit natürlichem Recht gemeint ist. 5 Platon entwickelt in der Politeia die Idee der Freiheit im Sinne von Freizügigkeit, wie sie seiner Ansicht nach in einem demokratischen Regime gegeben ist. Er beschreibt die Menschen, die in einer demokratischen Herrschaftsform leben, als freie Menschen. „Und nicht wahr, zuerst sind sie frei, und die ganze Stadt voll Freiheit und Zuversichtlichkeit, und Erlaubnis hat jeder darin zu tun, was er will?“ (557b; Platon, Sämtliche Werke Bd. 3, übers. v. O. Gigon. Hamburg 1958: Rowohlt). Auch Aristoteles besteht in der Politik auf dem Inhalt des Freiheitskonzepts in der Demokratie: „Man muss also den Staat, den freie Menschen regieren, Demokratie nennen und ihn Oligarchie nennen, wenn dies die reichen Menschen tun“; „Il faut donc plutôt dire démocratie l’Etat que les gens libres gouvernent et oligarchie celui où ce sont les gens riches“ (édit. Gonthier, P.U.F., Paris 1971, S. 108f.).

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ungeachtet des eher negativen Einflusses des antiken Konzepts von Freiheit zeugen doch das eher ernstzunehmende religiöse Gedankengut und spätere Ausdifferenzierungen des philosophischen Denkens von ähnlichen Bedeutungen. In der Tat wurde der Mensch dort oft in recht wohlwollenden und lobenden Begriffen beschrieben, und zwar derart, dass das ihm zugedachte Schicksal ihm den unbestrittenen Vorrang vor anderen Kreaturen einräumt. Was die Seele anlangt, erhebt sich der Mensch in der Tat bis zum Göttlichen. Dies geht so weit, dass er von bestimmten Religionen als Gottes Hilfsprediger auf Erden angesehen wird, so dass der Glorienschein der Würde, der ihn umgibt, in diesem Sinn als Glorienschein seines göttlichen Urhebers anzusehen ist. Ähnlich haben auch die Philosophen des Altertums ihrerseits es nicht verabsäumt, der menschlichen Gattung in der Hierarchie der Lebewesen einen übergeordneten Status zuzuweisen. Und auch wenn der Mensch nicht mit der Vollkommenheit Gottes noch mit den astralen Göttlichkeiten in all ihrer Pracht konkurrieren kann, fallen ihm doch die Würde und das Vorrecht zu, mit Gott den Besitz der Vernunft gemeinsam zu haben, mit anderen Worten, das Grundprinzip des Seins und des Denkens.6 Dies ist gleichbedeutend damit, dass der Mensch – ohne den die Stadt nicht existiert – nur als politisches Lebewesen im eigentlichen Sinne angesehen werden kann, wenn man gleichzeitig seine Animalität in den Rang einer höchst anerkannten Humanität erhebt, wenngleich diese nicht immer als solche erstrahlen kann, das heißt als lebendes Ebenbild der Göttlichkeit. J.-F. Pradeau schreibt in diesem Zusammenhang: „In dieser Passage aus Buch V beschränkt sich der Athener allerdings darauf zu zeigen, dass das Modell, dem sich die menschliche Stadt angleichen muss, das der Götter ist, in der all das vollkommen verwirklicht ist, was der Mensch nur anstreben kann.“7 Es versteht sich jedoch von selbst, dass diese antike Konzeption der menschlichen Würde nicht mit den modernen Überlegungen in Bezug auf das Wesen des Menschen zu verwechseln ist. Wir müssen also dieses Konzept von Würde durch das „Sieb“ transkultureller Werte der Moderne rütteln, damit wir die aktuellen Bedeutungen bestimmen können, die, ungeachtet ihrer Vielfalt, für den Vorrang dieses Konzepts in den Feldern der Philosophie und der Politik grundlegend sind. Hierfür möchte ich die Tatsache in Erinnerung zu rufen, dass das Schicksal der modernen Humanität sich wohl der Gunst einer doppelten Fügung des Schicksals in der westlichen Zivilisation verdankt, gerade als sie aus dem Mittelalter herauskam, nachdem sie durch Umwege, deren Wandlung wir heute

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6 Platon besteht im Phaidon auf dieser Verbindung mit einem göttlichen Prinzip der Spiritualität. 7 J.-F. Pradeau, Platon et la cité. Paris 1997: PUF, S. 104; angesprochen ist das Buch der Gesetze [Nomoi].

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verfolgen können, die Schätze des Altertums ebenso wie jene der arabo-islamischen Zivilisation eingefahren hat.8 Die erste Fügung war zweifellos, den alten Wortverwendungen die Totenglocke zu läuten. Seither nämlich konnte das Wesen des Seins und der Dinge anders definiert werden als durch ihre Unterordnung unter höhere Entitäten, welche sie transzendieren und somit auch begründen, so wie es die holistische Konzeption verstand, von der man ja weiß, dass sie mit kosmobiologistischen Modellen verbunden war. Ich spreche natürlich von der modernen mechanistischen Konzeption, die in der Hierarchie des Seins das Element der Gesamtheit überordnet, oder, wenn man so will, die Teile dem Ganzen, von dem man annimmt, es konstituiere diese.9 Die zweite Fügung, die am Himmel der Renaissance wie ein Donnerschlag widerhallte, war sicher der erste Akt der großen revolutionären Veränderungen, die im alten Europa bald die veralteten sozialen Formen des Ancien Régime hinwegfegen sollten. Von da an konnte sich das Individuum als Subjekt endlich von den uralten sozialen Bindungen befreien, die es unauflöslich an sein Geschlecht, seinen Clan, seinen Stamm, seine Klasse oder an seine Gesellschaft fesselten. Für immer und ewig als Gefolgsmann dieser großen Gefüge definiert und deren Schmähungen ausgesetzt, wird es durch die zunehmende Kraft der industriellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Revolutionen zur Speerspitze einer Veränderung der zivilen und politischen Gesellschaft. Das Individuum wird so faktisch zum freien vertragsschließenden Subjekt und somit zum „Macher“ der Gesellschaft, genauer gesagt, einer Gesellschaft, die in ihm die erste und letzte Quelle ihrer Souveränität finden wird.10 Somit wird die Würde des Menschen nicht länger zwangsläufig in den Zeichen wahrgenommen, die seine Zugehörigkeit zum Göttlichen bezeugen, noch in seiner Teilhabe an irgendeiner sozialen und menschlichen edlen Abstammung. Denn die menschliche Würde hat sich, indem sie sich immer mehr im fruchtbaren Humus der Moderne verwurzelt hat, in eine nie dagewesene demiurgische Kraft verwandelt, so dass sie in prachtvoller Einsamkeit die ontologische Verantwortung dafür tragen musste, dem Menschen zur einzigen Quelle seiner vielschichtigen Menschlichkeit zu werden! Hieraus resultiert auch die tragische Seite, die auf breiter Bahn in der modernen westlichen Kultur und der zeitgenössischen Philosophie zu finden ist; –––––––––––––––––– 8 Damit möchte ich sagen, auch wenn ich den anfänglichen Wert von epistemologischen Einschnitten innerhalb der Wissenschaften anerkenne, wie dies beispielsweise beim galileischen Einschnitt der Fall ist, so muss man sich doch vor Augen führen, dass solche Einschnitte nicht möglich sind ohne ein Phase beißender Kritik, die den revolutionären Prozess selbst vorbereitet und begründet. Auch hier, wie früher bei den griechischen Wissenschaften, gibt es keinen Grund, von einem Wunder zu sprechen. Es ist die stille Arbeit der arabisch-islamischen Zivilisation, die hierfür den Boden bereitet hat. 9 Natürlich ist das eine Anspielung auf die cartesianische Philosophie und deren Avatare in den verschiedenen Wissensgebieten ebenso wie in der Philosophie im engeren Sinne. 10 Bekannterweise gründet hierauf die Vertragstheorie in der Rechtsphilosophie zumindest seit Hobbes und Rousseau.

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die Tragödie des Menschen, der mit der klaffenden Einsamkeit seines In-derWelt-Seins konfrontiert und von daher sogar dazu verurteilt ist, sich selbst eigene Gründe liefern zu müssen, um zu leben, zu lieben, zu denken, zu glauben und um das zu sein, was er zu sein hat, mit einem Wort: dazu verurteilt, selbst zu entscheiden, was er zu sein beschließt.11 Manch einer hat wie Nietzsche daraus auf den Tod Gottes geschlossen und so das Bevorstehen des Übermenschlichen behaupten können. Ohne hier maßlos über die Götterdämmerung und das pathetische Ende der klassischen Überzeugungen herziehen zu wollen, gilt es doch zu untersuchen, wie solche semiotischen und semiologischen Umwandlungen wirksam werden, damals ebenso wie jetzt, und in uns selbst ebenso wie in den Gesellschaften, in deren Mitte wir leben. Denn wenn die Menschen, um sich ihrer menschlichen Würde zu rühmen, nur des trüben Trostes der Philosophien der Vergangenheit bedürften, dann hätte die Theorie der natürlichen – nicht der kontraktualistischen – Würde des Menschen weiterhin ruhige Tage gehabt. Aber dass die menschliche Würde die Frucht einer Art selbstbegründender Handlung sein konnte, musste der ganzen alten und klassischen politischen Philosophie eine Lehre sein und sie schließlich dazu zwingen, die eigenen Grundlagen erneut zu überprüfen. Denn die tugendhaften Städte (cités vertueuses) oder die Städte Gottes (les cités de Dieu) können ihr Vorbild oder ihre Norm nicht länger in dem finden, was den Menschen transzendiert. Die Republiken von heute haben in der Tat diese Besonderheit, dass sie Setzlinge sind, die weder Verpflanzung noch Vermehrung noch irgendeine andere Form exogener Veredelung ertragen können und die sozusagen selbst ihre eigenen Vorbilder hervorbringen. Daraus resultiert, dass heutzutage konstitutionelle und liberale Demokratien nur durch die Völker selbst gegründet werden können, wenn sie autonom und aus eigener Initiative den Willen formulieren, in einem solchen politischen Regime zu leben und sich selbst und den anderen versichern, dass sie die Verantwortung für eine solche Herausforderung in vollem Umfang übernehmen können. Andernfalls wäre es bedeutungslos, dem modernen Menschen die Tugend zuzuschreiben, selbst der Ursprung der eigenen sozialen und politischen Geschicke zu sein.12 –––––––––––––––––– 11 So z. B. der radikale Pessimismus eines Schopenhauer einerseits, und auf der anderen Seite die Überhöhung des Willens. Gleiches gilt meiner Meinung nach für die verschiedenen Arten des Existenzialismus, die im Westen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebten. 12 Wenn ich dies behaupte, unterschätze ich dennoch nicht die alten Formen der Autorität in ihrer Eignung oder Fähigkeit, innerhalb der Gesellschaft die subtilen Regulationsmechanismen zu reflektieren, die ihr ermöglichen, wie eine Gemeinschaft zu leben, das heißt, wie eine organisch konstituierte Gesamtheit. Dies hat einige zu der Überzeugung gebracht, dass die antiken Formen der Solidarität aus einer bestimmten Perspektive als embryonale Formen der kontraktualistischen Gesellschaft betrachtet werden können. Allerdings handelt es sich dabei nach meiner Überzeugung nicht um eine wie auch immer geartete Manifestation der kontrak-

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Wenn im Übrigen Menschen irgendwo und aus offensichtlichen historischen Gründen nicht selbst imstande sind, sich aus den engen Verbindungen zu lösen, die sie an die alten monolithischen Strukturen der politischen Autorität binden, halte ich die Ansicht für legitim, dass keine Macht der Welt fähig ist, diese Verbindungen an ihrer Stelle zu lösen und sozusagen ohne ihr Wissen oder gegen ihren Wunsch soziale oder politische Verbindungen eines neuen Typs zu knüpfen. Hat nicht Abou al-kassem al-Chabbi, der große tunesische Dichter und Nationalist der ersten Stunde, in seinen ebenso erhabenen wie berühmten Versen gesungen, es sei der von den Völkern laut verkündete Wille zu leben, der ihr Schicksal in Richtung einer tatsächlichen Verwirklichung eines freien und stolzen Leben in Würde lenkt, auf das kein Tyrann Zugriff haben kann?13 Dieser Zwischenruf, der bis in die Herzen der Völker vorgedrungen ist, sollte bestimmte hegemoniale Kräfte zum Nachdenken bringen, und zu mehr Bescheidenheit in Hinblick auf ihre realen Fähigkeiten, anderen Nationen den eigenen Willen aufzuzwingen. Vor allem aber sollte ein solch dringlicher Appell den Völkern, die im Schlummer liegen, Leben einhauchen, damit ihr eigener Wunsch nach dem Status menschlicher Würde erwacht. Aus dem Französischen von Ursula Liebing

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tualistischen Konzeption im eigentlichen Wortsinn, wohingegen es sich durchaus um Gesellschaften handelt, in der Verträge Gesetzeskraft haben, wie dies in unseren alten mediterranen und orientalischen Kulturen häufig der Fall ist. 13 Zwei von Chebbis Versen, aus seinem berühmtesten Gedicht La volonté de vivre, sind in die tunesische Nationalhymne Humat Al-Hima integriert, insbesondere der folgende Vers: „Wenn ein Volk das Leben begehrt, liegt die Antwort beim Schicksal“ („Lorsqu’un peuple veut la vie, force est au destin de répondre).“

Jacques Poulain

DIE PHILOSOPHISCHE URTEILSBILDUNG: BEDINGUNGEN IHRER UNIVERSALISIERUNG IM KONTEXT DER GLOBALISIERUNG

Ehe sie das politische Regime bezeichnet, das diesen Namen trägt, bezieht sich die Demokratie auf die Bedingung des gesellschaftlichen Lebens des Menschen. Die Gebundenheit des Denkens an die Sprache bestimmt ihn dazu, seine eigene demokratische Bedingtheit als Gegebenheit des Lebens zu erforschen: Seine Fähigkeit, die eigenen Wahrnehmungs-, Bedürfnis- und Handlungswelten zu konstruieren, verdankt sich dem Teilen eines gemeinsamen Wahrheitsurteil mit dem Anderen, und sie bildet sich auf die gleiche Art und Weise, wie er seine soziale Welt erschafft. Die liberale Demokratie der Vereinigten Staaten hat dies als erste entdeckt und erfahren, auf dem Weg über ein allumfassendes Experimentieren mit der Welt und dem Menschen; allerdings hat der Missbrauch des Konsenses, dem sie verfallen ist, um eine Verurteilung der von ihr verbreiteten kapitalistischen Ungerechtigkeit zu vermeiden, diese Entdeckung neutralisiert. Die von ihr verursachte radikale Exklusion von Armen und Randgruppen hat Jürgen Habermas zu dem Versuch geführt, die fortgeschrittene liberale Demokratie zu kurieren über das Wiederbeleben des ethischen Bewusstseins, das dort sein Gerechtigkeitsideal zu verwirklichen trachtet, und über den Rückgriff auf republikanische Gesetzgebungsverfahren im Herzen der öffentlichen Meinung, um so die Voraussetzungen für eine von ihm so bezeichnete „deliberative Demokratie“ zu schaffen, die vom modernen Ideal des Rechtsstaats inspiriert ist. Jedoch eignen sich weder die weltweite Verbreitung des Neoliberalismus noch die Ethik der europäischen Republik dafür, das zukünftige Schicksal dieses totalen Experiments am Menschen und an der Welt zu regulieren. Um dessen gewahr zu werden, muss man die Begrenzungen ermessen können, die der Dynamik der von der Moderne übernommenen rechtlichen, moralischen und politischen Systeme inhärent sind und diese auch weiterhin prägen. Während die tradierte moderne Theorie die Menschenrechte aus der Gleichheit der Menschen untereinander ableitet und aus der Handlungsfreiheit, die sie als vernünftige Wesen besitzen, hat die zeitgenössische Philosophie festgestellt, dass der Mensch ein Sprachwesen ist, das zu einem Urteil kommen und dessen Wahrheit durch seine sozialen Partner akzeptieren lassen muss, um sich von seinen Peers als menschliches Wesen anerkennen zu lassen. Die Gleichheit

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mit den anderen und die Freiheit des Handelns können nicht länger einfach und allein als angeborene Eigenschaften angesehen werden, die jeder a priori besitzt und die es zu verteidigen gälte, so wie man das Recht verteidigt, sich Gegenstände anzueignen: indem man Verträge anfertigt, die das Zugriffsrecht der Eigentümer auf ihren Besitz dokumentieren und anderen verbieten, sich dieses Besitzes zu bemächtigen. Als Hörer und als Angesprochener, als derjenige, an den der eigene und der Sprachakt des Anderen gerichtet ist, ist jeder gehalten, über die Objektivität seiner Lebensbedingungen zu entscheiden und entsprechend der Wahrheit der Urteile zu handeln, die sich mitteilen und miteinander teilen lassen. Sein Wahrheitsurteil beruht also nur auf dem Fällen und dem (Mit-) Teilen des Urteils. Dieses Urteil bezieht sich ebenso sehr auf seine Kenntnisse und die Rechtschaffenheit seiner Handlungen wie auch auf die Objektivität der Bedürfnisse, die jeder als menschlich anzuerkennen hat. Es genügt auch nicht länger, jedem aufgrund des Demokratievertrags die Freiheit zu gewähren, sich entsprechend den Ergebnissen dieser Urteile zu verhalten und dem Individuum durch die deliberative Demokratie Gesetze zu erlassen; vielmehr muss man die Möglichkeit einrichten können, dass jedermann die Wahrheit der Urteile dieser beschließenden Demokratien anerkennt, wenn die Freiheit, entsprechend der Wahrheit dieser Urteile zu handeln, nicht ein leeres Wort bleiben soll. Man muss eine wirkliche philosophische Kultur des Urteilens zum Allgemeingut machen können. Das Recht, dieses Wahrheitsurteil zu fällen, liegt am Ursprung jeglichen Rechts, denn die Ausübung der Urteilsfähigkeit beruht lediglich auf der Fähigkeit jedes Einzelnen, die objektiven Bedingungen zu objektivieren, sowohl in Bezug auf die Wahrheiten, zu denen zu gelangen es erlaubt, als auch in Bezug auf deren (Mit-) Teilung: Dieses Urteil lässt einem jeden die eigene Menschlichkeit nur zugänglich werden, indem er dessen Wahrheit vom Anderen in der gleichen Weise anerkennen lässt, wie er sie sich selbst hat anerkennen lassen. Die öffentliche Anerkennung dieses Rechtes auf ein Urteil geht somit einher mit der Anerkennung der Demokratie als objektiver Bedingung des menschlichen Lebens. Wenn dieses Recht kein leeres Wort bleiben soll, kann man sich also nicht damit zufrieden geben, es auf die gleiche Art zu verteidigen wie einen Besitz, indem man jemandem das Recht auf Zugang zu diesem Besitz mittels einer rein defensiven, vertraglichen und negativen Rechtskonzeption zugesteht. Es ist vielmehr geboten, die Bildung dieses Urteils zu fördern, indem man jedem Bürger das gewährt, was ihm erlaubt, Bürger der gesamten Welt zu sein: indem man ihm die Voraussetzungen der Universalisierung dieser philosophischen Kultur des Urteils gewährleistet. Das Recht und die Pflicht zu urteilen, die es jedem eröffnen, ihre Rollen als Sprecher und als von sich selbst und vom Anderen Angesprochene wahrzunehmen, hängen an seiner Konstitution als Sprachwesen. Dieses Recht kann nur respektiert werden, indem man die Ergebnisse dieses Urteilfällens respektiert und respektieren lässt: indem man anerkennen lässt, dass die Wahrheiten,

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die darin zum Ausdruck kommen, ebenso sehr Wahrheiten des Lebens sind wie sie zum Ausdruck gebrachte Wahrheiten sind. Denn der Mensch unterscheidet darin sich von anderen Lebewesen, von Tieren, dass er kein Gefangener einer biologischen Natur ist, die auf rigide Art und Weise seine Wahrnehmung, seine Handlungen und sein Glück steuert und sich in einer Liste von Eigenschaften ausdrücken ließe: als Mängelwesen, das der nicht-artspezifischen Voraussetzungen beraubt ist, die man „Instinkte“ nennt, muss er seine Wahrnehmungen, seine Handlungen, sein Denken und seine Bedürfnisse selbst erfinden und darin seine Lebensbedingungen erkennen, wobei es ihm gelingen muss, sie mittels dessen, was man als „seine Kultur“ bezeichnet, mit anderen zu teilen. Diese positive Freiheit kann nur rein negativ erkannt werden: als ein primäres Gut, das man nur außer Reichweite der Einschränkungen zu stellen braucht, die der Andere versucht sein könnte, ihm aufzuerlegen, um seine eigenen Bedürfnisse triumphieren zu lassen. Und Freiheit ist sie tatsächlich nur, indem sie jedem erlaubt, diejenigen Lebensbedingungen zu erfahren, die er durch das Fällen des Urteils als die seinen beurteilt, und so Zugang zu gewinnen zum Respekt vor den vielfältigen Lebensbedingungen, die in die Pluralität der Kulturen eingeschrieben sind: indem sie ihm ermöglicht, sich der Toleranz und dem inter- und transkulturellen Dialog zu öffnen. Damit dies möglich ist, muss man allen die Fähigkeit vermitteln, soziale Ungerechtigkeit, die sich unter der Bezeichnung Globalisierung als Privatisierung der Welt ausbreitet, als solche zu beurteilen und zu erkennen. Die soziale Ungerechtigkeit, die momentan das liberale Experimentieren mit der Gerechtigkeit in der ganzen Welt charakterisiert, und die mentale Dekonstruktion der Psyche, die sich daraus ableitet, sind Frucht einer kränkelnden Reflexion und eines philosophischen Irrtums: des Glaubens an die Notwendigkeit, im Menschen, der als Geisteswesen betrachtet wird, das kurieren zu müssen, was als sein Feind angesehen wird, nämlich das Bedürfniswesen. Man kann sich also nicht darauf beschränken, jedem nach Art des modernen Rechts ein einfaches Recht auf Urteilen zu gewähren, vielmehr muss man, um die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts zu konkretisieren sowie die Bildung, die dafür erforderlich ist, zunächst zeigen können, in welcher Hinsicht das liberale Experiment der Ausübung dieses Rechtes entgegensteht, weil es nämlich noch an die Wahrheit jenes Irrtums glaubt, aber zugleich muss man erkennen können, dass die Reaktivierung des modernen Rechtsideals unfähig ist, uns von der liberalen Ungerechtigkeit zu kurieren. Um dies zu tun, werden wir eine Anamnese des Verschwindens der Bürgerrechte durch Prozesse der Exklusion in den Vereinigten Staaten vornehmen, bevor wir die realen Effekte der Neutralisierung des Urteils, die den deliberativen Demokratien zu eigen ist, analysieren. Man kann in der Tat das, was in einer philosophischen Kultur des Urteils auf dem Spiel steht, nur restaurieren, indem man diese Fehler beurteilen und als solche erkennen lässt.

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1. Das konsensuelle Fundament der liberalen Demokratie, die Falsifikation ihres Gerechtigkeitsideals und das Verschwinden der Bürgerrechte Nach dem Zusammenbruch des Totalitarismus des Ostens scheint der nordamerikanische Liberalismus mit seinem Markt des freien Unternehmertums sich damit zufrieden geben zu können, seinen Triumph auf der ganzen Erde zu feiern; mehr als je zuvor scheint er als alleinige universalisierbare Lebensform legitimiert. Dieser Triumph ergibt sich scheinbar einzig und allein aus dem Grund, dass die liberale Demokratie auf den Errungenschaften der Philosophie der Aufklärung aufgebaut hat: auf der Freiheit und Gleichheit der Sozialpartner sowie auf dem Konsens, dass diese pragmatisch versuchen, gemeinsam zu produzieren. Das Durchlaufen der wirtschaftlichen und kulturellen Wachstumskrisen mithilfe des sozialen Konsenses hätte ihnen in der Tat erlaubt, die Art und Weise auf alle Bereiche des Lebens zu verallgemeinern, in der sie die durch ihre privaten Interessen verursachten Antagonismen überwunden haben, nämlich indem jeder Rückgriff auf Gewalt möglichst weitgehend begrenzt wird. Indem er das Unterwerfen unter den Konsens nicht nur zum Motor des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts macht, sondern auch zum Gesetz des sozialen und ökonomischen Fortschritts und ebenso zum Gesetz der Integration dieses Fortschritts ins private Leben der Individuen, scheint der Liberalismus den Prozess der Rationalisierung des Menschen und des Universums nach seinen eigenen Bedingungen zu gestalten. Er würde die Menschheit zu ihrer philosophischen Bestimmung führen, nämlich zur Demokratie, indem er die sapientia universalis, die die juridischen, moralischen und politischen Systeme der Moderne bereitstellen, einem umfassenden Experiment am Menschen unterwirft, das durch den Konsens gefiltert und reguliert wird. Als soziales Experiment der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung scheint der pragmatische Liberalismus das höchste moralische Gut des Menschen zu verwirklichen: Er neigt dazu, diesen dahingehend zu transformieren, das Maximum seiner Bedürfnisse zu befriedigen und ihn dabei zugleich als moralisches und verantwortungsvolles Wesen autonom zu machen im Hinblick auf diese Bedürfnisse. Das politische Leben muss den Menschen direkt dorthin transformieren, um dank einer harmonisierten Verteilung von Rechten, Pflichten und Gütern das Erreichen des sozialen Glücks der Gerechtigkeit sichtbar zu machen und sie zu garantieren als habsüchtige Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, die durch den gegenseitigen Schutz der Autonomie der Individuen begrenzt wird. Es vollzieht dies auf die gleiche Art, in der das wissenschaftliche Experiment mit der sichtbaren Welt diese umwandeln muss: Es muss die Wahrheit der wissenschaftlichen Hypothesen sichtbar machen, und das politische Leben muss die Wahrheit seiner Hypothesen bezüglich der Gerechtigkeit sichtbar machen.

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Denn die pragmatische Überprüfung der Gerechtigkeit besteht darin, die dialogische Logik der experimentellen Überprüfung der Übereinstimmung wissenschaftlicher Hypothesen mit der sichtbaren Welt auf die soziale Welt zu übertragen: indem man Konsens mit anderen zu einer Instanz der Bestätigung oder der Entwertung der Hypothesen der Gerechtigkeit macht, eine kognitive und praktische Instanz, die die Bedürfnisse der Individuen transzendiert. In dieser Versuchsanordnung überprüfen sich die Sprechenden gegenseitig durch ihre Sprechhandlungen: So, wie die Naturwissenschaftler die sichtbare Welt im Hinblick auf die Übereinstimmung ihrer Hypothesen mit ihr konsultieren, um von ihr ein „ja“ oder „nein“ zur Antwort auf die Frage zu erhalten: „Ist meine Hypothese wahr?“, so befragen die Sprechenden den Konsens mit ihren sozialen Partnern, um sich von ihnen die Lebenshypothese bestätigen oder verwerfen zu lassen, die sie über das Sprechen mit ihnen zu teilen versuchen. So überprüfen sie ihre Bedürfnisse und zugleich die sapientia universalis, die von den juridischen, moralischen und politischen Institutionen der Moderne geliefert wird, und sie tun dies auf die gleiche Weise, wie Naturwissenschaftler die mathesis universalis überprüfen. Letztere lassen die „äußere Natur“ sprechen, erstere dagegen ihre „innere Natur“ der Überzeugungen, Bedürfnisse und Wünsche und die ihrer Gesprächspartner – vermittelt durch den sozialen Konsens. Dieser demokratische Konsens verdankt seine Rechtfertigungskraft und seine Legitimation seiner Macht, Wirkungen allein aufgrund der Tatsache hervorzurufen, dass er sie transparent macht und sie akzeptieren lässt, wobei er seine Träger mit der gottgleichen Eigenschaft ausstattet, das transzendentale kantische Ideal zu verkörpern und das höchste Wohl aller herbeizuführen, indem sie eine Gerechtigkeit teilen, die durch die Übereinstimmung aller mit allen garantiert wird. Dieses totale Experiment falsifiziert allerdings radikal die Wahrheit der politischen Demokratie und deren bedingungslos höchstes Ziel, das heißt die Verwirklichung der Freiheit, die in jedem vorausgesetzt wird, in den sozial sensiblen Phänomenen, den menschlichen Wesen, eine Verwirklichung, die auf einer harmonisierten Verteilung der Rechte, der Pflichten und der Güter basiert. Seit Max Weber weiß man, dass der experimentelle Liberalismus Denkmodelle erbt, die den Heilsreligionen zu eigen sind, und dies gerade im Hinblick darauf, dass er diese Religionen säkularisiert, indem er die individuelle Vernunft dem Konsens unterordnet, sowie den sensiblen Wirkungen des Glücks, der Harmonisierung von Pflichten und Gratifikationen, die jener produzieren soll. Die Erklärung von Max Weber ist weithin bekannt.1 So wie die prädestinierten Calvinisten eine Bestätigung ihres von Gott zum Heil Auserwähltseins nur im weltlichen Erfolg fanden, so sieht die kapitalistische Suche nach dem Glück, die am Erfolg des Unternehmens überprüft wird, in diesem Erfolg die einzige Bestätigung der Wahl der Handlungen, für die sich ein be––––––––––––––––––

1 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: M. Weber, Die protestantische Ethik I, hg. v. J. Winckelmann. Gütersloh 1981 (6. Aufl.), S. 27-356.

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stimmtes Individuum entschieden hat. Er ist die einzige Realität, die deren soziale Richtigkeit bestätigen kann. Allerdings bestärkten die weltlichen Erfolge die Calvinisten in ihrer Gewissheit, gerettet zu werden nur unter der Bedingung, dass sie davon absehen, die erworbenen Reichtümer als eigenständigen Zweck zu verstehen und die Früchte dieser Reichtümer sofort zu genießen. Gleiches gilt für die liberalen Kapitalisten: Die Erfolge der Unternehmen bestärken ihre Chefs in der Gewissheit ihres moralischen und sozialen Heils nur unter der Bedingung, dass sie sich des sofortigen Genusses der erzielten Gewinne enthalten können und sie stattdessen erneut in die Entwicklung der Produktionsverhältnisse investieren, um deren Reichweite und Wirksamkeit zu verstärken. Auf diese Weise verschafft sich der demokratische Wille einen Genuss am grundlegenden Desinteresse, das er bezüglich der Verwirklichung des höchsten gemeinsamen Wohls an den Tag legt. Diese doppelte Bewegung der Suche und der experimentellen Überprüfung, die auf der einen Seite durch Bedürfnisse, auf der anderen durch unüberwindliche Askese vervielfältigt wird, transformiert den Akt der Produktion in einen absoluten Zweck. Zugleich impliziert sie einen ökonomischen Gewinn der politischen Macht, wo man in königlicher Erhabenheit vom Ziel dieses Experiments abstrahiert: dem höchsten Wohl aller, der Gerechtigkeit eines Glücks, das sozial und individuell geteilt wird. Man lässt den Anderen nur agieren, weil man sich der Harmonie sicher ist, die man zwischen dem Verdienst, den man in dieser Handlung erzielt, und dem Glück der Kapitalisierung, das daraus resultiert, verspürt. Man erfreut sich dessen ausschließlich aufgrund der Möglichkeit, das Wohlergehen des Anderen dem Bewusstsein der eigenen moralischen Vollkommenheit unterzuordnen, auf die man von Anfang an alles Glück gesetzt hat. Man versucht darin, die eigene Gewissheit des sozialen Heils zu maximieren; es handelt sich hierbei um eine kognitive Perversion der praktischen Vernunft, eine Perversion, die der moralischen Intention inhärent ist, die dem liberalen Experiment innewohnt. Das Schicksal der Verarmung und der Exklusion, das durch diese Dynamik ausgelöst wird, und dessen Export in den Beziehungen der Vereinigten Staaten zu den Entwicklungsländern drückt sich seit langem schon in neutralen Begriffen aus, wie jenen der Indizes für Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und mentale Entfremdung. Und wie auch Sheldon Wolin nachgezeichnet hat, hat es sich nach und nach durchgesetzt unter Ausnutzung der Neutralisierung der Bürgerrechte, wo die Bedingungen demokratischer Gleichheit sich verkehrt haben, indem sie der grundlegenden kapitalistischen Ungleichheit unterworfen wurden. Dieser Vorgang ist im Übrigen nicht nur den Vereinigten Staaten von Amerika zu eigen, sondern charakterisiert auch die jüngste Entwicklung der anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften. Weil diese Rechte nur eine rein negative Konzeption der Freiheit ausdrückten, wo beispielsweise die Freiheit der Mitglieder des Ku Klux Klan, diesem anzugehören, genauso viel Wert hatte wie die anderen, konnte man leicht die Men-

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schenrechte über das Handgemenge des politischen Kräftemessens stellen, in der Formulierung, wie sie ihnen die Verfassung der Vereinigten Staaten gab, während die Praxis des Liberalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts und dann des 20. nach und nach die Ausübung dieser Rechte den ökonomischen Imperativen und den Ergebnissen von Interessenskonflikten unterordnete. Weil der berufene Träger des Konsenses, der Staat, ebenfalls rein negativ konzipiert war als das, was die Individuen und die Minderheiten vor dem Missbrauch durch Mehrheiten und Aufrührer schützen sollte, weil er als der Schiedsrichter zwischen den Interessengruppen, zu dem er ebenfalls bestimmt war, sich schlussendlich ihrem Diktat beugen musste, kam man nach und nach auf die Idee, dass diese Anerkennung des Anderen, die diesem seine Bürgerrechte und allgemeiner noch die Menschenrechte gewährt, ihrerseits dem Gesetz des Marktes unterworfen sei: dass sie eine Art Zug um Zug-Geschehen sei und auf diese Weise das Experiment des sozialen Lebens als Verhandlung regelte. Von dem Zeitpunkt an, als die wirtschaftliche Konjunktur dem Staat nicht mehr erlaubte, seine Rolle als Wohlfahrtsstaat zu spielen, hat die Zunahme der Verarmung den Beherrschten die materiellen Mittel entzogen, die es ihnen ermöglichten, in öffentlichen Angelegenheiten ihre Meinungen als Bürger geltend zu machen. Während die Verankerung der Bürgerrechte und der Menschenrechte in der Verfassung diese Rechte über die politischen Kräfteverhältnisse erhoben hat, erweist sich die eigentliche Ausübung dieser Rechte, so wie sie sich geprägt durch das kapitalistische ökonomische Experiment als „wirtschaftliche Rechte“ (economical rights) darstellen, allmählich als unzugänglich für jene, die sich ausgeschlossen finden von der Sozialversicherung, von der Arbeitslosenunterstützung, von den Mitteln, sich zu bilden oder auszubilden oder vom finanziellen Zugang zu einer Wohnung. Dies führte dazu, dass trotz des öffentlich behaupteten Respekts vor dem Konsens der politische Liberalismus auf diese Weise auf der Ebene des Faktischen seine grundsätzliche Opposition manifestiert gegenüber einer Repräsentation des bürgerlichen Engagements und der kollektiven Aktion, die tatsächlich geeignet wäre, der Ausübung der Rechte einen Inhalt und eine Leitlinie zu geben, und somit seine grundsätzliche Opposition gegenüber einer republikanischen Ethik der Demokratie. Er erwies sich somit als unfähig, jenen Test erfolgreich zu bestehen, den James Madison als den entscheidendsten für die Verfassung der Vereinigten Staaten vorausgesagt hatte: deren Fähigkeit, die „Aufrührer“ zu kontrollieren; diese Fähigkeit nämlich, so nahm man an, stellte die Form der Politik dar, die eine auf der Freiheit gegründete Gesellschaft von den anderen unterscheidet. Unter Aufrührern verstand Madison eine Gruppe, die gebildet worden war, um ihre Interessen mit politischen Mitteln zu vertreten. Es war unausweichlich, dass die Aufrührer fortdauernd mit den einen oder anderen in Konflikt waren, nicht nur hinsichtlich der Eigentumsrechte, sondern ebenso hinsichtlich politischer oder religiöser Überzeugungen. Wie Sheldon Wolin zu Recht hervorhebt, gestand „die liberale Konzeption von Politik,

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jene von Gruppen, deren Interessen mit anderen von legalen Rechten geschützten Interessen in Konflikt treten müssen, [...] auf diese Weise zu, dass Politik eine Aktivität ist, die ihrer Natur nach eine Bedrohung für die Rechte darstellt.“2 Da sich die öffentlichen Kräfte in den Vereinigten Staaten in der Tat nicht auf eine öffentliche Meinung mit konstitutivem und gemeinsamem Wert stützen konnten, konnten sie sich zur Verteidigung dieser individuellen Rechte, die sie verteidigen sollten, auch nicht auf eine unparteiische öffentliche Autorität berufen; zudem waren sie zunächst im 19. und dann im 20. Jahrhundert gezwungen, sich den konfligierenden Anliegen von Interessengruppen zu beugen, natürlich unter dem Deckmantel, die Schiedsfunktion und die Verhandlungsmacht sicherzustellen, deren Ausübung von ihnen erwartet wurde. So hat sich der politische Liberalismus oder vielmehr das, was man ganz einfach als „die Politik der Interessen“ bezeichnen könnte, als undemokratisch in seinen Wirkungen wie in seinen Grundsätzen erwiesen und im weiteren Verlauf als anti-politisch. Daher konnte es Habermas ausreichend erscheinen, die öffentliche Meinung als unparteiische öffentliche Autorität wiederherzustellen, um das liberale Bewusstsein von seiner Unterwerfung unter diese Interessen zu kurieren.

2. Die europäische und republikanische Lösung für den liberalen Irrweg: die deliberative Therapie Angesichts einer sozialen Entfremdung, die als soziale Ungerechtigkeit zur Sprache gebracht wurde, zielt man darauf ab, die Abhängigkeitsverhältnisse umzukehren, die die Alltags- wie institutionelle Kommunikation den Produktionsverhältnissen und den ökonomischen Zwängen unterordnen, indem man dieses Mal ein gemeinsames Urteil über die Zwecke und Aufgaben zum Tragen bringt, die alle als gemeinsam anerkennen können. Man möchte der republikanischen politischen Macht ihre Orientierungskraft zurückgeben, indem man die moralische Authentizität der demokratischen Vernunft restauriert, um von vornherein die Perversion des kapitalistischen moralischen Bewusstseins auszuschließen, es daran zu hindern, die Oberhand zu gewinnen über die Dynamik des totalen Experiments der sozialen Kommunikation. Angesichts des verallgemeinerten Misstrauens, das die politischen Gesetze inspiriert, würde es sich aufdrängen, denjenigen alten und neuen Normen eine Legitimität zurückzugeben, in denen der zeitgenössische Mensch sich wiedererkennen kann: indem man erneut ihre Bindung an diese Gesetze motiviert, dieses Mal jedoch rational. Achtet man sorgfältig darauf, die öffentliche De––––––––––––––––––

2 Vgl. Democracy. A Journal of Political Renewal and Radical Change. The Common Good Foundation, New York, sowie insbesondere S. Wolin: L’action révolutionnaire aujourd’hui, ins Französische übertragen in J. Rajchman/C. West (Hg.), La pensée américaine contemporaine. Paris 1991, S. 368.

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batte mit Garantien zu umschließen, die es erlauben, jedem totale Freiheit zu gewähren hinsichtlich der externen Zwänge, die für gewöhnlich die Kommunikation belasten, könnte man als Regel, die diese Debatte leiten sollte, das Gesetz nehmen, sich nur der Überzeugungskraft des besten Arguments zu unterwerfen. Nur diese Kraft des besten Arguments könnte diese Debatte dort ansiedeln, wo es notwendig wäre: über dem Handgemenge der privaten oder kollektiven Interessen und den kapitalistischen Machtverhältnissen. Sie allein wäre würdig, zum Gesetz zu werden, indem sie eine neue Ausgewogenheit zwischen den Rechten, den Aufgaben und dem sozialen und individuellen Glück herstellen würde, das jedem zuschreibbar oder zugänglich ist. Denn das Nachgeben gegenüber dem besseren Argument auf der Suche nach universellen Bedürfnissen und universalisierbaren Normen muss in der Diskussion bezeugen, dass es sich tatsächlich um Bedürfnisse und Normen handelt, die von allen als objektiv und gemeinsam empfunden werden, als für den Menschen essentiell und als unabhängig vom Wunsch mancher, sie als solche von anderen anerkennen zu lassen. Jedem in gleicher Weise die autarke Freiheit zu gewähren, alle sozialen Rollen und alle argumentativen Rollen in dieser öffentlichen Debatte einzunehmen, soll, soweit sich das machen lässt, die angestrebten Ergebnisse garantieren: Dies, so die Annahme, würde jedem die Möglichkeit garantieren, dort die Bedürfnisse und Normen zu identifizieren, die alle autonom machen. Es würde ausreichen anzuerkennen, dass diese argumentative Dynamik implantiert werden kann oder bereits präsent ist in den verschiedenen öffentlichen Räumen, die den politischen öffentlichen Raum alimentieren, vermittels der Institutionen, die von der Verfassung eines Landes ermächtigt sind, die öffentliche Meinung zu bilden, wie zum Beispiel das Parlament, die Gerichtshöfe und die Verwaltungen.3 Man würde sich dann bewusst werden, dass man bereits in einer deliberativen Demokratie lebt, die nur das in die Praxis umsetzt, wozu sich diese Kommunikationsräume, die die Ausübung der Macht umgeben und leiten, geäußert haben. Kann diese gesetzgeberische Therapie der wechselseitigen Entfremdung und der sozialen Ungerechtigkeit ihre Ziele in Demokratien erreichen, die überall von der Hegemonie des Marktes dominiert werden? Wohl kaum. Denn selbst, wenn sie die liberale Verleugnung aufhebt, die die Theoretiker der liberalen Gerechtigkeit der Anerkennung der kapitalistischen Verarmung und der sozialen Entfremdung entgegensetzen, führt die argumentative Verwandlung der sozialen Orientierungskrise oder der Kommunikation, die in den Parlamenten, Gerichten und in den Verwaltungen geschieht, im Grunde genommen lediglich zu einer Übertragung der Politisierung des sozialen Lebens in den Diskussionsraum, wo sich bereits die wechselseitigen Rechtfertigungsüberle––––––––––––––––––

3 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M. 1981; Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/M. 1992.

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gungen der einen Individuen in Hinblick auf die anderen abspielen: dort, wo sie zu der Überzeugung gelangen, den gegenseitigen Erwartungen zu entsprechen oder auch nicht, und wo sie zu dem Urteil kommen, die Normen seien diesen Erwartungen angemessen oder auch nicht. So, wie er herbeigeführt wird, mit der unabkömmlichen Kraft des besten Arguments, wird der neue regulierende Konsens dort immer als Ort einer kollektiven rhetorischen Gratifikation empfunden, auf den sich auf magische Weise die mit diesem besseren Argument verbundene Überzeugungskraft übertragen hat, ohne dass man dort zum einen die Objektivität des kollektiven Urteils oder zum anderen die institutionellen Zwänge bzw. die Zwänge des Marktes, die im Hintergrund dieser Diskussion bleiben, erkennen könnte. Die argumentative Autarkie, deren Erfahrung man dort macht, könnte so auf magische Weise eine objektive Gewissheit nur bezüglich der Objektivität der Autonomie erzeugen, die man so sehnlichst dort zu erreichen wünscht. Und die kollektive Autonomie, deren öffentlichen Niederschlag die kognitive Kompetenz bildet, derer man sich erfreut, erscheint immer als eine Bedrohung der privaten Autonomie der Individuen, denn sie scheint determiniert von individuellen oder kollektiven maskierten Interessenzwängen. Das kommunitäre Empfinden kollektiven Einvernehmens, das jeder als bedingungslose ethische Forderung empfindet (in der Form des Sollens, in der Form des kategorischen Imperativs, welcher der kommunikativen Erprobung seiner selbst und des Anderen zugrunde liegt), als „konstitutionellen Patriotismus“, als „authentisches Rechtsbewusstsein“ und als Tatsache, nämlich als politischen Konsens, der tatsächlich zustande kommt, urteilt, so die Annahme, an Stelle jedes Einzelnen über die Objektivität der juridischen Verhältnisse und der sozialen Erfahrungen, die darin objektiviert sind. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, besteht in der resultierenden Desorientierung des sozialen und politischen Lebens. Da man die politische Anerkennung der Universalisierbarkeit von Normen auf die argumentative Anerkennung der Objektivität anerkannter sozialer Bedürfnisse und die Legalität der angewendeten gesetzgebenden Verfahren gründet, erscheinen nur die eingestandenen primären Bedürfnisse als mit Sicherheit universell, die an die artspezifischen Instinkte gebunden sind, wie Nahrungsaufnahme und sexuelle oder defensive Bedürfnisse. Innerhalb dieses Experiments erscheinen also nur diejenigen Normen universalisierbar und durch die positiven Gesetze der Rechtssysteme validierbar, die die Befriedigung dieser primitiven Bedürfnisse regulieren. Auch werden alle anderen Bedürfnisse zu Orten, an denen sich die soziale Unsicherheit noch verschärft. Sobald ein sozialer Partner versucht, ein abgeleitetes Bedürfnis, ein kulturelles Bedürfnis oder ein kulturell geprägtes Bedürfnis als solches anerkennen und daraufhin in eine Norm umsetzen zu lassen, ist es jedem anderen immer erlaubt, darin einen Wunsch nach Dominanz, ein asymmetrisches Kräfteverhältnis oder gar ein unvermeidlich privates Verlangen zu vermuten.

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Auch fegt die neoliberale Dynamik des radikalen Neodarwinismus ungerührt die deliberativen Skrupel der europäischen Nationalstaaten beiseite und erlegt ihnen ihr Gesetz auf, indem sie das Recht kauft, deren Märkte und Kulturen dem Gesetz der liberalen Marktorganisation zu unterwerfen.

3. Das Teilen des Wahrheitsurteils im öffentlichen Raum: die philosophische Kultur des Urteils und die Bedingungen seiner allgemeinen Verbreitung Das Bild, das der Liberalismus vom Menschen zeichnet, ist in der Tat falsch. Man wird von der politischen Verkrampfung rund um die Probleme der gerechten Verteilung von Rechten, Pflichten und Gütern nur kuriert, man wird von der Politik nur kuriert, indem man merkt, dass es streng genommen keine Heilung gibt. Denn man entwickelt eine Krankheit, ein Unglück oder einen Wahnsinn im politischen Leben nur dann, wenn man dort bereits zuvor eine notwendige oder gar apriorische Krankheit oder einen Wahnsinn diagnostiziert hat, jedenfalls eine Verfremdung, die die Politik im Grunde nur ausbilden kann, indem sie sich selbst verleugnet. Seit Platon sind die antagonistischen Beziehungen der Bedürfnisse, von denen angenommen wurde, dass sie den fortdauernden Antagonismus der Götter reproduzieren, freigebig an die Menschen als determinierende „Natur“ verteilt worden, abgeleitet vom Fall des Geistes im Körper, und später als liberaler Polytheismus der Werte, wie bei Max Weber. Diese agonistische Natur sah sich durch die Moderne auf die intersubjektiven und politischen Beziehungen der Menschen untereinander projiziert bis dahin, den Menschen als Bedürfniswesen zum Feind seiner selbst, des Menschen als geistigem Wesen, zu machen und ihn entsprechend dem bekannten Wort von Hobbes in einen Wolf für seinesgleichen zu verwandeln, bevor man im Liberalismus aus der Politik die Politik der antagonistischen Interessengruppen machte. Hier handelt es sich um einen philosophischen Irrtum, der zurückgeht auf die Unwissenheit, in der man sich im Altertum wie in der Moderne bezüglich der Art und Weise befand, wie die menschliche Beziehung zu den Bedürfnissen entsteht: als ein a priori rationales Verhältnis, das sich aus seiner Identifikation mit der Sprache ableitet. Auch ist der Versuch, sich davor einfach mittels eines unaufhaltbaren politischen Abwehrsystems zu schützen, ganz einfach falsch; vielmehr ist es notwendig, es dem Wahrheitsurteil zu unterwerfen. Dieser Irrtum war an einen Glauben gekoppelt, der sich seinerseits ebenfalls als falsch erwiesen hat: einerseits historisch, das heißt an den modernen Glauben, dass der Mensch sich selbst direkt verändern kann, entsprechend den Anforderungen eines ethischen Bewusstseins. Das ist heute an den Glauben gekoppelt, dass es ihm nur möglich ist, sich gemäß den ethischen Forderungen des kommunikativen Experiments und der argumentativen Diskussion zu ver-

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ändern. Man versucht in all diesen Fällen, die Gerechtigkeit des politischen Liberalismus oder der argumentativen Vernunft in einem System von Erkenntnissen, Rechten und Gesetzen zu verkörpern, oder gar noch in einem parlamentarischen, gerichtlichen und administrativen kommunikativen System: In beiden Fällen muss dieses System als die starre Entsprechung eines Instinkts funktionieren, der durch ein-eindeutige Korrelationen Reize, Reaktionen und konsumatorische Handlungen verbindet, als ein System, das seinerseits „das retardierte“ (L. Bolk) und „noch nicht festgelegte“ Tier (F. Nietzsche), welches der Mensch ist, transformieren muss in ein wohlgeformtes Wesen: in ein starres und unfehlbares System der Koordinierung eines einzigen und einmaligen Systems von Handlungen und Bedürfnissen, hin zu einem einzigen und einmaligen System kognitiver und stimulierender Wahrnehmungen. Diese Konzeption des zoon logikon, von Aristoteles ererbt und von den Utilitarististen, den Liberalen und den Moralisten wieder aufgegriffen, bleibt präsent in der Konzeption primärer Interessen und Güter, wie sie der liberalen Theorie der Gerechtigkeit ebenso zu eigen ist wie der deliberativen Demokratie. Dennoch ist diese anthropologische Konzeption falsch, insofern beim Menschen anfangs nur die artspezifischen Instinkte der Nahrungsaufnahme, der Sexualität und der Verteidigung bestehen. Man versucht also vergeblich, von letzteren ausgehend, institutionelle Koordinierungen der physischen und sozialen Umwelt einzurichten, die ebenso starr und unfehlbar sind wie die Instinkte der wohlgebildeten Tiere. Sucht man so eine politische Lösung für das Problem, das das totale Experiment darstellt, greift man auf die Kraft der Sprache zurück, die man verwendet, um den Menschen vor der Aggressivität des Anderen zu schützen, so wie sie als öffentliches Wesen in den Religionen der souveränen Götter zu erkennen war, den ersten Institutionen des politischen Lebens. In diesem politischen Gebrauch der Sprache nämlich sucht man ein Analogon zum Instinkt der Regulierung und begrenzt ihn willkürlich auf den rechtlichen, moralischen und politischen Gebrauch. Man macht dies, während man postuliert, inkonsistent in Bezug auf diese Voraussetzung einer „heteronomen, ja sogar instinktiven Natur“ des Menschen, dass dieser seine rationale Zustimmung zu diesen Systemen sozialer Regulierung des Lebens frei und verantwortungsvoll gewähren kann und muss. Allerdings hat die Anthropologie der Sprache in diesem Jahrhundert entdeckt, dass der Mensch als Sprachwesen sich immer nur indirekt verändern konnte und kann: zunächst vermittelt über die archaische Identifikation mit Gott und später auf dem Umweg über das Wahrheitsurteil, das er über seine Lebensbedingungen fällt. Die Position der Übereinstimmung seiner selbst mit sich selbst, mit dem Anderen und mit dem Realen, die alles Denken und alle Sprache bewegt, stellt nicht nur ein regulierendes Prinzip dar, das im Reich der Zwecke gilt, sondern ist konstitutiv für die Identifikation des lebenden Menschen mit den Lauten und diktiert in diesem Sinne ebenso den Einklang des Denkens mit dem Realen wie den Einklang mit den anderen. Sie objekti-

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viert für den Menschen seine Bedürfnisse und seine Handlungen, genauso wie sie seine Wahrnehmungen und sein Wissen objektiviert: indem sie den Einklang zwischen hervorgebrachten und gehörten Lauten in seine Wahrnehmung, seine Bedürfnisse und seine Handlungen projiziert, um ihnen ein Eigenleben zu verleihen, sie von sich selbst zu lösen und um diesen Menschen erkennen zu lassen, ob seine Wahrnehmungen, Handlungen und Bedürfnisse genauso wirklich seine Existenzbedingungen sind, wie er denken musste, dass er mit ihnen identifiziert sei, um sie denken zu können. Sie ist also gleichermaßen das, was als wirklich beurteilt wird, wie sie voraussetzen musste, dass sie es war, um jeden mit seinen Wahrnehmungen, seinem Wissen, seinen Handlungen und seinen Bedürfnissen als seinen Existenzbedingungen und als Wirklichkeit seiner Welt zu konfrontieren.4 Diese Harmonie drängt sich ihm allein aufgrund der Tatsache auf, dass er zum Zeitpunkt, da er sie erzeugt, die hervorgebrachten Laute nicht von jenen unterscheiden kann, die er hört. Diese Identität ihrerseits wird in jeder Proposition nachgeahmt als Bewegung einer referentiellen Projektion der Laute auf die Dinge, und als Bewegung prädikativer Rezeption dessen, was die Dinge aus sich heraus zu einer Wirklichkeit für uns macht. Jede Äußerung und jedes Verständnis einer Proposition imitieren diese audio-phonetische Bewegung von Äußerung und Rezeption, die sie trägt, seien sie nun ausgesprochen oder nur gedacht, denn diese Bewegung erlaubt eine Isolation dessen, wovon man spricht oder woran man denkt nur, wenn man sich dieses als identisch vorstellt mit der Eigenschaft oder der Relation, die durch das Prädikat identifiziert wird. Zudem kann man sich keine Proposition denken, ohne sie sich als wahr vorzustellen, oder, um es mit C. S. Peirce zu sagen, „jede Proposition bestätigt ihre eigene Wahrheit“,5 damit sie verstanden werden kann. Genauso wie man eine Wirklichkeit durch den Gebrauch des referentiellen Ausdrucks nur isolieren kann, indem man durch den Gebrauch des Prädikats beurteilt, worin für sie die Tatsache besteht zu existieren, also indem man z. B. den Schnee mit seinem Weißsein identifiziert, wenn man sagt: „der Schnee ist weiß“, genauso kann man sich an dieser Wahrheit als Angesprochener seiner selbst nur erfreuen, indem man beurteilt, ob zu existieren für diese Wirklichkeit bedeutet, tatsächlich das zu sein, mit dem man es identifiziert: indem man über die Objektivität der Harmonie urteilt, die zwischen dem Schnee und dem Weißsein begründet wird, und indem man anerkennt, dass es wahr ist, falls sie ebenso kon––––––––––––––––––

4 Die demokratische Struktur des Respekts vor dem Gesetz der Wahrheit arbeite ich heraus in La loi de vérité ou la logique philosophique du jugement, Paris 1993, sowie in La condition démocratique, Paris 1998. Ihre zeitgenössische pragmatische Neutralisierung durch einen blinden Konsens analysiere ich als Autismus der Zivilisationen in L’âge pragmatique ou l’expérimentation totale, Paris 1991. Die Ausdehnung dieser Neutralisierung bis ins politische Leben durch die pragmatische Ethik der Republik wird diagnostiziert in J. Poulain, La neutralisation du jugement. La critique pragmatique de la raison politique, Paris 1993. 5 Charles S. Peirce, Collected Papers of Charles S. Peirce. Cambridge 1935, Vol. 5, § 340.

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stitutiv für den Schnee und seine phänomenologische Erscheinung als Realität ist, dass man denken musste, sie sei es, um sie auf diese Weise wahrnehmen zu können. Die Rekonstruktion der anthropologischen Voraussetzungen des Gebrauchs des Urteils zwingt zu einer Änderung des Paradigmas in Hinblick auf die Moderne, die nicht nur behauptet, sondern auch wirksam wird: Sie zwingt dazu, das Primat der praktischen Vernunft durch das der theoretischen Vernunft zu ersetzen, und zwar gerade in der Domäne der praktischen Vernunft, im Herzen der ethisch-politischen Verhältnisse. In der Tat setzten erst die ethisch-politischen Verhältnisse frei, dass man erkennt, dass man sich in der Erfahrung des Lebens und der Welt befindet und dass man das beurteilt, auf die Art und Weise, wie man sich bestätigt und zu sein erkennt, in der Kommunikation, der einzigen Wirklichkeit, von der man sich sagt, man sei dort. Denn die Ausübung des politischen Urteils mit dem Ziel der Gerechtigkeit besteht darin, durch andere nur das verwirklichen zu lassen und selbst nur das zu realisieren, was man gedacht hat, dass man war. Diese Verkehrung des Primats der praktischen Vernunft in das Primat der theoretischen Vernunft und das Primat des Wahrheitsurteils, welches sich dadurch restauriert sieht, sind beide heilsam: Sie befreien innerlich von der moralischen Suche nach einer Weisheit, deren höchster Nutzen und höchstes Gut nur in einem einzigen und einmaligen Nutzen liegt, in dem Nutzen, sich frei zu wissen vom Anderen und von sich selbst in jeglicher Erfahrung, sich frei und im weiteren Verlauf jedem Gegenüber gleich zu wissen. Denn man erreicht es, sich dort von dem zu befreien, was es an Wahnsinn in den politischen Verhältnissen gab: Man vergisst dort die Überzeugung, dass es möglich ist, sich auf magische und abstrakte Weise aus der Identifikation mit allen sozialen oder vitalen Verhältnissen zu lösen, mit denen man sich identifizieren musste, um sie denken zu können, auf die gleiche Weise wie man die anderen von sich selbst befreit, so als ob man für sich selbst jemand anderes wäre, als ob man ihnen entfremdet wäre, solange sie uns lediglich in den Sinn kommen. So betrachtet erweist sich jegliche Bildung als Bildung des Urteils, denn sie integriert in sich immer dieses Moment der Ausübung des Urteils und der gegenseitigen Anerkennung der Personen beim Austauschen von Wahrheiten. Jeder ist also berechtigt, von den politischen Institutionen, die durch die Verfassung beauftragt wurden, über seine Erziehung zu wachen, zu erwarten, dass sie ihm das Recht auf Zugang zu einer Bildung des Urteils gewähren, eine Bildung, die darauf abzielt, dass jeder sich diese Fähigkeit des Urteilens aneignet: eine philosophische Bildung zu dem Zeitpunkt, da dieses Urteil von sich heraus versucht, sich in jedem zu bilden: gegen Ende des Sekundarbereichs und dann, wenn Spezialisierung des Wissens und der Praktiken erworben werden: im Laufe des Unterrichts und der Forschung, die einem durch den Hochschulunterricht zukommen. In dieser Hinsicht gilt, je mehr sich die Kenntnisse und die Praktiken als unauflöslich mit der Ausübung dieses Urteils

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verbunden erweisen, desto mehr erweist sich die philosophische Bildung begleitend zur Hochschulspezialisierung als notwendig. Die Notwendigkeit dieser Begleitung versteht sich von selbst in den verschiedenen Geisteswissenschaften, im Studium politischer und wirtschaftlicher Theorie, aber ebenso in den verschiedenen Künsten und in der Literatur als den „Kulturen der Kommunikation“, kurz gesagt, in dem Bereich, den man „humanities“ nennt. Weil diese gemeinsamen Lebensbedingungen der eigentliche Gegenstand der Theorie der Politik und der Machtausübung sind, müsste die universelle Anerkennung eines Rechts auf philosophische Bildung von einer institutionellen Forderung begleitet werden, die den Zugang zur politischen Machtausübung betrifft. Die Politiker, die diese Macht anstreben, müssten nachweisen können, dass sie tatsächlich an dieser philosophischen Bildung teilhatten, und sie müssten die Präsenz dieses Urteils im Inhalt der von ihnen vertretenen politischen Programme wie auch in deren Umsetzung angeben können. An der Bildung der internationalen Demokratie, die die gegenwärtige Globalisierung der ökonomisch-politischen Verhältnisse erfordert, können nämlich nur diejenigen Politiker teilnehmen, die fähig sind, die Objektivität und die Wahrheit der Urteile erkennen zu lassen, welche sie ihre Landsleute und ihren eigenen Staat und die Partnerstaaten übernehmen lassen. Die Analyse des kulturellen Versagens, das die Globalisierung darstellt, lehrt uns, dass der Mensch nicht die Zusammensetzung aus Geist und Körper ist, zu der ihn die Philosophie gemacht hat, indem sie ihn auf die Aufgabe festlegte, im Laufe der Geschichte die Herrschaft des Geistes über den Körper und über die eigenen Bedürfnisse zu etablieren; er war im Gegensatz dazu als Körper, als Affekt genauso wie als Geist vor allem ein Wesen der Kommunikation mit sich selbst und mit anderen, d. h. ein Wesen, das sich in seinen Handlungen und Aktionen nur verwurzeln kann, indem es anerkennt, dass es genauso objektiv seine Handlungen und Bedürfnisse ist, wie es urteilt, dass es diese Aktionen und dieses Bedürfnis ist und dies auch vom Anderen anerkennen lassen kann. Es kann sich dort also nur verwurzeln, indem es das Urteil der Objektivität teilen lässt, das es in Bezug hierauf ebenso trifft wie in Bezug auf seine Kenntnisse: Diese Handlungen und Bedürfnisse können also nicht Gegenstand eines willkürlichen Wollens sein, sondern gehen notwendigerweise ein in die Gesamtheit der notwendigen Beziehungen, die den Menschen mit der Welt und die Phänomene dieser Welt untereinander verbinden. Als kommunikatives Wesen erkennt er somit notwendigerweise, dass er nicht in der Lage ist, sich ein für allemal die Ausübung und die Ergebnisse dieses Urteils und dieses Teilens der Wahrheit als einen rechtlichen, moralischen oder politischen Code anzueignen, unter Berufung auf rechtliche, moralische und politische Regeln, denn er kann das Eintreten dieser Übereinstimmung über Objektivität und Wahrheit nicht willkürlich dem simplen individuellen oder kollektiven Wollen unterordnen. Das pragmatische und konsensuelle Experiment des Menschen am Menschen lässt ihn erkennen, dass der Mensch seine Ziele nicht

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erreichen kann, die er sich in der Geschichte gesetzt hat: dass er nicht ein für allemal mit sich selbst übereinstimmen kann, sondern dass das gemeinsame Fällen eines Wahrheitsurteils über seine Handlungen und Bedürfnisse, insofern es Anlass gibt für eine ebenso objektive Wahrheit wie er voraussetzt dass sie dies sei, die einzige Instanz der Anpassung an die Handlung darstellt, die ihm zugänglich ist. Sie lässt ihn so ebenfalls erkennen, dass alle Kommunikation in diesem Sinne ein öffentlicher Raum ist und dass sie dies, nämlich ein als solcher konstituierter und institutionalisierter Raum, nur ist, insofern sie ein universitärer Austausch ist, ein Austausch von Urteilen, der nur auf sich selbst beruht, auf der Fähigkeit, die Welt darzustellen, in der dieses Urteil wahr ist: durch das Denken diese Welt zur Existenz kommen zu lassen, allein aufgrund der Tatsache, dass er zeigen kann, dass sie bereits als Realität vorhanden ist, als menschliche Welt, als Realität genauso gegenwärtig wie es wahr ist, dass er sie als solche darstellt in der Form, die er ihr gibt. Die Universität universalisiert sich notwendigerweise in diesem Horizont des menschlichen Experimentes durch die Kommunikation, indem sie sich als die bereits vorhandene Form jeglicher Kommunikation erkennt, da diese das Verlangen nach einem blinden Konsens nicht befriedigen kann, sondern einen Konsens nur erreichen kann in Bezug auf den Menschen selbst, indem sie ihn verortet allein aufgrund der Tatsache, dass er sich als solchen anerkennen lässt, als Wesen, welches Richter der Wahrheit ist und als theoretisches Wesen, das über einen Prozess der Experimentierens mit sich selbst diesem Urteil unterworfen ist. Sie erfüllt also bereits ihre Aufgabe als anfängliche, mittlere und abschließende Phase der indirekten Transformation des Menschen durch sich selbst, die dieses totale Experiment des Menschen als Element der Welt darstellt, denn dieses Experiment vollzieht sich notwendigerweise auf dem Umweg über das Wahrheitsurteil, das über die experimentierten Lebensformen gefällt wird, wie auch über das Teilen dieses Wahrheitsurteils. Dieser Umweg und dieses Teilen des Urteils sind in ihren Formen wie in ihrem Inhalt universitär. Die Universität erweist sich somit als etwas, das viel mehr ist als eine Institution, nämlich die Institution des Wissens, denn sie ist diese Institution des Wissens nur, indem sie etabliert, dass sie schon eine Lebensform ist, und die einzige Lebensform, die dem Menschen entspricht, weil sie nur die philosophische Dynamik und Logik ausdrückt, die jeder Kommunikation inhärent sind: diese Kraft, die eine Welt nur erschaffen kann, indem sie sie kritisiert und indem sie diese Kritik zu einer wechselseitig geteilten Kritik macht, in Bezug auf deren Ausübung ebenso wie in Bezug auf deren Ergebnisse. So kann sie zugleich etablieren, dass der Mensch nicht zu diesem Wesen der perfekten Herrschaft über sich selbst werden kann, das er über dieses unbestimmte Experiment an sich selbst zu sein anstrebt, denn um dies zu sein, müsste er darauf verzichten, zu sein, was er ist, nämlich dieses Teilen des Urteils in Ver-

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bindung mit sich selbst und der Welt, und müsste sich damit zufrieden geben, seinen Traum von Souveränität zu stillen. Ebenso kann sie den Gebrauch des Urteils nur dadurch ins Zentrum eines Experiments stellen, das dessen Gebrauch leugnet und durch einen blinden Konsens ersetzt, dass sie einen öffentlichen Raum wechselseitiger Bestätigung restauriert, der auf der Erkenntnis aufbaut, dass die produzierten öffentlichen Welten, industrielle, ökonomische, juristische, moralische oder politische, sehr wohl objektive Lebensbedingungen darstellen, als die man sie voraussetzen muss, damit sie so existieren können, wie sie das tun, oder dass sie dies ganz im Gegenteil nicht sind, und weswegen. So muss sie auf ihre Weise berücksichtigen, dass der Mensch sich nicht direkt transformieren noch eine konsensuelle Herrschaft über sich selbst und den Anderen erlangen kann, ohne sich bezüglich der Objektivität dieser Welt und der Lebensformen, die sich dort entwickeln, sicher zu sein, also ohne den Umweg über das Teilen des Wahrheitsurteils, eines Wahrheitsurteils, das zu der Erkenntnis führt, dass es ebenso wahr ist, wie es sich diese Wahrheit bestätigt. Diese universitäre Praxis der Anerkennung des Menschen in ihrem Konzept, nämlich der praktischen und theoretischen Anerkennung jedes Einzelnen in dem, was er als urteilendes Wesen ist, substitutiert sich daher bereits im philosophischen Ausüben dieses Urteils, als gelungene Bewegung auf der gescheiterten Bewegung der direkten Transformation des Einzelnen im blinden Konsens. Da diese philosophische Kultur des Urteils sich nicht darauf beschränken kann, die gemeinsamen Wahrheiten zu registrieren, die innerhalb eines blinden Konsenses und eines rein wettbewerbsorientierten Kampfes von Interessen produziert werden, der sich im Zentrum der öffentlichen Meinung abspielt, und in den verschiedenen öffentlichen Räumen, die diese verbindet, ist es entscheidend, dass im Zentrum der Medien ein echter philosophischer Dialog stattfindet zwischen den Journalisten, den Politikern und jenen, die im engeren oder weiteren Sinne an der Ausarbeitung einer philosophischen Überlegung teilhaben. Die Erprobung innovativer Wahrheiten [vérités], die durch die Globalisierung der sozioökonomischen Verhältnisse erforderlich werden, und die Entdeckung und Übernahme von Rechten, die vermutlich mit ihnen verbunden sind, können nur um diesen Preis ihre Objektivität unter Beweis stellen und die Staaten von ihrem traditionellen wirtschaftlichen und kulturellen Protektionismus befreien. Aus dem Französischen von Ursula Liebing

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POLITISCHE REPRÄSENTATION UND BILDUNG DER ÖFFENTLICHKEIT Das Beispiel der frühen italienischen Stadtrepubliken

Die folgenden Ausführungen widmen sich anhand weniger ausgewählter Beispiele bildlichen Regierungsrepräsentationen des ausgehenden Mittelalters, denen eine kaum zu überschätzende Funktion der politischen Bildung und Einflussnahme in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zukam. Ihre besondere Eignung für diese Funktion verdankten sie in erster Linie ihrer spezifischen medialen Struktur und dem Modus ihrer Bildlichkeit, insofern sie neue, ethisch, sozial und juridisch fundierte Semantiken, die zumeist von hoher konzeptueller Komplexität waren, mit einer neuen, von den Zeitgenossen bis dahin ungekannten visuellen Wirkungskraft kommunizierten. Die Darstellungen warteten nicht nur mit einem ungewöhnlich hohen Maß an lebendiger Vergegenwärtigungs- und Anschauungsleistung auf, sondern zugleich mit einem kaum hintergehbaren Geltungs- und Autoritätsanspruch, der sich wesentlich aus eben dieser besonderen Prägnanz des Anschauungseindrucks begründete. Anders gesagt: Die neuen Bilder legten dem, was sie als politische Botschaft öffentlich vor Augen stellten, zugleich das Merkmal der Offenkundigkeit, der Unabweislichkeit und der unumstößlichen Evidenz bei. Es war dieses Potential der visuellen Autorisierung von politischen Inhalten, das ihnen eine wichtige Bedeutung für die mediale Konstruktion von gesellschaftlicher Identität und öffentlichem Konsens zuwachsen ließ. Denn die neuen Bilder waren nicht nur öffentlich, sondern sie machten auch öffentlich, und sie hatten in dieser Funktion maßgeblich Anteil an der gesellschaftlichen Konstruktion eines als verbindlich angesehenen politischen Konsenses (consensus omnium) und mithin auch an einer von dieser Konsensallgemeinheit einmütig wertbesetzten öffentlichen Meinung (opinio comunis). Als Dispositive öffentlicher Repräsentation zielten sie auf die Manifestation und Durchsetzung politischer und gesellschaftlicher Wertbegriffe und verkörperten in diesem Sinn symbolische Ordnungen. Dass sie zur Bewältigung dieser Aufgabe zunehmend einen bildlich höchst flexiblen und kontextspezifisch diversifizierten Argumentationsstil entwickelten, der formale und inhaltlich-ikonographische Aspekte ebenso wie die Frage von Materialien und Objektformen betraf, sei hier nur angemerkt.1 –––––––––––––––––– 1 Siehe u. a. Arasse 1985; Belting/Blume 1989; Norman 1995, 1999; Donato 1993, 1994, 1997; Cannon/Williamson 2000; Krüger 2007.

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Abb. 1: Ambrogio Lorenzetti, Buon Governo (Fresko), Nord- und Ostwand, Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39

Der Kontext, in und für den diese neuartigen Bildprogramme entstanden, war maßgeblich mit der Regierungsform der kommunal verfassten Stadtrepubliken gegeben, die sich seit dem 13. Jahrhundert vor allem in der Toskana und in Oberitalien zunehmend als eine feste politische Größe etabliert hatten. Sie verfügten nicht nur über je eigene, militärisch und ökonomisch höchst leistungsstark organisierte Machtstrukturen, sondern brachten auch genuine Formen einer jeweiligen kulturellen Identität hervor, die wiederum ein suggestives Potential der gesellschaftlichen Selbstbestimmung entfalteten und auf diese Weise auf die Prozesse der politischen Kohäsion und Konsensbildung in den tendenziell pluralistisch bestimmten Strukturen dieser Republiken einwirkten.2 Nicht nur die Konstellation einer neuen, republikanisch geprägten Regierungsform, –––––––––––––––––– 2 Die betreffende Literatur ist mittlerweile überbordend; eine materialmäßig umfassende und zugleich detaillierte Studie bietet Jones 1997; siehe ferner besonders Hyde 1973; Waley 1988; Larner 1980; Martines 1988; sowie als jüngeren Überblick Najemy 2004, mit ausführlichen Referenzen. Als exemplarische Fallstudien Trexler 1980; Najemy 1982.

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die sich dezidiert gegen die hergebrachten Formen der monarchischen bzw. dynastischen Herrschaftspraxis richtete und umso mehr das Recht auf quasidemokratische Selbstorganisation und Selbstbestimmung in politischen, ökonomischen und juridischen Belangen für sich beanspruchte, sondern auch der Umstand, dass sich die politischen Organe für die Durchsetzung und Festigung dieses Anspruchs des Mediums von öffentlichen Bildern bedienten,3 besitzt angesichts heutiger Debatten um den Zusammenhang von politischer Bildung und demokratischen Prozessen, von kultureller Identität und gesellschaftlichem Selbstverständnis im Zeichen einer alle Lebensbereiche umfassenden Mediengesellschaft unabweislich eine hohe aktuelle Relevanz. Nicht zuletzt wird sie auch an der seit Hans Barons pointierten Thesen zum Zusammenhang von „civic humanism and republic liberty“ theoretisch ausdifferenzierten und bis heute lebhaft geführten Diskussion ersichtlich, die – vor allem in der USamerikanischen Geschichtsschreibung – um die Frage geführt wird, ob und inwieweit unter dem Stichwort eines neuartigen republikanischen Bürgersinns die italienischen Kommunen und die institutionellen Strukturen ihrer politischen Konsensfindung als Paradigma und Frühform einer demokratischen Regierungsform in Anspruch genommen werden können, die sich schließlich und allererst in den USA selbst erfüllt und vollendet habe.4 Beginnen wir mit einem berühmten Beispiel. Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus des Buon Governo, der 1338/39 im Palazzo Pubblico, dem Regierungssitz der Republik von Siena entstand, stellt das prominenteste Zeugnis der neuen politischen Bildkultur dieser frühen italienischen Kommunen dar (Abb. 1).5 Den zentralen Teil des triptychonartigen Freskenensembles bildet eine monumentale Allegorie, die nichts anderes als die Staatsverfassung von Siena in visueller Form darstellt (Abb. 2). Als dominierende Gestalt im rechten Teil des Freskos erscheint ein thronender bärtiger Mann, der in ein Gewand gekleidet ist, dessen Farben (Schwarz und Weiß) die Wappenfarben der Republik Siena repräsentieren (Abb. 3). In der linken Hand hält er eine runde goldene Scheibe, die ein vergrößertes Abbild des Stadtsiegels von Siena mit dem Bild der Heiligen Jungfrau Maria zeigt, und in der rechten Hand ein Szepter als Signum seines Herrschafts- und Regierungsanspruchs. Die Figur verkörpert also bildlich eine abstrakte politische Idee bzw. ein institutionelles Konzept, nämlich die Regierung von Siena. Genauer gesagt: Sie figuriert als anschauliche und leibhaftige Personifikation der Kommune von Siena bzw. des staatlichen Gemein––––––––––––––––––

3 Vgl. grundsätzlich zur betreffenden Idee der civitas und zur identitätsstiftenden Funktion künstlerischer Leistung im Spätmittelalter und in der Renaissance in Italien Bauer 1966, S. 117 („Zur Säkularisierung des Himmelsbildes in der italienischen Stadt“); Goldthwaite 1993, bes. S. 69ff.; Krüger 1998; Dietl 2000; Dondarini 2003; Smurra 2003; Stolleis/Wolff 2004. 4 Baron 1955a, b, 1988. Vgl. dazu u. a. Ferguson 1958; Brown 1990; Hankins 1995; Witt 1996; Najemy 1996; Kracht 2001; Ladwig 2004, S. 278ff. 5 Vgl. hier nur die wichtigste und jüngere Literatur: Carter Southard 1979; Skinner 1986; Starn 1994; Redon 1994; Seidel 1997; Skinner 1999; Seidel 1999; Schiera 1999; Gibbs 1999; Campbell 2001; Donato 2002; Norman 2003, S. 98-104.

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wohls (Bonum Commune) der Republik. Ähnlich, d. h. in allegorischer Gestalt eines bärtigen Alten mit Szepter, begegnet die Kommune bereits kurz zuvor, um 1330, in einem Relief am Grabmal des Bischofs Guido Tarlati im Dom von Arezzo (Abb. 4). Und dieser Darstellung diente wiederum ein heute verlorenes, monumentales Fresko von Giotto im Palazzo del Podestà, dem ersten Amtssitz des Bürgermeisters von Florenz zum Vorbild. Das Sieneser Fresko bildet also nur den Höhepunkt einer erst seit kurzem bestehenden, hoch aktuellen Traditionsreihe, in der sich eine neuartige Bildpolitik und öffentlichkeitswirksame Staatsrepräsentation der republikanischen Kommunen manifestiert.6

Abb. 2: Ambrogio Lorenzetti, Buon Governo (Fresko), Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39

Über der Figur, die die Republik von Siena bzw. das Gemeinwohl verkörpert, schweben die Allegorien der theologischen Tugenden von Glaube, Liebe und Hoffnung, während zu seinen beiden Seiten, gleich Besitzern oder Regierungsberatern, die Tugenden der Großherzigkeit, der Mäßigung und Gerechtigkeit (rechts) sowie der Klugheit, der Stärke und des Friedens (links) sitzen (Abb. 5). Der politische bzw. gesellschaftliche Wertbegriff der demokratisch verfassten Kommune bzw. des republikanischen Gemeinwohls von Siena, der an sich nur ein abstraktes, unsichtbares Konzept ist, wird hier also in der konkreten Ge–––––––––––––––––– 6 Vgl. zum Überblick die Angaben in Anm. 1.

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stalt einer machtvollen und überdimensionierten, durch Begleitfiguren näher charakterisierten und qualifizierten Herrscherfigur vor Augen gestellt. Dennoch erscheint sie gerade nicht als allmächtige Herrscherfigur im Sinne einer monarchischen, zentralistischen und antidemokratischen Verfassung. Denn sie wird bewusst nicht zentral platziert, sondern entschieden aus der Bildachse

Abb. 3: Ambrogio Lorenzetti, Buon Governo (Fresko), Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39, Detail: Personifikationen von Siena, Fides, Caritas, Spes, Prudentia und Magnaminitas

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Abb. 4: Giovanni di Agostino und Angelo di Venturi, Grabmal des Bischofs Guido Tarlati, Dom, Arezzo, 1328, Detail: Il comune pelato (Relief)

Abb. 5: Ambrogio Lorenzetti, Buon Governo (Fresko), Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39, Detail

nach rechts verschoben, um auf der linken Seite des Freskos durch die große Figur der thronenden Gerechtigkeit (Justitia) einen Gegenpart zu erhalten, dem eine deutlich markierte, hervorgehobene Position zugewiesen wird (Abb. 6).

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Diese Figur der Gerechtigkeit, die links und rechts durch geflügelte Engel in den beiden Waagschalen die Handlungen des Zivil- und des Strafrechts ausüben lässt (also das Krönen bzw. Enthaupten, links, und das Verteilen und Zuweisen der Güter durch Längenmaße und ein Getreidemaß, rechts) wird dabei ihrerseits von oben her durch die göttliche Weisheit (sapientia) inspiriert. Zu ihren Füßen aber thront die Eintracht (concordia), die auf ihrem Schoß einen

Abb. 6: Ambrogio Lorenzetti, Buon Governo (Fresko), Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39, Detail: Iustitia und Sapientia

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riesigen Hobel hält (Abb. 7): ein Verweis auf das Prinzip der sozialen Gleichheit (aequitas), das nach Cicero neben der concordia als zweite wichtige Voraussetzung eines wohlorganisierten Staatswesens dient.7 Die Figur der Concordia verknüpft die beiden Seile, die von den Waagschalen der Gerechtigkeit herabführen, und gibt sie als zusammengedrehte Kordel, d. h. als Signum der politischen Gemeinsamkeit und des gesellschaftlichen Konsenses weiter an die 24 Bürger, die sich in zeitgenössischer Gewandung und individueller Erscheinung, aber dabei in geordnetem Zug und streng gewahrter gleicher Kopfhöhe nach rechts, zu der Figur des Thronenden, d. h. zu ihrem Ideal des Gemeinwohls hin bewegen und sich dabei an der Kordel wie an einem Leitseil festhalten (Abb. 8). In ihnen verbindet sich anschaulich die Vorstellung von der Individualität des Einzelnen und der Gleichheit aller als zentraler politischer Wertbegriff als juridisch fundierte Maxime des republikanischen Systems.

Abb. 7: Ambrogio Lorenzetti, Buon Governo (Fresko), Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39, Detail: Concordia

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7 Vgl. dazu v. a. Skinner 1986.

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Abb. 8: Ambrogio Lorenzetti, Buon Governo (Fresko), Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39, Detail: Bürger mit Kordel

Abb. 9: Ambrogio Lorenzetti, Mal Governo (Fresko), Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39

Ohne das Fresko, das von der Forschung oftmals diskutiert wurde, an dieser Stelle eingehend zu analysieren, lässt sich sagen, dass nicht nur durch die allegorischen Figuren, sondern auch und gerade durch die visuelle Struktur des Bildes in suggestiver Weise ein politisches System und seine gesellschaftliche bzw. institutionelle Struktur veranschaulicht und repräsentiert wird. Das Fresko

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ist ein dezentrales, entschieden nicht-axiales und auf diese Weise ent-hierarchisiertes Bilddispositiv einer nicht personal, sondern institutionell gefügten Regierungsform, in der das Gemeinwohl aller (bonum comune) selbst die Herrschaft innehat. In reich differenzierter Weise wartet die Darstellung dabei nicht nur mit höchst individuell spezifizierten Personifikationen auf, sondern steht suggestiv in Kontrafaktur zur direkt benachbarten Darstellung des Mal Governo (Abb. 9): eines tierhaften Tyrannen, aus dessen Haupt spitze Hörner und aus dessen Mund scharfe Reißzähne wachsen, und der seine despotische Herrschaft nicht mit Tugenden, sondern mit lasterhaften Beratern bzw. Beisitzern ausübt, also mit den Verkörperungen von Verrat (proditio), von Hochmut (superbia), von Grausamkeit (crudelitas), oder etwa von Wut (furor), die in Kentaurengestalt auftritt. Die tyrannische Herrschaftsversammlung, die nicht zufällig in einer kriegsbereiten Festungsarchitektur thront, ist das direkte Gegenbild zur republikanischen Struktur und zeichnet sich sichtbar durch ihren Zentralismus als Signum der Despotie aus, unter der die Gerechtigkeit (iustitia) zu Füßen des Tyrannen wehrlos und gefesselt darniederliegt (Abb. 10).

Abb. 10: Ambrogio Lorenzetti, Mal Governo (Fresko), Sala dei Nove, Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39, Detail: gefesselte Iustitia

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Ich will auf diese Fresken hier nicht näher eingehen, sondern mich zunächst dem Kontext zuwenden, aus dem heraus und für den sie entstanden sind. Welche gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen haben derartige politische Programmbilder hervorgebracht, die mit einer spezifischen Mischung aus konkreter, gegenständlicher Anschaulichkeit einerseits und einem abstrakten, konzeptuellen, institutionell begründeten Aussagesinn andererseits aufwarten? Für welches Publikum, für welche ideologischen Belange und für welches politische System wurden sie geschaffen? Wir wissen heute, dass gerade die spätmittelalterlichen Kommunen bzw. Stadtrepubliken Mittel- und Oberitaliens immer diversifizierter strukturierte „Räume“ bzw. Funktionssysteme ausbildeten: einen physischen Raum, der umgeben war durch Stadtmauern und sich in einer kulturell, aber auch ökonomisch und politisch vielfältig semantisierten Abgrenzung zum Land und zur agrikulturalen Wirtschaft konstituierte; einen Rechts- oder Gesetzesraum mit einer Vielzahl von Statuten, Privilegien, Regularien, Bestimmungen und Sonderbestimmungen; einen sozialen Raum, in dem sich eine Vielzahl von unterschiedlich orientierten, sei es freundschaftlichen oder gegnerschaftlichen Interaktionen vollzogen, in dem die gemeinsamen Mitglieder sich näher oder ferner standen, in dem es Privilegierte wie auch Außenseiter gab; einen ethischen Raum, der durch eine hoch differenzierte Systematik und Hierarchisierung von Tugenden, durch ein komplexes Gefüge von Wertbesetzungen, Verhaltensnormen und moralischen Leitideen geprägt war. Vor diesem Hintergrund war es umso mehr erforderlich, diese komplexen und zur Disparität tendierenden Gemengelagen und Strukturen zu überspielen und zu überwölben in Hinblick auf das Erlebnis eines Kollektivs, das die Gesamthaftigkeit der universitas civium und ihrer politisch-sozialen Ordnung in einem durchaus konkreten, ja körperlichen Sinne – etwa in städtischen Prozessionen und in politischen Zeremonien, in öffentlichen Festveranstaltungen und nicht zuletzt in bildlich visualisierten Anschauungsformen – inszenierte und erfahrbar machte. Kurz: Es ging um ein Erlebnis, das die Ordnungsideen der Kommunität durch demonstratives Verhalten und durch die Erfahrung anschaulicher Konkretisation vor und jenseits ihrer schriftlichen Fixierung und Kodifikation vergegenwärtigte.8 „The state is invisible; it must be personified before it can be seen, symbolized before it can be loved, imagined before it can be conceived“, wie es Michael Walzer bündig formulierte.9 Das Bedürfnis nach Konkretisierung, Anschaubarkeit und Erlebbarkeit der eigentlich unsichtbaren, nicht-manifesten und auch institutionell nicht eigentlich festgeschriebenen Ordnungsideen des Sozialkörpers musste sich gerade in den neuen Stadtgesellschaften, die sich „mehr und mehr als dichte Cluster von sozialen Gruppen mit unterschiedlichsten sozialen Lagemerkmalen“10 formier––––––––––––––––––

8 Vgl. dazu Muir 1997, S. 229ff. („Government as a ritual process“). Zu Begriff und Konzept der Stadtkommune als einer rechtlich handelnden Körperschaft (universitas) vgl. MichaudQuantin 1970; Krawietz 1976, bes. Sp. 1102ff., 1111ff.; Mager 1984, S. 559ff. 9 Walzer 1967, S. 194. 10 Rexroth 2003, S. 401.

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ten, als besonders dringlich erweisen. Denn die gemeinschafts- und einheitsrelevanten Normen und Wertbesetzungen konnten erst eigentlich auf diesem Wege, d. h. durch die Entfaltung von virtueller Sichtbarkeit, erlebbarer Plausibilität und identifikatorischer Erfahrbarkeit, auch gemeinschaftsstiftend und einheitsbildend werden. „The task for late medieval and early modern cities“, so hat Edward Muir diesen Sachverhalt beschrieben, „was to transubstantiate these disparate characteristics of a community into a mystic body, a mystified city [...] that made possible a politicized city“.11 Dieser Prozess, das unsichtbare Gemeinwesen durch symbolische Repräsentation sichtbar und vertraut zu machen, scheint sich mit einer neuen, gewachsenen Bedeutung des Öffentlichen als einer normativen Kategorie und als Instanz der sozialen Kontrolle zu verknüpfen, damit also, dass der Partikularismus von personalen Einzelinteressen sich zunehmend in einem transpersonal konstituierten und gesamthaft definierten Sozialkörper, das Private sich zunehmend im Öffentlich-Korporativen aufgehoben und repräsentiert findet.12 Vor diesem Hintergrund lässt sich die gewachsene Bedeutung ermessen, die den Medien bildlicher Darstellung im Kontext kommunaler Rationalisierungsund Verrechtlichungstendenzen und im allgemeinen Ringen um Konsens und um eine institutionalisierte Kollektivität in verstärktem Maße zukam. Als Dispositive öffentlicher Repräsentation erzeugten, etablierten und stabilisierten sie eine kollektive und letztlich als universell prätendierte Autorität der opinio publica gegenüber anderen, abweichenden bzw. partikulären Meinungen und Interessen. Bilder vermochten durch den Erfahrungseindruck emotionaler Vertrautheit Orientierungspunkte zu schaffen, auf die sich das eigene Wertgefühl von Sicherheit, Stabilität und Frieden, von Wohlstand und Prosperität, auf die sich Empfindungen der Zugehörigkeit zu Freunden, der Loyalität gegenüber Parteigängern, der Gemeinschaft gegenüber Gegnern beziehen konnten, um sich von dort her als ein Spiegel allgemein anerkannter Überzeugung, verbindlicher Gewissheit und unzweifelhafter Offenkundigkeit wieder zu bekräftigen. Das Spektrum der betreffenden Themen- und Formenwahl bis hin zu dekorativen Prinzipien, zu Farb- und Materialwahl etc. ist in seiner Breite an dieser Stelle nicht zu diskutieren. Wichtig ist in jedem Fall, dass dabei in politischer Intention ein grundsätzlich neuer ästhetischer Wertbegriff entsteht, oder zugespitzt formuliert: dass der frühneuzeitliche Kunstbegriff, wie ihn die ästhetische Theorie und Praxis der Renaissance dann wenig später etablieren werden, zuallererst in diesem politischen Kontext der frühen republikanischen Kommunen begründet wird. So zeugen die Quellen in klarer Deutlichkeit von der zunehmenden Bedeutung, die in der kommunalen Zeit der äußerlich ansprechenden Schönheit von öffentlichen Bauten und ihrer Ausstattung zukommt, nämlich als einem sehr bewusst kalkulierten Index für die Qualität bzw. für ––––––––––––––––––

11 Muir 1997, S. 233. Vgl. zum gesamten Problemzusammenhang wie auch zu seiner forschungsgeschichtlichen Systematisierung Althoff 1997, 2002; Stollberg-Rilinger 2000, 2004. 12 Migliorino 1997; von Moos 1998, bes. S. 32ff., und 2004, bes. S. 64ff.

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die politisch-ethische Qualifikation der von diesen Räumlichkeiten beherbergten öffentlichen Organe.13 Die Räume des Podestà im Palazzo Pubblico in Siena (Abb. 11) seien in einem desolaten Zustand gewesen, so vermerkt etwa ein Amtsnotar in einer offiziellen Eingabe, die er im Oktober 1316 an das Regierungsgremium des Neunerrates richtet, weshalb man Sorge getragen habe, dass sie „wunderbar und schön ausgemalt wurden (mirabiliter et pulcre pingi)“. In klarer Einschätzung der öffentlichen Wirkung, die von der Pracht dieser Ausstattung ausgeht, fasst er auch und gerade deren politisch relevante Dimension ins Auge, wenn er nicht ohne Emphase feststellt, dass die neue Aus-

Abb. 11: Palazzo Pubblico, Piazza del Campo, Siena

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13 Vgl. dazu bereits Wieruszowski 1944.

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malung nunmehr „den Blick erfreut (oculo est delectabilis), das Herz erheitert (cordi letabilis) und die einzelnen menschlichen Sinne betört (et singulis sensibus humanis amabilis)“, und diesen Sachverhalt ohne weiteres und auf der Ebene einer grundsätzlichen Erörterung auf die Funktionalität der kommunalen Regierungsform und auf deren demokratisch implizierte Gemeinwohlidee rückbezieht: „und es gereicht den jeweiligen Kommunen (comunis singulis) zur großen Ehre (magnus honor), wenn deren Führungsbeamte (rectores) und Vorstände (presides) [also der Bürgermeister bzw. die Vorsitzenden der einzelnen Regierungsbehörden] gut, schön und ehrenvoll wohnen, sowohl um dieser selbst willen, als auch in Hinblick auf die allgemeine Öffentlichkeit (ratione forensium), die oft und aus vielerlei verschiedenen Gründen die Gebäude der Führungsbeamten aufsucht“.14 Was sich in solchen Zeugnissen immer wieder als programmatisch-diskursive Sinnzumessung an die ästhetische Erscheinungsweise öffentlicher Ausstattungen bekundet, ist im Kern nichts anderes als die Beschwörung eines Glückszustandes der Gegenwart, der sich im Anschauungsbild eines wohlgestalteten Gemeinwesens als dem für alle Bürger augenfälligen Dispositiv der gesellschaftlichen Eintracht und wirtschaftlichen Prosperität manifestiert. „[...] pro honore comunis senensis et pulchritudine civitatis“ – zur Ehre der Kommune als dem politischen System und zur Schönheit der Stadt als der Gesamtheit ihrer Bürger, so bringt 1297 der Finanzierungsbeschluss der Sieneser Steuerbehörde zum Bau des Palazzo Pubblico in Siena diese Gleichung auf eine eingängige Formel und rekurriert damit auf ein auch andernorts durchaus geläufiges Deutungsmuster.15 Lorenzettis Fresken im Sieneser Rathaus stellen so gesehen nur den Höhepunkt einer längst vorgängigen und breit verlaufenden Entwicklung dar. Die Bildsprache, die die Malerei vor diesem Hintergrund hervorbringt, ist sehr spezifisch und zugleich hoch originell. Es ist ein bildlicher Argumentationsstil, der auf immer neue Weise eine Verschränkung von anschaulicher Spezifizierung und systematisierender Verallgemeinerung, von historischer bzw. gesellschaftlicher Konkretisierung einerseits und transhistorischer Uni–––––––––––––––––– 14 „[...] proponitur et dicitur, quod Presens dominus potestas comunis Senarum, fecit mirabiliter et pulcre pingi salam sive curtem domus comunis Senensis, in qua ipse moratur, et ubi Potestates Senenses solent comedere, que primo propter ignem, qui per rectores comunis Senensis preteritos ibi factus est, adeo erat nigerima et turpis et visu hodibilis [sic], quod nedum rectoribus talis civitatis, qualis Sene est, sed quibuslibet aliis singularis fuisset hodiosa et indecus ad habitandum. Nam visum erat ibi quasi fuisse cribanum: nunc autem oculo est delectabilis, cordi letabilis et singulis sensibus humanis amabilis, et magnus honor etiam comunis singulis, ut eorum rectores et presides bene, pulcre et honorifice habitent, tum ratione eorumet ipsorum, tum ratione forensium, qui persepe ad domos rectorum accedunt ex causis plurimis et diversis. Multo tamen costat comuni Senensi secundum qualitatem ipsius [...]“ Milanesi 1854, S. 180f., Doc. 30. Die Begriffe „rector“ und „praeses“ bezeichnen im Kontext der städtischen Kommunen in aller Regel die gemeinhin mit richterlichen Befugnissen ausgestatteten Podestà oder Bürgermeister bzw. die Vorsteher oder Provveditori der einzelnen Regierungsbehörden. 15 Im Finanzierungsbeschluss der Vorsteher der Sieneser Steuerbehörde (Provveditori della Biccherna), zit. n. Carter Southard 1979, S. 11.

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versalisierung andererseits ermöglicht, ein Bildstil, der Individuelles auf eine zeitlose und abstrakt gültige Dimension perspektiviert bzw. umgekehrt das Einzelne im Allgemeinen beleuchtet, und der dabei immer wieder mit einer Strategie der visuellen Antithesen, der kontrastiven, sich wechselweise beleuchtenden und in ihrer Semantik konturierenden Bilder verfährt.16

Abb. 12: Giotto, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), Padua, ca. 1305, Sockelzone/ Südwand: Giustizia

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16 Dazu und zum Folgenden vgl. Krüger 2007 sowie 2009.

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Abb. 13: Giotto, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), Padua, ca. 1305, Sockelzone/ Nordwand: Ingiustizia

Schon Giottos berühmte Darstellungen der Giustizia und Ingiustizia in der Arenakapelle von Padua, die gegen 1305 entstanden, bilden in diesem Sinn eine subtil differenzierte Opposition aus (Abb. 12 und 13).17 Die allegorische Frauengestalt erscheint dabei als leibhaftige, lebendig präsente Verkörperung eines Prinzips (nämlich der Gerechtigkeit), das in Wirklichkeit abstrakt, gänzlich unsichtbar und ungreifbar ist, und das hier zusätzlich durch die augenfäl–––––––––––––––––– 17 Pfeiffenberger 1966, S. 69ff.; Riess 1984; Frojmovič 1996. Vgl. zum Folgenden Krüger 2007, S. 146ff.

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lige Assoziation zur thronenden Maria und Himmelskönigin auch noch mythisch-religiös überhöht wird. Als Bildfigur der Gerechtigkeit hält sie (wie auch später in Siena) die beiden Waagschalen in Händen, die die himmlisch (d. h. durch Engel) autorisierte Vollstreckung verschiedener Regularien des Rechtsprinzips (das Strafen und Belohnen bzw. Verteilen, kommutatives und distributives Recht) veranschaulichen. Erscheint sie auf einem wohlproportionierten Thron, der mit Dreipässen, zierlichen Säulchen und mit Krabbenbesatz geschmückt ist, so residiert dagegen die Ingiustizia in einem halb zerfallenen und halb bereits von wilder Vegetation zugewachsenen Stadttor, dessen Zustand zugleich der negative Ausweis seiner unguten Wirksamkeit ist. Gleich einem Raubtier mit Krallenfingern und hauerartigen Zähnen versehen sowie mit einer langen Harke als Signum seiner raublustigen Raffgier bewehrt, blickt er nicht nach vorne, bereit zu einem offenen, unvoreingenommenen Urteil, sondern einseitig und festgelegt direkt zum Bild der Hölle an der Eingangswand der Kapelle, auf das seine ungerechte Herrschaft letztlich zuführt.

Abb. 14: Giotto, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), Padua, ca. 1305, Giustizia, Detail: Folgen der Gerechtigkeit

In ihrer programmatischen Gegenüberstellung bilden beide Personifikationen eine vielschichtig differenzierte Opposition von Realitätsbezügen aus. Das gilt auch für die predellenartige Sockelpartie mit ihrer abbreviativen Darstellung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Wohlergehens, wie es sich – auch im übertragenen Sinn – unter der gerechten Herrschaft entfaltet (Abb. 14): Unbehelligt zur Jagd oder zu Handelszwecken ausreitende Personen und zur Musik tanzende Figuren. Evident kontrastiert dieses Inbild friedvoller Prosperität dem Pendant zu Füßen der Ungerechtigkeit (Abb. 15), in dem, von der ignoranten Thronfigur gänzlich unbeachtet, Raub und Überfall, Mord und Totschlag herrschen und eine ungezügelte, unkultivierte Natur vor sich hin wuchert, um die baulichen Zeugnisse städtischer Zivilisation, nämlich Straßen, Wege, Mauern und Tore, sichtbar dem Verfall preiszugeben.

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Abb. 15: Giotto, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), Padua, ca. 1305, Ingiustizia, Detail: Folgen der Ungerechtigkeit.

Der Gegensatz zwischen der bedrohlichen, weil ungebändigten Natur (sowohl der Vegetation als auch des Menschen selbst) auf der einen Seite und der Kultur bzw. Zivilisation auf der anderen gewinnt hier schließlich eine besondere Pointe dadurch, dass auch der Modus seiner bildlichen Umsetzung selbst von diesem Gegensatz kündet, dergestalt, dass der Wohlstand als kunsthaft gestaltetes Relief mit ganz umlaufendem Rahmen und wohlgeordneter Komposition, sprich: als regelrechtes Kunstprodukt und als bildhaft bestimmtes Dispositiv vor Augen steht, das Gegenbild jedoch als ungestaltet, rahmenlos und ohne eigentliche „Sprachform“ oder bildhaft bestimmte Künstlichkeitsmarkierung erscheint. Es liegt auf der Hand, dass von hier aus auch die gesamte Sockelpartie selbst eine zusätzliche Signifikanz gewinnt. Denn in ihrer hoch elaborierten, mit Referenzen nicht nur auf die seinerzeit moderne gotische Skulptur, sondern auch auf antike Vorgaben und auf deren illusionistische Bildrhetorik aufwartenden Gestalt steht sie als ethisch grundierte Manifestationsform eines kultivierten, auf Maximen und Verdienste der gesellschaftlichen Wohlgeordnetheit verpflichteten Selbstverständnisses vor Augen. Kurz: Die Formgestalt der Sockelzone insgesamt wird hier zur Anschauungsform einer politisch fundierten Wertethik. Dass der thronenden Gerechtigkeit mit der Figur der Ingiustizia ungewöhnlicherweise und gegen jede ikonographische Überlieferung eine Männergestalt gegenüber gestellt wird, ist eine Bildidee, der offenkundig die Absicht zugrunde lag, die Ungerechtigkeit in der Gestalt eines Richters oder rettore zu spezifizieren, um sie auf diese Weise in den Horizont einer zeitgeschichtlich geprägten Wirklichkeit einzustellen und als ein politisches Exempel im Kontext aktueller Herrschaftspraktiken zu konkretisieren. So wird dem transpersonalen Prinzip der Gerechtheit ein anschauliches und erfahrungsnahes Bild von deren personalem Missbrauch, nämlich ihrer Usurpation durch einen zeitgenössischen magistrato mit Richterhut und Amtstracht gegenüber gestellt. Unzweifelhaft liegt dieser Bildargumentation die zweckrationale und im kommunalen

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Regierungssystem institutionalisierte Leitidee zugrunde, jene Personen, die die öffentlichen Ämter besetzen, in fortwährender und gesetzlich festgelegter Rotation zu wechseln, um so den Primat des Amtes gegenüber der Person, des Prinzips gegenüber dessen individueller Ausübung zu wahren. Vor diesem Hintergrund tritt eine weitere, grundsätzliche Frage in den Blick, nämlich inwieweit angesichts der zunehmenden „funktionalen Ausdifferenzierung“18 identitätsstiftender Einheitsideale und Gemeinwohlideen aus bisherigen kirchlich-religiösen Fundierungszusammenhängen öffentliche Bilder und Bildprogramme sowohl durch neuartige Ikonographien als auch und gerade durch medieneigene Sprachformen und Visualisierungsstrategien ein durch diese Entwicklung aufgetretenes charismatisches Vakuum besetzen und es, gewissermaßen kompensatorisch, mit religiöser bzw. quasi-religiöser Autorität zu füllen suchen. Der Umstand, dass die verrechtlichte, in einer rationalen und bürokratischen Amtswaltung verankerte Regierungsform als ein tiefgreifender Gegensatz zur charismatischen Herrschaft und ihrer zentralen Bestimmung der Außeralltäglichkeit anzusehen ist, wurde im Gefolge von Max Webers kultursoziologischer Grundlegung vielfach diskutiert.19 „Florentine civic time“, so hat etwa Richard Trexler den Zusammenhang historisch exemplifiziert, „was consequently sine specie aeternitatis, and the personages of government were qualitatively appropriate neither to the sacred time of the liturgical calendar nor to the teleology of inexplicable events. In its everyday stable existence the commune featured impermanence and cosmic meaninglessness“.20 Wie entschieden dieser Sachverhalt sich auch in der öffentlichen Bildpraxis niederschlug, kann ein offizieller Ratsbeschluss vom 20. Juni 1329 beleuchten, der unter Strafandrohung anordnet, dass „kein Führungsbeamter (rector) oder Funktionär (offitialis) des Volkes bzw. der Kommune von Florenz“ durch die Anbringung seines gemalten Bildes oder seiner Wappen und Insignien an irgendeinem öffentlichem Ort zu ehren sei, und dass gegebenenfalls jedes derartige Bild umgehend wieder entfernt werden müsse.21 Eine offizielle und öffentliche Selbstdarstellung der Kommune konnte sich also nicht in Selbstbildern ihrer personalen Vertreter und individuellen Reprä––––––––––––––––––

18 Luhmann 1989, S. 259ff. 19 „Die charismatische Herrschaft ist, als das Außeralltägliche, sowohl der rationalen, insbesondere der bureaukratischen, als der traditionalen, insbesondere der patriarchalen und patrimonialen oder ständischen, schroff entgegengesetzt. Beide sind spezifische Alltags-Formen der Herrschaft, – die (genuin) charismatische ist spezifisch das Gegenteil. Die bureaukratische Herrschaft ist spezifisch rational im Sinn der Bindung an diskursiv analysierbare Regeln, die charismatische spezifisch irrational im Sinn der Regelfremdheit [...]“; Weber 1980, S. 141. Vgl. Lipp 1985, bes. S. 63ff.; Hanke 2001, bes. S. 43ff.; Nippel 2000. 20 Trexler 1980, S. 333. 21 „[...] quod nullus rector vel offitialis populi vel Comunis Florentie pingat vel pingi seu fieri faciat seu permittat [...] aliquam picturam seu sculpturam alicuius ymaginis vel armorum in muro, lapide vel pariete [...] et quod omnis sculptura et picture huiusmodi tam facta in preterita quam que fieret in futurum [...] tolli et abolleri et amoveri debeat [...]“; zit. n. Seidel 1982, S. 41, Doc. 7.

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sentanten, sondern allein durch die demonstrativen Darstellungen einer idealen Kollektivität etablieren, besser gesagt: durch Bildfiktionen der communitas civium, die der eigenen Einheit und Geschlossenheit als Ausdruck und zugleich als Selbstversicherung zu dienen vermochten. Wirklich glaubhaft, identitätsstiftend und im produktiven Sinn einheitsbildend konnten solche Bildfiktionen, wie es scheint, allerdings am Ende nur dann wirken, wenn sich dabei im emphatischen Entwurf von Gemeinschaftsidealen auch eine dauerhaft verbindliche und als außeralltäglich bzw. charismatisch implizierte Sinnorientierung anbot. Dieser Sachverhalt und seine Bedeutung lassen sich im Blick auf ein weiteres Beispiel näher beleuchten. Es handelt sich um ein monumentales Wandbild von 1343, das in der kunsthistorischen Literatur unter dem etwas missverständlichen Titel „Die Vertreibung des Herzogs von Athen“ eingeführt ist (Abb. 16).22 Es stellt – allegorisch überformt – ein politisches Szenarium vor Augen, das den Endpunkt jener dramatischen Ereignisse markiert, welche in der gesamten Geschichte des Florentiner Trecento die vielleicht akuteste Bedrohung und am tiefsten greifende Gefährdung der Republik darstellten, und die als solche in der betreffenden Geschichtsschreibung wie in der belletristischen Literatur noch über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg in dauerhafter, ja nachgerade traumatischer Erinnerung lebendig geblieben sind. Negativer Protagonist der Geschehnisse war der Herzog von Athen, Walther von Brienne, der als Signore von Florenz 1343 nach langer Verhandlung in die Niederlegung der von ihm usurpierten Alleinherrschaft über die Stadt und zugleich in seinen Abzug unter freiem Geleit und mitsamt seinem administrativen und militärischen Gefolge einwilligte. Vorausgegangen war im Jahr zuvor, 1342, die ungewöhnliche Entscheidung der kommunal verfassten Stadtregierung, sich angesichts einer schweren Niederlage gegen den Erzfeind Pisa in einer militärisch überaus prekären Lage der Hilfe des Walther von Brienne zu versichern und ihn sowohl zum Capitano generale della guerra (Kriegsminister) als auch zugleich zum Gonfaloniere della Giustizia zu ernennen und damit in maßgeblichem Umfang die Kontrolle von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion in seine Hände zu legen. Wenige Wochen später folgte der in der Geschichte von Florenz ebenso singuläre wie fatale Beschluss, ihn zum Signore auf Lebenszeit zu ernennen. Dies bedeutet nichts weniger als eine kapitale Wende vom politischen System der Republik und ihrer strikten Entpersonalisierung der Macht durch eine permanente, auf allen staatlichen Ebenen eingeführte Ämterrotation zu demjenigen der personalisierten Alleinherrschaft, deren anderes Gesicht die Gewaltherrschaft bzw. Tyrannei war. Als man sich der Dimension dieses Vorgangs nach und nach bewusst wurde, konnte schließlich nurmehr ein von der politisch entmachteten Führungsschicht (den popolani grassi) organisierter Volksaufstand den im Grunde ja selbst gegen sich ins Werk gesetz––––––––––––––––––

22 Edgerton 1985, S. 78ff.; Crum/Wilkins 1990, S. 135ff.; Kreytenberg 1991, 2000, S. 34ff.; Valentini 2003, S. 103f.

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ten Staatsstreich beenden und den Herzog von Athen unter Schonung seines Lebens, vor allem aber unter Vermeidung eines blutigen Bürgerkriegs, zum gewaltlosen Amts- und Machtverzicht zwingen, was in der Tat am 26. Juli 1343 geschah und damit dem Spuk der Tyrannei ein Ende setzte.23 Als man unmittelbar danach daran ging, die Geschehnisse und Vorgänge durch ein monumentales Erinnerungs- bzw. Mahnbild im öffentlichen Bewusstsein zu verankern und auf Dauer sichtbar zu halten, sah man sich vor die zuvor beschriebene Aufgabe gestellt, dass man in der bildlichen Darstellung gerade keinen personalisierten Sieger bzw. positiv besetzten Helden als geschichtliche Instanz vor Augen führen konnte und wollte, insofern der eigent-

Abb. 16: Florentinisch, Die Vertreibung des Herzogs von Athen (Fresko), Palazzo Vecchio, Florenz, 1343

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23 Vgl. zum weiteren Zusammenhang u. a. Brucker 1962, bes. S. 3ff., 105ff.; Becker 1967.

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liche Held oder Protagonist, wenn man so will, das Gemeinwohl und politischökonomische Gemeinschaftsinteresse, das bonum comunis der Republik war. Eben dies: das geschichtstranszendente Ideal von Libertas, von freiheitlicher Selbstbestimmung und Gemeinwohl, d. h. der Sieg der republikanischen Regierungsform und Wertestruktur über den Machtusurpator, ist in hintergründiger Weise das eigentliche Thema des Gemäldes, das damit zugleich zu einem politischen Programmbild wird. Wie aber wird diese Bildabsicht im Fresko umgesetzt? Das monumentale Wandbild, das ursprünglich am Florentiner Staatsgefängnis angebracht war, zeigt im Zentrum und als eigentlich geschichtlich wirkenden Protagonisten nicht den Herzog von Athen, sondern die Thronfigur der heiligen Anna, an deren kirchlichem Festtag, dem 26. Juli 1343, die Vertreibung des Herzogs von Athen durch den Beschluss seiner Exilierung erfolgte.24 Sie setzt zu ihrer Rechten die städtische Miliz zur wehrhaften Selbstverteidigung der Republik ein: Im Vollzug eines symbolischen Aktes, der neuerlich auch hier als körperhaft imaginiert ist, überreicht sie den in voller Rüstung vor ihr knienden Vertretern der Miliz die Banner bzw. Kriegsfahnen mit den heraldisch genau differenzierten Wappen des Capitano del Popolo (rotes Kreuz auf weißem Grund), der Stadt von Florenz (rote Lilie auf weißem Grund) und der Kommune als politischer Körperschaft (weiß-rot geteiltes Wappen) und stellt damit die institutionell verfügte Einsetzung der Bürgerwehr vor Augen. Es sind dieselben Wappen, die auch das von zwei Engeln gehaltene Ehrentuch im Rücken der Heiligen schmücken und diese damit heraldisch als legitime und zugleich geschichtstranszendent, nämlich himmlisch sanktionierte Regentin von Florenz ausweisen. Das Fresko arbeitet dieses feierliches Ritual der Bannerübergabe zu einem quasi-szenischen Ereignisbild aus, das ein singuläres historisches Geschehnis in einer raum- und zeitlogischen Handlungskohärenz darzustellen vorgibt, um dabei gleichwohl mit signifikanten Brüchen der empirischen Logik zu verfahren. Zur Spezifik dieses bildsprachlichen Verfahrens gehört unter anderem auch die bis ins Einzelne hinein getreue Wiedergabe des Palazzo dei Priori (nachmals Palazzo Vecchio genannt) zur Linken der Heiligen, den sie mit einem Gestus des fürsorglichen Schutzes gleichsam in ihre Obhut nimmt. Ungeachtet dieser geradezu porträtgenauen Wiedergabe des Palastes zielt seine Darstellung auf eine symbolische Ebene der Argumentation, insofern mit ihm als dem Amtssitz der Prioren und des Gonfaloniere della Giustizia die Legislative und damit die zentrale politische Machtinstanz der republikanischen Herrschaftsstruktur bezeichnet ist. Exekutive (in Gestalt der Miliz) und Legislative (in Gestalt des Palastes) werden also als zwei, institutionell und regierungsrechtlich distinkte Gewalten gegenüber gestellt und zugleich als flankierende Stützen einer höher, nämlich himmlisch legitimierten Herrschaft veranschaulicht. –––––––––––––––––– 24 Trexler 1980, S. 222.

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Damit ist ein wesentliches Merkmal der Bildstruktur benannt, das dieses Fresko ungeachtet aller Unterschiede mit Giottos Darstellung der Giustizia (Abb. 12) verbindet. Denn gerade durch die anschaulich fassbare, gegenständliche Konkretion, wie sie in der getreuen und bis in einzelne Baudetails hinein veristischen Wiedergabe des Palazzo dei Priori erfolgt und wie sie ebenso in der realienkundlich präzisen Wiedergabe der aus institutionell sehr verschiedenen Teilen rekrutierten städtischen Miliz ins Werk gesetzt wird, gerade also durch die Bildsprache der gegenstandsnahen und die empirische Wirklichkeit vor Augen stellenden Konkretion wird hier eine abstrakt bestimmte Argumentation entfaltet und auf diese Weise Geschichtliches in einen geschichtstranszendenten Horizont gestellt. Das gilt auch für die rechte Bildseite des Freskos, die den bereits geleerten Thron zeigt, von dem soeben durch eine Tugendpersonifikation – vermutlich Fortitudo als tugendsymbolisches Pendant zur städtischen Miliz und deren ethisch fundierter Wehrhaftigkeit – der Herzog von Athen vertrieben wird. Er tritt seinerseits, nicht unähnlich zum Fall von Giottos Ingiustizia, in zeitgenössischer Amtstracht auf und figuriert doch zugleich in allegorischer Kodierung, nämlich mit einem Monstrum und Hybridgebilde aus bärtigem Menschengesicht und Skorpionkörper in Händen, das ihm als Signum seiner bösartigen Verruchtheit und des näheren zu seiner Kennzeichnung als Betrüger und Staatsverräter beigegeben ist. Zu seinen Füßen liegen mit dem entzwei gebrochenen Schwert, der in Stücke zerfallenen Waage, dem niedergeworfenen roten Gesetzesbuch und dem zerbrochenen Banner der Florentiner Signoria mit ihrem Motto LIBERTAS die sichtbaren Zeichen seines Machtmissbrauchs und näherhin die Beweisstücke seines Landesverrates. Es sind Symbole, die gleichwohl mit all ihrer konkreten Gegenständlichkeit im Bild aufwarten. Aufs Ganze gesehen lässt sich an dieser Stelle sagen, dass die Spezifik der bildsprachlichen Struktur darauf gerichtet ist, das singuläre historische Ereignis, das Ursache und Gegenstand der Darstellung war, als eben solches präsent und in seiner dauerhaften Aktualität bewusst zu halten, und es doch im selben Zug zu hypostasieren und in einem Begründungszusammenhang zu verankern, der seine aktuelle und geschichtsimmanente Bedeutung übersteigt. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Bedeutung ermessen, die der Figur der Heiligen Anna hier zukommt. Denn indem sie als personales Substitut die faktische Leerstelle einer nichtexistenten und in der politischen Theorie und Praxis nicht möglichen Herrscherfigur vertritt und diese imaginäre Instanz mit einer identifikatorischen Präsenz erfüllt, besetzt sie im Grunde ein charimatisches Vakuum. „Florentine government [...] had power, but lacked authority; there was no king’s touch in the republic“, wie Trexler formuliert und damit das strukturelle Defizit der nicht-signorialen Herrschaftsform benennt.25 Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum die Figur der Heiligen Anna hier in denkbar ungebräuchlicher Weise nicht in der Selbdritt-Ikonographie erscheint, –––––––––––––––––– 25 Ebd., S. 333.

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also mit der sonst obligatorischen Kennzeichnung ihrer Mutterschaft Mariens, sondern als einzelne regentengleiche Throngestalt mit Würdetuch und himmlischer Ehrengarde. Bildsprachlich wird damit wiederum mehr ermöglicht als nur die visuelle Aufrufung einer herrscherlich legitimierten Instanz. Denn unverkennbar weist die Bildanlage auch eine latente Assoziation zum angestammten Bildformular von Weltgerichtsdarstellungen auf (Abb. 17) und misst der Heiligen damit suggestiv den Rang einer richtergleichen Thronfigur an der Schnittstelle von irdischem und eschatologischem Horizont zu. Und mehr noch: In der motivischen Disposition des Gemäldes offenbart sich zugleich eine semantische Anspielung von weit präziserer Signifikanz, insofern ihr die eher

Abb. 17: Giotto, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), Padua, ca. 1305, Eingangsinnenseite: Weltgericht, Detail: thronender Weltenrichter

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Abb. 18: Carlo Lasinio, Der Sturz der rebellischen Engel, Kupferstich nach dem zerstörten Fresko von Spinello Arteino in Sant’Angelo, Arezzo (Ende 14. Jh.), 1822

seltene Ikonographie des Engelssturzes einverwoben ist. Das Beispiel eines heute verlorenen Freskos des späten Trecento, das sich ehemals in der Kirche Sant’Angelo in Arezzo befand (Abb. 18), zeigt exemplarisch die betreffende Szenerie mit der zentralen Thronfigur Gottvaters, dem sich von links die solidarische Engelsschar kampfbereit zur Hilfestellung nähert, während rechts der leere Thron erscheint, von dem Luzifer in seinem Hochmut gestürzt wurde.26 Bedenkt man, dass das Florentiner Fresko ehemals von einem rund umlaufenden, breiten Rahmen umfangen wurde, dessen nurmehr fragmentarisch erhaltene Partien ein figürliches Programm des Zodiacus mit Sternzeichen und Planeten als wahrscheinlich vermuten lassen, so zeichnet sich die kosmische Dimension eines regelrechten Weltgeschehens ab, zu der man das historische Er––––––––––––––––––

26 Fornasari 2005, S. 294 und 300.

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eignis des Sturzes von Walther von Brienne in Bezug setzte und symbolisch überhöhte. Es liegt auf der Hand, dass das Fresko im Rekurs auf jene prominente Tradition von allegorischen Darstellungen der kommunalen Herrschaftssysteme steht, von der ich einleitend ausgegangen bin, also Ambrogio Lorenzettis Buon Governo von 1338/39, den Darstellungen der Kommune am Grabmal des Bischofs Guido Tarlati in Arezzo und anderen mehr, die letztlich alle auf eine heute verlorene Bilderfindung Giottos im Palazzo del Podestá in Florenz zurückgehen. Wie wichtig diese Tradition für die Bildkonzeption, genauer gesagt: für die schwierige Bildfindung dieser ungewöhnlichen Darstellung war, lässt sich erst dann wirklich ermessen, wenn man sich verdeutlicht, dass gleichzeitig ein weiteres Fresko geschaffen wurde, das an der Außenmauer des Palazzo del Podestá angebracht wurde.27 Durch Quellen wissen wir, dass man dabei offenbar die Sieneser Allegorie des Mal Governo (Abb. 9) auf Walther von Brienne übertrug und ihn als tyrannischen Gewaltherrscher in Begleitung von sechs schlechten Beratern zeigte. Dass dieses Wandbild aber bei den Zeitgenossen höchst umstritten war, weil es – im Gegensatz zu dem erhaltenen Fresko – nicht nur den Herzog von Athen als zentral thronenden Protagonisten exponierte und eben hierdurch historischen Missverständnissen Vorschub zu leisten vermochte, sondern weil es per se auch dauerhaft die faktische historische Situation vor Augen stellte, dass der Herzog von Athen einst freiwillig von Florenz zum Signore gewählt worden war, eine Situation, die Florenz selbst als eigene politische Schande ansehen musste. Kurz: Das als Schandbild des Herzogs von Athen geschaffene Gemälde stand in stets latenter Gefahr, als Erinnerungsbild der Schande von Florenz angesehen zu werden. „[...] perocchè fu memoria di difetto e vergogna del nostro comune, che ’l facemmo nostro signore“, wie bereits in den späten 1340er Jahren der Florentiner Chronist Giovanni Villani in aller Offenheit bekundet.28 Das Beispiel zeigt also, welch semantischen Imponderabilien die allegorische Kodierung im Medium der neuen Bildsprache und damit angesichts des Fehlens hergebrachter ikonographischer Konventionen ausgesetzt war und wie leicht die Intention suggestiver Evidenz auch einem Kippeffekt unterliegen konnte. Dergestalt, dass man sich im Fall des Freskos am Palazzo del Podestà nicht anders zu helfen wusste, als das Bild bei der Gelegenheit bestimmter Staatsempfänge oft kurzerhand mit Tüchern zu verhüllen. Im einen wie im anderen Fall, im Gelingen der Bilder wie in ihrem Scheitern, bezeugt sich am Ende, dass die Symbolisations- und Visualisierungsleistung, die sich als kommunikatives Potential in der Praxis öffentlicher Bildpolitik im Trecento entfaltet, an eine besondere Komplexität von bildlichen Strukturen geknüpft ist. Diese Strukturen weisen die öffentlichen Bilder als Medien aus, die an der Schnittstelle nicht nur zu vielfältigen gesellschaftlichen und po––––––––––––––––––

27 Uccelli 1865, S. 165ff.; Passerini 1865, S. 20ff.; Crum/Wilkins 1990, S. 139f. 28 Zit. n. Crum/Wilkins 1990, S. 161.

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litischen Kontexten stehen, sondern auch und gerade zu reich elaborierten visuellen Diskursen und zu deren genuiner Weise der Bedeutungsproduktion. Es sind mithin Strukturen, die sich kaum auf die Vorstellung von gesellschafts-, mentalitäts- oder gar klassenspezifischen Ausdrucks- oder Stilmodi reduzieren lassen, wie dies etwa Frederick Antal, Millard Meiss und andere gerade für die Kunst des Trecento unternommen haben. Denn sie entfalten, wie oben ausgeführt, diese genuine Leistung nicht als „Ausdruck“ prästabilierter Sachverhalte und Semantiken und auch nicht als lediglich verbildlichte Wiedergabe von Prätexten, sondern als ein ästhetisch wirksames Dispositiv, das sich der Praxis der sozialen, religiösen und kulturellen Imagination als eigenproduktives Ferment einschreibt.29

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29 Antal 1948; Meiss 1951. Vgl. dazu die betreffende, langwährende Diskussion u. a. von Heinrich D. Gronau (The Burlington Magazine 90, 1948, S. 297-298), Millard Meiss (The Art Bulletin 31, 1949, S. 143-150), Theodor E. Mommsen (Journal of the History of Ideas 11, 1950, S. 369-379); Wallace K. Ferguson und Benjamin Rowland, Jr. (The Art Bulletin 34, 1952, S. 317-322), sowie Wessely 1976; van Os 1981; Cole 1983.

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Bildnachweise Soprintentendenza B.A.S. Siena: 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10. Soprintentendenza B.A.A.A.S. Arezzo: 4. KHI der FU Berlin: 12-15, 17. KHI Florenz: 16. Alle übrigen Abbildungen stammen aus dem Archiv des Verfassers.

Lydia Goehr

AGON UND HYBRIS IN POLITIK UND KUNST

1. Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich zwei Tage nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2008 in Tunesien hielt. Zur Feier des Augenblicks begann ich mit den Worten Walt Whitmans: „Ich kenne nichts Großartigeres, keine bessere Übung, keine bessere Probe, keinen besseren Beweis für die Vergangenheit und für das triumphale Ergebnis des Glaubens der Menschheit, als einen gehörig umstrittenen amerikanischen Wahlgang.“1 Dieser Satz Whitmans findet sich in seinen Demokratischen Ausblicken (1871). Wie seine Zeitgenossen jenseits des Atlantiks, Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche, war auch Whitman von der Frage beseelt, ob von der agonalen politischen Kultur, die die Antike prägte, in der Moderne noch etwas übrig geblieben ist. Diese Frage ist eine normative, weil sie davon ausgeht, dass sich die Beschaffenheit des agonalen Impulses im Laufe der Zeit geändert hat und dass er sich nun in gefährlich verschleierter Weise ausdrückt – in den Handlungen von Individuen, die primär selbstsüchtigen anstelle von gesellschaftlichen, tugendhaften Zielen verpflichtet sind. In seiner Geschichte der griechischen Zivilisation beschreibt Burckhardt die zahlreichen Komplexitäten der Epoche, die er das „agonale Zeitalter“ nennt.2 Diese Epoche geht dem demokratischen fünften Jahrhundert in Athen voraus und ist dadurch gekennzeichnet, dass der Agon jeden Aspekt des Lebens durchdringt und geradezu Bedingung politischer Teilnahme als solcher ist. Dabei stellt Burckhardt implizit die Frage, inwieweit diese Kultur, die von einer wetteifernden Spannung von Sieg und Niederlage geprägt war, das demokratische Zeitalter Athens beeinflusste. Er zeigt, dass Agonalität trotz des Epochenwandels nach wie vor überall präsent war, im Guten wie im Schlechten. Dieser Befund steht im Mittelpunkt meines Interesses. Denn er lässt erkennen, wie sehr das, was Burckhardt um 1870 veranlasst hat, nach der modernen Gestaltung des agonalen Drangs zu fragen, bereits im antiken Athen die schärfsten Kritiken an Demokratie, Bildung und Kunst bestimmt hat. In den folgenden Überlegungen werde ich antikes und zeitgenössisches Denken über „Agonalität“ bzw. „das Agonale“ einander gegenüberstellen. Meine Aufmerksamkeit gilt insbesondere Platon. In einem Zeitalter, in dem ––––––––––––––––––

1 Whitman 2005, S. 43. 2 Burckhardt 1957, S. 49.

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der agonale Drang Handlungen evoziert, die stärker von einer amoralischen als von einer kooperativen Haltung geprägt sind, sind Platons Dialoge meines Erachtens damit befasst, wie es möglich ist, sich sowohl vor demokratischen als auch vor tyrannischen Auswüchsen zu schützen. Einen solchen Schutz bieten Platon zufolge eine rationale Philosophie sowie eine Sozialstruktur und eine Rechtsform, die auf Mäßigung, Regulierung und Disziplin abzielen. Platon ist davon überzeugt, dass sich der poetische und agonale Geist, wie er sich exemplarisch bei Homer und Hesiod findet, mehr und mehr dahin entwickelt hat, solche Handlungen und Haltungen zu unterstützen, die in der Antike als „Hybris“ bezeichnet wurden. Dies ist der Hintergrund, vor den ich meine Lektüre von Platons Kritiken der Kunst und der Mimesis stellen möchte. Für Platon drohen die Künstler – seien sie Maler, Musiker oder Poeten – wie Sophisten zu handeln, denen es eher darum geht, eine Debatte für sich zu entscheiden, als darum, Wissen zu erwerben und weiterzugeben – oder wie solche („Betrüger“, wie Platon sie häufig nennt), die auf Kosten anderer nach Ansehen und Wohlstand streben. In dieser Zeit entspricht der Versuch, die Rolle der Kunst für Demokratie und Erziehung auszuloten, einem Nachdenken über die Beziehung von Wettkampf und Hybris zu den mimetischen bürgerlichen oder sozialen Praktiken, zu denen unter anderem die Künste gehören. Auf der Grundlage eines für die griechische Antike charakteristischen breiten Verständnisses von Hybris sieht Platon die mimetischen Akte der Kunst als umso stärker zum Scheitern verurteilt, je mehr sie darauf ausgerichtet sind, die Identität dessen, was sie lediglich bescheiden nachahmen sollten, zu entwenden oder anzueignen. 2. Betrachten wir für einen Augenblick, was der zeitgenössische israelische Autor A. B. Yehoshua in den achtziger Jahren schrieb, als er gebeten wurde, sich über die Rolle der Kunst in modernen Demokratien zu äußern. Bevor er überhaupt auf die Kunst kommt, weist Yehoshua auf die angeblich charakteristisch amerikanische Annahme hin, dass Politik und Demokratie dasselbe seien. „Obwohl es in meinem eigenen Land eine demokratische Verfassung gibt, [...] so wie in anderen Ländern auch, scheint es doch so zu sein, dass uns die Demokratie vorkommt, als würde man einen Anzug tragen, nachdem man mehrere Kleidungsstile ausprobiert hat, während sie für Amerikaner [...] die eigentliche Haut des Körpers ist. Das ist darin begründet, dass die Vereinigten Staaten die einzige Nation der Welt sind, deren nationale Identität nahezu genetisch mit der Demokratie verwoben ist.“ Wenngleich in Yehoshuas Bemerkung vielleicht eine auf fragwürdige Weise „europäische“ Haltung zutage tritt, erlaubt sie es mir, ein zweites Thema einzuführen: wie sehr nämlich die im genetischen Anspruch implizierte Selbstüberschätzung im Widerspruch zu dem modernen demokratischen Selbstverständnis steht, eine wesentlich umkämpfte Form sozialer Ordnung oder Regierung zu sein. Wie das erste Thema fordert uns auch das zweite dazu heraus, auf die spezifische Hybris einer fal-

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schen Gleichsetzung zu achten – in diesem Fall die genetische Gleichsetzung einer spezifischen Nation mit einer allgemeinen politischen Form. Yehoshuas Unterscheidung zwischen Demokratie als Anzug und als Haut ist aufschlussreich. Während ein Anzug leicht abzulegen ist, muss eine Haut abgezogen werden. Das Verständnis von Demokratie als Anzug, den man trägt, suggeriert die Kontingenz der Demokratie und damit die Leichtigkeit des Aufgebens dieser Form. Das Verständnis von Demokratie im Sinne einer Haut suggeriert dagegen, dass die politische Form nur auf gewaltsame Weise entfernt werden kann und dass daher die Demokratie eine Identität ist, an der eine Gesellschaft notwendig festhält. Man könnte meinen, dass die Identifikation einer Nation mit der Demokratie durchaus wünschenswert sei, bestünde nicht die Sorge, dass dieser Anspruch dazu führen kann, diese Identifikation für garantiert zu halten. In Anlehnung an Platon ist zu befürchten, dass eine Gesellschaft, die ihre Demokratie für garantiert hält oder die vergisst, weshalb sie diese demokratische Haut überhaupt besitzt, zu einer Gesellschaft werden kann, die sich mit dem bloßen Anschein der Demokratie zufrieden gibt – oder, so könnte man sagen, mit dem Besitz der Haut als bloßer Oberfläche. In seiner Ablehnung sowohl der Tyrannis als auch der Demokratie zeigt Platon, dass ein zu großes Vertrauen in das eigene Erscheinungsbild häufig mit Akten oder Haltungen von Hybris einhergeht. Deren Gegenpol stellt das rationale Argument dar, das die Haut des Scheins entfernt, als wolle es sie zum Reinigen verschicken. Damit würde die Haut der Demokratie dann wieder wie ein Anzug behandelt werden. Dies führt – zwar nicht für Platon, aber für uns – zu dem dialektischen Schluss, dass Demokratie, ständig auf ihre Tragbarkeit überprüft, wie ein Anzug behandelt, aber wie die eigene Haut wertgeschätzt werden sollte – allerdings nicht auf eine solche Weise, dass die Haut zu einer Oberfläche des bloßen Erscheinens wird. 3. Meine Beschäftigung mit Fragen von Wettstreit und Hybris ist Teil eines Buchprojekts, in dem ich die historischen Wettkämpfe innerhalb und zwischen den Künsten erforsche. Ich untersuche, warum die Künste sich permanent gestritten und bekämpft haben und blicke dabei auf ihre je eigenen künstlerischen, metaphysischen und sozialen Zugewinne. Schon immer hat es Klassifikationen und Rangordnungen der Künste gegeben. Dennoch haben sich bisher nur wenige darum bemüht, die Beweggründe und Folgen solcher Rangordnungen überhaupt erst einmal in den Blick zu bekommen. Die Beteiligung an den Wettkämpfen geht viel zu selten mit einer nachhaltigen Reflexion der Wettkampfbedingungen und der Wettkampfziele einher. In meinem größeren Projekt erforsche ich die Wettbewerbe der Kunst anhand der Darstellungen eines spezifischen Streitfalles. Im Mittelpunkt steht die Satyrgestalt Marsyas, der die weggeworfene Flöte Athenes – der Göttin des Krieges, die Athen ihren Namen gibt – an sich nimmt und die Kühnheit besitzt, sein Flötenspiel für mindestens gleichwertig, wenn nicht sogar für bes-

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ser zu halten als das Spiel der Harfe des Gottes Apoll. Bevor der Wettkampf beginnt, einigen sich Apoll und Marsyas darauf, dass der Verlierer bestraft und der Gewinner die Strafe entscheiden werde. Apoll jedoch kann als Gott in einem Kampf gegen ein niederes Wesen gar nicht verlieren. Auch wenn er bei seinem Triumph ein vages Bedauern verspürt, betrachtet er Marsyas’ Haut als einen gerechten Preis für dessen Anmaßung. Als Marsyas in Ovids einflussreicher Darstellung Apoll fragt, weshalb das bloße Flötenspiel zu einer Häutung führen soll, wird deutlich, dass sich hinter der Fassade eines Wettstreits zwischen Spielern von Musikinstrumenten ein Wettkampf verbirgt, der nicht nur qualvolle, sondern auch frevelhafte Dimensionen hat. Aus gutem Grund verwenden die meisten Interpreten den Begriff „Hybris“, um das zu fassen, was an Marsyas’ Tat frevelhaft, unmoralisch und (nach Platons Verständnis) schlicht „unmusikalisch“ ist. Obwohl es viele mögliche Lesarten dieses Wettkampfes, des Verbrechens und der Bestrafung gibt, interpretiere ich die von der Erzählung aufgeworfenen philosophischen und ästhetischen Fragen von Wahrheit und Erscheinung im Hinblick auf das soziale Verbrechen der Hybris. Denn wenn Marsyas’ Häutung als Bestrafung für ein Verbrechen gegen die Gesellschaft gedeutet wird, dann lässt sich daran zeigen, was in der Zukunft nicht weniger als in der Vergangenheit für Kunst und Politik auf dem Spiel steht, wenn das Phänomen des Wettkampfes zum Fokus des Nachdenkens über die gesellschaftliche Ordnung wird. Jüngste Untersuchungen über den Begriff der Hybris zeigen, wie weitreichend und bedeutsam dieser Begriff einmal war, vor allem im athenischen Bürgerrecht. Nach Platon ist Hybris „vielnamig: denn [sie] ist vielteilig und vielartig. Und die von diesen Arten zufällig den Vorzug gewonnen hat, trägt ihren eignen Namen zur Benennung auf den, der sie besitzt, hinüber, einen weder schönen noch wünschenswerten“.3 Für das Vergehen der Hybris werden in dieser Zeit oft die schwersten Strafen wie Hinrichtung oder Exil als angemessen betrachtet. In der Regel richtet sich der Vorwurf der Hybris gegen eine Person, die andere schädigt, demütigt oder schikaniert und sich dabei an der Tat erfreut oder bereichert. Häufig wird Hybris mit Ungehorsamkeit gegenüber den Göttern assoziiert, beispielsweise durch die Zerstörung von Götterbildern. Es ist unverzeihlich, die Existenz der Götter oder deren Reinheit, Göttlichkeit oder Wahrhaftigkeit in Frage zu stellen, sind es doch die Götter, die menschliches Versagen vergeben. Hybris ist es auch, als Mensch göttliche Perfektion anzustreben, und gleichermaßen, sich göttliches Fehlverhalten zum Vorbild zu nehmen. In den Gesetzen Athens ist Hybris darüber hinaus mit Handlungen wie Beleidigung, Vergewaltigung, Ohrfeigen und sogar Hahnenkampf assoziiert, ebenso wie mit Praktiken, die von einem Übermaß an Stolz oder Arroganz motiviert sind. Bisweilen verleitet Hybris zu kühnem und unzulässigem Sprechen, zu Spott oder Kränkungen. In einer Gesellschaft, in der die öffentliche Rede konstitutiv für das politische und bürgerliche Leben ist, ist –––––––––––––––––– 3 Platon, Phaidros 238a. „Hybris“ wird von Schleiermacher als „Frevel“ übersetzt.

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deren Regelung von höchster Relevanz. Weiter bedeutet Hybris häufig einen Mangel von Respekt gegenüber anderen, wie es etwa im Machtmissbrauch des Tyrannen zum Ausdruck kommt. Hybris kann aber auch darin bestehen, ohne Selbstrespekt, unwürdig oder tierartig zu agieren, indem man etwa einen wiehernden Esel nachahmt oder indem man, wie es einer „Stadt der Schweine“ angemessen wäre, bis zur Völlerei trinkt oder isst. Insgesamt lässt sich also sagen, dass sich Hybris gleichermaßen in dem arroganten Verhalten dessen manifestiert, der sich für gottgleich hält, wie darin, sich buchstäblich „unwürdig“, d. h. auf scheußliche Weise zu benehmen. Möglicherweise ist aus gutem Grund die erste eher als die zweite Variante über die Generationen hinweg als besonders gefährlich eingestuft worden. Angesichts der Spannweite von Handlungen, die entweder per Gesetz als Fälle von Hybris oder allgemeiner als Symptome einer von Hybris geprägten Haltung eingestuft werden, kommen viele Beispiele in den Sinn, zunächst in der Antike. Neben Marsyas’ Wettbewerb mit Apoll wäre etwa der Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios zu nennen, in dem es um Mimesis und Wirklichkeitstreue geht, oder auch Kandaules’ unvorsichtiger Wettstreit mit Gyges über Schönheit und Erscheinung. Alle drei Beispiele sind auf interessante Weise mit Platons Argumenten verflochten. Aber in Burckhardts historischer Darstellung wie auch bei Ovid finden sich unzählige weitere Erzählungen von agonaler Hybris, in die Künstler, Denker und häufig Frauen involviert sind. Ähnlich wie die Strafe des Marsyas beschreibt Ovid die Geschichte Niobes. Die Königin von Theben, die die Göttin Leto zu einem Wettkampf der Schönheit herausfordert, wird damit bestraft, dass Apoll und Artemis ihre sämtlichen Kinder töten. Ebenfalls berichtet Ovid von der talentierten lydischen Weberin Arachne, die Athene dazu herausfordert, einen schöneren Teppich als sie selbst zu weben, und die daraufhin sowohl für ihren Fehler bestraft wird, den ihr gemäßen Rang anzuerkennen, als auch für die unrühmliche Tat, die Liebeseskapaden des Zeus darzustellen. In den zahlreichen Geschichten, die von Wettkämpfen zwischen Menschen und Göttern handeln, scheint sich ein Merkmal kontinuierlich aufzudrängen: Schlechtes Handeln ist selten das Handeln nur eines einzelnen Protagonisten. Vielmehr treten in diesen zahlreichen Wettkämpfen verschiedene Arten der Hybris und des unehrenhaften und überheblichen Handelns gegeneinander an, so dass am Ende, wenngleich die Sieger und Verlierer von vornherein feststehen, keiner vollkommen unbeschadet aus dem Kampf hervorgeht – nicht einmal die Götter. Dieser Umstand, dass die Sieger der Wettkämpfe ihre vermeintlich moralischen oder frommen Ziele so häufig auf offensichtlich gottlose Weise erreichen, bestärkt Platon in seiner Forderung, die Bedingungen des Wettkampfes sowie die Erzählungen, derer sich die Erziehung in der Kallipolis bedient, streng zu kontrollieren. Obwohl die Antike eine besonders reichhaltige Menge von Fällen hybrisgeprägter Wettkämpfe liefert, finden sich Beispiele durchaus auch in der Moderne. Da ist zum einen Wagners Oper Die Meistersinger: Ausdrücklich dem

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Thema des Wettkampfs gewidmet, zeigt sie eine agonale Gemeinschaft, die in ihrem Kern, so sieht es Wagner, von Pedanterie und Spießbürgertum bedroht ist. Zum anderen sei auf Brechts und Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny verwiesen, eine Anti-Oper aus der Weimarer Zeit, die die zahlreichen ausschweifenden Arten der Hybris ins Visier nimmt, die mit dem modernen Kapitalismus einhergehen. Bemerkenswert ist auch der amerikanische Cowboy-Cowgirl-Western Annie Get Your Gun, in dem Irving Berlin Hybris in einen engen Zusammenhang mit Wettkampf bringt, um die Konflikte zwischen den modernen Ausprägungen von Ordnung und Chaos als abstoßend und begehrenswert zugleich zu dramatisieren. 4. Besondere Aufmerksamkeit erfährt das Agonale zur Zeit von Seiten einer post-nietzscheanischen politischen Theorie. Agonale Demokratie, agonaler Liberalismus oder auch Pluralismus werden entweder als wetteifernde Konkurrenten oder als notwendige Erweiterungen deliberativer, konsensualistischer, kommunitaristischer oder partizipatorischer Demokratiekonzeptionen dargestellt. Insbesondere werden die Formen widerständiger und oppositioneller politischer Gestaltung betont, die Individuen zur Verfügung stehen. Wesentliches Anliegen dieser Theorien ist es, die Reduktion der Bürger demokratischer Staaten zu eifrigen Handlangern der Bürokratie zu vermeiden und wünschenswerte Unterschiede zwischen konkurrierenden Personen und Gruppierungen in einer sozialen Ordnung aufrechtzuerhalten, in der Macht und Konflikte weder aufgehoben werden können noch sollten. Dass Agonisten immer wieder zwischen die politischen Lager geraten zeigt, dass sie häufig von links wie von rechts missbilligt werden. Agonisten lehnen im Namen einer „produktiven“ Haltung die passive, genetische Auffassung ab, dass Demokratie etwas Vorgefertigtes ist, in das die BürgerInnen hineingeboren werden. Stattdessen favorisieren sie eine wettstreitende politische Praxis, die sich stets im Prozess befindet und dementsprechend permanent gefährdet ist. Man könnte auch sagen, dass ihr Ziel als Demokraten ist, die Hybris der falschen Gleichsetzungen der Rechten wie der Linken gleichermaßen aus der Stadt herauszuhalten. Dank Nietzsches Einfluss wird agonale Politik von dieser Seite häufig wie eine Kunst oder eine kreative Kraft beschrieben, was Verbindungen zu Musik, Theater und Malerei nahelegt. Was letztere mit ersterer teilen, sind die Geschichten der Provokationen durch Individuen, die dem Streit und dem Wettbewerb verpflichtet sind. Aber auch wenn die enge Verbindung zwischen agonaler Politik und Kunst selbstverständlich zu sein scheint, ist sie mehr und mehr in den Hintergrund einer Literatur gerückt, die entweder politische Theorie oder Ästhetik behandelt, nicht aber beide zugleich. Während es mittlerweile gängig ist, auf agonale Politik zu verweisen, sind eindeutige Bezugnahmen auf agonale Kunst oder Ästhetik wesentlich seltener zu finden. Dass die Differenzen kaum deutlich gemacht werden, mag daran liegen, dass diejenigen, die sich mit Kunst beschäftigen, schlicht und einfach anneh-

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men, dass die Kunst wesentlich agonal ist, so dass auf diese Dimension nicht eigens hingewiesen werden muss. Aber auf welcher historischen und begrifflichen Grundlage beruht diese Annahme? Während viele über das wesentlich agonale Verhältnis zwischen den KünstlerInnen, zwischen den Kunstformen oder zwischen der Kunst und der Gesellschaft, den Institutionen und den Disziplinen geschrieben haben, ist die Geschichte der spezifischen Wettkämpfe, in die KünstlerInnen faktisch involviert sind und waren, bislang weitaus weniger untersucht worden. Wenn man jedoch wie die Philosophen der Antike seine Aufmerksamkeit in diese Richtung lenkt, dann wird deutlicher, was genau damit gemeint sein könnte, die Kunst und im weiteren Sinne die Politik agonal oder antagonistisch zu nennen, und auch, dass diese beiden Bestimmungen nicht zwangsläufig dasselbe bedeuten. Denn während eine Kunstform oder politische Ausprägung das Ziel haben kann, die Bedingungen der Gesellschaft anzufechten, ohne sich an einem Wettstreit darüber zu beteiligen, kann eine andere Orientierung den Wettbewerb selbst zu ihrem Zweck erklären, ohne dabei das Ziel zu haben, gesellschaftliche Grundlagen anzuzweifeln. Die Differenzen zwischen Agonalität und Antagonismus herauszustellen bedeutet nicht, die Überschneidungen und Übereinstimmungen zwischen diesen Richtungen zu leugnen, wie sie sowohl in der Antike als auch in den aktuellen Diskursen hervortreten. Zudem erfordert die Feststellung dieser Differenzen ein Verständnis davon, was eigentlich aus der Sicht von Kritiken auf dem Spiel stand und steht, die herauszuarbeiten versuchen, dass ein selbstzweckhafter Agonismus sich gesellschaftlich eher destruktiv als produktiv erweisen könnte. So entstammen beispielsweise Platons Befürchtungen über Kunst und Mimesis wohl auch seinen Beobachtungen der hybrisgeprägten Fehlleitung des agonalen Drangs. Auch wenn er davon ausgeht, dass die den Wettkämpfen immanente Konkurrenz häufig darauf hinausläuft, die Gesellschaft zu antagonisieren, so glaubt er doch nicht, dass dies zwangsläufig geschehen muss, sofern nur der Drang zum Wetteifer und zum Wettkampf angemessen reguliert wird. Platons Schlussfolgerung weist auf eine Verlagerung des Schwerpunkts zwischen dem agonalen Denken der Antike und dem der Moderne hin. Während einst das agonale Denken unauflöslich und eindeutig mit den Wettkämpfen verbunden war, die das alltägliche Leben bestimmten – von denen man allerdings nicht sagen kann, dass sie in ihren Wesenszügen nicht auch antagonistisch waren –, hat sich die aktuelle Auseinandersetzung zunehmend dahin verlagert, Agonismus abstrakt als eine grundsätzliche antagonistische Haltung zu thematisieren. Vor diesem Hintergrund wiederum werden Kritiken verständlich, die den modernen Agonisten eine inhaltslose oder negative Rhetorik der reinen Verweigerung unterstellen. Die Agonisten antworten auf diese Kritiken, indem sie Wege suchen, ihre antagonistische Position mit konkreten Praktiken und Zielen zu verbinden. Dass Wettkämpfe den Schwerpunkt des

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demokratisch-bürgerlichen Handelns darstellen sollten, so wie dies einst der Fall war, ist allerdings bislang kein Bestandteil dieser Argumentation. 5. Ich habe bislang behauptet, dass Platon künstlerische Praktiken als zugleich mimetische und politische Handlungen und damit als möglichen Ausdruck einer wie auch immer gearteten Haltung der Hybris einstuft. Damit soll aber nicht nahegelegt werden, dass er alle mimetischen Handlungen als Fälle von Hybris begreift. Dieser Zusatz ist vor allem deshalb wichtig, weil Platon den Begriff „Hybris“ eher selten auf künstlerische oder sonstige mimetische Handlungen anwendet. Dennoch meine ich, dass sich vieles von dem, was er gegen Mimesis und Kunst vorbringt, aus der Perspektive seiner politischen Kritik der Hybris verstehen lässt. Vor diesem Hintergrund sind die Beziehungen zwischen Mimesis, Kunst, Wettkampf und Hybris, auf die ich aufmerksam gemacht habe, nicht als logische oder metaphysische, sondern in erster Linie als soziologische und historische zu lesen. Genau deshalb können Platon und viele andere antike Denker zugestehen, dass Wettkampf, Mimesis und Kunst in einer idealen oder besseren Stadt auch ohne Hybris möglich wären. Diese Möglichkeit erklärt, weshalb Platon sich trotz manchen gegenteiligen Anscheins niemals schlicht gegen Mimesis oder die Künste als solche ausspricht. Vielmehr sind Mimesis und Kunst von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter wesentliche Bestandteile der Erziehung: von den zahlreichen Wettkampfarten und Spielformen bis hin zur höchst durchdachten Ausbildung derjenigen, die die Stadt regieren oder beschützen sollen. Die Annahme, dass der agonale Drang eine pathologische Ausprägung erfährt und dass eine von ihm geprägte Gesellschaft wie die athenische vom Untergang bedroht ist, beruht bei Platon und anderen auf der Überzeugung, dass Hybris zwei ganz unterschiedliche Verhaltensformen evozieren kann. Die erste – diejenige, auf die sich Platon in erster Linie bezieht – ist durch die Tendenz gekennzeichnet, zu viel oder zu wenig zu tun oder zu sagen. Sie äußert sich in exzessiven Handlungen oder Einstellungen, die eine Entwicklung der Tugenden, die Entwicklung von Mäßigung, Zurückhaltung und Selbstkontrolle verhindern. Die zweite Form der Hybris verhindert ebenfalls die Entfaltung von Moral und Anstand. Als Missachtung der Ordnung stört sie jedoch auf direktere Weise die allgemeine Stabilität der Stadt. Obgleich Platons Dialoge in ihren Ausführungen über mimetische Handlungen diese zweite Verhaltensform weniger explizit thematisieren, enthalten sie zahllose Beispiele von Personen, die sich über andere stellen, sich auf Kosten anderer hervortun oder auch ihren Stand missbrauchen oder verwechseln: Gesetzgeber, die sich gegenüber ihren Untertanen schlecht verhalten, Eltern, die ihre Kinder in Ehren halten oder Ältere, die den Jüngeren Hochachtung entgegenbringen – und umgekehrt Sklaven, Frauen oder Kinder, die den Höhergestellten ohne den gebührenden Respekt begegnen. Auf diese Weise umfasst Hybris alles, was überzogen, übertrieben oder im Gegenteil untertrieben ist und dabei das Gleichgewicht der gesamten

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Gesellschaft gefährdet. Genau vor diesem Hintergrund gilt es für Platon zu zeigen, wie Agonalität, sogar in Verbindung mit Antagonismus, zum Vorteil anstatt zum Schaden der Gesellschaft genutzt werden kann. Platon zufolge bringt der agonale Drang in seiner niedrigsten Form Menschen dazu, aus ihrer vorgegebenen Position ausbrechen zu wollen und dadurch die Gesellschaft zu destabilisieren. In einem solchen Wunsch tritt die Hybris der falschen Identifikation zutage. Es wird der Anspruch erhoben, mit der Kompetenz in einem bestimmten Aufgabenfeld – sei es Malen, Flötenspielen, Ringen, die Herstellung von Betten oder das Halten von Reden – die Aufgaben eines anderen Gebiets erfüllen zu können. Der Gedanke einer festen Rangfolge bildet aber das Herzstück von Platons Konzeption einer rationalen und harmonischen gesellschaftlichen Ordnung. Dieser Gedanke einer rangspezifischen Bindung und Einordnung von Individuen hat drei wichtige Aspekte. Erstens versteht Platon die Polisgemeinschaft als konstituiert durch verschiedene Aufgabenstellungen, denen zufolge jedes Individuum eine bestimmte Rolle zu erfüllen hat. Zweitens ordnet er die verschiedenen Aufgabenstellungen hinsichtlich ihrer relativen Höher- oder Minderwertigkeit aufgrund sich ergänzender epistemologischer, metaphysischer und soziologischer Kriterien an. Drittens weist er, differenziert nach Alter, Rasse, Geschlecht und Geburtsrecht, verschiedenen Arten von Personen verschiedene Aufgaben zu, auch wenn er, wie seine Ausführungen im Staat zeigen, einen gewissen Grad von Abweichung und Durchlässigkeit einräumt. „Was wir schon früher hervorhoben mit den Worten, man müsse, wenn den Wächtern ein untüchtiger Nachkomme geboren werde, diesen zu den anderen überführen, wenn aber den anderen ein tüchtiger, diesen unter die Wächter aufnehmen. Damit soll gesagt sein, daß wir auch in bezug auf die übrigen Bürger jeden einzelnen dem einen bestimmten Berufe zuführen müßten, für den ihn die Natur bestimmt hat, auf daß ein jeder, das ihm zukommende eine Geschäft betreibend, nicht vielgestaltig, sondern einer werde und so die gesamte Stadt eine natürliche Einheit bilde und nicht eine Vielheit.“4 Platon spricht sich für eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft aus, um vor allem diejenigen Arten des Missbrauchs zu verhindern, die er gleichermaßen mit der Demokratie und mit der Tyrannei verbindet. Aus seiner Perspektive geht Tyrannei aus dem Ausbrechen aus der vorgezeichneten Rolle oder aus deren Missbrauch hervor. Platon zufolge kann man davon ausgehen, dass der maßlose Gebrauch oder der Missbrauch der eigenen Position im Falle der Gesetzgeber (im Gegensatz zu den übrigen Bürgern) besonders verhehrende Auswirkungen hat. Umgekehrt sind es der Missbrauch, das Durcheinanderbringen oder die Preisgabe der Ordnung, die die Demokratie charakterisieren. Wenn jede Rangordnung nivelliert, die Aufgabenstellungen ausgetauscht oder auf einen gemeinsamen Nenner reduziert werden, wird die Entscheidungsfindung zu einer Sache der Mehrheit und damit das Chaos eingeläutet. Im Kontrast zu –––––––––––––––––– 4 Platon, Der Staat, 423d.

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Tyrannei und Demokratie ist Platons bevorzugte Regierungsform eine aristokratische, an der die Bürger nach Maßgabe ihrer natürlicherweise vorgesehenen Aufgabe teilnehmen, in deren Rahmen jeder nach relativer Vollkommenheit strebt. 6. Platon grenzt die zwei Ausrichtungen der Hybris – exzessives Handeln und Ausbrechen aus dem vorgegebenen Rang – mittels zweier Gegenstrategien ein, die ich Regulierung und Verbannung nennen möchte. Die Überlegungen zur Regulierung des übermäßigen Verhaltens finden sich über verschiedene Dialoge verstreut. Wenn die exzessiven Praktiken, die etwa mit Flötenspielen, Trinkgelagen und verschiedenen Arten der sogenannten „nackten Spiele“ assoziiert sind, in der Stadt überhaupt erlaubt sein sollen, dann müssen diese Aktivitäten streng auf spezifische Orte und Zeiten der Muße beschränkt werden. In einer Gesellschaft, die auf das Gute ausgerichtet ist, spielt Muße eine bedeutende Rolle und ist von denjenigen zu regulieren, deren höheres Begehren ihre niederen Wünsche regiert. An anderen Stellen der Dialoge wird aber darüber hinaus deutlich, dass die aufführenden und visuellen Künste nicht nur zu regulieren, sondern auch an jene Orte zu verbannen seien, an denen niemand darüber getäuscht werden kann, dass die fraglichen mimetischen Handlungen nichts weiter als Erscheinung sind. Mit anderen Worten: Wenn Platon metaphysische Überlegungen über den Status der Kunst als Erscheinung anstellt – wenn er beispielsweise argumentiert, dass Malerei Erscheinungsbilder hervorbringt, die der Wahrheit und dem Sein handwerklicher Produkte ontologisch untergeordnet sind –, dann erkennt er dem Kunstwerk zugleich gesellschaftliche Relevanz zu. Während Platon den Genuss an einen Ort der Muße verbannt, verweist er die Malerei auf einen dritten Rang der Realität unterhalb der selbst bereits mimetischen Werke der Handwerker. Solchermaßen eingeordnet können die Maler im Blick gehalten werden. Doch warum sollen die Maler beobachtet werden? Es geht darum, zu verhindern, dass ihr künstlerisches Schaffen den Anspruch erhebt, den Platon bei den Sophisten und anderen „Blendern“ in der Stadt findet: nämlich Ziele und Einsichten anzustreben, die notwendig dem philosophischen Leben vorbehalten sind. Wenn Aufgaben miteinander vermengt werden, als seien sie alle von gleicher Bedeutung, oder wenn behauptet wird, auf dem eigenen Feld auch die Aufgaben anderer erfüllen zu können, dann befindet sich Platon zufolge eine Gesellschaft auf dem Weg in die dunkelste Ungerechtigkeit. Somit ist der Status, den Platon den Künstlern und Handwerkern einräumt, unauflöslich mit seinem Vorhaben als Philosoph verbunden, genau das auszutragen, womit dieser sich kritisch befasst: nämlich einen Streit zwischen Philosophie und Kunst, einen Wettstreit, den er zum Wohl der gesamten Gesellschaft zu gewinnen hat.

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7. Der Blick auf Platons Vorstellung einer gesellschaftlichen Rangordnung lässt verständlich werden, wie ein aus Hybris entsprungener Missbrauch des agonalen Drangs zu einer falschen Gleichsetzung oder sogar Verdrängung des Nachgeahmten durch die Nachahmung führt. Zur Veranschaulichung eines solchen Missbrauchs in seiner krudesten Form sei das folgende Beispiel erwähnt: Wenn die Vereinigten Staaten mit der Demokratie gleichgesetzt werden, dann kann es leicht geschehen, dass man diese Identifikation vergisst und dem mimetisch Nachstrebenden den Vorzug über das Vorbild gibt: indem man etwa eher für die Vereinigten Staaten als für die Demokratie zu kämpfen bereit ist. Oder man denke an den Künstler, der, obwohl er bloß nachzuahmen behauptet, ein Kunstwerk schafft, das nicht nur als wertvoller erachtet wird als das, was es nachahmt, sondern womöglich sogar als allein von Wert, und das damit die Welt der kopierten Objekte – der tatsächlichen oder natürlichen Dinge – als gewöhnlich oder alltäglich verleumdet. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, Zeuxis’ Wettkampf mit Parrhasios zu betrachten. An ihm zeigt sich einerseits, dass das mimetische Streben der Kunst in der Lage ist, schöne Erscheinungsbilder zu erschaffen. Dabei wird aber zugleich deutlich, dass diese schönen Erscheinungen vom Künstler verlangen können, dass er sich bewusst gegen das wendet, was man üblicherweise sieht. So wie Apoll die Wirkung von Marsyas’ Flötenspiels fürchtet, fürchtet Platon die Macht der Maler, Dinge zu verklären oder zu verändern, und verurteilt deshalb ihr Tun als eine inakzeptable Überschreitung. Nach Plinius’ Naturgeschichte geht es im Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios darum, zu entscheiden, wer der bessere Maler sei. Als erster fertigt Zeuxis ein Bild an, auf dem ein Kind mit einigen Trauben zu sehen ist. Die Darstellung der Trauben ist derart wirklichkeitsgetreu, dass Vögel sie zu pflücken versuchen. Daraufhin malt Parrhasios einen Vorhang, den Zeuxis beiseite zu ziehen verlangt, um das dahinter vermutete Gemälde zu sehen. Parrhasios gewinnt diesen Wettkampf, weil Zeuxis lediglich die Vögel zu täuschen vermag, Parrhasios hingegen Zeuxis selbst. Allerdings lässt diese vertraute Zusammenfassung von Plinius’ Schilderung des Wettstreits das aus, was wir darüber hinaus über Zeuxis wissen: dass er nämlich nahezu jedem mit einer irritierenden Hybris begegnet. Als er den Wettkampf gegen Parrhasios verliert, behauptet Zeuxis zum Beispiel geistreich (und absichtlich paradox), dass die Vögel, hätte er das Kind genauso gut wie die Trauben gemalt, sich nicht getraut hätten, sein Gemälde anzufliegen. Eine vergleichbare Arroganz bezeugt sich in seiner angeblichen Weigerung, für seine künstlerischen Produktionen Geld zu verlangen, die er damit begründet, dass dadurch das unvergleichlich Wertvolle auf einen zählbaren Wert reduziert würde. Für einen öffentlichen Platz fertigt er eine Statue von Marsyas an, von der manche behaupten, sie sei ein Abbild seiner selbst – ganz als wolle er jene verspotten, die meinen, die Künstler stellten eine Gefahr für die Stadt dar. Schließlich, so wird berichtet, gerät er über einen seiner ei-

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genen Witze derart ins Lachen, dass er daran stirbt. Der betreffende Scherz hat allerdings eine äußerst wichtige Pointe. Als eine hässliche alte Frau ihn bittet, für ein Gemälde der Aphrodite Modell stehen zu dürfen, malt er, anstatt sein Modell zu idealisieren, ein getreues Abbild von ihr. Mit diesem Scherz offenbart Zeuxis, was auch Parrhasios in seinem Gemälde enthüllt: dass Mimesis nicht bedeutet, ein bloßes Abbild dessen zu schaffen, was man gewöhnlicherweise sieht. Vielmehr geht es der Malerei gerade darum, ihrer eigenen ontologischen Reduzierbarkeit vorzubeugen, und zwar auf dem Wege der Hybris: Eine alte hässliche Frau ist genug, erklärt Zeuxis seinem Modell sowie den Betrachtern – weshalb sollte es also der Anspruch des Künstlers sein, eine bloße Kopie anzufertigen? Unter Absehung von der Dimension der Hybris bedeutet Mimesis für viele in der Antike wie in der Moderne, das Nachgeahmte zugleich zu idealisieren oder zu verklären. Was sonst gewöhnlich und unvollkommen erscheint, wird perfektioniert oder doch veredelt. Dieser Anspruch gelangt in Zeuxis’ berühmtem Versuch zum Ausdruck, die göttliche Helena anhand verschiedener unvollkommener und nackter Modelle zu malen. Dass er nicht nur ein Modell, sondern viele wählt, beruht auf der Überzeugung, dass kein einzelnes menschliches Wesen und kein einzelner Gegenstand vollkommene Schönheit verkörpert. Dieselbe Annahme ist auch in Platons Formenlehre am Werk. Platon jedoch lehnt es vehement ab, den Malern auch nur den Anspruch zuzugestehen, mittels der bloßen Erscheinungsbilder der Kunst die vollkommene Form der Schönheit auszudrücken. Ein solcher Anspruch verkörpert eine Hybris höchsten Grades. 8. Platon klassifiziert die Künste nicht untereinander, wie dies bei späteren Theoretikern geschieht, aber er bringt sie in eine gemeinsame Hierarchie mit anderen Handwerken und anderen mimetischen Praktiken in der Stadt. Was ihn zu einer solchen Rangordnung der Aufgaben – und damit unter anderem auch zu seinem Metallmythos – motiviert, ist das Anliegen gesellschaftlicher Stabilität und Harmonie. Diese Ziele erfordern, so könnte man in Abwandlung des delphischen Orakels sagen, dass jeder sich bemüht, den eigenen Rang zu erkennen. Selbst wenn man mit seiner Rolle vertraut ist und diese einhält, ist damit allerdings noch nicht verhindert, dass Menschen ihre Pflichten und Ränge wechseln oder, wenn die Umstände es zulassen, ihre Tätigkeiten ändern. Aber gerade ein solches Durcheinander der Positionen und Pflichten ist es, was Platon am dringendsten vermeiden möchte. Ich betone diesen Punkt deshalb, weil er eine außergewöhnliche Übereinstimmung zwischen Platons Überlegungen und den Argumenten derer offenlegt, die um vieles später die moderne Krise der Künste zu erklären versuchen. So schreibt de Tocqueville in seinem Buch über die Demokratie in Amerika vor allem über das Zusammenbrechen der Rangordnung; in ähnlichem Sinne befassen sich Clement Greenberg und Theodor W. Adorno mit der Frage, wie

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und warum die verschiedenen Künste ihre spezifischen Medien überschreiten. Wie in Platons Dialogen ist auch bei diesen modernen Theoretikern die formale Betrachtung der künstlerischen Mittel untrennbar mit einer Beurteilung der grundsätzlichen Bedingungen einer Gesellschaft und Kultur verbunden. Platons Perspektive kann darüber hinaus mit der modernen Vermutung in Verbindung gebracht werden, dass „demokratische Kunst“ ein Widerspruch in sich sei. Was die Demokratie ausmacht, ist dieser Ansicht nach unter anderem die Gleichbehandlung der BürgerInnen vor dem Gesetz – Demokratie versagt aber, wenn diese Gleichbehandlung auf die Leugnung oder Nivellierung aller Unterschiede hinausläuft. Insbesondere muss Demokratie als politische Form von der Demokratisierung als einem gesellschaftlichen oder kulturellen Prozess unterschieden werden. Diese letztere Entwicklung ist es, die das Schaffen exemplarischer Kunstwerke angeblich kaum mehr zulässt. Demokratisierte oder Massenkultur überlebt gerade dadurch, dass sie nichts gelten lässt, was sich vom Durchschnitt abhebt: Sie überlebt, um Dwight Macdonalds häufig zitierte These in Erinnerung zu rufen, durch ihre Verweigerung jeder differenzierenden Bewertung, die sie nur noch als „diskriminierende“ kennt. Aus dieser Perspektive wird der demokratisierten Kultur nachgesagt, dass sie zu einem ähnlichen Verlust an Freiheit führe wie eine autoritäre oder totalitäre Gesellschaft, in der den Menschen ein Ausbrechen aus ihrer ihnen auferlegten Rolle unmöglich gemacht wird. In einer Gesellschaft, die entweder zu wenig oder zu stark hierarchisch ist, fühlen sich Menschen eingeengt und werden antagonistisch, und zwar zu einem solchen Grad, dass der Antagonismus beginnt, ihr Handeln zu bestimmen. In diesem Sinne ist etwa Lyotards Behauptung, dass „die Erfindung [...] immer aus der Meinungsverschiedenheit“5 entstehe, als Ausdruck der modernen Gleichsetzung von Antagonismus und Freiheit zu lesen. 9. Ein aktuelles Buch mit dem Titel Provoking Democracy stellt eine interessante Verflechtung demokratischer Theorie mit der antagonistischen Position dar. Die Autorin, Caroline Levine, untersucht das Interesse mancher moderner Staaten (in diesem Fall der USA), insgeheim eine antagonistische oder „AvantGarde“-Kunst zu fördern, die dann mittels einer deutlich sichtbaren, öffentlich geführten Debatte wiederum zensiert wird. Aufgrund des Anliegens der Regierung, aufgeschlossen zu erscheinen, sind die Sichtbarkeit und der öffentliche Charakter der Debatte von entscheidender Bedeutung. Wenn Kunst nach einer lebhaften öffentlich geführten Debatte zensiert wird, dann geschieht dies allem Anschein nach, weil der Ausgang der Zensur dem Wunsch „der Leute“ entspricht. Es erübrigt sich hinzuzufügen, dass diese verdeckte Strategie, die Levine als „institutionalisierten Dissens“ bezeichnet, verschiedentlich fehlgeschlagen ist. Trotzdem ist diese Strategie in dem von mir verfolgten Zusammenhang äußerst relevant. KünstlerInnen darin zu fördern, antagonistische –––––––––––––––––– 5 Lyotard 1986, S. 16.

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Kunst zu schaffen, ist ein potentiell sich selbst unterlaufendes Ziel, insofern nämlich die KünstlerInnen, indem sie sich den Vorstellungen der Förderung unterwerfen, genau das produzieren, was nicht beabsichtigt ist: eine gesellschaftskonforme Kunst. Selbst oder vielmehr gerade der Versuch der Demokratie, den Antagonismus zu ermöglichen, um die eigene Toleranz unter Beweis zu stellen, kann demzufolge nicht gewährleisten, dass die unter diesen Bedingungen entstehende Kunst tatsächlich antagonistisch ist. Wenn man diese Überlegungen weiter verfolgt, ergeben sich zahlreiche Schwierigkeiten. Am dringendsten ist wohl die Frage, inwieweit man einen Begriff der Rangordnung aufrechterhalten kann, ohne zugleich Autoritarismus oder Totalitarismus zu fördern; oder wie sich, wenn man sich im Gegenteil von der Rangordnung verabschiedet, eine Demokratisierung der Demokratie vermeiden lässt, die auf das Motto „anything goes“ hinausläuft. Dieses Problem ist ebenso bekannt wie kompliziert. Es lässt sich besser greifen, wenn wir die Frage dahin verschieben, worin genau der Unterschied zwischen Platons Vorstellung einer geordneten Gesellschaft und dem Gesellschaftskonzept moderner und zeitgenössischer Agonisten liegt, die (allerdings nicht als einzige) eine Gesellschaft der Vielfalt und der Differenz ausrufen. Ein erster Gegensatz besteht in dem Unterschied zwischen einem vertikalen und einem horizontalen Ordnungsprinzip. Platon ordnet die gesellschaftlichen Rollen und ihre Inhaber vertikal an; viele, wenn auch nicht alle der modernen Agonisten neigen dagegen zu dem Gedanken einer horizontalen Ordnung oder einer Gleichrangigkeit der Differenten und beschränken das Moment der Bewertung auf die jeweilige Ausübung der verschiedenen Pflichten. Diese rollenspezifische Bewertung findet sich zwar auch bei Platon, bei dem sie aber immer mit einer Bewertung der Rolle selbst in Beziehung auf das gesellschaftliche Ganze einhergeht. Damit ist bereits ein zweiter Gegensatz angesprochen: Während Platon eine Gesellschaft beschreibt, die zur Form einer geordneten, rationalen und harmonischen Totalität hinstrebt, neigen Agonisten antagonistisch dazu, das Ideal der Ganzheit aufzugeben oder einzuklammern, insofern es die notwendigen Dissonanzen zu verdecken droht, die die Schaffung von Harmonie bestimmen und auch bestimmen sollten. Der Verzicht auf ein solches Ideal wird ihnen zufolge der Realität der Politik, als einem Feld unstimmiger und wettstreitender Auseinandersetzungen, eher gerecht. Doch auch wenn sie ein harmonisches Ziel oder Ideal und das damit verbundene rationalistische Modell der Politik ablehnen, bleiben die modernen Agonisten selbst genau wie Platon den Praktiken der Kritik und des Arguments verpflichtet, um die Gesellschaft und ihre BürgerInnen davor zu bewahren, sämtliche Grenzen zu überschreiten. Moderne Agonisten mögen antagonistisch sein, aber als Demokraten verschreiben sie sich nicht der Hybris oder der Anarchie. Anders gesagt: Wenn Menschen antagonistisch handeln, um sich dem status quo zu widersetzen, dann muss dieses Handeln den Agonisten, ebenso wie schon Platon, als eine Art „nobles Verbrechen“ gelten.

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Der Gedanke des noblen Verbrechens bringt mich auf einen weiteren Unterschied zwischen antiker und moderner Agonalität. Wenn noble Verbrechen (wie das des Sokrates) eine ähnliche Notwendigkeit für sich beanspruchen können wie Platons „noble Lüge“ (in Form des Metallmythos), dann muss dieser Umstand, so scheint es, der Mehrheit der Bürger verschwiegen werden. In der Sage von den Metallen lässt Platon Sokrates erklären, dass „auf nichts so eifrig zu achten [ist] wie darauf, was von diesen Stoffen den Seelen ihrer Nachkommen beigemischt ist; und wenn irgendeiner ihrer Nachkommen eine Beimischung von Erz oder Eisen hat, so dürfen sie nicht das geringste Mitleid zeigen, sondern müssen ihn dem seiner Natur entsprechenden Stand zuweisen und ihn in die Klasse der Handwerker oder der Ackerbauer verweisen, und umgekehrt, wenn aus diesem letzteren einer geboren wird, der eine Beimischung von Gold oder Silber aufweist, so werden sie ihm die Ehre antun, ihn je nachdem in den Stand der Wächter oder der Beihelfer zu erheben, da einem Orakelspruch zufolge die Stadt dann untergehen werde, wenn das Eisen oder das Erz über sie Obhut führe.“6 Allerdings ergänzt Sokrates diese Erklärung durch eine weitere, entscheidende Bemerkung: „Diese Erzählung nun ihnen glaubhaft zu machen, kannst du dafür eine Möglichkeit finden?“7 Doch warum sollte man das Darstellte als Sage einschränken oder zumindest scheinbar einschränken? Wir können annehmen: weil der Glaube an die Erzählung leichter fällt, wenn sie als Sage oder Mythos formuliert wird. Ob auch die Philosophen an das Märchen zu glauben haben, ist natürlich eine andere Frage. Um etwas Ähnliches geht es Sokrates, wenn er das Ideal des Philosophenkönigs einführt und erklärt, „daß, wenn [die Verfassung] erst bestände, alles wohl bestellt sein würde in dem Staat“.8 Platons Anliegen ist die Durchführbarkeit. Nachdem er die vielen Tugenden der Männer und Frauen aufgezählt hat, die mutig und unanfechtbar handeln, wenn sie sich ihrer Erziehung als Wächter entsprechend verhalten, macht er deutlich, dass eine Auflistung dieser Vorteile nicht annähernd so wichtig ist, wie bestmöglich sicherzustellen – durch Einsicht und, wenn erforderlich, auch mit noblen Lügen –, dass das Vorhaben gelingt. Auch wenn Platon nicht meint, dass Abweichungen von den vorgegebenen gesellschaftlichen Funktionen zwangsläufig zu einem Durcheinander der Aufgabenfelder oder zu sinnlosem Wettstreit oder Konkurrenzhandeln führen, sieht er gute Gründe dafür, diese flexiblere Haltung nicht allzu deutlich offenzulegen. Platon versucht zu zeigen, und andere folgen ihm später darin, dass (mit Rousseau gesprochen) „wir nicht unsere Kleider sind“. Dessen ungeachtet argumentiert Platon häufig in voller Bekleidung. Es scheint, dass er etwas über das demokratische Athen weiß, das ihn dazu bewegt, nicht immer allzu offenherzig zu sprechen, und zwar gerade zum Schutze der Bürger. Später setzen ––––––––––––––––––

6 Platon, Der Staat, 415c-d. 7 Ebd., 415d. 8 Ebd., 471c.

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Nietzsche und Burckhardt diesen Denkweg in der Annahme fort, dass ihre Epoche einer ernsten Doppelbedrohung ausgesetzt ist: der Tyrannei des Tyrannen und der Tyrannei der Masse. Von Nietzsche lässt sich dabei lernen, dass, wenn es keine Götter mehr gibt und die Menschen sich zu verhalten beginnen, als seien sie Götter (eine Form von Hybris) – oder sich, weil keine Götter zuschauen, gottlos benehmen (eine andere Form von Hybris) – es an der Zeit ist, „die Scham besser in Ehren [zu] halten, mit der sich die Natur hinter Rätsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat“9. Während Platon angesichts der Rätsel der Natur lieber seine eigene Position verdeckte, schien Nietzsche mehr und mehr auf die Bühne treten zu wollen und sich um eine neue Qualität der Menschlichkeit im Geiste des Dionysischen zu bemühen. Viele Agonisten des 20. Jahrhunderts sind ihm darin mit nicht selten grauenhaften Auswirkungen gefolgt, auf die wiederum spätere Agonisten, unsere Zeitgenossen, reagieren: Wie der neue amerikanische Präsident gehen sie davon aus, dass die wirklich demokratische Art, dem Volk zu dienen, darin besteht, transparent zu machen, was auf der politischen Bühne vonstatten geht. Dennoch gibt es auch weiterhin Agonisten, die meinen, dass in Philosophie, Politik und Kunst indirekte Mittel der geradeste Weg zum Ziel sein können. Dies sind die Denker, die im vollen Bewusstsein der Gefahren der Hybris dennoch glauben, dass einen kühlen Kopf zu bewahren heißt, an sich halten zu können. Aus dem Englischen von Friedericke Schmidt und Felix Koch

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9 Nietzsche 1950, S. 10 (Vorrede).

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II. Religion, Politik, Bildung

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ISLAM, RELIGIÖSE BILDUNG UND POLITIK IN DER MODERNEN WELT

Unter den vielen heiklen Debatten über Themen in Verbindung mit „Islam und Modernität“ gehören Fragen der Bildungsreform zu den umstrittensten. Welche Art Bildung sollten Muslime erhalten, um für die Herausforderungen sich verändernder Zeiten und Bedürfnisse gerüstet zu sein? Kann „nützliche Bildung“ – die normalerweise als etwas aufgefasst wird, das die modernen, säkularen, westlichen Wissenschaften umfasst – mit den traditionellen islamischen Wissenschaften kombiniert werden, und falls ja, wie und in welchem Ausmaß? Wie sollte der Islam selbst re-interpretiert werden, um eine Anpassung der Muslime an moderne Institutionen und Praktiken zu erleichtern? Solche Fragen wurden wiederholt von muslimischen Modernisierern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufgeworfen, sozusagen als Auftakt dafür, ihre Glaubensgenossen zu drängen, wie es Abdallah Yusuf Ali formulierte – ein berühmter Intellektueller aus dem kolonialen Indien, der besonders für seine englische Übersetzung des Koran bekannt wurde –, „modernes Wissen zu einer lebendigen Kraft unter den Muslimen zu machen, wie es in ihren glorreichen Tagen der Fall war“ (Yusuf Ali 1941, S. 399). Ähnliche Anliegen haben auch die modernisierende herrschende Elite der postkolonialen islamischen Gesellschaften bewegt. Zu jenen, die von dieser Frage betroffen waren, gehörten nicht nur gewöhnliche muslimische Männer und Frauen, sondern auch die traditionell erzogenen muslimischen Gelehrten, die Ulama, wie auch andere mit einer breiten traditionellen intellektuellen Ausbildung. Viele der Ulama haben beispielsweise argumentiert, dass die Art von Tugenden, die Muslime kultivieren müssen, aus der islamischen religiösen Tradition käme und nicht aus dem Westen; dass nur eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des Glaubens Gottes Gunst wieder herstellen und ihnen in widrigen Umständen wieder zu mehr Macht verhelfen würde; und dass Anstrengungen, islamische Wissenschaften mit modernen, westlichen Formen des Lernens zu „vermischen“, letztlich darauf abzielten, die Fähigkeit der Ulama, verbindliches islamisches Lernen zu vermitteln, zu unterminieren und sie daher einen kaum verhohlenen Angriff auf den Islam selbst darstellten. Viele andere unter den traditionell ausgebildeten Gelehrten haben jedoch eine ganz andere Sichtweise vertreten. Für sie sind die Bemühungen, die isla-

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mischen und die modernen, säkularen Wissenschaften einander näher zu bringen, eine notwendige Bedingung alleine schon für das Überleben des Islams unter den Bedingungen der Moderne. Gegen ihre eher konservativen Kritiker führten sie an, dass der Islam niemals eine scharfe Trennung von religiösem und säkularem Lernen ermutigt habe, dass die beiden Strömungen einander kontinuierlich darin ergänzen sollten, Muslime zu befähigen, ein Leben zu leben, das ihrem Glauben ebensosehr gerecht wird wie der Welt, in der sie leben. Dennoch haben nicht selten viele von ihnen auch beträchtliche Skepsis ausgedrückt hinsichtlich der Aussichten, diese Kluft wirksam zu verringern. Beispielsweise war im Jahr 1892 Muhammad Shibli Nu’mani († 1914), ein traditionell erzogener indischer Religionsgelehrter, nach Konstantinopel, Ägypten und Syrien gereist, um muslimische Bildungsinstitutionen zu besuchen und mit den dortigen führenden Intellektuellen zu sprechen. Er hatte die jahrhundertealte Al-Azhar in Kairo besucht und war entsetzt über das, was er als den intellektuellen Niedergang und chaotischen Zustand dieser Institution betrachtete. Zudem hatte er auch Dar al-’Ulum [das Haus der Gelehrten, A.d.Ü.] besucht, eine neue Bildungsinstitution, die in Kairo etabliert worden war, um religiöses und modernes säkulares Lernen zu verbinden. Shibli zeigte sich sehr beeindruckt vom Dar al-’Ulum, allerdings war sein Enthusiasmus von einigen Zweifeln über die Aussichten dieses wichtigen Experiments getrübt. Wie er in seinem Reisetagebuch notierte, hing der Erfolg des Dar al’Ulum davon ab, diejenigen zu überzeugen, die in traditionellen Institutionen islamischen Lernens groß geworden waren, sich dort zu immatrikulieren, aber trotz aller Anreize, die diese Institution angehenden Studenten anbot, war es nicht einfach, sie dorthin zu locken. „Denn diejenigen, die mit der traditionellen Bildung auch nur in Kontakt gekommen sind, bleiben für den Rest ihres Lebens den modernen Wissenschaften gegenüber misstrauisch“ (Nu’mani o.J., S. 136). Es gab auch andere Gründe für Pessimismus. Bei diesem Besuch in Kairo hatte Shibli den führenden ägyptischen Reformer, Muhammad Abduh getroffen, der selbst ein Absolvent von Al-Azhar war und später zum Groß-Mufti von Ägypten wurde. Wie Shibli berichtet, war Abduh ziemlich unglücklich über den Niedergang der Bildung in Al-Azhar, dennoch stand er auch dem neuen Bildungsangebot höchst kritisch gegenüber, und bemerkte, dass die Absolventen letzterer „noch stärker irregeleitet sind“ (ebd., S. 164). In einem Werk, das gut 90 Jahre nach Shiblis Reisen veröffentlicht wurde, zitiert der führende pakistanische Modernisierer Fazlur Rahman († 1988) Shiblis vorangehende Beobachtungen und bemerkt dann dazu: „Dieses Dilemma, das Bildung in den Tagen von Shibli und Abduh charakterisiert hat [... ist] heute noch genauso real. Der Grund dafür ist, dass trotz eines weit verbreiteten und manchmal tiefen Bewusstseins über die Dichotomie der Bildung alle Bemühungen um eine echte Integration bis jetzt weithin fruchtlos geblieben sind“ (Rahman 1982, S. 130).

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Dieser Beitrag will einige Beispiele aus dem arabischen Nahen Osten und aus Südasien daraufhin untersuchen, wie Gelehrte aus den traditionellen islamischen Wissenschaften sich über die Notwendigkeit geäußert haben, die wahrgenommene Dualität der intellektuellen Traditionen in den islamischen Gesellschaften zu überbrücken oder zu transzendieren. Was erklärt das Andauern dieses Diskurses? Das heißt, ist die Langlebigkeit dieses Diskurses ihrerseits ausschließlich der Starrköpfigkeit der konservativen Ulama geschuldet? Was sind einige der latenten Ambiguitäten in den Ansichten der Brückenbauer unter den traditionalistischen Gelehrten? Und schließlich, was enthüllen dieser Diskurs und seine Ambiguitäten über Konzeptionen von Islam, Politik, religiöser Erziehung und über ihre Stellung in einer rapide sich verändernden Welt? Dies sind die sich überlagernden Fragen, die ich hier ansprechen möchte.

I. Ich beginne mit Muhammad Rashid Rida, einem syrischen Journalisten und Gelehrten, der im Jahr 1935 starb, nachdem er mehrere Jahrzehnte in Ägypten gelebt hatte. Sein großer Einfluss auf die Entwicklung der reformistischen Salafiyya-Bewegung ist weithin anerkannt, seine intellektuelle Ausbildung war dagegen eklektisch, aber ausreichend „tradionell“, um ihn als religiösen Gelehrten zu beglaubigen. Ridas Ansichten darüber, wo seine gelehrten UlamaKollegen auf dem falschen Weg waren, fanden häufig ihren Ausdruck in seinen Schmähreden über Taqlid. Taqlid1 war seiner Meinung nach nicht das grundsätzliche Festhalten an den Methoden und Doktrinen der frühen Gelehrten, sondern eine „blinde Imitation“ vergangener Autoritäten, mit der die Ulama die geistigen Fähigkeiten der Menschen abgestumpft und sie dadurch unfähig gemacht hatten, mit sich verändernden Notwendigkeiten auch sich selbst zu verändern. Wenn auch Rida in seiner Kritik an den Ulama und ihren Praktiken schonungslos war, so war er zugleich nicht weniger unnachgiebig in seiner Einschätzung der westlich orientierten Muslime (al-mutafarnijun). So, wie die erzkonservativen Ulama blind vergangenen Autoritäten folgten, waren verwestlichte Muslime ebenso blind in ihrer Ergebenheit gegenüber europäischen Modellen, was nach Ridas Meinung praktisch ihrer Apostasie vom Islam gleichkam. Im Raum zwischen diesen beiden Extremen sollten nach Ridas Wunsch Menschen auftreten, die der Gemeinschaft sowohl religiöse als auch politische Führung geben könnten. Bereits 1912 hatte Rida bei der Gründung einer – wie sich herausstellte, kurzlebigen – Bildungsinstitution in Kairo geholfen, der Madrasat al-da’wa wa’l-irshad, um ein Korps von religiösen Führern auszubilden, die aktiv mit den Angelegenheiten der Gemeinschaft befasst ––––––––––––––––––

1 „Nachahmung“; islamischer Rechtsbegriff, wonach jeder Muslim sein Handeln an der Rechtsschule auszurichten hat, der er qua Geburt oder durch Beitritt angehört – A.d.Ü.

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waren und in der Lage, sich der seiner Meinung nach heimtückischen Bedrohung durch die christlichen Missionare in den islamischen Gesellschaften entgegenzustellen, und die dem Neuaufbau der religiösen Grundlagen der Gemeinschaft verpflichtet sein sollten. Einige seiner nachhaltigsten Überlegungen zur Notwendigkeit einer neuen islamischen Führung hat er in der Abhandlung Das Kalifat dargelegt, die im Gefolge des Untergangs des osmanischen Kalifats im Jahr 1923 veröffentlicht wurde (Rida 1341 AH [1963]). In der klassischen sunnitischen Verfassungstheorie war die Wahl des Kalifen einer nur vage definierten Gruppe von Menschen anvertraut worden, die oft als ahl al-hall wa’l-’aqd bezeichnet wurden, was buchstäblich soviel heißt wie „Leute des Lösens und Bindens“. Mittelalterliche Rechtsgelehrte waren unterschiedlicher Auffassung darüber, wer diese auserwählte Gruppe konstituierte: führende Religionsgelehrte, Menschen mit politischer und militärischer Macht, oder eine beliebige Kombination von beiden. Für Rida „erfordert die islamische Reform [...] Menschen, die in Hinblick auf ihre Kenntnis der Scharia unabhängig sind, die auch in Bezug auf die politischen, sozialen, legalen, administrativen und finanziellen Interessen der Gemeinschaft sachkundig sind“ (ebd., S. 58). Rida forderte nicht mehr und nicht weniger als eine neue Art von öffentlichen und religiösen Intellektuellen, und noch weitergehend eine neue Art Muslim – eine Vision, die die Muslime einer späteren Generation mit Collegeund Universitätsausbildung bereits vorwegnimmt. Gläubig und doch weltlich sollten diese neuen Muslime über eine distinkte und selbstsichere islamische Identität verfügen, eine, die ihre eigene war, statt nur entweder die Fortführung einer an Taqlid gebundenen muslimischen Vergangenheit oder eine blinde Imitation des zeitgenössischen Westens. Nur solche Muslime, so glaubte er, könnten angemessen auf die nie da gewesenen Herausforderungen reagieren, die der Islam in einer sich rapide verändernden Welt zu bewältigen hatte. Ridas Vision stößt in vielen Kreisen nach wie vor auf Resonanz, bleibt aber zugleich schwer zu fassen.

II. Zu den vielen Bewunderern Ridas zählt auch der in Katar lebende ägyptische Religionsgelehrte Yusuf al-Qaradawi, wohl der einflussreichste sunnitische Religionsgelehrte der heutigen muslimischen Welt. Wie Rida hat sich auch Qaradawi seit langem für eine neue Art des religiösen Intellektuellen ausgesprochen, einen, der islamische und moderne Formen von Wissen kombiniert, „die Sprache der heutigen Zeit“ spricht und das verkörpert, was Qaradawi einen „Gemäßigten“ nennt – in selbstbewusstem Gegensatz zu jenen, die Extremen unterschiedlicher Art anhängen. Qaradawi spricht mit großem Stolz über seine Leitung des College of Higher Religious Studies in Doha, Katar, in den 60er Jahren, wo er versuchte, ein Bildungssystem zu fördern, das „das Al-

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te und das Neue kombiniert“. Diese Vision leitet ihn nach wie vor. Im April 2007 verkündete Qaradawi die Gründung eines College of Islamic Studies in Katars Education City, das einen akademischen Abschluss in islamischem Recht anbietet, um „Hochschulabsolventen hervorzubringen, die intellektuell, moralisch und technisch in der Lage sind, unser islamisches Erbe [...] mit modernen Problemen und Herausforderungen und deren Lösungen in Verbindung zu bringen“ (Gulf Times, 15. April 2007). Der bemerkenswerteste Versuch in Richtung einer Integration verschiedener Arten muslimischer Intellektueller in einen gemeinsamen Rahmen stammt von der International Union of Muslim Scholars, einer Organisation, die Qaradawi 2004 zu gründen half. Entsprechend ihrer Satzung ist diese Organisation offen „für Wissenschaftler, die Scharia- [...] und Islamstudien-Fakultäten verschiedener Universitäten aus der muslimischen Welt absolvierten. Sie ist ebenfalls offen für all jene, die großes Interesse an den Scharia-Wissenschaften und an der islamischen Kultur haben, und für jene, die namhafte und handfeste Ergebnisse [in diesen Wissenschaften] vorzuweisen haben“ („Satzung“, Artikel 4). Was an dieser Formulierung besonders auffällt, ist natürlich die Tatsache, dass sie es möglich macht, viel mehr Menschen der Ulama zuzurechnen als nur die in der Madrasa [islamische Hochschule] ausgebildeten Gelehrten. Und die mehr als 500 Personen, die auf der offiziellen Website dieser Organisation als Mitglieder aufgeführt sind, kommen tatsächlich aus vielen verschiedenen Gesellschaftsschichten und schließen Journalisten, Universitätsprofessoren, Führer islamischer Organisationen und Ulama einer eher konventionellen Art mit ein. Wie der Name nahe legt, soll diese internationale Union eine Allianz ähnlich gesinnter Menschen überall in der muslimischen Welt und darüber hinaus darstellen. Doch ungeachtet seiner Bemühungen, Muslime mit ganz unterschiedlichem intellektuellen Hintergrund in seine Zielgruppe aufzunehmen, bleibt Qaradawi kompromisslos in seinem Misstrauen gegenüber jenen, die er als den westlichen, säkularen Normen letztlich stärker verpflichtet ansieht als dem Islam und der muslimischen Identität. Paradoxerweise bildet ein solches Misstrauen einen entscheidenden Teil des Kontextes, in dem die Rhetorik des Brückenbauens über die Kluft zwischen rivalisierenden Traditionen weiterhin zum Ausdruck kommt. Selbst wenn dieses Vorhaben darauf abzielt, die Trennung zwischen Personen unterschiedlicher intellektueller Ausbildung aufzuheben und sie auf einem „gemäßigten“ Weg zusammenzubringen, ist es doch fest verankert in einer unverkennbar binären Sichtweise der Welt. Sie ist eine Welt, in der der Islam dem Westen gegenübersteht. Und zu den Absichten dieser Organisation gehört es, die muslimischen Ressourcen zu vereinigen und ein Bewusstsein für die wahrgenommenen westlichen Angriffe auf den Islam zu schaffen als Vorspiel dafür, sie zu bekämpfen.

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III. Ich wende mich nun von der arabischen Welt ins südliche Asien, um mich mit einigen Beispielen zu beschäftigen, wie dort die Ulama das dichotome Verhältnis zwischen rivalisierenden intellektuellen Traditionen gesehen haben. Die führende Institution des westlichen Lernens im muslimischen Indien, das Muhammadan Anglo-Oriental College, wurde 1875 in Aligarh gegründet; im Jahr 1920 wurde es zur Aligarh Muslim University (Lelyveld 1978). Sayyid Ahmad Khan, der Gründer dieser Institution, war überzeugt, dass Muslime keine andere Alternative hatten als die, Englisch und die modernen Wissenschaften zu lernen, denn nur auf diese Art und Weise waren sie konkurrenzfähig für Arbeitsplätze in der kolonialen Wirtschaft. Hierdurch jedoch wurde Aligarh, trotz einiger früherer Bestrebungen, auch grundlegende islamische Bildung anzubieten, zum Repräsentanten einer Seite der Dichotomie zwischen säkularer und religiöser Erziehung (cf. Lelyveld 1982). Die andere Seite dieser Dichotomie wurde durch die Deoband Madrasa vertreten, die 1867 im Gefolge der formellen Institutionalisierung der britischen Kolonialherrschaft im indischen Subkontinent gegründet worden war, um Muslimen eine Ausbildung zu ermöglichen, die auf islamische Grundlagentexte und islamisches Recht fokussierte. Über die letzten eineinhalb Jahrhunderte hinweg hat sich Deoband als eine bemerkenswert erfolgreiche Institution erwiesen. Tausende von Madrasas – in Indien, Pakistan, Bangladesh, Südafrika, Großbritannien und anderswo – haben mittlerweile eine „Deoband-Orientierung“ übernommen und Gelehrte und religiös-politische Aktivisten hervorgebracht, die einen langen Schatten auf viele Facetten des zeitgenössischen Islams geworfen haben (Metcalf 1982; Zaman 2002). Neben vielen standhaften Verteidigern haben Deoband und seine Schwesterinstitutionen auch immer wieder einen Anteil an Gelehrten hervorgebracht, die der Art von Lernen, die sie vermitteln, äußerst kritisch gegenüber stehen. Einer dieser Kritiker war Manazir Ahsan Gilani († 1956), ein überaus produktiver Gelehrter, zu dessen Schriften ein größeres Werk über islamische Erziehung in Südasien gehört. Nach seinem Abschluss 1914 hat Gilani kurz an der Deoband Madrasa gelehrt, wiewohl er den Großteil seiner Laufbahn an der theologischen Fakultät der Osmania University verbrachte, einer ansonsten säkularen Institution in Hyderabad in Indien. Gilanis zweibändiges Werk über islamische Erziehung, das einige Jahre vor der Teilung des indischen Subkontinents im Jahr 1947 veröffentlicht wurde, ist eine ausführliche, historische begründete Argumentation für eine Reform der muslimischen Erziehung in Indien (Gilani o.J. b). Gilani zeigt, dass der Kern der muslimischen Erziehung im mittelalterlichen und frühmodernen Indien einen bemerkenswert kleinen und feststehenden Korpus von Texten umfasst hat. Alles andere, so argumentiert er, war diesem Kern-Curriculum fremd und wurde entsprechend den Anforderungen der jeweiligen Zeit hinzugefügt

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oder entfernt. Doch dieses kleine religiöse Curriculum genügte, so führt er aus, um Religionsgelehrte von höchstem Kaliber hervorzubringen, Intellektuelle, die in ihrer eigenen Zeit wie auch in späteren Jahren hoch angesehen waren, nicht nur in Südasien, sondern auch in der weiteren muslimischen Welt. Entgegen der allgemeinen Überzeugungen in und außerhalb der Madrasa, so argumentiert Gilani, ist an vielem von dem, was in den Madrasas gelehrt wird, nichts Sakrosanktes. Solange bestimmte Schlüsseltexte beibehalten werden, können andere Texte und Disziplinen aufgegeben werden, um Raum zu schaffen für neue Texte, neue Wissenschaften, was genau das ist, was frühere Generationen von Madrasa-Gelehrten schon immer getan haben. Bestimmte Texte wurden nicht wegen ihres intrinsischen religiösen Wertes in das Curriculum der Madrasas aufgenommen, so sagt er, sondern vielmehr, weil sie in ihrer Zeit hilfreich waren, die intellektuellen Fähigkeiten der Studenten zu schärfen und zu verfeinern. Nach diesem Kriterium sollte es keine Einwände gegen eine kontinuierliche Neubewertung des Madrasa-Curriculums geben, um hierdurch Raum zu schaffen für neue Texte, Techniken und Wissenschaften. Wenn allerdings Madrasas auf einen großen Teil ihres Texterbes verzichten sollten, um Platz zu schaffen für neue Texte und Disziplinen, und zugleich ein Kerncurriculum religiöser Texte beibehalten, so sollten nach Gilanis Ansicht auch die westlich beeinflussten Institutionen die gleichen religiösen Texte in ihrem Curriculum haben. Sobald diese Texte installiert wären, würde der Rest des westlich beeinflussten säkularen Curriculums nicht länger eine ernsthafte Herausforderung für die muslimische religiöse Identität darstellen und es gäbe keine Dualität intellektueller Traditionen, keine intellektuelle Schizophrenie in muslimischen Gesellschaften. Gilanis Ideen hatten wenige konkrete Auswirkungen, obwohl sie weiterhin diskutiert wurden. Ein wichtiges jüngeres Beispiel dafür ist ein Buch über die Madrasa von Sayyid Salman Nadwi, dem Dekan der Scharia-Fakultät an der Nadwat al-Ulama, einer wichtigen Institution islamischen Lernens in Nordindien (Nadwi 2004). Seit dem Ende des 19. Jahrhundert hat die Nadwat alUlama versucht, die Kluft zwischen traditionellen und modernen Strömungen des Lernens zu überbrücken. Den Bemühungen war allerdings wenig Erfolg beschieden, wie Salman Nadwi eingesteht. Eher sind es diejenigen, die zur Tablighi Jama’at gehören, die die Trennung teilweise abgemildert haben. Dies ist eine bemerkenswerte Beobachtung, denn die Tablighi Jama’at ist kein Bildungsprojekt in einem konventionellen Sinn, sondern vielmehr eine weltweite Bekehrungsbewegung, die ihren Ursprung in Nordindien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte, mit dem Ziel, unwissende oder abgefallene Muslime mit den grundlegenden Normen ihres Glaubens vertraut zu machen. Die Tablighi Jama’at ist in weiten Teilen ein Produkt des Deoband-Milieus, obwohl die Führer der Tablighi-Bewegung im Gegensatz zu den Madrasabasierten Deoband-Ulama für ihr beträchtliches Misstrauen gegenüber jeglichem gelehrten Streben bekannt sind. Viele von denen, die mit dieser Bekeh-

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rungsbewegung assoziiert sind, haben eine moderne, westliche Ausbildung erhalten und dadurch islamische Sensibilitäten mit einer Ausbildung in einer westlich orientierten Institution verbunden. Während jedoch nach Salman Nadwis Ansicht die Tablighi Jama’at in der Lage waren, die „spirituelle Kluft“ zwischen Menschen unterschiedlicher intellektueller (Aus-)Bildungen zu reduzieren, bleibt die intellektuelle und kulturelle Kluft zwischen ihnen unberührt. Diese bleibende Kluft hat ihrerseits den Islamisten mit College- oder Universitätsausbildung ermöglicht, in das existierende Vakuum einzutreten, um, so legt Salman Nadwi nahe, der Gemeinschaft eine alles andere als erwünschte Führung zu bieten (Nadwi 2004, S. 258f.). Im Gefolge des 11. Septembers ist Salman Nadwi weiterhin für die Notwendigkeit eingetreten, die Entfernung zwischen den beiden Strömungen von Erziehung zu verringern. Aber die Verteidung der Madrasa nimmt nun eine zentrale Stellung ein. Diese Verteidigung ist zuweilen in schneidenden, xenophobischen Begriffen artikuliert worden und hat einen mitleidslosen Kampf zwischen einem bedrängten Islam und seinen Ulama auf der einen und westlichen Mächten auf der anderen Seite postuliert. Bei solchen Gelegenheiten klingt Salman Nadwi ziemlich ähnlich wie Qaradawi, der, wie gesagt, seine Bemühungen, die besonderen Dichotomien zu überwinden, von denen Muslime und islamisches Denken geplagt sind, in einem unnachgiebigen kulturellen und politischen Kampf zwischen Islam und dem Westen verankert. Echos auf Qaradawis Rhetorik müssen uns nicht überraschen, nicht nur wegen der Resonanz, die diese in manchen muslimischen Kreisen findet, sondern auch und spezieller noch aufgrund Qaradawis eigener Verbindungen mit der Nadwat alUlama. Qaradawi ist an der Nadwa in Lucknow ein geehrter Gast gewesen. Und Salman Nadwi fungiert nun als Kuratoriumsmitglied der besagten International Union of Muslim Scholars, die von Qaradawi im Jahr 2004 gegründet wurde. Ähnliche Thematiken wie die von Qaradwi und Salman Nadwi lassen sich auch in den Diskursen zeitgenössischer Deoband-Ulama in Pakistan klar erkennen. Beispielsweise hat Abu Ammar Zahid al-Rashidi, ein prominenter Deoband-Gelehrter, der mit der Nusrat al-Ulum-Madrasa in Gujranwala im Punjab assoziiert ist, in den letzten Jahren ausführlich über die Notwendigkeit geschrieben, das Curriculum der Madrasa zu überdenken und moderne Wissenschaften zu integrieren. Sein Argument ist, dass die Ulama die Möglichkeit und sogar die Verpflichtung haben, den Bereich ihrer Aktivitäten in der Gesellschaft auszuweiten, nicht nur, weil die Menschen ihre Führung suchen, sondern auch und in nicht geringerem Maße wegen des Versagens der staatlichen Bildungseinrichtungen und sonstiger Institutionen. Die Ulama können jedoch ihre Aktivitäten in der Gesellschaft nicht ausweiten, wenn sie nicht ihren intellektuellen Horizont verbreitern (vgl. al-Rashidi 2007, S. 303-305). Er argumentiert auch, dass die Besten der frühen Ulama immer danach getrachtet haben, Herausforderungen des Islam zu bekämpfen, indem sie sich die Werk-

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zeuge derer angeeignet haben, die die betreffende Herausforderung darstellten. „Als die griechische Philosophie in unserer Gesellschaft bekannt wurde und begonnen hatte, unser Glaubenssystem zu affizieren, haben unsere führenden Persönlichkeiten wie Abu’l-Hasan al-Ash’ari, Abu Mansur al-Maturidi, Ghazali, Ibn Rushd und Ibn Taymiyya sich die griechische Philosphie angeeignet. Und sie haben die Wahrheit und Überlegenheit der islamischen Überzeugungen bestätigt, indem sie auf die Widersprüche und Zweifel reagierten, die durch die griechische Philosophie erzeugt worden waren, und sie hatten dies getan, indem sie deren eigenes technisches Vokabular verwendeten“ (alRashidi 2007, S. 306). Zahid al-Rashidi scheint wenig Zweifel daran zu hegen, dass es heute einen zivilisatorischen Konflikt zwischen Islam und dem Westen gibt. „Islamische Normen und muslimische Identität werden im Namen der Menschenrechte und der Globalisierung angegriffen“, so sagt er und klingt dabei ganz ähnlich wie Qaradawi. Und es ist Sache der Ulama, „die intellektuellen, religiösen und kulturellen Aspekte dieses Konflikts zu problematisieren, diese Aggression mit modernen philosophischen und anderen intellektuellen Waffen zu bekämpfen und Muslime gegen diese Sintflut zu verteidigen, indem sie Barrieren bauen in Form von Erziehung und Bildung, Bekehrung, Reform und intellektuellem Erwachen“ (ebd., S. 298).

IV. Wie erklären wir das Andauern dieses Diskurses über die Notwendigkeit, die Dualität intellektueller Traditionen in muslimischen Gesellschaften zu überbrücken? Wenn wir dieser Frage nachgehen, sollten wir zunächst zur Kenntnis nehmen, dass in der Tat wichtige Entwicklungen stattgefunden haben, um die zwei Strömungen in verschiedenen Kontexten einander anzunähern. In Ägypten haben die Reformen der Azhar-Universität im Jahr 1961 eine Anzahl von Fakultäten etabliert, um neben den drei existierenden Fakultäten, die dem Studium des Arabischen und des Islam gewidmet sind, die modernen Wissenschaften zu unterrichten. Auch wenn sie von ihren Wirkungen her durchschlagend waren, hatten diese Reformen auf Jahrzehnte früherer Reforminitiativen aufgebaut, die in eine ähnliche Richtung gingen (Zeghal 1995). Viele indische Madrasas sind letzten Endes eng in den Bildungs-„Mainstream“ integriert worden, und selbst jene Madrasas, sowohl in Indien wie auch in Pakistan, die demonstrativ den staatlichen Anstrengungen widerstehen, sie zu regulieren, haben sich für die Inhalte von öffentlichen Schulen geöffnet, auf Grundschulniveau und manchmal weit darüber hinaus (vgl. Metcalf 2007; Zaman 2007). Am anderen Ende des Spektrums vermitteln öffentliche Schulen in vielen muslimischen Ländern grundlegende islamische Bildung als Teil ihres Curriculums. Darüber hinaus haben gewöhnliche Gläubige ihre eigenen Schritte unternommen, religiöses und säkulares Lernen zu integrieren. Wie Matthew Nel-

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son mit Bezug auf die Einstellungen zu islamischer Erziehung im heutigen Pakistan gezeigt hat, „geht die überwältigende Mehrheit die eigenen Bildungsoptionen (z. B. religiöse versus nicht religiöse Ausbildung) nicht im Sinne eines Nullsummenspiels an. Stattdessen [...] tendieren die meisten Familien dazu, eine Art vorsichtiges Gleichgewicht zu konstruieren, das beide Formen von Erziehung zur gleichen Zeit umfasst“ (Nelson 2009, S. 5). Im heutigen Indien verweist Salman Nadwis oben genannte Beobachtung, dass die Tablighi Jama’at als Brücke zwischen religiösem und säkularem Lernen fungieren, auf informelle Mechanismen, mit deren Hilfe gewöhnliche Gläubige oft in der Lage waren, rivalisierende Strömungen des Lernens einander näher zu bringen. Obwohl viele reformorientierte Ulama solche Entwicklungen anerkennen, gehen die Debatten über die Notwendigkeit, die Distanz zwischen den rivalisierenden Strömungen zu überbrücken, ungehindert weiter. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dies zu erklären. Auf der einen Seite sind, unabhängig von diesen langweiligen dichotomen Nebeneinanderstellungen, diese Trennungen nach wie vor durchaus real: Es gibt eine erhebliche Uneinigkeit in vielen muslimischen Gesellschaften darüber, ob und wie man religiöse und säkulare Formen des Wissens einander näher bringen kann. Nicht wenige der Ulama bestehen schließlich nach wie vor darauf, die Reinheit ihres religiösen Lernens zu bewahren, und selbst jene, die nach Reformen rufen, gehen oft so weit, sich selbst das Vorrecht vorzubehalten, den Weg und die Geschwindigkeit der Reform zu bestimmen. Und das Denken in Begriffen der religiös-säkularen Trennung ist auch keine Innovation der Ulama. Viele von ihnen würden, nicht ohne eine gewisse Berechtigung, behaupten, dass die Begriffe dieser Debatte ihnen durch die Welt, in der sie leben, aufgedrängt wurden – insbesondere durch die koloniale und postkoloniale Elite – und dass die Ulama nun lediglich versuchen, deren schädliche Wirkungen zu mildern. Es ist verlockend, auch auf andere Art und Weise über die Hartnäckigkeit dieses Diskurses nachzudenken. Insofern sie sich diesen Diskurs zu eigen gemacht haben, könnte er nicht ein Mittel sein, das die Ulama gesucht haben, um Teile des Durcheinanders sozialer, religiöser und intellektueller Konflikte wieder zu ordnen, das sie um sich herum vorfinden? Auch wenn diese neue Dichotomie zwischen religiösem und säkularem Lernprozess ihre eigenen beträchtlichen Herausforderungen mit sich bringt, dient sie uns auch dazu, so kann man sagen, eine beträchtliche Anzahl anderer Konflikte aus dem Zentrum der Bühnen zu entfernen, sagen wir einmal, zwischen und unter Muslimen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, politischer und intellektueller Richtungen, unter rivalisierenden Denkschulen, unter Menschen mit unterschiedlichen Verpflichtungen. Historisch hatte die Sunni-Tradition gelernt, mit diesen wirren und oft unlösbaren Konflikten zu leben (vgl. Crone 2004, S. 389f.). Der neue Konflikt zwischen religiösem und säkularem Lernen könnte vielleicht als ein Weg betrachtet werden, um zumindest rhetorisch einigen dieser früheren

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Trennungen ein Ende zu bereiten im Interesse einer einfacheren, eher stromlinienförmigeren islamischen Identität – eine, die in der Hoffnung verankert ist, religiöse und weltliche Formen des Wissens zu kombinieren – und die heutigen Muslime in dieser Hoffnung zu vereinen. Wie Matthew Nelson in der oben erwähnten Untersuchung argumentiert hat, findet die Idee, dass es einen einzigen wahren Islam gibt und dass die Muslime partikularistisch-sektiererische und andere Bindungen ignorieren oder überwinden sollten, um sich in der Zuwendung zu diesem Islam zu vereinen, große Resonanz in breiten Schichten der pakistanischen Gesellschaft. So ziemlich das Gleiche kann von den Muslimen in vielen anderen Gesellschaften gesagt werden. Der Diskurs, wie man den Graben zwischen säkularem und religiösem Lernen überbrücken könnte, scheint den Islam selbst als eine homogene, miteinander geteilte Entität zu postulieren (vgl. Nelson 2009), so dass alles, was übrig bleibt, eine Frage des nahtlosen Kombinierens mit modernen Formen des Wissens ist. Man muss jedoch nicht sehr tief graben, um zu sehen, dass ein großer Teil des Streits um Fragen der Politik, um den Islam und um den Platz der Muslime in der Welt tatsächlich ein wenig unterhalb der Oberfläche solcher langweiligen Dichotomien liegt. Obwohl zum Beispiel die Fragen einer Reform der Bildung ganz offensichtlich eng mit Politik verbunden sind, gibt es keine gemeinsame, übergeordnete Konzeption muslimischer Politik, in der Fragen der religiösen Erziehung verankert sind. Rida und Qaradawi streben eine religiös-politische Ordnung in ihren unterschiedlichen Kontexten an, wie wir gesehen haben. Den Graben zwischen dem Religiösen und dem Weltlichen zu überbrücken oder zum Einsturz zu bringen, bedeutet für Rida ein Mittel für die Herausbildung einer neuen politisch-religiösen Elite. Für Qaradawi ist es ein notwendiger Schritt dahingehend, ein globales islamisches Bewusstsein zu stärken – eine alternative Globalisierung – angesichts dessen, was er als die westliche neo-imperialistische Bedrohung ansieht. Für Zahid al-Rashidi wie auch für Qaradawi ist das ein zentraler Weg zur Stärkung der muslimischen Verteidigung in dem neuen zivilisatorischen Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen. Im heutigen Indien spricht Salman Nadwi ebenfalls in manichäischen Begriffen über den Islam im Verhältnis zu einem großen Teil der übrigen Welt. Dennoch bauen Nadwis Forderungen nach einer politischen Mobilisierung der Muslime, anders als jene Ridas und Qaradawis, nicht auf einem Pan-Islam auf oder auf Hoffnungen, einen islamischen Staat zu gründen, sondern eher auf einem Zugehörigkeitsgefühl zu Indien und der Forderung nach islamischen kulturellen und politischen Rechten auf dieser Basis. In einer früheren Generation war Manazir Ahsan Gilani einer der zahllosen anderen Ulama, die entschieden hatten, zum Zeitpunkt der Teilung des indischen Subkontinents nicht von Indien nach Pakistan zu emigrieren. Dies brachte die Überzeugung solcher Ulama zum Ausdruck, dass der Islam nicht von einer politischen Autorität abhing, um aufblühen zu können, eine Schlussfolgerung, die ihre Vorgänger bereits anlässlich der britischen Kolonialherr-

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schaft gezogen hatten. Islamische Bildung war ein entscheidendes Mittel, um muslimische Identität zu bewahren, doch nach Gilanis Ansicht konnte diese Bildung durchaus mit modernen, säkularen Disziplinen integriert werden – genau wie dies die Muslime in früheren Zeiten getan hatten gemäß den Imperativen jener Zeiten. Hier gibt es eine teilweise Analogie zu Gilanis minimalistischer Konzeption islamischer Bildung in seiner Ansicht, dass der Koran nicht gedacht werden solle, „als enthalte er alles“ (Gilani o.J. a, S. 112f., 118129). Die Implikation dieses Punktes – den er Anwar Shah Kashmiri zuschreibt, einem seiner Lehrer in Deoband – ist natürlich, dass Bemühungen, alles Wissen und Rechtfertigungen für alle menschlichen Unternehmungen – von den modernen Wissenschaften bis zur Politik – im Koran wiederzufinden, irregeleitet sind. Diese Position steht in einem deutlichen Spannungsverhältnis zur Auffassung vieler Islamisten, einschließlich Sayyid Abu’l-A’la Mawdudi aus Pakistan, dass Muslime den Koran als Ausgangspunkt allen Wissens, Naturwissenschaften eingeschlossen, betrachten sollten (vgl. Mawdudi 1972, S. 93). Gilanis Ansicht steht auch in scharfem Gegensatz zu Rashid Ridas Überzeugung, es ließe sich zeigen, dass die Lehren des Koran sich auf alle Facetten des Lebens ausdehnen lassen. Wie Ahmad Dallal darlegt, war „in einem Zeitalter der immer weiter zunehmenden Macht des Nationalstaates Rida eine Rechtssprechung, die ,alle Aspekte des Lebens abdeckte‘, angemessener erschienen als ein Rechtskode, der nicht beanspruchte, alle Aspekte des Lebens erschöpfend zu behandeln“ (Dallal 2000, S. 356f.). Genau wie der moderne Nationalstaat wollte auch Rida, dass das Bildungssystem Menschen mit einer gemeinsamen Kultur hervorbringt, denn, wie er in einem Vortrag in Aligarh 1912 ausführte, genauso wenig wie ein Gebäude eine sichere Grundlage hat, das sich auf Steine unterschiedlichster Formen und Größen stützt, genauso wenig wird die muslimische Gemeinschaft erfolgreich sein, wenn die Mitglieder aufgrund ihrer intellektuellen Ausbildung miteinander zerstritten sind (alManar, 15/8 [1912], S. 573). Rida scheint hier eine eher merkwürdige Allianz stiften zu wollen zwischen den angeblich geteilten Überzeugungen der frommen Vorfahren einerseits und der Art von Homogenität, die moderne Nationalstaaten zu fördern suchen, andererseits (vgl. Gellner 1983). Gilani seinerseits hatte ein deutlich weniger homogenes Ergebnis im Auge, als er seine minimalistische Kombination modernen und islamischen Lernens vorschlug. Zu den Spannungen, die uns am Ende übrig bleiben, gehört das Folgende. Auf der einen Seite gibt es ganz deutlich breite und wachsende Übereinstimmung in den Reihen der führenden Ulama ebenso wie zwischen den Ulama und anderen religiösen Intellektuellen (und in der Tat zwischen den Ulama und gewöhnlichen Gläubigen), dass es wünschenswert, ja sogar eine Angelegenheit von großer Dringlichkeit ist, den Graben zwischen unterschiedlichen intellektuellen Traditionen zu überbrücken. Auf der anderen Seite gibt es keinen Konsens darüber, welcher Graben es genau ist, der am dringlichsten überbrückt werden sollte, noch darüber, warum diese Anstrengung der Mühe wert ist.

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Wir können diese Spannungen auf mehr als nur eine Weise auffassen. Die Tatsache, dass viele religiöse Intellektuelle seit langem kontinuierlich die Unverträglichkeit intellektueller Traditionen in ihren Gesellschaften beklagt haben, legt natürlich nahe, wie schwierig dieses Problem zu bewältigen ist und wie schwer fassbar die Aussichten für überzeugende Lösungen welcher Art auch immer sind. Auf dem Spiel stehen konkurrierende Auffassungen davon, welche Art Bildung die muslimische Jugend erhalten sollte, wie die Interessen des Islam am besten gefördert werden, welche Visionen von Politik – und von der Welt – eine Bildungsreform leiten sollten. Selbst wenn der Grundsatz anerkannt wird, dass säkulares und religiöses Wissen in ein gemeinsames Bildungssystem zusammengebracht werden sollten, bleibt die praktische Umsetzung dieses Grundsatzes eine mit Misstrauen beäugte Angelegenheit. Und erhebliches Misstrauen kennzeichnet weiterhin die Beziehungen zwischen jenen, die aus islamischen Institutionen des Lernens hervorgegangen sind und jenen, die westliche Colleges und Universitäten absolviert haben. Eine andere Weise, dieses Problem zu betrachten, lässt es naheliegend erscheinen, dass die wahrgenommene Dichotomie zwischen säkularem und religiösem Lernen, oder die Spannung zwischen einer zunehmenden Übereinstimmung, diese Dichotomie zu überwinden, und dem Fehlen einer wirklichen Übereinstimmung darüber, wie dies zu geschehen hat, ihrerseits einen fruchtbaren Boden darstellt für neue Wege des Denkens über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Islam, Bildung und Politik. Die Ulama würden dies nicht so sehen, noch würden sie zugestehen, dass sie mit etwas anderem beschäftigt sind als dem bloßen Bewahren und Verteidigen islamischer Normen in ihrer ursprünglichen Reinheit. Aber in Südasien und im Nahen Osten erbringen sie – gemeinsam mit vielen anderen – weiterhin wichtige, wenngleich ambivalente Beiträge für ein solches Umdenken. Aus dem Amerikanischen von Ursula Liebing

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Abu Yaareb Marzouki

RELIGIÖSE REFORMATION UND ISLAMISCHE BILDUNG

Einleitung Die muslimische Einheit als religiöser und ethischer Bund ist das höchste spirituelle Ziel. In Gestalt politischer und wirtschaftlicher Solidarität sollte sie auch die höchsten weltlichen Mittel darstellen, ohne die der Islam keine Rolle in der Universalgeschichte spielen würde. Das Erkennen der Beziehung zwischen diesen beiden Dimensionen der islamischen Einheit und der Realisierung ihrer Erfordernisse bildet den Grundpfeiler der sahwa (‫اﻟﺼﺤﻮة‬, Klarheit, Bewusstheit). Wir werden in diesem Beitrag zwei Fragen zu beantworten versuchen, die mit den Pathologien unseres ethischen Willens und unseres rationalen Bewusstseins zu tun haben und deren Eigenarten die islamische Bildung korrumpiert und damit einen intellektuellen und institutionellen Niedergang konsolidiert und den Zwiespalt des islamischen Geistes (mind) und der islamischen Realität verstärkt haben. Dieser erkundende Essay führt die theoretischen und praktischen Diagnosen näher aus, die vier unserer großen Denker vorgelegt haben, von denen sich zwei systematisch mit der theoretischen Dimension des Problems befasst haben: al-Ghazali und Ibn Rushd.1 Die beiden anderen haben systematisch die praktische Seite untersucht: Ibn Taimiyya und Ibn Khaldun.2 –––––––––––––––––– 1 Das Anliegen al-Ghazalis war eine vor-kritische Diagnose. Sein Abschließen gegenüber externen Einflüssen führte paradoxerweise zur Begründung einer neuen Synthese philosophischen und religiösen Denkens. Er versuchte unser Denken von den Konflikten zwischen fiqh [islamische Rechtswissenschaft] und tasawwuf [Sufismus] und zwischen kalam [islamische Theologie] und Philosophie zu befreien. Seine doppelte Kritik der sunnitischen Reduktion von Religion auf fiqh und der schiitischen Reduktion auf Politik bildet einen guten Ausgangspunkt für die Erneuerung der Kritik der sahwa. Ibn Rushd [Averroës] zielte auf eine restaurative Diagnose. Seine Übernahme externer Einflüsse führte paradoxerweise zur Begründung einer absoluten Trennung zwischen der Religion als „'ammi“-Denken [des Volkes] und der Philosophie als khassi-Denken [der Elite]. Er übernahm die aristotelische Philosophie als endgültiges und universales Wissen. [Erläuterungen in eckigen Klammern vom Übers.] 2 Ibn Taimiyyas Vorhaben war eine kritische theoretische Diagnose, die auf die Überwindung des Hindernisses der Metaphysik abzielte, die Ibn Rushd als einziges, universales theoretisches Wissen postuliert hatte, und des Pantheismus, den Ibn Arabi als einzige, universale Religion darstellte. Eine alternative theoretische Epistemologie und Ontologie war sein erstes Anliegen, aber dessen tieferer Zweck war eine Neubegründung der Ethik und des Glaubens in menschlicher Freiheit und Verantwortung. Während er die avancierteste theoretische Philosophie und Mystik praktizierte, schloss er alle Faktoren aus, die das Denken mit einer ange-

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Die Absicht dieses Beitrags ist es, die gravierenden Konsequenzen der reaktiven Haltung gegenüber den exogenen Faktoren zu verstehen, die das Denken und Handeln derjenigen, die sie übernahmen, ebenso bestimmt haben wie das derjenigen, die sie ablehnten, ohne das universale Prinzip der Kreativität in irgendeiner genuinen Kultur zu finden.3 Auf die gegenwärtige Situation unserer intellektuellen und institutionellen Geschichte angewandt, scheint diese Beschreibung keinen Zweifel zuzulassen. Niemand kann die Verschlimmerung dieser reaktiven Haltung und die damit verbundene Abhängigkeit auf den Ebenen der intellektuellen und institutionellen Dispositionen unserer gegenwärtigen Kultur bestreiten. Diese reaktive Haltung ist entweder ein imitatives Nachäffen4 der exogenen Faktoren oder ein repetitives Nachäffen5 unserer Vergangenheit. Dies, so glaube ich, sind die beiden ethischen und existentiellen Pathologien, die unsere historischen Ambitionen gelähmt und jede Mög–––––––––––––––––– messenen historischen Wirkmächtigkeit hätten ausstatten können. Eine nur religiöse Aufklärung kann nicht anders, als die technischen und symbolischen Wirkungen der menschlichen Vernunft auszuschließen, d. h. Wissenschaft und Technik auf der einen, Ästhetik und symbolische Wirkmächtigkeit auf der anderen Seite. – Ibn Khalduns Vorhaben war eine unmittelbar praktisch-kritische Diagnose, die auf die Überwindung des Hindernisses der Meta-Geschichte abzielte, wie sie die schiitische Sicht und Ibn Arabis Mystizismus als einziges, universales praktisches Wissen postuliert hatten. Eine alternative praktische Epistemologie und Axiologie war sein primäres Anliegen. Aber auch er schloss die Faktoren aus, durch welche praktische Philosophie und Mystik das Denken mit historischer Wirkmächtigkeit hätten ausstatten können. Sterile religiöse und wissenschaftliche Aufklärung ohne technische und symbolische Wirksamkeit der Vernunft war das einzig mögliche Ergebnis einer Erneuerung, die von Ibn Taimiyya und Ibn Khaldun auf objektive und subjektive Verkürzungen von idjtihad und djihad [zu beiden s. u.] gegründet wurde. Dies sind die eigentlichen Ursachen für den Fehlschlag der kritischen Schule. Sie stellen vielleicht auch die Hauptursachen für die Mängel der sahwa dar, welche von der kritischen Rolle dieser beiden Philosophen tief inspiriert war. 3 Dieses Prinzip ist universal: Die Distanz zwischen dem Potentiellen und dem Aktualen ist keine Distanz zwischen zwei realen Entitäten, sondern zwischen einer ideellen Entität, die nirgendwo verwirklicht ist, und einer wirklichen potentiellen Entität. Das Phänomen ist zwiefältig: das ethische Ideal für das moralische Handeln und das theoretische Ideal für das praktische Handeln. Die theoretische Vernunft erzeugt über ihre theoretische Imagination eine ästhetische und technische Vision des Seins, die praktische Vernunft erzeugt über ihre praktische Imagination eine ethische und politische Vision von Werten. Dies sind die transzendentalen Bedingungen zivilisatorischer Schöpfung. Die beiden Formen des Ideals sind nicht einfach von der menschlichen Einbildungskraft erfundene Träume. Sie sind die Spuren der göttlichen Transzendenz. Sie mit realen Entitäten zu identifizieren (wie der westlichen Gegenwart und der islamischen Vergangenheit) macht sie zur Quelle der Idolatrie: Die göttliche Transzendenz wäre materialisiert in Götzenbildern. Dies ist die wahre shirk [Sünde]. Die Muslime, ihre säkularen wie ihre religiösen Vertreter, sind Mushrikun [Polytheisten]. Sie können nicht unabhängig sein und sind folglich unfähig zur Kreativität auf jeder Ebene ihres theoretischen und praktischen Denkens, zu schweigen von dessen symbolischen und institutionellen Anwendungen. Unser gegenwärtiges Dasein ist so auf eine absolute ontologische Abhängigkeit reduziert. Die einzige Möglichkeit geistlicher und weltlicher Befreiung muss aus der Vertiefung der islamischen Revolutionen erfolgen, aus den tieferen Bedeutungen von idjtihad und djihad 4 Euphemistisch Modernisierung genannt: tahdith. 5 Euphemistisch Authentifizierung genannt: sil'ta.

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lichkeit genuiner Erfahrung eliminiert haben, und ipso facto jede Möglichkeit zur Innovation und Schöpfung in unserer modernen Geschichte. Die muslimische Elite unserer Zeit sollte den entscheidenden Charakter dieser Debatte anerkennen. Sie bleibt bestimmend, weil die gegenwärtige Krise nicht überwunden werden kann, ohne diese Pathologien radikal in Angriff zu nehmen. Wir sollten die couragierte Haltung der erwähnten Philosophen annehmen, um ihre Analyse zu vertiefen und radikale Lösungen vorzuschlagen, die in der Lage sind, den Geist des historischen Unternehmens als conditio sine qua non für jede Innovation und Kreativität wieder in Kraft zu setzen. Tatsächlich können wir der Abhängigkeit als permanenter mentaler und kultureller Struktur, deren Gründe tiefer liegen als die gegenwärtigen Umstände unserer Beziehung zum modernen Westen, nicht entkommen, bevor wir nicht die Ursachen des Zusammenbruchs der islamischen Kreativität zurückverfolgen, die identisch mit dem Prinzip der islamischen Einheit ist.6 Dabei sind die reaktive Haltung und die damit implizierte Abhängigkeit nicht neu, denn wie wir sehen werden, entstammen sie wissentlich oder unwissentlich sowohl dem falschen Verständnis der islamischen theoretischen und praktischen Visionen als auch der historischen Neutralisierung dieser Visionen dank der antagonistischen Konstellation unserer theoretischen und praktischen Wissenschaften und ihrer Anwendungen.7 1. Wir sollten couragiert anerkennen, dass nach dem Ereignis der prophetischen Mission jede ernsthafte Entwicklung in unserem Denken und Handeln (ebenso wie in den Institutionen) in überwältigender Weise von einer reakti–––––––––––––––––– 6 Die Einheit einer Gemeinschaft ist an erster und wichtigster Stelle ein spirituelles und moralisches Prinzip. Ihr Wert und ihre Macht werden von ihren phänomenalen Manifestationen bezeugt, d. h. den kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Einheiten. Wir können die quantitative Stärke der ersteren an der Ausdehnung der letzteren ermessen. Aber ihr qualitativer Wert kann nur an der aktiven Handlung der Innovation und Neuschöpfung durch die Gemeinschaft und die sie konstituierenden Personen gemessen werden. Nur einige Spuren der qualitativen Dimension des islamischen Prinzips erhalten die Einheit der Muslime weiterhin aufrecht. Das qualitative Prinzip selbst scheint entschwunden. Es muss wiederbelebt werden. Die Suche nach den theoretischen Bedingungen dieser Wiederbelebung ist der Zweck allen modernen authentisch islamischen Denkens. 7 Wir können die Architektur der islamischen Wissenschaften als antagonistisches Doppelpaar von Disziplinen darstellen: falsafa [(reine) Philosophie] und kalam auf der einen Seite, tasawwuf und fiqh auf der anderen. Die Partner beider Paare neutralisieren sich gegenseitig. Unser erstes Interesse gilt der Neutralisierung im ersten Paar. Tatsächlich wurde kalam dank der geistlosen Vertretung einiger Formeln des religiösen Dogmas auf eine negative Philosophie reduziert. Falsafa wurde dank geistloser Vertretung einiger Formeln des metaphysischen Dogmas auf das Gegenteil reduziert, auf eine negative Theologie. Die theoretische Vernunft wurde zum Anwalt der Ideologie, dessen einzige Aufgabe die Verteidigung der existierenden doxa war, ohne jede Ambition der Wahrheitssuche. Wie können wir Wahrheit suchen, wenn wir glauben, ihre endgültigen Formulierungen zu besitzen? Und wie können wir Muslime sein, wenn wir nicht erkennen, dass dieser Glaube die absolute Negierung des ghaib [das „Verborgene“ in Bezug auf Allah und die Kräfte, die die Welt gestalten] bedeutet? Die Suche nach Wahrheit ist unendlich, weil ghaib unmöglich zu erschöpfen ist. Daher hat Abraham (as) keine letzte Antwort auf seine Frage erhalten: Seine Frage bezieht sich auf die Essenz Gottes, während der Glaube an seine Existenz außerhalb jeden Zweifels steht.

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ven Haltung gegenüber äußeren Einflüssen geprägt war. Man vermag kaum ein Handeln aus endogenen Motiven zu finden, d. h. in Übereinstimmung mit den islamischen Vorschriften selbst, da sie entweder ignoriert oder vernachlässigt wurden. 2. Wir sollten die Anstrengungen der erwähnten Denker weiterführen, um den tieferen Grund dieses Verhaltens zu bestimmen und zu verhindern, dass die weitere Entwicklung unseres Denkens und Handelns (und der Institutionen) eine oberflächliche Anstrengung bleibt, die hin und herläuft zwischen einer reaktiven Verweigerung und einer reaktiven Imitation der Schöpfungen anderer Zivilisationen oder unserer eigenen Vergangenheit, oder beider. Diese schmerzvollen Pathologien stehen auch in Bezug zum Problem der Spaltung unserer umma [religiöse Gemeinschaft aller Muslime]. Tatsächlich bestimmt die anhaltende Verweigerung der Befassung mit ihnen gerade die Wurzeln der spirituellen und politischen Spaltung. Dieser Beitrag geht davon aus, dass eben die Selbst-Verhinderung der islamischen theoretischen und praktischen Revolutionen die Ursache der geistlichen und politischen Spaltung des Islams ist. Wir glauben, dass die Wiederaufnahme des couragierten Anfangs der von unseren großen Denkern aufgestellten Diagnosen die notwendige Bedingung für eine progressive und aktive Vereinheitlichung unseres Denkens und unserer Wirklichkeit darstellt. Wir werden uns mit jener Verhinderung in zwei Schritten befassen: 1. Auf welche Weise ist der Islam als kontinuierliche Reformation behindert worden bis zum Zusammenbruch des Prinzips der Kreativität der islamischen umma? 2. Warum ist die anhaltende Reformation die einzige Möglichkeit für den Islam, seinen revolutionären Merkmalen gerecht zu werden? Der erste Schritt wird versuchen, die tieferen Ursachen zu bestimmen, die die kontinuierliche Reformation insbesondere durch die Deformierung unseres Bildungssystems behindert haben, um die geeigneten Bedingungen der islamischen Revolution wiederzubeleben. Die Wiedereinsetzung der theoretischen und praktischen islamischen Revolution als anhaltende Reformation ist in der Lage, das Prinzip der Vitalität und Kreativität zu schärfen und folglich den fundamentalen Hebel für die islamische Einheit zu liefern. Der zweite Schritt wird versuchen, die Bedeutung der islamischen Revolution als kontinuierliche Reformation zu bestimmen, sowie die Formen der Erneuerung, die diese anhaltende Reformation ermöglichen werden. Das Verständnis für die Charakteristiken dieser Revolution wird auch zum Verständnis ihrer Hindernisse beitragen, die theoretischen und praktischen islamischen Revolutionen wiederbeleben und in der Folge die geistliche und moralische islamische Einheit als conditio sine qua non der kulturellen und politischen Einheit herstellen.

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Erster Schritt: Wie wurde die kontinuierliche Reformation behindert? Der revolutionäre Charakter der islamischen kontinuierlichen Reformation ist weder leicht einsichtig noch geradeheraus anzuwenden.8 Durch die von ihm bestimmte Beziehung zwischen den religiösen transzendenten Zielen und den historischen Mitteln ihrer Verfolgung hat der Islam die erfolgreiche Realisierung seiner Werte zu einem aufsteigenden geschichtlichen Prozess erklärt, sich abhebend von der gegensätzlichen Vorstellung einer anhaltenden Entfernung der menschlichen Zukunft von einem goldenen Zeitalter, die auf einen zwangsläufigen Verfall zuläuft. Dieser aufsteigende Prozess basiert im Islam auf zwei Vorstellungen, die sich von derselben arabischen Wurzel ableiten, ‫د‬.‫ﻩ‬.‫( ج‬j-h-d, sich anstrengen, bemühen). Die erste Vorstellung ist die Essenz der angewandten theoretischen und praktischen Vernunft: djihad. Die zweite Vorstellung ist idjtihad, die Essenz der abstrakten theoretischen und praktischen Vernunft. Die Inversion der islamischen Vision von Geschichte hat die Möglichkeit jeder ernsthaften epistemologischen und ethischen Implementierung dieser beiden Vorstellungen ausgeschlossen. Wir müssen daher die geschichtlichen und die konzeptuellen Ursachen dieser unglücklichen Inversion entschleiern. Historische Untersuchung Die historische Untersuchung vermag das systematisierte Entleihen zu verdeutlichen, von dem fast all unsere Institutionen in hohem Ausmaß geprägt sind. Diese rezeptive Haltung war Resultat sowohl einer Dringlichkeit des Handelns vor dessen solider theoretischer Begründung als auch einer allgemeinen Konfusion zwischen al-bara'a al-asliyya (‫ – اﻟﺒﺮاءة اﻷﺻﻠﻴﺔ‬Werte werden durch menschliches Urteil erzeugt) und istishab al-hal (‫ – اﺳﺘﺼﺤﺎب اﻟﺤﺎل‬der Mensch sollte die Dinge akzeptieren wie sie sind).9 Diese institutionelle Situation geht einher mit dem rechtlichen idjtihad als allgemeinem Verhalten, wodurch unsere Schüler, nach anfänglichem Widerstand und Ablehnung, durch eine weit hergeholte Rechtfertigung a posteriori die Übernahme der von anderen Kulturen vorgegebenen Lösungen legitimieren. –––––––––––––––––– 8 Der grundlegende hygienische Hintergrund der islamischen Revolution reflektiert diese Schwierigkeit viel besser als jeder weitere Kommentar: Die hygienische Vision des Körpers als Voraussetzung der religiösen Verpflichtungen ist im islamischen Leben ganz unmöglich zu erfüllen ohne eine neue Vision der Stadt und der sozialen Organisationen. 9 Die entliehenen Denkweisen und Institutionen entsprechen keinem Naturzustand, sondern sind ein kulturelles Erzeugnis, das die Vision eines „objektiven Geistes“ [dt. i. Orig.] ausdrückt, deren Übernahme der Analyse und Interpretation bedarf. Jeder istishab al-hal ist daher wissentlich oder unwissentlich eine geistliche Demission des eigenen intellektuellen und ethischen Bemühens, wenn er ohne vorherige philosophische Untersuchung durchgeführt wird.

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Diese Haltung begann mit der Übernahme der Institutionen des byzantinischen und des persischen Reichs und dauerte an bis zur Übernahme der westlichen Organisation aller Aspekte unseres Lebens und vor allem unserer politischen, Bildungs- und Wirtschaftssysteme, zu schweigen von Form und Inhalt unserer theoretischen und praktischen Denkweisen. Der Grund ist offensichtlich der Zusammenbruch der theoretischen Kreativität und praktischen Innovation im Islam. Keine vergangene Ära der islamischen Zivilisation nach der prophetischen Phase kann ein Zufluchtsort vor fremdem Einfluss sein. Unsere gesamte intellektuelle und institutionelle Vergangenheit hat diese Haltung übernommen, die in der Verunreinigung der tiefsten Gründe unserer Seele endete und zu einem völlig unbegründeten und chaotischen theoretischen wie praktischen Entleihen geführt hat.10 Wir glauben, dass diese Haltung die grundlegende Ursache der islamischen Spaltung ausmacht: A) Das theoretische Entleihen kann als istishab al-hal al-'aqli bezeichnet werden. Tatsächlich wurde aus den usul ad-din (die Grundlegung der religiösen Dogmatik) eine Verteidigung dogmatischer Formulierungen des Glaubensbekenntnisses, eine Vision der Wahrheit11 statt kontinuierlicher Suche nach der Wahrheit: al-tawasi bil-haqq. Das Ergebnis dieses theoretischen „tahrif“ [Verfälschung] war die Verstümmelung der islamischen theoretischen Vernunft, wie sie durch die folgenden Konsequenzen illustriert wird: 1. Die Unterdrückung jeder spirituellen Kreativität: Negation der Imagination als Quelle symbolischer Produktion in den Wissenschaften und den bildenden Künsten. Der Ausschluss der Wissenschaften und der Künste aus der Erhabenheit geistlicher Aktivität hat die islamische Spiritualität doppelt verstümmelt: Die Muslime haben auf diese Gebiete zugunsten fremder Völker und Minoritäten verzichtet, und diese Gebiete wurden ungläubig. Eingeschrieben in die menschliche Natur, können Wissenschaften und Künste niemals eliminiert werden; ihr Verbot oder ihre Abwertung können nur ihre religiöse Dimension eliminieren. –––––––––––––––––– 10 Diese kategoriale Aussage hat nichts mit der Negation genuin islamischen Denkens zu tun. Sie betrifft die historischen Formen vorgeblich philosophischer Schulen wie der Ikhwan alsafa' oder das historische Verhalten der politischen und juristischen Eliten, die die existierenden Institutionen übernommen haben, ohne zu versuchen, die Vorstellungen des genuin islamischen Denkens fruchtbar zu machen, das ignoriert oder vernachlässigt wurde, sobald es irgendeine hergeholte Rechtfertigung der Übernahme anbot. Das erste Anliegen war die dringliche Reaktion auf eine außergewöhnliche Lage und folglich die Ablehnung jeder ernsthaften theoretischen Fundierung der institutionellen Erfordernisse der islamischen Revolution. Man hat vergessen, dass die theoretische Begründung der islamischen Revolution (Mekka-Teil des Korans) fast zehn Jahre gedauert hat, bevor die praktische Implementierung dieser theoretischen Vision begann (Medina-Teil des Korans). 11 Diese auf den defensiven kalam reduzierte Fassung der usul ad-din hat Ibn Khaldun veranlasst, sie zurückzuweisen. Dieser 'ilm [intellektuelles Wissen im Sufismus] ist nicht länger notwendig, weil die 'aqidah [Credo, Glaubensfundament] nach der Herrschaftsübernahme nicht mehr verteidigt werden müssen.

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2. Die Unterdrückung aller materiellen Kreativität: Negation der Imagination als Quelle der technischen Erzeugung materialer Institutionen und mechanischer Künste. Dasselbe Verhalten wurde gegenüber dem zweiten Gewerbe der theoretischen Vernunft übernommen: Es wurde zu einer Aktivität, die mit Magiern und Scharlatanen in Verbindung steht. 3. Aber die gefährlichste Konsequenz war die Spaltung der Muslime. Reduziert auf die Verteidigung eines Credo-Dogmas kann das theoretische Wissen nur zur Quelle einer absoluten spirituellen Unordnung werden: Die Vervielfachung dogmatischer Formulierungen des Credo ist der erste Grund für die Spaltung unserer Umma. B) Das praktische Entlehnen kann als istishab al-hal al-shar'i bezeichnet werden. Tatsächlich wurde aus den usul al-fiqh (Grundlagen der religiösen Gesetze der Scharia) die Verteidigung einer dogmatischen Formulierung des Gesetzes als Vision des Rechts, statt die anhaltende Suche nach Gerechtigkeit und den Bedingungen ihrer Implementierung zu sein: al-tawasi bil-sabr. Das Resultat dieses praktischen tahrif war die Verstümmelung der praktischen Vernunft im Islam, wie sie durch die folgenden Konsequenzen illustriert wird: 1. Die Unterdrückung aller ethischen Kreativität: Die Negation der Imagination als Quelle der symbolischen Produktion ethischer Theorien und guter Sitten wird eindeutig repräsentiert in der Vorstellung von bid'ah [a) jegliche Art von Innovation, b) Sünde, sofern im Glaubensbereich gefordert oder praktiziert], die zur Wurzel eines absoluten Konservativismus und Konformismus in allen Bereichen des Lebens wurde. 2. Die Unterdrückung aller institutionellen Kreativität: Die Negation der Imagination als Quelle der institutionellen Etablierung bürgerlicher Einrichtungen und politischer Organisationen bedarf keiner weiteren Demonstration. 3. Überdies kann die Verteidigung von Rechts-Dogmen nur die Quelle totaler institutioneller Verwirrung sein: Die Vervielfachung dogmatischer Begründungen der Gesetze ist der zweite Grund für die islamische Spaltung, denn diese vielfachen Begründungen wurden nicht als einfache doktrinäre und wissenschaftliche Theorien angesehen, sondern zur Quelle des Konflikts zwischen verschiedenen madhabib [Gelehrtenschulen] und in der Folge zum Ausgangspunkt bürgerlicher Unruhen. Der islah-Trend [aslaha, reparieren, oft auch reformieren oder neugestalten; zugleich Name einiger Reformparteien] hat versucht, das theoretische und praktische Denken im Islam von den oberflächlichen Manifestationen dieser Konsequenzen zu befreien. Aber sein Lösungsversuch war ein eklektischer Synkretismus, der sich nur mit den phänomenalen Erscheinungen der dritten Art von Konsequenzen befasste, der Vielzahl der theologischen Schulen und Rechtsdoktrinen. Er wurde angetrieben nur von pragmatischen und untheoretischen Motiven: dem Abmildern einiger Erscheinungsformen und der Reaktion auf eine dringende Aufgabe, nämlich der Bildung einer Front gegen die Kolo-

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nialmacht. Aber er war unfähig, die wirkliche und tiefere Krise anzugehen,12 weil er sich nicht der Wurzel des Übels zuwandte: Die Unterdrückung der Funktionen der theoretischen und praktischen Vernunft sollte den Anforderungen von idjtihad und djihad entsprechen, wie sie im Sinne der islamischen Revolution gefasst sind, d. h. als kontinuierliche Reformation. Konzeptuelle Demonstration Wie kann diese Unterdrückung der Funktionen der theoretischen und praktischen Imagination als Hauptwerkzeug der Vernunft, die sie benutzt, um ihre Aufgabe zu erfüllen, verstanden werden in einer Religion, die sie als Untermauerung des Glaubens ansieht, d. h. als idjtihad oder tawasi bil-haqq und als djihad oder tawasi bil-sabr? Die einzig mögliche Erklärung dieser Konsequenzen ist in der Wiedereinsetzung der Autoritäten zu finden, deren Abschaffung eine notwendige Bedingung der idjtihad und djihad entsprechenden Fassungen der Funktionen der theoretischen und praktischen Vernunft gewesen war. Um den Missbrauch der geistlichen Autorität als Vermittler zwischen Mensch und Gott zu verhindern, hat der Islam die Institution des idjtihad geschaffen, vorausgesetzt, man versteht darunter seine tiefere Bedeutung, die durch diese Wiedereinsetzung der geistlichen Autorität ausgelöscht wurde. Der Missbrauch der materialen Autorität von Herrschaft hätte verhindert werden können, wenn die Muslime die Institution des djihad in seiner tieferen Bedeutung implementiert hätten. Somit entleerte sich die revolutionäre Rolle von idjtihad und djihad durch die einfache Eliminierung der Funktionen der theoretischen und der praktischen Vernunft, d. h. der Rolle der Imagination: Revolutionäre Rolle des idjtihad: a) Negativ kann diese Rolle bestimmt werden als Alternative zu einer exklusiven Institution, die von korrumpierten religiösen Kasten als Mittler zwischen Mensch und Gott eingerichtet wurde. Sie geben vor, dass die geistliche Autorität unfehlbar ist und übernehmen die persönliche Verantwortlichkeit der Gläubigen in den Bereichen von Wissen und Glauben. b) Positiv kann idjtihad gesehen werden als eine neue Vision von Wissen, wobei das Wahrheitskriterium nicht in der Übereinstimmung mit einer unterstellten objektiven Realität liegt, sondern im Konsens und in der Handlungspraxis der Gläubigen, gegeben im rationalen und ethischen Verhalten: al-tawasi bil-haqq. –––––––––––––––––– 12 Dieser eklektische Synkretismus der Reformer hat das Problem aus zwei Gründen noch verschärft. Zunächst wegen der einzigen Motivation, das anhaltende intellektuelle und institutionelle Beleihen fremder Quellen zu fördern und damit Innovation durch die Offenheit gegenüber externen Einflüssen zu ersetzen. Und zum zweiten bringt jede Synthese von kalamSchulen eine weitere Schule hervor, und jede Synthese von fiqh-Doktrinen eine neue Doktrin. Daher wird dieser Synkretismus das Problem des theoretischen und praktischen tahrif nie lösen.

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Revolutionäre Rolle des djihad: a) Negativ kann dessen Rolle gefasst werden als Alternative zu einer exklusiven Institution, die von korrumpierten politischen Kasten als Mittler zwischen Mensch und Gott ausgegeben und als unfehlbare politische Autorität im Bereich des Handelns dargestellt wird. b) Positiv kann diese Rolle als neue Vision des Handelns gefasst werden, wobei das Kriterium für das Gute nicht in der Übereinstimmung mit einem unterstellten objektiven Wertmaßstab zu suchen ist, sondern im Konsens und in der Handlungspraxis der Gläubigen, gegeben im rationalen und ethischen Verhalten: altawasi bil-sabr. Ist die mit einer doppelten üblen Reduktion begonnene Wiedereinsetzung der Autoritäten seit der frühesten Phase unserer Geschichte erfolgt, muss sie aus zwei Gründen konzeptuell unentrinnbar sein, von denen jeder die Übernahme von Lösungen aus anderen Kulturen befördert und das intellektuelle und institutionelle Entlehnen an die Stelle intellektueller Innovation und institutioneller Schöpfung setzt: 1. Die unterstellte Vorrangigkeit des Handelns schließt für die ersten Muslim-Generationen alle Möglichkeiten aus, sämtliche Folgen der Abschaffung der Institutionen zu überblicken, die per definitionem Quelle des Missbrauchs sind, ebenso wie die Folgen intellektueller und institutioneller Lösungsvorschläge, die geeignet wären, die moralische und materiale Korrumption zu vermeiden. Sie mussten die Autoritäten wiedereinsetzen, um pragmatisch auf die chaotische Situation zu reagieren. Die Schiiten haben die Wiedereinsetzung der geistlichen Autorität de jure gewählt, die Sunniten haben sie de facto wiedereingesetzt. Die Kharidjiten haben die schiitische Lösung verallgemeinert; für sie ist jeder gute Muslim ein virtueller Imam. Die Mu'taziliten haben die sunnitische Lösung verallgemeinert; für sie ist jeder vernunftbegabte Mensch ipso facto fähig, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen. 2. Aber die konkrete Bestimmung von Institutionen alternativ zu den vom Islam abgesetzten muss ein historischer theoretischer und praktischer Prozess sein und folglich eine kontinuierliche Reformation, in der der religiöse Aspekt des theoretischen und praktischen Wissens und seiner Institutionen nicht an einen bestimmten Inhalt gebunden ist, sondern sich auf einen universellen Zweck und eine allgemeine Form bezieht. Diese Unbestimmtheit war zu riskant, gefährlich und infolgedessen untragbar, solange die theoretische Entwicklung des Denkens dafür nicht ausgereift war. Daher war die Petrifizierung der zwei Lösungspaare die einzig mögliche Lösung: ahl al-sunna (dhawu alahliyya wal-shauka) und ihre Mu'tazila-Opposition (kull dhi 'aql) sowie die Schia (das göttliche Recht der ahl al-bait) und ihre kharidjitische Opposition (al-ard yarithuha 'ibaduna al-salihun)13 konnten sich nicht weiterentwickeln –––––––––––––––––– 13 Historisch sind die beiden Oppositionsparteien nahezu verschwunden, auch wenn sie ein marginales Dasein in einigen peripheren islamischen Ländern führen. Aber der Kern ihres Denkens ist von den beiden großen Ausrichtungen des Islam übernommen worden: Ash'arismus

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ohne den intellektuellen und moralischen Mut, bis auf den Boden des Prinzips der Legitimität der geistlichen und politischen Obrigkeiten vorzudringen. Anstelle dieses Mutes war die konzeptuell mögliche oberflächliche Lösung in negativer Hinsicht sadd al-dara' [Verbieten von allem, was zum Schlechten führen kann], in positiver die Entlehnung irgendeiner anderswo gegebenen Lösung, um das Risiko von Chaos und Anarchie zu vermeiden, das aus den unbestimmten revolutionär-islamischen Lösungen entspringt, solange ihre Erfordernisse nicht theoretisch abgeleitet (idjtihad) und praktisch umgesetzt sind (djihad). Gegründet auf das Prinzip der Verallgemeinerung des Verbots im Gegensatz zum islamischen Prinzip der Verallgemeinerung der Gewährung, fällt sadd al-dara' ineins mit der Wiedereinsetzung der vom Islam abgesetzten Autoritäten. Die Wiedereinsetzung wird möglich über das systematische Entlehnen von den beiden weltlichen Reichen, wie die Muslime es während des letzten Jahrhunderts betrieben haben: oberflächliche „rechtliche“ Rechtfertigung der Übernahme aus Sozialismus oder Kapitalismus über die kasuistische Fatwa [Rechtsgutachten] als falsches Denken, das jede genuin philosophische und religiöse Begründung neutralisiert. Das Verbot als die leichtere Lösung beginnt mit der doppelten Reduktion der vom Islam angebotenen revolutionären alternativen Institutionen: a) objektive Reduktion: idjtihad und djihad werden reduziert auf ihre engeren objektiven Bedeutungen: rechtlicher idjtihad, kriegerischer djihad. Diese objektive Restriktion beinhaltet, dass der idjtihad zur Wissenschaft von den religiösen Gesetzen reduziert wird, ohne die Wissenschaften, deren Gegenstandsbereich zu den Dingen zählt, für die der fiqh [Rechtswissenschaft] zuständig ist. Sie beinhaltet ferner, dass der djihad auf die einzige Aufgabe des Heiligen Krieges begrenzt wird, ohne die direkten und indirekten Mittel, mit denen die Bedingungen für den Erfolg in einem jeden Krieg geschaffen werden, ob heilig oder nicht. b) subjektive Reduktion: idjtihad und djihad werden auf ihre engere subjektive Bedeutung eingegrenzt und zur besonderen religiösen Verpflichtung: fard kifaya. Diese subjektive Restriktion beinhaltet, dass idjtihad auf die alleinige spezifische Verpflichtung von Rechtsanwälten reduziert wird, die zu einer religiösen Autorität werden und an die Stelle der allgemeinen Verpflichtung treten, derzufolge jeder Gläubige Wissen suchen muss. Sie beinhaltet ferner, dass djihad auf die alleinige spezifische Verpflichtung von Kriegern reduziert wird, die zu einer politischen Kaste werden (den Mameluken) oder zu militärischen Janitscharen, als Ersatz für die universelle Funktion bürgerlicher Selbstverteidigung. –––––––––––––––––– und Bahshamismus entstammen dieser Übernahme der Mu'tazila-Vision bei Sunniten und Schiiten: die Rolle der theoretischen Vernunft und theoria. Hanbalismus and Isma'ilismus entstammen der Übernahme der kharidjitischen Vision: der Rolle der praktischen Vernunft und des Handelns.

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Die erste Reduktion hat alle theoretischen und praktischen Wissenschaften (idjtihad) und ihre ästhetischen, technischen und ethischen Anwendungen (djihad) eliminiert. Die zweite Reduktion hat die allgemeine Einbindung aller Muslime in das Leben der Gemeinschaft beseitigt: Die fuqaha' [Gelehrten] und die Söldnerkasten haben die Bürger all ihrer theoretischen und praktischen Beiträge entledigt. Daher sollten wir die objektiven und subjektiven Restriktionen der Institutionen von idjtihad und djihad vermeiden, um nicht zur traditionellen Sicht von Religion zurückzukehren, die der Islam als korrumpiert beschrieben hat: muharrafa. Die negativen und positiven Definitionen dieser beiden Institutionen sind Wächter gegen die Korrumption.

Zweiter Schritt: Die islamische Revolution als kontinuierliche Reformation Ziel ist, die islamische theoretische und praktische Revolution zu untersuchen und unser Denken und unsere Institutionen in Beziehung zu den Funktionen zu interpretieren, die sie nach den Empfehlungen des Islam erfüllen müssen, um die Bedingungen für eine freie und machtvolle Gesellschaft herzustellen. Dies zu verstehen, wird uns ermöglichen, die revolutionäre Bedeutung des Islam zu begreifen. Der Islam ist keine einfache Fortführung der religiösen Traditionen, wie diejenigen fälschlich annehmen, die doktrinär die Isra'iliyyat (die jüdische Mythologie), die Nasraniyyat (die christliche Mythologie), die Sabi'iyyat (die sabäische Mythologie), die Madjusiyyat (die zoroastrische Mythologie) und die Mushrikiyyat (die pagane Mythologie) angenommen haben,14 oder diejenigen, die institutionell die politischen, sozialen und Bildungsorganisationen der zwei Reiche der Ära nachgeäfft haben. Er ist vielmehr eine genuine Dekonstruktion dieser doktrinären und institutionellen Traditionen mittels zweier Konzepte:15 tahrif oder Korrumption des religiösen Denkens und Handelns und djahiliyya oder Korrumption des natürlichen Denkens und Handelns. Tahrif sollte ausgelegt werden als eine islamische kritische Dekonstruktion der dogmatischen Traditionen, die das theoretisch und praktisch geoffenbarte Wissen verstümmelt und die damit verbundenen Institutionen petrifiziert haben. Djahiliyya sollte ausgelegt werden als eine kritische Dekonstruktion der dogmatischen Traditionen, die das theoretische und praktische rationale Wissen und die darauf gegründeten Institutionen verstümmelt haben. Mit diesen beiden kritischen Konzepten und ihren institutionellen Konsequenzen hat der Islam versucht, das religiöse und philosophische Denken zu –––––––––––––––––– 14 Die fünf Möglichkeiten des Glaubens, die der Islam toleriert. 15 Diese beide Konzepte werden definiert in 'Ali 'Imran: Tahreef as limit concept of theoretical thought construed as arbitrary epistemological Interpretation and Jahiliyya as limit concept of practical thought construed as arbitrary axiological Interpretation.

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erneuern16 und die alternativen Institutionen zu bestimmen, die in der Lage sind, die Korrumption der geistlichen und politischen Autoritäten zu vermeiden. Diese alternativen Lösungen können nur in einer kontinuierlichen Reformation des theoretischen und praktischen Denkens bestehen, sowohl auf der Ebene des abstrakten Denkens (idjtihad) wie auf der Ebene seiner konkreten Umsetzung (djihad). Deduktion17 des Konzepts der kontinuierlichen Reformation Als Konsequenz aus der vollständigen Realisierung der Offenbarung khatm alwahy und der Absetzung aller geistlichen Autoritäten als Mittler zwischen dem Gläubigen und Gott muss der Islam als Islam eine kontinuierliche Reformation sein, d. h.: 1. Der Islam sollte ein kontinuierliches theoretisches und praktisches Wissen oder idjtihad darstellen, das, wenn institutionalisiert, eine soziale und formale Institution hervorbringen muss, die man neu benennen kann: mu'assasat al-tawasi bil-haqq. Unsere Absicht ist, in Kontinuität mit dem theoretischen Bemühen unserer Philosophen, den historischen Umstand zu verstehen, demzufolge dieses theoretische Denken vor der Ära des Niedergangs auf eine rechtliche Dimension reduziert wurde und seit der sahwa auf das politische Denken von religiösen Parteien, ohne die Bedingungen der Wirkmächtigkeit zu erfüllen. 2. Der Islam sollte eine kontinuierliche theoretische und praktische Handlungsform oder einen kontinuierlichen djihad darstellen, gegründet auf die sorgfältige Anwendung des theoretischen und praktischen Wissens, das, wenn institutionalisiert, man neu benennen kann: mu'assasat al-tawasi bil-sabr.18 Unsere Absicht ist, wieder in Kontinuität mit unseren Philosophen, den historischen Umstand zu verstehen, demzufolge dieses praktische Denken bis zur Ära des Niedergangs eingeschränkt worden ist auf die einzige Praxis der religiösen Verpflichtungen oder 'ibada [Ergebenheit, Unterwürfigkeit gegenüber Allah], und seit der sahwa auf die Praxis des heiligen Krieges, ohne die Bedingungen der Wirkmächtigkeit zu erfüllen. –––––––––––––––––– 16 Die Begriffe Buch und nubuwwa [Prophetentum] werden nicht zufällig in allen Versen des Koran begleitet von den Begriffen hikma [Weisheit] oder hukm [Gesetz(e)]. Buch und nubuwwa verweisen auf das geoffenbarte Wissen oder die übernatürliche Quelle unseres Wissens von der Scharia. Hikma und hukm verweisen auf das natürliche Wissen oder die natürliche Quelle unseres Wissens von der tabi'a [Natur]. Als endgültige Formulierung der universalen Religion, die eine ist in allen historischen Religionen, muss der Koran an diese beiden Quellen erinnern, ohne vorzugeben, ein Alternativersatz für die Untersuchung beider in den fünf in ihm definierten Gegenstandsbereichen zu sein: der Natur, der Scharia, der menschlichen Geschichte, der Person und des Buches selbst als aya [Zeichen, Verse] oder kalima [Wort] Allahs. 17 Wir gebrauchen diesen Begriff in seiner kantischen Bedeutung: rationale Fundierung eines jeden Gegegeben über seine faktische Existenz hinaus. 18 al-'Asr: wa-'amalu al-salihat... wa-tawasau bil-sabr.

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Die tiefere Bedeutung von idjtihad als epistemologische (Kriterium für Wahrheit) und ontologische (Natur der Wahrheit) Bedingung der intellektuellen und institutionellen islamischen Revolution wurde beiseite geschoben. Sie wurde vor der Ära des Niedergangs reduziert auf die usul al-fiqh und seit der sahwa auf Politik, und beide Reduktionen waren sich ihrer Bedingungen und Mittel absolut nicht bewusst. Idjtihad sollte allgemeiner verstanden werden als nur als Rechtsmethodologie und fünf Dimensionen umfassen: die beiden traditionellen, zu denen wir zwei weitere bezogen auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit hinzufügen. Diese vier Bedeutungen sollten dann gegründet werden auf das allgemeine Prinzip von idjtihad, d. h. das Prinzip des intelligiblen Charakters menschlicher Wesen: die theoretische Vernunft als absolut freie Macht. Folglich sollten wir die folgenden Arten von idjtihad unterscheiden: 1. alidjtihad al-asghar (oder den rechtlichen idjtihad), 2. al-idjtihad al-akbar (oder religiöse Ethik), 3. al-idjtihad al-saghir oder den idjtihad, der die Bedingungen und Mittel des idjtihad al-asghar (theoretisches Wissen: Naturwissenschaften, den Menschen als natürliches Wesen eingeschlossen) realisiert, 4. alidjtihad al-kabir oder den idjtihad, der die Bedingungen und Mittel des idjtihad al-akbar (praktisches Wissen: die moralische Fragen behandelnden Wissenschaften einschließlich der Natur als moralisches Wesen) realisiert, 5. das Prinzip des gesamten idjtihad, oder die Bedingungen für aufgeklärte Vernunft als tawasi bil-haqq. Die tiefere Bedeutung des djihad im axiologischen (die Natur der Wahrhaftigkeit oder moralischer Werte) und ethischen Sinne (das Kriterium für Wahrhaftigkeit oder moralische Werte) wurde ebenfalls beiseite geschoben. Daher wurde der djihad vor der Ära des Niedergangs auf die religiösen Verpflichtungen reduziert und seit der sahwa auf den heiligen Krieg, beides ohne Verfügung über Bedingungen und Mittel. Der djihad sollte allgemeiner gefasst werden als nur in seiner kriegerischen Konnotation. Er sollte fünf Dimensionen aufweisen, die traditionellen zwei Arten und zwei weitere bezogen auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit sowie das Prinzip des djihad im Allgemeinen, d. h. das Prinzip des ethischen Charakters menschlicher Wesen: die praktische Vernunft als freier Wille. Folglich sollten wir die folgenden Arten von djihad unterscheiden: 1. aldjihad al-asghar (heiliger Krieg), 2. al-djihad al-akbar ('ibada oder ethisches Handeln), 3. al-djihad al-saghir oder der djihad, der die Bedingungen und Mittel für den djihad al-asghar bereitstellt (Technologie und Wirtschaft oder die Anwendung der theoretischen Wissenschaften), 4. al-djihad al-kabir oder der djihad, der die Bedingungen und Mittel für den djihad al-akbar bereitstellt (Politik und Bildung oder die Anwendung der mit moralischen Fragen befassten Wissenschaften), 5. das Prinzip des gesamten djihad: der freie Wille als tawasi bil-sabr. Diese tieferen Bedeutungen der alternativen Lösungen, die der Islam aufgeworfen hat, um das menschliche Denken und Handeln zu organisieren,

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beinhalten eine neue Sicht der Institutionen als fähig, die Bedingungen und Mittel ihrer konkreten und schrittweisen Verbesserung in der sozialen Wirklichkeit während der historischen Existenz der Umma zu erzeugen. Wenn wir Ibn Khalduns Analyse des 'umran [Zivilisation, Kultur] übernehmen, können wir die Komponenten ihrer durch die Bildungs- und politischen Systeme dargestellten Form von den Komponenten ihrer durch die wirtschaftlichen und sozialen Systeme dargestellten Substanz unterscheiden. Der 'umran als universales Sein der Menschheit ist generell materialisiert in den verschiedenen Kulturen und insbesondere in den einzelnen Personen, die die Frucht von idjtihad (theoretisches und praktisches Wissen) und djihad (auf diese beiden Formen des Wissen gegründetes Handeln) und ihren Funktionen und Institutionen sind, wie sie hier ausgelegt wurden. Daher sollten diese Bedeutungen, wenn sie philosophisch interpretiert werden, sich mit den notwendigen Zweckbestimmungen der Scharia als den fundamentalen Prinzipien der universalen Religion decken, denn sie illustrieren die fünf essentiellen Attribute Gottes als Ideal für das menschliche Leben in seinen theoretischen und praktischen Dimensionen:19 1. den Zweck der Vernunft, aql'-maqsad al – ‫ – ﻣﻘﺼﺪ اﻟﻌﻘﻞ‬nicht nur im Hinblick auf die biologische Macht des Geistes; ihre religiöse Bedeutung repräsentiert die Quelle des theoretischen und praktischen Wissens und ihrer Bedingungen und Mittel, 2. den Zweck des Eigentums, mal maqsad al – ‫ – ﻣﻘﺼﺪ اﻟﻤﺎل‬nicht nur im Hinblick auf wirtschaftliche Macht oder Reichtum; seine religiöse Bedeutung repräsentiert die materiellen Bedingungen der Subsistenz und Unabhängigkeit der Person oder die Mittel, die durch die Anwendung des theoretischen Wissens erzeugt werden, 3. den Zweck der Ehre, ird'-al maqsad – ‫ – ﻣﻘﺼﺪ اﻟﻌﺮض‬nicht nur im Hinblick auf die Sitten; ihre religiöse Bedeutung repräsentiert die moralischen Bedingungen der persönlichen Würde, wie sie erzeugt und beschützt werden durch die Anwendung des praktischen Wissens, 4. den Zweck der Religion, maqsad al-din – ‫ – ﻣﻘﺼﺪ اﻟﺪﻳﻦ‬nicht nur im Hinblick auf die oberflächliche Ausübung der religiösen Verpflichtungen; ihre religiöse Bedeutung ist das überlegene Leben, das auf 'ibada gründet als Krönung des theoretischen und praktischen Wissens von den 'ayat Allah [Zeichen Gottes], –––––––––––––––––– 19 Diese fünf essentiellen Attribute sind Sein, Leben, Wissen, Macht und Wille. Für Gott ist das Sein identisch mit der Essenz und repräsentiert seine Realität: dhat-al – ‫اﻟﺬات‬. Diese Attribute bilden die Ziele, deren Mittel die Zwecke der Scharia sind. Daher kann der Mensch ein Kalif sein [„Stellvertreter Gottes“ bzw. „Nachfolger des Gesandten Gottes“], weil er über ein Quantum der essentiellen Attribute verfügt. Die entsprechenden Zwecke der Scharia sind nafs [Seele], Religion, Vernunft, Eigentum und Ehre. Ohne vollständiges Sein, überlegenes Leben, Wissen, wirkliche Macht und freien Willen haben nafs, Religion, Vernunft, Eigentum und Ehre weder materielle noch aktuale Wirklichkeit.

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5. die Zwecke der Nafs, nafs-maqsad al – ‫ – ﻣﻘﺼﺪ اﻟﻨﻔﺲ‬nicht nur im Hinblick auf die physische Erhaltung des Selbst, al-nafs, als bio-psychologischer Existenz; ihre religiöse Bedeutung ist die Erfüllung der ersten vier Zwecke als Bedingungen des spirituellen Lebens (Religion), was die vollständige Ausübung von idjtihad und djihad einschließt: die aufgeklärte Vernunft und der Wille als Bedingungen für die Person als moralisches Wesen. Diese versuchsweise Interpretation enthüllt das tiefere Resultat der islamischen alternativen Institutionen, wenn sie ihre Funktionen erfüllen:20 die Bürde von amana [freier Wille] als shahada [Glaube, Credo] und khilafa [Staat] in ihren allgemeinen und besonderen Bedeutungen: A. Im idjtihad geht die Form von 'umran (Bildung und Staat) der Substanz (Wirtschaft und Gesellschaft) voraus, weil er im Wesentlichen mit dem abstrakten theoretischen und praktischen Wissen als tawasi bil-haqq befasst ist. Die abstrakte Dimension des Zweckes al-nafs al-mutma'inna [das zufriedene, beruhigte Ich: Gottvertrauen, spirituelle Freude] als Subjekt der anderen Zwecke und als Komponente von al-umma al-mukallafa bil-shahada 'ala al'alamin ergibt sich wie folgt: a) Die Form von 'umran hängt zusammen mit den Bildungs- (der Zweck der Vernunft) und politischen Systemen (der Zweck von 'ird [Ehre]), die in der Lage sind, die Person und die Gemeinschaft entstehen zu lassen, die khusr [Verlust, Abkehr vom richtigen Pfad] nicht kennen. b) Die Substanz von 'umran hängt zusammen mit den wirtschaftlichen (Zweck des Eigentums) und sozialen Systemen (Zweck der Religion), die in der Lage sind, die Person und die Gemeinschaft entstehen zu lassen, die khusr nicht kennen. B. Im djihad ist die Substanz von 'umran der Form vorgängig, denn er ist im Wesentlichen mit der Anwendung des abstrakten theoretischen und praktischen Wissens als tawasi bil-sabr befasst. Die konkrete Dimension des Zweckes al-nafs al-mutma'inna oder al-mustakhlafa als Subjekt der anderen Zwecke und als Komponente der al-umma al-'amira bil-ma'ruf wal-nahiya ‘an almunkar ergibt sich auf die gleiche Weise, aber in umgekehrter Richtung: erst die Substanz, dann die Form.

Fazit Als Konsequenz der Wiedereinsetzung einer spirituellen Vermittlung durch eine religiöse Autorität (prinzipiell unfehlbar bei den Schiiten, de facto unfehlbar bei den Sunniten) ist die islamische kontinuierliche Reformation gescheitert. Unsere gegenwärtige Haltung gegenüber dem Westen ist nicht spezi–––––––––––––––––– 20 Aus diesem Grund sind diese Zwecke menschliche Rechte wie Pflichten. Sie sind Rechte gegenüber den religiösen und politischen Obrigkeiten. Sie sind Pflichten einer jeden Person gegenüber sich selbst, der Gemeinschaft und Gott.

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Abu Yaareb Marzouki

fisch, sondern entspricht strukturell unserer historischen Haltung gegenüber anderen Kulturen. Diese Haltung hat zweifellos einen positiven Aspekt: Offenheit und Universalität. Aber wenn eine Kultur von exogenen Einflüssen überwältigt wird, vermag sie niemals ein angemessenes Rückgrat auszubilden. Daher können ihre grundlegenden Charakteristiken nicht in ihrer vollen Bedeutung und allen Implikationen hervortreten. Die reaktive Haltung der religiösen und das irrationale Verhalten der politischen Elite haben stets ein falsches Verständnis der Anpassung an die Realitäten mit sich gebracht. Die einfache Übernahme von Lösungen, die andere Kulturen erfunden haben, anstelle der genuin islamischen Schöpfungen scheint bis heute das dominante Merkmal unseres Denkens und unserer Institutionen zu sein. Wir haben versucht, die Unzulänglichkeit jeder Erklärung aufzuzeigen, die auf einer Anklage der Muslime als solcher beruht. Als Verteidigung gegen die Orientalisten, die den Islam anklagen, ist die alternative Anklage der Muslime insgesamt weder fair noch eine befriedigende Erklärung der muslimischen Situation. Die islamische Revolution selbst ist nicht frei von Verantwortung. Die islamische Sicht der Natur und Rolle des theoretischen und praktischen Denkens und seiner Institutionen war zu radikal und spezifisch, um von der ersten muslimischen Generation verstanden zu werden. Wir sollten dem Glauben entsagen, dass die erste Generation mehr als ihre Nachfolger dazu befähigt war, den Islam zu verstehen und die erforderlichen Bedingungen seiner Revolution zu realisieren. Der Islam selbst wurde schrittweise offenbart und kann folglich nur schrittweise verstanden und umgesetzt werden. Die historische Erfahrung von vierzehn Jahrhunderten in theoretischem und praktischem Denken und ihren konkreten Anwendungen und Institutionen ist absolut erforderlich, um einige der wesentlichen Implikationen dieser großen und genuinen Revolution zu verstehen. Die von unseren Philosophen vorgeschlagenen Lösungen sind weiterhin nur diskursiver Natur. Sie waren sich über die Modalitäten nicht im Klaren, welche die kontinuierliche Reformation zu einer wirklichen historischen Tat werden lassen. Die Hindernisse sind auch durch die sahwa nicht beseitigt, der es nicht gelang, die tiefere Bedeutung der Zivilgesellschaft umzusetzen, wie sie der Islam versteht. Unsere fuqaha' [Rechtsgelehrte] versuchen heutzutage Politiker zu werden, ohne ein ernsthaftes Bewusstsein für die epistemologischen und ethischen Probleme, die die islamische theoretische Revolution als Grundlegung der göttlichen Gesetzgebung mit sich bringt, die von der moralischen Zivilgesellschaft verteidigt wird.21 Unsere Politiker versuchen in gleicher Weise zu –––––––––––––––––– 21 Den Begriff der moralischen Zivilgesellschaft haben wir geprägt, um die Rolle der sozialen Selbstverteidigung der Ziele des überlegenen spirituellen Lebens zu bestimmen, d. h. die Zwecke der Scharia als Rechte wie als Pflichten. Die materiale Zivilgesellschaft entspricht der sozialen Selbstverteidigung der Mittel eben dieses überlegenen spirituellen Lebens, d. h. den Bedingungen der Möglichkeit dieser Rechte und Pflichten. Eine Zivilgesellschaft mit die-

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Denkern zu werden ohne ein ernsthaftes Bewusstsein für die politischen und ontologischen Systeme, die die islamische praktische Revolution mit sich bringt als Grundlegung der göttlichen Vize-Regentschaft definiert durch die materiale Zivilgesellschaft. Die Reformation unseres theoretischen Denkens und seiner Institutionen sollte zu zwei dringlichen Maßnahmen Anlass geben. Die erste ist eine doktrinäre Reformation, derzufolge die usul al-din [religiöse Dogmatik] zu einer vollständig liberalen Philosophie des Seins oder der Suche nach Wahrheit und Schönheit wird. Sie darf nicht damit fortfahren, eine unfähige Verteidigung des dogmatischen Credos zu sein, deren einziges Resultat das spirituelle Chaos ist. Die zweite ist eine institutionelle Reformation, nach der die Bildungs- und politischen Systeme liberal und weltoffen sein müssen. Die Reformation unseres praktischen Denkens und seiner Institutionen sollte ebenfalls zu Maßnahmen dieser Art führen. Die erste ist eine doktrinäre Reformation, derzufolge die usul al-fiqh [Rechtsfindung gemäß Scharia] zu einer absolut liberalen Philosophie der Werte oder der Suche nach Gerechtigkeit und Nutzen werden muss. Sie darf nicht länger eine unfähige Verteidigung der dogmatischen Rechtsmethodologie sein, deren einziges Resultat das bürgerliche Chaos ist. Die zweite ist eine institutionelle Reformation, nach der die wirtschaftlichen und sozialen Systeme gerecht und ethisch sein müssen. Aus dem Englischen von Michael Sonntag

–––––––––––––––––– ser doppelten Konnotation existiert als nationale und als internationale Institution. Auf der nationalen Ebene schützt sie Bürger gegen Missbrauch durch die nationalen geistlichen und weltlichen Autoritäten. Auf der internationalen Ebene schützt sie Nationen und Minderheiten gegen den Missbrauch durch die hegemonialen Imperialismen.

Mustapha Laarissa

BILDUNG UND DAS HINDERNIS DER TRADITION Zur Lektüre von Abdallah Laroui

Vorbemerkung Während unser Kolloquium der überaus komplexen Frage nach der Beziehung zwischen Bildung und Demokratie nachgehen soll, schlage ich Ihnen eine Reflexion über die notwendige Reform der Tradition (der Sunna) im Rahmen der islamischen Kultur vor, und über die unverzichtbare Kritik am kollektiven Gedächtnis und an der Art, wie dieses im Allgemeinen in den islamischen Gesellschaften gebildet wird, eine Kritik, die nach meiner Überzeugung jeder Diskussion über Demokratie und Erziehung und Bildung in islamischen Ländern vorgängig ist. Weiche ich damit gänzlich vom Thema des Kolloquiums ab? Dies ist nicht meine Absicht, ungeachtet der Abweichung, die Sie erkennen können! Ich hoffe, dem abzuhelfen, indem ich Ihnen einige Vorbemerkungen vorlege, die der vorläufigen Rechtfertigung meines Vorgehens und meiner Absicht dienen sollen. Erstens: In den meisten islamischen und arabisch-islamischen Gesellschaften wie in diesem Fall dient die Religion weiterhin als allgemeiner Referenzrahmen in Bezug auf alles, was die private Lebensführung wie auch die Führung des öffentlichen Lebens betrifft; die Überlagerung von Religion und Politik im weiteren Sinn ist nach wie vor angesagt, die islamische Welt bleibt „im Bann“ der Präsenz des Religiösen, im Glauben ebenso wie in den Praktiken. Die Frage nach der Beziehung zwischen Bildung und Demokratie würde unvermeidlich zur Frage nach den religiösen Praktiken führen, und nach deren Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Individuen „geprägt“ werden. Die Religion bleibt als letzte Instanz entscheidend, und die Untrennbarkeit von Religion und Leben, von din und dounia, ist nicht nur simple Fiktion oder simples Wunschdenken der Politisch-Religiösen, sondern sie ist sehr wohl eine reale Gegebenheit auf der Ebene der Praktiken, selbst wenn die Formen veränderlich und die Erfahrungen vielfältig sind in der so genannten „islamischen Welt“, die, wie man längst weiß, sich nicht in einer einheitlichen und reduzierenden Form erfassen lässt. Zweitens: Die Reflexion der gegenwärtigen Situation mit all dem dazugehörigen Aufruhr bringt uns zu der Notwendigkeit zurück, uns der Vergangen-

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heit wieder zu bemächtigen, mag sie auch weit entfernt sein, um die Auswirkung und den Effekt des Kulturellen auf das, was heute sozusagen unser „Alltag“ ist, ihrem tatsächlichen Wert entsprechend zu messen. Zahlreiche Anthropologen und Historiker bestätigen, dass die Gesellschaften, die die Welt von heute bilden, nicht die gleiche Konzeption von Zeit teilen und nicht in der gleichen symbolischen Zeitlichkeit leben, ungeachtet der Globalisierungstendenzen und der Tendenz, die gleichen Lebensweisen, die sich auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten und politische Kräfteverhältnisse stützen, zu verbreiten. Die Interferenz von Gegenwart und Vergangenheit ist in der islamischen Welt ziemlich verbreitet; die Vergangenheit ist nicht notwendigerweise etwas, was stattgefunden hat und nicht mehr sein wird, sie könnte paradoxerweise das Raster der Gegenwart und die imaginäre Präfiguration des Zukünftigen sein: Man kann sich diesen Umweg über die Frage nach der kulturellen Zeit daher nicht ersparen, wenn man sich die Frage nach der Beziehung zwischen Bildung und Demokratie stellt. In dieser eher mentalen als geographischen Gegend, die islamische Welt genannt wird, bleiben wir der Vergangenheit sehr verbunden, einer Vergangenheit, die sakralisiert wird, unser derzeitiges Sein zutiefst beeinflusst und auf unser politisches Handeln einwirkt, insbesondere auf unsere Bildungspolitik. Oft wiederholen die Lebenden nur die Toten, treten in ihrer eigenen Geschichte in den Hintergrund und verzichten darauf, deren eigentliche Akteure zu sein. Bildung jedoch, insbesondere eine aus der Demokratie gespeiste Bildung, ist ein wirksames Mittel gegen jegliche Schicksalsergebenheit, mit dem Risiko, die Tradition zu brechen und in ihre lange Geschichte Übertretungen einzuschreiben. Drittens: Die Elemente dieses Umweges über die Hinterfragung des kollektiven Gedächtnisses der Vergangenheit mit seiner durch das Gewicht der Tradition geprägten – sozusagen unbeweglichen – Zeitlichkeit, schöpfe ich aus dem jüngsten Werk1 von Abdallah Laroui, eines prominenten marokkanischen Historikers und renommierten arabischen Denkers, der für vier Jahrzehnte kritischer Reflexion bekannt ist, die in einer Art ewiger Wiederkehr des Gleichen um die Frage nach der Beziehung zwischen Islam und Moderne, genauer gesagt, Islam und liberaler kultureller Hinterlassenschaft kreist.2 Und obwohl ––––––––––––––––––

1 Es handelt sich um Al Islaho wa as-Sunna (Reform und Tradition), das im Jahr 2008 in arabischer Sprache erschienen ist bei Al marquaz athaquafi Al arabi, Casablanca/Beirut. Eine Übersetzung des Werks wurde kürzlich vom Autor selbst vorgelegt (Frühling 2009), ich habe es allerdings vorgezogen, mich wegen der sprachlichen Feinheiten an die Originalversion in arabischer Sprache zu halten; die Übersetzung der zitierten Passagen stammt von mir, ich füge die entsprechenden Verweise ein, wo es sich um längere Zitate handelt, die restlichen kurzen Passagen entstammen ebenfalls dem betreffenden Buch. 2 Ich möchte auf einige bedeutende Veröffentlichungen aus dem Werk von Laroui hinweisen, die in direktem Zusammenhang mit der erwähnten Problematik stehen: Islam et histoire: essai d’épistémologie. Paris 1999: Albin Michel; Islam et modernité: le cas du Maghreb. Paris 1987: la Découverte; Islamisme, modernisme, libéralisme: esquisses critiques. Casablanca 1997: Centre culturel arabe; L’idéologie contemporaine arabe: essai critique. Paris 1973:

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dieses Werk seine Darstellung auf den Kontext des heutigen Marokko ausrichtet, das sich in einem umfassenden und ebenso vielversprechenden wie enttäuschenden Wandel befindet, gilt es sich zu erinnern, dass das kulturelle Marokko seine eigenen geographischen Grenzen sehr wohl überschreitet und sich seine Wurzeln und Ausläufer weit darüber hinaus erstrecken, in diesem Fall durch einige seiner entscheidenden Quellen bis hin zum islamischen Orient und dem laizistischen wie auch jüdisch-christlichen Westen. Warum also dieses Werk? Warum dieser Umweg über eine Langzeit-Geschichte, um eine Frage aus der Gegenwart zu verstehen? Ich bin versucht, auf diese Frage ganz direkt zu antworten, dass das Werk, das uns hier flankierend dient, uns mit der brennenden Frage nach dem Status des „muslimischen Individuums“ konfrontiert und nach seinen Chancen, um nicht zu sagen Rechten, über sein Leben, über seinen Glauben, über sein spirituelles genauso wie materielles Schicksal selbst zu verfügen, gegen jegliche Art von theologischer, metaphysischer oder politischer Schicksalhaftigkeit. Solche Rechte kann es nur geben, wenn man das Terrain abgesteckt hat für eine Bildung im Respekt vor demokratisch vorgebrachten individuellen oder gemeinschaftlichen Entscheidungen. Zwischen den Zeilen steht somit auch die Frage nach bestimmten Hindernissen, die eine wirkliche Politik der Bildung von Individuen in einer demokratischen Perspektive beeinträchtigen, wie auch die Frage nach den Chancen und den Voraussetzungen für eine solche Politik innerhalb der islamischen Gesellschaften. Insofern liegt ein Rückbezug auf die Tradition insbesondere in ihrer religiösen Version nahe. Und genauso konfrontiert uns diese kritische Rückwendung auf die orthodoxe Tradition der Sunna, wie die Muslime sie sich vorstellen, sie praktizieren und an sie glauben, mit einer Epistemologie der Hindernisse.

Die Gesprächspartnerin – ein Anlass Larouis erwähntes Werk versteht sich als detaillierte und argumentative Antwort auf eine Frage, die von einer in den Vereinigten Staaten ansässigen islamischen Gesprächspartnerin an den Autor gestellt wurde. Sie ist zugleich eine Antwort auf eine Frage, die jener ähnelt, die sich der Autor nach eigenem Bekunden seit etwa zwanzig Jahren immer wieder selbst stellt. Sorgt nicht im Grunde genommen die reale oder fiktive Gesprächspartnerin gewissermaßen für das Zutagetreten einer Gelegenheit für eine lange gereifte Antwort auf eine strategische Frage, die so formuliert werden könnte: Was bedeutet es „heute“, Muslim oder Muslima zu sein? Durch das „heute“ wird auf eine neue, kom––––––––––––––––––

Maspero; La crise des intellectuels arabes: traditionalisme ou historicisme. Paris 1974: Maspero; Réforme et tradition. Casablanca 2009: Centre culturel arabe. Vgl. für eine vollständige Bibliographie von Larouis Werk die Spezialausgabe der Zeitschrift Prologues, Revue du livre maghrébin, 35, Sommer 2006, Casablanca.

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plexe Welt verwiesen, die in soziologischer, politischer, technischer, wissenschaftlicher und demographischer Hinsicht nichts mehr mit dem Zeitpunkt zu tun hat, an dem die dritte große monotheistische Religion, nämlich der Islam, entstanden ist. Der Autor präsentiert uns seine Gesprächspartnerin auf wohlwollende Weise. Es handelt sich um eine Muslima, die in den Vereinigten Staaten lebt und von einem „orientalischen Ehemann“ geschieden ist. Sie verfügt über eine wissenschaftliche Ausbildung und ist bestens vertraut mit meeresbiologischen Forschungen, sie ist Mutter eines Kindes, lebt selbst ein aktives und lebendiges Leben inmitten einer aktiven Bevölkerung und stellt vor allem abstrakte und metaphysische Fragen über den Ursprung der Welt, des Lebens oder der Existenz. Es handelt sich also um ein weibliches Individuum, eine Frau, autonom, die in unterschiedlichen Gemeinschaften in Hinblick auf Rasse, kulturelle Herkunft oder konfessionelle Orientierung verkehrt. Wie ist es also möglich, dass ein konkretes Subjekt, eine Person wie eben diese Frau, ihre Religiosität und ihren Glauben auf eine einfache Art und Weise leben kann, geläutert von jeglichem Archaismus, und fähig sein kann, eine unmittelbare Beziehung mit den Quellen und Grundlagen des religiösen Dogmas einzugehen, das heißt, ohne den obligatorischen Weg über die Kette orthodoxer Exegeten oder die Serie institutioneller Vermittlungen, die sich unweigerlich als einengende Autoritäten und als kastrierende Gängelei aufzwängen und eine individuelle Aneignung des Heiligen verhindern? Die Frage, die zu stellen diese Leserin bzw. Gesprächspartnerin erlaubt, besteht also darin, die Verbindung mit dem Koran, dem heiligen Buch der Muslime und der primären Quelle ihres religiösen und gesetzgebenden Lebens ohne Vermittlung von Zeitaltern wiederherzustellen, und an zweiter Stelle dann sich an die Verbindung mit der Sunna als der Gesamtheit der Worte und Taten im Zusammenhang mit dem Propheten Mohammed zu erinnern. Dies ist die Hauptfrage, die sich entsprechend der Dichotomie der Quellen dann verzweigt, eine Frage, deren Tragweite über den simplen Wunsch nach Auslegung oder hermeneutische Wissbegierde hinausgeht, denn hier geht es um das Leben „des Lesers“ wie um den Sinn, den sein Leben im Alltag hat, wie auch um die intellektuelle, soziale und politische Form, die seine Existenz umfasst. Die Frage nach der Identität, insbesondere der individuellen, steht folglich im Zentrum dieser Reflexion, die sich gezwungen sieht, auf „den Fremden“ zurückzugreifen, eine fremde und wahrscheinlich nicht arabischsprachige Muslima, damit sie als Infragestellung realisiert werden kann: Paradoxon oder Vorsicht? Mir vermittelt diese Vorgangsweise den Eindruck, dass die Frage nach einem freien und hermeneutischen Zugang zur Quelle des Heiligen innerhalb der konventionellen islamischen Länder nicht oder nur unter Schwierigkeiten zulässig ist!

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Korpus und Geschichtlichkeit Was die erste Quelle, den Koran betrifft, fackelt Laroui nicht lange, seine Antwort ist unzweideutig und von einer Kühnheit, die die muslimische Doxologie sicherlich perplex hinterlassen würde. Er erinnert daran, dass der Koran, dieses „offenbarte Wort“, nicht auf einmal verkündet worden ist, sondern sich im Gegenteil über etwa zwanzig Jahre erstreckt hat. Der Text besteht also aus einzelnen Elementen und ist von den Sachverhalten und Erfahrungen der damaligen Gesellschaft und des sich entwickelnden neuen Staates beeinflusst, und der Koran fand seine endgültige Form einer Sammlung und eines zusammengefügten Korpus erst zwanzig Jahre nach dem Tod des Propheten. Und mit einem Schlag lässt diese Überlegung die Vollständigkeit und die Verlässlichkeit der [Vorstellung von der] Einheit des Korpus des Korans fragwürdig erscheinen. Gleiches gilt für die Sira oder as-Siratu 'n-Nabawiyya, die Hagiographie des Propheten, den Bericht über die Spuren seiner Worte und Taten, die zweite grundlegende Quelle der Tradition und Grundlage der Sunna, denn diese Sira ihrerseits konnte erst ein Jahrhundert nach dem Tode des Propheten und der Einführung des Korpus des Korans erfasst werden. Der Abstand zwischen der Entstehung der beiden Quellen des Islams ist ziemlich offenkundig, die Sunna wurde, wie Laroui in Erinnerung ruft, in der Tat erst hundert Jahre, nachdem sie als Korpus zusammengefügt worden war, für den Gebrauch von Gelehrten, Richtern und Predigern klassifiziert und eingeführt. Was also lasen die Muslime während der dreißig Jahre, die auf die Hedschra gefolgt sind, also auf die Flucht des Propheten und seiner ersten Gefährten von Mekka nach Medina? Ob man nun in Damaskus, in Medina oder in Mekka ist, versteht man unter dem Begriff „Sunna“ in Mekka, Medina und in Damaskus das Gleiche? Sicherlich nicht, antwortet der Autor. Man kann nicht von der Geschichte, die die Muslime jener Zeit erlebten, abstrahieren – weder von den Interessens-Kriegen noch von den Spaltungen der Kasten, die die Anhänger der neuen Religion in Opposition zueinander brachten. Was also ist die Sunna? Und was ist die Sira des Propheten? An Antworten auf diese Fragen hat es nie gemangelt, Antworten, die man um der leichteren Einprägung und Überlieferung willen auf eine feststehende Sprache und offiziell anerkannte Erzählungen zurückführt und institutionalisiert, die alles autorisieren und einschließen, indem sie andere konkurrierende Erzählungen ausschließen. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, an den offiziellen Erzählungen zu zweifeln, sie beruhen zuallererst auf den zahlreichen und manchmal tödlichen Konflikten bis hin zum Genozid, innerhalb ein und derselben Gemeinschaft von Gläubigen: Die Brüche in den Doktrinen und die Schismen im Islam sprechen davon Bände.

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Die Tugend des Zweifels wieder finden Aus der Lektüre dieser Bemerkungen können wir bereits eine erste Schlussfolgerung ziehen: Die Definition des Islams, seine Form, sein doktrinärer Rahmen, nichts von alledem darf als selbstverständlich gelten. Das ist die eigentliche Botschaft, die der Autor seiner Gesprächspartnerin und jedem Leser zuzuflüstern versucht, wobei er erneut heilsamen Zweifel unter Beweis stellt. Der historisch gelebte Islam ist nicht der Islam, der die Raum-Zeit-Koordinaten und die Herausforderungen transzendiert, die sich den Lebenden aufdrängen und sie belagern. Der historische Islam ist der einer Gemeinschaft, ein Islam, der durch eine Fraktion, die Ahl Al Jamaa umgesetzt wurde mittels eines langen Prozesses, der sehr früh in Medina begonnen hatte und in Mekka erneut bestätigt wurde. Alles, was in der Folge erzählt wird über den Zeitraum, der auf den Tod des Propheten folgte, bietet sich daher an für eine kritische Analyse,3 und jede Kritik zieht eine weitere nach sich. Anstatt auf eine letztgültige Lesart zu warten, die allen anderen ein Ende setzt, anstatt auf das jüngste Gericht zu hoffen, das jegliches andere Urteil endgültig klarstellt und null und nichtig macht, appelliert der Autor an den Mut und die Dringlichkeit, die „eigene Interpretation“, die eigenen Hypothesen vorzuschlagen, denn wenn wir zu lange warten und die persönlichen Antworten zu sehr verschieben, werden wir durch die Tradition überschwemmt und überflutet, die von unserer Untätigkeit profitiert und sich neue Wege der „Re-Traditionalisierung“ unserer Erfahrungen und unserer erhofften Horizonte eröffnet. Es gibt also keine Notwendigkeit, das „Buch“ und die Sunna auf ihre „Immanenz“ und auf ihre Inkarnation in der Geschichte zurückzuführen, angesichts des Wissens, dass wir dies nur ausgehend von unserem derzeitigen Stand der Kenntnisse, unseren Bedürfnissen, unserem Glauben und unseren Erwartungen tun können. Der Autor stellt die Frage erneut, in Form einer Erklärung, die an seine Gesprächspartnerin und über diese an uns gerichtet ist: Wie bildete sich die Sunna und wie hat sich die besagte „prophetische Tradition“ etabliert? Wer war ihr Urheber und mit welchen Zielen wurde sie konstituiert? Wie in einer Magie epischen Stils sagt uns der Autor: „Es war einmal Mekka, dann Medina, dann Damaskus“: drei Orte, drei Etappen. Es ist also das Multiple, das diese Geschichte säumt, nicht das Eine. Die Geschichte der Immanenz lehrt uns, dass sich dreißig Jahre nach dem Tod des Propheten die –––––––––––––––––– 3 Unter den zeitgenössischen Forschern, die diese kritische Lektüre der Geschichte des Islams zusammengetragen haben, ist auch der tunesische Historiker Hicham Jaait, insbesondere in Bezug auf die Periode, die unmittelbar auf den Tod des Propheten gefolgt ist, die Periode des „großen Streits“, dies ist im Übrigen auch der Titel eines seiner Werke, das zum Klassiker in diesem Bereich geworden ist. Man müsste vielleicht erwähnen, dass die der Periode der Gründung des Islams nahen Chronisten durchaus die Verwirrungen, Kriege und Rachetaten wiedergaben, die diese Periode gekennzeichnet haben, aber ihre Anliegen sind zum Gegenstand von Verdunklungen, wenn nicht gar eines großen Schweigens geworden. Diejenigen, die ein goldenes Zeitalter behaupten, das auf eben diese Periode zurückgeführt wird, haben es vorgezogen, dort keinerlei „Schandfleck“ zu sehen.

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Umma, die muslimische Gemeinschaft, in mehrere antagonistische Fraktionen aufgespalten hat, eine ganz normale Angelegenheit, urteilt man nach den Spielen der Macht, die traditionell nur in der einen von drei Gestalten ausgeübt werden konnte: jener eines tyrannischen Individuum, jener einer auserwählten Gruppe oder aber einer Gestalt, mit der sich ausnahmslos jeder identifizieren kann. Parallel zu dieser Hypothese hätte man dann also die Kharidjiten – Dissidenten, die die Gemeinschaft dazu aufgerufen haben, im Namen von Allah zu regieren und die Führung durch das Individuum ebenso ablehnten wie die durch hochgestellte oder Standespersonen; sie waren eben hierdurch in politischer Hinsicht kompromisslos. Dann hätte man die Gemeinschaft jener, die denken und handeln, damit die Macht zurückkehrt (da sie bereits mit dem Tod des Propheten verloren gegangen ist) und in den Händen von „Standespersonen“ bleibt, jener tugendhaften Edlen von Mekka (Aschraf Maqqah), in diesem Fall also unter jenen, die aus dem Stamm des Propheten hervorgingen: die „Quraischiten“. Und dann diejenigen, die mit einem gewissen Radikalismus und subversivem Willen dachten, dass die Macht des zeitlichen und geistigen Propheten eine Hinterlassenschaft ist, die von der Familie des Propheten nicht zu lösen ist, genauer gesagt, auf der Seite von Ali, dem Vetter und Schwiegersohn von Mohammed und viertem Khalifen – dies sind die Schiiten. Dennoch ist die beibehaltene Version der Tradition, die lange Zeit vorherrschen sollte, die der Notablen der Koraisch (Ashraf Koraisch). Sie haben schließlich den Korankorpus ihrer Wahl als jenen der Sunna durchgesetzt, und ihre Interpretation dieses doppelten Korpus wurde zur offiziellen Interpretation. Sie haben somit den „zu verfolgenden Weg“ abgesteckt; im Übrigen stammt der Begriff Sunna vom Verb „sanna“, das gleichzeitig bedeutet, ein Gesetz zu veröffentlichen, eine Regel aufzustellen, einen Weg zu bereiten und ein Verhalten zu kodifizieren: ein erhebliches Machtstreben, das nur im Doppelspiel von Integration und Ausschluss wirksam werden kann. Die „Ahl as sunna wal jamaa“, die Leute der Tradition und der Gemeinschaft (dies ist der Name, den sie sich selbst gegeben haben), haben somit die Grundlagen und die Art und Weise eingeführt, wie der ewige Text erklärt und auf die menschliche Wirklichkeit bezogen werden „muss“. Mit einem Mal haben ihnen ihre Gegner einen anderen Koran entgegengesetzt, das heißt eine andere Lesart des Koran. Das Verb quara'a ist der Wortstamm von Quor'an oder Koran. Andere Lesarten haben unverzüglich andere Bedeutungen inventarisiert und entdeckt, andere Worte und Taten, andere Interpretationsanstrengungen, denen es weder an Strenge noch an Bedeutung mangelt verglichen mit dem, was von ihren Gegnern bewerkstelligt wurde: den Herren der Koraisch aus Mekka. Das völlige Fehlen eines Kompromisses zwischen den verschiedenen Mitgliedern der Umma führt zu einer Vervielfachung von Fraktionen, die sich trennen, sich isolieren, sich selbst zu legitimeren Gebilden als andere erklären, so wie die

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Kharidjiten (ihr Name stammt vom Wortstamm kharaja: herauskommen, verlassen, in der Abweichung sein). Sie haben für sich ebenfalls den Prozess der Konstitution-Fabrikation eines gemeinschaftlichen Gedächtnisses wieder aufgenommen, nach Art der Ahl-assunna wal-jamaa und der Schiiten, abgesehen von dem einen Unterschied, dass die Kharidjiten, so der Autor, keinerlei Sunna und auch keine stabile und kumulative Tradition akzeptieren; aber nachdem sie vor der Schwierigkeit standen, eine derartige Einstellung unbegrenzt aufrecht zu halten, sahen sie sich gezwungen, sehr früh von der Bühne der Geschichte abzutreten. Dies war bei den Schiiten nicht der Fall, deren Ideen gelegentlich florieren und in bestimmten Gegenden sogar dominant werden konnten, was ihnen ermöglichte, ihre Macht zu etablieren. Die Schiiten stellen trotzdem keine Alternative zu Ahl Al As-Sunna Wal-Jamaa dar, und obwohl ihre Ideen auf theoretischer Ebene einen gewissen Nutzen zeigten, waren sie derart exzessiv, dass sie auf Unmöglichkeiten auf der praktischen Ebene stießen. Der in der Geschichte mehrheitlich beibehaltene Islam ist der „gemäßigte“ Islam der Ahl as-Sunna. Dies ist eine entschlossene Gruppe, die das Profil des Islams durch einen langen Prozess gestaltet hat, die Sunniten, die sich selbst die exklusive Befugnis zuerkannt haben, sich zu denjenigen zu erklären, die alle Dinge lösen und regeln, zu den „Ahl al hall wal-aqd“. Als Herren der Gemeinschaft gelingt es ihnen, das Verhältnis zur Tradition in vier Grundprinzipien zu schmieden: – Einzig und allein der Koran zeigt uns, was Gott von uns und für uns will, insofern ist er „göttliches Wort“. – Einzig der Prophet kennt dessen tiefe Bedeutung genau. Er ist der einzige integrale Dolmetscher und Vermittler zwischen Gott und uns, daher auch seine Macht, sich für unser Heil einzusetzen. – Die nahen Gefährten des Propheten sind die einzigen, die fähig sind, uns diese Erklärungen zu übermitteln und die prophetische Vermittlung fortzusetzen, was die Auslegung des heiligen Textes und die Verkündigung der Gesetze betrifft, die sich dort verwurzeln. – Jene, deren Sprache Arabisch, die Sprache des Korans ist, also die Araber, können spontan die Bedeutung der Worte und die Reichweite der Ausdrücke und Metaphern erkennen, die im Koran und in den Worten des Propheten und in den Zeugnissen seiner Gefährten wirken. Dies ist die am weitesten verbreitete Formulierung der traditionellen Position der Sunniten. Ihre Strenge und Restriktivität ist klar und erstaunlich! Man kann also die unheilvollen Folgen dieser Position sowohl auf der Ebene des Wissens als auch auf der Ebene der Politik ermessen, umso mehr, als die Interferenz zwischen der religiösen Exegese und der politischen Macht eine Konstante in der Geschichte der Muslime ist. Das politische Verhalten der Men-

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schen verläuft über ein Monopol der Bedeutungssphäre, über eine zahlenmäßig begrenzte Elite, die mit entscheidender Macht in Bezug auf die Seelen ausgestattet ist: Festlegung der Referenz, Blockieren der Bedeutung und Einführung eines Dispositivs, das a priori erstellt wurde, um alles Neue zu bewältigen. Man liest das Neue durch das Alte, man glänzt durch das Schaffen von Verbindungen zwischen unzusammenhängenden Ereignissen, Lösungen, die zunächst für vorangegangene Fälle vorgeschlagen wurden, dehnt man auf neue Situationen aus, man schöpft aus dem „Schatz“ der Vergangenheit, ohne allerdings die Gegenwart zu erweitern; die Rechtsprechung wird durch eine durch und durch politische Einstellung verdoppelt: Weil die Verwendung der Analogie das vergangene Beispiel triumphieren lässt und den Vorfahren (Assalaf) zum Nachteil des Nachkommens (Al Khalaf) krönt, ist die sunnitische Jurisprudenz in ihrer Methode wie in ihren Zielen nostalgisch! Verhängnisvolle Folge einer solchen Haltung: Die Fähigkeit von Individuen, die Initiative zu ergreifen, wird eingeschränkt, wogegen sich die Neigung verstärkt, sich der Meinung der Gruppe, ja sogar der Toten zu beugen. In Wirklichkeit schließt die sunnitische Tradition andere Traditionen aus, trotz der Charakterisierung als tolerant, mit der sie sich gemeinhin schmückt. Es geht um das Eine versus das Vielfache. Vielleicht vereinfacht der Monotheismus den Übergang zur despotischen Politik der Menschen. Hierin liegt eine bahnbrechende Idee des Buches von Laroui! Ein einziger Gott, auf einem Thron sitzend, entscheidet über die menschlichen Angelegenheiten und Leben und bestimmt das Schicksal der Wesen: Das Abgleiten in Richtung der Darstellung des Despoten im Kreis der Menschen ist naheliegend. Ein einziger Gott, ein absoluter Herrscher, dem Mächtigen gefällt es, „in das Gewand eines Heiligen zu schlüpfen“. Man müsste vielleicht das Archiv des Absolutismus wieder öffnen und dessen Genealogie über die monotheistischen Religionen hinaus zurückverfolgen. Wahrscheinlich ist es die Macht des pharaonischen, griechisch-römischen oder persischen Einen – so Laroui –, die das Denken auf die Idee vorbereitet hat, den Monotheismus im Mittelmeerraum zu übernehmen. Man kann also die Hypothese äußern, dass die sunnitische Doktrin über die Idee eines einzigen und allmächtigen Gottes bis zu einem bestimmten Grad darauf vorbereitet, die Entscheidungen über die Angelegenheiten des Lebens der Menschen einem absoluten Individuum zu überlassen, unter der Bedingung, dass dieses „in jeder Hinsicht gerecht und fair“ sei. Der Sunnit stellt sich weder die Welt noch die Gesellschaft ohne Hierarchie vor, die Sterne und die Pflanzen zählen nicht, auch nicht die menschlichen Gruppen und Individuen. Es wäre also notwendig, den Grundsatz der Unterscheidung und der „Präferabilität“ zwischen den Menschen einzuführen, so wie es Regierende und Regierte gäbe, cherifische Edle und Plebs, Männer und Frauen, Meister und Sklaven, Erwachsene und Minderjährige und dergleichen mehr. Die Sunna ist folglich eine Methode, das Archiv zu organisieren, die Spuren zu „fundamentalisieren“, sie ist eine „Rationalität“, die ihre eigenen Prozeduren hat,

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und ihre eigene Strategie. Man kann ihr viele Unzulänglichkeiten zuschreiben, aber man kann ihr schwerlich ihren Mangel an Wissen, an Kohärenz oder Konstanz vorwerfen. Die Sunna hat ihre eigene Vorstellung von aufrechtzuerhaltener Ordnung, weiterzugebendem und zu bewahrendem Wissen, vom Status des Meisters und des Schülers, von dem, was zu bewahren oder auszuschließen ist, vom Guten und vom Bösen. Sie hat sogar ihre eigenen Mechanismen, sich zu erneuern, eine etwas paradoxe Formel, aber das Paradox löst sich auf, sobald man begreift, dass die Tradition sich nur im neu eröffneten Spiel einer Re-Traditionalisierung bewahrt, einem Spiel, bei dem sie das, was ihr widersteht, aufnimmt, absorbiert und investiert. Die Erneuerung der Sunna besteht darin, sich zu erinnern und sie ohne Unterlass anderen in Erinnerung zu rufen, sie sichtbar und hörbar zu machen, gegebenenfalls zu reinigen, sie ungeachtet des Flusses der Zeit permanent und intakt zu machen: „Die sunnitische Zeitlichkeit ist eine Zeitlichkeit der Wiederholung“, sagt uns der Autor. Sie ist gewissermaßen eine Zeitlichkeit des Zeitlosen. Mit jedem Schreien und jeder Drohung stärkt sie sich, indem sie ständig ihr „Anderes“ bestimmt: die anderen Fraktionen, die Philosophen und die Mystiker, obwohl diese beiden letzteren jedes Mal die Mittel finden, sich ihrer zu bemächtigen, sich von ihr zu entfernen oder sich boshafterweise in ein Konkubinat mit ihr zu begeben.

Eine negative Pädagogik Pädagogisch besteht die Lehre im Rahmen dieser Tradition zunächst darin, das zu schützen, was bereits in Form etablierten Wissens bekannt und abgegrenzt ist. Wer zum Wissen aufgerufen ist, darf der ererbten Hinterlassenschaft nicht widersprechen noch sich von ihr entfernen, und sollte er tatsächlich Einsicht beweisen und eine wie auch immer geartete persönliche Reflexion vorbringen, so ist das nur auf marginale Weise möglich, die das Gebäude nicht betrifft. Keine „böse“ Überraschung, das zukünftige Wissen ist bereits vorhanden, in allen Einzelheiten vorhergesehen. Man verlässt den Weg der etablierten Ordnung, der institutionalisierten Sitten und Gebräuche nur auf die Gefahr hin, als häretisch eingestuft zu werden! Wenn eine Abweichung registriert wird, wird diese sofort als Störung der Zuhörerschaft und des Sprechers selbst aufgefasst! Die Tradition beharrt darauf, im Element der Treue zu sich selbst zu bleiben und sichert so ihre Reproduzierbarkeit. In dem Maße, in dem man sich von der ursprünglichen Quelle entfernt, wird die Kodifizierung dichter. Während Abou Hunaïfa, einer der ersten Gelehrten, der eine Kodifizierung der Rechtsprechung im Islam in Betracht zog, eine vergleichsweise hohe Flexibilität aufbrachte und dem Richter noch die Möglichkeit bot, seinen Erfindungsgeist unter Beweis zu stellen, um die neuen Probleme zu bewältigen, die innerhalb des jungen Staates auftauchten – angesichts der Vielfalt der Volksgruppen und der auftauchenden Interessen sowie der noch vorhandenen Aus-

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wirkungen der präislamischen Gesellschaft –, so geht Malik Ibn Anas um nichts besser vor, ganz im Gegenteil: Er engt diesen von seinem Vorgänger eröffneten Spielraum ein, eine Restriktion, die später durch Ach-Chafii noch verstärkt wurde, der die Quiass einführte, die Analogie als Referenzprinzip für die Urteilsfindung (eine Methode, die darin besteht, das aufgetauchte Unbekannte auf das zurückzuführen, was bereits bekannt ist). Im sunnitischen Rahmen ist das Wissen „wie der Glauben“, es muss „konstant“ und „vollständig“ sein, und wie durch eine göttliche Gnade gegeben. Schließlich wird der Prophet des Islams als „Analphabet“ dargestellt, als Oummi. Der hier anerkannte Analphabetismus hat eine positive Bedeutung, er ist synonym für einen „Naturzustand“, für Unschuld und Spontaneität. Jene, die ihn verteidigt haben dort, sahen darin eine Qualität, die den erhöht, dem sie zugesprochen wird! Natürlich kann man heute auf Distanz zu diesen Absichten gehen, die schlussendlich nur eine Lobrede der Unwissenheit sind, und somit eine Art und Weise, die Kluft zwischen der „Khassa“, einer wissenden Elite, und der „Aamma“, der Masse, die in der Unwissenheit versinkt, zu vergrößern. Jene, die diese Dichotomie aufrechterhalten haben, widersprechen selbst durch ihren Status als „privilegierte Weise“ dem, was sie aufrechterhalten; als unterrichtete „Kräfte“ errichten sie eine Demarkationslinie zwischen Elite und einfachem Volk. Ihr Zustand bezeugt das Gegenteil dessen, was sie lehren, so der große Mann des Wissens, Ibn Hazm, herausragender Philosoph und Jurist des muslimischen Andalusien im 11. Jahrhundert. Eine Frage bleibt jedoch an uns gerichtet: Wie ist es möglich, von Kenntnissen zu sprechen, vom Bemühen um die Suche nach und der Übertragung von Wissen, wenn man, in einem großen Maßstab betrachtet, den Weg des Nicht-Wissens und des institutionalisierten Analphabetismus privilegiert? Die Antwort ist einfach. Die Geographie des Sich-Auskennens [connaître] wird verboten, und das Wissen [savoir] ist in Anbetracht seines tautologischen Charakters fast staubig, um Foucault zu paraphrasieren, wenn er das vormoderne Wissen im Okzident beschreibt. Die Tradition, die mittels ihrer Institutionen über die Organisation des Wissens wacht, unterscheidet „unverzichtbare Kenntnisse“, nämlich des Korans, des Hadith und des Fiqh (Recht) von jenen, die zusätzlich und ergänzend sind, wie jene der Sprache, der Grammatik oder der genealogischen Erzählungen. Dieselbe Tradition hat die Methode festgelegt: Sie stützt sich hauptsächlich auf die passive mündliche Überlieferung, das respektvolle Zitieren der Vorgänger und der hochgeachteten Referenzkette gemäß der Technik des Ja-Sagens. Andere Bereiche von Kenntnissen werden zugelassen, solange gewährleistet ist, dass sie keine Gefahr für die Religion darstellen. Der Lernende ist im Wesentlichen aufgerufen, die „Kunst“ eines verinnerlichenden Zuhörens zu beherrschen, seine Lektionen auswendig zu lernen und auch auswendig zu rezitieren. Natürlich erschöpft die sunnitische Kodifizierung nicht das „Leben des Wissens“; andere Disziplinen und andere Gebiete und andere Künste wer-

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den gelehrt, reaktiviert, wie z. B. die Medizin, die Alchemie, die Weissagung, ja sogar die Astrologie, aber an den abseitigen Orten derer, die sich der Allmacht der sunnitischen Tradition manchmal auf ungewöhnliche Weise entziehen, am Wohnsitz eines Prinzen, am Hof eines Monarchen oder Wesirs, oder ganz einfach auf der Straße! Die sunnitische Kultur ist also eine des Zuhörens und der mündlichen Sprache, der Rhetorik, kurz eine logomachische Kultur des Streits um Worte, und somit in vollem Gegensatz zu einer Kultur des Auges und der Hand, des offenen Experiments. Ihre Pädagogik ist eine Pädagogik der Nachahmung und nicht der Neuschöpfung. Innovation ist Häresie (Bid'a) und im Übrigen verleumdet. Der Weg ist somit offen für die Ausuferung des „wahren Wegs“ der Vorfahren. Die Gegenwart wie die Zukunft werden gewissermaßen zugunsten einer Homogenität mit der Vergangenheit vereinnahmt. Verbannt wird also der Geist des Unterschieds: Die Anstrengung wird zur negativen Energie, um die Zeit anzuhalten, die Veränderung zunichte zu machen und die „Häretiker“ zu unterlaufen: das düstere Bild einer extremen Sklerose für jeden Versuch, den Akt des Erziehens ins Kielwasser einer Pädagogik zurückzubringen, die für einen möglichen Demokratiehorizont offen ist, bei der es eher um freies schöpferisches Tun und um die „Chancengleichheit“, ja sogar die Gleichheit der Rechte geht, einschließlich des Rechts, sich den Schoß des kollektiven Gedächtnisses erneut anzueignen und ein neues Verhältnis zur Herkunft zu etablieren, das unsere „Gegenwart“ als aktive Subjekte würdigt, anstatt sie zu annullieren. Dies ist der zweite Höhepunkt des Werkes, das ich nun ohne Verzögerung analysieren werde.

Die Sorge um das Gedächtnis Laroui eröffnet eine Spur, oder vielmehr erinnert an eine Spur, die schon früher durch Disziplinen wie die Geschichte oder die Psychoanalyse eröffnet wurde: Am Gedächtnis zu arbeiten, bedeutet zunächst, die Art und Weise, wie es funktioniert, zu überdenken. In der Tat ist das Gedächtnis selektiv, exklusiv, manchmal leidet es sogar an Amnesie, wenn es zum Memorial zu werden droht. Hauptvorsichtsmaßnahme: nicht vom bereits konstituierten Gedächtnis ausgehen, um das Archiv unserer Geschichte und unserer Identität durchzublättern, sondern vielmehr zu einer „Archäologie“ der Bildung des Gedächtnisses selbst überzugehen. Die Bedeutung dieser Regel ist für jene oder jenen, der danach strebt, „heute auf andere Weise Muslim“ zu sein, unermesslich, die Frage selbst zeugt von einer Sorge um Singularität, die weit entfernt ist von jedem Erfahrungsmodell, welches das Gedächtnis uns nur allzu bereitwillig als Konfektionsware vorlegt. Es würde also die erinnerte Zeit geben, aber auch die Zeit, die auf die Dichte der Geschichte zurückgeführt würde und gewissermaßen vom Einfluss des

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per definitionem selektiven Gedächtnisses befreit wurde. „Das Gedächtnis ist ein Ort, wo man ankommt, nicht ein Ausgangspunkt“ sagt der Autor (S. 48). Es kommt immer nachher, so dass die Frage aufgeworfen wird: Warum bevölkern solche Ereignisse und solche Tatsachen unser Gedächtnis, anstatt dass man sich Gedanken darüber macht, zu welcher Vergangenheit uns unser Gedächtnis bereit macht, zurückzukehren? Wo sollen wir den Anfang unseres Gedächtnisses als „Muslime“ festlegen? Und welche Zeit ist uns gegeben, um uns als „Identität“ dort zu verorten? Was ist mit dieser „Zeit der Identität“, die diese vierzehn Jahrhunderte, die seit der Ankunft des Islams vergangen sind, vorgeblich bilden? Was würde geschehen, wenn wir in unserer Restituierung unseres identitären Archivs dessen Grenzen über diese berühmten vierzehn Jahrhunderte ausdehnen würden, und grundsätzlich über den abrahamitischen Aspekt hinaus, um die prä-islamischen, griechisch-römischen und persischen Aspekte mit einzubeziehen? Hier liegt übrigens ein sehr erhellender Punkt der lehrreichen Lektüre Larouis, für den der Prophet Mohammed bewusst die meisterliche Geste von Abraham „wiederholt“, eine überschreitende und zugleich grundlegende Geste, die eine neue Vorstellung vom Religiösen des Menschen wie auch Gottes transportiert! Abraham erfindet Gott neu, und folglich auch den Menschen. Er ist der Urheber eines „ganz anders“, das das bereits Erlebte, Bekannte, Institutionalisierte überschreitet. Das ist es, was Mohammed seinerseits in Hinblick auf die Tradition und vor allem auf die jüdisch-christliche Tradition neu zu erfinden suchte. Der Autor restituiert also durch dieselbe Geste die beiden Persönlichkeiten, Abraham und Mohammed, jenseits der Einschränkungen, die ihnen die sunnitische Tradition auferlegt. So wie Abraham es ablehnte, sich dem Gesetz seines Stammes und der Beibehaltung dessen Glaubens zu unterwerfen, wollte auch Mohammed nichts vom Christentum noch vom Judentum noch vom hellenistischen Erbe, die doch alle in seiner Reichweite lagen. Wir sind daher aufgefordert, die Geschichte der Region noch einmal auf andere Weise zu untersuchen und aufzusuchen, als dies eine bestimmte Geschichte des Mittelmeerraums vornimmt. Die Geschichte des Monotheismus ist neu zu schreiben! Die „Araber“, unter deren glaubwürdigen Männern auch Mohammed war, verfügten oder glaubten über etwas zu verfügen, was sie von einem mechanischen Rückgriff auf die Formen vor Ort verfügbarer Religiosität entband. Sie wollten etwas anderes und strebten nach einer anderen Grundlegung ihres Monotheismus. Somit schrieben sie sich in den abrahamitischen Gestus ein, der die Sterne herausforderte, sich von den Idolen und vom Glauben ihrer Vorfahren abwandte und das ablehnte, was ihre Großväter anbeteten. Mohammed war der Erbe und Held dieses Willens, durch eine Geste eine ganze Vergangenheit zu annullieren. Abraham verließ die Seinen und ging ins Exil, fernab vom Ort seiner Geburt, und zog eine schwierige Freiheit einer erniedrigenden Bequemlichkeit vor; sein Umherirren in der Wüste wird somit

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plötzlich zum Erobern einer zu rekonstruierenden Leere. Abraham wird also als Quelle und Ursprung eingesetzt, er nimmt die Gestalt einer schützenden Macht an, Vater von allen und Urheber einer Geste, die die Öffnung und die Befreiung ankündigt und anzeigt. Genau dies entdeckt Mohammed bei ihm und beharrt darauf, es zu wiederholen. Allerdings ist die Wiederholung hier keine einfache Wiederaufnahme, sie ist aktive Rezeption und Formulierung einer nie da gewesenen Entscheidung. Die Wiederholung ist eine Art Antwort auf die Aufforderung einer anderen Leere, die noch vor jeglicher Grundlegung zu geben ist; sie ist ein Weggehen aus der Gruppe, der man angehört, und eine Infragestellung bestehender Hierarchien, ein Verlassen des beruhigenden Habitus. Mohammed „der Berufene“ ist eine unumgängliche Singularität: Waise von Geburt an, begibt er sich freiwillig ein zweites Mal in das Waisentum und schafft so eine unermessliche Vergangenheit ab, indem er sie bewahrt. Der Riss geht der Gründung voraus: Mohammed ist das, was er ist, weil er das Erbe zugleich unterbricht und übernimmt. Er ist er, weil er sich gleichzeitig zu den anderen macht: Juden, Christen und andere, und die Kette zurückverfolgt, die ihn bis zum abrahamitischen Zeitpunkt zurückführt, ein schwindelerregender Aufstieg, den in der Folge einige große Mystiker des Islam versuchen werden. Hier liegt das Transzendentale, in Form eines „Historials“, das die historische Zeit überschreitet, ohne aufzuhören, mit den von Menschen erlebten Räumen und Zeitlichkeiten eine konkrete Gestalt anzunehmen. Mohammed findet sich hier wieder mit einer akzentuierten Menschlichkeit, er ist einmalig und vielfach, er ist jener, der die auf Abraham bezogene Inauguralhandlung vollzieht, der, der die schwierige Anfangszeit in Mekka verbringt, wo er sein Leben für ein Ideal riskiert, der, der in Medina ist und nach einem siegreichen Aufenthalt in Medina nach Mekka zurückkehrt, wo er zum Gebieter wird. Dies regt dazu an, das – nach wie vor virtuelle – Buch der Sira wieder zu öffnen, die Biografie des Propheten, aber auch den „Text“ des Korans selbst wieder zu öffnen, der von ihm gemäß den Kontingenzen der Zeit, in der er lebte, wiedergegeben wurde und gemäß moralischen Imperativen, die das Unmittelbare der Ereignisse transzendieren und einen universalisierenden Hauch auf das lokale Anliegen legen.

Schlussfolgerung Aus dieser Lektüre möchte ich vier wesentliche Hinweise im Sinn behalten, die in gewisser Weise Felder für die Reflexion ebenso wie für eine mögliche Praxis eröffnen. Erstens: Die Lektüre von Laroui, die ich soeben sehr schematisch vorgestellt habe, erweist sich als eine Übung, die geprägt ist von dem entschiedenen Willen, sich das kollektive Gedächtnis wiederanzueignen, im vorliegenden

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Fall das des Heiligen. Indem sie seine – nach wie vor vorhandene – Gesprächspartnerin auffordert und somit auf herzliche Weise einlädt, die Sunna wiederzusuchen, wie sie ist, und nicht so, wie sie beschließt, über sich selbst zu uns zu reden, versucht sie, uns als aufgeklärte Leser der Geschichte und im Sinne einer sachkundigen Pädagogik auf den Weg einer freien Selbstbestimmung zu führen, gegenüber dem, was den Sockel unserer Identität gebildet hat, die ihrerseits aus einer Reihe aufeinander folgender Identitäten hervorgebracht worden ist. Die Sunna hat nicht das letzte Wort über die Frage des kollektiven Archivs und darf es auch nicht haben, und noch weniger über die Entscheidungen von jenem oder jener, die beschließt, ganz einfach „Muslim zu sein“ oder ganz einfach nur zu sein, in der heutigen Zeit, frei und ohne jegliches Gängelband. Zweitens: Die Überlegung von Laroui ist von einer entscheidenden methodologischen Tragweite: Die religiöse Sache ist nicht das geschützte „Jagdrevier“ des religiösen Diskurses, noch das der Tradition im Allgemeinen. Also unternimmt Laroui als ein Historiker, der sich an der Tafel der Geisteswissenschaften und ein wenig an der analytischen Philosophie gelabt hat, diese Rückkehr zur religiösen Frage, die als Frage weder den fundamentalistischen Fraktionen noch den in der islamischen Welt installierten staatlichen Mächten überlassen werden sollte.4 Eine Aufforderung gibt es, die die Überlegungen des Autors in diesem Werk im Stillen durchzieht: nämlich die Religion retten wie auch ihre Symbole der Sunna und sogar den religiösen Diskurs. Es ist nicht sicher, dass die Art und Weise, wie die in der muslimischen Welt dominierende sunnitische Tradition die Spuren des Propheten behandelt, sein Andenken ehrt und seinen Beitrag und die reichhaltige Komplexität seiner Persönlichkeit zur Geltung bringt. Der Prophet hat viel zu gewinnen bei einem Ansatz, der seine historische Menschlichkeit und seinen Humanismus viel stärker herausbrächte als einer, der die historische Persönlichkeit durch einen Mythos ersetzt und sie dadurch schließlich vernichtet: „Es ist unsere Pflicht“ so schreibt der Autor, „die Wissenschaft und die Politik zu retten, nicht vor der Religion, einem Konzept, das jedes Mal mehr Genauigkeit verlangt, son––––––––––––––––––

4 Larouis Intervention in der Debatte über die Religion steht in Bezug zum aktuellen Verhältnis von Politik und Religion in Marokko. Die Debatte schwankt im Allgemeinen zwischen zwei Tendenzen: Die Fundamentalisten machen aus der religiösen Frage ein faschistoides Alibi, um die Politik zur Sprache zu bringen (da der Glaube nur eine Frage des Prunks ist); ihre radikale und exklusive Interpretation ähnelt ein wenig jener der fundamentalistischen Bewegung überall in der islamischen Welt von heute. Und auf der anderen Seite gibt es den Staat, der sich bemüht, dieser „Gefahr“ entgegenzutreten durch eine handfeste „Umstrukturierung“ der religiösen Felder, die darin mündet, besagte gemäßigte Version des „wahren“ und „toleranten“ Islams aufzudrängen, ohne zu vergessen, dass der marokkanische Monarch sowohl Staatsoberhaupt ist als auch Oberhaupt der Gläubigen (Amir Al Mouminin). Larouis Gesichtspunkt erschließt eine neue Perspektive: Die Beziehung zur Religion könnte auch in Form einer freien und reflektierten Entscheidung eines Individuums konzipiert werden, das sich um sich selbst kümmert und ohne Vermittlung des Staates oder der Glaubensbrüder auskommt.

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dern vor der Interpretation, die durch die Sunna auferlegt wurde; die Sunna nämlich ist eine menschliche Institution, sei sie nun offiziell oder nicht, organisiert oder nicht, aber die Pflicht ist allgemein und bleibt permanent, weil es kein Ende des Kampfes gibt“ (S. 210). Drittens: Der Autor lädt uns also ein, die Wiederholung zu wiederholen, jene, die in die Geste von Mohammed nach Abraham eingeschrieben ist: die Tradition anzunehmen als Arbeit der Destruktion und der Neugründung, und dies im Licht einer zeitgenössischen Mitwelt, die nicht auf bereits Erlebtes reduzierbar ist. Die Tradition anzunehmen läuft bei unserem Denker darauf hinaus, die Moderne selbst anzunehmen, indem er deren Prämissen und Grundlagen assimiliert, die vor allem in einem Bruch mit den Stammesbindungen und einer Wiederentdeckung des Individuum bestehen, sei es Mann oder Frau, frei, unabhängig, das die Gleichheit gegenüber seinesgleichen genießt. Freiheit, Autonomie und Gleichheit sind drei Grundsätze, die für die Konzeption einer Individualität unverzichtbar sind, die fähig ist, für sich selbst zu entscheiden und sich selbst mit vollem Bewusstsein anzunehmen; es ist die Individualität selbst, die durch eine lange mühselige Arbeit in der Erfahrung der Moderne in Aussicht gestellt und verwirklicht wurde, von der uns tragischerweise das traditionelle Paradigma immer weiter entfernt, das als solches nicht nur die religiösen Überzeugungen und Praktiken betrifft, sondern sich auf die Gesamtheit unseres sozialen Lebens ausdehnt und sogar unseren ästhetischen Sinn und unseren Geschmack beeinflusst. Mehr noch, dieses Paradigma kann gelegentlich durchaus soziale oder politische Strukturen und Gebilde infiltrieren, die in einem liberalen und obendrein laizistischen Horizont stehen. Viertens: Dass Bildung zum demokratischen Horizont gelangt, bleibt nicht nur ein simples Versprechen, sondern eine Möglichkeit, die ohne Zweifel realisierbar ist; dies darf uns allerdings nicht den Blick auf die Reihe der unzähligen Hindernisse verstellen, die eine erfolgreiche Verbindung zwischen Bildung und Demokratie in der muslimischen Welt verhindern. Oberste Pflicht des als kritisch und konstruktiv verstandenen Denkens ist es, diese Hindernisse aufzustöbern und ihre Instrumentalisierung anzuprangern. Hier einige Beispiele dafür: – das schmerzhafte und gelegentlich schwierige Auftauchen des Individuums im modernen Sinn, ein Individuum, das zu freien Entscheidungen und zur aktiven Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten fähig ist; – das Andauern von archaischen Formen politischer Organisation und von sozialen Hierarchien, die aus einer vergangenen Zeit herrühren, Formen, die nach wie vor „feine Unterschiede“ zwischen Individuen derselben Gesellschaft errichten; – ein rechtlicher und symbolischer, auf Frauen beschränkter Status, der weit davon entfernt ist, ihnen wirklich gerecht zu werden, sondern im Gegenteil den ihnen zugeteilten Minderheitenstatus noch betont, während sie doch

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den Männern gleich sind: ein letzter Grund, der tausendfach die respektvolle Geschicklichkeit des Werkes („Tradition und Reform“) rechtfertigen würde, und die Anstrengung, die hier der Aufmerksamkeit einer Dame gegenüber geschuldet ist. Gewiss eine Hommage an alle Frauen der muslimischen Welt! Aus dem Französischen von Ursula Liebing

Angelika Neuwirth

DEN KORAN IN EUROPA LEHREN – ALS EUROPÄISCHEN TEXT

I. Einleitung 1. Was ist eine europäische Lektüre? Der Koran ist im Islam – anders als die Bibel in Europa – ein öffentlich präsenter Text. Seine in verschiedensten Situationen hörbare Rezitation, seine kalligraphische Darstellung auf überall sichtbaren Postern versetzen ihn in den Rang eines ästhetischen Codes seiner Gesellschaft. Er ist deswegen nicht nur ein historischer Basistext islamischen Wissens, sondern ein intensiv gegenwärtiger Teil des sozialen Lebens. Seine sakrale Bedeutung in Gottesdienst und Meditation übersteigt bei weitem seine diskursive Bedeutung als heilsgeschichtliche Erzählung, als Welterklärung oder ethische Wegleitung. In dieser so auffallend ausgeprägten Rolle als zentrales islamisches Symbol ist er für den westlichen Betrachter nicht unmittelbar zugänglich. In seiner diskursiven Bedeutung wiederum bleibt er aufgrund seiner schwer zugänglichen literarischen Gestalt ähnlich fremd – ein Eindruck, den auch die bisherige Forschung nicht zu zerstreuen vermocht hat. Sie hielt sich zur Erklärung des Koran vor allem an die islamischen Korankommentare und schrieb damit jene exklusivislamischen Deutungen des Textes fest, die die spätere Gemeinde entwickelt hatte. Mit anderen Worten: der Koran wurde in Europa in der Regel als ein bereits islamischer, fremder Text gelesen. Im Folgenden soll dagegen für eine „europäische Lektüre“ geworben werden.1 Gemeint ist natürlich nicht eine exklusiv oder sogar triumphalistisch westliche Lektüre im Gegensatz zu einer traditionellen nahöstlichen, eine Lektüre, die etwa den Anspruch erheben würde, islamische Leser des Koran „aufzuklären“. Die kulturtopographische Referenz „europäisch“ ist komplexer zu verstehen. Der Faktor „Europa“ in der gegenwärtigen Debatte um den Islam und den Koran manifestiert sich zunehmend als kanonisierende und damit auch exkludierende Instanz: Laut weithin akzeptierter Sprachregelung leben wir in einem „jüdisch-christlichen Europa“, in dem für den Islam noch immer kein Platz vorgesehen zu sein scheint. Das Projekt einer „europäischen Koran–––––––––––––––––– 1 Für eine etwas detailliertere Darstellung der „europäischen Lektüre“ s. Neuwirth 2008.

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lektüre“, das gegenwärtig in Berlin verfolgt wird,2 ist daher durchaus als Provokation zu verstehen: Es gibt offenbar eine reale Verbindung zwischen „Europa“ und dem Koran und damit die Möglichkeit einer „inklusiven“, den Koran in den europäischen Kanon einholenden Lektüre. Die Verbindung des Koran zu Europa lässt sich historisch gerade in der Epoche verorten, die – einem langlebigen Klischee zufolge – die „formative Epoche“ des werdenden Europa war, nämlich die Antike und Spätantike. In ebendieser Zeit entsteht der Koran, und so erklärt sich auch, dass er einen substantiellen Teil der spätantiken Debatten spiegelt. Er entsteht lokal in einem Raum, der – um in der Klischee-Sprache zu bleiben – die „Wiege der europäischen Zivilisation“ ist: im Vorderen Orient. Wenn man bei der gängigen Bestimmung Europas als erwachsen aus den Traditionen und Debatten der Antike und Spätantike bleiben will, gerät man also mit der Exklusion des Koran in Beweisnot. Mit der „europäischen Lektüre“ soll der umgekehrte Weg eingeschlagen werden, der Koran soll als Teil unserer eigenen europäischen Geschichte reklamiert und erkennbar gemacht werden. Zugespitzt ausgedrückt bedeutet das eine Lektüre des Koran als eines konfessionell noch nicht determinierten, also noch nicht islamischen Textes. Die Entdeckung dieser universalen, vorislamischen Dimension ist bereits ein Teil signifikanter europäischer Geschichte: Sie wird den Begründern der Wissenschaft des Judentums verdankt, jüdischen Gelehrten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur ihre eigene Tradition zu historisieren begannen, sondern auch den Koran erstmals aus der religiösen Polemik heraus in den historischen Diskurs überführten, die ihre an der jüdischen Tradition erprobten Methoden auch auf den Koran anwandten. Erst ihre Pionierarbeit, vor allem Abraham Geigers Werk Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? von 1833 (Geiger 2005), legte die Basis für die Arbeit der entstehenden Arabischen Philologie und der Islamwissenschaft. In den ca. 100 Jahren, in denen Gelehrte dieser Schule an deutschen Universitäten wirken konnten, wurde nicht nur wichtige Grundlagenforschung geleistet, sondern auch die naive Vorstellung widerlegt, dass der Koran eine ihr Ziel verfehlende Nachbildung biblischer Schriften sei, vielmehr wurde er als spätantiker Text, in der Tradition nachbiblischer exegetischer Debatten stehend, erkennbar gemacht. Seit diese Wissenschaftstradition durch den Nazi-Terror gewaltsam abgebrochen wurde, ist der Koran nicht wieder auf Augenhöhe, d. h. mit gleichem methodischen Anspruch und Aufwand wie die Heiligen Schriften der anderen monotheistischen Religionen erforscht worden. Er ist vielmehr wieder als das „ganz Andere“ dargestellt, sei es im Sinne eines unterstellten Niveaudefizits, das ihm nur den Rang eines epigonalen Textes zugesteht, sei es im Sinne eines notorisch modernefernen, da niemals durch Reformation oder Aufklärung hindurch––––––––––––––––––

2 Das hier kurz als „europäische Koranlektüre“ bezeichnete Projekt ist Gegenstand eines von der Autorin geleiteten Akademienvorhabens, „Corpus Coranicum“. Es wird seit Januar 2008 unter Federführung von Michael Marx und Nicolai Sinai an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bearbeitet, s. zur Aufgabenstellung Marx 2008.

Den Koran in Europa lesen

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gegangenen Textes. Eine „europäische Lektüre“ steht also in der Tradition der Pioniere der kritischen Koranforschung, der Wissenschaft des Judentums. An sie ist wieder anzuknüpfen, wenn man den Koran in seiner – das volle theologische Verständnis erst gewährleistenden – Intertextualität zur Kenntnis nehmen will, vor allem aber, wenn man aus dem Teufelskreis ausbrechen möchte, der vorsieht, dass das, was nicht „unsere Tradition“ ist, auch keine systematische Untersuchung verdient. Allerdings wird man das Gewicht heute mit gutem Recht nicht mehr – wie von der historistischen Perspektive gefordert – auf „Quellen“, „Übernahmen“ und „Einflüsse“, sondern eher auf die neuen koranischen Synthesen, auf Aneignungs-, aber auch Widerlegungsstrategien konzentrieren und sich damit in jene Debatten einbringen, die heute auf eine Revision unseres Bildes von den Anfängen Europas in der Antike und Spätantike drängen. Mit dem Projekt der „europäischen Lektüre“ soll aber nicht nur eine europahistorische und eine wissenschaftsgeschichtlich reflektierte Lektüre angestellt, sondern auch ein Versuch des Brückenschlags zwischen Ost und West gemacht werden. Denn das in Europa so wirkmächtige Hindernis an der Wahrnehmung einer gemeinsamen europäisch-nahöstlichen Geschichte ist gleichermaßen im Nahen Osten virulent. Dort ist der Spieß nur umgedreht: Wo der westliche Blick auf den Koran eine „Verfälschung genuiner rechtgläubiger Tradition“ oder einfach Epigonalität feststellt, einen Regress oder sogar ein Herausfallen aus der Geschichte, steht im Nahen Osten eine nicht weniger essentialistische Konstruktion. Dort markiert der Koran weitgehend noch den absoluten Anfang relevanter Geschichte, einer Geschichte, der keine nennenswerten Errungenschaften vorausgehen. Das Problem ist also ein gemeinsames und fordert somit zu Debatten zwischen westlichen und muslimischen Forschern heraus. In den hier zu gewinnenden hermeneutischen Erkenntnissen mag vielleicht sogar das wichtigste Produkt der „europäischen Lektüre“ überhaupt bestehen. Wie kann man sich auf ein Textverständnis einigen, das die islamische Interpretation respektiert und den Text zugleich für europäische Leser relevant macht? Die sich uns stellende Frage, in welcher (theologischen) Sprache der Koran zu seinen Hörern oder Lesern spricht, ob er tatsächlich nur zu Muslimen oder auch zu Nichtmuslimen spricht, stellt ein Problem dar, das nicht nur die westliche Wissenschaft, sondern ebenso die Muslime selbst bewegt und das vor einiger Zeit auch ganz offiziell auf einem internationalen Forum in der dem Islam heiligen Stadt Medina aufgeworfen wurde. 2. Orient und Okzident – zwei Fronten? Als Vorspann dazu rasch ein kurzer Überblick über die heutige Situation, die äußerlich zu wenig Hoffnung Anlass gibt. Westlich-europäische und muslimische Koranforscher, die in unserer Zeit, in der der Islam längst Teil unseres europäischen Alltags geworden ist, ganz besonders aufeinander angewiesen

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sein sollten, sind heute durch eine hermeneutische Barriere weiter denn je voneinander getrennt. Sie misstrauen einander und stehen nicht mehr im kreativen Austausch. Westliche Forscher werfen Muslimen Befangenheit in theologischen Dogmen vor, muslimische Forscher nehmen ihre westlichen Kollegen als polemisch-triumphalistisch, ohne die nötige Empathie für den Islam, wahr. Während noch in der Zwischenweltkriegszeit Rufe arabischer Universitäten an europäische Islamwissenschaftler ergehen konnten und sogar noch in den sechziger und siebziger Jahren Gastdozenturen deutscher Koranforscher in Jordanien und Ägypten willkommen waren, ist solche gegenseitige Neugierde und Offenheit heute Geschichte. Zwischen jener Zeit und heute liegen einschneidende politische Ereignisse, wie die iranische Revolution, vor allem aber innere krisenhafte Entwicklungen, die zu dem inzwischen ubiquitären Phänomen einer sahwa islamiyya, eines islamistischen Erwachens, geführt haben. Im wissenschaftlichen Bereich waren es aber auch „Textereignisse“, man könnte von „Textkriegen“ sprechen, die maßgeblich zu dem akademischen Klimasturz beitrugen – allem voran das gleichzeitige Erscheinen 1977 von zwei englischsprachigen Werken zur Korangenese: John Wansbroughs Qur’anic Studies (Wansbrough 1977) und Patricia Crones und Michael Cooks gemeinsames Buch Hagarism (Crone/Cook 1977). Gewiss, schon früher hatten kritische Entwürfe von Islamwissenschaftlern Misstrauen gesät; dennoch lässt sich nicht leugnen, dass das Erscheinen der beiden Werke aus der Feder hochangesehener Forscher – die erstmals die gesamte islamische Tradition als historisch basislos und damit die Masternarrative der Islamgenese als nachträgliche Mythenstiftung zu erweisen versuchten – einen Erdrutsch in der Beziehung zwischen Frühislam-Forschern hüben und drüben auslöste. Die bis heute anhaltende Folge ist eine fortschreitende Selbstghettoisierung der Forschung in der islamischen Welt. Aber auch im Westen wirkte sich das neue Modell gravierend aus: Der Koran als Text, der mit der Verlagerung seiner Herkunft aus dem Hijaz des 7. Jahrhunderts – den neuen Thesen zufolge – nach Syrien bzw. in den Südirak nun seine raum-zeitlichen Koordinaten eingebüßt hatte, verschwand gewissermaßen aus dem Horizont der Forschung, er machte dem Studium des traditionellen Korankommentars Platz, eine readers’ response-Forschung trat an die Stelle der Textforschung. Das bedeutet praktisch, dass wir in Europa hermeneutisch nicht imstande sind, auf die in der 1300jährigen Tradition angesammelte Kompetenz unserer muslimischen Kollegen vor Ort zurückzugreifen, und dass auch umgekehrt diese muslimischen Koranforscher nur sehr begrenzt von den wissenschaftlichen Arbeiten westlicher Forscher profitieren. Das mag etwas überspitzt formuliert sein, trifft aber im Wesentlichen die Lage. Wir stehen also vor der dringlichen Aufgabe, unseren Zugang zum Koran neu zu bedenken, die gegebene Situation sollte deswegen nicht als unumstößliches fait accompli, sondern eher als Prämisse für eine dringend geforderte Antithese, als Herausforderung zu neuen Entwürfen und hermeneutischen Modellen begriffen werden.

Den Koran in Europa lesen

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II. Wie positioniert sich der Koran unter den monotheistischen Schriften? 1. Transzendenz-Obsessionen Setzen wir bei einem neuralgischen Punkt an, der die Kommunikation in der Gegenwart erschwert, der uns aber zugleich auch bereits auf entscheidende Schnittstellen zwischen spätantiken jüdisch-christlichen und koranischen Vorstellungen verweist, nämlich der Frage nach der Transzendenz bzw. Weltbezogenheit des Koran: Vor etwas mehr als einem Jahr fand in Medina eine Konferenz zum Thema Koranforschung statt, zu der auch ein westlicher Forscher eingeladen war, dessen Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einiges Aufsehen erregte (Wild 2006). Dass nur ein einziger westlicher Gast anwesend war, entsprach der Grundstimmung der dort versammelten Gelehrten, die der westlichen Koranforschung äußerst skeptisch gegenüberstanden. Unter den verschiedenen Vorwürfen gegen westliche Ansätze war auch ein – für den Außenstehenden zunächst ganz harmlos klingender – Einwand: Die westlichen Forscher sprächen vom heiligen Buch der Muslime einfach als „dem Koran“, ohne die ehrende Qualifikation „erhaben“ dazuzusetzen, während im islamischen Gebrauch im Allgemeinen von al-qur’an al-karim, „dem erhabenen Qur’an“, gesprochen wird. Die Beobachtung ist keineswegs eine Bagatelle, vielmehr fängt sie eine Differenz ein, die tatsächlich den einheimischen vom westlichen Blick auf den Koran trennt. Denn die Benennung al-qur’an al-karim hat weitreichende Implikationen. Sie geht zurück auf den Vers Q 56:77, wo es heißt: „Wahrlich, es ist ein erhabener qur’an, der bewahrt ist in einer verborgenen Schrift“: innahu la-qur’anun karim fi kitabin maknun. Diese Schrift wird anderswo erklärt als „eine wohlbewahrte Tafel“, in Sure 85:22 heißt es: „Er ist ein preiswürdiger qur’an, festgehalten auf einer wohlbewahrten Tafel“: bal, innahu qur’anun majid – fi lawhin mahfuz. Der Koran hat also seinen Ursprung und angestammten Ort in einer transzendenten Urschrift. Diese transzendente Dimension des Textes hat heute gewissermaßen ein Kennwort, „al-qur’an alkarim“, „der erhabene Koran“, das sich auf dem Vorsatzblatt gedruckter Exemplare wiederfindet (Abb. 1). Sie verleiht dem Korankodex eine übernatürliche Aura, die heutige Internet-Technologie auch sichtbar zu machen imstande ist (Abb. 2): durch einen Lichtnimbus, der sich über dem Buch wölbt. Diese für den Muslim selbstverständliche transzendente Dimension ist es, für die der medinische Konferenzteilnehmer den Respekt des westlichen Lesers einklagen will. Was bedeutet das aber praktisch? Die Reklamation einer transzendenten Dimension auch für das Forschungsobjekt „Koran“ ist eine Zensurmaßnahme in sich: Sie kann sich auf das im 9./10. Jahrhundert durchgedrungene Dogma der Unerschaffenheit des Koran berufen, nach welchem die arabische Sprache nicht sozialer Konvention, sondern göttlicher Setzung entspringt, so dass Ko-

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ranexegese in die engen Grenzen veritativer, „wörtlicher“, Auslegung verwiesen ist und sich zudem jeder historisierenden Relativierung von Gesetzesvorschriften entzieht. Dass diese Insistenz auf den transzendenten Charakter des Koran als eines exklusiven Merkmals des Islam aber keineswegs kontinuierliche Tradition, sondern vielmehr neu ist, dass sie einem offenbar politisch bedingten Rückzug in eine essentialistische Selbstwahrnehmung gleichkommt, beweist die inzwischen 1300jährige Tradition einer nicht nur theologischen, sondern auch poetologischen, oft allegorischen und zuweilen sogar historischen Auslegung. Durch die Geschichte hindurch war der Koran faktisch stets beides: eine Schrift transzendenter Herkunft und zugleich diesseitiges Zentrum einer Lebensform.

Abb. 1: Vorsatzblatt einer modernen Koranausgabe

Diese Monopolisierung der transzendenten Herkunft für den Koran allein ist auch keineswegs im Sinne des Textes selbst, der gerade auf der gemeinsamen Herkunft aller drei monotheistischen Schriften insistiert und auch Juden und Christen als die älteren „Schrift-Besitzer“, ahl al-kitab, einlädt, die gemeinsame Genealogie der monotheistischen Religionen anzuerkennen, die dem Koran zufolge ja alle einer und derselben transzendenten Ur-Schrift entstammen. Der Koran nimmt hier sogar eine Pionierstellung ein. Denn wie der amerikanische Religionswissenschaftler William Graham (2004) betont, ist das uns erst seit dem 19. Jahrhundert geläufige Konzept von Heiligen Schriften auch außerhalb der eigenen Religion im Koran bereits eine Selbstverständlichkeit: Zahllose Verse sprechen von der himmlischen Schrift, kitab, aber auch von ihren be-

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reits im Diesseits etablierten Manifestationen, den Schriften, kutub, anderer Religionen, der Juden und der Christen. Er entwirft eine „Schriftgemeinschaft“, die aber – wie wir sogleich sehen werden – von der Kanonisierung gewissermaßen durchkreuzt wird.

Abb. 2: Koranbild aus islamischer Internetseite

Denn man darf sich diese im Koran entworfene Schriftgemeinschaft nicht als ein zeitlos fortbestehendes Angebot zu einem gleichrangigen Nebeneinander vorstellen, eher vielleicht als fortwirkende Akzeptanz einer Art Familienähnlichkeit. So sehr der Text des Koran selbst nämlich auf lange Strecken noch seine Wesensgleichheit mit den anderen Schriften betont, die er in ihrer Wahrheit bestätigen will, so eindeutig gilt er doch in der islamischen Theologie als die alle anderen Schriften vervollkommnende letztgültige Manifestation göttlicher Rede. Denn zwischen der Aussage des verkündeten Korantextes und seiner späteren Deutung liegt der Einschnitt der Kanonisierung – ein wichtiger Wendepunkt in der Wahrnehmung des Koran. Denn die Kanonisierung verleiht der transzendenten Dimension neues Gewicht: Aus dem historisch dialogischen Charakter des Koran als polyphones Religionsgespräch mit anderen und über andere zur Zeit des Propheten ist nach dem Ausscheiden des menschlichen Mittlers, nach dem Tode des Propheten, ein einstimmiger Text, ein göttlicher Monolog geworden. Um unserer angekündigten europäischen Perspektive mit ihrer Blickrichtung auf die spätantike Plurikulturalität Rechnung zu tragen, werden wir also hinter die Kanonisierung zurückgreifen müssen. Denn Kanonizität, die auf der sozialen Anerkennung der bereits siegreichen Gemeinde beruht, oktroyiert eine substantiell neue Lektüre. Sie reflektiert nicht mehr das historische Drama einer von Versuch und Irrtum geprägten Auseinandersetzung mit anderen, sondern verleiht der Schrift den Charakter eines triumphalen Symbols der Sieghaftigkeit und damit eine Autorität, die sogar den Faktor der chronometrischen Zeit zu entkräften vermag. Wenn wir dem Historiker und Kulturkritiker Aziz al-Azmeh (1994) folgen, so erhebt der ka-

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nonische Text nicht nur Anspruch auf ewige Gültigkeit, sondern ist auch ahistorisch strukturiert. Seine Kanonisierung rekonfiguriert ihn gewissermaßen von einem zeitbedingten Redeverlauf zu einer Aufreihung von gleichermaßen zeitlosen Einzeltexten, die ohne Anfang und Ende, nur durch wiederholte Transzendenz-Verweise skandiert, den rhythmischen Fluss der Ewigkeit abbilden. – An die Stelle der Genese des Textes im Verlauf einer historischen Entwicklung, wie sie sich vor den Augen des analytisch-historisierenden Lesers entfaltet (Abb. 3-4), tritt für den Leser des Kanons ein Ursprungsmythos, der fortan den Text wie eine opake Folie bedeckt: nämlich das die Geschichte transzendierende Ereignis der Verleihung der Schrift an den Propheten (Abb. 5). Jede individuelle oder kollektive Koranrezitation ist daher zunächst Re-Inszenierung des Offenbarungsereignisses, insofern sie den Akt der physisch-akustischen Aufnahme der himmlischen Schrift durch Muhammad mimetisch nachvollzieht. Damit tritt vor den universalistischen Anspruch des Koran eine durch die tägliche rituelle Performanz festgeschriebene Betonung seines islamischen Charakters, seiner partikulären Zugehörigkeit zu einer einzigen Geschichtsgemeinschaft. Bleiben wir bei diesem Ritus einen Moment stehen.

Abb. 3: Alte Textseite – Handschrift einer Koranseite im Hijazi-Duktus

Abb. 4: Moderne Textseite – Koranseite einer Druckausgabe Kairo 1926

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Abb. 5: Gabriel inspiriert den Propheten. Handschriftenminiatur aus Jami’al-tawarikh (Universalgeschichte) des Rashiduddin. Tabriz 706/1306/7, Edinburgh University Library, arab 20.fol 45v.

2. Transsubstantiation So spezifisch islamisch dieser Gebetsritus auch erscheint, er ist bei näherem Hinsehen doch Teil der spätantiken rituellen Formenwelt. Denn phänomenologisch lässt sich diese Performanz als Übersetzung christlicher Riten ins Anikonische, ins Bildlose, exklusiv Verbale verstehen. Denn diese Mimesis des prophetischen Offenbarungserhalts durch die Rezitation ist in der Regel in einen rite de passage, einen „Übergangsritus“ eingebunden: Schon seit der Zeit der Urgemeinde hat der rezitierte Koran seinen eigentlichen Sitz im Leben im rituellen Gebet, das aus einer Reihe von kurzen – gestisch begleiteten – Formeln und, als wichtigstem Teil, mehreren Koranrezitationen besteht. Der Beter tritt in dieser Zeremonie mit der Artikulation einer Wandlungsformel „allahu akbar“ aus dem profanen Ort-Zeit-Rahmen heraus und in einen sakralen Zustand ein. Diese Wandlung, tahrim, „Sakralisierung“, ist, auch wenn sie nicht eine externe Substanz, sondern die physisch-psychische Einheit des Menschen selbst betrifft, durchaus der christlichen Transsubstantiation vergleichbar. Der neue sakrale Zustand macht den Beter mental immun für jedwede physische

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Außeneinwirkung. Es ist – diese Seitenbemerkung sei erlaubt – kein Wunder, dass die Eingangsformel des Gebets allahu akbar in ihrer Wandlungsfunktion beispielsweise den Autoren der Hauff’schen Märchen aufgefallen ist, die daraus die Zauberformel „Abrakadabra“ abgeleitet haben – eine Vulgarisierung des Originals, die derjenigen des Eucharistie-Wortes Hoc est corpus meum zu „hocuspocus“ in der deutschen Vulgärsprache durchaus vergleichbar ist. Die Wandlung, die für den muslimischen Beter eine imaginäre Gleichzeitigkeit zu allen Mitbetern und räumliche Nähe zum Zentralheiligtum herstellt, öffnet den Raum für verschiedene Grade spiritueller Erfüllung, die der mittelalterliche Theologe Muhammad al-Ghazali einmal so beschrieben hat: „Wenn ich rezitiere, höre ich den Koran zunächst so, wie wenn ein Vorbeter ihn mir vortrüge, dann bei größerer Vertiefung, wie wenn ihn der Prophet für mich rezitierte, und schliesslich höre ich ihn, wie vorgesprochen von Gott selbst.“ Das Rezitieren selbst, die sich im Rezitieren vollziehende geist-körperliche Vereinnahmung des Koran, ist eine mimesis der zentralen Erfahrung des Propheten – so wie die Eucharistie eine mimesis des symbolischen Vermächtnisses Jesu selbst ist, also eine communio; sie ist daher nicht zufällig mit dem Zu-sich-Nehmen der eucharistischen Gaben im christlichen Ritus verglichen worden. Der Koran beansprucht also in seiner liturgischen Funktion als Gottes Wort eindeutig eine transzendente Dimension – als Schriftkorpus ist er dagegen in seiner „Natur“ umstritten, aus dem Blickwinkel der sunnitischen Orthodoxie ist er der mit Gott gleich-ewige Logos; wenn wir dagegen historischen Gegenstimmen und der sich gegenwärtig formierenden liberalen Wahrnehmung folgen – repräsentiert etwa von dem in Leiden wirkenden Nasr Hamid Abu Zaid –, so ist zumindest seine Textualität, seine Kodierung in Sprache, Produkt menschlicher Geschichte.

III. Rückblick auf die Korangenese 1. Von Mekka nach Jerusalem Wie ist es zu dieser Oszillation zwischen Transzendenz- und Weltbezogenheit gekommen? Ein Blick auf die Vorgeschichte wird die lange historische Entwicklung nicht erklären können, uns aber doch mit den Anfängen eine in vielen Zügen aus der eigenen Vergangenheit bekannte Geschichte liefern. Beginnen wir also mit der Korangenese: Die von Jan Assmann (1997) ins Bewusstsein gebrachte epistemologische Wende, die sich in den Kulturen mit der Einführung von Schrift vollzieht, die ältere Formen der Herstellung von sozialer Kohärenz – etwa durch Opfer involvierende Riten – durch ein neues und flexibleres Medium ersetzt, die Wende von ritueller Kohärenz zu textueller Kohärenz, vollzieht sich in der islamischen Kultur „im vollen Licht der Geschichte“, wie es bereits Ernest Renan ausgedrückt hat, nämlich mit dem Prozess der ersten

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Kommunikation des Koran selbst. Schrift, die bis dahin ein nur sporadisch benutztes Medium gewesen war, nahm nun eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der göttlichen Botschaft an. Es war aber weniger diese mnemotechnische Notwendigkeit als ein tiefergreifender Erziehungsprozess, der dazu führte, dass Schrift nachhaltig in das Bewusstsein der frühesten muslimischen Gemeinde eindrang. Koranische Texte zeigen, dass sich diese Gemeinde bereits sehr früh eines neuen spirituellen Privilegs bewusst wurde, nämlich Zugang zu haben zu dem Archiv himmlischer Schrift, zu der – schon erwähnten – wohlbewahrten Tafel, al-lawh al-mahfūẓ, von der sie „Exzerpte“ – sukzessiv vom Propheten Muhammad verlautbart – verkündet bekamen. Diese Abschnitte aus der himmlischen Schrift, die frühen Suren, hatten Heilsgeschichte zum Inhalt, sie boten damit eine Gegenvision zu der genealogiegestützten Geschichte, die lokal überliefert wurde. Mit der Annahme der biblischen Tradition anstelle ihres eigenen „arabischen Wissens“ wandte sich die Gemeinde von ihrer realen Welt ab und näherte sich einer Textwelt an, die nicht mehr genealogisch durch Blutsbande bestimmt war, sondern von der Erinnerung an spirituelle Vorfahren, die Israeliten, getragen wurde; eine biologische Genealogie machte damit einer schriftgestützten Platz. Indem sich die Gemeinde von der Kaaba, dem Ort alter, Blut involvierender Riten, nicht nur geistig, sondern auch physisch im rituellen Gebet abwandte, das jetzt in Richtung Jerusalem gesprochen wurde, suchte sie Orientierung an einem „Schrift-Heiligtum“, dem Jerusalemer Tempel, der ihr vor allem in seiner nachbiblischen Bedeutung, als topographisches Zentrum des Heilsgeschehens, vertraut war. Mit der Wende von – zugespitzt ausgedrückt: einer arabischen zu einer biblischen Identität – einer rituellen zu einer textuellen Kohärenz, mit der Entmachtung von Genealogie und Blutriten, tritt Schrift ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das arabische Alphabet selbst, obwohl erst durch die Praxis der Koranschreibung graphisch zur vollen Entfaltung gelangt, ist im Koran bereits Thema: Eine große Zahl von Suren beginnen mit der Evokation eines oder mehrerer Buchstabennamen, etwa sad, alif-lam-mim usf., rufen also gewissermaßen die kleinsten Einheiten der Schrift ab, die aber nicht als Zeichen, sondern als Bezeichnetes selbst figurieren. Die Buchstaben werden als Namen in hochpathetischer Kantilene artikuliert. Gleichzeitig mit der Einführung dieser „Buchstabenverse“ evoziert der Koran vielfach den Akt himmlischen Schreibens, nennt das Schreibrohr, die Schreibtafel, die Ur-Schrift, umm al-kitāb, und ungezählte Male das himmlische Buch, al-kitāb, zu dem sich der werdende Koran verhält wie eine Sammlung von mündlich mitgeteilten Exzerpten. Göttliche Schrift selbst ist ganz im Sinne antiker jüdischer und christlicher Vorstellungen – vom apokryphen Jubiläenbuch über das kabbalistische Sefer ha-Yetsira bis hin zu der syrisch-christlichen Theologie des Ephrem von Nisibis – eine transzendente Manifestation seines Wortes, seines logos, sie wird in innerkoranischer Sicht den Menschen zugänglich einzig durch mündlichen Vortrag.

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Angelika Neuwirth 2. Zu den biblischen Präzedenzen für den koranischen Schrift-Diskurs

Um den Stellenwert dieses Paradigmenwechsels zu dem im Klang verlautbarten Gotteswort auszuloten, ist zunächst ein Blick auf die Hebräische Bibel nötig, an der sich die Korankommunikation in ihrer formativen Phase orientiert. Die Hebräische Bibel führt Schrift bekanntlich sehr viel dramatischer ein. Mose empfängt Gottes Schrift, die Tafeln, die von Gott selbst geschrieben (Deut 4:13) oder zumindest diktiert (Ex 34:28) sind, von Gott persönlich (Abb. 6-7). Die Übergabe der Tafeln, die für das Judentum den göttlichen Bund mit den Israeliten besiegelt, wird in der westlichen Kultur noch signifikanter: Sie wird als das Gründungsereignis des biblischen Monotheismus als solchem betrachtet (vgl. Graf 2005). Sie markiert die entscheidende zivilisatorische Wende von der früheren Vorstellung, nach welcher göttliche Mächte in der Welt immanent und in Bildern zugänglich sind, zur Akzeptanz eines abwesenden Gottes, der sich in abstrakten, nicht sinnlichen Zeichen darstellt, die dekodiert werden müssen, um gelesen zu werden.

Abb. 6: Übergabe der Tafeln (jüdisch), aus: Haggadat Sarajevo, hg. von Bezalel Roth, Jerusalem (o.J.).

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Abb. 7: Übergabe der Tafeln: Lukas Cranach, der Ältere (1516), nach der Einbandabbildung von Graf 2005.

Der Religionsanthropologe Micha Brumlik hat daran erinnert, dass „die Hebräische Bibel in einer ihrer Spitzenaussagen, nämlich in Ex 3:14, Gott seinen Namen als ‚Ich werde sein, der ich sein werde‘ ausweisen lässt. Darüber hinaus konstatiert [...] Gott in Ex 33:23-38, dass lebende Menschen seiner nicht ansichtig werden dürfen [...] Der sich [...] der menschlichen Vorstellung entziehende Gott, dessen [...] Präsenz im Bild – d. h. in Piktogramm oder Hieroglyphe – seiner abstrakten Prozessualität wegen gar nicht darstellbar ist, konnte nur im Rahmen einer die Sprechsprache notierenden Schrift bekannt werden“ (1994, S. 17). – Eine Gottesmanifestation, die, wie Brumlik erwägt, vielleicht selbst „konstitutiv auf die Schrift, genauer: sogar auf die Kombinatorik des Alphabets verwiesen war“ (ebd). Buchstabenschrift und biblischer Monotheismus bedingen einander. Diese „mosaische Wende“ erscheint in der christlichen Religion, wo der Bund durch Schrift von einem Bund durch Selbstaufopferung überlagert wird, zumindest teilweise rückgängig gemacht. Christi Leib stellt das göttliche Wort in einer unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren Form dar. Er wird dem Lamm verglichen (Abb. 8), dessen Blut im Symbol-Kontext der biblischen Jom-Kip-

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pur-Zeremonie die Schuld der Gemeinde sühnt. Die biblischen Worte, die Moses’ Einsetzung jenes Sühneopfers am Versöhnungstag begleiten, und die Worte der Eucharistie, die das stellvertretende Opfer von Christi Blut verkünden, sind weitgehend identisch. In Ex 24:8 heißt es: „Mose nahm das Blut, sprengte es über das Volk und sprach: Dies ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch geschlossen.“ Die Einsetzungsworte Christi, Mk 14:23f., lauten: „Und er nahm den Kelch [...] und sprach zu ihnen: ‚Dies ist mein Blut des neuen Bundes, das vergossen wird für viele‘.“ Der biblische – auf das Blut involvierende Opfer verweisende – Exodus-Text, Teil der weiterhin autoritativen Schrift des Alten Testaments, hat seine Wirkungsmacht durch die Geschichte der christlichen Religion hindurch bewahrt: Opfer wird in der christlichen Theologie und Ikonographie eng mit Schrift verbunden. Das Verhältnis beider ist besonders deutlich in Bildern, auf denen Christus als Lehrer der Apostel, ein offenes Buch vor sich haltend, dargestellt ist (Abb. 9), um so die intime Verbindung zwischen Körper und Schrift, die Absorption des geschriebenen Gotteswortes in den durch Christi Blut erreichten Akt der Erlösung zu dokumentieren.

Abb. 8: Christus, Lamm Gottes. Mosaik aus Ravenna, San Vitale, s. Volbach/Hirmer 1958, S. 161.

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Abb. 9: Christus, Lehrer der Apostel. Bulgarische Ikone, 14. Jahrhundert, s. MatakievaLilkova 1994, S. 32.

3. Das koranische Paradigma: Die zerbrochenen Tafeln vs. die Bewahrte Tafel Vom Islam heißt es oft, er habe diese „christliche Wende“ von der Fokussierung des Schriftzeichens zu der des Körpers wieder rückgängig gemacht. Wenn das auch zutreffen mag, so doch nicht im Sinne einer Rückkehr zum jüdischen Paradigma. Denn das hinter das Christentum zurückgreifende Stiftungsevent selbst, die mosaische Tafelübergabe, ist bereits im Koran kein Schlüsselereignis mehr. Diese biblische Geschichte, die den Israeliten den Status eines Erwählten Volkes verleiht, ist aus koranischer Sicht Episode. Denn Mose hat wie viele andere Propheten – neben seinen letztendlich doch wieder zerbrochenen Tafeln, hebräisch luhot – auch eine Schrift, kitāb, empfangen, die aber wie alle anderen Schriften, die Propheten gegeben worden sind, nicht mehr als eine Sammlung von Exzerpten aus der einzig zählenden Tafel, arab. lawh, der rein transzendenten Bewahrten Tafel, al-lawh al-mahfūẓ (Q 85:22), ist. Das koranische Wort lawh ist Übersetzung von hebr. luah, dessen Plural luhot die mosaischen Tafeln bezeichnet. Man sieht: was den Rang angeht, ist anstelle der zerbrochenen Tafeln im israelitisch-jüdischen Kontext eine einzi-

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ge Bewahrte Tafel getreten. Diese „Korrektur“ verdankt sich wiederum einer älteren antiken Reflexion, dem schon genannten Jubiläenbuch, einem jüdischen Apokryphon des 2. Jahrhunderts v. Chr., in dem eine himmlische Manifestion des Wortes neben die Person Gottes selbst getreten ist. Spätestens mit dem Abschluss der Kanonisierung des Koran wird also dem israelitisch-jüdischen und dem christlichen Ursprungsmythos ein neuer, dritter Mythos zur Seite gestellt. Nicht Gottes Beschreibung der Tafeln des Gesetzes für Mose als Basis des Gottesbundes mit dem Erwählten Volk, noch auch die durch das Selbstopfer des Gottessohnes gewährleistete Erfüllung des Gesetzes, sondern die sich kontinuierlich über viele Jahre hinziehende göttliche Lehre, die das Gesetz erleichtern will, Gottes Sprechen zu Muhammad und seiner Gemeinde, seine Mitteilung aus der bei ihm existierenden transzendenten Tafel steht als das zentrale Ereignis im Mittelpunkt des islamischen Selbstverständnisses. Dieses Sprechen als Manifestation des göttlichen logos tritt also an die Stelle seiner Manifestation als Schrift biblischen Textes und als Körper Christi im Christentum. Es zeigt hingegen eine Nähe zu der rabbinischen Vorstellung von der mündlichen Torah, d. h. der auch in ihren späteren mündlich vermittelten exegetischen Gestalten auf das Sinai-Ereignis zurückzuführenden Tradition.

IV. Die europäische Perspektive 1. Der Koran in der Debattenlandschaft der Spätantike Kommen wir schließlich zu dem Versuch der Einordnung dieser Beobachtungen in eine Europa und den Nahen Osten gleichermaßen einbegreifende Spätantike. Dass der Koran nicht nur mit biblischen, sondern auch postbiblischen Traditionen eng verbunden ist, sahen wir bereits am Beispiel der Bewahrten Tafel, die an die Stelle der zerbrochenen getreten ist, ebenso wie an dem Wandlungsgeschehen im Gebetsritus, das sich durch das gesprochene Wort analog zur christlichen Transsubstantiation vollzieht. Die eigentliche Aufgabe, die sich hier stellt, geht allerdings über die Demonstration von Ähnlichkeiten, von Partizipationen des koranischen Diskurses an älteren monotheistischen Traditionen, um einen entscheidenden Schritt hinaus. Zu fragen ist nicht mehr nach den dem Koran „zugrunde liegenden“ Traditionen, sondern nach dem Prozess ihrer im Koran vollzogenen Neudeutung, nach dem Zusammenprall des Alten mit dem entstehenden Neuen. Traditionen werden von der sich herausbildenden koranischen Gemeinde ja nicht einfach, wie es noch Geiger vorschwebte, „aufgenommen“, sondern als Herausforderung begriffen, auf die dialektisch mit neuen Lektüren geantwortet wird. Ein Text-Wettstreit lässt sich bei Einnahme dieser Perspektive beobachten, eine Kollision von Begriffen und Ideen, heftig genug, um jene Energie zu freizusetzen, die dann in der Genese nicht

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nur einer neuen Heiligen Schrift, sondern gleichzeitig auch einer neuen Gemeinde resultiert. Dieses koranische topping, dieses Übertreffen von alten Traditionen durch neue Lektüren wäre allerdings nicht denkbar ohne einen zusätzlichen Faktor, der in den alten Traditionen keine vergleichbare Rolle spielt: das Bewusstsein von der außergewöhnlichen Ausdruckskraft der dabei involvierten arabischen Sprache. Die sprachliche Kodierung ist im Koran eine Ausdrucksebene sui generis, die oft genug in ihrem Rang mit der semantischen konkurriert. Die rhetorisch durchgeformte arabische Sprache macht jene Aura des Koran aus, die ihm seinen außergewöhnlichen Status verleiht, der später in einem eigenen Dogma, der „Unnachahmlichkeit des Koran“,3 zu einem bindenden Glaubensartikel avanciert ist. Der Koran selbst spricht mehrfach die Herausforderung an einzelne Hörer aus, doch etwas Vergleichbares, Gleichwertiges zu bringen, d. h. er thematisiert selbst den theologischen und zugleich sprachlichen Wettstreit verschiedener Traditionsträger um die am meisten überzeugende Botschaft. 2. Ein Textwettstreit Ein solcher Wettstreit – repräsentiert durch die eine Stimme des Koran selbst, aus der die anderen aber noch herauszuhören sind – reflektiert sich in surat alikhlas (Q 112), der „Reine Glaube“. Der arabische Text lautet: Qul huwa llahu ahad/ Allahu s-samad/ lam yalid wa-lam yulad/ wa-lam yakun lahu kufuwan ahad, „sprich: Gott ist Einer, derAbsolute, er hat nicht gezeugt noch ist er gezeugt. Und keiner ist ihm gleich.“ Es ist schwer zu überhören, dass sein Anfangsvers: „Sprich: Gott ist Einer, qul huwa llāhu ahad, eine freie Übersetzung des jüdischen Glaubensbekenntnisses ist: „Höre Israel: Gott, unser Herr ist Einer“, shema’ Yisra’el, adonay elohenu adonay ehad (Deut 6:4), dessen Schlüsselwort „Einer“, ehad, in arabischer Lautung ahad, im Korantext noch durchklingt. Dieses noch hörbare Sprachen übergreifende Zitat unterstreicht nur noch die neue, koranspezifische Wendung, die der alte Text nimmt, nämlich von einem konfessionsspezifischen Text – durch die Anrede „höre Israel“ signalisiert – zu einem an alle Menschen gerichteten universalen kultischen Text, „Sprich“. Diese „Mehrstimmigkeit“ zweier Texte in einem ist jedoch erkauft durch eine „Ungrammatikalität“, einen Verstoß gegen die arabische Grammatik, die hier das Adjektiv wahid erfordern würde, für das das den Reim bildende Nomen ahad eingetreten ist. Ungrammatikalität sei hier im Sinne der Theorie des Poetikforschers Michael Rifaterre verstanden, der mit diesem Terminus die linguistische Auffälligkeit eines Textelements bezeichnet, das semiotisch auf einen anderen Text verweist, der erst den Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der infragestehenden Stelle liefert. Was zunächst als Regelwidrigkeit erscheint, erweist ––––––––––––––––––

3 Siehe Neuwirth 1983; s. a. Kermani 1999.

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sich – nach Erkennen des Textes, in dem das auffallende Element regelkonform ist – als Brücke zwischen zwei einander erhellenden Texten. Der jüdische Text blieb, wie wir sahen, durch die koranische Version hindurch hörbar. Warum? Dieses Sprachen transzendierende Zitat ist im Koran natürlich nicht funktionslos. Es ist Teil einer Verhandlungsstrategie: Um das jüdische Credo universal gültig und somit einer nichtjüdischen Hörerschaft annehmbar zu machen, wird es umformuliert, ohne dabei aber seine Gestalt, in der es bereits Autorität besitzt, zu verlieren. Zwar mag man für die Entstehungszeit des Textes, die medinische Phase der Verkündigung, auch bei nichtjüdischen Hörern Vertrautheit mit solchen Schlüsseltexten der Nachbargemeinden voraussetzen, doch wird man bei den Adressaten der Umdeutung nicht zuletzt an jüdische Hörer zu denken haben, denen mit diesem Text ein Angebot zur theologischen Annäherung gemacht werden sollte. Die kurze Sure nimmt aber noch auf ein weiteres Credo Bezug. V. 3: „Er hat nicht gezeugt, noch ist er gezeugt“, klingt wie ein Echo des nizäischen Glaubensbekenntnisses: „Gezeugt – nicht geschaffen.“

Der Vers weist allerdings die Aussage des Nizäums genethenta – ou poiethenta, „gezeugt – nicht geschaffen“, unmissverständlich zurück: mit dem gegenüber dem Original kaum weniger emphatischen Doppelausdruck: „Er hat nicht gezeugt, noch ist er gezeugt“. Eine negative Theologie wird hier etabliert – durch Inversion eines lokal geläufigen Schlüsseltextes – nun aber nicht der Juden, sondern der Christen. Diese negative Theologie wird in V. 4 zusammengefasst: „Und keiner ist ihm gleich“ – wa-lam yakun lahu kufuwan ahad.

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Dieser bisher einfach als Monotheismus-Aussage gelesene Vers ist im Koran wieder auffällig. Er führt das hapax legomenon kufuwun – „gleichrangig“ – ein, um damit den theologisch schwerwiegenden Begriff des homoousios, griech. für „in der Natur gleich mit dem Vater“, wiederzugeben. Er invertiert damit aber nicht nur das nizäische Bekenntnis der Wesensgleichheit Christi mit dem Vater, homoousios to patri, sondern schließt den bloßen Gedanken, dass irgendjemand Geschaffener mit Gott wesensgleich sein könnte, epistemisch aus – von der Wesensgleichheit eines Sohnes ganz zu schweigen. Wieder haben wir eine rhetorisch ehrgeizige Übersetzung, nun aber zugleich rigorose Umdeutung, eines älteren Textes vor uns. Wozu diese Sondierungen des koranischen Wortlauts? Nicht zuletzt, um jenem „Gespräch“ auf die Spur zu kommen, aus dem der Korantext, so wie wir ihn haben, hervorgegangen ist. Denn der Gegentext zum Nizäum ist natürlich keine direkte polemische Adresse an die Christen, sondern Teil einer Konfessionen übergreifenden Neuformulierung der beiden bekannten Glaubensbekenntnisse, wie sie von der koranischen Gemeinde ebenso wie der jüdischen Gemeinde von Medina angenommen werden konnte: eine Nachformung des jüdischen Einheitsbekenntnisses unter zusätzlicher Abgrenzung gegen christologische Deutungen der Einheit Gottes. Dieses Beispiel – das eines unter vielen ist – mag demonstrieren, dass die pluralen Traditionen der Spätantike keineswegs, wie oft angenommen, „Quellenmaterial“ für den Koran darstellen, das der neue Text einfach absorbiert oder gar unverstanden, verzerrt wiedergibt. Vielmehr haben wir in diesen Traditionen und ihren Trägern Gesprächspartner zu sehen, mit denen die koranische Gemeinde in eine Debatte eintritt, mit denen sie wetteifert und mit deren Zutun sie zu einer Neuinterpretation der biblischen Traditionen durchdringt – nicht selten, vor allem in Medina, wo Angehörige der älteren Religionen ansässig waren, um einer religiös-politischen Herausforderung zu begegnen.

V. Zu den Implikationen der „europäischen Lektüre“ Unser Versuch der Relokalisierung der Korangenese in die Spätantike, unsere „europäische Lektüre“, hat nicht zuletzt kulturkritische Relevanz. Und zwar für beide, die europäische und die nahöstliche Seite: Der neue Ansatz trifft sich in substantiellen Punkten mit dem Anliegen avantgardistischer arabischer Intellektueller, die – wie der libanesische Historiker Samir Kassir – ihrerseits die Konstruktion einer Epochengrenze zwischen Spätantike und Islam als verhängnisvoll anprangern. Denn der dominierenden islamischen Sicht zufolge – die von der traditionellen westlichen nicht zu trennen ist – beginnt relevante arabische Geschichte mit der koranischen Offenbarung; „von den vorhergehenden Zeiten bleibt“ – so Kassir – „nur ein chaotisches Bild zurück, das sich in dem Begriff jāhiliyya,

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verstanden als ‚Zeit der Unwissenheit‘, verdichtet.“4 Dieser alles auf die Rolle Muhammads zurückführende Ursprungsmythos verkleinert die Vorgeschichte, er reduziert sie auf eine fast ausschließlich von nomadischer Lebensform geprägte arabische Epoche. Die als vorislamische Barbarei konstruierte jāhiliyya kann so als dunkle Kontrastfolie für die vom Islam gebrachte neue Zivilisation dienen. Das chaotische Bild der so verstandenen jāhiliyya – so betont Kassir zu Recht – „lässt sich aber nicht aufrechterhalten, wenn man Forschungsergebnisse über die hellenistische und römische Geschichte berücksichtigt, die von Archäologie, Epigraphik und Numismatik dokumentiert werden. So waren arabische Städte im Nordhijaz vollständig romanisiert, was dermaßen weit ging, dass aus ihnen römische Kaiser hervorgehen konnten. Das kriegerische Nomadentum, das die arabische Vorstellungswelt später geprägt hat, wird so nachdrücklich relativiert, und man kann sich ausmalen, welche kopernikanische Wende die Anerkennung eines Goldenen Zeitalters einleiten würde, das dem vermeintlich islamischen Goldenen Zeitalter vorangegangen wäre“ (ebd.). – Kassir plädiert für eine offenere Geschichtsbetrachtung, für die Befreiung der arabisch-islamischen Vision aus dem teleologischen Zwang, der von der Annahme des Wirkens einer religiösen Vorbestimmung ausgeht, nach welcher die gesamte arabische Geschichte erst aus der von Muhammad verkündeten Offenbarung hervorwuchs. Kassirs Forderung einer radikalen Revision der heute im Nahen Osten noch immer fortwirkenden, auf dem islamischen Gründungsmythos basierenden Geschichtsbetrachtung, anders ausgedrückt: nach einer Neukontextualisierung der arabisch-islamischen Geschichte mit der umgebenden jüdisch-christlichen Spätantike, ist nicht als Ermutigung zu einer radikalen Dekonstruktion der islamischen Tradition zu verstehen. Sie legt aber den Finger auf eine fatale Verengung der Perspektive, gegen die aufzubegehren im Nahen Osten heute nicht ungefährlich ist. Sie hat in extremistischen Kreisen zu jener unerbittlichen Intransigenz des Denkens geführt, der immer wieder bedeutende Intellektuelle zum Opfer gefallen sind, darunter auch Samir Kassir selbst, der im Sommer 2005 in Beirut ermordet wurde. Um zu dieser überfälligen Revision der Geschichtskonstruktion beizutragen, nach welcher mit dem Islam etwas absolut Neues, aus europäischer Sicht etwas substantiell „anderes“, beginnt, ist eine historische Neulektüre des Koran ein wichtiger, wenn nicht sogar ein grundlegender Beitrag. Sie kann natürlich nicht in Isolation von den muslimischen Trägern der Tradition erfolgen; vielmehr ist eine hermeneutische Sprache zu finden, die beide Ansätze, den westlichen und den nahöstlichen, diskursiv wieder zusammenführt. Dazu wird man zunächst Arbeitsteilung betreiben müssen. Grenzüberschreitende Lektüren wie die hier vorgeschlagene sind nur ein Teil der zu leistenden Arbeit: Mit Recht wird von nahöstlichen Gelehrten darauf bestanden, dass der Wissenskanon, wie er in der islamischen Korangelehrsamkeit tradiert wird, auch seitens der westlichen Wissenschaft zur Kenntnis genommen werden müsse. Die –––––––––––––––––– 4 Kassir 2005, S. 63; ebenfalls in Kassir 2006, S. 38f.

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islamische Tradition verwaltet ein Archiv linguistischen und kulturellen Wissens, ohne dessen Kenntnis kritische Koranforschung basislos, reine Konstruktion wäre. In Zukunft – so ist zu hoffen – wird sich das Modell eines „Aufeinanderzuarbeitens“ durchzusetzen: islamischerseits durch Herantragung von neuen, vor allem textwissenschaftlichen Methoden und Fragestellungen an die eigene Tradition – westlicherseits durch Neulektüre des Korantexts im Licht der spätantiken vorislamischen Traditionen. Der dabei zu erhoffende Gewinn ist für beide Seiten erheblich. Mit der Re-Integration des Koran und des frühen Islam in die traditionell von Europa monopolisierte Spätantike wird endlich der noch unbeachtete Beitrag des Koran zu einer gemeinsamen Theologie- und Kulturgeschichte sichtbar werden – für beide Seiten ein Schritt zur Entmythisierung des anderen. Die Initiative muss sich nicht auf die akademische Bühne beschränken; bereits die Bekanntmachung des Koran als Religionsgespräch, als neue Einbringung in einer konfessionell diversifizierte Debatte durch eine neue Methode des Islam-Unterrichts könnte ein wesentlicher Schritt hin zu einer neuen westlichen Selbstreflexion sein, vielleicht sogar zur überfälligen Korrektur unseres in der Antike verankerten exklusiven Begriffs eines nur jüdisch-christlichen Europa.

Literatur Al-Azmeh: Chronophagous Discourse. A Study of the Clerico-Legal Appropriation of the World in Islamic Tradition. In: Frank E. Reynolds/David Tracy (Hg.), Religion and Practical Reason. New Essays in the Comparative Philosophy of Religions. Albany/N.Y. 1994, S. 163ff. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen. München 1997. Brumlik, Micha: Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot. Frankfurt/M. 1994. Crone, Patricia/Cook, Michael: Hagarism. The Making of the Islamic World. Cambridge 1977. Geiger, Abraham: Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? Nachdruck der 2. Aufl. 1902 mit einem Vorwort von Friedrich Niewöhner. Berlin 2005 (orig. Bonn 1833). Graf, Friedrich Wilhelm: Moses’ Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze. München 2005. Graham, William: Scripture and the Qur’an. In: Jane McAuliffe (Hg.), Encyclopaedia of the Qur’an IV, Leiden 2004, S. 558-569. Kassir, Samir: Das arabische Unglück. Von historischer Größe, Selbstverlust und kultureller Wiedergeburt. In: Lettre Internationale 71, Winter 2005, S. 62-69. Kassir, Samir: Das arabische Unglück. Berlin 2006. Kermani, Navid: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran. München 1999. Marx, Michael: Ein Koran-Forschungsprojekt in der Tradition der Wissenschaft des Judentums: Zur Programmatik des Akademienvorhabens Corpus Coranicum. In:

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Dirk Hartwig et al. (Hg.), Im vollen Licht der Geschichte. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung. Würzburg 2008, S. 41-55. Matakieva-Lilkova, Theofana: Icons in Bulgaria. Sofia 1994. Neuwirth, Angelika: Das islamische Dogma der „Unnachahmlichkeit des Korans“ in literaturwissenschaftlicher Sicht. In: Der Islam 60, 1983, S. 166-183. Neuwirth, Angelika: Eine europäische Lektüre des Koran – Koranwissenschaft in der Tradition der Wissenschaft des Judentums. In: Jahrbuch des Simon Dubnow-Instituts VII, 2008, S. 161-183. Volbach, Wolfgang Fritz/Hirmer, Max: Frühchristliche Kunst. Die Kunst der Spätantike in West- und Ostrom. München 1958. Wild, Stefan: Drei Tage in Medina. Als Ungläubiger unter Korangelehrten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. November 2006. Wansbrough, John: Qur’anic Studies. Sources and Methods of Scriptural Interpretation. Oxford 1977.

Antoine Seif

FÖRDERUNG DER DEMOKRATIE IN DER ARABISCHEN WELT Veränderung der Bildung für eine Veränderung durch Bildung

Selbstbewusstsein im Rhythmus der Übermacht des Anderen Die zeitgenössischen arabischen Denker und Historiker sind sich darin einig, dass die Moderne in den arabischen Gesellschaften und Staaten am Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Aufschwung genommen hat. Diese Periode – die sich für manche bis in die dreißiger Jahre des nachfolgenden Jahrhunderts erstreckt – wurde von den damaligen Übersetzern das Jahrhundert der arabischen „Nahda“ (Renaissance) genannt, wobei mit größtem Optimismus betont werden sollte, dass es sich um ein mit der europäischen Renaissance vergleichbares Phänomen handele. Doch die Nahda könnte noch andere Bedeutungen haben, so das „Erwachen“ aus einer langen und tiefen Schlafphase (oder gar Bewusstlosigkeit) oder der Wille, sich nach einem verhängnisvollen Sturz vom wilden Pferd wieder aufzurichten, oder ganz allgemein die Entschlossenheit angesichts einer aufgezwungenen und abgelehnten Situation. Trotz der originellen Formulierung verbreitete sich dieser Begriff bald in allen Bereichen der arabischen Literatur, wo er impliziten Tendenzen zur Überwindung und Revolte, zum Kampf gegen verschiedene Widerstände und Schwierigkeiten Ausdruck gab. Natürlich überschreitet dieses Ereignis die Grenzen sprachlicher Begriffsbildungen. Vor allem aber gewann das plötzlich erwachende arabische Selbstbewusstsein schnell einen tragischen Aspekt. Über Jahrhunderte konnten die Araber ihre Lage nicht mit der anderer Völker und Staaten vergleichen. Trotz einiger weniger Erfolge, Siege und dieser oder jener mürrisch gehaltenen Position, die diese lange Geschichte kennzeichnen, bleibt das Volksgedächtnis von den verheerenden Ereignissen des Untergangs ihrer großen Staaten geprägt, angefangen mit dem Fall Bagdads im 13. Jahrhundert und der Hinrichtung des letzten abbasidischen Kalifen durch die mongolischen Eroberer, sowie der Verteilung ihrer Reiche an kleine und große, arabische oder nicht-arabische Dynastien. Dieser lange „Schlaf“ wird von den Historikern „Dekadenzphase“ genannt (eine allerdings ungenaue Bezeichnung, da sie beschreibt, was darauf folgen und diese Periode sowohl begrifflich als inhaltlich negieren sollte!): Damit ist

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sie im Bereich der Traditionen angesiedelt, die kraft immerwährender Wiederholung in der Seele wurzeln und nur von einer äußeren Erschütterung unterbrochen werden können. Anfang des 19. Jahrhunderts spielten mehrere Faktoren zusammen, die das arabische Selbstbewusstsein mit der Übermacht der europäischen Nachbarn in den Bereichen der Wissenschaft, Kunst und Technik überraschten, die es nie kennengelernt hatte, weder durch die Berichte der Reisenden und Erzähler noch später durch die so genannten Minister der Information (die es damals weder als Titel noch als Funktion in der Verwaltung gab); auch die neuen nicht-arabischen Herrscher – wie die ottomanischen Türken und andere – nahmen die kulturellen Umwälzungen in der westlichen Welt, mit der sie über die nördlichen Meere in Verbindung standen, paradoxerweise nicht wahr. Die einen übertreiben hier den Einfluss der napoleonischen Feldzüge, vorwiegend in Ägypten und Palästina, wo die technische, militärische und wissenschaftliche Übermacht des europäischen Modells plötzlich an den Tag kam. Das arabische Selbstbewusstsein erwachte durch den Zusammenstoß mit dem eindringenden und vorherrschenden „Anderen“, das nach dem Überraschungseffekt auch eine starke Tendenz weckte, in Form von kulturellen Projekten radikaler Reform der fremden Herausforderung auf die wirkungsvollste Weise zu begegnen, da sich die Aggressivität des Morgenlandes gegenüber der westlichen Welt noch nicht so geäußert hatte, wie das später der Fall sein sollte; der Rückzug der napoleonischen Truppen hatte diese Aggressivität nicht geweckt, ganz im Gegenteil: Er hat Spannungen abgebaut und den Weg frei gemacht zu den späteren guten Beziehungen zwischen dem Ägypten des Analphabeten Muhammed Ali und dem postnapoleonischen Frankreich, insbesondere mit den Saint-Simonisten, die sich von einem gewissen „revolutionären Enthusiasmus“ getragen dafür einsetzten, den Völkern des östlichen Mittelmeers die modernen Technologien und neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu vermitteln. Ägyptens Herrscher hat sogar Forschungsreisen von Studenten veranlasst, um sie in der westlichen Welt, vor allem in Frankreich, ausbilden zu lassen. Aber nicht allein die napoleonische Invasion hatte den „Aufprall des Anderen“ verursacht. Parallel dazu entstanden in anderen arabischen Gebieten Druckereien, die den Anstoß zur Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften gegeben haben; hinzu kam einerseits das Wirken der westlichen Missionare, vor allem mit der Gründung moderner Schulen und Krankenhäuser, andererseits die Verbreitung der Dampfschiffe, des Telegraphen, der Elektrizität und der verschiedensten Maschinen, die ein und denselben Ursprung hatten: den „anderen“ Okzident. Diese Fülle von Neuheiten regte zu den verschiedensten Vergleichen zwischen dem „Selbst“ und dem „Anderen“ an: Letzteres wurde schnell zum Paradigma, das es nachzuahmen galt, was die technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften betraf, die nur in Bildungszentren, in Schulen erlernt

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werden konnten, also in wahren Wissensfabriken, in denen hauptsächlich auf die Erwiderung der westlichen Herausforderung gebaut und gewettet wurde. Seitdem war der „Okzident“ – und ist es heute noch – eine Kategorie, die dem modernen arabischen Denken innewohnt, aus der heraus es seine Realität, d. h. seine tragische Situation begreift. Alle Kategorien der „Nahda“ (der erwünschten arabischen Renaissance) beinhalten westliche Modelle und Typen mit den nötigen Umgestaltungen zur besseren Anpassung der überlieferten soziokulturellen Eigenheiten. Die dualistische Formel Orient-Okzident wirkte verwirrend und stellte aufgrund der späteren Kolonialbesatzung eine unlösbare psycho-kulturelle Ambivalenz dar: Die westliche Welt war zugleich ein Idealtyp, der nachgeahmt werden sollte, und ein Feind, der zum Vergleich herausforderte! Dieses konfliktreiche Bild (das Modell und der Feind) bleibt bis heute bestehen und die Wette auf Bildung gilt weiterhin in allen Projekten der nachhaltigen Entwicklung und Entspannung.

2. Die „Geburt“ des modernen arabischen Schulwesens Das kulturelle Ereignis par excellence war die Gründung von modernen Schulen in Gebieten, die noch unter ottomanischer Herrschaft standen, wenngleich diese Gründungen nicht überall zur selben Zeit stattfanden. Üblicherweise werden die ersten dieser Schulen im Ägypten des Muhammed Ali angesiedelt, und mehr oder weniger gleichzeitig in der Türkei und in Tunesien. In Wirklichkeit aber erscheinen die ersten modernen Schulen im Orient weit vor dieser Zeit (Anfang des 19. Jahrhunderts) auf dem Mont Liban und vor allem unter der christlichen Bevölkerung der libanesischen Berge: Die Schule von Hauqa (Name eines Dorfes) wurde 1624 gegründet, 1734 dann die Schule von Antoura (berühmt durch ihren Unterricht der europäischen und orientalischen Sprachen) und 1789 schließlich die Schule von Ain Warqa, deren Diplomierte – allen voran Boutros El Boustani – zu Pionieren der Nahda wurden. Hinzu kommt 1584 die Gründung einer Schule in Rom durch christliche Maroniten aus dem Libanon: Deren ehemalige Schüler wurden Pioniere des Orientalismus und Übersetzer orientalischer (syrischer, arabischer ...) Texte ins Lateinische sowie Verantwortliche großer europäischer Bibliotheken. Die in ihre libanesische Heimat zurückgekehrten Promovierten gründeten dort die ersten modernen Schulen. In Beirut zum Beispiel wurde die erste Mädchenschule der arabisch-muslimischen Welt ins Leben gerufen. Außerdem wurden dort zwei Universitäten – eine amerikanische (1866)1 und eine französische (1875)2 – gegründet, die bis zum heutigen Tag existieren.

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1 Die American University of Beirut (AUB), das ehemalige Syrian Evangelical College. 2 Die Université Saint-Joseph (USJ) von Beirut.

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3. Das moderne Bildungswesen: Ort des Wettstreits Im 19. Jahrhundert gab es drei große Zentren des Wettkampfes für moderne Bildung und Schulen: Kairo, Istanbul und Beirut, zu denen sich etwas später Tunis gesellte. Allerdings zeichnete sich die libanesische Stadt Beirut dadurch aus, dass dort und um den Mont Liban die Förderung der Bildung durch Privatinitiativen – von heimischen christlichen Orden und Missionaren – ermöglicht wurde. Eine interessante, noch nie vorgekommene Tatsache war, dass viele Professoren aus dem Westen (Europa und Amerika) kamen. Aber der Aufschwung dieser Hochschulen hat die Modernität nicht überall fördern können. Bestimmte konservative Kreise leisteten großen Widerstand. Auch zeigt der Analphabetismus die Grenzen der „Nahda“ in den nachfolgenden Jahrzehnten bis hin zur heutigen Zeit. Die langsam und demütig unterrichtete Lehre ist formal und inhaltlich stereotyp, ja auf die Dauer archaisch geworden. Die Schulen und Universitäten waren bald veraltet, indem sie sich statischen Gesellschaften anpassten, die von Staaten ohne Zukunftsperspektiven beherrscht wurden, eine Zukunft, die sich nur anhand von Reformprogrammen im harten Kampf gegen die verschiedensten Widersacher hätte verwirklichen können. Da jedoch das Schulwesen ein Produkt seines Milieus ist, spiegelt es lange respektierte soziokulturelle Werte wider. Die letzte Formalisierung des arabischen Schulwesens fand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt, als das gesamte Bildungswesen in den öffentlichen Bereich übertragen, also den staatlichen Behörden unterstellt wurde und seither mit dem es verwaltenden politischen Regime untrennbar verwoben war. Das vorherrschende Modell dieses Regimes (das allerdings verschiedene Aspekte hat und sich hier und da hinter leeren Sprüchen versteckt!) ist autokratisch und wird von einer dynastischen oder ethnischen Minderheit oder einer führenden Partei beherrscht: Gestärkt durch sein Bündnis mit der religiösen Hierarchie verbietet es jegliche politische Opposition und lehnt jeden Machtwechsel ab, unterdrückt öffentliche Freiheiten und setzt sich über die Rechte der „Staatsbürger“ und Minderheiten hinweg, kurz, es handelt sich um ein Regime, in dem es an Demokratie und Privatinitiativen fehlt, die immer unter dem Verdacht stehen, seine Vorherrschaft gefährden zu wollen. Adam Pojorski hat die Demokratie als „Recht der Staatsbürger, ihre Führer durch die Wahlurnen zu bestimmen“ definiert.3 In der arabischen Welt wird dieses Recht mit 99% der Stimmen zugunsten der Machthaber entkräftet. Wie aber sieht das Bildungswesen unter diesen Bedingungen aus?

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3 Siehe Selim Nassar in der Tageszeitung An-Nahar, Beirut, 26.11. 2008, S. 9.

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4. Zustand des zeitgenössischen arabischen Bildungswesens Es ist nicht einfach, ein gesellschaftliches Phänomen sowohl quantitativ als qualitativ einzuschätzen, wenn neuere statistische Berichte fehlen, wie das für den Zustand des Bildungswesens in der heutigen arabischen Welt der Fall ist. Allerdings haben Feldstudien von sachkundigen Forschern wichtige Informationen und sogar Lösungsvorschläge an den Tag gebracht. Genannt seien die verschiedenen Berichte von arabischen und nicht-arabischen Denkern und Forschern, die vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (engl. UNDP) unter dem Titel „Arabischer Bericht über die Menschliche Entwicklung“ (Arab Human Development Report, AHDR) geleitet und gefördert worden sind. Es handelt sich um vier Berichte, die jährlich zwischen 2002 und 2005 erschienen sind und die Fehler des arabischen Bildungssystems unter drei Haupttiteln diagnostiziert haben: Wissensstand, Fehlen einer angemessenen Regierungsform (d. h. Demokratie und öffentliche Freiheiten) und Diskriminierung der Frauen. Wie der Titel besagt, versteht sich die vorliegende Forschungsnotiz als Anmerkung zum Inhalt dieser Berichte, aber auch als Interpretation dessen, was sie verschweigen, was in ihnen fehlt, und als Neubewertung der Mittel, die vorhandenen Missstände zu beheben. Man beachte folgendes in den Berichten angemerktes Paradox: „Wie kann ein so reiches Gebiet wie die arabische Welt eine solche Verspätung in seinem Bildungswesen und allen anderen Bereichen aufweisen?“ Der Bericht betont den ganz neuen Gedanken, dass die „Unterschiede im Wissensstand“ (Erziehung und Bildung) und nicht die „Unterschiede im Einkommen“ (in US-Dollar pro Einwohner und Jahr) als „wichtigster Maßstab für das Potenzial eines Staates in der heutigen Welt“ betrachtet werden müssen.4 Infolgedessen könne die Diagnose als objektiv und neutral angesehen werden, wenn sie von einer Klassifizierung der hinderlichen Faktoren und Ursachen ausgeht, diese nach Vorrang und Wichtigkeit einteilt und somit einen impliziten Wertmaßstab widerspiegelt, der zumeist durch die Eigenart des kulturellen Kontexts zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt geprägt ist. Die Prioritäten und maßgebenden Werte werden in diesen Berichten nach Freiheit (der Individuen und Gruppen), Demokratie (in der Ausübung der Staatsgewalt), Kenntnissen (vermittelt durch Schulen, Universitäten, Forschungszentren, Verbreitung von Information ...) und Vorbereitung für eine glanzvolle Zukunft eingeteilt. Dadurch gewinnen diese Berichte trotz ihrer thematischen Vielfalt eine implizite Einheit, die ihnen wissenschaftlichen Wert verleiht, den sie zweifellos verdienen.

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4 Siehe UNDP: La Caisse arabe pour le développement économique et social (Die arabische Kasse für wirtschaftliche und soziale Entwicklung). Amman-Verlag (Jordanien), S. 25f.

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5. Die Berichte zur nachhaltigen Entwicklung in der arabischen Welt Der Erste Bericht (2002) hat drei negative Faktoren der menschlichen Entwicklung in der arabischen Welt herausgestellt: die Aneignung von Kenntnissen, Freiheit und eine angemessene Regierungsform, sowie die Aufwertung der Rolle der Frau. Er schlägt vor, die arabischen Gesellschaften umzustrukturieren und die Widerstände zu beheben, die ihrer Entwicklung im Weg stehen. Vor allem aber hat dieser Bericht die Verspätung des arabischen Bildungssystems im Bereich der am meisten verbreiteten Fremdsprachen, der wissenschaftlichen Sprachen, der Schrift und der Übersetzung dargelegt. Zum Beispiel sind seit tausend Jahren bis zum heutigen Tag nicht mehr Dokumente ins Arabische übersetzt worden als in nur einem Jahr ins Spanische (wobei die arabische Bevölkerung auf 300 Millionen Menschen geschätzt wird)! Und es werden jedes Jahr weniger Dokumente ins Arabische übertragen als in Sprachen kleiner Länder wie Griechenland oder Korea. Was den Analphabetismus betrifft, so kann über ein Drittel der arabischen Bevölkerung weder lesen noch schreiben (davon sind zwei Drittel Frauen)! Nicht inbegriffen ist das, was Mounir Bashshur den auf die ersten Schulklassen und die universitäre Nichtspezialisierung beschränkten „Analphabetismus“ nennt. Relativ gesehen leben in den arabischen Ländern die meisten Analphabeten der Welt! Nun ist hier aber der Umstand paradox und gar schockierend, dass die Gesamtheit der arabischen Länder „Beträge für Bildung ausgegeben hat, die nicht geringer sind als die Summen, die z. B. von den USA, Kanada, den europäischen Staaten oder Japan dafür verwendet werden“!5

6. Pädagogische Reform und circulus vitiosus Warum also ist das arabische Bildungswesen gescheitert nach zwei Jahrhunderten „Nahda“, nach den nie abgebrochenen Debatten zwischen Modernisten und Traditionalisten, zwischen „Okzidentalisten“ und Islamisten, zwischen Fremdenfeinden (Feinden des Okzidents) und Verfechtern der gegenseitigen Ergänzung mit dem „verschiedenartigen Anderen“ ...? Die „engstirnigen“ Geister machen aus dieser Frage ein „technisches“ Problem, das hauptsächlich die Lehrpläne und erzieherischen Methoden betrifft, ohne sich um eine Änderung der Perspektiven im System der Werte, der Kultur, des politischen Regimes, der Freiheiten, der Menschenrechte, des offenen und rationalen Dialogs usf. zu kümmern. Auch die Anweisungen, die oftmals zum Schluss der wichtigen Kongresse und Kolloquien gegeben werden, sind meist nur leere Sprüche: Die vorgeschlagenen Richtlinien sind voller Naivität, ––––––––––––––––––

5 Siehe die „3. Konferenz über Bildung und Erziehung“, die in Beirut im April 2006 abgehalten und von der Arab Thought Foundation organisiert wurde – Pressebericht von Amal Al Andari in der Tageszeitung Al Hayat, Beirut, 1.5. 2006.

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Schizophrenie oder gar Heuchelei, da sie jegliche Anspielung auf eine sozialpolitische oder soziokulturelle Veränderung vermeiden und lediglich die Mittel angeben, die woanders, in einem anderen soziokulturellen Kontext zum Erfolg geführt haben und nun empfehlen, dieselben Mittel in einer grundverschiedenen, an chronisch gewordenen Problemen krankenden Situation anzuwenden! Der Gedanke einer (pädagogischen) Reform ist für einige arabische Pädagogen zu einem selbständigen Begriff geworden, dessen Wert in der Tradition der „alten“ Nahda und ihrer überalterten Modernität liegt! Der Vorsitzende des „Arabischen Instituts für Wissenschaft und Technologie“, Dr. Abdallah Najjar, erklärte z. B. am Ende der in Doha (Katar) abgehaltenen „Konferenz über Technologie, Förderung und Erziehung“, dass „das arabische Bildungssystem formgerecht“ sei, „aber Organisation und ein viel umfassenderes Zurückgreifen auf Technologie“ benötige (sic)!6 Auch die Weltbank hat befunden, dass der Bildungsstand in den arabischen Ländern „unterhalb des normalen Niveaus“ liege und deshalb eine Reform nötig sei, die hauptsächlich in der Förderung des kritischen Denkens und der Weiterbildung der Lehrkräfte bestehe. Die saudiarabische Akademikerin Fawzia el Bakr hat die Lage der Schüler, Mädchen und Jungen, in ihrem Land wie folgt beschrieben: Sie sind „Gefangene ihrer Schulen“, und diese Schulen sind wahrhaft bürokratische Institutionen, die „keine Kreativität zulassen“. Was die Schulbücher betrifft, so lehren diese, dass „die Frau ein sentimentales Wesen ohne Vernunft und Gedankengut“ sei und nur zu „häuslicher Arbeit“ tauge, der Mann dagegen „ganz anders“ sei.7

7. Bildung in einem erstarrten soziokulturellen Kontext Die Krise des arabischen Bildungswesens ist im Grunde die Krise der arabischen Kultur, die nach A. Andari „mit ihrer Zeit gebrochen hat“.8 Das Auswendiglernen wird überbewertet und die Fähigkeiten der Schüler zur Analyse, Kritik, eigenen Initiative, Kreativität werden unterbewertet. Diese Kultur wird streng überwacht von verschiedenen – politischen, geistlichen, wirtschaftlichen ... – Autoritäten, die den status quo aufrechterhalten und rühmen. Das arabische Schulwesen ist in sich geschlossen: Es lehrt, dass die Vielfalt, die Achtung vor der anderen Meinung, die Diskussion nur zum „Chaos“, zum Aufstand (fitna) führen können. Infolgedessen ist die auf Freiheit und Verschiedenheit der Meinungen beruhende Demokratie verdächtig, und somit –––––––––––––––––– 6 Siehe den Artikel von Ghassan Hajjar in der Tageszeitung An-Nahar, Beirut, 4.5. 2006, sowie den Standpunkt von Dr. Edgar Schoueiri, der meint, dass die akademische Reform vor allem im Bereich der wissenschaftlichen Forschung einen kleinen Eingriff des Staates erfordere, An-Nahar, 27.10. 2008, S. 9. 7 In der Tageszeitung Al-Hayat, Al-Damman, 23.5. 2006. 8 Andari, a.a.O. (Anm. 5).

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kann das einzig angemessene Regime nur autokratisch sein: Wie der Vater, so der Herrscher! Die Forderung nach einem einzigen Führer garantiert Sicherheit und Ordnung! Der libanesische Politiker und Soziologe Antoine Messarra hat angemerkt, dass der Rückstand des arabischen politischen Denkens am Bildungssystem liegt, das den Geschichtsunterricht fälscht: Man lernt im Vorhinein reduzierte und entstellte geschichtliche Ereignisse auswendig, ohne jegliche Diskussion, Problematisierung, Neubewertung der Fakten, des Verhaltens und der Einstellung der „großen“ historischen Figuren! In den Schulen eines vom Autor nicht genannten arabischen Landes wurde der Geschichtsunterricht schlechterdings durch das Fach „Sozialkunde“ ersetzt!9 In den Lehrplänen der Schulen und Universitäten bestimmter arabischer Länder fehlt auch der Philosophieunterricht völlig, und damit die glorreiche arabische Philosophie mit Namen wie Al-Farabi, Ibn Sina (Avicenna), AlKindi, Ibn Rushd (Averroes), die für die Schüler dieser Länder keine Bedeutung mehr haben! Um diesen Mangel im 21. Jahrhundert zu erklären, wird das obskurantistische mittelalterliche Gerücht wieder aufgenommen und bis zum Überdruss wiederholt, Philosophie sei nichts anderes als importierter verkappter Atheismus! Sogar Psychologie wird als eigenständige Wissenschaft verboten. Nur einige Aspekte davon – hauptsächlich auf dem Gebiet der Kinderpsychologie – werden in der Pädagogik angeschnitten. Der Zweite Bericht (2003) mit dem Titel „Der Aufbau der Wissensgesellschaft“ betonte die Bedeutung der Freiheiten in der Produktion des Wissens, vor allem aber den Zugriff auf globale Erkenntnisquellen, um den wissenschaftlichen Fortschritt in der arabischen Welt zu fördern. Auch sei eine „angemessene Regierungsform“ unumgänglich, um im Zeitalter der Globalisierung die zwischenarabischen und internationalen Beziehungen zu pflegen.

8. Wissensgesellschaft und demokratische Freiheiten Das Projekt der Informationsgesellschaft wurde durch das der „Wissensgesellschaft“ ersetzt. Beide Projekte sind von der UNESCO entwickelt worden. Da man jedoch festgestellt hat, dass nur 11% der Weltbevölkerung Internet nutzen und davon 90% in den Industrieländern leben, wurde das ursprüngliche Projekt modifiziert. Allerdings hat der Vorsitzende der UNESCO, Koichiro Matsuura, nicht erwähnt, dass die Araber, die 5% der Weltbevölkerung ausmachen, nur 0,2% der Internetanschlüsse (Computer) nutzen. Und diese geringe Anzahl von Nutzern ––––––––––––––––––

9 A. Messarra, „Les limites du pouvoir“ (Die Grenzen der Macht), in der französischsprachigen libanesischen Tageszeitung L’Orient-Le Jour, 14.10. 2008, S. 5.

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beschäftigt sich weit mehr mit Internetspielen und Unterhaltung als mit ernsteren Recherchen! Der Dritte Bericht (2004) hieß „Der Weg zur Freiheit in der arabischen Welt“. Darin bedeutet Freiheit wesentlich mehr als eine ausschließlich ökonomische Befreiung: Sie ist unmöglich ohne die Einführung einer angemessenen Regierungsform, die auf strikter Achtung vor dem Gesetz und Wahrung der Justizgewalt beruht. Nicht ohne Bitterkeit stellt der Bericht fest, dass die arabischen Gesellschaften keine Ähnlichkeit mit freien Gesellschaften haben! Er schlägt vor, das Thema der Freiheit in die Lehrpläne der Schulen und Universitäten aufzunehmen, und es dort feierlich, offen, ohne Zwang und Furcht zu diskutieren. Der vierte und letzte Bericht der Reihe (2005) behandelte ein spannendes Thema: „Der Weg zum Aufstieg der Frau in der arabischen Welt“. Allerdings konnte dieses Thema aus gewichtigen Gründen nicht diskutiert werden. Immerhin wurden jedoch Richtlinien zur Lage der arabischen Frauen verkündet, die jegliche Diskriminierung verurteilten. Die wichtigste Erklärung war jedoch folgende: Keine arabische Nahda (Renaissance) ohne eine „Nahda“ der arabischen Frau. Allerdings haben diese bedeutenden Appelle kein gebührendes Echo gefunden, weil die nötigen Mittel dafür nicht zur Verfügung standen. Bildung ist zugleich ein notwendiges Mittel und der Endzweck jeder Reform, und so auch der Staat: Er muss reformiert werden, damit durch ihn Reformen erzielt werden können. Mit diesem Dilemma konfrontiert gerät das traditionalistische Denken in einen Teufelskreis. Wie kann in Ermangelung demokratischer Mittel ein demokratisches Regime geschaffen werden? Mit unzulässigen nicht-demokratischen Mitteln? Wie der Gewalt entgegentreten, wenn diese nicht zu unseren Optionen gehört? Diese Dialektik, die dem Teufelskreis zu entgehen sucht, hat trotz solidem und gut strukturiertem Anschein „Lücken“: Die vorgeschlagene Veränderung ist nicht notwendig eine schnelle und unmittelbare Reaktion, deren Konsequenzen in all ihren Aspekten absehbar wären. Veränderung hängt vor allem von den Umständen ihrer Verwirklichung ab. Und in den Augen der Behörden erscheinen diese Umstände nicht als veränderungsträchtig.

9. Veränderung und demokratische Prioritäten „Wie ist das Scheitern der Demokratie in der arabischen Welt zu erklären?“ So lautet der Titel eines Artikels des Akademikers Samir Makdessi. Er bezieht sich auf den „Bericht zur arabischen Entwicklung“ (2002), der versucht, die Indizien des demokratischen Versagens trotz des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufschwungs in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu interpretieren. Der Verfasser bringt dieses Scheitern mit dem israelisch-

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arabischen Konflikt in Verbindung, der abwechselnd zu einer Verschärfung und Lockerung der arabischen Autokratie geführt hat. Der offizielle Vorwand für die Einschränkung der öffentlichen Freiheiten wurde in folgenden Spruch gekleidet: „Keine Stimme soll lauter erklingen als diejenige der Schlacht“ (gegen den zionistischen Feind)! Aber der lange „Waffenstillstand“, der der erwarteten, vermeintlichen Schlacht vorausgeht, lässt an diesem Vorwand zweifeln. Und es scheint nicht möglich, ihn durch militärische Grenzzwischenfälle zu erhärten, oder gar durch einen Mini-Krieg, dessen Konsequenzen katastrophal wären! Makdessi hat eine Beziehung zwischen dem Rentenniveau und der Entwicklung des Bildungswesens einerseits und der Verbreitung der Demokratie andererseits festgestellt. Und je demokratischer die Nachbarschaft eines Staates sei, desto stärker wäre die Tendenz zur Demokratie in diesem Staat. Leider ist das nur außerhalb, nicht innerhalb der arabischen Welt der Fall, da hier wirtschaftlicher und pädagogischer Aufschwung nie mit einer vergleichbaren Entwicklung im Bereich der Demokratie einhergegangen sind. Was die Vielfältigkeit der arabischen Welt betrifft, so kann sie nur zu einer sehr partikularen, nicht verallgemeinerbaren Konkordanzdemokratie führen, wie z. B. im Libanon. Ebenso verhält es sich mit den militärischen Niederlagen gegen Israel, die zu einem Rückgang der Demokratie in der arabischen Welt geführt haben. Nach Makdessi zu urteilen hätte jedoch das politische Regime keinen Einfluss auf eine nachhaltige Entwicklung, was auch immer Amartya Sen dazu meint!

10. Die Dialektik der Veränderung der Bildung und der Veränderung durch Bildung in der heutigen arabischen Welt Trotz andauernder Misserfolge ist die Wette auf Bildung immer übertrieben worden, ungeachtet der Tatsache, dass die Unterrichtsstätten mit ihrem kulturellen Status einer bestimmten Gesellschaft in einem bestimmten historischen Kontext angehören. Wenn man annimmt, dass die Menschen in diesen Schulen mit ihrem Status ihre „Grundpersönlichkeit“10 entwickeln, so ist eine Veränderung des vorherrschenden Bildungssystems entscheidend, da sie auf die Bedingungen einwirkt, unter denen sich diese „Grundpersönlichkeit“ entfaltet. Aber eine solche Veränderung ist nur mit Hilfe des Staates möglich. Wo also liegt der Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Veränderung? Wie kann man (Bildung) reformieren mit Mitteln (Staat und Gesellschaft), die ihrerseits reformiert werden müssen? Der Bericht von Jacques Delors über „Das Bildungswesen im 21. Jahrhundert“ nennt drei wirksame Faktoren für pädagogische Reformen: ––––––––––––––––––

10 Engl. basic personality, eine von Ralph Linton und A. Kardiner Mitte des 20. Jahrhunderts entworfene Theorie.

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1. die Gesellschaft vor Ort: Lehrer, Eltern, Leiter und Verantwortliche der Unterrichtsstätten; 2. die öffentlichen Behörden; 3. die Weltgesellschaft.11 Delors hat angemerkt, dass die Autorität der Staaten nach dem Fall der Sowjetunion geschwächt wurde. Aus diesem Grund hat er die Begriffe der offenen Massenmedien und des äußeren Drucks in sein pädagogisches Konzept aufgenommen. Da die arabischen Länder größtenteils dem „alten“ Typus und der Zeit vor der Wende angehören, geraten ihre Staaten mehr und mehr unter einen pazifistisch-„demokratischen“ Druck von innen, der sich als vielfältiger erweist, als er es früher war, und der (seitens anderer Staaten und der verschiedensten Nichtregierungsorganisationen) von außen verstärkt wird. Die Zivilgesellschaft der arabischen Länder ist zu einer Realität geworden, die den staatlichen Versuchen, sie zu unterdrücken, zu vertuschen oder zu verbieten, widersteht. Allerdings wurde die arabische Zivilgesellschaft vom Staat unterwandert, indem er als Untergrundkämpfer getarnte Beamte der Nachrichtendienste in die Ausschüsse, Gewerkschaften, sozialen Einrichtungen, Verbände (z. B. von Lehrern) einschleuste! Diese Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sind außerdem von traditionellen ethnischen oder konfessionellen (religiösen) Verbänden bedroht, die die notwendige Einheit dieser Gruppen „zersetzen“ und so die Förderung der Demokratie im offenen Dialog lähmen. Die Struktur der politischen Opposition gleicht derjenigen des politischen Regimes mit einer beidseitigen Verkümmerung der demokratischen Werte und ihrer Praxis. Dieser Umstand hat zur Einmischung von außen geführt. Aber die neue Einstellung der NGOs, die mehr und mehr auf einen pazifistisch-demokratischen Druck als auf Militärputsch und „Revolutionen“ setzen, hat zu einer Verbreitung der größtenteils über die globalisierten Massenmedien vermittelten und nachgeahmten demokratischen Verhaltensweisen geführt. So ist jedes politische Regime an mehr als einer Stelle durchbohrt worden. Die öffentlichen, vor allem an Universitäten organisierten Diskussionen haben etwas Hoffnung und Optimismus aufkommen lassen. Der arabische Denker Costantine Zurayq hat die Universität einen „Ort der Kritik“ genannt, der radikaler sei als jeder revolutionäre Gedanke eines parteipolitischen Ideologen!12 Auf dem Gipfeltreffen von Rio (1992) wurde der Vorrang des Bildungswesens in der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung betont, unter der Bedingung, dass es den großen Umwandlungen Rechnung trägt und die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit, Theorie und Praxis ständig verringert wird. –––––––––––––––––– 11 Bericht, a.a.O., S. 24 12 Costantine Zurayq, L’avenir arabe: soucis et questionnements (Arabische Zukunft: Sorgen und Fragen), Beirut, Dar Al Ilm, Lil Malayeen, 1983, S. 89-91. Zitiert von Issam Khalife im Sammelband Contribution des institutions publiques dans le changement culturel (Beitrag der öffentlichen Einrichtungen zur kulturellen Veränderung). Beirut 2007: Femmes chercheurs Libanaises und Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 189.

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Es heißt also, ein rückständiges Bildungswesen derart zu erneuern, dass es Veränderung bewirkt, dass es sich öffnet für das „verschiedenartige Andere“, für die verschiedenen Kulturen der Erde, für ihre spezifisch-partikularen und internationalen Errungenschaften, so dass ein Dialog mit ihnen stattfindet, d. h. eine Akkulturation auf gleichem Fuße, wenn nicht de facto, so wenigstens und vor allem de jure, damit wir mit diesen Werten gemeinsam „unsere“ Weltkultur schaffen, die am ehesten dem „Geist unseres Jahrhunderts“ entspricht. Somit muss an der Veränderung (der Lehrpläne und Werte) eines überholten Bildungswesens gearbeitet werden, damit das erneuerte pädagogische System zu einem Aufschwung (einer „Zweiten Nahda“, so Nassif Nassar), einer mit demokratischen Mitteln erreichten, neuen arabischen Renaissance führen kann. Dann werden die kommenden arabischen Generationen näher an die „für glückliche Zufälle geöffneten Fenster“13 rücken. Alles Weitere aber ist Rückstand einer Vergangenheit, die ihre Zeit und die Wahrheit ihres Daseins verfehlt hat. Aus dem Französischen von Stefan Kaempfer

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13 Die Formulierung ist von Mounir Bashshur.

Benmeziane Bencherki

POLITIK UND BILDUNG IM HEUTIGEN ALGERIEN Der Blick auf ein schulisches Curriculum

Es scheint mir, dass jedes Bildungsprojekt mit einer Fortschrittsidee einhergeht, auf die es im jeweiligen Fall abzielt; dieser erwünschte Fortschritt muss sich um die Bildung kümmern, insofern diese die Entwicklung umsetzt. Diese Beziehung zwischen Erziehung und Fortschritt ist Gegenstand eines Textes von Immanuel Kant, Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, wo er in der Vorrede ausführt: „Alle Fortschritte in der Kultur, wodurch der Mensch seine Schule macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zum Gebrauch für die Welt anzuwenden; aber der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwenden kann, ist der Mensch: weil er sein eigener letzter Zweck ist.“1 Das kantische Projekt wendet sich, wie das von John Dewey in Demokratie und Erziehung, gegen jedes auf sich selbst beschränkte Denken, das zum Hass führen kann, zur Intoleranz, zu Ungerechtigkeit und Ungleichheit, und positioniert sich zugunsten der Bildung und Ausbildung des Menschen. Diese kantische Idee der Bildung des Menschen mithilfe von Erziehung in ihrem demokratischen Bezug erlaubt mir, die bestehende Situation besser zu begreifen, die als ein Projekt einer Gesellschaft, der algerischen Gesellschaft gedacht ist, indem ich der Frage nachgehe, mit welchen Zielsetzungen die Reformen des Bildungssystems begonnen worden sind. Diese Frage beabsichtigt nicht, die gesamte Erfahrung unseres jungen Landes auseinanderzunehmen, sondern verfolgt das Ziel, die möglichen Verbindungen zwischen diesen Reformen und dem als demokratisch bezeichneten politischen Wandel zu suchen.

1. Erziehung als Spiegel internen politischen Wandels Algerien hat, wie die Mehrzahl der Länder dieser Erde, gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine schmerzhafte Periode durchlebt, die seine Geschichte durch soziale und kulturelle Brüche prägt und nach wie vor ein Hindernis für seine Entwicklung darstellt. ––––––––––––––––––

1 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Werke in zwölf Bänden, Bd. 12, hg. v. W. Weischedel. Frankfurt/M. 1965, S. 399.

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Nach Volksaufständen und einem heftigen Krieg hat Algerien zu politischer Unabhängigkeit2 gefunden, und wie in jedem jungen Land war die Einführung von Entwicklungsplänen im Rahmen des Entwicklungsprozesses Bestandteil der Strategie der politischen Machthaber. Der Bereich der Bildung und Erziehung gehörte zu den wesentlichen Punkten der Politik der beiden Präsidenten Ahmed Ben Bella und Houari Boumedienne, und zwar mittels der Verbreitung und Verallgemeinerung von Schulbildung, was als Demokratisierung des Unterrichts bekannt wurde, deren Zielsetzungen im Beschluss vom 16. April 19763 definiert werden. Dieser Beschluss erläutert die Zielvorgaben für die algerische Schule, die es ermöglichen, dass sie ihre Aufgaben realisiert – wie z. B. die Einrichtung einer bedeutenden Anzahl von Schulen, kostenlose Lehrbücher und kostenlosen Schulbesuch, sowie kostenlose Unterbringung von Menschen aus isolierten Gegenden. Hinter anderen Artikeln jedoch, wie z. B. Artikel 8, 9 und 10,4 verbirgt sich eine ideologische Orientierung, die mit demokratischen Grundsätzen wie Autonomie und Wahlfreiheit verwechselt wird. Sicherlich hatte die algerische Schule im Namen einer Demokratie der Bildung das Ziel, den Algerier im Rahmen der arabisch-islamischen Werte und in einem sozialistischen Bewusstsein zu bilden und erziehen; Artikel 2 des Beschlusses 1976 erwähnt dies, aber das erklärt in keinem Fall die ideologische Indoktrinierung. Diese Politik kam als Antwort auf eine vorgefundene Situation: Sie wollte nämlich reparieren, was die Franzosen nicht getan hatten. Gemeint ist, dass diese Politik für die indigene Bevölkerung bestimmt war, woraus sich die Notwendigkeit ergab, dass jedes Kind eingeschult werden musste. Folglich war die Strategie, die vom politischen Regime jener Zeit gewünscht ––––––––––––––––––

2 Zu diesem Punkt muss man beide Seiten berücksichtigen, denn es gibt die Behauptung, der Vertrag von Èvian sei vor dem Krieg ausgehandelt worden und nicht eine Konsequenz des Krieges von 1954. Die Memoiren, die einige algerische Führer heute veröffentlichen, erfordern eine tiefgehende und stille Relektüre, fernab von jeglichem ideologischen Einfluss. 3 Vgl. die Anordnung vom 16. April 1976 bzgl. der Organisation von Bildung und Erziehung: Art. 4: Jeder Algerier hat ein Recht auf Bildung und Ausbildung. Dieses Recht wird durch die allgemeine Ausweitung der grundlegenden Schulbildung gewährleistet. Art. 5: Der Schulbesuch ist für alle Kinder vom 6. bis zum vollendeten 16. Lebensjahr verpflichtend. Art. 6: Der Staat garantiert gleiche Zugangsbedingungen zur nachfolgenden höheren Schulbildung, Einschränkungen sind einzig die individuellen Fähigkeiten auf der einen Seite, die Mittel und Bedürfnisse der Gesellschaft auf der anderen Seite. Art. 7: Der Unterricht ist in allen Schulstufen gratis, unabhängig vom besuchten Schultyp. Art. 11: Das Bildungssystem ist Bestandteil des globalen Entwicklungsplans. 4 Die gleiche Anordnung vom 16. April 1976: Art. 8: Der Unterricht erfolgt in allen Schulstufen und Schulfächern in der Nationalsprache. Eine Verordnung wird die Einzelheiten der Anwendung dieses Artikels präzisieren. Art. 9: Fremdsprachlicher Unterricht wird entsprechend der per Verordnung festgelegten Bestimmungen eingerichtet. Art. 10: Das Bildungssystem liegt in der ausschließlichen Zuständigkeit des Staates. Außerhalb des durch die vorliegende Anordnung definierten Rahmens sind keine individuellen oder kollektiven Initiativen zulässig.

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wurde, weder eine Strategie der Qualität noch der Selektion – und dies wird von einem Teil der Bevölkerung als positiv erachtet. Wenn wir allerdings zu unserer kantischen Grundlage zurückkommen, der grundlegenden Problematik von Bildung und Erziehung, in dem Sinne, wie Kant sie vermittelt, nämlich „der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwenden kann, ist der Mensch: weil er sein eigener letzter Zweck ist“, dann lässt sich nicht leugnen, dass dieses System in Hinblick auf eine gute Bildung des Menschen wirkungslos blieb, es sei denn, man betrachtet die ideologische Indoktrinierung als eine Errungenschaft. Denn die meisten der während dieser Periode in der Schule unterrichteten Menschen wurden ungeachtet ihrer selbst in die ideologischen Anliegen eines Systems eingegliedert und nicht als Individuen im Sinn einer Wahlfreiheit gebildet. Diese Bildungspolitik hat sich zu einem exorbitanten Patriotismus verstiegen, indem sie sich für die vertikale Kooperation entschied, die innerarabische Kooperation mit überwiegend orientalisch-ägyptischer Färbung, mit dem Ziel, so stellten sich die Machthaber dies vor, den politisch-sprachlichen Herausforderungen der Kolonialära ein Ende zu setzen. Ausgehend von diesen verschiedenen Strategien, den Menschen um ideologischer Ziele willen zu bilden, hat sich ein Bruch in der algerischen Gesellschaft in die zeitgenössische Geschichte eingeschrieben, ein Konflikt zwischen jenen mit frankophoner Bildung und jenen mit einer arabophonen. Mostefa Lacheraf hat dieses Phänomen in seinem Buch L’Algérie Nation et Société5 treffend beschrieben. Diese aufgezwungene Spannung bestand zwischen jenen, deren Bildung in französischer Sprache, der Sprache der Kolonialherren stattgefunden hatte, und jenen, bei denen dies nicht der Fall war. So dass also die arabische Sprache eine Abwertung erdulden musste, die später im Namen der Demokratisierung der Bildung zu einem Verlust der Elite besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften beigetragen hat. Diese Elite hat sich in ihrer Gesamtheit auf die Sozialwissenschaften, die Soziologie gestürzt, die als französischsprachige Wissenschaft6 galt, obwohl Algerien in jenen ersten Jahren diese Humanressourcen benötigt hätte – sie hätten sich der Fragen der Entwicklung hin zu jenen Zielsetzungen annehmen können, die Algerien in die Reihen der entwickelten Länder hätten bringen sollen. Aber diese Intelligentsia hat sich in eine geräuschlose Oppositionspolitik7 hineinbegeben, um die Konfrontation mit der Macht zu vermeiden, was zu einer Unübersichtlichkeit in der realen Entwicklung der Sozialwissenschaften in Algerien geführt hat. Der politischen Linken zugerechnet und eingebunden in Verwaltungstätigkeiten und Wirtschaftsmanagement hat diese Elite den Weg des Zuschauers und der Intrige eingeschlagen. –––––––––––––––––– 5 Ich halte die Analyse des tunesischen Soziologen Al-Mouncef Ouaness in seinem dreibändigen Werk L’état et la question culturel dans les pays du Maghreb, von denen ein Band Algerien gewidmet ist, für eine Analyse der Realität, die Berücksichtigung verdient. 6 Ich kann hier die Namen von Abdelkader Djegloul und Ali El-Kenz nennen. 7 Die Mehrheit dieser Elite war Mitglied heimlicher Oppositionsparteien.

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Seit den 80er Jahren8 wurden aufgrund der veränderten politischen Machtverhältnisse in Algerien die bildungsbezogenen Reformvorhaben in die vorderste Reihe der Anliegen gestellt, wobei eine radikale Algerisierung des Erziehungs- und Bildungssystems einsetzte, unter dem Motto der „école fondamentale algérien“, einer algerischen Grund-Schule. Immer noch dem Wandel und den ideologischen Überzeugungen verpflichtet, hatte dieses Projekt als Zielsetzung „die Einführung einer neuen Reform, inspiriert durch das ostdeutsche Modell jener Zeit, die man offiziell ,enseignement fondamental‘ [grundlegenden Unterricht] taufte.“9 Diese Politik geht damit einher, dem Quantitativen mehr Bedeutung beizumessen als dem Qualitativen, was die Entschlossenheit des Bildungsministeriums erklärte, alle schulischen Programme noch einmal zu überarbeiten: „Auf diese Weise wurden desillusionierten Lehrern neue Programme zur Verfügung gestellt – Lehrern, die nicht wussten, was sie tun sollten angesichts einer willkürlichen und aufgezwungenen politischen Entscheidung und einer Reform, auf die sie nicht vorbereitet waren. Die Inhalte bestimmter Programme waren so aufgebaut, dass die Ideologie Vorrang hatte vor der Pädagogik und die religiöse Indoktrinierung die Regel war. [...] Beispielsweise wurden in den Lehrbüchern der Literatur die besten arabischen Werke herausgenommen, um Platz zu machen für entleerte Texte, die ihrer künstlerischen Quintessenz beraubt sind, und für militante politische Traktate [...] Und um das Massaker zu krönen, haben unsere ,Entscheidungsträger‘ eine Unterrichtsmethodologie eingeführt, die jegliche kritische Geisteshaltung und jede Fähigkeit zur Differenzierung, zum Vergleich und zur Kreativität erstickt.“10 Dieses Bild erklärt die passive Haltung der algerischen Lehrer, die dafür vereinnahmt wurden, durch ihr Engagement diese Reform zu einem Erfolg werden zu lassen. Die Lehrer haben sich das Recht herausgenommen, sich Diskussionsforen im Herzen ihrer Institutionen zu schaffen, untereinander oder sogar mit Eltern von Schülern – sie überschreiten allerdings die Grenzen der administrativen Macht der Einrichtung nicht, deren Verantwortliche zusätzlich zu ihrer fachlichen Kompetenz für die Position, die sie innehaben, von den Parteiorganen vorgeschlagen werden müssen, eine Art ideologischer Überwachung. Gegen Ende der 80er Jahre, als Algerien, wie die meisten Länder mit sozialistischem Regime, in jeder Hinsicht von einer ökonomischen Krise erschüttert wurde, wurde das Bildungssystem zur Zielscheibe der Kritik. In den kritischen Diskussionen im Fernsehen oder in der Presse analysierten und sezierten Veröffentlichungen wie jene von Malika Greffou11 unaufhörlich den Zustand des Erziehungssystems. Dieses Klima kritischer Diskussion gab Anlass für die –––––––––––––––––– 8 Nach dem Tod von Boumedienne wurde Chadi zum Nachfolger gewählt 9 Vgl. L’école algérienne, Geisel des Obskurantismus, im web unter http//www.afrique-du nord.com/article.php (16. September 2008). 10 Ebd. 11 Malika Boudalia Greffou, L’école algérienne de Ibn Badis à Pavlov, Editions LAPHOMICAlger-89.

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Rückkehr der alten Polemik zwischen Frankophonie und Arabophonie, zwischen denjenigen, die für eine Schule entsprechend den Vorstellungen von Ibn Badis eintraten, also für eine algerische Schule auf der Basis der Normen der Arabisierung wie auch der Islamisierung, und jenen, die als frankophon bezeichnet wurden und für eine moderne Schule eintraten, die für universelles Lernen offen ist.12 Im Zentrum der kritischen Diskussionen stand als Thema die Diagnose der Defizite und Errungenschaften jener Erfahrung der „ecole fondamentale“, aber das Ziel war, ein über die Bildung hinausreichendes Phänomen in seiner islamistischen Ausprägung zu analysieren, das einen merkwürdig steilen Aufstieg genommen und eine unvorstellbare politische Breitenwirkung hatte. In den Augen mancher gebührt die Verantwortung hierfür der „école fondamentale“ und der Arabisierung, hinter der sich ein Islamismus verbirgt. Der Schriftsteller, Poet und Journalist Tahar Djaout13 erklärte zu jener Zeit die Schule zu einer „Produktionsstätte des Hasses und des Obskurantismus [...], die Monster hervorbringt, welche die Sterne zum Erlöschen bringen.“14 Von diesem Moment an sollte die Schule als Bildungsinstitution im politischen Leben eine Rolle spielen. Die Lehrer profitierten vom Demokratisierungsprozess, der durch die Machthaber initiiert wurde, und vervielfachten ihre Anstrengungen – in der Gründung von Verbänden mit dem Charakter sozialberuflicher „Gewerkschaften“, und sie nahmen sich das Recht heraus, aktiv an der Leitung der Einrichtungen mitzuwirken, indem sie Leitungs-Beiräte installierten, die sich aus Mitgliedern der Verwaltung, aus Elternvertretern und von den Kollegen gewählten Lehrervertretern zusammensetzten. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich auch die Beziehung zwischen Lehrern und Leitung von der Gehorsamkeit verabschiedet, die aufgrund vieler Ängste zunächst verbreitet war. Die Freiheit, sich zu äußern und zu reorganisieren, führt dazu, dass die Leute den Eindruck erwecken, sie seien selbst davon überzeugt, Demokratie zu leben. Nach einer langen Periode, die in Algerien generell als das schwarze Jahrzehnt, als Periode des Bürgerkriegs bekannt ist, in der der Terrorismus alle Errungenschaften der vorangegangenen Perioden zerstört hat, insbesondere eine Vielzahl von Einrichtungen der Infrastruktur und der Humanressourcen, um die sich Algerien als einziges Land bemüht hatte, wurde die Politik der Bildungsreform zum Teil der Veränderungsstrategie, die die verschiedenen Machthaber Algeriens zwischen 1991 und 2001 initiierten. Aber nachdem Algerien zu all jenen Ländern der Welt gehört, die der Welle der Globalisierung bzw. der Globalisierungen nicht standhalten konnten, war es normal, dass die Notwendigkeit der Harmonisierung der schulischen Programme zu einem Teil dieser Politik der Anpassung an internationale Normen wurde, deren so ge–––––––––––––––––– 12 Ali ben Mohamed, vormaliger Bildungsminister, hat eine Widerstandsgruppe gegründet, die überwiegend aus Personen mit arabophoner Neigung islamistischer Färbung bestand, um die vertikale Einbindung der algerischen Schule zu verteidigen. 13 Getötet durch Waffen der islamistischen Front am 23 Mai 1993. 14 Vgl. L’école algérienne, a.a.O. (Anm. 9).

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nannte demokratische Kultur zum Bestandteil der schulischen Programme wurde. Die UNESCO als Garant der Machbarkeit von Reformen hat die Bitte Algeriens um Unterstützung bei diesem Unterfangen akzeptiert, wie ihr Generaldirektor Herr Koichiro Mastsuura erklärt hat, und zwar im Bericht über das Begleitprogramm der UNESCO für die Reform des Bildungssystems (PARE), welches auf der allgemeinen Konferenz der UNESCO im Oktober 2003 gemeinsam mit dem algerischen Erziehungsministerium auf Antrag des Präsidenten der algerischen Republik unterzeichnet wurde. Dieser Bericht, der im Jahr 2005 unter dem Titel „Die Neugestaltung der Pädagogik in Algerien – Herausforderungen und Risiken einer Gesellschaft im Wandel“15 erschien, umfasst ein Beobachtungsprotokoll wie auch die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit von Experten beider Seiten. Aber ungeachtet der Protokollergebnisse, die diese Bilanz auflistet, zwingt sie uns heute noch, uns an den globalen Kontext dieser Veränderungen zu erinnern. Soll heißen: Wenn die ersten Reformen, die Reformen von der Unabhängigkeit bis zum Ende des Jahres 2000 durch die Innenpolitik initiiert wurden, so wurden uns die jüngsten Reformen auferlegt aufgrund von Strategien einer beunruhigenden Globalisierung, in denen die kulturellen Besonderheiten nicht berücksichtigt wurden.

2. Erziehung als Spiegel externer politischer Veränderungen Richtet man die Aufmerksamkeit darauf, in welchem Jahr Algerien die Reformvorhaben im Bildungsbereich begonnen hat, so bemerkt man, dass dies zusammenfällt mit der Internationalisierung des Phänomens des Terrorismus, ein Phänomen, das auch durch ein Land wie Algerien gefärbt war, und an dem selbst in den Augen vieler Algerier die so genannte „école fondamentale“ Algeriens Schuld trug. Aber mit dem goldglänzenden Slogan Kampf dem Terrorismus, dem Bösen und dem Dämon mobilisierten die Vereinigten Staaten von Amerika die globalen Mächte, alle Kräfte, Waffen und Politik einzusetzen, um den Terrorismus bereits in der Wiege zu bekämpfen.16 Diese eigentlich militärische Operation greift eine unserer Theorien wieder auf, die in den 90er Jahren entstand, nach der Veröffentlichung der Bücher von Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, und Samuel Huntington, The Clash of Civilisations. Die Schlussfolgerungen dieser beiden Werke konn––––––––––––––––––

15 Erschienen unter dem Direktorat von Noureddine Toualbi-Haalibi, hg. vom UNESCO Büro Maghreb. 16 Diese Strategie der Internationalisierung des Kampfs gegen den Terrorismus in seiner islamistischen Färbung war ein Glücksfall für Algerien, ein Land, das seit Jahren in seinem Kampf gegen den Terrorismus isoliert war, und von nun an ist eine weltweite Mobilisierung zu erwarten, auch wenn die beiden Phänomene – Algerien und die USA einschließlich der restlichen Welt – nicht vergleichbar sind, weil ersteres, nämlich das algerische, ein genuin landesinternes Phänomen ist, das auf das Scheitern eines „demokratischen Prozesses“ zurückgeht, während das letztere Gegenstand eines fast weltweiten Krieges geworden ist.

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ten erst nach den Ereignissen vom 11. September 2001 eingeschätzt werden, aber sie hatten eine gemeinsame Vorstellung von den vorangegangenen Veränderungen, die auch in Projekten von Globalisierungstheoretikern aufgegriffen wurden.17 In diesem internationalen Kontext und aufgrund internationaler und sogar auch nationaler Forderungen begannen die Reformen des Bildungssystems in Algerien. Aufgrund einer Anweisung zur Demokratisierung der Gesellschaft wurde die Neugestaltung des Schulprogramms ausgearbeitet – aus dieser Bemerkung wird deutlich, auf welchem Niveau wir derzeit von einem demokratischen Verhältnis zu Erziehung und Bildung im heutigen Algerien sprechen können. Im oben zitierten Bericht der UNESCO macht deren Generaldirektor diese Gewissheit allgemein sichtbar, indem er ausführt, dass „die Reform des Bildungssystems, die im Juli 2002 eingeführt wurde, eine Antwort darstellt auf die schnellen Veränderungen, die das Land seit etwa fünfzehn Jahren auf der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ebene erlebt [...], um die Anpassung und Integration der algerischen Gesellschaft im Kontext der ökonomischen Globalisierung und der Beschleunigung des technologischen Fortschritts zu erlauben.“18 In einer Logik der schnellen Integration Algeriens in den internationalen Veränderungsprozess hat der Umbau der Bildung mit Ausnahme der Hochschulen19 begonnen, mit dem Fokus, Schüler, künftige Bürger und Algerier heranzubilden, die fähig sind, sich an die neuen Unterrichtsmethoden anzupassen, sich an die Beschleunigungen des technologischen Fortschritts zu assimilieren, und fähig in Hinblick auf sich selbst, die Öffnung zum Anderen hin zu akzeptieren, Schüler, die für den Anderen offen sind, ohne Hass und Intoleranz, die überzeugt sind von dem, worum es bei der neoliberalen Politik geht. Wir können hier die Bemerkung anfügen, dass diese Zielsetzungen besser sind als jene der ersten Reform aus dem Jahr 1976 oder aus den 80er Jahren der „école fondamentale“. Im Bereich der Alltagspraxis wächst die Zahl derer, die als Lehrer in Entscheidungsinstanzen vertreten sind, kontinuierlich an: die Zahl unabhängiger Gewerkschaften, das heisst solcher, die nicht mit der Macht liiert sind, liegt bei vier, ohne den Verband der Eltern von Schülern zu zählen, die an administrativen oder sozialberuflichen Aktivitäten teilnehmen. ––––––––––––––––––

17 Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 werden für die künftigen Jahre gekennzeichnet sein durch eine Logik immerwährender und grundlegender Veränderungen in Richtung einer Demokratisierung der verschiedenen Schauplätze des sozialen Lebens, seien sie individuell, gemeinsam oder universell. Diese Demokratisierung der Einstellungen wird erzwungen durch die universelle Traumatisierung, das heisst, die Entwurzelung des allgemein als Neo-Islamismus bekannten Terrorismus. 18 UNESCO Vorwort des Berichts, der in Anm. 15 erwähnt wird. 19 Hier ist zu erwähnen, dass die Reformen im universitären Bereich erst kürzlich begonnen haben, auch wenn die Universität der Ort ist, an dem das Bild der demokratischen Praktiken am sichtbarsten wird.

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Aber um genauer zu wissen, bis zu welchem Punkt diese Politik des Wandels im Zusammenhang mit der Demokratisierung ihre Ziele erreichen konnte, werde ich mich nicht mit Zahlen in Bezug auf die Repräsentation zufrieden geben, sondern ich werde ein Schulbuch analysieren, als Indikator zur Messung des Erfolgs eines Experiments. Für das Lehrbuch des Geschichtsunterrichts, das für die Schüler des zweiten Zyklus des Collège, der weiterführenden Schule gedacht ist, der sich über vier Jahre erstreckt, begann der Lehrplan für den Geschichtsunterricht mit Einheiten über das Altertum, darauf folgte die Geschichte der Phönizier, um dann im dritten Jahr zu den islamischen Dynastien überzugehen, bis hin zur osmanischen Periode, und für das vierte Jahr ist das Buch überwiegend dem französischen Kolonialismus in Algerien gewidmet. Dieses Schulbuch, Gegenstand unserer Kritik, habe ich gewählt, um die Perversität besser zu begreifen, die ein schulisches Programm, obwohl es Teil einer Reform ist, erzeugen kann. In diesem Alter, im vierten Jahr, hat ein Schüler im Allgemeinen ein Alter von 14 oder 15 Jahren, sofern er den Normen des Schulbesuchs in Algerien entspricht. Dies ist eine sehr wichtige Zeit in psychologischer Hinsicht, denn es ist das Alter, in dem der Schüler die psychische Reife erreicht, vor allem auch die Ausbildung des Gedächtnisses, insbesondere die Art und Weise, wie man das Imaginäre bildet, es geht mit anderen Worten um die „schulische Verwendung des Erinnerns“.20 Was auf den ersten Blick ins Auge fällt: 1. Dieses Lehrbuch von mehr als 175 Seiten ist „dem algerischen Krieg“ von 1830 bis zu unseren Tagen gewidmet: Volksaufstände, Befreiungskrieg, Periode der Unabhängigkeit, begleitet durch mehrere Fotos und Statistiken. 2. Es erscheint als Krönung einer entscheidenden Phase für den Schüler, der ausgeschlossen werden kann, wenn er am Ende des Zyklus die entsprechende Prüfung nicht vorweisen kann. 3. Dieser Schüler behält von Geschichte nach mehr als vier Jahren nur den Krieg in Erinnerung. 4. Dieses Schulbuch greift zum ersten Mal auf eine Idee zurück, die ich merkwürdig finde, wenn man sie mit ähnlichen Schulbüchern aus den so genannten sozialistischen Jahren vergleicht, wo das Bild der Führung in der populären Darstellung eine vereinheitlichende Rolle in Hinblick auf das Bewusstsein spielt. Abgesehen davon findet man von Seite 134 bis zur Seite 175 drei Einheiten über das aktuelle Algerien, darunter Fotographien mehrerer algerischer Staatsoberhäupter, die nacheinander an der Macht waren, unter ihnen auch jene der besagten schwarzen Epoche (im algerischen Jargon), und dies unter dem Titel „große Entscheidungen für den Wiederaufbau des algerischen Staates“; auf den Seiten 134 bis 168 gibt es zudem mehr als 25 Fotos, 15 dieser Fotos sind dem aktuellen Präsidenten gewidmet. Seine Inszenierung kann in der Analyse dieser Diskussion nur als Rückschritt interpretiert werden. –––––––––––––––––– 20 P. Ricoeur, La mémoire, l’histoire, l’oubli. Paris 2000: Seuil, S. 81.

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Entspricht die Planung des Programms den Zielsetzungen der Öffnung und der Anpassung an internationale Normen? In einem Jahrhundert, wo der Algerier dank der Neuen Technologien die ganze Welt bei sich zuhause erleben kann – wie kann man ihm da dieses Image erklären? Mir scheint, dass diese kurze Zusammenfassung als Ergebnis einer ersten Lektüre uns heute ermöglicht, besser zu beurteilen, mit welcher Art von Bewusstsein für die Öffnung hin zum Anderen sich unsere Schüler auf das Berufsleben orientieren, mit welchen „reinen Erinnerungen und Erinnerungsbildern“,21 wie Bergson sagte, sie sich ihre eigene Gesellschaft näher bringen, mit welchen Perspektiven sie ihre Zukunft planen und mit welchen Hoffnungen sie an der Entwicklung des Landes teilhaben oder mit welcher Hoffnung sie sich der Welt des Anderen annähern. Die schulische Verwendung von Bildern oder das Füllen des Gedächtnisses mit Konflikten und Kriegen führen eine Logik ein, die alle Anstrengungen zunichte macht, die für die Demokratisierung von Bildung eingesetzt wurden. Mit dieser Art von Geschichtsunterricht oder der „schulischen Verwendung des Erinnerns“22 in einem ideologischen Sinn, also der Geschichte der Kämpfe und der Konflikte, kann die Neugestaltung keinesfalls jene Zielsetzungen erreichen, oder gar die Hoffnungen des Direktors der UNESCO verwirklichen, den jungen Algerier voller Träume zu sehen, wie er dies sehr ehrgeizig formulierte: „Ich hoffe, dass dieses gemeinsame Werk, Frucht einer ergiebigen Zusammenarbeit im Bereich der Bildung, eine umfassende Idee vermitteln kann von den großen Anstrengungen, die in Hinblick auf die Reform des Bildungssystems in Algerien vereinbart wurden, um die Integration der Jugendlichen in eine Fortschrittsdynamik der Solidarität und der Öffnung zu gewährleisten.“23 Der Gebrauch der Erinnerung für ideologische Ziele rückt die anderen Aspekte und die Vorteile, die die Geschichte für das Gedächtnis der Identität mit sich bringen kann, in die Ferne: nämlich die kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Geschichte, denn wir können nicht leugnen, was Kant sagte: „Die Generalkenntnis geht hierin immer vor der Lokalkenntnis voraus; wenn jene durch Philosophie geordnet und geleitet werden soll: ohne welche alles erworbene Erkenntnis nichts als fragmentarisches Herumtappen und keine Wissenschaft abgeben kann.“24 Die Arbeit mit dem Ballast, der den Geschichtsunterricht in Algerien behindert, überfüllt, wird sich der weniger nahe liegenden Aspekte eines tiefgehenden, ausgedehnten und für alle Zivilisationen offenen Algeriens nicht bewusst. Aus diesem Grund kommt in Krisenzeiten die Frage der Identität wieder in den Sinn: Wer sind wir, das ist die tragische Frage, die das soziale, politische und kulturelle Gewebe Algeriens in den vergangenen Jahren spaltet. –––––––––––––––––– 21 22 23 24

Ebd., S. 61. Ebd., S. 81. Vorwort des UNESCO-Berichts, S. 9. Kant, a.a.O., S. 400.

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Aus diesem Grund muss man, wie Paul Ricœur sagte, die Ursachen für die Fragilität des Gedächtnisses „in der Problematik der Identität“25 suchen. Ausgehend von dieser Beurteilung Ricœurs bin ich der Überzeugung, dass die Arbeit, an die ein Land wie Algerien denken müsste, darin bestünde, den schulischen Methoden des Erinnerns ein Ende zu setzen, denn diese Methoden entstammen einer Art von Bildung, die auf einer geschlossenen, abgeschlossenen Geschichte basiert, die sich an Konflikten und Kriegen orientiert und auf der Revolutionsideologie gründet, in der der Andere lediglich ein Feind ist. Genau diese Geschichtskultur, dieses System der Lehre von der Geschichte wird nicht zu einem ergiebigen Fortschritt, zum Projekt einer Demokratie führen, die an die menschliche Vielfalt, an edle Absichten und an den Respekt glaubt. Die Vision von Bildung, die ich hier zum Ausdruck bringe, könnte zum Gegenstand eines Bildungsprogramms werden, das zum Ziel hat, das Bewusstsein für die Citoyenneté, die Staatsbürgerschaft zu fördern – mithilfe eines Unterrichts über Geschichte, der offen ist für die Bedeutung der menschlichen Vielfalt, für das, was Hannah Arendt die menschliche Pluralität nennt. Aus dem Französischen von Ursula Liebing

–––––––––––––––––– 25 Ricoeur, a.a.O., S. 98.

Abdul Karim Al-Barghouti

BILDUNG IN EINER WELT DER UNTERDRÜCKUNG

Dieser Aufsatz versucht, die Beziehung zwischen Bildung und Unterdrückung aufzudecken, in der Annahme, dass die Rückkopplung zwischen den beiden Prozessen, auch wenn sie historisch unterschiedliche Formen angenommen hat, durch Reziprozität gekennzeichnet ist, und auf dem Weg über eine notwendige Abstraktion kann behauptet werden, dass dieses Verhältnis konzeptueller Natur ist und man die Verbindung zwischen beiden Prozessen als kausal bezeichnen kann. Mein Argument beruht auf der Grundannahme, dass es unmöglich ist, Erziehungsprozesse außerhalb des Reichs der Unterdrückung zu diskutieren. Tatsächlich ist es unmöglich, sich die Existenz von „Bestimmungsmerkmalen“ für die heutige globalisierte Welt vorzustellen, wie dies bei der Globalisierung der Unterdrückung in den vergangenen Zeitaltern der Fall war. Ich werde Möglichkeiten auf der Basis einer durchaus radikalen Dritte Welt-Kritik an dieser Situation präsentieren, indem ich die Erfahrung der palästinensischen Erziehung und Bildung unter einer so genannten „modernisierten“ oder „modernen Besatzung“ analysiere. Das Wort Unterdrückung (suppression) hat eine Vielzahl lexikalischer Bedeutungen. Das Oxford Dictionary beispielsweise definiert den Begriff als „Schinderei, Repression und Frustration“. Was diesen Bedeutungsschattierungen gemeinsam ist, ist die implizite Annahme einer Beziehung von Überlegenheit, was gleichbedeutend damit ist, dass Unterdrückung notwendigerweise zwischen dem Überlegenen und dem Unterlegenen eine Beziehung von oben herab nach sich zieht. Umgekehrt wird Gleichheit wahrgenommen als horizontale Beziehung in Abwesenheit von Unterdrückung. Wenn wir jedoch über Unterdrückung in ihrer Bedeutung als Repression dessen sprechen, was innerhalb des eigenen Wesens oder des eigenen Selbst liegt, wird eine Diskussion über horizontale oder vertikale Beziehungen unplausibel. Dies wird seinerseits die Aufmerksamkeit auf eine hierarchische Annahme im menschlichen Selbst lenken, wo die Vernunft betrachtet wird, als stünde sie ganz oben in der Hierarchie, in einem Verhältnis von Herablassung in Bezug auf Emotionen und In-

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stinkte.1 Ähnliche Nachweise solcher Bedeutungsschattierungen lassen sich in arabischen Lexika finden, wo die Vernunft in ihrer grandiosen Natur abgeleitet wird von „Al-I’ qaal“, der den Kopf des Beduinen krönt und als Quelle seines Stolzes und seines Überlegenheitsgefühls gilt. Dies ist die Wurzel dafür, dass Vernunft als allem anderen überlegen erachtet wird.2 Ähnlichkeiten in den Bedeutungsschattierungen des Begriffs „Vernunft“ können bis hin zu einem reichhaltigen Austauschprozess zurückverfolgt werden, der stattfand zwischen griechischer und römischer Paideia und Bildung in den mittelalterlichen islamischen Zeiten. Es gehört jedoch nicht zur Absicht dieses Aufsatzes, die besonderen Umstände zu diskutieren, die den Einfluss und die Artikulation der griechischen Paideia in islamischen Kreisen ermöglicht haben – hier kann auf die philosophischen Bemühungen von Mohammad Arkoun und anderen Intellektuellen3 verwiesen werden, die zur Aufdeckung von „Schulen der Erziehung“ und „Netzwerken von Erziehungssystemen“ geführt haben, die während der islamischen Periode wirksam waren und die die Grundlage für den griechischen „Rationalismus“ gelegt haben. Worauf hier hingewiesen werden soll, ist die Nähe des „Fremden und Verwunderlichen“ und/oder des „Irrationalen“ im Rahmen der „islamischen“ und/oder der „arabischen“ Vernunft“, ungeachtet des Überlegenheitsgefühls, das die Vernunft ihrem Anderen gegenüber erworben hat. Philosophische und praktische Einlassungen der Sufisten, ob von Al-Ghazali oder Ibn Arabi, sind Ausdruck und Zeugnis der Versuche, im Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler von der Dualität von Vernunft und Unvernunft wegzukommen.4 Mit anderen Worten, der Sufismus und der Humanismus, den Arkoun in seinem Werk hervorhebt, decken die Bedingungen von Erziehung und Bildung in der arabisch-islamischen Kultur auf, die ein Globalisierungsprojekt anstreben, die Humanisierung der Welt und der Bildung, durch eine Interpretation, die die Paedeia von den Charakteristiken einer vertikalen Beziehung zwischen Erzieher und Zögling befreit, als seien wir auf einer Bühne, die Ausdruckskanäle erlaubt, die die offizielle Autorität herausfordern, welche nur

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1 Vgl. z. B. den Gegensatz zwischen Konzepten angemessener Bildung, den Konzepten der Hierarchie des menschlichen Selbst und den Projekten der Errichtung des Staates nach Platon, der als eine Basis für Gewalt angesehen werden kann, die jedem künftigen Bildungsprojekt inhärent ist. Mit anderen Worten, die Konzepte der Paideia zu institutionalisieren, und darauf aufbauend Versuche einer Humanisierung von Bildung, verwirklicht die Gefahren solcher Gewalt. Hanna Khabbaz: Plato’s Republic. Beirut o.J.: Dar Al-Kitaab Al-‘Arabi. 2 Mohammad Abed Al-Jabiri: The Formation of the Arab Mind. Beirut 1989: Center for Arab Unity Studies, S. 30-33. 3 Mohammad Arkoun: Humanization in Arab Thought. Beirut 1997: Dar Al-Saqi. 4 Man beachte die Ausweitung des Konzepts (Urteil), das Rhetorik und Poetik umfasst. Das ist es, was Ali Bin Makhlouf als Grundlegung des neuen Organon auffasst, in Ali Bin Makhlouf: Global Concepts: Truth. Casablanca 2005: Arab Cultural Center, S. 17.

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eine Einbahnstraße des Wissenserwerbs aufrechterhält und erlaubt (im Gegensatz zum Sufismus, der viele Wege erlaubt und verfolgt).5 Manche Philosophen betrachten diese Bühne als Modell (als Muster), das von der „westlichen“ Modernität verschieden und ihr historisch gesehen vorgängig ist. Der Unterschied ist besonders in der Tatsache verkörpert, dass westliche Modernität per definitionem exklusiv ist, angesichts dessen, dass sie auf einer Konzeption der Überlegenheit des Rationalismus basiert. Die gegenwärtige Globalisierung ist nur eine Verkörperung dieses Rationalismus oder eine Weiterführung westlicher Modernität, die kontinuierlich danach trachtet, der Welt die Spuren ihrer Form von Rationalität aufzudrücken, über ihren Logozentrismus und/oder das westliche Selbst. Unabhängig davon, wie zutreffend eine solche Überzeugung oder der Vergleich zwischen zwei Formen der Modernität ist, ist hier wichtig festzuhalten, dass es frühere Versuche gegeben hat, den Logozentrismus zu dekonstruieren, als eine Möglichkeit der Kritik an der gegenwärtig vorherrschenden Form der Globalisierung und den Entwicklungslinien, die den Weg für ihre Kulmination bereitet haben. In diesem Kontext könnte das Dokumentieren einer modernen Genealogie der Bildung außerhalb des Zeitalters westlicher Modernität dabei helfen, die postmoderne Kritik zu verstehen, die die gegenwärtige Globalisierung begleitet und mit der Dekonstruktion der Beziehungen von Macht-Wissen und ihrem Diskurs zu tun hat.6 In diesem Kontext würden die verschiedenen Zugänge zur kantischen Aufklärung, seien sie nun kritisch oder lobend und bewundernd, eine analytische Studie von Kants Konzept der Aufklärung rechtfertigen – unabhängig von den philosophischen und theologischen Disputen, die den Weg bereitet haben für die Unabhängigkeit der Philosophie und der Universität –, auf eine Art und Weise, die die in der Struktur der Aufklärung liegende Problematik entwirrt, die nach der Rolle des aufgeklärten Despoten ruft. Dieses Unbehagen an der Existenz von Dualität – die Aufklärung und der Despot – könnte die Möglichkeit einer Teilung der Vernunft andeuten, im Sinne einer Kontinuität in ihren intellektuellen Anstrengungen, wie dies beispielsweise bei Habermas der Fall –––––––––––––––––– 5 Zur Frage, was mit dem Humanismus des Wissens im Vergleich zur Paedeia gemeint ist, vgl. Abdul Karim Al-Barghouti: The Continuity of Knowledge and the Integration of Method. Ramallah 2006: Al-Qattan Center, wo die Art und Weise gezeigt wird, wie das Wort Adab als komparative und umfassende Quelle für die Bedeutung von Wissenschaft und Wissen auftaucht, in Verbindung mit dem epistemologischen, enzyklopädischen Charakter der Werke mittelalterlicher muslimischer Denker. Die Charakteristik der arabischen Aufklärung nimmt nicht Unreife an, sondern basiert auf der Gleichheit des Erziehenden und des Zöglings. 6 Vgl. die Projekte von Foucault, Derrida, Deleuze, insbesondere jene, die sich auf institutionelle Unterdrückung beziehen (Schule, Gefängnis, Krankenhaus), wie auch Foucaults Diskussion über den Wert von Kants Artikel über die Aufklärung in Hubert Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault: Philosophical Trends, trans. George Abu Saleh. Beirut: Center for National Development, S. 193. Vgl. auch Jacques Derrida: Censorship, Freedom, and the Mind at University-Educational Perspectives, trans. Izz Eddin Al-Khatabi. Ramallah 1997: Al-Qattan Center, S. 35 und Gilles Deleuze: Negotiations. New York 1995: Columbia University Press.

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ist,7 was in der Folge bedeutet, dass die Struktur der Aufklärung implizit die Frage der Demokratie und nun auch der demokratischen Veränderung in unserer heutigen Welt anspricht.8 In diesem Sinne ist die „rationale“ oder „postmoderne“ Kritik von Verschiebungen, die durch die kantische überlegene Vernunft ausgelöst wurden, ungeachtet Kants Aufruf zum Internationalismus und für den internationalen Frieden, eine notwendige Kritik. Obwohl sie über Descartes’ Subjektivität hinausging, erfordert Kants Auffassung nichtsdestotrotz die Identifikation von anderen mit seiner eigenen Vorstellung von Vernunft – was bedeutet, dass es sich um einen Aufruf zum moralischen Klonen der Menschheit, Individuen, Gruppen und unreifen Völker handelt.9 Mit anderen Worten, die Moderne, die auf dem Rationalismus von Descartes und Kant etc. aufbaut, hat eine zivilisatorische und moralische Bestimmung, den Anderen dazu zu führen, sich mit ihren Werten zu identifizieren. Ich werde hier aber nicht die Geschichte der Verwestlichung der Welt angehen, die ein nach wie vor andauernder Prozess ist, sondern mich auf den gegenwärtigen Stand der Globalisierung beziehen, der auch als Verallgemeinerungsprozess der Vernunft betrachtet werden kann, und deren Unterdrückung von allem, was außerhalb ihrer selbst liegt (jener, die sich weigern, vernünftig und rational zu sein).10 Meine Erörterung wird sich beschränken auf die Versuche der Globalisierung, Wissen durch die digitale Revolution und die Informationstechnologie zu verbreiten, und auf das Zur-Ware-Werden von „Bildung und Werten“, wodurch deren freier Austausch auf den internationalen Märkten möglich wird, der durch das „freie Angebot aller Waren“ andere aufklären soll, so dass sie „Bildung, wie sie entsprechend der Marktgesetze von Angebot und Nachfrage“ präsentiert wird, akzeptieren, um selbst globalisiert zu werden, insbesondere in Bezug auf ihre Fähigkeiten zu konsumieren und zu kaufen. Entsprechend wird das Klonen globalisierter, fähiger Menschen möglich, und als Ergebnis werden diese neuen Wesen in der Lage sein, in die Sphäre des Wettbewerbs einzutreten. Hier ist der Hinweis auf die erheblichen Unterschiede in den Empfehlungen der Weltbank bezüglich der Notwendigkeit wichtig, „Bildung/Erziehung in der arabischen Welt zu reformieren“ – diese wurden 2002 und 2007 präsentiert. Sie erwiesen sich als inkonsistent und widersprüchlich, was uns zu der Schlussfolgerung führen sollte, dass das Ziel dahinter darin bestand, die ––––––––––––––––––

7 Jürgen Habermas: Philosophical Discourse of Modernity, trans. Fatmeh Al-Jiyoushi. Damaskus 1995: Ministry of Culture. Vgl. auch Mohammad Nour Al-Din Afayeh: Modernity and Continuity in Contemporary Critical Philosophy, Habermas’ Model. Casablanca 2001; North Africa, S. 210. 8 Vgl. Fahmi Jad’aan: Democracy and Us, Enlightening View. Kuwait 2001: National Council for Culture, Arts, and Literature, S. 143. 9 John Stuart Mill: The Basis of Political Liberalism, trans. Imam Abdel-Fattah Imam. Kairo 1996: Madbouly Bookshop. 10 Edward Said: Culture and Imperialism. Beirut: Dar Al-Adaab.

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Grundlagen des Bildungssystem zu erschüttern, wie es durch die historische Rolle des Nationalstaates entwickelt worden und erfolgreich darin war, Schulbildung zu verallgemeinern und den Analphabetismus zu bekämpfen etc. Das Ziel war natürlich, den Staat zur Privatisierung von Bildung zu drängen.11 Ich werde hier nicht auf die „Situation der Bildung“ in der arabischen Welt eingehen und die Probleme und Gefahren, die damit verbunden sind, der Globalisierung zu widerstehen oder das eigene System an ihre Bedingungen anzupassen. Ich werde meine Diskussion auf die palästinensische Erfahrung beschränken, die aufgrund ihrer Besonderheiten der Inbegriff einer langen Geschichte des Drucks ist, dem die arabische Welt als ganze ausgesetzt war, dies zusätzlich zu dem unmittelbaren kolonialen Faktor in Palästina, der im Irak in den letzten beiden Jahrzehnten wiederholt worden ist. Globalisierung, Unabhängigkeit und den postkolonialen Faktor in Palästina zu diskutieren schient ein luxuriöses Unterfangen zu sein, und etwas, das den Zielen, Ergebnissen und Kulminationen der Moderne in Palästina bzw. der Präsenz Palästinas als Ereignis in der Moderne selbst fremd ist. Trotz der Vorteile von Globalisierung spiegeln sich diese teilweise in einem Druck auf die Realität und in deren Transformation in einen „virtuellen“ geographischen Raum oder eine „virtuelle“ Zeit. Entsprechend wird das Auftreten von Gewalt oder Druck oder Unterdrückung in eine hypothetische Möglichkeit transformiert, sichtbar für andere, und das wird in der Folge dem Unterdrückten ein Gefühl von Trost vermitteln in Hinblick auf die Unmöglichkeit der „Ewigkeit“ der Lager, des Gefängnisses, der palästinensischen Sache. Mit anderen Worten, die Illusion, dass man gesehen wird, ist eine Bahn für Anerkennung und folglich für ein Gefühl von Hoffnung, dass es keinen Verlust gab. Der Status, den die Werke von Frantz Fanon in den Schriften Edward Saids eingenommen haben, vor allem seine Untersuchung der Schicksale moderner Theorien bezüglich der „gemeinsamen Erfahrung des Kolonialen und des Kolonisierenden“ oder der postkolonialen (angelsächsischen oder frankophonen) Studien verleihen Saids intellektuellen Beiträgen einen grundlegenden epistemologischen Wert für die Behandlung von gewaltsamer Unterdrückung und die Unterdrückung in der Verkleidung als aufklärerische Mission. Die enge Beziehung zwischen „säkularem Zionismus“ und „jüdischer Aufklärung“, die aus der westlichen Aufklärung stammt und mit ihr im Dialog war, wie auch die Vermischung des „Religiösen und des Säkularen“ und die verzerrte Repräsentation von Palästina als Heimat ohne Volk für ein Volk ohne Heimat machten das ursprüngliche Palästina – als Heimat der Palästinenser – nichtexistent. Aber die Mission ist eigentlich die bewusste Ausschließung der Palästinenser, und folglich ist die Essenz des Projekts nicht nur ein Siedler-Kolonialismus,

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11 Vgl. Khalil Nakhleh/Liza Taraki: Argument on the World Bank report on education in the Arab world. Birzeit University: Ibn Rushd Unit for Educational Development, April 2008.

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sondern das Entwurzeln der Palästinenser durch ihre Vertreibung und ihre systematische physische Exklusion als indigene Bevölkerung Palästinas.12 Siedlerkolonialismus, den Fanon per definitionem als Gewalt auffasst, wird etabliert, um „das Wesen des Kolonialisierten zu zerstören“. Entsprechend kann man quasi „Städte von Siedlern in Algier“ im heutigen Israel finden, im Gegensatz zur ursprünglichen (vormodernen) palästinensischen Gesellschaft, die den Fortschritt behindert. Die „Gesellschaft der Palästinenser“ hat einer alternativen Bildung Wichtigkeit eingeräumt, die nicht rassistisch und nicht diskriminierend ist. Ein Beispiel hierfür ist das Arab College, das eine andere Politik verfolgte als die Hebrew University, indem es für jedermann die Pforten öffnete, Juden eingeschlossen. Die palästinensische Gesellschaft hat sich selbst als pluralistisch imaginiert, im Vertrauen auf das Erbe des osmanischen Reichs auf der einen Seite und auf die Opposition zur jüdischen Einheit auf der anderen. Die Gesellschaft der Siedler diskriminierte die indigene Bevölkerung mit Unterstützung des „britischen Mandats“13 in Übereinstimmung mit dem zionistischen Projekt und trachtete danach, ein Image und eine Realität zu entwickeln, die konsistent sind mit dem imaginierten Europa, das seinerseits den Zionisten zufolge für ihr Leid und ihre Unterdrückung verantwortlich ist, die während der letzten zwei oder drei Jahrhunderte vorherrschend waren. Bekanntlich ist dies direkt verbunden mit der „jüdischen Frage“ und mit dem Antisemitismus vor und nach dem Holocaust, angesichts dessen, dass der „Jude“ der Andere ist, der in und mit der westlichen Geschichte und ihr zum Trotz in sie hinein verwoben ist. Der Weg für den Aufbau einer „modernen Gesellschaft“ nach europäischem Stil in einem „Osten“, dessen Wurzeln als Resultat der Ostfrage des osmanischen Reichs despotisch und beladen sind, haben aus Palästina ein Paradigma für eine „Verwestlichung der Welt“ gemacht. Dies hat dazu geführt, dass Palästina zumindest „epistemologisch“ eine chronische Kontroverse geworden ist, was die Vollendung des westlich-zionistischen Projekts der Moderne behindert. Mit anderen Worten, der Ausschluss Palästinas setzt in epistemologischer Hinsicht die physische Vertreibung der Palästinenser durch die Judaisierung des Landes gleich mit der Platzierung von Palästina/Israel als Zeugen des Stolperns der westlichen Moderne (Nazismus, Holocaust). Und dies würde aus Palästina in einem gewissen Sinne ein Opfer derer machen, die selbst Opfer wurden. Dies lässt sich deutlich an der „Al-Nakbah von 1948“ [Staatsgründung Israels] sehen, die aus der Perspektive des Opfers zum Unterdrücker eines anderen Opfers geworden ist und die durch systematischen Aus–––––––––––––––––– 12 Vgl. Edward Said: Reflections on Exile and Other Essays (Convergences: Inventories of the Present), trans. Tha’er Abu-Deeb. Beirut 2004: Dar Al-Adaab, S. 294. 13 Zu bemerken ist, dass das Mandat implizit die Konzeption umsetzte, die John Stuart Mill bezüglich unterlegener Nationen und deren Bedürfnis nach Kolonialisierung oder Despotismus ausgeführt hat. Vgl. Mill, a.a.O., S. 221.

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schluss aus einer Narration verschwinden muss, die dem offiziellen Narrativ widerspricht. Israel ist als Zuflucht für die Unterdrückten etabliert worden und ist Unterdrücker des Narrativs der „neuen Unglückseligen“, der Palästinenser. Auch wurden verschiedene Institutionen etabliert, um eine Gelegenheit zu liefern für eine genaue und konsistente Definition ihrer selbst als „jüdische“ Institutionen, entsprechend dem europäischen Konzept eines Nationalstaates, und ihrem nicht-europäischen Anderen, hier dem Palästinenser, als ob er nichtexistent ist, womit seine Israelisierung zur Aufklärung und zu einer humanitären Alternative wird. Israelisierung heißt nicht Judaisierung trotz der Tatsache, dass die hebräische Sprache ihr Mittel ist, besonders weil sie die Sprache des Souveräns und ihre Gewalt durch eine wohlüberlegte Wiederbelebung verdeckt ist, als verwandtes Echo der europäischen Aufklärung. Der Palästinenser hat seit Jahrzehnten nicht verstanden, was er in Rechtsinstituten oder auf den verschiedenen Bildungsniveaus studiert. Als Beispiel kann man sich die Erfahrung palästinensischer Jurastudenten vor Augen führen, die soliden akademischen Interpretationen des so genannten Rückkehrrechtes und des Gesetzes über das Eigentum von Abwesenden ausgesetzt wurden, die ihnen israelische Akademiker präsentierten.14 Studenten wurden in vielen Fällen aufgefordert, die Unabhängigkeitserklärung auswendig zu lernen, der Fahne Israels und allen Symbolen des Staates Israel Ehre zu erweisen. Diese Politik, Studenten absichtlich ihrer Vergangenheit und ihres Erbes zu enteignen, wurde nicht nur durch die Vertiefung ihrer Entfremdung gegenüber den eigenen Symbolen zuwege gebracht, sondern auch dadurch, dass ihr Gefühl von Kontinuität mit den Narrativen ihrer Vorfahren gebrochen wurde, mit denen sie Kontinuität nur durch mündliche Mittel etablieren können, in absolutem Stillschweigen außerhalb des Curriculums, der Klasse und der Schule, und durch literarische Werke, wie im Falle der palästinensischen Widerstandsliteratur, die in der Opposition erstellt wurde – außerhalb des Einflussbereichs der israelischen Hochschule, die nur jenen offen steht, die die Prüfung der Israelisierung absolviert haben. Das offizielle israelische Bildungssystem steht nur formal offen, inoffiziell dagegen steht Bildung unter Kontrolle, und geforderte Fähigkeiten und die Regeln der Bestrafung sind administrativ und gesetzlich formuliert. Das „Verschwinden“ des palästinensischen Landes korrespondiert der Vielfalt der Mittel, die verwendet werden, um „Identität zu zerstören“. Wenn also die Alternative für jene, die in Palästina/Israel bleiben, nämlich die Palästinenser der Territorien, die 1967 besetzt wurden (trifft auf Palästina 1948 nicht zu), die Israelisierung (ohne Judaisierung) ist, stellte das Projekt der Israelisierung für sie keine Alternative dar, infolge dessen, dass sie einer direkten militärischen Besatzung ausgesetzt waren über die Intervention der militärischen ––––––––––––––––––

14 Vgl. die Aussagen von Studenten über diese Erfahrung: Marwan Dalal: Reflections on Absentism in Israeli Judiciary. In: Mada Akhar 2, 2006.

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Bildungsoffiziere, auch wenn die israelische Besatzung von sich selbst behauptet, sie sei eine der liberalsten im Vergleich zu anderen Formen der Besatzung. Erfahrungen von Widerstand gegen die Besetzung haben dennoch zur Bildung von Wegen beigetragen, die „Gewalt von Erziehung und Bildung“ in Richtung der Besatzung und gegen die Besatzung und deren Symbole zu transformieren, was seinerseits dem Entstehen inoffizieller Formen von Bildung und Erziehung geholfen hat (wie der Erfahrung von Bildung in Gefängnissen, wo das Gefängnis in eine „Schule“ verwandelt und umgeformt wurde, während gleichzeitig die Besatzung viele Schulen zu verschiedenen Zeiten in Gefängnisse verwandelt hat). Bildung und Erziehung im Widerstand haben dagegen verschiedene Formen angenommen, abhängig einerseits von der Besatzungspolitik, andererseits von den Bedingungen und der Umgebung von Schulen, wie z. B. Flüchtlingsschulen, Regierungsschulen, Flüchtlingsschulen außerhalb Palästinas und arabische staatliche Schulen. Dennoch, und hier scheint das Paradox offensichtlich, ist es den Palästinensern gelungen, durch Universitäten und Institutionen höherer Bildung in den besetzten Territorien das Fundament zu legen für eine Gestaltung von Erziehung und Bildung, durch die das Streben nach Freiheit, das Projekt der nationalen Befreiung und die Konstruktion von Identität eine Bildungstrinität geworden sind, die der Besatzungspolitik mit ihren Bemühungen um die Zerstörung der palästinensischen Identität widersteht. Das Ausmaß der Beziehungen zwischen den drei Komponenten der Trinität war nie stabil oder klar, denn es war keine Formel von der Stange. Es war in der Tat abhängig vom Einfluss der Bedingungen des politischen Kampfes und der „Richtungen des Friedensprozesses“, der von vielen Akademikern ein gewisses Ausmaß an Unterstützung erhielt. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass trotz der Tatsache, dass große Anstrengungen unternommen wurden, nach der „hypothetischen Oslo-Unabhängigkeit“ ein nationales Curriculum zu etablieren, der Prozess in seiner Gesamtheit dennoch mit all den negativen Aspekten des Herausbildens einer nationalen Identität assoziiert war, obwohl er eine Grundlegung der Unabhängigkeit zu sein schien. Dennoch war der Prozess einigen seiner Kritiker zufolge nur eine Fortsetzung der Idee der Apartheid und eine Verzerrung der faktischen Fortsetzung der Besatzung. Nicht nur das, sondern indem die „Illusion von Freiheit“ aufgezwungen wurde und „das Curriculum“ und die „palästinensische Einheit“ weiterhin kontrolliert wurden, sowie durch die Konzentration auf die religiöse Dimension der israelischen Identität, verbunden mit dem Scheitern der „Verhandlungen“ infolge der religiösen Dimension des Konflikts, und indem Palästina als islamisch betrachtet wird und der Identität und der Essenz von Palästina bewusst andere Dimensionen aufgezwungen wurden, wurde erreicht, dass der Konflikt als Konflikt zwischen dem islamischen Palästina und dem jüdischen Israel an-

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gesehen wurde, oder als Konflikt zwischen dem palästinensischen Fundamentalismus und der liberalen Demokratie Israels. Das Individuum (die Gemeinschaft) zu zwingen, frei zu sein, hat die Menschen dazu gebracht, die Waren der Globalisierung zu verwenden, in der Demokratie reduziert wird auf bloße Wahlen, wie es der Fall ist, wenn die Palästinenser gezwungen werden, Wahlen unter der Besatzung abzuhalten, so wie auch die Wahlen im Irak, die als frei und fair bezeichnet werden (das Paradox der Freiheit unter der Besatzung macht das Vertrauen auf Wahlen lächerlich, insofern sie ein Ausdrucksmittel sind eines „Willens, der nicht frei ist“, der „kontrolliert ist durch den Willen des Besatzers, nämlich der so genannten freien Welt“). Gleichzeitig werden die Ergebnisse der Wahl nicht bestätigt, sondern tatsächlich dazu verwendet, die Opfer zu bestrafen und zu verdrängen in das Ghetto Ghaza, zusätzlich zur Konstruktion der „Mauer-Grenze“, um die Opfer und die Unterdrücker in einer Art und Weise voneinander zu trennen, die die reale geopolitische Trennung zwischen ihnen zu einer Ausweitung oder einer Konzentration der Unterschiede in den „Bildern“ und in den „Bedeutungen“ macht, die als Waren ausgetauscht werden und dem freien Warenaustausch auf dem internationalen Markt unterliegen, während sie gleichzeitig die Grundsteine legen für eine vertikale Aufteilung in Grade/Arten von Menschen/Geographie/Architektur, im Gefolge der Teilung von Städten in Peripherie und Zentren. Dadurch werden sich Rivalität und Konflikte in Palästina über das Bild und die Bedeutung der Welt vertiefen, und obwohl die vertikale Teilung der Welt aussieht, als sei sie eine Illusion oder ein digitales und informationstechnologisches Produkt, werden sich nichtsdestotrotz aufgrund des realen Drucks von Raum und Zeit die Missionen des Widerstands gegen die globalisierte Unterdrückung verschränken mit der Mission, einen neuen Sinn zu entwickeln für die Welt, der über die Einheit in der Interpretation sowohl der Liberalen als auch der Fundamentalisten hinausgeht. Die Schlüsselfrage der Bildung ist eingebettet darin, wie wir Erziehung und Bildung entwickeln können, um dem Totalitarismus zu widerstehen und zur gleichen Zeit sicherstellen, dass sie niemals selbst unterdrückerisch wird, was die Wahrnehmung konsolidieren wird, dass die Welt per definitionem eine Welt der Unterdrückung ist. Die Antwort auf diese Frage beginnt mit einer Neuinterpretation der Geschichte und der Prozesse der Aufklärung in allen Teilen der Welt.

Mehrez Hamdi

ERZIEHUNG, RELIGION UND POLITIK Das Beispiel von Ibn Khaldun

Das Thema dieses Kolloquiums, „Erziehung und Demokratie“, wirft unserer Meinung nach eine Vielzahl von Fragen auf, die auf zwei große Paradoxien zurückgeführt werden können. An erster Stelle geht es um das Wesen der Erziehung selbst, das in einer autoritären Handlung besteht, die von oben nach unten, von einem Vorgesetzten zu einem Untergebenen durchgeführt wird, was auch immer ihr Zweck sein mag. Wie also kann auf diese Weise Demokratie erzeugt werden? Wenn aber an zweiter Stelle Erziehung die Hilfe bedeutet, die jungen Menschen zuteil wird, damit sie sich entwickeln, „in ihrem Sein beharren“, wie Spinoza sagen würde, ihre Berufung verwirklichen können, und das unter den bestmöglichen Umständen, so stehen wir vor einem Problem der Methode, der „Erziehungsweise“: Welches ist der beste Weg, um junge Menschen dazu zu bringen, ihre Menschlichkeit zu erfassen? Und was ist vom so genannten autoritären und repressiven Weg zu halten? Unser Anliegen ist es, zu zeigen, dass das Problem der Erziehung höchst politisch ist, so dass es nicht verkehrt ist, den Gedanken von Julien Freund zu beherzigen, dem zufolge Erziehung nie Politikern, politischen Machthabern überlassen sein sollte, um jeder Art von Missbrauch und Unterwerfung des Menschen unter partikulare Interessen vorzubeugen. Aber wir meinen auch, dass politische Macht verschiedene Substitute hat, die insgeheim das Ziel der Herrschaft über andere verfolgen könnten und bei Eltern und Schulmeistern, im Bereich der Religion usw. zu suchen wären. Wenn der Knecht dem Herrn, das Kind den Eltern, der Schüler dem Lehrer ausgeliefert ist, wie kann dann noch von Demokratie die Rede sein? Erziehung beinhaltet also immer ein Risiko und kann – weit entfernt davon, günstige Bedingungen für eine demokratische Entwicklung zu schaffen – die Macht der einen über die anderen stärken und bestehende Herrschaftsstrukturen festigen. Daher müssen wir uns fragen, ob Erziehung nicht nur ein notwendiges Übel, sondern auch ein zweischneidiges Schwert ist. Die Themen, die wir in diesem kurzen Beitrag behandeln möchten, drehen sich um folgende Fragen: Welchen Platz nimmt Erziehung in der menschlichen Entwicklung und im Spiel der Machtverhältnisse ein, die die gesellschaftliche und politische Szene beherrschen? Denn in Wahrheit haben Politik

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und Anthropologie am Wesen der Erziehung teil. Welche Rolle spielt ferner die körperliche Züchtigung in der Erziehung und wie wirkt sie sich auf die Menschlichkeit des Menschen einerseits und die Entwicklung seiner erkennenden Fähigkeiten und moralischen Anlagen andererseits aus? Und vor allem, welches sind ihre sozio-politischen Folgen? Diese Bemerkung zur körperlichen Züchtigung betrifft im Grunde alle gewaltsamen Methoden, die die Bevormundung, die Gängelung anderer und nicht nur die Erziehung kennzeichnen. Auch hat repressive Erziehung ein politisches Gesicht mit der Repression gegenüber Minderheiten. Und das Genie Ibn Khalduns besteht darin, gezeigt zu haben, dass eine Beziehung zwischen beiden existiert. Diese Beziehung hat ihn dazu geführt, sich auf eine dritte Ebene zu erheben: die Anthropologie, die es ihm ermöglicht, die Menschlichkeit des Menschen als letzten Zweck zu erkennen und die Risiken herauszustellen, die dieser mit der Repression eingeht. Von der Betrachtung der Wissenschaften, der Erziehung und ihrer Methoden ausgehend ist es Ibn Khaldun im VI. Buch der Muqaddima auf zauberhafte Weise gelungen, die Verbindung zwischen Erziehung und Politik, aber auch zwischen Erziehung und Anthropologie aufzuzeigen: Wenn Repression verwerflich ist, so nicht nur weil sie die Menschen der Herrschaft der einen über die anderen ausliefert, sondern vor allem weil der Mensch auf diese Weise seine Menschlichkeit und alle Eigenschaften, die ihn zum Menschen machen, verliert, darunter besonders seine intellektuellen Fähigkeiten und moralischen Anlagen. Was die Lehre und Unterrichtsmethoden betrifft, die zu empfehlen wären, um die besten Ergebnisse zu erreichen, hat Ibn Khaldun das Problem der religiösen Erziehung und ihrer Rolle im Erziehungssystem überhaupt gestellt, wenn Religion als Grundlage und Quelle alles Menschlichen aufgefasst wird.

Erziehung und Politik: Julien Freund Freund definiert Politik als eine „soziale Aktivität, die dazu bestimmt ist, mit – im Allgemeinen rechtlich fundierter – Gewalt die äußere Sicherheit und innere Eintracht einer bestimmten politischen Einheit zu gewährleisten, indem sie Ordnung im Rahmen von Auseinandersetzungen garantiert, die aus der Verschiedenheit der Meinungen und Interessen entstehen.“1 Ohne also die Ideale der äußeren Sicherheit und inneren Eintracht zu verleugnen, erinnert er an die Verschiedenheit der menschlichen Meinungen und Interessen, die es mit sich bringen, dass Politik als gesellschaftliche Aktivität nur inmitten von Kämpfen ausgeübt werden kann, die den Staat zur Anwendung von Gewalt nötigen, wenn dies auch rechtlich begründet sein mag. Dieser Weber’sche Zug be––––––––––––––––––

1 J. Freund: Qu’est-ce que la politique? (Was ist Politik?), Paris 1967: Seuil et Sirey.

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stimmt ebenfalls sein Urteil über das Wesen der Politik: „Politik ist Herrschaft des Menschen über den Menschen.“2 Wenn dies die Bestimmung der Politik ist, so „riskiert sie, die Erziehung von ihrem eigentlichen Sinn abzubringen“. Jedenfalls ist Erziehung nie das spezifische Ziel von Politik gewesen und es ist falsch, zu behaupten, dass die Rolle der Politik darin bestehe, den „Menschen besser zu machen“. Wenn Politik das menschliche Leben organisiert und schützt, so geschieht das nur auf einer kollektiven und äußerlichen Ebene, aber nicht im individuellen oder intimen Bereich. Ihre Rolle besteht nur darin, die äußeren und kollektiven Bedingungen auf die beste Weise zu organisieren, um der politischen Einheit und den darin lebenden Mitgliedern die besten Chancen zu geben, ihrer individuellen Berufung – oder dem, was sie dafür halten – zu genügen.3 Und wenn der Mensch auch notgedrungen von anderen Menschen erzogen wird, kann keine menschliche oder kulturelle Schicht das Privilegium und Monopol dafür beanspruchen. „Dies zu glauben, hieße, der Unterdrückung zuzustimmen.“ Und: „Die Pädagogik den Herrschenden zu überlassen, führt notgedrungen dazu, den Menschen zum Instrument der Zielvorstellungen einer bestimmten Macht zu gestalten.“ Indem die Politik die inneren und äußeren Bedingungen kontrolliert, unter denen der Mensch lebt, übernimmt sie zwangsläufig eine pädagogische Rolle und trägt so zu seiner Erziehung bei; daraus kann jedoch nicht auf eine erzieherische Mission der Politik geschlossen werden, da auf diese Weise alle Ausschreitungen gerechtfertigt würden, von denen es in der politischen Szene wimmelt.

Pädagogik, Politik und Anthropologie: Ibn Khaldun Wir wollen uns nun dem Abschnitt 38 des VI. Buches zuwenden, in welchem Ibn Khaldun behauptet und begründet, dass harte, einschneidende und repressive Erziehungsmethoden dem – wesentlich jungen – Menschen schaden, da sie die menschliche Natur verderben und zur Aneignung von schlechten Gewohnheiten führen. Das trifft sowohl auf junge Lernende als auch auf Sklaven und Diener zu. Gewalt und Zwänge auf sie anzuwenden, trägt dazu bei, sie zu schwächen, und die Angst, bestraft zu werden, führt zu Faulheit, Lüge und Heuchelei. List und Betrügerei werden so zu einer zweiten Natur und die Aneignung von Tugenden stellt keine wesentliche Motivation mehr für sie dar: Die eigene Überzeugung zu verbergen und aus Angst vor Repressalien anders zu erscheinen, als man ist, so viel wie möglich zu überlisten und zu betrügen, das sind die Merkmale eines jeden schlecht behandelten Kindes, eines jeden misshandelten –––––––––––––––––– 2 Ebd., S. 177, 182-184. 3 Ebd.

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Sklaven und Dieners. So wird ihre Persönlichkeit zerstört und dazu beigetragen, sie von ihrer Menschlichkeit zu entfremden, indem Gesellschaftlichkeit und Kultur in ihnen verkümmern, da sie keine „Abwehr- und Selbstschutztriebe“ gegen Angriffe von außen mehr kennen. Das Gefühl der Eifersucht, das sie nicht mehr empfinden, überlassen sie anderen. Die Zerstörung der Menschlichkeit in ihnen liegt aber auch daran, dass ihre verdorbenen Seelen keine Tugenden und moralischen Werte mehr anstreben. Sie haben es aufgegeben, das zu erreichen, was ihre Menschlichkeit ausmacht. Hier spricht Ibn Khaldun von einem „Rückfall“. Die harten und gewaltsamen Erziehungsmethoden führen bei jungen, empfindsamen Wesen wie Kindern und bei prekären Existenzen wie Sklaven und Dienern zu „Rückfällen“, d. h. zu einer Regression der Menschlichkeit in ihnen und einer möglichen Rückkehr in Barbarei und Animalität, also in Stadien vor dem Auftreten von Geselligkeit und Zivilisation. Daraus erhellt, dass die „Menschlichkeit im Menschen“ mit ihren kulturellen, moralischen und sozialen Zügen das Produkt von Geselligkeit und Zivilisation ist. Und was die Geschichte in tausenden von Generationen beim Menschen geschaffen hat, kann durch Brutalität in nur einer Generation zerstört werden und den Menschen in einen Zustand versetzen, in dem er keine moralische Tugend und keinen kulturellen Wert mehr kennt. So wird er zu einem „niederen Menschen“, der in tiefste Tiefen gesunken ist. Doch erzeugen Zwänge nicht nur „niedere Menschen“, sondern auch „niedere Volker“. Denn nichts ist vergleichbarer mit der Anfälligkeit von Schülern, Kindern, Sklaven und Dienern als die Fragilität von Minderheiten. Der Verlauf der Geschichte bestätigt, dass Repression, Tyrannei, Terror und Gewaltherrschaft die Würde der Völker verletzen und ihrer Mündigkeit Abbruch tun, indem sie zu bevormundeten minderwertigen Völkern, zu „niederen Völkern“ abgestempelt werden. Ibn Khaldun legt uns daraufhin nahe, alle ähnlichen Fälle zu betrachten: Überall, wo repressive Vormundschaft herrscht, kann es nur zur Dekadenz des Menschen führen, der von seiner wahrhaftigen Bestimmung und seinen moralischen Werten entfremdet wird. Die unterdrückten Minderheiten weisen tendenziell dieselben Symptome auf. Das Beispiel der Juden sei aufschlussreich, behauptet er, da sie für ihre verdorbenen Sitten und ihre Neigung zu List, Täuschung, Lüge und Heuchelei bekannt seien.4 In der Tat seien sie aus Angst vor Bestrafung so geworden. Und Ibn Khaldun bezeichnet diese Sitten als „Khorj“5, wobei er zu verstehen gibt, dass es sich um einen Fachausdruck handelt, der jedoch in keinem Wörterbuch oder Lexikon erscheint. Nachdem er die verhängnisvollen politischen Konsequenzen der repressiven Methoden aufgezeigt hat, nimmt Ibn Khaldun seine Gedanken über Erzie––––––––––––––––––

4 Charles de Foucauld beobachtet dieselben Merkmale bei den Juden in Marokko zwischen 1883 und 1884. 5 In anderen arabischen Ausgaben liest man „Kharj“ oder „haraj“, aber keins dieser Wörter erscheint mit dieser Bedeutung in einem Wörterbuch.

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hung im eigentlichen Sinn wieder auf und zielt dabei im Wesentlichen auf Lernende einerseits und Kinder andererseits. Da das Verhältnis Erziehung/Erzogener immer auf ein Machtverhältnis dominant/dominiert zurückzuführen ist, wird den Erziehern ausdrücklich geraten, Ausschreitungen, Autoritätsmissbrauch sowie strenge und repressive Methoden zu vermeiden, wenn es um Bestrafung geht. An dieser Stelle wird die Frage der körperlichen Züchtigung aufgeworfen: Soll darauf zurückgegriffen werden oder nicht – und wenn ja, in welchen Grenzen? Da eine so schwerwiegende Frage nicht „laizistisch“ beantwortet werden kann, muss die Religion hier zu Rat gezogen werden. Ibn Khaldun zitiert Abu-Muhammad b. Abi-Said, der Lehrern und Eltern rät, nie mehr als drei Schläge zu verabreichen, und das nur, wenn Bestrafung nötig ist. Dem Kalifen Omar zufolge gäbe es ein notwendiges und hinreichendes Maß an Bestrafung, das im Gesetz verankert ist. Deshalb, behauptet er, „sollen diejenigen nicht von Gott gestraft werden, für die das religiöse Gesetz keine entsprechende Strafe vorsieht!“ Denn Strafe ist immer eine vom Menschen erlittene Entwürdigung. Und man muss sich in den Grenzen der Scharia bewegen, denn sie kennt die Interessen des Kindes am besten. Es scheint uns, dass Religion hier herangezogen wird, um der menschlichen Barbarei Einhalt zu gebieten und den Menschen an die Grenzen seiner menschlichen Perspektive zu erinnern. Was immer er macht und wer er auch sei, bleibt der Gesichtspunkt eines Erziehers, Lehrers oder eines Elternteils immer relativ und kann dem zu Erziehenden nicht als etwas absolut Gültiges vorgestellt werden. Gott allein kennt das wahre Interesse des Kindes, und der Erzieher braucht sich nur an die Vorschriften des Gesetzes zu halten. Die Grenzen der menschlichen Erkenntnis müssen mit der Begrenzung seiner Macht und seines Willens einhergehen. So sind nach den Vorschriften des Kalifen Harun al-Rashid für den mit der Erziehung seines Sohnes betrauten Hofmeister Bestrafung und Gewalt nur in letzter Konsequenz anzuwenden, wenn alles andere vergebens versucht worden ist. Auch scheinen gewisse Schriften von Chizari die Bestimmung und die Grenzen körperlicher Züchtigung festzulegen. Für ihn gäbe es Bezugspunkte, welche die Grundlage islamischer Erziehung ausmachen, an erster Stelle die Tradition. „Lehrt eure Kinder das Beten ab dem siebenten Lebensjahr und schlagt sie mit zehn, wenn sie es versäumen“, so der Prophet Muhammed (a.s.s.). Hinzu kommt die sakrosankte Achtung vor den Eltern, denen Gehorsam und Respekt gebührt. Zuletzt wird den Erziehern geraten, die Kinder für jedes fehlerhafte Betragen und jede obszöne Rede zu schlagen. Das betrifft auch alle anderen Handlungen, die sich nicht mit der Scharia vertragen, so z. B. in erster Linie Glücks- und Geldspiele. Es scheint also, dass die Vernunft, die Gewaltanwendung in der Erziehung rechtfertigen würde, eine Verletzung des Gesetzes darstellt.

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Aber wo ist hier die Grenze? Man soll ein Kind weder mit einem dicken Stock schlagen, der ihm die Knochen brechen würde, noch mit einem dünnen Stock, der körperliche Schmerzen verursachen würde, sondern mit einem mittelgroßen Stock oder einem breiten Stück Leder. Darüber hinaus wird dem Erzieher geraten, auf die Hinterbacken, die Schenkel und die Sohlen zu schlagen, denn diese Körperteile sind nicht für Krankheiten anfällig und erleiden keinen Schaden von der Züchtigung. Nach diesen Überlegungen über die Auswirkungen der Erziehung auf Politik und Entwicklung des Menschen scheint es, dass sich jede Art von Verwaltung der menschlichen Angelegenheiten Grenzen in ihren Methoden setzen muss und nicht aus den Augen verlieren darf, dass der Endzweck der Mensch selbst bleibt und nicht das, was man ihn glauben oder tun lassen will, dass also nichts Gewalt rechtfertigt, durch die er seine Menschlichkeit verlieren würde. Auch haben uns diese Überlegungen zu der Einsicht geführt, dass jede Verwaltung der menschlichen Angelegenheiten den Bezug auf ein Absolutes, eine Transzendenz oder ein Gesetz notwendig macht: Nur so kann der Mensch den besten Weg finden, um mit dem Menschen umzugehen oder ihm „Zwänge aufzuerlegen“ und deren Grenzen zu bestimmen. Jede andere Form von Gewalt ist illegitim. Aus dem Französischen von Stefan Kaempfer

Anwar Moghith

DIE PHILOSOPHIE DER BILDUNG UND IHRE POLITISCHEN IMPLIKATIONEN IM MODERNEN ÄGYPTEN

Die Philosophie der Bildung befasst sich vor allem mit der Frage des Zwecks. Die Moderne, als Zeitalter des Auftauchens des Nationalstaats, hat dieser Zweckbestimmung eine höchst politische Dimension gegeben. Dieser politische Charakter hat dazu geführt, dass die Zweckbestimmung von Bildung und Erziehung je nach der politischen Konjunktur jeder Nation variiert. Wenn wir diese Veränderungen in der modernen Geschichte Ägyptens verfolgen, können wir die Mechanismen wahrnehmen, die die Bildung mit der Politik in den anderen arabischen Ländern, ja sogar generell in den Ländern des Südens verbinden, wie auch ihre Beziehung mit der Welt, die sie umgibt. Wir werden diese Geschichte in vier Abschnitte unterteilen, die sich, insgesamt betrachtet, unterscheiden, aber natürlich schließt das in der Realität nicht aus, dass es gegenseitige Einflussnahmen und Wechselwirkungen gibt.

1. Aspekt Alle Gesellschaften haben, in der einen oder anderen Form, im Lauf ihrer Geschichte ein gewisses Erziehungssystem gekannt. Aber die moderne Erziehung charakterisiert sich durch die Einbettung in ein nationales Projekt, das durch den Staat durchgeführt wird. In diesem Sinn kann man den Beginn des modernen Bildungswesens in Ägypten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansetzen, man kann die unterschiedlichen Merkmale dieser modernen Erziehung entdecken: nationales Budget, Fremdsprachenübersetzung, Ausbildung von Lehrern, Diplome usw. Das Interesse an dieser Bildung und Erziehung stand zu Beginn mit dem expansionistischen Projekt des ägyptischen Gouverneurs, Vizekönig Mohammad Ali, in Zusammenhang. Die Ausbildung einer modernen und schlagkräftigen Armee war die Hauptzielsetzung der Erziehung. Trotzdem hat das arabische Denken zu dieser Zeit die Wiedereinführung von Wissenschaften erlebt, die über Jahrhunderte abwesend waren, wie die Chemie, die Physik und die Physiologie. Rifa’a’at-Tahtawi (1801-1873), ein Imam der religiösen Institution al-Azhar, der eine Delegation von Studenten begleitet hat, die zwischen 1826 und 1831 nach Paris zum Studium entsandt wurden, ist die dominierende Gestalt dieser Epoche. Unmittelbar nach seiner Rückkehr wurde

Philosophie der Bildung im modernen Ägypten

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er zum Direktor der Übersetzer- und Dolmetscherschule ernannt. Er machte sich mit seinen Assistenten an die Übersetzung von Lehrbüchern, die als unentbehrlich für eine Renaissance der ägyptischen Nation angesehen wurden. Die Einführung der Natur- und mathematischen Wissenschaften führte zu keinerlei Verstimmungen. Probleme ergaben sich aber für die Geisteswissenschaften, denn ihr Inhalt kann in Widerspruch mit den traditionellen Dogmen erscheinen. Die Strategie, die Tahtawi wählt, besteht darin, ihren Nutzen zu zeigen, indem er diese importierten Wissenschaften in einem positiven und profanen Raum hält, der die enthüllten Wahrheiten nicht wieder infrage stellen darf. Er übersetzt die französische Verfassung und unterstreicht, dass deren Inhalt weder aus dem Koran noch aus der Sunna stammt, aber dass dies weder die Glaubwürdigkeit des Inhalts noch den Nutzen dieser Verfassung in Frage stellt: „Wir werden [die Verfassung zitieren], obwohl die Mehrzahl ihrer Punkte sich weder im Buch des höchsten Gottes findet noch in der Tradition seines Propheten [...] Dies deshalb, damit du weißt, wie ihre Begründungen zu dem Urteil gekommen sind, dass die Justiz und die Gerechtigkeit Faktoren der Zivilisation der Königreiche darstellen.“1 Tahtawi verwendet die gleiche Strategie, um den intellektuellen Folgen der neuen wissenschaftlichen Kenntnisse zur Akzeptanz zu verhelfen: Im Manuskript der berühmten Aufzeichnungen seines Frankreichaufenthaltes führt er die Theorie der Erdrotation als Beispiel ketzerischer Absicht an, aber er streicht all diese Passagen zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches. Es scheint, dass er die Idee der Rotation der Erde akzeptiert hat, es jedoch ablehnt, dem religiösen Text zu widersprechen. Auf diese Weise vermeidet er, die religiöse Rede mit den wissenschaftlichen Wahrheiten zu konfrontieren. Um sich aus der Affäre zu ziehen, wird Tahtawi einige Jahre später anlässlich der Übersetzung des Lehrbuchs der Geographie von Malt Brun sagen: „Man findet in diesem Buch Ausdrücke, die aus der Kosmologie und aus der Physik stammen, an die die Ulemas nicht glauben, aber wir zitieren sie trotzdem, wie sie sind, damit die Übersetzung originalgetreu bleibt. Im Übrigen übernehmen wir sie aus praktischen Gesichtspunkten sowie wegen der mathematischen Daten, die sich dort finden, und nicht unter dem Gesichtspunkt des Glaubens.“2 Auf der Suche nach einer neuen Legitimität der Wahrheit versucht Tahtawi durch diese Geste, innerhalb des modernen arabischen Denkens einen laizistischen Raum der Wahrheit zu eröffnen und legt so die Grundlage und die Möglichkeit einer modernen Erziehung. Denn während die Naturwissenschaften aufgrund von Staatsraison eingeführt wurden, werden die Geisteswissenschaften durch bloße Vernunft eingeführt. Bis zum heutigen Tage verdanken wir, in Ägypten und in der arabischen Welt, die Anwesenheit der modernen Geisteswissenschaften in unseren Schulen und Universitäten dieser Geburtsstunde. ––––––––––––––––––

1 Rifa’a’at-Tahtawi, L’Or de Paris, übers. von Anouar Louca. Paris 1988: Sindbad, S. 135. 2 Vgl. Anouar Louca, Anmerkungen des Übersetzers zu at-Tahtawi, ebd., S. 332.

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2. Aspekt Der zweite Aspekt kennzeichnet eine Wende in der Zielsetzung der Erziehung. 1899 schreibt Kasim Amin (1863-1908) sein Buch L’émancipation de la femme. In der Konzeption des Autors ist die Rolle der Bildung entscheidend, um diese Emanzipation zu erreichen. Trotz der heftigen Opposition, die dem Buch seitens der intellektuellen Traditionalisten entgegengebracht wurde, zögert die Regierung nicht, die Reform zu beginnen. Im Jahre 1904 beschließt sie, den Leitern der Koranschulen (Kuttabs) eine Subvention zu zahlen: ein halbes Pfund pro Junge und ein Pfund pro eingeschultem Mädchen. Der Anteil der eingeschulten Mädchen steigt schnell. Dann gerät Ägypten unter britisches Mandat. Die ägyptische Elite fordert die Unabhängigkeit, eine Verfassung und eine Nationalversammlung von Volksvertretern. Bildung ist nicht länger ein Anhängsel der Armee, sondern umfasst ein großes Projekt nationaler Modernisierung. Ahmed Lutfi as-Sayyid (1872-1963), der Vater des ägyptischen Liberalismus, schrieb in der Zeitung al-Garida, „Ägypten ist aus dem Ancien Regime herausgekommen mit einer geschwächten Persönlichkeit und reduzierten nationalen Gütern; sein Wille wird durch die Macht der Gouverneure absorbiert. Egal aus welcher Perspektive man es betrachtet: Es ist krank herausgekommen. Und es gibt nur ein Heilmittel für eine kranke Nation: die Bildung.“3 An diesem Passus fällt auf, dass der Autor auf das Herauskommen aus dem Ancien Régime anspielt, wohingegen Ägypten zu dieser Zeit keinerlei bedeutsame politische Veränderung erlebt hatte. Das veranlasst uns dazu, diesen Ausdruck als Stilmittel oder als Metapher anzusehen, die der Autor einerseits benutzt, um zu zeigen, dass die Entwicklung der Gesellschaft unvermeidlich ist, und andererseits, um den Übergang der modernen politischen Werte des Westens in den intellektuellen Raum Ägyptens zu vereinfachen, denn in der europäischen politischen Literatur, wenn man sie verallgemeinert, unterscheidet man das historische Zeitalter des Absolutismus oder das Ancien Régime von der Epoche der Moderne mit den Bürgerrechten und der Demokratie. Die andere Metapher, die der Text benutzt, ist „die kranke Nation“; eine Metapher, die dem Autor erlaubt, eine umfassende soziale Symptomatologie zu entwickeln: Despotismus, Dominanz der landwirtschaftlichen Produktionsweisen, Fehlen von Individualismus, Unterdrückung der Frauen usw. Der Bildung tut sich also ein großes Umbauvorhaben auf. Lutfi as-Sayyid definiert drei Zielsetzungen für das Bildungs- und Schulwesen: eine nationale Identität zu erarbeiten, die auf einer Interessengemeinschaft beruht und nicht auf der Religion, die die ägyptische Persönlichkeit in einem großen gemeinsamen Gebilde wie dem osmanischen Panislamismus verlorengehen lässt, oder unter der Herrschaft der englischen Besatzung; einen ––––––––––––––––––

3 Ahmad Lutfi as-Sayyid, al-Muntakhabat, 1. Teil, in Turath A. L. as-Sayyid, le Caire, dar alKuttub wa-l-watha’iq al-qawmiyya, 2008, S. 355.

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allgemeinen Willen aus der Taufe zu heben, der durch eine aufgeklärte öffentliche Meinung gebildet wird; einen freien und verantwortlichen Bürger auszubilden. So skizziert er etwas, das als ein Paradigma für Bildung im Rahmen einer Periode nationaler Befreiung angesehen werden kann. Denn im klassischen westlichen Liberalismus standen die Ausbildung eines Nationalstaates und die Einführung der Staatsbürgerschaft in einem direkten Zusammenhang mit der Entwicklung von Industrie und Handel, Bedingungen, die in Ägypten zu Beginn des 20. Jahrhunderts fehlen. Von der Bildung wird erwartet, dass sie diesen Mangel kompensieren kann, der auf die Schwäche der Industrie und des Handels zurückzuführen ist. Die von Lutfi as-Sayyid definierten Zielsetzungen von Bildung weisen den Geisteswissenschaften eine unentbehrliche Rolle zu. In der Zeitung al-Garida, dem Sprachrohr der liberalen Partei alUmma, ruft ihr Direktor Lutfi as-Sayyid dazu auf, durch Unterzeichnung des Aufrufs die ägyptische Universität zu gründen, denn seines Erachtens zielt die bestehende Hochschulbildung in den „Grandes Écoles“ des Rechts, der Medizin oder der Verwaltung darauf ab, Angestellte für die koloniale Administration auszubilden, während die Aufgabe der Universität darin besteht, eine Nation zu gründen. Die laizistische Natur der Universität wird als erste Bedingung in ihrem Gründungsaufruf erwähnt, der in mehreren ägyptischen und arabischen Zeitungen im Jahre 1906 veröffentlicht wurde: „Erstens darf sie nicht für eine Rasse reserviert werden, oder für eine Religion, sondern sie ist offen für alle ägyptischen Einwohner ungeachtet ihrer Herkunft oder ihrer Religion, damit sie zu einer geselligen Verbindung zwischen ihnen wird.“4 Diese im Jahre 1908 begründete Universität enthielt Fakultäten für Sprachen, Literatur und Geisteswissenschaften. Später sollte sie der staatlichen Universität eingegliedert werden, die im Jahre 1926 gegründet wurde. Heute ist sie zur faculté des lettres innerhalb der Universität von Kairo geworden. Lutfi as-Sayyid – der zwei Jahrzehnte Rektor dieser Universität war – sieht die Bestimmung der Universität darin, als Raum eines freien und kritischen Denkens und Ort des Einübens von Demokratie zu dienen, etwa durch die Übernahme zivilgesellschaftlicher Verantwortung in der freien Wahl der Studentenvereinigungen. Die Universität, unabhängig und frei von Regierungsinterventionen geleitet, wird zu einer weithin ausstrahlenden Quelle nationaler Solidarität und trägt zum sozialen Fortschritt durch die Innovation der Sprache, der bildenden Künste und der Musik bei.5 In derselben Tradition fordert sein Schüler Taha Hussein (1889-1973), Rangältester der faculté des lettres und Minister für Bildungs- und Schulwesen im Jahre 1950, den kostenfreien Unterricht. Taha Hussein stellt uns seine Ansichten in einem Bericht über das Bildungs- und Schulwesen vor, ein Werk, ––––––––––––––––––

4 Hussein Fawzy al-Naggar, Ahmad Lutfi as-Sayyid, le Caire, col. A’lam al-‘arab, al-Mu’assasa al-qawmiyya lil-ta’lif wa al-targma, wa-Nashr, 1965, S. 177. 5 Vgl. Ahmad Lutfi as-Sayyid, Risalat al-Gami’a, le Caire, Daral-kuttub al-Masriyya, 1940, S. 3-16.

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das unter dem Titel L’avenir de la culture en Egypte [Die Zukunft der Kultur in Ägypten] veröffentlicht wurde. Er argumentiert, dass man über Bildung und Erziehung nicht nachdenken könne, ohne die Frage zu stellen, wohin sich die Welt entwickelt. Er erinnert in seinem Werk an die mediterrane Identität Ägyptens, um es vom traditionellen Osten zu entfernen und spornt so sein Land an, Partei zu ergreifen für die Annahme westlicher Werte. „Wenn die ägyptische Mentalität [esprit], so schreibt Taha Hussein, seit ihren Anfängen irgendeinem Einfluss unterliegt, so ist dies der mediterrane Einfluss, und wenn es einen Austausch gab, dann mit den Völkern des Mittelmeers.“6 Dieser Verweis auf die historische Vergangenheit erfolgt nur, um eine Realität zu betonen, die sich hinter einem ideologischen Diskurs versteckt. Eine Realität, die unser Verhältnis zur Welt ändern muss, denn: „Der Ägypter darf nicht davon ausgehen, dass es zwischen ihm und dem Europäer einen geistigen Unterschied gibt, er darf nicht den Eindruck gewinnen, dass der Orient, von dem Kipling spricht, auf ihn selbst und sein geliebtes Land zu beziehen ist [...] der Ägypter darf nicht zu der Auffassung gelangen, dass es keine Apologie war, als [der Vize-König] Ismail sagte, Ägypten gehöre zu Europa, sondern dass Ägypten immer ein Teil Europas war, in allem, was das intellektuelle oder kulturelle Leben betrifft.“7 Diese These lässt auch heute noch viel Tinte fließen. Das politische Ziel dieser Behauptungen musste zwangsläufig seine Gegner herausfordern, denn es bringt die Vorstellung der Modernisten über den Übergang von der Unterentwicklung zum Fortschritt zum Ausdruck. „Unser moralisches Leben ist in all seinen Aspekten rein europäisch; wenn es etwas gibt, das uns von dieser Seite vorzuwerfen ist, dann dass wir in der Übernahme der politischen Systeme und Regierungsformen, die es bei den Europäern gibt, langsamer werden.“8 Hier also liegen nach Taha Hussein die Aufgaben, die die Bildung im modernen Ägypten zu erfüllen hat. Diese liberale Vorstellung von Bildung bürdet ihr gerade das auf, was sie nicht alleine umsetzen kann. Denn die liberale Elite belässt die Gesellschaft in einem sehr inegalitären Zustand, indem sie auf Bildung vertraut, um die gesamte Gesellschaft aus dem Zustand der Privilegien in den Zustand der Meritokratie zu transportieren. Das unübersehbare Auseinanderklaffen von schulischer Gleichheit, die hier vorausgesetzt wird, und den realen sozialen Ungleichheiten begrenzt die gesellschaftlichen Auswirkungen von Bildung und bewahrt ihr elitäres Wesen.

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6 Taha Hussein, Mustaqbal al- thaqafa fi Misr, le Caire, al-Hay’a al-Misriyya al-‘äma lil-Kitab, 1993, S. 15. 7 Ebd., S. 26. 8 Ebd., S. 31.

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3. Aspekt Dies ist der Aspekt des Nationalstaats, der aus der Kolonialzeit hervorging und an deren Ende gegründet wurde. Eine Zeit, die geprägt ist durch den Wiederaufbau der nationalen Volkswirtschaft, inmitten von befreiten Ländern, was zu einer Planwirtschaft geführt hat, zu einem Zentralstaat, zu einer Einheitspartei an der Macht und somit zu einer offiziellen Ideologie, die durch Schule und Medien verbreitet werden muss. Nicht Bürger oder Demokratie waren die Leitbegriffe jener Periode, sondern Entwicklung. Diese Periode war gekennzeichnet durch den Aufschwung der Entwicklungssoziologie, für die ein Student an der Universität eine Mikrobe des Fortschritts innerhalb seines Herkunftsmilieus sein kann. Der Aufbau von Universitäten in den ländlichen Städten vollzieht sich in einem beschleunigten Rhythmus; Ägypten entwickelt sich von vier Universitäten im Jahr 1950 hin zu achtzehn Universitäten in den achtziger Jahren. Allerdings ist dieses Wachstum auf der Ebene der Infrastruktur und der Ausbildung von Professoren nicht vorbereitet worden. Nicht nur die Qualität des Unterrichts und der Wert des Diploms wurden dadurch negativ betroffen, sondern vor allem das Profil der jungen Akademiker. Früher verließ der Student nach dem Abitur den Kreis seiner Familie, um in einer großen Stadt die Universität zu besuchen. Seine Mentalität und Denkweise wurde ebensosehr durch sein Studium geprägt wie durch das soziokulturelle Leben außerhalb der Universität, das im Vergleich zur Provinz deutlich anregender ist. Die neuen Universitäten in den Provinzen wurden in Städten eingerichtet, die auf urbaner und kultureller Ebene unterentwickelt sind, und der Student kehrt am Nachmittag in sein Dorf zurück und bleibt nach wie vor im Kreis der Familie. Unter diesen Bedingungen wird der Student zum Bewahrer der traditionellen Werte. Viele Mädchen im Nildelta sehen sich gezwungen, den Hijab, den Schleier zu tragen, der ihnen von ihrem akademisch gebildeten Bruder ebenso aufgezwungen wird wie von ihrem Vater, einem Analphabeten. Soziologen sehen im religiösen Aktivismus arbeitsloser Akademiker eine Investition des symbolischen Kapitals, das jene während der Studienjahre erworben haben. Akademiker tendieren also dazu, in ihrem Herkunftsmilieu zu fundamentalistischen Führern zu werden. Die Statistiken bestätigen dies: Das durchschnittliche Alter der Mitglieder fundamentalistischer Gruppen liegt bei 23 Jahren, 80% von ihnen sind jünger als 30 Jahre. Gymnasiasten, Studenten und Akademiker stellen 75% ihrer Mitglieder.9 Wir stehen also fast vor einer kontraproduktiven Bildung. Diese Tatsache ist auf die Verwendung der Geisteswissenschaften als Mobilisierungsfaktor, nicht als Ort kritischen Denkens zurückzuführen. Die derzeitigen Bestrebungen, die Inhalte der Schulbücher zu überarbeiten, und die Bemühungen um eine Verbesserung der Qualität von ––––––––––––––––––

9 Diese Daten basieren auf den beiden Untersuchungen von Saad Eddin Ibrahim, Militants islamistes d’Egypte, in Esprit, no. 4, avril 1983, und Gilles Kepel, Le prophète et le pharaon, La Découverte, 1984, S. 219.

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Unterricht und Lehre spiegeln ein gewisses Bewusstsein hinsichtlich der Notwendigkeit einer Veränderung wider.

4. Aspekt Gegenwärtig stehen wir vor einer radikal anderen Situation. Der Staat ist nicht länger der einzige Akteur im Bildungsbereich. Die Bildungslandschaft umfasst staatliche, private und ausländische Universitäten. Verbindungen, die es so noch nicht gegeben hat, entstehen zwischen den Universitäten auf der einen Seite und den Unternehmen und den Organisationen der Zivilgesellschaft auf der anderen. Es gibt einen wachsenden Raum für die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit, die sich in der Tendenz hin zu einer universellen Vereinheitlichung von Bewertungsmaßstäben für den Unterricht und in der großen Mobilität von Wissenschaftlern und Studenten manifestiert. Das Phänomen der Globalisierung wird sowohl als Gefahr wie auch als Chance begriffen. Philosophen stellen angesichts dieser neuen Situation Überlegungen über den Status der Geisteswissenschaften an. Diese sind mit einer ernstzunehmenden Bedrohung konfrontiert in einer Situation, in der Universitäten Gefahr laufen, in Abhängigkeit von den Interessen der transnationalen Unternehmen zu geraten. Jacques Derrida warnt uns in seinem Buch L’Université sans condition (Universität ohne Vorbedingungen) vor dieser Gefahr, die die Bestimmung, ja sogar die Existenz der Universität bedroht. „Ja, sie gibt nach, verkauft sich gelegentlich, läuft Gefahr, ganz einfach besetzt, genommen, gekauft zu werden, bereit dazu, Zweigstelle internationaler Konglomerate und Unternehmen zu werden. Dies ist heute in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt eine vorrangige politische Herausforderung: Inwieweit darf die Organisation von Forschung und Lehre finanziert, also direkt oder indirekt kontrolliert, oder nennen wir es euphemistisch ,gesponsert‘ werden, angesichts der kommerziellen und industriellen Interessen? Man weiß, dass in dieser Logik die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften häufig zu Geiseln der reinen oder angewandten naturwissenschaftlichen Fakultäten werden, auf die sich die als ertragsträchtig eingeschätzten Investitionen konzentrieren, die aus einem der akademischen Welt fernen Kapital stammen.“10 Und wie wir gesehen haben, sind, wenn es um Demokratie und Bildung geht, die Geisteswissenschaften der schlechthinnige Ort dieser Verbindung. Deshalb lädt ihnen Derrida eine neue Aufgabe auf: die des Widerstandes. „Ich behaupte nicht“, so sagt er, „dass diese Widerstandskraft, diese Freiheit, im öffentlichen Raum alles zu sagen, in diesen stürmischen Zeiten, die heute die Universität und in ihr bestimmte Disziplinen mehr als andere bedrohen, ihren einzigen oder bevorzugten Ort in dem Bereich habe, den man als humanités bezeichnet – ein Konzept, dessen Definition zu verfeinern wäre, zu dekonstruieren und anzupassen, jenseits ei–––––––––––––––––– 10 Jacques Derrida, L’université sans condition. Paris 2001: Galilée, S. 19.

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ner Tradition, die es ebenfalls zu pflegen gilt.“11 Die derzeitige Bildung und Erziehung muss nach dieser Vorstellung sich zur Aufgabe machen, sicherzustellen, dass die finanzielle Rentabilität nicht zum höchsten Geltungskriterium von Werten und Handlungen wird. Diese ihrem Wesen nach politische Aufgabe ist nicht neu, aber die Konjunktur der wirtschaftlichen Globalisierung macht sie mit großer Dringlichkeit erforderlich. Und wie wir festgestellt haben, gehörte zu den Aufgaben der modernen Bildung neben der unmittelbaren Lehre die Sozialisation, die in der (Heraus-) Bildung von Bürgern besteht. Diese Aufgabe wurde immer über einen Prozess realisiert, der vom Paradigma der Assimilation dominiert wurde, was den Rückgriff auf eine homogene und vereinheitlichende nationale Kultur bedeutet. Jürgen Habermas lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die neuen Bedingungen, unter denen wir, auf die eine oder andere Weise, auf der ganzen Welt leben. Diese Situation ist charakterisiert durch den Aufschwung des Multikulturalismus im Inneren ein- und derselben Gesellschaft, die Tendenz zur Ausbildung regionaler politischer Zusammenschlüsse, die mehrere Nationalstaaten umfassen, und den wachsenden Einfluss internationaler Bezugspunkte im Bereich der Rechte des Einzelnen. Unter dem Eindruck dieser Gegebenheiten plädiert Habermas „gegen die „konventionelle Form nationaler Identität“, die die Nationalität an die Citoyenneté bindet – das, was man klassische Staatsbürgerschaft nennen könnte –, „damit sich ein konstitutioneller Patriotismus ausdifferenzieren kann, der sich nicht mehr auf die konkrete Gesamtheit einer Nation bezieht, sondern im Gegenteil auf abstrakte Prozesse und Grundsätze.“12 In der gleichen Richtung skizziert Jean-Marc Ferry eine neue Art von Citoyenneté, indem er von einer „postnationalen“ Identität spricht, die sich ausschließlich auf „die Grundsätze der Universalität, der Autonomie und der Verantwortung“ bezieht, „die Konzeptionen der Demokratie und des Rechtsstaats stützen“.13 Die Philosophie der Bildung in ihrer politischen Dimension muss all diese wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der heutigen Welt zur Kenntnis nehmen. Dies wird sie veranlassen, ihre eigene sozio-politische Rolle zu reflektieren, innerhalb derer der Status der Geisteswissenschaften von vorrangiger Bedeutung ist, um eine Sozialisation herauszuarbeiten, die stärker humanistisch und universalistisch orientiert ist als identitätsbezogen. Aus dem Französischen von Ursula Liebing

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11 Ebd., S. 20. 12 Zit. n. Dominique Schnapper, La démocratie providentielle, essai sur l’égalité contemporaine. Paris 2002: Gallimard, S. 214. 13 Ebd., S. 215.

Hany M. El-Hosseiny

DEMOKRATIE UND REFORM AN ÄGYPTISCHEN UNIVERSITÄTEN

Abstract Das ägyptische Hochschulwesen ist das umfassendste im Mittleren Osten und Afrika. Ägyptische Lehrer, Ingenieure, Ärzte und Experten in allen Bereichen galten einst als die besten der Region. Für einige Jahrzehnte versorgten die ägyptischen Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen Ägypten und andere arabische Länder mit gut ausgebildeten Fachleuten. Diese Situation ändert sich momentan rapide, auch aufgrund von Defiziten der ägyptischen Universitäten. In den letzten Jahren hat die Regierung, in Partnerschaft mit der Weltbank, einen Reformplan zur Abhilfe für das Hochschulwesen in Ägypten vorgelegt, aber dieser Plan scheint nicht erfolgreich zu sein. Nach unserer Meinung verdanken sich die Mängel des Systems und der ausbleibende Erfolg der Reform dem Mangel an akademischer Freiheit, demokratischer Hochschulpolitik und demokratischen Werten an den Universitäten. Im Folgenden zeigen wir die gegenwärtige Situation auf, geben eine Kritik des Reformplans und erläutern den alternativen Weg, den eine Gruppe ägyptischer Hochschulangehöriger vorgeschlagen hat, die seit 2003 unter dem Namen „Gruppe für Universitätsautonomie“ arbeitet und als „Gruppe 9. März“ (March 9 group) bekannt ist.

1. Einleitung Das ägyptische Hochschulwesen hat eine wichtige Rolle für das nationale Erwachen, die Modernisierung und Entwicklung Ägyptens und vieler benachbarter Länder gespielt. Die ägyptischen höheren Schulen und die Al-Azhar-Universität (und später die Ägyptische Universität) haben die führenden Protagonisten des Kampfes für die Unabhängigkeit des Landes zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgebildet. Universitätsstudenten und Akademiker führten die Bewegung zur Beendigung der britischen Militärpräsenz zwischen 1939 und 1959 an. Von 1968 bis 1975 war die Studentenbewegung die hauptsächliche Kraft im Kampf um Demokratie.

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An der Modernisierungs- und Entwicklungsfront waren ägyptische Universitäten in den 1960er und 1970er Jahren die Hauptquelle für Lehrer, Ingenieure, Ärzte usw. nicht nur in Ägypten, sondern in den meisten Golfländern und einem Teil von Nordafrika. Viele ägyptische Experten haben Pionierarbeit beim Aufbau von Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen in anderen arabischen Ländern geleistet. Inzwischen hat sich die Situation sehr verändert. Graduierte ägyptischer Universitäten werden in den Golfländern kaum noch für höhere Positionen auf irgendeinem Gebiet in Betracht gezogen. Das Niveau ihrer Ausbildung wird selbst für niedere Tätigkeiten als nicht ausreichend angesehen, und sie werden durch Fachleute aus Pakistan, Indien oder von den Philippinen ersetzt. Die Absolventen ägyptischer Universitäten weisen einen sehr niedrigen Grad an Allgemeinbildung, Motivation und Selbstvertrauen auf. Dies sind die Folgen eines offensichtlichen Fehlens von Mitteln: In vielen Fakultäten ägyptischer Universitäten werden Studenten zu Tausenden in Hörsälen zusammengepfercht, in denen verärgerte Dozenten schlecht geschriebene Manuskripte rezitieren. Ägyptische Universitäten verfügen über sehr schlecht ausgestattete Bibliotheken, nicht funktionierende Laboratorien und nahezu keinerlei Kontakt zwischen Studenten und Lehrpersonal. Kurz: Das ägyptische Hochschulwesen steht vor dem Zusammenbruch. Zusätzlich zu diesem Scheitern werden ägyptische Universitäten in Kürze die Konkurrenz fremdländischer Einrichtungen innerhalb des Landes zu gegenwärtigen haben. Mit dem Inkrafttreten von GATS [General Agreement on Trade in Services; Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen] werden internationale „Provider für Bildungsdienstleistungen“ auf dem ägyptischen „Markt“ nach potentiellen „Kunden“ suchen. Die von der Weltbank geförderte (und gesteuerte) Reform Probleme, Fehlschläge und Gefahren wurden seit den späten 1970er Jahren gesehen, von Zeit zu Zeit gab es Spannungen und Diskussionen, aber es erfolgte keine nationale Anstrengung vor den später 90ern. 1998 initiierte die Regierung eine nationale Debatte, die in der National Conference on Higher Education Reform im Februar 2000 gipfelte. Diese Konferenz zur Reform des Hochschulwesens entwickelte in Zusammenarbeit mit der Weltbank einen Reformplan. Nach fast acht Jahren und 160 Millionen US-Dollar an Krediten im Zusammenhang mit diesem Plan hat Ägypten immer noch dieselben Probleme. Der Reformplan hat den schweren Sorgen der ägyptischen Universitäten sogar noch weitere Probleme hinzugefügt. Ausformuliert wurde er in mehreren Publikationen, von denen einige vom ägyptischen Ministerium für das Hochschulwesen (Lit.-Nr. 10, 6, 9, 7), andere

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von der Weltbank (Nr. 16, 15) publiziert wurden. Die Hauptaspekte des Plans können folgendermaßen zusammengefasst werden:1 1. Eine neue, vereinheitlichte Gesetzgebung für universitäre Einrichtungen. Die vorgeschlagene Gesetzgebung betont die folgenden Punkte: – Für jede Universität (oder andere Einrichtung) ist ein Überwachungsausschuss einzurichten, dessen Vertreter sich mehrheitlich aus der „Bürgergesellschaft“ zu rekrutieren haben. – Der Ausschuss soll für die meisten wichtigen Entscheidungen zuständig sein. Die Universitäts- und Fakultätsverwaltung soll ein exekutives Mandat erhalten und nur für den Routinebetrieb verantwortlich sein. – Die Verfahren für die Wahl von Rektoren, Dekanen und Fachbereichsleitern sind wettbewerbsorientiert auszurichten. – Die Grundlage akademischer Anstellungen ist zeitlich zu limitieren und zu individualisieren, im Hinblick auf die Bezahlung (keine festen Grundgehälter, sondern vertragliche Entlohnung) wie auf die Jobbeschreibung. – Ein neues System des „kosteneffektiven“ Managements der höheren Bildung und der Honorare im Rahmen universitärer Bildung ist einzurichten, basierend auf den tatsächlichen Ausgaben. – Außerhalb der Universität ist eine Gesellschaft einzurichten, die Stipendien an Studenten nach Maßgabe ihrer Bedürftigkeit vergibt. – Die Haushaltsautonomie der höheren Bildungseinrichtungen ist zu stärken. 2. Zugang und Verteilung: – Es sind Maßnahmen zu ergreifen, die den Zugang zur staatlich subventionierten Universitätsausbildung für den Zeitraum von 2001 bis 2007 um 20% reduzieren. Private Einrichtungen sollen die überzähligen Bewerber auffangen. – Die Ausnutzung der vorhandenen menschlichen und materiellen Ressourcen ist durch die Implementierung von Programmen zu maximieren, in denen sich die Studenten an der Kostenübernahme ihrer Ausbildung beteiligen. – Die Statuten universitärer Filialen sind dahingehend zu ändern, dass sie zu vollwertigen Universitäten werden. – Eine neue Universität für die Fernlehre ist einzurichten. – Neue private non-profit-Universitäten sind zu etablieren. – Der Zugang zu technischen Kollegien und Einrichtungen ist zu fördern und zu entwickeln durch das Projekt zur Verbesserung der ägyptischen technischen Kollegien (ETCP).

–––––––––––––––––– 1 Vom Autor zusammengestellt auf Grundlage der offiziellen Quellen Nr. 6, 7, 9 und 15.

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3. Qualität der Universitätsausbildung: – Ein Trainingsprogramm für Fakultätsmitglieder ist einzurichten (das Faculty Leadership Development Program, FDLP). – Eine Gesellschaft zur Qualitätssicherung und -zertifizierung ist einzurichten (durch das entsprechende Quality Assurance and Accreditation Project, QAAP). – Innovation in der universitären Ausbildung soll durch den Wettbewerb um die Vergabe von Mitteln aus dem Projektfond für die Verbesserung der Universitätsausbildung (Higher Education Enhancement Project Fund, HEEPF) gefördert werden. 4. Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT): – Förderung des E-Lernens [elektronisch unterstütztes Lernen]. – Für Fakultätsmitglieder und Lehrkörper ist ein ICT-Training anzubieten. – ICT-Training ist als obligatorischer Bestandteil von Bildungsprogrammen einzuführen. 5. Entwicklung von Forschung und Lehre im Graduiertenbereich: – Auf diesem Gebiet waren keine spezifischen Maßnahmen oder Vorhaben zu registrieren. Es fanden sich nur allgemeine Schlagworte der Art, „lebenslanges Lernen fördern“ zu wollen. Zur Gliederung dieses Beitrags Unsere Hauptthese ist, dass das Scheitern des Reformplans sich teilweise der vollständigen Vernachlässigung von demokratischen Fragen im Rahmen der Universität verdankt. Wir werden einen Überblick über die Hauptprobleme ägyptischer Universitäten geben und uns damit befassen, wie sich der Reformplan ihrer annimmt. Wir werden besonders die folgenden Fragen behandeln: – Zugang zur Universität: Wie nähern sich die Reformpläne dem Problem, den freien Zugang zur Universitätsausbildung zu gewährleisten, und wie beeinflusst dies die Zukunft der ägyptischen Universität? – Studentisches Leben und universitäre Dienstleistungen: Warum behandelt der Reformplan nicht die Frage studentischer Partizipation an Entscheidungsprozessen? – Freie Meinungsäußerung: Gibt es ein Problem mit Meinungsfreiheit an ägyptischen Universitäten? Warum wird dieses Problem ignoriert? – Akademische Freiheit: In welchem Maße ist die Freiheit von Forschung und Lehre garantiert? Wird der Reformplan diese Freiheiten beeinflussen?

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– Universitätsverwaltung: Was ist unter einer demokratischen Verwaltung der Universität zu verstehen? Welchen Begriff der universitären Autonomie legt der Reformplan zugrunde? Wie wird dies die Reform beeinflussen? Es ist festzuhalten, dass andere wichtige Fragen im Hinblick auf Demokratie an der Universität hier nicht behandelt werden. Wir werden nicht die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) erörtern, eine demokratische Universität in einer undemokratischen Gesellschaft einzurichten, noch werden wir uns mit Fragen im Hinblick auf Demokratie im Unterricht befassen. Beide Komplexe sind auf faktischer und direkter Ebene eher schwierig zu behandeln und müssen einem anderen Typus von Untersuchung vorbehalten bleiben. Im nächsten Abschnitt und bevor wir uns den genannten Fragen zuwenden geben wir einen kurzen historischen Abriss, der die Entwicklung des ägyptischen Universitätssystems und die Hauptkrise beschreibt, der es im Hinblick auf Demokratie gegenübersteht. Im letzten Abschnitt beschreiben wir die Bemühungen der Gruppe für Universitätsautonomie, die öffentlich als Gruppe des 9. März bekannt ist, öffentliche Aufmerksamkeit für Fragen der Demokratie an ägyptischen Universitäten zu wecken und alternative Reformstrategien vorzulegen.

2. Eine kurze Geschichte der höheren Bildung im modernen Ägypten Es gibt viele sehr gute Darstellungen zur Geschichte der höheren Bildung in Ägypten (vgl. z. B. 3, 4, 8). In diesem kurzen Überblick versuchen wir nur, unserer Untersuchung eine historische Perspektive zu geben. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. Das moderne höhere Bildungswesen in Ägypten weist drei Hauptzweige auf: die Al-Azhar Universität, die höheren Schulen und die Ägyptische Universität. Al-Azhar ist seit fast einem Jahrtausend ein Zentrum religiöser Studien. Sie wurde im 10. Jahrhundert von den Fatimiden als Moschee gegründet und nahm wenig später ihren Schulbetrieb auf. Neben Koranstudien, islamischer Geschichte und arabischer Sprache enthielt das Curriculum zu einem gewissen Grad auch Mathematik, Astronomie und Philosophie. Im 18. Jahrhundert entdeckte die ägyptische Elite (nach ihrer unglücklichen Niederlage gegen Napoleon) ihren Bedarf an modernerer Ausbildung, um Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte und Angestellte im Finanzwesen vorzubereiten, die für die notwendige Modernisierung des Staates benötigt wurden. In Reaktion auf diesen Bedarf setzte Muhammad Ali – der den ägyptischen Thron aufgrund gegenseitiger Verständigung zwischen den Ottomanen, Briten, Franzosen und der ägyptischen Elite bestieg – einen Prozess der Einrichtung von Höheren Schulen in Gang und entsandte Bildungsmissionen nach

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Europa, um Technokraten zusammenstellen zu können, die in der Lage waren, einen modernen Staat zu führen. Modernität galt ihm und seinen Nachfolgern als eine islamische Version des europäischen Nationalstaats. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einem Anwachsen des ägyptischen Nationalismus und der Formierung einer neuen, gemischten intellektuellen Elite, die sich aus Azhariten, in Europa Ausgebildeten und Absolventen der ägyptischen Höheren Schulen zusammensetzte. Viele dieser Intellektuellen unterstützten den Urabi-Aufstand (1881/82) und die Ihyaa’- (Erweckungs-) Bewegung. Mit dem Fall der Urabi-Bewegung und der britischen Besetzung Ägyptens begannen ägyptische Intellektuelle, dem Modernisierungsplan Muhammad Alis kritisch gegenüberzustehen. Sie sahen das Defizit einer allgemeinen, liberalen, nicht-religiösen Bildung und hielten diese für einen wichtigen Schritt zur Befreiung Ägyptens (3, S. 21-27). Die Aufrufe nationaler Führer wie Mustafa Kamel, Kassim Amin, Mohammed Abdou und Saad Zaghlul führten zu einer größeren Bewusstheit für die Bedeutung der Modernisierung des Bildungssystems, und im Glauben, AlAzhar zu modernisieren wäre zu schwierig, forderten sie die Einrichtung einer modernen Universität. Die Ägyptische Universität öffnete ihre Tore im Dezember 1908 als private, unabhängige Institution. Ihre Curricula machten sie zu einer Einrichtung, die man als Kolleg für die Freien Künste bezeichnen könnte. Zwischen 1908 und 1925 kämpfte die Universität um ihr Leben, konfrontiert mit feindlichen Konservativen und einem Mangel an finanziellen Ressourcen.2 Die Konservativen führten mehrere Attacken gegen die akademische Freiheit, die sie als ein Einfallstor für Angriffe gegen den Islam ansahen. Sie wandten sich gegen die Eröffnung einer „Frauenabteilung“, die nur drei Jahre überdauerte (1909-1912). Vehement opponierten sie gegen Mansour Fahmy, einen Hochschulmissionar, der eine Doktararbeit in Frankreich vorbereitete, die das Schicksal von Frauen in islamischen Gesellschaften zum Gegenstand hatte und von ihnen als anti-islamisch angesehen wurde. Die Arbeit wurde daraufhin nicht angenommen und Fahmy kehrte vorzeitig nach Ägypten zurück, wo ihm eine Lehrposition an der Universität verweigert wurde (8). 1925 gab die Universität ihre Unabhängigkeit auf, um als „Fakultät der Künste“ in die „Regierungsuniversität“ aufgenommen zu werden, die daneben auch die älteren Hochschulen für Recht, Medizin und Ingenieurwesen umfasste, sowie die neu eingerichtete Fakultät der Wissenschaften. Später kamen die Hochschulen für Handel und für Veterinärmedizin hinzu. Zwischen 1925 und 1952 sah sich die Universität mit diversen Problemen konfrontiert. Das erste war, einen gewissen Ausbildungsstandard aufrechtzuerhalten, ohne die konservative Atmosphäre zu tangieren. Eine Krise brach aus, als 1926 Taha Hussain, der prominente Literaturprofessor, seine Studie –––––––––––––––––– 2 Näher zur Geschichte der Universität und ihrer frühen Kämpfe vgl. die Bücher von Reid (8) und Abbas (3).

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zur prä-islamischen Dichtung veröffentlichte. Sie zog große Teile vermeintlich prä-islamischer Dichtung in Zweifel und hielt sie für viel später verfasste Werke. Dieser Ansatz widersprach den üblichen sprachlichen Referenzen in den Tafsir-Büchern (Koran-Exegese) und wurde daher als blasphemisch angesehen. Die Angelegenheit wurde im Parlament debattiert, Hussain wurde vom Generalstaatsanwalt verhört und Hussain und die Universität willigten in das Einsammeln aller Exemplare und ihre Ablieferung an die Regierung zur sicheren Verwahrung ein.3 Das zweite bedeutende Geschehen folgte 1932, als Taha Hussain sich weigerte, einer Forderung des Königs nachzukommen und einigen ausländischen Politikern die Ehrendoktorwürde zu verleihen, mit der Begründung, es sei das Vorrecht der Universität, derartige Entscheidungen zu treffen. Die Regierung antwortete mit dem Beschluss, Hussain von der Universität zu verweisen. Diesmal weigerten sich Studenten und Verwaltung der Universität, den Beschluss zu akzeptieren. Die Studenten demonstrierten mehrere Tage, und der Rektor der Universität, Ahmad Lutfi El-Sayyed, trat am 9. März 1932 von seinem Amt zurück, als Protest gegen den Verweis. Ein weiterer mit Demokratiefragen zusammenhängender Umstand waren die ständigen Polizeiübergriffe auf dem Campus. Universitätsstudenten gehörten zu den aktivsten Teilen der ägyptischen Nationalbewegung, die den Abzug der britischen Truppen aus Ägypten forderte. Die Studenten organisierten Kundgebungen, Konferenzen und Demonstrationen gegen die britische Besatzung und die autokratische ägyptische Regierung, die mit der Besatzungsmacht kollaborierte. Dies gab dauerhaften Anlass für polizeiliche Interventionen innerhalb der Universität.4 Drei weitere Universitäten wurden in den 1940er und 50er Jahren eingerichtet, und das Militärregime, das 1952 die Macht ergriff, übernahm die regierungseigenen Universitäten. Das Regime von 1952 erweiterte die Hochschulbildung durch die Errichtung weiterer Fakultäten und Fachinstitute. 1965 wurde ein Gratifikationssystem für die Hochschulbildung eingeführt. Zuvor „reformierte“ der Bildungsminister der Militärregierung, Kamal Eddine Hussein, Al-Azhar, indem er dessen alte Religionsschulen in Universitätsfakultäten umwandelte und neue, säkulare Fakultäten hinzufügte. 1954 wurde die Universität zum Schlachtfeld der Krise vom März 54, in der es um die Wiedereinführung der Demokratie nach dem Militärputsch von 1952 ging. Das Nasser-Regime verwies etwa 50 Professoren von der Universität, die den Rückzug des Militärs in die Kasernen und die Wiedereinrichtung des Mehrparteiensystems von vor 1952 forderten. Die Universität geriet für fast 15 Jahre unter die vollständige Kontrolle durch das Nasser-Regime und –––––––––––––––––– 3 Eine detailliertere Darstellung der Geschehnisse findet sich im Buch von Abbas (3, S. 136140) und in 1, S. 69f. 4 Eine ausgezeichnete Darstellung der politischen Studentenbewegung in Ägypten ist das Buch von Ahmad Abdalla (2). Eine englische Ausgabe erschien 1985 in London.

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sein Einparteiensystem.5 Aber nach dem Kriegsdebakel von 1967 kam es unter den Universitätsstudenten wieder zu politischem Aktivismus. 1968 gab es aus den Universitäten heraus massenhafte Kundgebungen, die schwere Strafen für die Militärmachthaber forderten, die den Krieg verloren hatten, und mehr Demokratie für das Volk. Die Studentenbewegung trat 1972/73 wieder auf den Plan und forderte von Nassers Nachfolger Sadat mehr Demokratie und eine aktive Rolle des Volkes in der Vorbereitung des Krieges, der das von Israel besetzte Land befreien sollte (2). Studentischen Kundgebungen wurde generell mit polizeilicher Brutalität begegnet. Mehrfach besetzte die Polizei den Campus und schlug und verhaftete Studenten. Die Ausweitung der regierungseigenen Hochschulbildung hielt unter Sadat in den 1970er Jahren an, stagnierte aber seit Mitte der 80er Jahre. Zu dieser Zeit begannen sich private Einrichtungen zu etablieren, und 1996 wurden vier Privatuniversitäten eingerichtet. Bis 2007 stieg ihre Zahl auf 18 an. Die ägyptische Hochschulbildung umfasst mittlerweile fünf verschiedene Zweige: 1. die 15 staatlichen Universitäten, 2. 18 Privatuniversitäten zusammen mit zwei nicht-ägyptischen Universitäten (eingerichtet aufgrund besonderer multinationaler Abkommen, nämlich die Amerikanische Universität in Kairo und die Arabische Akademie für Wissenschaft und Technologie und maritimen Transport), 3. die Al-Azhar Universität mit ihren über das ganze Land verteilten Zweigstellen, 4. staatliche höhere Bildungseinrichtungen und 5. private höhere Bildungseinrichtungen. Der Hauptunterschied zwischen „Universitäten“ und „Einrichtungen“ ist die Bandbreite der Ausbildungsangebote. Nur eine nicht-staatliche Einrichtung, die Amerikanische Universität in Kairo, bietet Studienprogramme in den Sozial- und Grundlagenwissenschaften an. Alle anderen privaten Einrichtungen machen nur Angebote zur „beruflichen“ Bildung. Öffentliche Universitäten sind sehr „große“ Einrichtungen mit hohen Studentenzahlen (zwischen 50.000 und 250.000). Private Universitäten sind sehr viel kleiner; die Gesamtzahl aller in Privatuniversitäten eingeschriebenen Studenten in Ägypten liegt unter 100.000.

3. Kritik des Higher Education Enhancement Project (HEEP) und der dahinterliegenden Strategie Der von der ägyptischen Regierung und der Weltbank vorgelegte Reformplan gründet auf einer Bewertung der Bedürfnisse und Probleme, die einige grundlegende Problematiken der ägyptischen Hochschulbildung vollkommen ignoriert. Das Problem politischer und polizeilicher Einmischung in akademische –––––––––––––––––– 5 Tatsächlich war Nasser sehr populär. Studenten und Professoren sahen wie die Mehrheit der Bürger in ihm ihren Retter. Man kann aber nicht leugnen, dass die Opposition (obwohl sehr klein an Zahl) brutal verfolgt wurde.

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Angelegenheiten wird nicht angesprochen, Fragen zur Reduktion der universitären Budgets werden nicht gestellt, Studentenrechte werden nicht erwähnt und der allgemeine Trend der staatlichen Verwaltung seit den 1990er Jahren, die meisten Kompetenzen in eigener Hand zu versammeln statt sie bei Universität, Fakultät und Institutsräten zu belassen, wird nicht kommentiert. Kurz: Einige der Hauptprobleme werden verschleiert. Und für die im Plan erwähnten Probleme scheint zu gelten, dass die vorgeschlagenen Lösungen zu einer Verschärfung der Situation führen werden. Zugang zur Hochschulbildung Die ägyptische Verfassung legt fest, dass „Bildung in staatlichen Einrichtungen auf allen Ebenen unentgeltlich“ zu erfolgen hat.6 Dies wurde in einem langen Kampf über die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht. Hochschulbildung ist sehr kostenintensiv, und die Mehrheit der Ägypter ist arm; ein auf Kostenbeteiligung ausgerichtetes Bildungssystem würde annähernd 70% der Bevölkerung ausschließen.7 In den letzten Jahren genehmigte die Regierung mehr Privatuniversitäten als der Markt vertragen konnte; im akademischen Jahr 2008/09 erreichten Privatuniversitäten nur ungefähr 75% ihrer studentischen Kapazität. Es gibt private Bildung, aber nicht ausreichend Konsumenten. Die Regierungsausgaben für Bildung bewegen sich um 4% des Bruttoinlandsprodukts; das sind weniger als 60% der Ausgaben für Sicherheit und Polizei. Die Regierung stattet die vorhandenen öffentlichen Einrichtungen nicht mit neuen Mitteln aus; stattdessen erlässt sie Programme, die auf Kostenbeteiligung basieren. 26 solcher neuen Programme wurden in den letzten drei Jahren eingerichtet, die meisten davon blasse Abbilder bestehender unentgeltlicher Programme. Die Hauptattraktion der neuen Programme ist die geringere Zahl von Studenten in den Unterrichtsräumen und deren größere Sauberkeit und Ausstattung mit Klimaanlagen. Diese Programme haben jedoch den Druck auf die bereits über ihre kapazitären Grenzen genutzte Universitätsausstattung erhöht. In der Wissenschaftsfakultät der Universität Kairo haben die Studenten der beiden neuen Programme Zugang zu den besser ausgestatteten Laborräumen, und dies zu den besseren Tageszeiten, während für die „öffentlichen“ Studenten die schlechteren Räume und/oder die ungünstigeren Zeiten verbleiben. Es ist offensichtlich, dass durch diese „Reformen“ der Hochschulbildung keine nennenswerten zusätzlichen Kapazitäten zukommen und größere soziale Spannungen sowie eine erhöhte Benachteiligung der Armen die Folge sein werden. –––––––––––––––––– 6 Artikel 20, übersetzt vom Autor. 7 Die Berechnung basiert auf nationalen Statistiken: Universitäre Lehre kostet im Durchschnitt 1100 US-Dollar pro Student und Jahr, während mehr als 78% der ägyptischen Haushalte über ein Einkommen von weniger als 2000 US-Dollar verfügen.

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Das neue Gesetzesvorhaben lanciert in erhöhtem Maße gefährliche Ideen der Relativierung von Unentgeltlichkeit durch deren Anbindung an eine Einzelfallgewährung. Angesichts des verbreiteten Nepotismus in der ägyptischen Gesellschaft und der Korruption in praktisch allen Regierungseinrichtungen wird dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur vollständigen Annullierung der Unentgeltlichkeit führen. Studentisches Leben und universitäre Dienstleistungen Neben den von der Universität durchgeführten offiziellen Ausbildungsprogrammen gewinnen Studenten Erfahrung und Wissen auch durch außercurriculare kulturelle und soziale Aktivitäten. Ferner bemühen sich Universitäten um Wohnraumbeschaffung für Studenten, deren Familien nicht in der Region leben; sie sorgen für Mahlzeiten in der Mensa und verschiedene Formen von Hilfen für unterprivilegierte Studenten. Traditionellerweise verfügen die Studenten über eine repräsentative Körperschaft (eine Studentenvereinigung), die von ihnen organisierte Aktivitäten leitet und sich am Management universitärer Dienstleistungen beteiligt. Unter dem Militärregime hat die Regierung seit 1952 versucht, diese Studentenvereinigungen zu kontrollieren. Sie griff dabei zu verschiedenen Methoden von der Rekrutierung studentischer Spitzel bis zur Aussetzung von Wahlen zur Studentenvertretung, wenn unliebsame politische Gruppen zu gewinnen drohten. In den letzten Jahren richteten die Sicherheitsbehörden ein System der Vorselektion von Kandidaten für die Studentenvereinigung ein. Studenten aus Oppositionsgruppen oder solche, die mit der Sicherheitsbehörde nicht kooperieren, gelten als nicht geeignet für die Kandidatenrolle bei Wahlen. In vielen Fakultäten gibt es überhaupt keine Wahlen, da die Anzahl der zugelassenen Kandidaten gerade der Anzahl der zu vergebenden Sitze entspricht. Sind die zugelassenen Kandidaten gewählt, haben auch sie nicht das Recht, ohne explizite Erlaubnis des zuständigen Sicherheitsoffiziers Aktivitäten zu veranstalten. Das Resultat ist, dass es praktisch keinerlei soziale oder kulturelle Aktivitäten gibt. Damit sind ägyptische Universitäten eines der Hauptbestandteile einer erfolgreichen Ausbildung beraubt. Andere universitäre Dienstleistungen fallen ebenfalls unter die Kontrolle von Sicherheitsoffizieren. Viele mit Oppositionsgruppen verbundene Studenten werden aus der universitären Wohnraumbeschaffung ausgeschlossen; 2006 schloss die Universität Kairo 157 Studenten aus diesen Gründen aus. Viele Plätze in diesem Programm werden aufgrund von Beziehungen zu Vertretern der Regierungspartei vergeben oder aufgrund von Diensten für die Sicherheitsoffiziere, und auch einige Fälle von Bestechung wurden berichtet.8 –––––––––––––––––– 8 Zu diesen und weiteren Fällen von Einmischung der Sicherheitsdienste in die Universitätsbelange siehe Nr. 11.

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Ein Thema von großer Bedeutung für die Studenten ist die Frage von Petitionen hinsichtlich ihrer Examensergebnisse. Sie haben das Recht, Eingaben zwecks einer Überprüfung ihrer Ergebnisse einzureichen, aber sie dürfen der Überprüfung nicht beiwohnen und auch nicht die bewerteten Examensunterlagen einsehen. Diese absurde Situation führt fast immer zum Verlust studentischen Vertrauens gegenüber den Dozenten und die Studenten erfahren im Falle ihres Scheiterns in der Prüfung auch kaum etwas über die Gründe. All diese Sachverhalte und Probleme werden vom Reformplan schlicht und einfach übergangen. Rede- und Meinungsfreiheit An ägyptischen Universitäten existiert keine Rede- und Meinungsfreiheit. Das ist nicht das Ergebnis eines gesetzlichen Verbots, sondern der wechselseitigen Bemühungen von Sicherheitsoffizieren und islamischen Aktivisten. Zwischen 1972 und 1981 half die Regierung Studenten, die der Jamaa Islamiya9 angehörten, den Campus ägyptischer Universitäten zu kontrollieren, als Verbündete gegen Kommunisten und Nasseristen, die zwischen 1968 und 1975 populär waren. Dieses Ziel wurde erreicht, aber die Islamisten wendeten sich auch gegen fast alle künstlerischen und kulturellen Ausdrucksformen. Sie verboten Konzerte, Kunstausstellungen und (liberale) politische Debatten. Das Verbot wurde mit Gewalt durchgesetzt, was mehrfach in Angriffe auf liberale oder linke Studenten mündete. Die unteren Ebenen der Verwaltung wurden infiltriert. Ein Beispiel dafür sind die nach Geschlechtern getrennten Theateraufführungen, die offiziell von der Verwaltung einiger Fakultäten organisiert wurden. Die Hegemonie islamischer Gruppen über die studentischen Aktivitäten hielt selbst dann an, als die Regierung ihre Politik änderte und eben die Studenten verhaftete, die sie vorher unterstützt hatte. Tatsächlich war zwischen 1980 und 1995 die islamische Bewegung an ägyptischen Universitäten sehr populär und ist es, in viel geringerem Ausmaß, noch heute. Jede Wahl zu den Studentenvereinigungen, die nicht von der Verwaltung abgebrochen wurde, endete mit einem Sieg der Islamisten. Aber nach verstärkter Intervention der Sicherheitspolizei durften sich die islamischen Gruppen nicht versammeln oder ihre Aktivitäten organisieren. Zur gleichen Zeit führten Sicherheitspolizei und Verwaltung die Politik der Islamisten fort, alle liberalen Formen studentischer Aktivität zu verbieten. 1984 wurden die ohnehin schon sehr restriktiven –––––––––––––––––– 9 Die Jamaa Islamiya (‫ )اﻟﺠﻤﺎﻋﺔ اﻹﺳﻼﻣﻴﺔ‬war eine sehr populäre islamistische Gruppe mit Tendenz zum Djihad. Sie spielte in den 1980er Jahren eine bedeutende Rolle bei der Rekrutierung von Mudjaheddin für den Afghanistan-Krieg gegen die UdSSR. In den 1990er Jahren wurde die Gruppe zahlreicher Anschläge gegen Polizeikräfte und Touristen bezichtigt. 1994/ 95 erklärten die mittlerweile verhafteten Anführer der Gruppe in mehreren Büchern den Verzicht auf den Einsatz militärischer Mittel gegen muslimische Regierungen.

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Regularien für studentische Aktivitäten dahingehend verändert, dass diese vollständig unter die Aufsicht von Universitätsmitarbeitern gestellt wurden, und Mitarbeiter, die oppositionelle Tendenzen zeigten oder von denen man wusste, dass sie zu liberalen oder zu islamistischen Ansichten neigten, waren von dieser Aufsichtsfunktion ausgeschlossen. Sogar die „Wissenschaftlichen Vereinigungen“, die an allen Fachbereichen existierten, wurden 2004 aufgelöst. Mittlerweile gibt es an ägyptischen Universitäten praktisch keine rechtlich autorisierten unabhängigen studentischen Aktivitäten mehr. Den Studenten ist jede Form des politischen Ausdrucks untersagt. Die Regierung beendete studentische Demonstrationen stets gewaltsam, bis 2002 bei Demonstrationen an der Universität in Alexandria ein Student getötet wurde. Seither setzt die Polizei weniger offensichtliche Methoden der Intervention ein. So wird der Campus bei studentischen Kundgebungen komplett geschlossen (um deren Verlagerung in die Öffentlichkeit zu unterbinden) und bisweilen werden Berufsverbrecher in die Universitäten geschleust, um studentische Demonstrationen mit Gewalt zu unterbinden.10 Der Staatssicherheitsdienst verhaftet und foltert bisweilen auch studentische Aktivisten.11 Die Freiheitseinschränkungen unter Universitätsmitarbeitern sind weniger rigoros. Das akademische Personal jeder Universität assoziiert sich in staff clubs, Versammlungen, die soziale und kulturelle Aktivitäten außerhalb des offiziellen universitären Rahmens organisieren. Deren Angelegenheiten sind größtenteils geregelt durch das Gesetz von 1998, das nicht-profitäre Nichtregierungsorganisationen betrifft.12 Dieses Gesetz verleiht dem Arbeits- und Sozialministerium ein großes Ausmaß an Kontrolle über die Verbände. So kann der Minister den gewählten Vorstand eines jeden Verbandes auflösen und einen neuen Vorstand berufen. Die meisten Vorstände von staff clubs wurden vor 10 bis 15 Jahren eingesetzt oder gewählt und durch das Ministerium neu besetzt. Die wenigen gewählten Vorstände (drei von 14) zeichnen sich durch eine subtile Balance zwischen Mitgliedern der Muslim-Brüderschaft und Mitgliedern der Regierungspartei bzw. dieser bekanntermaßen nahestehenden Personen aus. Diese Situation schränkt die Aktivitäten der staff clubs ein, reduziert sie aber nicht vollständig. Das hat mit einer anderen Balance innerhalb der akademischen Gemeinschaft zu tun, wo bestimmte Einzelpersonen (einige mit liberalen oder linken Ansichten) aufgrund ihres akademischen Status und ihres kulturellen Gewichts einen großen Einfluss haben. Daher bleibt es in den staff clubs bei einer eher liberalen Atmosphäre, und die Islamisten wie die Sicherheitspolizei tolerieren das bis zu einem gewissen Grad. Die islamistische Be–––––––––––––––––– 10 So z. B. im Oktober 2006 an der Ain-Shams Universität, als 15 islamistische Studenten von Sicherheitsoffizieren verletzt wurden. 11 In den Jahren 2003 und 2004 gab es allein an der Universität Kairo 50 Fälle von Studenten, bei denen Folter nachgewiesen wurde. 12 Einige staff clubs sind als „sportliche“ Verbindungen gegründet und fallen unter das Gesetz für Jugend- und Sportverbände.

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wegung profitiert von dieser relativen Freiheit, indem sie in den wenigen staff clubs, die sie kontrolliert, eine Vielzahl politischer Veranstaltungen organisiert. Ich weiß jedoch (aus Gesprächen mit dem Präsidenten der staff clubs der Universität Kairo), dass all diese „politischen“ Veranstaltungen vorher mit der Sicherheitspolizei abgesprochen wurden. Zusammengefasst ist die Freiheit der Rede für Studenten inexistent, und begrenzt (vor allem in politischen Fragen) für die Mitarbeiter der Universität; das gilt auch für die Freiheit, Aktivitäten und Zusammenkünfte zu organisieren. Was die persönlichen Freiheiten betrifft, ist die Situation nicht so eindeutig; tatsächlich gelten für Mitarbeiter wie Studenten innerhalb der Universität die gleichen Restriktionen wie außerhalb. Eine Studentin kann keinen MiniRock tragen, männlichen Studenten ist das Tragen von Ohrringen untersagt. Der von der ägyptischen Regierung und der Weltbank vorgelegte Reformplan enthält keinen einzigen Lösungsvorschlag für diese Probleme. Der Plan erkennt die Frage der Rede- und Meinungsfreiheit noch nicht einmal als Problem an. Freiheit von Forschung und Lehre In einem im Juni 2005 veröffentlichten Bericht (5) bemerkt die in den USA ansässige Organisation Human Rights Watch in ihrer Schlussfolgerung, dass „systematische Repression seitens der Regierung die vier Hauptbereiche des universitären Lebens erstickt hat, die Lehre (the classroom), die Forschung, studentische Aktivitäten und Campus-Proteste“. Auch auf Lehre und Forschung wirken die repressiven Kräfte von zwei Seiten, der Regierung (durch die Sicherheitspolizei) und der religiösen Fundamentalisten. Ein übliches Problem ist das Verbot bestimmter Bücher oder Texte, besonders in den Literatur- und Sozialwissenschaften. Der Vorgang folgt einem allgemeinen Schema: Professor X möchte in einer seiner Veranstaltungen ein bestimmtes Buch benutzen; einer seiner Kollegen oder Studenten (für gewöhnlich mit konservativen religiösen Ansichten) beschwert sich bei der Verwaltung, das fragliche Buch enthalte „Passagen, die den Grundlagen der Religion widersprechen“. Die Verwaltung lädt Professor X vor und erklärt, die Verwendung des Buches werde so viel Aufhebens verursachen, dass sie zu unterlassen sei. Dies passierte 2003 in der Filiale der Universität Kairo in BeniSoueif dem Hochschullehrer Abel-Moniem El-Gemeiy, einem angesehenen Historiker, in dessen Lehrveranstaltung unter dem Titel „Historische Texte“. Dazu zählte auch die Beschäftigung mit den kontroversen Schriften von Taba Hussain über die vor-islamische Dichtung. Ein Kollege legte Beschwerde ein, und nach der obligatorischen Diskussion mit der Universitätsverwaltung beharrte Professor Gemeiy darauf, die Veranstaltung wie geplant durchzuführen. Die Verwaltung verlangte daraufhin von seinem Fachbereich, die Veranstaltung für die folgenden Jahre aus dem Lehrplan zu streichen.

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Ein weiterer Fall ereignete sich 2007 an der South-Valley Universität. Ein Philosophieprofessor unterrichtete mittelalterliche Geschichte nach einem von ihm selbst verfassten Buch. Christliche Studenten vermeinten daraufhin, das Buch enthalte Passagen „gegen die christliche Religion“. Ein sehr bekannter christlich-fundamentalistischer Rechtsanwalt reichte eine Beschwerde bei der Universität ein. Die Fortführung der Veranstaltung wurde untersagt und ein Ausschuss zur Beurteilung des Buches wurde eingerichtet. Unglücklicherweise vermochte sich der Professor dem universitären Druck nicht zu widersetzen. Viele Bücher sind aus den Universitätsbibliotheken verbannt; selbst in der privaten Amerikanischen Universität in Kairo werden Bücher zensiert und von der Lehre ausgeschlossen. Ein bemerkenswertes Beispiel geschah 2002, als Mohammed Choukris Sammlung For Bread Alone13 aus dem Unterricht für arabische Literaturstudenten an der Amerikanischen Universität ausgeschlossen wurde. Die Genehmigung der Sicherheitsbehörden ist Voraussetzung dafür, Dozenten von außerhalb in die Universität zu bringen. 2006 wollte Professorin Radwa Ashour von der Ain Shams Universität Bahaa Taher14 in ihre Klasse einladen. Die Einladung wurde von der Verwaltung abgelehnt, weil Frau Ashour sich geweigert hatte, die Formulare für die Sicherheitspolizei auszufüllen. Noch stärker wird die Forschung durch Sicherheitsbedenken behindert. Ein in den 1960er Jahren erlassenes Gesetz besagt, dass jede Feldstudie in den Sozialwissenschaften vorab einer Sicherheitsprüfung durch die Central Agency of Public Mobilization and Statistics bedarf. Die Militärbehörden müssen ihre Zustimmung zu geologischen oder umweltbezogenen Feldforschungen gegeben haben, die außerhalb der bevölkerungsreichen Gebiete stattfinden sollen. Die Erlaubnis scheint Routine zu sein, aber in einigen Fällen war das Militär sehr darauf bedacht, die Forscher auf der gesamten Route zu begleiten. Ein solcher Fall wurde uns von einem Geologen der Universität Kairo berichtet, der 2007 eine geologische Studie in der Halayeb-Region durchführte. Alle Einladungen an ausländische Redner auf wissenschaftlichen Konferenzen sind der Sicherheitszustimmung vorbehalten. In vielen Fällen wurde die Zustimmung nicht erteilt. Zwei bemerkenswerte Fälle an der Fakultät für Wirtschaft und Politische Wissenschaften der Universität Kairo sind Norman Finkelstein,15 für den die Sicherheitszustimmung 2005 und Mohammed Said Al-Buty,16 für den sie 2006 verweigert wurde. Auch diese Probleme werden vom Reformplan nicht angesprochen. –––––––––––––––––– _ 13 Dt. Das nackte Brot. Nördlingen 1986: Greno. Mohammed Choukri (auch: Muhammad Sukr i), marokkanischer Erzähler und Essayist (1935-2003). 14 Zeitgenössischer ägyptischer Erzähler, Träger des Staatspreises für Literatur 1999. Zu seinen Werken zählt Aunt Safiyya and the Monastery, das in 10 Sprachen übersetzt wurde. 15 Amerikanischer anti-zionistischer Gelehrter. 16 Syrischer Professor der Islamwissenschaften.

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Hany M. El-Hosseiny Universitätsautonomie und demokratische Verwaltung

Das Gesetz 49 von 1972 für die öffentlichen Universitäten weist insgesamt eine demokratische Tendenz auf. Die hauptsächlichen Entscheidungen fallen zumeist in die Kompetenz von Fachbereich, Fakultät und universitären Gremien. Die bestellten Dekane und Universitätspräsidenten haben wenig Befugnisse verglichen mit den Gremien; sie repräsentieren diese lediglich und führen ihre Beschlüsse aus. An einigen Stellen weicht das Gesetz jedoch von demokratischen Prinzipien ab. So besagt der Artikel 16: „Jeder Beschluss eines Gremiums ist erst dann endgültig, wenn sein Gegenstand nicht in der Kompetenz eines höheren Gremiums liegt.“ Der Artikel dient dazu, Beschlüsse von Fachbereichs- und Fakultätsräten außer Kraft zu setzen, wenn höhere Verwaltungsstellen anderer Auffassung sind. Das ist deshalb möglich, weil die höheren Gremien vollständig aus ernannten Mitgliedern bestehen17 und daher leichter zu kontrollieren sind. Ein kürzliches Beispiel dafür stammt von 2008, als die Regierung ein neues Entlohnungsschema für die Universitätsangehörigen vorlegte, das auf der Anzahl an Stunden basierte, die „im Büro“ verbracht werden. Fast alle Fachbereichsräte der Universität Kairo lehnten das Modell ab oder brachten grundlegende Einwände dagegen vor. Die Fakultätsgremien äußerten ähnliche, wenngleich milder formulierte Bedenken, während der Universitätsrat das neue Schema mit sehr geringen Modifikationen annahm. Ein wichtigeres, aber älteres Beispiel lieferte das Jahr 1993, als die Regierung die auf dem akademischen Jahr basierenden Lehr- und Prüfungspläne auf ein Zwei-Semester-Modell umstellen wollte. Auch damals lehnten fast alle Fachbereichsräte den Wechsel ab, während die Universitätsräte ihn am Ende ohne Vorbehalte übernahmen. Die jetzige Situation zeigt, dass der damalige Widerstand berechtigt war. Wir haben jetzt zwei zwölfwöchige Unterrichtssemester mit jeweils einer fünfwöchigen Prüfungsphase am Schluss, während zuvor der Unterricht 28 bis 30 Wochen umfasste und vier bis fünf Wochen Prüfungen am Ende des akademischen Jahres dazukamen. Ein weiteres Mal weicht das Gesetz in den Artikeln 105-112 von üblichen demokratischen Prinzipien ab. Sie behandeln die Befragung und Bestrafung der Universitätsmitarbeiter im Falle der Verletzung akademischen Rechts. Die Artikel geben dem Universitätspräsidenten das Recht auf Bestrafung ohne eine angemessene Anhörung der Betroffenen. Auch gibt es für sie keine Berufungs- oder Einspruchsmöglichkeit. –––––––––––––––––– 17 Der Universitätsrat setzt sich zusammen aus dem Präsidenten, seinen Stellvertretern und den Fakultätsdekanen sowie fünf Personen des öffentlichen Lebens, die von den anderen Ratsmitgliedern gewählt werden. Universitätspräsidenten und ihre Stellvertreter werden vom Präsidenten der Republik ernannt und ernennen ihrerseits die Fakultätsdekane. Die Ernennungen haben fast immer politische Gründe; unter allen Universitätspräsidenten (18) und Dekanen (über 200) findet sich kein einziger Vertreter der Opposition.

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Die tatsächliche Problematik erschöpft sich jedoch nicht in diesen juristischen Mängeln. Die reale Praxis in der Universitätsverwaltung weist weitere gravierende Defizite in Demokratie und Transparenz auf.18 In den letzten Jahren sind die Fakultätsräte von den Dekanen unter Druck gesetzt worden, viele Kompetenzen an sie abzutreten. Rechte der Budgetverteilung und der tatsächlichen Zuweisung von Geldmitteln werden mittlerweile zum größten Teil individuell vom Dekan jeder Fakultät ausgeübt. Angesichts fehlender Transparenz mündete das in eine erhebliche Mittelverschwendung (ein Beispiel aus meiner Fakultät ist die dreimalige Neugestaltung des Dekanbüros und seiner direkten Umgebung innerhalb von fünf Jahren) und in die weitere Ausdehnung der Dekanskompetenzen; ein Mitarbeiter, der ein neues Instrument für sein Laboratorium benötigt, tut gut daran, beste Beziehungen zum Dekan zu unterhalten. Der von Regierung und Weltbank vorgelegte Reformplan wird diesen antidemokratischen und autoritären Trend weiter verstärken. Ein dieses Jahr beginnender Schritt in diese Richtung ist die Einführung der Mitarbeiter-Entlohnung nach der Anzahl der Stunden am Arbeitsplatz. Die Fachbereichsleiter und Dekane werden für die aktuelle Anwendung des Systems verantwortlich sein, indem sie Formulare signieren, die die Anwesenheit der Mitarbeiter attestieren. Keine gewählten Mitarbeitervertreter werden das Recht haben, die entsprechenden Verwaltungsentscheidungen nachzuprüfen. Ein Hochschullehrer, der 30% seines Einkommens von der Zustimmung durch Fachbereichsleiter und Dekan abhängig sieht, wird kaum geneigt sein, deren Handlungen in den Gremien zu diskutieren. Ein weiterer vorgeschlagener, aber bisher vom Ministerium für Höhere Bildung noch nicht aufgegriffener Schritt ist die Einrichtung eines Überwachungsausschusses für jede Universität. Wo es diese bereits gibt, sind es meist strategische Entscheidungen (wie die Eröffnung eines neuen Fachbereichs oder Instituts), die ihrer Zustimmung bedürfen. Nach dem Entwurf des Bildungsministeriums jedoch hat der Ausschuss die Kontrolle über sämtliche akademischen Angelegenheiten (wie Berufungen und Lehrpläne). Er wird die komplette Funktion des Universitätsrates übernehmen und diesem nur noch die Routineangelegenheiten überlassen. Und er wird aller Wahrscheinlichkeit nach aus politisch ausgewählten, geschäftsorientierten Personen mit keinem oder geringem akademischen Hintergrund bestehen und die Universität als Mittel zur Selbstdarstellung benutzen. Das letzte Problem, dem sich ägyptische Universitäten gegenübersehen, ist wieder die Einmischung der Sicherheitspolizei in die Verwaltung. Einstellungen und Berufungen sind abhängig von der Sicherheitszustimmung; ein neu angestellter technischer Assistent muss ein Formular zur Sicherheitsüberprüfung ausfüllen. Dies entspricht nicht dem Gesetz, das lediglich die polizeiliche Führungsakte verlangt. Das Formular zur Sicherheitsüberprüfung geht hinge–––––––––––––––––– 18 Vgl. eingehender Nr. 13.

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gen an den Staatssicherheitsdienst und ist illegal, da das Gesetz keine Einmischung der Staatssicherheit zulässt. Trotzdem kann ohne ihre Zustimmung kein technischer Assistent eingestellt werden. Wir sind auf zahlreiche Fälle dieser Art gestoßen und haben einige von ihnen aufgelistet (Nr. 11). Der neueste Fall ist der von Ahmed El-Serawy, einem Graduierten an der medizinischen Fakultät der Universität Kairo, der drei Jahre am dortigen Krebsinstitut als Chirurg ausgebildet wurde und bester in allen Examina war, dem dann aber die Einstellung als Assistenzarzt verweigert wurde, als die Staatssicherheit herausfand, dass sein Vater ein bedeutendes Mitglied der Muslim-Brüderschaft war. In allen Fällen, in denen Abgewiesene gerichtlich gegen die Entscheidung vorgingen, wurden sie durch Gerichtsbeschluss eingestellt. Das Verfahren dauert jedoch mehrere Jahre und viele Bewerber suchen sich in der Zwischenzeit eine andere Stelle. Auf diese Weise verliert die Universität viele motivierte und gut ausgebildete junge Frauen und Männer. Wir ziehen den Schluss, dass der vorgelegte Reformplan die Stellung der Demokratie in der Universitätsverwaltung verschlechtern wird. Er vertritt ein autoritäreres und weniger transparentes Modell von Verwaltung.

4. Alternativpläne Der staff club der Universität Kairo setzte 2001 ein Konsultationsverfahren zur Universitätsreform in Gang. Der Entwurf eines neuen Gesetzes wurde vorbereitet, und im März 2006 wurde ein Workshop abgehalten, um ihn zu beraten und gegebenenfalls zu modifizieren. Aus uns nicht bekannten Gründen ist das Ergebnis bisher nicht veröffentlicht worden. Der staff club hat seit 2005 auch bei der Organisation des Widerstandes gegen das vom Ministerium vorbereitete Projekt mitgewirkt. Er veranstaltete in seinen Räumen fünf Kongresse für Mitglieder aller ägyptischen Universitäten, wobei jedes Mal Protest zum Ausdruck gebracht und Forderungen artikuliert wurden. Der letzte Kongress im Februar 2008 beschloss die Organisation eines Streiks zur Unterstützung der Forderung nach Einkommenssteigerungen. Der am 23. März 2008 organisierte Streik war von bisher nie dagewesenem Umfang und verbreitete sich an fast allen ägyptischen Universitäten. Ein weiterer, vollständigerer Alternativplan wird in Nr. 12 dargestellt. Demnach benötigt die Universität eine Reform mit vier Hauptkomponenten: 1. Reform aller Aspekte des Universitätssystems in Verwaltung, Lehre und Forschung. Das schließt ein die Autonomie der Universität und die Verhinderung politischer und sicherheitsdienstlicher Interventionen, die Abschaffung der zentralisierten Entscheidungsfindung, die Wahl von Dekanen und Universitätspräsidenten und die Rückgabe der Hauptkompetenzen an die Fachbereichsräte.

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2. Reform des materiellen, sozialen und wirtschaftlichen Status des Universitätspersonals und Garantie der persönlichen Freiheit sowie der Freiheit von Lehre und Forschung ohne externe Intervention. 3. Reform der Situation von Universitätsstudenten, um eine freie und kreative Atmosphäre zu sichern und die Selbst-Regelung ihrer Institutionen einzurichten sowie ihr Recht zu garantieren, an allen Entscheidungen über sie betreffende Angelegenheiten mitzuwirken. 4. Einrichtung neuer öffentlicher Universitäten, um die Studentendichte an den bestehenden Universitäten zu verringern und mehr Studenten aufnehmen zu können. Dieses Projekt wurde von der Gruppe für Universitätsautonomie vorbereitet, die sich im Herbst 2003 aus 25 Angehörigen verschiedener ägyptischer Universitäten konstituierte, welche an der Universität Kairo zusammenkamen und eine Erklärung herausgaben, wonach sie am 9. März eines jeden Jahres einen „Tag der Universitätsautonomie“ veranstalten werden, im Gedenken an den Rücktritt von Ahmad Lutfi Al-Sayed von der Position des Rektors der Ägyptischen Universität 1932 aus Gründen der Verteidigung der Universitätsautonomie. Dieser Tag soll der Reflexion der Probleme und der Zukunft der ägyptischen Universitäten dienen. Die sich seit jener Zeit formierende Gruppe für Universitätsautonomie – 9. März wird von ihren Mitgliedern als informelles Forum für Akademiker beschrieben. Sie hat keinen Präsidenten oder Direktor und fasst ihre Beschlüsse durch allgemeinen Konsens. In den fünf Jahren seit jener Erklärung hat die Gruppe 9. März ein Buch und vier Broschüren herausgegeben. Sie hat zahlreiche Proteste organisiert und Briefe an Minister, Parlamentsmitglieder und Universitätspräsidenten geschrieben. Viele Deklarationen wurden verfasst und von zahlreichen Universitätsangehörigen unterschrieben. Einige der Themen, an denen wir gearbeitet haben, sind die Einmischung der Sicherheitsbehörden in akademische Angelegenheiten, Qualitätssicherung in Theorie und Praxis, Autokratie in der Universitätsverwaltung und die Reform der ägyptischen Universitätsausbildung. Während dieser Jahre ist vieles erreicht worden, besonders ein größeres Bewusstsein für akademische Freiheit und die Autonomie der Universität, aber es gibt noch viel zu tun.

5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Der vom ägyptischen Ministerium für Hochschulbildung gemeinsam mit der Weltbank vorgelegte Reformplan geht nicht auf die wirklichen Probleme ägyptischer Universitäten ein. Er ignoriert die Probleme in den Bereichen studentisches Leben und universitäre Dienstleistungen, Redefreiheit und Freiheit von

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Lehre und Forschung. Die Anwendung des Plans wird den Mangel an Demokratie beim Zugang zur Hochschulbildung verschärfen und den autokratischen und nicht transparenten Modus der Verwaltung ägyptischer Universitäten verstärken. Alternativpläne liegen vor, sind aber noch unvollständig. Eine erweiterte Partizipation ist vonnöten, um die ägyptische Hochschulbildung zu erneuern. Aus dem Englischen von Michael Sonntag

Literatur [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13] [14] [15] [16]

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John Borneman

DOZENTEN-„EVALUIERUNG“ UND DIE UNIVERSITÄT Partizipation und Rechenschaft in den Demokratien der USA, Großbritanniens und Österreichs

Die Demokratie macht zwei Versprechungen: die eine, dass Menschen an ihrer eigenen Herrschaft teilhaben, und die zweite, dass Rechenschafts-Mechanismen einen fairen, vielleicht sogar gleichen Zugang zur Teilhabe garantieren. Partizipation erhält in der Regel mehr Aufmerksamkeit als Fragen der Verantwortlichkeit bzw. Rechenschaft. Dennoch könnte man zugunsten eines Vorrangs von Rechenschaftsmechanismen argumentieren. Ohne derartige Mechanismen neigt das Teilhabe-Versprechen der Demokratie dazu, in leeren Populismus und Demagogie überzugehen – allgemein schlechte Regierungsführung. Ein Mechanismus der Rechenschaftslegung, der für Institutionen der Hochschulbildung besonders bedeutsam geworden ist, ist die Evaluierung.1 Traditionell wurden Evaluierungen verwendet, um den Lernerfolg von Studierenden zu messen. In den letzten 50 Jahren jedoch und unter dem Druck der Demokratisierung der Universität wurden sie einer anderen Verwendung zugeführt, nämlich Lehrende und Forschende an den Universitäten zu evaluieren. Lässt sich die Auswirkung dieser Evaluierungen von Lehrenden und Forschenden auf die beiden Versprechen der Demokratie – Partizipation und Rechenschaft – einschätzen? Ich werde mich in erster Linie auf mehr als 20 Jahre Lehrerfahrung in den USA beziehen und dann einige Vergleiche mit meinen Erfahrungen mit der Verwendung von Evaluierungen in Großbritannien und Österreich anstellen. Die Formen von Evaluierung, auf die ich mich hier beziehe, waren jeweils Reaktionen auf ziemlich unterschiedliche Anforderungen. In den 70er Jahren haben Studierende in den USA in einer Forderung der Basis nach Rechenschaft Druck auf Universitäten ausgeübt, für jeden einzelnen Kurs Dozentenevaluierungen einzurichten; in den 80er Jahren hat Margaret Thatcher in einer Top-Down Forderung in Großbritannien etwas eingeführt, was von den dortigen Anthropologen als „audit-culture“ bezeichnet wird, eine Art Rechnungsprüfungs-Kultur – quantitative Beurteilungen von Einschätzungen und Mes––––––––––––––––––

1 Vielleicht ist es eine Inspiration durch das Osmanische Reich, das als Innovator bezüglich der Verwendung von Evaluierungen bekannt ist, die die europäischen Staaten bewegt hat, deren Gebrauch im 19. Jahrhundert auszuweiten: leistungsorientierte Prüfungen für den Eintritt in die Beamtenschaft als Mittel, effiziente staatliche Bürokratien zu schaffen.

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sungen von Lehre und Forschung einzelner Fachbereiche und ganzer Universitäten; in den 90er Jahren hat Österreich ein Forschungsinstitut gegründet, das IFK (Internationales Forschungsinstitut für Kulturwissenschaften), um kulturelle Forschungen von hohem internationalen Kaliber zu fördern, einschließlich der Unterstützung für die Arbeit junger österreichischer Wissenschaftler, und hat in der Hoffnung, das Institut vor Regierungsinterventionen zu schützen, einen Beirat etabliert, der jährlich die Aktivitäten und akademischen Einreichungen von Gastwissenschaftlern evaluiert.

1. Demokratie und Evaluierung an der amerikanischen Universität Obgleich amerikanische Universitäten mit dem Humboldt’schen Bildungsideal und einer Erziehung in den freien Künsten assoziiert werden, waren die ältesten amerikanischen Universitäten aus dem 17. Jahrhundert, die noch vor die Revolutionskriege zu datieren sind – also beispielsweise Harvard, das College of William and Mary, Yale, die University of Princeton –, eher darauf bedacht, Führer hervorzubringen, als auf Demokratie. Sie sollten Kindern kolonialer Eliten die Kunst des Führens beibringen. Erst im 19. Jahrhundert wurde das, was als Jacksonian democracy bezeichnet wird – nämlich Volksnähe, Interesse am „gemeinen Mann“ und an den Massen –, zu einer wichtigen Strömung im politischen System. Auf die Jacksonian democracy folgte eine Ausweitung des Bildungssystems, einschließlich der Gründung weiterer privater und großer öffentlicher Universitäten. Diese Universitäten griffen den demokratischen Impuls hinter Wilhelm von Humboldts Idee von Bildung auf, der im Kontext der preußischen Bildungsreformen des frühen 19. Jahrhunderts entwickelt worden war. Humboldts Ideen fanden in Amerika mehr Anklang als in seinem eigenen Land. Preußen hatte zu jener Zeit eine autoritäre, militaristische Regierung, wogegen in den USA, in dieser neuen Gesellschaft, die Idee einer Führung Boden gewann, die auf Leistung und Ausbildung beruht anstatt auf Vererbung. Amerikanische Pädagogen waren besonders empfänglich für Humboldts Ideen von der Plastizität und den dynamischen Aspekten der menschlichen Entwicklung, für sein Beharren darauf, dass die „reine Wissenschaft“ gegen die politische Sphäre abgeschirmt werden muss, und für die Auffassung, dass Lehre und Forschung zu verbinden seien. Amerikanische Bildungsreformer versuchten Humboldts Idee umzusetzen, Bildung solle für alle verpflichtend sein. Am Ende des 19. Jahrhunderts begannen die amerikanischen Universitäten, die deutschen Universitäten hinter sich zu lassen, die bis dahin in fast allen Bereichen an der europäischen Spitze lagen. Und im 20. Jahrhundert wurde die Idee der Bildung in den freien Künsten – von allgemeinem Wissen in einer breiten Vielfalt von Disziplinen aus Geistes- und Naturwissenschaften – fast flächendeckend zum Standard in der universitären Ausbildung.

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Ungefähr ein Jahrhundert später, im Jahr 1970, kam ich als Studierender an die amerikanische Universität. Eine weitere Demokratisierung des Bildungssystems und der Lehrmethoden war bereits weit fortgeschritten. Staatliche Universitäten wie die University of Wisconsin, die ich zu jener Zeit besuchte, expandierten als Form kapitalistischer Infrastruktur-Investition, aber mit einem zusätzlichen ideologischen Auftrag: bessere Chancen zu schaffen, damit mehr Studenten aus niedrigeren sozialen Schichten studieren und Hochschulabschlüsse erwerben konnten. Diese Expansion war zugleich eine Antwort auf die gestiegene Kaufkraft von Eltern aus der Mittelschicht, die neue Hoffnungen aufstiegsorientierter Mobilität für ihre Kinder hatten, und sie war eine Antwort auf Veränderungen in der Arbeitsorganisation, die mit der Abnahme von industriellen Arbeitsplätzen und dem Wachstum des Dienstleistungs- und Informationssektors einhergingen. Der expandierende Dienstleistungssektor benötigte Arbeitskräfte, die in der Lage waren, mit Information umzugehen – das neue Informationszeitalter, das nun die weit verbreitete Verwendung von PCs mit einschließt. Zur gleichen Zeit, in den 70er Jahren, verstanden wir Studierenden diese Veränderungen als persönliches Empowerment und begannen, eine weitergehende Demokratisierung zu verlangen, nicht nur die Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten für Nicht-Elite-Kinder, sondern auch eine Demokratisierung des Lernprozesses selbst: weniger monologisierende Vorlesungen, mehr Seminare mit zeitgenössischen Themen und kleineren Gruppen, in denen man lernen konnte, zu argumentieren, zu widersprechen und Meinungen zu äußern, von denen wir viele hatten. Die Studenten jener Zeit waren durch den Vietnamkrieg politisiert und durch den Machtmissbrauch der Nixon-Administration im so genannten Watergate-Skandal, einem Versuch, den demokratischen Prozess zu unterlaufen, der dann mit Nixons Rücktritt endete. Es wurde viel von neuer Führungsqualität gesprochen, davon, was Studenten nicht wussten und wer sie davon abhielt, es zu wissen, und davon, wie wir alle kritischere und aktivere Bürger werden würden. Wir wollten nicht ein Mehr an wertneutralem Wissen, sondern Wissen, dass uns helfen würde, bessere Aktivisten zu werden. Wir verstanden Demokratie theoretisch als Abfolge von Überprüfungen der Obrigkeiten im Allgemeinen, und im Besonderen als Kontrolle des Machtmissbrauchs, und wir formulierten die Theorie, dass diese Kontrolle von unten kommen sollte, von Menschen mit weniger Macht und weniger Befugnissen. Entsprechend forderten wir, dass die Ausübung der Machtbefugnisse derer, die uns am nächsten waren, begrenzt werden müsse: der Eltern und der Professoren an der Universität. Zu den von uns vorgeschlagenen Begrenzungen gehörten die Kurs- oder Dozentenevaluierungen. Während der 70er und 80er Jahre wurden Kursevaluierungen in allen Kursen für Studenten im Grundstudium bzw. auf dem Weg zum Bachelor eingeführt. Nach jedem Semester wurden die Studenten aufgefordert, die Leistung ihres Professors zu evaluieren. Sie wurden aufgefordert,

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unabhängige Urteile über ihre Zufriedenheit mit dem Lernen und über die Kompetenz ihrer Dozenten abzugeben. Heute unterrichte ich an der Princeton University, einer privaten Universität, die im nationalen Universitäten-Ranking konstant erst- oder zweitgereiht wird. Diese Rankings berücksichtigen viele Faktoren, einschließlich der Frage, wieviel Zeit Professoren ihren Studenten widmen, der relativen Bezahlung der Professorenschaft, der Erfolgsquoten für Hochschulabschlüsse, der Arbeitsmöglichkeiten für Absolventen und der Zufriedenheit der Studenten, wie sie in diesen Bewertungen gemessen wird. Die Universitäten legen großen Wert auf diese Evaluierungen, zum Teil, weil sie befürchten, dass Studierende die Universitäten wechseln könnten, wenn sie nicht zufrieden sind, oder dass die Eltern sich über die Studiengebühren und die Betreuung beschweren könnten, wenn ihre Kinder Unzufriedenheit äußern. Zudem sind Universitäten steuerbefreite Institutionen, was bedeutet, dass die Politik ihre Geschicke in einem gewissen Ausmaß kontrollieren kann, indem sie diese Befreiungen aufhebt. Politiker reagieren auf den Druck von Eltern bzw. Bürgern, was den Universitäten gute Gründe dafür liefert, zu versuchen, jeden glücklich zu machen. Im Folgenden werde ich die Effekte dieses demokratisierenden Impulses über die letzten 30 Jahre hinweg analysieren.

2. Kursevaluierungen in Princeton Lassen Sie mich das Funktionieren der Evaluierungen in den USA ein wenig in seiner ethnographischen Bedeutung erläutern. Obwohl es kein einheitliches Formblatt gibt, das von allen amerikanischen Universitäten verwendet wird, gibt es eine Tendenz, ähnliche Bewertungskriterien zu verwenden. Die meisten Evaluierungen decken vier Bereiche ab: 1. die Qualität der Vorlesungen des Dozenten (z. B. laut und deutlich genug zu sprechen, Konzepte gut zu erklären, Begeisterung für eine Thema zu zeigen, gut organisiert zu sein), 2. die Ansprechbarkeit des Dozenten (z. B. Verfügbarkeit zu den Sprechzeiten, angemessene Beantwortung von Fragen, Verständnis für Anliegen der Studenten wie beispielsweise Abwesenheiten aufgrund von religiösen Feiertagen, Krankheit oder Arbeit), 3. die Qualität und Fairness von Prüfungen, 4. die Qualität der verwendeten Literatur (zu viel oder zu wenig wöchentlicher Lesestoff, interessante oder uninteressante Auswahl, Bezug zu den Vorlesungen, Prüfungen oder zum Kurs). Beachten Sie bitte, dass diese Kriterien sich vor allem auf formale Aspekte beziehen, auf Klarheit, Zugänglichkeit, Fairness, und nicht auf die Ideen und den eigentlichen Inhalt dessen, was gelernt wird, oder auf die Werte, die der

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Dozent zu präsentieren versucht. Während der Bewertung muss der Dozent den Raum verlassen, so dass die Studenten anonym bleiben und nicht ungerechterweise wegen kritischer oder negativer Bemerkungen ausgesondert werden können. Alle Wertungen sind in der Regel numerisch und reichen von 1 für ausgezeichnet bis 5 für nicht ausreichend. Aus den Werten werden Durchschnittswerte in Tabellenform gebildet, so dass ein Vergleich der Professoren, Kurse, Fachbereiche und manchmal auch der Universitäten möglich wird. Zudem gibt es qualitative Evaluierungen, im Rahmen derer die Studenten Gelegenheit erhalten, unabhängig von den numerischen Noten schriftliche Bewertungen abzugeben. Da diese Sätze nicht quantifizierbar sind, nehmen die Studenten sie nicht ernst (oft erhalte ich den Kommentar: Professor ist auf seinem Gebiet kompetent – als ob die Studenten über das Wissen verfügten, meine intellektuellen Fähigkeiten zu beurteilen. In einem vor kürzerer Zeit abgehaltenen Kurs kommentierten einige meiner Studenten: Der Professor ist schockierend und langweilig. Im darauf folgenden Jahr entfernte ich einige der vermuteten schockierenden Materialien; in der Folge kam als studentischer Kommentar nur noch: Professor ist langweilig). In Princeton gibt es zwei Arten verpflichtender Evaluierungen der Universität, eine qualitative und eine quantitative, und eine dritte, die von den Studierenden selbst verwaltet und getrennt veröffentlicht wird. Die eigentliche Frage besteht hier darin, wie die Ergebnisse zu interpretieren sind. Und wofür werden sie verwendet? Verwaltungsangestellte weisen schlecht bewertete Fachbereiche häufig an, die Bewertungen zu verbessern, sie vergeben Anerkennungen an Professoren mit ausgezeichneten Bewertungen und belohnen Fachbereiche, die erfolgreich sind, auf verschiedene Arten. In einigen Universitäten werden die numerischen Ergebnisse verwendet, um Bonussteigerungen zu rechtfertigen (die die Gehälter der Professoren steigern) oder um Dozenten oder Fachbereiche mit zusätzlichen Geldern für Forschung, Doktoranden oder Ringvorlesungen zu belohnen. Manche Fachbereiche ignorieren ihre Bewertungen, manche diskutieren ihre Evaluierungsergebnisse kollektiv, manche Professoren lesen ihre Evaluierungen nie, manche Professoren verwenden ihre Evaluierungen als Index für das Lernen der Studierenden. Ich selbst habe in den meisten Kursen, die ich abgehalten habe, sehr hohe Bewertungen erhalten, und vor 10 Jahren erhielt ich sogar eine Auszeichnung an der Cornell University. In einigen Kursen jedoch fiel die Bewertung durchschnittlich aus. Im Allgemeinen hält ein Drittel der Studenten meine Kurse für ausgezeichnet, und die beiden anderen Drittel variieren. Meine eigene Einschätzung dessen, was in den Kursen gut oder schlecht lief, stimmt normalerweise nicht mit den Meinungen der Studenten überein. Häufig erhalten Kurse, von denen ich meine, sie seien besonders interessant und herausfordernd, ungefähr ein Drittel negativer Bewertungen. Ein Grund hierfür liegt darin, dass Studenten im Allgemeinen Powerpoint-Präsentationen vorziehen, weil sie die Mitschrift erleichtern. Ich weigere mich, Powerpoint-Präsentationen zu ver-

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wenden, weil sie das, was ich sage, anzeigen, noch ehe die Studenten die Gelegenheit haben, mir zuzuhören, und die Fähigkeit zuzuhören ist in der Anthropologie von herausragender Bedeutung. Meine Vermeidung von Powerpoint bringt viele Studenten zur Schlussfolgerung: Professor ist schlecht vorbereitet. Lassen Sie mich auf einen Kurs konzentrieren, bei dem meine eigene Einschätzung sich von der vieler Studenten unterscheidet und ich eine mittelmäßige Bewertung erhielt. In den letzten drei Jahren habe ich die große Einführungsveranstaltung in die Anthropologie abgehalten, mit ungefähr 100 Studenten. Dies gilt in Princeton, wo man Seminare mit sechs bis 20 Studierenden befürwortet, als große Veranstaltung. Die meisten Studierenden in dieser Einführung sind im Grundstudium, sie haben eine gewisse Zahl von Wahlfächern zu nehmen, Veranstaltungen von allgemeinem Interesse, für die keine Vorkenntnisse erforderlich sind. Die meisten Studierenden investieren in große Einführungsveranstaltungen weniger Anstrengungen als in kleine Seminare, und sie nehmen an, dass solche Kurse in den Geisteswissenschaften eher leicht sind (der von mir gehaltene wird sicher als schwieriger als der übliche Standard eingeschätzt). Dies war meine erste Erfahrung mit einer Einführungsveranstaltung in einem Fachgebiet. Kurz bevor ich im Jahr 2001 in Princeton zu lehren begann, bestand Ralph Nader, Verbraucherschützer und Princetonabsolvent, darauf, dass ich die Einführung abhalten sollte, denn diese Veranstaltung war es, so erzählte er mir, die ihn selbst sozialkritisch werden ließ. Er sagte, die einzige Möglichkeit, Studierende zu erreichen, sei zu Beginn ihres Studiums, denn fortgeschrittene Studenten seien zu sehr mit Karriere und Status beschäftigt, um eine Veranstaltung in kritischer Anthropologie zu besuchen. Anthropologie hat die Tendenz, Überzeugungen ins Wanken zu bringen und Zweifel in Hinblick auf die relative Bedeutung verschiedener kultureller Muster zu wecken, und sie ermutigt auf diese Weise Studierende, ihre eigene Art und Weise, Dinge zu tun, zu hinterfragen. Sie stellt jegliche kulturelle Logik infrage, die sich als allwissend darstellt und glaubt, sie könne genau wissen, wie Menschen ihr Leben organisieren sollten. Im Gegensatz dazu gehen andere sozialwissenschaftliche Disziplinen wie Psychologie, Politikwissenschaften oder Soziologie, die ebenfalls kritisch sein können, von der Möglichkeit aus, gegenwärtige Lebensmodelle zu verbessern; sie lehren Studenten überprüfbare Wahrheiten, von denen die meisten Anthropologen, die außerhalb der USA arbeiten, finden, dass sie auf einer sehr amerikanischen Weltsicht beruhen. Ich habe die Herausforderung angenommen, die Nader mir stellte, und habe die Vorlesung in der Absicht abgehalten, nicht nur Fakten über die Welt zu vermitteln, sondern auch zu verunsichern und Selbstkritik zu ermutigen. Die Evaluierungen dieses Einführungskurses waren, wie bereits erwähnt, kontinuierlich mittelmäßig. Ungefähr ein Drittel der Studierenden äußerte sich ziemlich negativ über jeden Aspekt der Veranstaltung, und dieser Prozentsatz blieb konstant, obwohl ich den Inhalt etwas verändert habe, um den studenti-

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schen Wünschen entgegenzukommen. Wenn wir die Evaluierung als eine Form, mich zur Rechenschaft zu ziehen, ernst nehmen – was mache ich dann falsch? Diese Frage ist natürlich für unterschiedliche Interpretationen offen, aber meine persönliche Meinung ist, dass die Studenten unzufrieden sind, weil sie keinen Spaß an der Veranstaltung haben. Sie lernen tatsächlich etwas in der Veranstaltung, sie selbst erzählen es mir gelegentlich einige Jahre nach der Veranstaltung, und meine Kollegen bestätigen mir, dass die Studenten, die den Kurs abgeschlossen haben, einige kritische Sichtweisen daraus mitnehmen, die ihre Arbeit in den fortgeschritteneren Kursen bereichert. Aber ganz eindeutig finden in dieser Veranstaltung viele Studenten keinen Gefallen an ihrer Lernerfahrung. Sie bewerten den Kurs schlecht aufgrund dieses Mangels an Vergnügen, und das gilt insbesondere für manche Teile der Veranstaltung und manche Übungen, die mehr Zweifel wecken und Studenten stärker verunsichern in Hinblick auf das, was sie wissen, als dass sie sich wohl fühlen würden. Was sie sich unwohl fühlen lässt, ist, so vermute ich, nicht eine Frage der Form, sondern des Inhalts: genau jene Ideen, nach denen die Evaluierungen nicht fragen.2 Der Kurs ist um die klassischen anthropologischen Themen herum aufgebaut: Austausch und Ökonomie, Verwandtschaft und Geschlecht, Religion und Politik. Am Ende sollen die Studierenden verstehen, dass jedes Thema aufs engste mit den anderen verbunden ist und dass das soziale Leben um ein Vielfaches größer ist als die Summe seiner Teile. Für sich genommen ist diese Annahme weder beunruhigend noch abzulehnen. In den studentischen Evaluierungen ist einer der häufigsten kritischen Kommentare in den letzten Jahren, dass ich den Irakkrieg zu häufig erwähne. Tatsächlich unterrichte ich nur zwei von zwölf Wochen über den Irakkrieg, wobei ich auf seine Auswirkungen auf die soziale Desintegration sowohl im Irak als auch in den USA fokussiere. Dieser Krieg hat wie jeder Krieg soziale und psychologische Langzeiteffekte, sowohl auf das Individuum wie auf die Gemeinschaft. Es scheint, als ob die Erwähnung des Krieges sie in einer Art und Weise verunsichert, wie dies bei anderen potentiell verunsichernden Themen, wie religiösen oder geschlechtsbezogenen Unterschieden, nicht der Fall ist. Als Reaktion auf die Unzufriedenheit der Studenten könnte ich entweder weniger verunsicherndes Material anbieten oder damit fortfahren, dieses freudlose Material zu unterrichten, im Wissen, dass mindestens ein Drittel der Studenten harte Bewertungen abgeben werden. So oder so gibt es für mich persönlich keine anderen Sanktionen als die, dass ich mich mit einer unterdurchschnittlichen Bewertung abfinden muss. In manchen anderen Universitäten oder bei Junior-Professoren könnte es viel größeren Druck geben, den In–––––––––––––––––– 2 Selbst wenn viele Studenten keinen Gefallen an dem Kurs finden, scheint den meisten der Prozess der Evaluierung zu gefallen, und sie schreiben mit einer Selbstsicherheit, die manchmal überraschend ist. In den letzten 10 Jahren hat diese Freude zu einer Vervielfachung von unabhängigen, webbasierten Evaluierungen geführt, die noch mehr Anonymität anbieten (z. B. rateyourprofessor.com). Auf diesen bewerten Studenten ihre Professoren nach selbst gewählten Kriterien wie Attraktivität, Kleidung, Nettigkeit und persönliche Eigenheiten.

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halt des Kurses zu verändern. Auf die Gefahr allzu leichter Selbst-Rechtfertigung hin finde ich Trost in Max Webers Rezept, „Wenn jemand ein brauchbarer Lehrer ist, dann ist es seine erste Aufgabe, seine Schüler unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren, solche, meine ich, die für seine Parteimeinung unbequem sind“ (Wissenschaft als Beruf, Vortrag 1922). Im amerikanischen Meinungsklima nach dem Massaker des 11. September war es nicht schwierig, bei Studenten anzuecken, indem man sie dazu brachte, beunruhigende Faktoren und Interpretationen zeitgenössischer Ereignisse anzuerkennen. Verstörendes Wissen hat eher einen lang anhaltenden Affekt auf Bildung als beruhigendes Wissen. Widerstand gegenüber Wissen – in diesem Fall über „Irak“ und „Krieg“ – ist ein Beleg für die unbewusste Aufnahme von etwas, was gelehrt wurde. Wenn überhaupt, so wird es einen verzögerten Effekt darauf haben, ein kritisches Verständnis der Welt zu entwickeln. Hier will ich mich erneut dem Thema des Inhalts zuwenden, dem, was in den studentischen Evaluierungen ausgelassen wird, die dazu neigen, auf Formfragen zu fokussieren (ob ich laut genug spreche, gut organisiert bin, gerecht benote etc.). In den 70er Jahren wünschten Studenten sich Evaluierungen, um Professoren unter Druck zu setzen, ein stärker gegenwartsbezogenes und politisches Wissen anzubieten. Die Evaluierungen waren motiviert durch das Bedürfnis, diejenigen Fähigkeiten zu lernen, die entscheidend dafür sind, die Welt zu verändern. Die heutigen Evaluierungen bewerten stattdessen stärker scheinbar wertneutrale Fähigkeiten, was im Gegenzug den Studenten ermöglicht, den Glauben an ihr gegenwärtiges Set von „bequemen Tatsachen“ beizubehalten – die wir in der Anthropologie als Mythen bezeichnen würden (Amerika ist das Größte, alle Probleme können gelöst werden, die Zukunft verspricht Fortschritt und Wohlfahrt). In den vergangenen 10 Jahren sind eine Anzahl von Websites aufgemacht worden, um die radikalsten Professoren zu isolieren und öffentlich zu machen und um Druck auszuüben: entweder auf sie selbst, ihr Curriculum zu ändern, oder auf die Universität, sie zu entlassen. Martin Kramer beispielsweise hat im Jahr 2001 Campus Watch gegründet, um Professoren wegen israel-kritischer Statements zu zensieren. Diese Art des Monitoring, ebenfalls ein sehr basisorientierter demokratischer Prozess, hatte einen gewissen Einfluss auf die Nahost-Politik, und wenn auch nur dahingehend, die desaströse Politik der BushAdministration zu legitimieren, aber es hat nicht nur „etwas“ Wirkung auf die Kontrolle der Äußerungen in manchen Universitäten. Auf kleine Colleges wie Princeton hatte dieses Monitoring wenig oder keinen Effekt, aber es hatte eine erhebliche Abschreckungswirkung auf Äußerungen und Kursinhalte in vielen großen öffentlichen Colleges, die überwiegend, aber nicht ausschließlich, in konservativen Staaten liegen, beispielsweise die University of Missouri, die Southern Methodist University in Texas oder auch manche Colleges in liberalen städtischen Zentren mit einer aktiven und mit Israel stark identifizierten jüdischen Bevölkerung, wie die Columbia University in New York City.

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Lassen Sie mich kurz zwei einander widersprechende Effekte der amerikanischen Dozenten-Evaluierungen zusammenfassen. Auf der einen Seite erhöht die Teilhabe der Studenten an Evaluierungen ihren Selbstwert und ihren Sinn dafür, dass Autorität kontrolliert werden kann und soll. Auf der anderen Seite kann dieser Selbstwert auch das Ergebnis eines übertriebenen Selbstvertrauens sein: Studenten wissen noch nicht, was einen Kurs gut macht, und fokussieren daher auf persönliches Gefallen oder auf Aspekte, die mit dem Unterhaltungswert oder der leichten Zugänglichkeit von Wissen zusammenhängen, oder mit dem Pathos des betreffenden Themas. Ein beträchtlicher Teil des Lernens jedoch ist nicht leicht und ist auch kein Spaß, es erfordert eine Investition in Zeit und Mühe, und zeitversetztes Vergnügen. Die Ergebnisse bestimmter Klassen sind sehr unsicher. Evaluierungen können dazu führen, dass Professoren sich stärker auf ihre Darbietungen konzentrieren statt dass sie riskieren, zu versuchen, das zu lehren oder zu lernen, was schwierig zu wissen ist, oder dort in Kursinhalte zu investieren, wo Wissensansprüche schwer zu substantiieren sind. Universitätsverwaltungen haben mittlerweile Evaluierungen von Dozenten institutionalisiert, und sie stellen meist Psychologen an, um diese zu konzipieren. Der Außenwelt vermitteln sie die Ergebnisse als positiv, egal wie sie ausfallen, und verwenden sie, um Erhöhungen von Studiengebühren zu rechtfertigen oder um unterschiedliche Formen von Lehre über die Fachrichtungen hinweg zu regulieren, was seinerseits eine weitere Rationalisierung von Universitäts-Bürokratien unterstützt. Was als ein Versuch begann, Dozenten stärker für das studentische Interesse an gegenwärtigen Ereignissen ansprechbar zu machen, ist nun Teil anderer wertvoller Märkte und wird auf Arten und Weisen verwendet, die nicht generell Dozenten oder deren Lehre verbessern, noch Studenten in ihrem Verständnis von Autorität kritischer machen.

3. Die Audit-Kultur in Großbritannien Lassen Sie mich nun zu Großbritannien übergehen, und über die Effekte der Thatcher’schen Bildungsreformen aus den 80er Jahren, die auf eine Verbesserung der Rechenschaftslegung abzielten, auf die letzten beiden Dekaden sprechen. Diese Reformen waren teilweise motiviert durch eine anti-elitäre Ideologie (gegen die ererbten Klassenprivilegien von Oxford und Cambridge, mit dem Ziel, die Regierungsunterstützung für Bildung an mehr Studenten in mehr Universitäten und technischen Schulen umzuverteilen). Tatsächlich haben die britischen Universitäten nun eine Studentenschaft von größerer Vielfalt, und ein beträchtlicher Teil des elitären Systems muss nun selbst für seinen Unterhalt sorgen, unabhängig von staatlicher Unterstützung, was zu einer egalitäreren Universitätslandschaft geführt hat. Viele Dozenten misstrauten jedoch diesen Motiven und sahen in den Reformen stattdessen Angriffe auf die linksgerichtete, kritische Intelligenz.

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Schlüsselbegriffe der Reformen waren Mechanismen zur Messung der „Lehr-Leistung“, der „Forschungsqualität“ und der „institutionellen Effektivität“, die alle aus dem Bereich der Finanz- und Rechnungsprüfung übernommen waren. Aber ist die Universität eine Institution, die man mit einer Bank oder einer Autofabrik vergleichen kann? Ist nicht die „Mission“ von Bildung etwas ziemlich anderes, als Produkte zu verkaufen und Gewinn zu machen? Kriterien für die Evaluierung wurden aus der vorherrschenden neoliberalen Ideologie der 80er und 90er Jahre übernommen, die von Volkswirtschaftlern und konservativen Denkern gleichermaßen verbreitet wurde, mit universalistischen Annahmen darüber, wie Wert in Geldeinheiten gemessen werden kann. Die Forderung galt weniger der Bereitschaft, auf jemanden einzugehen, als vielmehr abstrakter institutioneller Effektivität. Um messbar effektiv zu sein, muss man effizient sein. Die Effizienz wird als wertneutrales Kriterium erachtet, und sie benötigt explizite Ziele und messbare Ergebnisse, die man überprüfen kann und die zu Beginn eines Lehrgangs voraussehbar sind (Shore/ Wright 1997; Strathern 2000). Das größte Problem, auf das uns die britische Erfahrung hinweist, ist dann die Schwierigkeit, erwünschte „Ergebnisse“ zu definieren. In vielen Kursen im Bereich der Geisteswissenschaften ist das Lernen nicht konsistent vorhersagbar, es ist nicht voraussehbar und hängt ab von der Zusammensetzung der teilnehmenden Studentengruppe und ihren Anstrengungen. Lernen ist zu weiten Teilen zeitversetzt und kann nie genau gemessen werden, eine Evaluierung ist, wenn überhaupt, erst Jahre nach der Erfahrung möglich. Das Lernen pflanzt Samen, deren Früchte viele Jahre später erscheinen. Und zu lernen wie man Dichtung versteht, wie man die kryptische oder telegraphische Sprache von Notizen versteht, oder wie man technische Handbücher kritisch versteht, unterscheidet sich erheblich von Experimenten, die auf vorgeschriebenen Protokollen und Wiederholungen basieren, wie sie in einem großen Bereich der Naturwissenschaften der Fall sind. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Geisteswissenschaften lehrt, wie man „zwischen den Zeilen liest“, und besonders in der Anthropologie fokussieren wir darauf, zu lehren, wie man Gesprächen oder Klatsch zuhört oder verborgene Formen von Autorität beobachtet. Als Antwort auf die Unzufriedenheit mit den Audits, den Überprüfungen, die auf Quantifizierung beruhten, hat im Jahr 2007 das ESRC (Economic and Social Research Council), Großbritanniens führende Forschungsförderungsund Ausbildungsagentur, damit begonnen, einen qualitativen Leistungsvergleich zu betreiben, und mit der Anthropologie angefangen. Die Annahme war, dass Anthropologen im qualitativen Bewerten gut seien, und dass die relativ überschaubare Größe der Fachrichtung es ermöglichen würde, das Gesamt zu begutachten. Somit könnte das Bewertungsmodell dann verwendet werden, um andere Fachrichtungen zu evaluieren. Neun Professoren von außerhalb Großbritanniens – Mexiko, Norwegen, Australien, Indien und den USA – wurden gebeten, eine Woche damit zu verbringen, Fachbereiche zu be-

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suchen und ihre eigenen Bewertungskriterien vorzuschlagen. Ich war einer dieser Professoren. Wir wurden insbesondere aufgefordert, Stärken und Schwächen von Fachbereichen herauszufinden und neue und neu auftauchende Gebiete von Exzellenz zu identifizieren, die unterstützt werden sollten. Trotz unseres positiven Auftrags betrachteten uns die meisten Fachbereiche mit Misstrauen und Argwohn, denn sie wenden ausgesprochen viel Zeit für andere Überprüfungen auf und rechtfertigen nicht nur all ihre Ausgaben, sondern auch die Existenz der Programme selbst. Unser Abschlussbericht ist online verfügbar, daher werde ich nicht näher darauf eingehen. Hier soll es genügen, darauf hinzuweisen, dass wir uns für mehr Unterstützung von Aufbaustudien, für mehr Post-Doc-Stipendien und für mehr Feldarbeit und Berichtszeiten aussprachen. Was ich hier betonen möchte, ist, dass nicht die Grundsätze der Partizipation die Motivation bildeten, weder für die quantitativen noch für die qualitativen Audits. Vielmehr waren beide getrieben vom Prinzip der Rechenschaftslegung, waren Versuche, die Qualität und die Richtung des Lernens mit Hilfe von Experten zu bewerten und die Angemessenheit und die Effizienz der Ausbildung für Lehre und Forschung sicherzustellen. Die Frage ist, ob diese britischen Bewertungen, die auf der Autorität von Experten beruhen, zu effektiveren Rechenschaftslegungsmechanismen führen als die breite Beteiligung von Studenten mit minimalen Kenntnissen wie im amerikanischen Modell. Beide, sowohl die Top Down-Bewertung in Großbritannien wie die von den Studenten ausgehende Evaluierung in Princeton, sind Gegenstand der Kritik, die Bill Readings (1997) in seinem gut aufgenommenen Buch The University in Ruins formuliert hat. Er argumentiert, dass die Universität im Dienste einer nationalen demokratischen Kultur zu stehen pflegte, die mittlerweile desintegriert ist, und dass sie nun stattdessen eine leere „Exzellenz“ ohne Inhalt verfolgt. Um Exzellenz zu verfolgen, haben sowohl die USA als auch Großbritannien zunehmend in Evaluierungsverfahren investiert, einschließlich Prüfungsprozeduren, die nicht den Inhalt von Kursen messen oder Bildung ermutigen, sondern Bildung übersetzen in einer Konsumentenhaltung entsprechende Ergebnisse wie Effizienz der Dienstleistungen, brauchbare Titel und unechte Qualifikationen. Readings unternimmt den Versuch einer wichtigen Unterscheidung zwischen Verfahren der Buchprüfung (accounting) und einer Idee von Rechenschaftspflicht (accountability), die stattdessen massendemokratischen Zielen dienen könnte. Nichtsdestotrotz sind wir ratlos, wenn wir spezifizieren sollen, wie Messgrößen für Rechenschaftspflicht aussehen sollten. Im britischen Kontext institutionalisierten die von Thatcher initiierten Reformen eine Audit-Kultur, die eher dem Accounting und nicht der Accountability entspricht. Verwaltungen haben sich zunehmend Audits zugewandt, wie auch Audits von Auditoren, um deren Wert einzuschätzen (Power 1999). Um die Entscheidungsfreiheit von Studenten zu vergrößern, Flexibilität in der Lehre und Wettbewerb zwischen Universitäten zu steigern und einen stärker

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ergebnisorientierten Unterricht zu fördern, hat das britische Bildungssystem Bildung großteils zu einem vermarktbaren Gut umdefiniert, während gleichzeitig die Ausgaben für das Bildungssystem gekürzt wurden, nach manchen Angaben sogar um mehr als 40% (Rustin 1998).3 Noch heute machen britische Universitäten im Vergleich zu amerikanischen oder österreichischen Universitäten einen armen Eindruck, obwohl die Mittel für Forschung und Gehälter mittlerweile aufgestockt wurden. Der Leistungsvergleich, an dem ich teilgenommen habe, passt in dieses Bild, insofern es zu einem gewissen Grad die Erkenntnis der Unangemessenheit einer quantitativen Überprüfung nach Art eines wirtschaftlichen Unternehmens gab, wie auch die Erkenntnis, dass universitäre Programme, insbesondere die Lehre, nach anderen, eher qualitativen und individualisierten Kriterien bemessen werden müssen. Wir waren schließlich mit unserer Forderung nach mehr Mitteln erfolgreich, obwohl ich zugeben muss, dass wir in Bezug auf die Entwicklung irgendeines Standards zur Überprüfung von Exzellenz nicht erfolgreich waren. Angesichts der Wirkmächtigkeit quantitativer Bewertungen nach Art der Audits ist es jedoch zweifelhaft, ob es einer qualitativen Evaluierung gelingen kann, das Audit-Bewertungsmodell zu ersetzen oder auch nur dessen Verbreitung zu verlangsamen.

4. Österreichische Evaluierungen Der österreichische Fall, den ich hier anführen möchte, ist ganz anders geartet, da ich mich nicht mit dem österreichischen Universitätswesen beschäftige, sondern mit dem Versuch, ein Kulturinstitut internationaler Exzellenz außerhalb der Universität zu schaffen. Die Befürchtung war, dass das Institut, wenn es innerhalb der Universität gegründet wird, sofort in ein provinzielles nationales Kulturmodell eingebunden würde, anstatt die Internationalisierung von Themen und Stipendiaten zu unterstützen. Die Logik dieses Instituts kompliziert Bill Readings’ Interpretation, dass der Niedergang der Universität dem Fehlen von Investitionen in nationale Kultur geschuldet sei, denn in Österreich erfordert das Erreichen von Exzellenz oder deren Beibehaltung, dass man sich außerhalb der nationalen Kultur begibt und diese mit Wissenschaftlern von außerhalb anreichert. Ich war neun Jahre lang Mitglied des internationalen Beirats des IFK, des Internationalen Forschungsinstituts für Kulturwissenschaften, von 2000 bis 2008. Das Institut hat einen rotierenden Beirat mit neun ––––––––––––––––––

3 Sie können dieser Kritik von Universitäten als elitär zwei weitere Faktoren hinzufügen, die die Autorität der Universitätsangehörigen unterminieren: erstens, die Auswirkungen der postmodernen Kritik am Wissen, die aus einer anderen Perspektive kommt und argumentierte, dass die Akademie nicht Wahrheit hervorbringt, sondern lediglich Wahrheitseffekte in einem Wissen-Machtspiel; zweitens, dass mit dem Rückgang der Familiengrößen und dem Anstieg vernarrter Eltern die zunehmend narzisstischen Kinder nicht nur weniger wahrscheinlich der Autorität ihrer Eltern gehorchen, sondern auch der Disziplin Widerstand entgegensetzen, die von einer älteren Generation von Professoren gefordert wird.

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Mitgliedern, die jeweils für drei Jahre und insgesamt für maximal drei Funktionsperioden bzw. maximal neun Jahre bestellt werden. Gemessen an der stetig gestiegenen Unterstützung durch den österreichischen Staat und an der Einschätzung des IFK bezüglich seines eigenen Einflusses auf die intellektuelle Landschaft war das IFK ziemlich erfolgreich in Hinblick auf seine Zielsetzungen. Österreichische Wissenschaftler sind mit verschiedenen theoretischen und methodologischen Ansätzen, mit fachspezifischen und mit transdisziplinären Ansätzen des Studiums von Kultur in den Humanwissenschaften und in den Sozialwissenschaften in Kontakt gekommen. Das Modell der Evaluierung – verschiedene internationale Wissenschaftler bewerten andere internationale Wissenschaftler, ähnlich dem Leistungsvergleich in Großbritannien – hat sich in einem großen Teil des Westens etabliert und sich als weniger anfällig, wenngleich nicht immun gegenüber Vetternwirtschaft oder gegenüber anderen Arten bildungsbezogener Korrumption erwiesen. Zugleich hat es durch das Aufrechterhalten eines international besetzten Beirats mit internationalem Ansehen (im österreichischen Fall waren insbesondere die israelischen Mitglieder wichtig) die Politiker auf Distanz gehalten, bei gleichzeitiger Beibehaltung der Unterstützung.

5. Rechenschaft, Demokratie, und Bildung Was ist die Verbindung zwischen diesen Messgrößen für Rechenschaftslegung und Demokratie und Bildung? In dem Sinne von Bildung, wie er von Wilhelm von Humboldt entwickelt worden ist, schließt Bildung Erziehung zu einem Modell der Selbstbestimmung ein: aktive Individuen, die die Kontrolle und Verantwortung für ihr künftiges Lernen übernehmen. Was Bildung der Demokratie bringen könnte, ist ein angemesseneres oder kritisches Verständnis der Mechanismen der Rechenschaftslegung, der Kontrolle von Macht und der Befugnisse derer, die sie ausüben. Entsprechend, so ist zu hoffen, werden die Bürger Machtbefugnissen kritischer gegenüberstehen und wachsamer sein gegenüber einer Kontrolle ihres eigenen Denkens. Dagegen führt die zunehmende Rationalisierung des Lernens eher zu einer effizienteren Verbraucherentscheidung als zu charakterlicher Bildung und unterwirft die Universität einer engen Marktlogik. Was weniger wichtig wird, ist Bildung im Sinne von Berufung oder als Ziel für die Massen. So wie das Hören von Musik, das Ansehen von Fußballspielen, das Lesen eines Buches oder der Besuch eines Kinos ist das Lernen eine Aktivität, die einen Wert in sich selbst hat, jenseits irgendwelcher Standards von Effizienz oder von Profitmaximierung. Und wie diese anderen Aktivitäten kostet Lernen Zeit und Geld. Die Universitäten breiter zugänglich zu machen wird gleichzeitig dazu führen, ein kritischeres Publikum hervorzubringen, dass nur dann in der Lage sein wird, Demokratie zu lenken, wenn die Studenten verunsichert werden, wenn sie zur Selbstreflexion heraus-

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gefordert werden, wenn sie an kritische Inhalte in der Lehre herangeführt werden. Mit Sicherheit zeugen die kontinuierliche Unterstützung der letzten acht Jahre, die die amerikanischen Öffentlichkeit für die Bush-Administration gezeigt hat, sowie die massenhafte Heiligenverehrung der Reagan-Administration der 80er Jahre von der Unfähigkeit vieler Amerikaner, kritische Beurteilungen zu treffen – mit anderen Worten, vom Versagen des amerikanischen Universitätssystems. In dieser Hinsicht müssen wir auf Inhalt in den Bildungsangeboten achten, etwas, dem die meisten Professoren von ganzem Herzen Widerstand entgegenbringen würden, weil es ihre Freiheit der Lehre bedroht.

Schlussfolgerung Ich komme zum Ende mit einer Liste ungelöster, möglicherweise unlösbarer Paradoxa in Hinblick auf die Verwendung von Dozenten-Evaluierungen: Auf der positiven Seite können Evaluierungen demokratische Teilhabe verbessern und zugleich ineffiziente Lehrende disziplinieren; sie führen Rechenschaftspflicht ein und verbessern die Transparenz der Lehre, um sicherzustellen, dass Studenten fair behandelt werden. Aber Transparenz verbessert nicht zwangsläufig die Qualität der Lehre, und sie fördert gewöhnlich Irreführung und Inflexibilität (wie etwa Studenten in Hinblick auf die Prüfungen und die Evaluierungen zu unterrichten, oder Lernpläne beizubehalten, die Studenten gefallen, aber ganz offensichtlich wenig kritische Arbeit leisten). Indem sie eine andere Ebene der Explizitheit der Darstellung einführt, verengt Transparenz vorzeitig die Bandbreite möglicher Fragen auf das, was bereits antizipiert werden kann. Sicher, explizite Ziele sind wichtig, aber es ist höchst fraglich, ob Universitäten spezifische Fähigkeiten lehren sollten, wie lesen, schreiben oder analysieren, ohne dem Inhalt Aufmerksamkeit zu schenken, oder ob sie für Berufe mit leicht verfügbaren Stellen auf dem momentanen Arbeitsmarkt ausbilden sollen. Studenten anzubieten, an der Evaluierung ihrer Dozenten teilzuhaben und hier mitzuentscheiden, mag die Gleichheit unter den Studenten verbessern, aber letztlich muss für die Entscheidungen von Studenten der Inhalt ausschlaggebend sein, ansonsten wäre der Preis für mehr Entscheidungsmöglichkeiten, dass eine geringere Qualität zur Auswahl steht. In der Summe riskiert das von den Studenten ausgehende Ziel, Demokratie durch Teilhabe zu lernen, zu einer nichtssagenden Übung in Rechenschaftslegung zu werden, weil es vermeidet, den Inhalt der Lehre zu evaluieren, die tatsächlichen Ideen und Konzepte, die gelehrt werden. Der Fokus tendiert dazu, sich vom vermittelten Wissen auf den pädagogischen Appeal des Professors zu verlagern. Das britische Ziel von Effizienz und einer Wahlmöglichkeit für Verbraucher in der Bildung erfordert eine immer weiter fortschreitende Rationalisierung der Kursinhalte und der Ergebnisse des Unterrichtens, die zunehmende Transparenz von Lehrplänen ermutigt eine Politik marktorientierter Ergebnisse, die in

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keiner Weise zur kritischen demokratischen Funktion der Universität beitragen. Das österreichische Ziel, Exzellenz jenseits der Grenzen der eigenen Kultur zu produzieren, suggeriert die Notwendigkeit, die Entropie nationaler Bildungssysteme zu bekämpfen und Methoden zu finden, Politiker aus Bildungsdebatten herauszuhalten. Aber da Exzellenz nicht allgemein vorhersagbar ist, könnte auch das Urteil international anerkannter Wissenschaftler in seiner Bewertung von Versprechen für die Zukunft falsch sein. Schließlich erscheinen alle drei Verwendungen von Evaluierung als Reaktionen auf eine gestiegene Nachfrage nach einem Zugang zu qualitätsvoller Bildung in drei Demokratien, zu einem Zeitpunkt, wo die Qualität von Bildung in großem Ausmaß einen Niedergang erlebt hat und es nicht länger Übereinstimmung gibt, dass Bildung auf eine nationale Kultur abzielen sollte, oder auf kritisches Denken, das seinerseits skeptische und bewusste Bürger hervorbringt. Die Hinwendung zu Evaluierungen ist in jedem dieser Fälle ein methodisches, prozedurales Geschehen, das an die Stelle einer stärker inhaltsorientierten Auseinandersetzung tritt, deren möglichem Ausgang wir alle vorsichtig gegenüberstehen, nämlich zu bestimmen, welchem Zweck Bildung dienen soll und wer in Forschung, Lernen und Lehre an der Universität ein- bzw. davon ausgeschlossen werden soll. Aus dem Amerikanischen von Ursula Liebing

Literatur Power, Richard: The Audit Society: Rituals of Verification. Oxford 1999: Oxford University Press. Readings, Bill: The University in Ruins. Cambridge 1997: Harvard University Press. Rustin, Michael: The Perverse Modernisation of British Universities. In: Soundings 8, 1998, S. 83-89. Shore, Chris/Wright, Susan (Hg.): Anthropology of Policy: Critical Perspectives on Governance and Power. London 1997: Routledge (EASA Series). Strathern, Marilyn (Hg.): Audit Cultures. Anthropological Studies in Accountability, Ethics and the Academy. London 2000: Routledge.

III. Bildung, Diversität, Partizipation

Christoph Wulf

FRIEDENSKULTUR UND ERZIEHUNG ZUM FRIEDEN Perspektiven für eine zukunftsfähige Bildung

Werte und Aufgabenfelder einer Friedenskultur Zwar kann Bildung einen Beitrag zur Erhaltung des Friedens leisten, doch vermag sie ihn nicht zu sichern. Um die Friedensfähigkeit von Menschen und Gesellschaften zu entwickeln, bedarf es unzähliger Bemühungen. Erst ein Zusammenwirken vieler Menschen in allen Bereichen der Gesellschaft schafft Lebensbedingungen, in denen sich die Gewalt zwischen Menschen und gegenüber der Natur reduzieren und in denen sich soziale Gerechtigkeit verbessern lässt. Seit einigen Jahren wird daher immer wieder die Notwendigkeit betont, eine Kultur des Friedens zu schaffen, in deren Rahmen sich die gesellschaftlichen Strukturen verändern und sich die Handlungen der Menschen an den Werten des Friedens orientieren. In dem im „Internationalen Jahr des Friedens 2000“ von der UNESCO veröffentlichten Manifest werden sechs Werte einer Friedenskultur genannt, die eine Selbstverpflichtung der Unterzeichner darstellen, zu der sich bisher mehr als 75 Millionen Menschen in Bezug auf ihr Handeln in Alltag und Familie, Gemeinschaft und Arbeitswelt bekannt haben. Zu diesen Werten gehören: Achtung vor der Würde des Menschen, gewaltfreie Konfliktbearbeitung, Solidarität, Zivilcourage und Dialogbereitschaft, nachhaltige Entwicklung, demokratische Beteiligung. Welche Handlungen aus diesen Werten und Dispositionen entstehen, hängt von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und dem historischen und kulturellen Kontext ab. Daher gibt es in den verschiedenen Regionen der Welt unterschiedliche Formen der Verwirklichung dieser Werte. Um in der Realisierung einer Kultur des Friedens voran zu kommen, bedarf es der Berücksichtigung allgemeiner Prinzipien und Normen auf der Grundlage gemeinsamer Werte. Zu diesen gehören erstens ein Pluralismus durch Anerkennung kultureller Vielfalt, zweitens die Berücksichtigung der Menschenrechte und drittens die Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Um einen Beitrag zu einer Kultur des Friedens und der menschlichen Entwicklung in einer Zeit der Globalisierung durch Erziehung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation zu leisten, bedarf es der wechselseitigen Bezugnahme folgender Handlungsfelder aufeinander (UNESCO, Medium Term Strategy 2002-2007):

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Kultur des Friedens durch Erziehung; Nachhaltige ökonomische und soziale Entwicklung; Achtung aller Menschenrechte; Gleichstellung zwischen Frauen und Männern; Demokratische Partizipation; Verständnis, Toleranz und Solidarität; Partizipative Kommunikation und freier Informations- und Wissensfluss; Internationaler Frieden und Sicherheit.

Wenn von einer Friedenskultur die Rede ist, dann reicht dazu eine Bestimmung der Werte des Friedens nicht aus. Ebenso wichtig ist es, sich darüber klar zu werden, was in diesem Kontext unter Kultur zu verstehen ist. Wie Frieden, so ist auch Kultur ein allgemeiner Begriff, unter den viele heterogene Aspekte gefasst werden. Im Weiteren wird Friedenskultur bestimmt als „a set of values, attitudes, modes of behaviour and ways of life that reject violence and prevent conflicts by tackling their root causes to solve problems through dialogue and negotiation among individuals, groups and nations“ (UN Resolutions A/RES/ 52/13: Culture of Peace). Da es sich bei der Erziehung um kulturelle Praktiken handelt, die zum „immateriellen“ Kulturerbe gehören, wird den weiteren Ausführungen ein Kulturbegriff zugrunde gelegt, in dessen Rahmen Kultur verstanden wird als „the practices, representations, expressions, knowledge, skills – as well as the instruments, objects, artefacts and cultural spaces associated therewith – that communities, groups and, in some cases, individuals recognize as part of their cultural heritage“ (UNESCO: Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage, 2003). In diesem Verständnis ist Kultur dynamisch und wird von Generation zu Generation weitergegeben. In Antwort auf ihr Umfeld, im Austausch mit der Natur und ihren historischen Voraussetzungen wird sie immer wieder neu geschaffen. Kultur vermittelt Sinn für Kontinuität und Diversität. Dabei sollen sich die kulturellen Praktiken an Nachhaltigkeit orientieren und die Menschenrechte achten. Die mit dem Begriff „Kultur“ meistens einhergehende positive Einschätzung bedarf einer prinzipiellen Ergänzung. Kultur kann positiv und negativ bewertete Aspekte umfassen. Wie es eine Friedenskultur gibt, so gibt es auch eine Kultur der Gewalt bzw. des Krieges, ohne dass es immer möglich wäre, diese beiden „Kulturen“ präzise zu unterscheiden. Die Einschätzung, ob es sich um eine Kultur des Friedens oder der Gewalt handelt, hängt auch von der Perspektive und dem Kontext der Bewertung ab. So können zu einem Zeitpunkt als gewalthaltig bewertete Handlungen nach Jahren als Befreiungshandlungen angesehen werden, bei denen, um Schlimmeres zu verhindern, die Anwendung von Gewalt unerlässlich war.

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Die Milleniumsziele: „Bildung für Alle“ als ein Schwerpunkt einer Kultur des Friedens Um eine Kultur des Friedens zu verwirklichen, bedarf es einer grundsätzlichen Umorientierung vieler kultureller Bereiche und des Zusammenwirkens der auf die Realisierung von Frieden und sozialer Gerechtigkeit gerichteten Bemühungen. Selbst wenn ein solcher Versuch einen utopischen Charakter hat, wird dadurch sein Wert nicht verringert; doch werden die Schwierigkeiten seiner Realisierbarkeit erkennbar und können mit verstärktem Einsatz angegangen werden. Einen wichtigen Beitrag zur Realisierung einer Kultur des Friedens stellen die Milleniumsziele und die an sie gekoppelten Initiativen der Weltgemeinschaft dar. Sie orientieren sich an zentralen Werten einer Friedenskultur und fokussieren alle Anstrengungen auf die Bekämpfung von Armut. Armut macht es fast unmöglich, sich an der Entwicklung einer Kultur des Friedens zu beteiligen; sie ist vielmehr Ausgangspunkt für die Entstehung und Ausbreitung von Not und Gewalt. Armutsbekämpfung gehört zu den zentralen Aufgaben, bei denen die Weltgemeinschaft und die Betroffenen zusammenarbeiten müssen. Nur durch die Verstärkung aller Anstrengungen in den interdependenten Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesundheit und Bildung kann es gelingen, Armut und besonders extreme Armut zu verringern und damit einen Beitrag zur Entwicklung einer Kultur des Friedens zu leisten. Noch immer haben mehr als eine Milliarde Menschen täglich weniger als einen Dollar zum Leben; über 700 Millionen Menschen hungern und sind unterernährt. Mehr als eine Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Über 115 Millionen Kinder im Primarschulalter haben keine Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen. Angesichts dieser Situation verpflichteten sich daher reiche und arme Länder auf dem Millenium-Gipfel der Vereinten Nationen im September 2000, bis zum Jahre 2015 alles zu unternehmen, um die Armut und die extreme Armut in der Welt zu halbieren und gemeinsam zur Verwirklichung der Achtung der menschlichen Würde, der Gleichberechtigung, der Demokratie, der ökologischen Nachhaltigkeit und des Friedens beizutragen. Um diese globalen Ziele zu erreichen und zur Zukunftssicherung der Menschen beizutragen, wurden die folgenden vier Handlungsfelder festgelegt: 1) Frieden, Sicherheit und Abrüstung, 2) Entwicklung und Armutsbekämpfung, 3) Schutz der gemeinsamen Umwelt, 4) Menschenrechte, Demokratie sowie gute Politik und Verwaltung (governance). Dieses Anliegen der Weltgemeinschaft soll mithilfe der folgenden acht Milleniumentwicklungsziele realisiert werden: 1. Bekämpfung von extremer Armut und Hunger mit dem Ziel, die Zahl der Menschen zu halbieren, die weniger als einen Dollar pro Tag zum Leben haben, 2. Vollständige Primarbildung für Jungen und Mädchen,

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3. Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frauen, 4. Reduzierung der Kindersterblichkeit (Senkung der Rate der Kinder unter fünf Jahren um zwei Drittel), 5. Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern (Senkung der Sterblichkeitsrate der Mütter um drei Viertel), 6. Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen schweren Krankheiten, 7. Ökologische Nachhaltigkeit, 8. Aufbau einer globalen Entwicklungspartnerschaft. Die Verwirklichung des Milleniumentwicklungsziels „Vollständige Primarbildung für Jungen und Mädchen“ ist auch das zentrale Anliegen des Weltbildungsforums 2000 in Dakar, mit dessen Aktionsplan „Bildung für Alle“ (Education for all, EFA) eine grundlegende Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für alle Menschen bis zum Jahre 2015 erreicht werden soll. Die zentralen Ziele dieses Programms lauten (Deutsche UNESCO-Kommission 2006): – Frühkindliche Förderung und Erziehung soll ausgebaut und verbessert werden, insbesondere für benachteiligte Kinder. – Alle Kinder – insbesondere Mädchen, Kinder in schwierigen Lebensumständen und Kinder, die zu ethnischen Minderheiten gehören – sollen Zugang zu unentgeltlicher, obligatorischer und qualitativ hochwertiger Grundschulbildung erhalten und diese auch abschließen. – Die Lernbedürfnisse von Jugendlichen sollen durch Zugang zu Lernangeboten und Training von Basisqualifikationen (life skills) abgesichert werden. – Die Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen, besonders unter Frauen, soll bis 2015 um 50% erhöht werden. Der Zugang von Erwachsenen zu Grundund Weiterbildung soll gesichert werden. – Das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundarbildung soll überwunden werden; bis 2015 soll die Gleichberechtigung der Geschlechter im gesamten Bildungsbereich erreicht werden. – Die Qualität von Bildung muss verbessert werden. Diese Ziele einer Grundbildung für alle sind von der internationalen Staatengemeinschaft ausdrücklich anerkannt worden. Neben der Erhöhung der Entwicklungshilfe dient der Schuldenerlass der Geberländer als wichtiger Weg, die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Der Verzicht auf die Subventionierung der Produktion von Lebensmitteln in der Europäischen Union und in anderen Industrienationen wäre ein weiteres wirksames Mittel, die finanziellen Möglichkeiten der Entwicklungsländer für den Ausbau ihrer Bildungssysteme zu verbessern, dessen Einsatz allerdings bisher keine ausreichende Unterstützung findet. Die im Bildungsbereich bisher erzielten Fortschritte sind erheblich. Doch reichen sie nicht aus, die Ziele einer „Bildung für Alle“ zu verwirk-

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lichen, so dass es in den nächsten Jahren einer weiteren Intensivierung der Anstrengungen bedarf. In jedem Jahr wird im Rahmen des Programms „Bildung für Alle“ ein Bildungsbericht erarbeitet, in dem in einer umfangreichen Untersuchung zu einem Querschnittsthema des globalen Bildungswesens Bilanz gezogen wird. Bisher liegen folgende Berichte vor: 2007: frühkindliche Bildung; 2006: Literalität; 2005: Bildungsqualität; 2003/4: Gleichheit im Bildungswesen; 2002: Wege internationaler Bildungspolitik. Mit Hilfe dieser Bildungsberichte soll der Weltöffentlichkeit Rechenschaft darüber abgelegt werden, wie weit die internationale Staatengemeinschaft in der Verwirklichung des Aktionsplans „Bildung für Alle“ gelangt ist. Im Rahmen dieser Anstrengungen, allen Kindern eine Grundbildung zu vermitteln, spielt die Erziehung von Kindern in drängenden Notlagen („education in emergencies“) eine besondere Rolle. In diesem sich allmählich ausweitenden Arbeitsfeld besteht die Aufgabe darin, Kindern in Krisengebieten nach Kriegen und Naturkatastrophen eine Grundbildung zu vermitteln, die dazu beiträgt, dem Alltag dieser Kinder Ordnung und Sinn und Stabilität zu vermitteln. In diesen Gebieten chronischer Not und Instabilität bedarf es auch der kurzfristigen Hilfe internationaler Organisationen in besonderem Maße (Bensalah 2002; Nicolai/Tripleton 2003). „Bildung für Alle“ ist das bei weitem größte und mittelintensivste Bildungsprogramm der UNESCO. Mehrere um die Jahrtausendwende verabschiedete Konventionen, Programme und Dekaden ergänzen den Aktionsplan. Zu diesen gehören Maßnahmen für Bildung zur Erhaltung bzw. Verwirklichung von Frieden, für einen kreativen Umgang mit kultureller Vielfalt sowie für Nachhaltigkeit. Diese drei Dimensionen zukunftsfähiger Bildung akzentuieren unterschiedliche, sich überschneidende Aufgaben, die den normativen Rahmen für eine „Bildung für Alle“ in der Weltgesellschaft schaffen.

Friedenskultur als Aufgabe der Religionen und Künste: das Beispiel Europas und seiner muslimischen Nachbarn Diese Anstrengungen im Bereich einer „Bildung für Alle“ schaffen unerlässliche Voraussetzungen für die Entwicklung einer Friedenskultur. Doch reichen sie nicht aus. Im Bereich der Bildung bedarf es weiterer Anstrengungen, auf die im nächsten Abschnitt noch einzugehen ist. Neben Bildung müssen auch Religion und Künste ihre Möglichkeiten wahrnehmen, einen Beitrag zur Schaffung einer Friedenskultur zu leisten. An den beiden vorherigen Projekten des Netzwerks „Philosophie und Anthropologie des Mittelmeerraums“, die von der Deutschen UNESCO-Kommission, der Anna-Lindh-Stiftung und dem Auswärtigen Amt gefördert wurden, sei dies verdeutlicht. Im ersten Projekt ging es darum herauszuarbeiten, welche Möglichkeiten die drei monotheisti-

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schen Religionen und besonders das Christentum und der Islam haben, einen Beitrag zu einer Kultur des Friedens zu leisten (Wulf/Poulain/Triki 2006). Im zweiten Projekt galt es zu zeigen, welche Möglichkeiten die Künste haben, den Dialog zwischen den Kulturen und die interkulturelle Verständigung zu fördern (Wulf/Poulain/Triki 2007). In beiden Fällen bearbeiteten die Projekte ihr Anliegen mit Beiträgen aus mehreren europäischen und mehreren islamisch geprägten Ländern. Gewalt, Religion und interkulturelle Verständigung Im ersten Projekt ging es darum, die gewalthaltigen Seiten beider Religionen herauszuarbeiten, die besonders zu Tage treten, wenn ihre Vertreter davon ausgehen, dass ihre Religion im alleinigen Besitz der (göttlichen) Wahrheit sei und diese politisch eingesetzt werden könne. Für diese Haltung finden sich in allen Religionen Beispiele, die besonders nachhaltig wirken, wenn sich eine Religion mit Kolonialismus oder mit Terrorismus verbindet. Für die Christen bedeutet das, sie müssen erkennen, dass Terrorismus und djihadistischer Islamismus nicht mit dem Islam identisch sind. Obwohl diese Gruppierungen von der Überlegenheit des Islams über alle Nicht-Muslime ausgehen und diese als Ungläubige mit Gewalt bekämpfen, ist der Islam nicht weniger eine Religion des Friedens als Christentum und Judentum. Auch im Christentum hat es immer wieder religiös begründete Gewalt gegeben, die mit dem Friedensgebot nicht vereinbar war. Erinnert sei an die Kreuzzüge, die Kriege gegen die Katharer, die Verfolgungen durch die Inquisition, die Missionskriege in Südamerika und die Religionskriege in Europa. Auf der Grundlage der Erkenntnis und des Eingeständnisses der Gewaltseite jeder Religion und der damit verbundenen Mechanismen der Inklusion und Exklusion wird es möglich, auch nach den anderen Dimensionen der Religion zu suchen, in denen der Frieden und die Achtung der Würde des Menschen im Mittelpunkt stehen. Hier ergeben sich Gemeinsamkeiten, die häufig von einseitigen Auffassungen, Stereotypen und Feindbildern verdeckt werden. Gelingt es, die kulturelle Dynamik der Religionen statt für Krieg und Gewalt für den Dialog zwischen den Kulturen und für die interkulturelle Verständigung einzusetzen, so können Religionen wie im hier skizzierten Beispiel zu wichtigen Kräften der Völkerverständigung und des Friedens werden. Gerade wegen ihres alle Grundfragen des menschlichen Lebens betreffenden Charakters können sie konstruktive und destruktive Kräfte mobilisieren. Für das gegenwärtige und zukünftige Verhältnis zwischen den Angehörigen europäischer und islamisch geprägter Länder ist es von besonderer Bedeutung, die Potentiale der Religionen für die Gestaltung einer Kultur des Friedens zu nutzen.

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Die Künste im Dialog der Kulturen Im Unterschied zu vielen anderen Formen sozialen und kulturellen Austauschs haben die Künste keine über sie und die ästhetische Erfahrung hinausgehende Funktion. Im Gegenteil, häufig widersetzen sie sich den Versuchen, sie zu funktionalisieren. Die Künste sind wichtige Zugangsformen zum Imaginären einer Kultur. In ihnen artikulieren sich kulturelle Traditionen und Umbrüche, für die Darstellung und Ausdruck gesucht werden. Wie die Religionen, so sind auch die Künste eng mit den Fragen individueller und kollektiver Identität verbunden. Beide haben die Möglichkeit, Menschen Einsichten in die Identität und in das Selbstverständnis der eigenen und der anderen Kulturen zu vermitteln. Da die Künste in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht relativ große Spielräume haben, vollzieht sich die Begegnung mit ihnen auch in einem von Handlungszwängen entlasteten Freiraum, in dem auch ästhetische Erfahrungen möglich werden, die nicht an Sprache und Rationalität gebunden sind. Über die von ihnen vermittelten sinnlichen Erfahrungen beeinflussen und verändern die Künste die Gefühlswelt ihrer Adressaten. Sie führen zur Begegnung mit dem Fremden und initiieren Bildungsprozesse. In einem von Achtung und Toleranz bestimmten Dialog zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen, in dem vom Reichtum kultureller Diversität ausgegangen wird, kann die Bedeutung von Kunst, Literatur und Musik für das interkulturelle Verständnis kaum überschätzt werden. Im Dialog der Kulturen wird die eigene Weltsicht durch die Begegnung mit Werken aus anderen Kulturen erweitert und bereichert. Häufig können dabei Erfahrungen der Alterität zugelassen werden, die zu einem spielerischen Umgang einladen, von dem keine das zukünftige Handeln bestimmenden Ergebnisse erwartet werden. Die Künste erlauben einen ludischen Umgang mit Differenz und kultureller Vielfalt, aus dem sich neue Erfahrungen und Einsichten ergeben. Manchmal entstehen dabei Faszination und Annäherung, manchmal Zurückhaltung und Distanzierung. Beide Bewegungen sind gewaltfrei und Ergebnis freier Entscheidungen. Gerade angesichts schwieriger politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse haben im Dialog der Kulturen die Künste bisher nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten zur interkulturellen bzw. transkulturellen Verständigung beizutragen.

Erziehung zum Frieden: Gewalt und soziale Gerechtigkeit, kulturelle Diversität und Nachhaltigkeit Für die Entwicklung einer Kultur des Friedens spielt eine Erziehung zum Frieden eine zentrale Rolle. Sie fokussiert heute drei miteinander verschränkte Bereiche, in denen es um einen an den Menschenrechten orientierten konstruktiven Umgang mit Gewalt und sozialer Gerechtigkeit, kulturelle Diversität und Nachhaltigkeit geht. Bei der Analyse von Gewalt und der Behandlung von

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Fragen der sozialen Gerechtigkeit greift Friedenserziehung auf mehrere Jahrzehnte intensiver Erziehung zum Frieden zurück (Wulf 1973; Calließ/Lob 1987/88; Gugel 1995; Burns 1996; Wintersteiner 2003; Seitz 2004; Nipkow 2007). Beim Umgang mit kultureller Diversität stützt Friedenserziehung sich auf Erfahrungen im Bereich interkultureller bzw. transkultureller Bildung, die im Zusammenhang mit Globalisierung und Europäisierung seit mehr als zwei Jahrzehnten erheblich an Bedeutung gewonnen haben (Wulf 1995; Wulf/Merkel 2002; Auernheimer 2003; Krüger-Potratz 2005; Wulf 2006; Göhlich u. a. 2006). Angesichts der verstärkten Nachfrage nach immer knapper werdenden Ressourcen und dem damit verbundenen Problem intergenerationaler Gerechtigkeit gewinnt Nachhaltigkeit als Referenzpunkt friedenspädagogischer Arbeit immer mehr an Bedeutung (de Haan/Seitz 2001; Nationaler Aktionsplan für Deutschland 2005; Wulf/Newton 2006). Mit diesen drei Problemen thematisiert Friedenserziehung die zentralen für das Überleben der Menschheit wichtigen Fragen. Gewalt und soziale Gerechtigkeit Aufgrund der modernen Waffen ist die Bedrohung der Menschen durch Krieg und Gewalt nach wie vor sehr groß. Frieden ist zu der Voraussetzung menschlichen Lebens geworden. Von seiner Erhaltung bzw. Herstellung hängt heute nicht nur das Leben einzelner Menschen, Generationen oder Nationen, sondern das der Menschheit insgesamt ab. Daher ist es unerlässlich, im Rahmen von Bildung die Voraussetzungen und die Bedingungen von Krieg, Gewalt und materieller Not zu behandeln und nach Wegen zu suchen, zu ihrer Verminderung beizutragen. Erziehung zum Frieden stellt den Versuch der Erziehung dar, einen Beitrag zum Abbau dieser Bedingungen zu leisten. Dabei verkennt sie nicht, dass Krieg und Gewalt vielfach makrostrukturell verursachte Systemprobleme sind, deren Verringerung mit Hilfe der Erziehung nur teilweise möglich ist. Friedenserziehung geht davon aus, dass die konstruktive Auseinandersetzung mit den die Menschheit heute bewegenden großen Problemen Teil eines lebenslangen Lernprozesses sein muss, der in der Kindheit beginnen und im späteren Leben nicht abreißen sollte. In Deutschland wird Friedenserziehung als Teil politischer Bildung verstanden. Seit den siebziger Jahren unterscheidet sie sich von früheren Bemühungen, die in den sechziger Jahren „Erziehung zur Völkerverständigung“ als Friedenserziehung begriffen, von der durch Aggression gefährdeten prinzipiellen Friedfertigkeit der Menschen ausgingen und Frieden vor allem für eine Frage moralischen Verhaltens hielten. Auch unterscheidet sich Friedenserziehung von Bemühungen, denen es im Bewusstsein der aggressiven Triebstruktur des Menschen um das Lernen friedlichen Verhaltens ging und die betonten, die persönliche Friedenssehnsucht werde zum politischen Frieden führen. Die Vorstellung, der Krieg beginne in den Köpfen der Menschen und müsse

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dort bekämpft werden, ist für diese Positionen charakteristisch. Es komme vor allem darauf an, das Bewusstsein der Menschen zu verändern, um gesellschaftliche Bedingungen mit einem höheren Maß an Gerechtigkeit zu verwirklichen. So wichtig diese Bemühungen zur Verbreitung einer Kultur des Friedens sind, sie reichen nicht aus; es bedarf einer weiter reichenden Auseinandersetzung mit der Friedensproblematik. Erziehung zum Frieden muss nach wie vor auch auf zentrale Leitvorstellungen wie „organisierte Friedlosigkeit“, „strukturelle Gewalt“, „soziale Gerechtigkeit“ zurückgreifen, wie sie die Friedensforschung in den sechziger und siebziger Jahren entwickelte (Galtung 1973). Diese Vorstellungen machen den gesellschaftlichen Charakter des Friedens deutlich und schützen vor Allmachtsphantasien und naiven Problemreduktionen. Nach Galtungs noch immer sinnvoller Unterscheidung wird unter Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg und direkter Gewalt (negativer Friedensbegriff) verstanden; Frieden muss auch als Verringerung von struktureller Gewalt begriffen werden, bei der es um die Herstellung sozialer Gerechtigkeit geht (positiver Friedensbegriff). Aufgrund eines so gefassten Friedensverständnisses werden nicht nur der Krieg oder die direkte Gewalt zwischen Nationen und Ethnien zum Gegenstand der Erziehung, sondern auch die gewalthaltigen innergesellschaftlichen Lebensbedingungen. Erziehung zum Frieden benötigt bestimmte Formen, mit denen sie die Entwicklung gewaltfreier Lernprozesse zu fördern versucht. Daher wird sie vor allem Lernformen entwickeln, in denen sich partizipatorisches und selbstinitiiertes Lernen vollzieht (Göhlich/Wulf/Zirfas 2007). In diesen Lernprozessen soll ein großer Teil der Initiative und Verantwortung bei den Adressaten der Friedenserziehung liegen. Diese werden ermutigt, ihre friedensrelevante Vorstellungskraft zu entfalten. Dabei spielt die Entwicklung eines historischen Bewusstseins hinsichtlich der Entstehung und prinzipiellen Veränderbarkeit von Konfliktformationen eine entscheidende Rolle. Dieses Bewusstsein trägt dazu bei, real-utopische Entwürfe für die Veränderung der Welt zu entwickeln und zu bearbeiten. Zugleich gewährleistet es eine Zukunftsorientierung in der Betrachtung der Probleme (Senghaas 1995, 1997). Friedenserziehung berührt sich mit Ansätzen, die mit verwandten Zielsetzungen, doch unter anderen Begriffen den Erziehungsprozess der jungen Generation mitzugestalten suchen. Dazu gehören: Erziehung zur internationalen Verständigung, internationale Erziehung, Überlebenserziehung (survival education), Welt-Erziehung (global education), Erziehung zum Weltbürgertum (education for world citizenship) und Entwicklungserziehung (development education). Ein Strukturproblem der Friedenserziehung und der ihr ähnlichen Bemühungen liegt darin, dass sie sich als Erziehung an Individuen oder Gruppen richtet, in deren Bewusstsein und Einstellungen sie nachhaltige Veränderungen bewirken kann. Für die Entwicklung einer Kultur des Friedens ist ihre Ergänzung durch die praktische Politik und durch friedensrelevantes Handeln jedoch unerlässlich.

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Christoph Wulf Kulturelle Diversität

Insofern Differenzen zwischen Menschen, Kulturen und Gesellschaften häufig zur Entstehung von Gewalt führen, ist die Erziehung zu einem friedlichen Umgang mit kultureller Diversität eine wichtige Aufgabe der Friedenserziehung. Im Zusammenhang mit der Globalisierung und Europäisierung lassen sich heute zwei gegenläufige Entwicklungen unterscheiden. Die eine zielt auf Vereinheitlichung; die andere betont die Vielfalt und Diversität biologischer und kultureller Entwicklungen sowie die Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit von Differenz und Alterität. So vollziehen sich einerseits Prozesse, die die Weltgesellschaft, die verschiedenen Regionen der Welt, die Nationen und die örtlichen Kulturen einander angleichen, wie z. B. – die Globalisierung internationaler Finanz- und Kapitalmärkte, die von Kräften und Bewegungen bestimmt werden, welche von den realen Wirtschaftsprozessen weitgehend unabhängig sind; – die Globalisierung der Unternehmensstrategien und Märkte mit global ausgerichteten Strategien der Produktion, Distribution und Kostenminimierung durch Verlagerung; – die Globalisierung von Forschung und Entwicklung mit der Entwicklung globaler Netzwerke, neuer Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die Ausweitung der Neuen Ökonomie; – die Globalisierung transnationaler politischer Strukturen mit der Abnahme des Einflusses der Nationen, der Entwicklung internationaler Organisationen und dem Bedeutungszuwachs von Nicht-Regierungsorganisationen; – die Globalisierung von Konsummustern, Lebensstilen und kulturellen Stilen mit der Tendenz zu ihrer Vereinheitlichung; – die Ausbreitung des Einflusses der neuen Medien und des Tourismus und die Globalisierung von Wahrnehmungsweisen, die Modellierung von Individualität und Gemeinschaft durch die Wirkungen der Globalisierung sowie die Entstehung einer Eine-Welt-Mentalität. Mit dieser Entwicklung gehen die Herauslösung des Ökonomischen aus dem Politischen, die Globalisierung vieler Lebensformen sowie die Bedeutungszunahme der Bilder im Rahmen der Neuen Medien einher (vgl. Wulf/Merkel 2002). Andererseits regt sich Widerstand gegen diese Entwicklung. So wird die Notwendigkeit hervorgehoben, die Vielfalt der Arten, die Vielfalt der Kulturen, kulturelle Diversität und Alterität zu schützen. Im Artensterben und im Aussterben vieler Kulturen wird eine Gefährdung der Vielfalt des Lebens und der Kulturen gesehen. Der Schutz der Vielfalt des Lebens und der Kulturen wird als Aufgabe der gesamten Menschheit betrachtet. Zwischen den Befürwortern und Gegnern des Schutzes kultureller Vielfalt bestehen unauflösbare Differenzen (Wulf 2006).

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Für einen kompetenten Umgang mit kultureller Mannigfaltigkeit spielt der Umgang mit dem Anderen bzw. mit Alterität eine wichtige Rolle. Weder können sich Kulturen noch einzelne Menschen entfalten, wenn sie sich nicht in anderen spiegeln, sich nicht mit anderen auseinandersetzen und sich nicht voneinander beeinflussen lassen. Kulturen und Menschen bilden sich erst durch den Tausch bzw. den Austausch mit anderen. Mit Hilfe reziproker Tauschprozesse entwickeln Menschen Beziehungen zu anderen Menschen und deren Alterität und erweitern dadurch ihren Lebens- und Erfahrungsraum. Tauschprozesse umfassen Geben, Nehmen und Wiedergeben von Gegenständen, Zuwendungen und symbolischen Gütern. Das Eigene und das Andere sind keine in sich abgeschlossenen, einander gegenüberstehende Größen. Was das Andere und das Eigene ist, ergibt sich erst im Kulturkontakt, in der Begegnung zwischen Menschen, je nach dem kulturellen Kontext, in dem die Begegnung stattfindet, und nach ihren singulären Voraussetzungen. Sowohl das Eigene als auch das Andere müssen dynamisch gedacht werden; erst in Prozessen der kulturellen Begegnung ergibt sich, was jeweils als Anderes bzw. Eigenes erfahren wird. In vielen Bereichen werden diese Prozesse des Kontaktes, der Begegnung und des Austauschs durch die Zirkulation von Kapital, Waren, Arbeitskräften und symbolischen Gütern bestimmt. Ihre Dynamik führt zur Begegnung von Menschen und Kulturen und bewirkt, dass materielle und immaterielle Beziehungen entwickelt werden. Diese Prozesse vollziehen sich im Rahmen globaler Machtstrukturen und sind ungleich; sie werden von historisch entstandenen und verfestigten Machtverhältnissen bestimmt. Trotz der Beeinflussung vieler dieser Prozesse durch die Bewegungen des kapitalistisch organisierten Marktes und der daraus resultierenden Unausgewogenheit führen sie zu Begegnungen mit der Alterität anderer Kulturen und Menschen. Gesellschaften und Menschen konstituieren sich also in der Auseinandersetzung mit Alterität. Bereits in den Bildungsprozessen von Kindern und Jugendlichen spielen die Erfahrungen anderer Menschen und Kulturen eine zentrale Rolle. Nur im Spiegel und in den Reaktionen anderer Menschen und Kulturen können Menschen sich selbst begreifen. Dies impliziert, dass Selbsterkenntnis das Verstehen des Nichtverstehens von Alterität voraussetzt. Wie kann es gelingen, die Erfahrungen der Alterität anderer Menschen und Kulturen zuzulassen, ohne Mechanismen in Gang zu setzen, die sie auf bereits Bekanntes und Vertrautes reduzieren? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Je nach Kontext werden sie unterschiedlich ausfallen. Ein Weg, Alterität auszuhalten, besteht darin, Erfahrungen der Selbstfremdheit zu machen, also zu erleben, wie man von seinen Gefühlen und Handlungen überrascht werden kann. Solche Ereignisse können zur Steigerung der Flexibilität und zur Neugier auf die Andersartigkeit anderer Menschen und Kulturen beitragen. In der Erfahrung der Selbstfremdheit liegt eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis und den Umgang mit Alterität. Sie bildet eine Grundlage für

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die Entwicklung der Fähigkeit eines Empfindens und Denkens vom Anderen her, eines heterologischen Denkens, in dessen Rahmen der Umgang mit dem Nichtidentischen von zentraler Bedeutung ist. Von solchen Erfahrungen ist eine Zunahme der Sensibilität und der Bereitschaft zu erwarten, sich Neuem und Unbekanntem auszusetzen. Eine allmähliche Steigerung der Kompetenz, komplexe Situationen emotional und mental auszuhalten und in ihnen nicht stereotyp zu handeln, ist die Folge. In der Auseinandersetzung mit der Unverfügbarkeit der Alterität anderer Menschen und Kulturen liegt für die emotionale, soziale und geistige Entwicklung jedes Menschen eine Chance. Heidegger hat dies schon früh gesehen, als er davor warnte, dass dem Menschen kaum etwas Schlimmeres geschehen könne, als dass er sich in der Welt nur noch selbst begegne. Auch aus dieser Perspektive bieten Erfahrungen der Fremdheit und Alterität, der Hybridität und Transkulturalität Aussichten auf ein reiches und erfülltes Leben. Dass diese Möglichkeiten menschlicher Bildung in ihr Gegenteil umschlagen können, ist offensichtlich. In diesem Fall entstehen in der Begegnung mit kultureller Vielfalt Gewalthandlungen, mit denen versucht wird, Andersartigkeit auf Gleichheit zu reduzieren. Da in den meisten Fällen diese Versuche fehlschlagen, entsteht ein circulus vitiosus von Gewalthandlungen, die sich in mimetischen Prozessen, in Formen wechselseitiger Nachahmung, verstärken und aus denen es nur schwer einen Ausweg gibt (Wulf 2006; Dieckmann/ Wulf/Wimmer 1996; Heitmeyer/Soeffner 2004). Nachhaltigkeit Die dritte große Aufgabe einer Erziehung zum Frieden liegt im Bereich der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, deren Verbreitung in der UN Dekade von 2005-2014 erfolgen soll und für die in allen Ländern verstärkte Anstrengungen unternommen werden. In Deutschland wurde auf der Grundlage eines einstimmigen Beschlusses des Bundestages ein Nationalkomitee zur Bildung für nachhaltige Entwicklung und eine Arbeitsstelle bei der Deutschen UNESCO-Kommission eingerichtet, das die Arbeit in diesem Bereich koordiniert. In Zusammenarbeit mit dem Nationalkomitee erstellen die Kultusministerkonferenz und die Bundesländer Aktionspläne, um die Bildung zur nachhaltigen Entwicklung weiter zu verbreiten. Ziel nachhaltiger Entwicklung ist die Verwirklichung eines kontinuierlichen gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses, der dazu führen soll, die Lebensqualität der gegenwärtigen Generation zu erhalten und gleichzeitig die Wahlmöglichkeiten zukünftiger Generationen zur Gestaltung ihres Lebens zu sichern. Nachhaltige Entwicklung ist heute ein anerkannter Weg zur Verbesserung der individuellen Zukunftschancen, zu gesellschaftlicher Prosperität, wirtschaftlichem Wachstum und ökologischer Verträglichkeit. Bildung zur Nachhaltigkeit zielt darauf, die Menschen zur kreativen Gestaltung einer öko-

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logisch verträglichen, wirtschaftlich leistungsfähigen und sozial gerechten Umwelt unter Berücksichtigung der internationalen Perspektive zu befähigen. Nachhaltigkeit ist eine regulative Idee, die wie Frieden nur annäherungsweise verwirklicht werden kann. Bildung zur Nachhaltigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für die graduelle Realisierung der Nachhaltigkeit. Sie wendet sich an den Einzelnen, dessen Sensibilität und Verantwortungsbereitschaft sie fördern möchte. Dazu muss sie an den bestehenden Strukturen ansetzen und – unter Berücksichtigung individueller und gesellschaftlicher Bedingungen – die Gestaltungskompetenz der jungen Menschen in diesem Bereich entwickeln. Ziel ist die Entwicklung der Fähigkeit, das eigene Leben und den eigenen Lebensraum im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu gestalten. Dazu bedarf es eines Lernens in konkreten Problemkonstellationen, eines Erarbeitens ihrer Kontexte und der Anbahnung eines partizipatorischen Handelns. Bildung für Nachhaltigkeit impliziert ein reflexives kritisches Verständnis von Bildung und eine Bereitschaft zur Partizipation an den entsprechenden individuellen und sozialen Lernprozessen. Dazu gilt es, Minimalstandards für Bildung für nachhaltige Entwicklung zu entwickeln, die der Mehrperspektivität von Nachhaltigkeit gerecht werden. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung soll zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit zwischen den Nationen, Kulturen und Weltregionen und den Generationen beitragen. Neben der Förderung und Umgestaltung des Sozialen, der Ökologie und Ökonomie sind auch die globale Verantwortung und die politische Partizipation zentrale Prinzipien der Nachhaltigkeit. Ziel der Bildung für Nachhaltigkeit ist es, eine Gestaltungskompetenz in diesem Bereich zu entwickeln, die die Menschen dazu befähigt, die hier anfallenden Aufgaben kreativ zu gestalten (German Commission for UNESCO 2007).

Friedenserziehung in Ritualen, performativen Praktiken und mimetischen Lernprozessen Im Weiteren sollen drei Aspekte aus neueren erziehungswissenschaftlichen Forschungen in die Diskurse über Friedenserziehung und Friedenskultur eingebracht werden, die hier bislang nur eine geringe Rolle gespielt haben, deren Ausarbeitung jedoch erhebliche Möglichkeiten der Verbesserung beinhaltet. Im Einzelnen handelt es sich um – die Möglichkeit von Ritualen, einen Beitrag zur Entwicklung einer Friedenskultur zu leisten (Wulf u. a. 2001, 2004, 2007a), – den performativen Charakter friedensrelevanter Praktiken (Wulf/Zirfas 2007; Wulf/Göhlich/Zirfas 2001), – mimetisches Lernen als kulturelles Lernen des Friedens (Wulf 2005, 2004, 2001).

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Christoph Wulf Rituale als Strategien der Entwicklung einer Friedenskultur

In der Form von Anti-Kriegsdemonstrationen, Demonstrationen gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit und gegen die Zerstörung der Umwelt haben Rituale der Kritik und des Widerstands in der Friedenserziehung und Friedenskultur Tradition, ohne dass man sich hier ihrer erzieherischen, sozialen und politischen Möglichkeiten hinreichend bewusst ist. In Ritualen schließen sich viele einander zunächst fremde Menschen zu Gemeinschaften zusammen, um ihren Widerstand zu artikulieren. Mit Ritualen wie Menschen- und Lichterketten, Blockierungen von Schienen, Straßen und Zufahrten, der gewaltfreien Konfrontation mit den Vertretern staatlicher Macht nehmen Menschen ihr Grundrecht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahr und bringen ihre divergierenden Auffassungen zur Darstellung. Über die Medien erreichen diese Inszenierungen häufig eine über die Orte des Widerstands hinausreichende Sichtbarkeit. Aufgrund der in Inszenierungen und Aufführungen menschlicher Körper liegenden Performativität des Widerstands werden Gemeinschaften Gleichgesinnter erzeugt. Mit Hilfe ritueller Inklusion und Exklusion verleihen die sich in Ritualen zusammenschließenden Demonstranten ihren Auffassungen Darstellung und Ausdruck. Sie erzeugen rituelle szenische Handlungen, die sich zudem in ihr Körpergedächtnis einschreiben und nachhaltige Wirkungen entfalten. Thesenartig sollen einige Merkmale skizziert werden, aus denen die Möglichkeiten von Ritualen, einen Beitrag zur Bildung einer Friedenskultur zu leisten, hervorgehen (Wulf/Zirfas 2004). Friedenskultur ist ohne Rituale undenkbar. Über den symbolischen Gehalt der Interaktions- und Kommunikationsformen und vor allem über die performativen Prozesse der Interaktion und Bedeutungsgenerierung gewährleisten und stabilisieren Rituale die Gemeinschaft der Menschen in einer Friedenskultur. Rituale rahmen friedensrelevante Praktiken im alltäglichen Leben und gewähren homogenisierte Handlungsabläufe. Die damit verbundenen Techniken und Praktiken dienen der Wiederholbarkeit der Rituale, ihrer Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit. Auf Frieden bezogene soziale, institutionalisierte und informelle Gemeinschaften zeichnen sich nicht nur durch den gemeinsamen Raum eines kollektiv geteilten symbolischen Wissens aus, sondern vor allem durch entsprechende Interaktions- und Kommunikationsformen, in denen und mit denen sie dieses Wissen inszenieren. Rituale erzeugen friedensbezogene Gemeinschaften emotional, symbolisch und performativ; sie sind inszenatorische und expressive Handlungsfelder, in denen die Beteiligten ihre Wahrnehmungs- und Vorstellungswelten mittels mimetischer Prozesse wechselseitig aufeinander abstimmen. Indem Rituale die Integration eines interaktiven Handlungszusammenhangs gewährleisten, zielen sie auf die Bildung einer friedensbezogenen Kommunität. Rituale als Erinnerung und Projektion friedensrelevanter Werte und Handlungen. Rituale dienen dazu, sich der Präsenz einer friedensbezogenen Gemein-

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schaft immer wieder zu versichern, deren Ordnung und deren Transformationspotentiale durch Wiederholung zu bestätigen und ihnen Dauer zu verleihen. Sie zielen ebenso auf die Inszenierung von Kontinuität wie auf den Prozesscharakter und die Entwurfs- und Zukunftsorientierung von friedensbezogenen Gemeinschaften. Rituale bilden in einer Kultur des Friedens die Synthese von sozialem Gedächtnis und gemeinschaftlichem friedensbezogenen Zukunftsentwurf. Durch ihre Wiederholungsstruktur signalisieren Rituale des Widerstands Dauerhaftigkeit; ihre Inszenierungen erzeugen und kontrollieren das auf Werte, Dispositionen und Handlungen bezogene Gedächtnis. Rituale als kommunikative Verständigung in einer Friedenskultur. Da in einer Friedenskultur Differenzerfahrungen innerhalb und zu den sie umgebenden kulturellen Handlungsfeldern auftreten, sind Rituale erforderlich, um diese nach innen und nach außen zu bearbeiten. Sie bilden einen relativ sicheren, homogenen Prozess, in dessen Verlauf sich friedensbezogene Gemeinschaften wiederholt konstituieren können. Rituale dienen dazu, eine kommunikative und performative Verständigung über neue, als Bedrohung empfundene Situationen zu erzielen. Dabei bilden sie keine instrumentellen Handlungsarrangements und werden nicht als technische Mittel zur Bewältigung konkreter Probleme eingesetzt. Die im friedensbezogenen rituellen Handeln erzeugte Kraft reicht über die Möglichkeiten einzelner Menschen hinaus und führt zur Schaffung von Gemeinschaft und Solidarität. Rituale als Komplexität reduzierende Handlungen in friedensbezogenen Zusammenhängen. In friedensbezogenen Ritualen werden Situationen mithilfe gemeinsam ausgeübter Praktiken eingeübt und geprobt. Sie können als Arrangements der Komplexitätsreduktion gelten, mit deren Hilfe sich ihre Teilnehmer in Beziehung zu ihrem „Außen“ setzen, indem sie Trennlinien ziehen, Distanzen überbrücken und daran glauben, dass die im Ritual entfalteten mimetischen und performativen Kräfte nicht nur nach innen, sondern auch nach außen, auf die „Wirklichkeit“ einwirken, gegen die sich der ritualisierte Widerstand richtet. Rituale als Medien der Differenzbearbeitung in friedensrelevanten Kontexten. Auf Frieden bezogene Rituale sind Handlungssysteme der Differenzbearbeitung. Indem sie die Integration eines interaktiven Handlungszusammenhangs gewährleisten, zielen sie auf Integration und auf die Bildung von Gemeinschaft durch Differenz und Exklusion. Der Begriff der performativen Gemeinschaft verweist weniger auf eine vorgängige, organische oder natürliche Einheit, eine emotionale Zusammengehörigkeit, auf ein symbolisches Sinnsystem, sondern mehr auf die rituellen Muster friedensbezogener Interaktion. Mit der Frage, wie sich auf Frieden bezogene Gemeinschaften erzeugen, bestätigen und verändern, rücken rituelle Inszenierungsformen, körperliche und sprachliche Praktiken, räumliche und zeitliche Rahmungen sowie mimetische Zirkulationsformen in den Mittelpunkt. Unter einer performativen, auf Fragen des Friedens bezogenen Gemeinschaft wird ein ritualisierter Handlungs- und Er-

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fahrungsraum verstanden, der sich durch inszenatorische, mimetische, ludische und Machtelemente auszeichnet (Wulf u. a. 2001, 2004, 2007). Der performative Charakter kultureller Praktiken Wenn es in Friedenserziehung und Friedenskultur nicht nur darum geht, Wissen zu lernen, sondern Friedenserziehung stets auch darauf zielt, Handeln, Zusammenleben und Sein zu lernen (Delors 1996), dann kommt dem performativen Charakter friedensbezogener Praktiken eine besondere Bedeutung zu. Wenn der menschliche Körper das Medium friedenskultureller Praktiken ist, dann ergeben sich daraus Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Verständnis dieser Praktiken. Um friedenskulturelle Praktiken angemessen zu verstehen, müssen die körperlichen Aspekte der Inszenierungen und Aufführungen friedensbezogener Handlungen explizit berücksichtigt werden; es muss untersucht werden, wie diese friedenskulturellen Praktiken durch Arrangements des Körpers vollzogen werden. Es gilt zu erforschen, wie die Körperbilder historisch und kulturell entstanden sind, auf denen die Praktiken der Friedenskultur und der Friedenserziehung beruhen. Die auf Frieden, kulturelle Diversität und Nachhaltigkeit bezogenen kulturellen Praktiken haben vielfältige Funktionen. Damit sie erfolgreich sind, benötigen die Handelnden ein individuelles Körperwissen und ein Wissen darüber, wie sie friedenskulturelle Praktiken in Bezug auf andere Menschen inszenieren können. Die körperliche Seite einer auf Frieden bezogenen kulturellen Praktik kann andere Menschen dazu anregen, vielfältige Interpretationen zu entwickeln, die jedoch weniger wichtig sind als die von der Performativität der friedensbezogenen Handlung ausgehende Wirkung. Wenn in diesem Zusammenhang vom menschlichen Körper die Rede ist, dann handelt es sich um einen in historischen und kulturellen Prozessen geformten Körper, der seinerseits auf die Art und Weise Einfluss hat, in der solche Prozesse geformt werden (Wulf 2006). Bourdieu (1976) hat in diesem Kontext vom Habitus gesprochen, der einerseits das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse ist, andererseits diese formt und gestaltet. Analog dazu geht es darum, dass bei der Entwicklung von Friedenskultur möglichst viele Menschen dafür gewonnen werden, einen möglichst gewaltfreien Habitus zu entwickeln, dessen Praktiken in Übereinstimmung mit den Werten und Ansprüchen einer Friedenskultur stehen. In einer Analyse kultureller Gewalt- und Friedenspraktiken lässt sich der für deren Wirksamkeit so wichtige performative Charakter herausarbeiten. Drei Aspekte sind dabei zu unterscheiden. Der eine betont die Bedeutung des performativen Charakters der Sprache. Indem John Austin (1985) gezeigt hat, „how to do things with words“, hat er den Handlungsaspekt der Sprache herausgearbeitet. Wenn z. B. jemand öffentlich gegen eine Gewalthandlung oder für eine Handlung im Sinne des Frie-

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dens, des Schutzes kultureller Vielfalt oder der Unterstützung von Nachhaltigkeit spricht, dann vollzieht er eine Handlung, in der er seine Werte und sein Engagement zum Ausdruck bringt und mit der er andere zu beeinflussen versucht, sich ähnlich zu engagieren und ähnlich zu handeln. Wiederholt jemand solche friedensbezogenen Aussagen, wird er mit diesen identifiziert, so dass sein Engagement für den Frieden zu einem Teil seiner Identität wird. Der zweite Aspekt der Performativität besteht darin, dass Praktiken des Umgangs mit sozialer Gerechtigkeit, mit kultureller Vielfalt und Nachhaltigkeit kulturelle Aufführungen sind, in denen die Werte des Friedens, der Würde des Menschen und der Schonung der Natur zur Darstellung kommen. Mit Hilfe solcher Praktiken können die Angehörigen von Kulturen Kontinuität zwischen ihren friedensrelevanten Traditionen und den Anforderungen der Gegenwart nach sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit schaffen. Der dritte Aspekt der Performativität charakterisiert die ästhetische Seite körperbasierter Performance friedensrelevanter Szenen und Handlungen, die nicht angemessen begriffen werden, wenn deren Analyse auf ihre bloße Funktion reduziert wird. Stattdessen bedarf es einer ausdrücklichen Berücksichtigung der für die Wirkung friedensbezogener Praktiken konstitutiven ästhetischen Seite (Wulf/Zirfas 2007; Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). Mimetisches Lernen als kulturelles Lernen des Friedens Viele für die Entwicklung einer Friedenskultur relevante Vorstellungen, Repräsentationen und Praktiken werden in mimetischen Prozessen gelernt. Menschen beziehen sich auf friedensrelevante Phänomene und Handlungen und lernen dadurch das erforderliche Wissen und Verhalten in Prozessen der Angleichung. In mimetischen Prozessen erfolgt eine kreative Nachahmung bzw. Anähnlichung friedensrelevanter Phänomene, Modelle und Vorbilder. Wie sich diese Angleichungen vollziehen, ist von Mensch zu Mensch verschieden und hängt davon ab, wie sich Menschen zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst verhalten. In mimetischen Prozessen nehmen Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichsam einen „Abdruck“ von Phänomenen, Praktiken und Strukturen, die für die Entwicklung einer Friedenskultur relevant sind, inkorporieren sie und machen sie dabei zu einem Teil ihrer selbst. In solchen Prozessen werden diese friedensrelevanten Ereignisse und Modelle für Handlungen der nachwachsenden Generation weitervermittelt (Gebauer/Wulf 1998; Wulf 2005). Die Bedeutung mimetischer Prozesse für die Vermittlung von friedenskulturellen Werten, Strukturen und Handlungen an Kinder und junge Menschen kann kaum überschätzt werden. Mimetische Prozesse sind sinnlich; sie sind an den Körper gebunden, beziehen sich auf das menschliche Verhalten und vollziehen sich häufig unbewusst. In ihnen inkorporieren Menschen Bilder und Schemata der friedensrelevanten Phänomene, Ereignisse und Praktiken. Da-

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durch werden diese Teil ihrer mentalen Bilder- und Vorstellungswelt und entwickeln Handlungsdispositionen. Mimetische Prozesse überführen Phänomene, Ereignisse und Handlungen einer Friedenskultur in die mentale Welt junger Menschen. Sie tragen dazu bei, diese mentale Welt im Sinne friedenskultureller Erscheinungen und Werte anzureichern und zu erweitern. In mimetischen Prozessen wird darüber hinaus praktisches Wissen als wichtiger Bestandteil friedensbezogenen Handelns erworben. Dieses Wissen entwickelt sich im Zusammenhang mit den Inszenierungen und Aufführungen des Körpers und spielt eine besondere Rolle dabei, friedenskulturelle Praktiken zu erhalten und zu modifizieren. Als praktisches Wissen ist dieses Wissen Ergebnis einer mimetischen Verarbeitung performativen Verhaltens, das selbst die Folge eines körperbasierten Know-how ist. Da in einer Kultur des Friedens praktisches Wissen, Performativität und Mimesis miteinander verschränkt sind, spielt die Wiederholung bei ihrer Weitervermittlung eine große Rolle. Friedenskulturelle Kompetenz entwickelt sich in Fällen, in denen friedensrelevantes Verhalten wiederholt und in der Wiederholung weiterentwickelt wird.

Ausblick Erziehung zum Frieden ist ein zentrales Element in der Entwicklung einer Kultur des Friedens. In den verschiedenen Regionen der Welt kommen einer Frieden fördernden Erziehung unterschiedliche Aufgaben zu. Im Sinne der Milleniumsziele richtet sich in den Entwicklungsländern Erziehung zum Frieden vor allem auf eine an den Menschrechten orientierte „Bildung für Alle“. In anderen Teilen der Welt, wie in Europa, Japan und den USA, zielt Erziehung zum Frieden in stärkerem Maße auf eine Auseinandersetzung mit den Problemen von Gewalt und sozialer Gerechtigkeit, kultureller Diversität und Nachhaltigkeit. Unter dem Anspruch eines komplexen Lernbegriffs bedarf es einer neuen, durchaus auch kritischen Einschätzung von Ritualen und rituellen Praktiken für die Entwicklung von Friedenserziehung und Friedenskultur. Ferner bedarf es der bewussten Berücksichtigung ihres performativen Charakters und der mimetischen Verarbeitung friedensrelevanter Phänomene, Ereignisse, Strukturen und Handlungen.

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Eine erste Fassung dieses Artikels erschien in: Grasse, R./Gruber, B./Gugel, G. (Hg.): Friedenspädagogik. Reinbek 2008: Rowohlt, S. 35-60. Dem Rowohlt-Verlag sei herzlich für die Abdruckgenehmigung gedankt.

Christine Delory-Momberger

DIVERSITÄT UNTERRICHTEN UND LERNEN Eine erzieherische und politische Herausforderung Ich kann mich ändern, indem ich mich mit dem anderen austausche, ohne mich dabei aufzugeben oder mich meiner Natur zu entfremden. Edouard Glissant, Poétique de la relation

Der vorliegende Beitrag möchte der Frage nachgehen, welche Auswirkungen für die Erziehung – insbesondere die schulische Erziehung – sich aus der Tatsache ergeben, dass sich in der Schule und in der Klasse in der Regel Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Kulturen befinden. Es geht also darum, sich zu fragen, ob der Unterricht sich der Herausforderung kultureller Diversität zu stellen vermag, und die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen man sich dieser Herausforderung stellen kann. Ich werde die folgende Position darlegen: unter Bedingungen der Diversität unterrichten heißt, Diversität unterrichten, der Unterricht in multikulturellen Kontexten und Schulgruppen stellt die Frage nach dem Unterricht der Diversität. Diese Position findet ihr Gegenstück auf Seiten der Lernenden: Unter Bedingungen der Diversität lernen heißt, Diversität lernen, bedeutet das Erlernen der Diversität. Von dieser Basis ausgehend gehen die Überlegungen in zwei komplementäre Richtungen. In einem ersten Schritt werde ich in einer historischen und philosophischen Perspektive versuchen, die erzieherische und pädagogische Herausforderung zu umreißen, die ein solches Projekt des Unterrichtens der Diversität impliziert. Ich werde zu zeigen versuchen, inwiefern ein solches Projekt es erforderlich macht, eine besondere pädagogische Haltung zu entwickeln, die man als Pädagogik des Verstehens bezeichnen kann. In einem zweiten Schritt, aus der Perspektive der Schüler, der „Diversität“, werde ich auf die biographischen Implikationen, aber auch die eigentlich „politische“ Dimension eines solchen Lernens hinweisen.

I. Diversität unterrichten: Für eine Pädagogik des Verstehens Gehen wir von folgender programmatischer Formulierung aus: Diversität unterrichten. Dieser Ausdruck stellt an sich – in den beiden miteinander verbun-

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denen Termini – eine Form unvereinbarer Begrifflichkeit, ein Oxymoron, dar. Im etymologischen Sinne zielt Unterricht (enseignement), im Sinne von in Zeichen (signe) umsetzen, auf die Vermittlung und Herausbildung von Sprachen und gemeinsamem Wissen. Auf den ersten Blick besteht der Akt des Unterrichtens darin, das Verschiedene (le divers) zu unterrichten; man unterrichtet nicht, was für einige „wahr“ oder „real“ ist und für andere nicht, im Gegenteil, man unterrichtet, um eine gemeinsame Welt herauszubilden, eine Welt der Gemeinsamkeit, und dies geschieht meist durch die Reduktion und die Auslöschung des Verschiedenen, des Besonderen, des Multiplen. Unterricht als Bildung einer gemeinsamen Welt In den traditionellen Gesellschaften ist Unterricht der Versuch, den Individuen, die die Gemeinschaft bilden, ein Ensemble sozialisierter und daher gemeinsamer Formen zu vermitteln; Unterrichten heißt in diesem Kontext, gemeinsame Sprachen, Wissensinhalte und Kenntnisse zu vermitteln, die man mit denen teilt, die der gleichen Gemeinschaft angehören, und die einem das Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln. Erziehung und Unterricht haben also eine unmittelbar gesellschaftliche und politische Funktion: Ihr Zweck besteht in der Reproduktion und Kontinuität der Gesellschaft, indem sie für die Individuen, die diese bilden, eine Welt gemeinsamer Vorstellungen und Werte konstruieren. Diese der Erziehung zugewiesene politische Funktion, für Einheit und soziale Kohärenz zu sorgen, lässt sich auf verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Organisation verifizieren, sei es der Familie, des sozialen Milieus oder auch des Landes, der „Nation“. In der Ideologie „nationaler Erziehung“ zielt jedes erzieherische oder unterrichtende Unternehmen auf eben die Reduktion von Diversität, um eine gemeinsame Welt zu errichten. Das gesamte erzieherische Projekt der Schule der Französischen Republik zielte darauf ab, gemeinsame Sprachen und Zugehörigkeiten zu konstruieren, ein gemeinsames Französisch-Sein zu bilden, indem die Unterschiede ausgelöscht wurden: lokale und regionale Unterschiede, linguistische Unterschiede, religiöse und spirituelle Unterschiede. Als typische Anekdote sei nur daran erinnert, dass zu den besten Zeiten der Schule der Dritten Republik alle französischen Schüler nicht nur dem gleichen Lehrplan unterworfen waren, sondern auch den gleichen Stundenplan hatten und dass die jeweiligen Kultusminister dieser Epoche ruhig schlafen konnten: An einem bestimmten Wochentag zu einer bestimmten Unterrichtsstunde konnten sie sicher sein, dass die französischen Schüler einer bestimmten Klassenstufe über das gleiche Diktat gebeugt waren oder an der gleichen Unterrichtsstunde über den Apfel oder den Maikäfer teilnahmen. Um zu ermessen, wie weit die Ideologie einer „nationalen Erziehung“ zu gehen vermag, kann man auch daran erinnern, dass man zur Zeit des französischen Kolonialreichs, ohne eine Miene zu verziehen, den Schülern im Senegal oder in Algerien beibrachte, „unsere Vorfahren sind die Gallier“. Das Beispiel

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Frankreich ist sicher extrem, aber keineswegs ein Einzelfall. Viele junge Länder oder so genannte Schwellenländer sehen im öffentlichen Unterrichtssystem ein Mittel, ihre nationale Existenz zu festigen, indem sie durch gemeinsame Vorstellungen das Gefühl von Identität und Zugehörigkeit ihrer Bürger schaffen und verstärken. Von der Bildung des individuellen Wesens zum Unterrichten der Diversität Damit die Idee eines Unterrichtens der Diversität entsteht, muss eine andere Konzeption der Erziehung entwickelt werden und die „gemeinschaftliche“ Konzeption, die wir gerade heraufbeschworen haben, ersetzen. Insbesondere muss die Auffassung sich durchsetzen, dass die herausragende Aufgabe der Erziehung darin besteht, individuelle Wesen auszubilden und zu verwirklichen. Ein solches erzieherisches Ziel setzt die vollständige Anerkennung der individuellen Singularität und die Berücksichtigung der vielfältigen Differenzierungsfaktoren voraus, aus denen diese sich zusammensetzt: psychologische Differenzierung, aber auch linguistische, kulturelle, soziale etc. In den europäischen Ländern gibt es eine solche Tradition, und diese kann sich auf mindestens das gleiche Alter berufen wie die Schule der französischen Republik: Es handelt sich um die Tradition der deutschen Bildung, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt und zunehmend die Erziehungsmodelle geprägt und die politischen Modelle beeinflusst hat. Bildung zielt auf die Gestaltung (das ist die Bedeutung des Wortes Bildung) und Verwirklichung des individuellen Wesens und macht die Erfahrung zur Quelle und zum Motor dieser Gestaltung. Mit der Konzeption der Bildung und ihrer Anerkennung der Rolle der Erfahrung bei der Herausbildung der Person und der Lernprozesse tritt die zugleich individuelle und kollektive Diversität in das Blickfeld der Erziehung und der erzieherischen Praxis. Diese andersgeartete Konzeption ist nicht weniger politisch – sie ist sogar eine der Grundlagen moderner Demokratien –, aber sie wirft einen anderen Blick auf die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, was ich später präzisieren werde. Die Idee, dass jeder Schüler, jeder Auszubildende, dass jedes „Subjekt der Erziehung“ ein singuläres Wesen ist und seine Singularität aus einer Diversität resultiert, die als solche anzuerkennen ist, ist eine notwendige und grundlegende Voraussetzung für ein Unterrichten der Diversität, aber sie ist dennoch nur eine Voraussetzung. Die Problematisierung des Unterrichtens der Diversität setzt voraus, dass das Ziel der Bildung des individuellen Wesens in einem sozialen und politischen Rahmen neu kontextualisiert wird, dass die Zielsetzung einer gemeinsamen Welt und des Zusammenlebens und die Anerkennung der individuellen Differenz und der kulturellen Diversität eine Einheit bilden. Mit dieser äußerst komplexen Frage sehen sich die Erziehungssysteme vieler Länder konfrontiert. Sie ist besonders akut in Ländern mit einer pluriethnischen und multikulturellen Bevölkerung oder in Ländern, in denen starke

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Migrationsbewegungen zu einem Nebeneinander verschiedener Bevölkerungsgruppen führen: Wie können Erziehung und Unterricht zu einer gemeinsamen Welt und zu einem Zusammenleben beitragen, indem sie in dieser gemeinsamen Welt verschiedenen Traditionen und kulturellen Gepflogenheiten gleichwohl ihren Platz gewähren? Von der Antwort auf diese Frage hängt zu einem großen Teil das gesellschaftliche Gleichgewicht moderner Demokratien ab, und ihre Fähigkeit, ein Zusammenleben zu gewährleisten, das kulturelle Diversität und Minoritäten jeglicher Art respektiert und zugleich die Gefahr gesellschaftlicher Fragmentierung vermeidet. Denn um genau dieses Ideal handelt es sich: nicht um die Gegenüberstellung in sich geschlossener „Gesellschaften“, die notwendigerweise miteinander in Konkurrenz stehen und in Konflikt geraten, sondern um die Bildung einer gemeinsamen Welt, in der alle kulturellen Komponenten sich ausdrücken können und anerkannt werden, aber in der jede auch alle anderen verstehen und anerkennen kann. Der Ansatz des Verstehens als Grundlage eines Unterrichtens der Diversität Wir können jetzt die ganze Tragweite und die Schwierigkeit des Unterrichtens der Diversität ermessen. Wie soll man pädagogisch das Gemeinsame und das Verschiedene, das Eine und das Vielfältige, das Gleiche und das Andere zusammenhalten? Das Unterrichten der Diversität erfordert beim Lehrer wie beim Schüler einen besonderen Ansatz des Verstehens. Worin besteht dieser Ansatz? Darin, sich von einer einzigen Perspektive zu dezentrieren und zu einer Vielfalt von Perspektiven zu gelangen, die der kulturellen Diversität im Verhalten, in den Affekten, den Repräsentationen und Werten ihr Recht lässt. Aus psychologischer und soziologischer Sicht setzt dies die Fähigkeit voraus, monokulturelle Sozialisationsweisen aufzugeben und sich anderen Sozialisationsweisen und kulturellen Prägungen zu öffnen, die überdies sowohl einer sozialen oder soziologischen Andersheit entsprechen können wie auch einer im ethnologischen Sinn kulturellen Andersheit. Ein solcher Ansatz kann als einer des Verstehens charakterisiert werden: Er versetzt sich in die Beweggründe des Anderen, in seine Art zu denken, zu handeln, zu fühlen, ergriffen zu werden. Er beruht auf der zutiefst menschlichen Fähigkeit, das Menschliche zu verstehen, die Bedeutungen wahrzunehmen, die der Andere (der mir gegenüber Andere, der Andere eines anderen sozialen Milieus, der Andere einer anderen Kultur etc.) der Welt auferlegt, die Motive und Ziele zu begreifen, die er seiner Existenz und seinem Handeln in der Welt unterlegt.1 Für Paul Ricoeur ist diese Fähigkeit eines der Elemente zur Definition des menschlichen ––––––––––––––––––

1 Die theoretischen Grundlagen für einen Ansatz des Verstehens werden im Werk von A. Schütz (1960) gelegt. Die Haltung des Verstehens, auf die wir uns hier beziehen, entspricht der ersten Ebene des Verstehens im Sinne von Schütz, dem Verstehen als Erfahrungsform der Alltagswelt.

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Wesens: „Mensch sein ist die Fähigkeit, sich ins Zentrum einer anderen Perspektive zu versetzen“ (Ricoeur 1961, S. 451). Die pädagogische Übertragung eines solchen Ansatzes des Verstehens in einen multikulturellen Kontext ist sicher nicht einfach, aber zweifellos einer der wichtigsten Schritte und Herausforderungen für Erziehung heute. Unter der Bezeichnung interkulturelle Erziehung, Erziehung zur Pluralität oder auch Erziehung zum Staatsbürger (éducation à la citoyenneté) hat er, je nach Erziehungssystem und politischem Umfeld, verschiedene Wege eingeschlagen. Der Einfachheit halber könnte man zwischen multikulturalistischen und interkulturalistischen Ansätzen unterscheiden.2 Beide Ansätze gehen von der Diversität und Heterogenität der Schülerschaft aus, die aus den unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und sozialen Bestandteilen einer Nationalbevölkerung zusammengesetzt ist; sie sind sich der Ungleichheit und der verschiedenartigsten Diskriminierungen – sprachlich, sozial, ökonomisch – bewusst, die durch die dominante Beziehung einer Mehrheits-Kultur – der Kultur der Macht wie auch der Schule – zu einer Minderheits-Kultur geschaffen werden. Beide Ansätze zielen auf mehr Gleichheit und Gerechtigkeit, aber sie geben nicht die gleichen Antworten auf die Situationen und Probleme, die durch eine solche Konfrontation kultureller Universen entstehen. Die multikulturalistischen Ansätze unterrichten Diversität in einem zugleich transitiven und restriktiven Sinne: Sie erteilen Unterricht oder vermitteln Informationen über Minderheits- oder Herkunftskulturen, die sich in erster Linie an Kinder dieser „anderen“ Kulturen richten, was je nachdem in der Form von Sprachen-Lernen oder Vermittlung von historischen, geographischen, kulturellen Informationen etc. stattfindet. Indem so die Herkunftskultur berücksichtigt wird, zielen diese Ansätze auf Anerkennung und Stärkung, aber es stellt sich die Frage, ob ihr eigentliches Ziel, eher psychologisch und strategisch als wahrhaft erzieherisch, nicht darin besteht, die Integration als „heterogen“ angesehener kultureller und sozialer Gruppen zu erleichtern. Die Erfahrung zeigt übrigens, dass dieses Ziel nicht unbedingt erreicht wird und dass dieser pädagogische Kulturalismus im Gegenteil zu einer Verstärkung identitätsstiftender Unterschiede und zu einer Ethnisierung der Beziehung zwischen Schülern führt, die dem angestrebten Ziel zuwiderläuft. Das Ziel interkulturalistischer Ansätze besteht nicht in erster Linie darin, Kulturen zu unterrichten, sondern Anpassungsweisen zu entwickeln, die die kulturellen Besonderheiten der beteiligten Parteien berücksichtigen: Schüler, aber auch Lehrer und die schulischen Institutionen, insofern die Schule selbst eine kulturelle Dimension aufweist, selbst eine Kultur im anthropologischen Sinne darstellt. Ich möchte hier die Worte von Jerome Bruner (1996) in Erinnerung rufen, der sagt, „in der Schule lernen heißt, die Kultur der Schule lernen.“ Wenn man will, dass der Unterricht etwas anderes ist als ein Prozess der ––––––––––––––––––

2 Diese Unterscheidung wird sehr klar im Werk von M. Abdallah-Pretceille (1996, 2003) herausgearbeitet.

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Anpassung und Assimilation an diese „Kultur der Schule“ und damit der Mehrheits-Kultur, muss man eine Erziehung entwickeln, die die Pluralität als eine ihrer konstitutiven Dimensionen einschließt und sich an alle an der Schule Beteiligten richtet (Allemann-Ghionda 2000). Aber man muss sich darüber im Klaren sein, was dies impliziert: Es geht nicht in erster Linie um die Vermittlung – „von Lehrer zu Schüler“ – von Inhalten über das eine oder andere der in der Klasse vertretenen kulturellen Universen (auch wenn solche „Momente“ durchaus ihre Berechtigung haben können), es geht nicht darum, die Identitäten und ethnokulturellen Zugehörigkeiten sich für-sich und an-sich ausdrücken zu lassen und sie einander gegenüberzustellen; es geht darum, im Rahmen der gemeinsamen Aktivitäten und des gemeinsamen Unterrichts in der Klasse Bedingungen zu schaffen, damit die Vorstellungen, Sprachen und Verstehensweisen der in der Klasse vertretenen diversen kulturellen Universen (einschließlich dessen der Schule als solcher) gemeinsam ausgedrückt und erarbeitet werden können. Dies bedeutet, dass eine solche Erziehung zur Pluralität eine Infragestellung der traditionellen Methoden des Unterrichtens und Lernens impliziert und dass diese nur im Rahmen einer Pädagogik des Dialogs und der Ko-Konstruktion erstellt werden kann. Darin legt auch die wahrhafte politische Tragweite einer interkulturellen Erziehung, die sich als Erziehung sowohl zum Staatsbürger wie auch zur Demokratie erweist.

II. Diversität lernen: eine biographische und politische Herausforderung Als pädagogische Herausforderung stellt die kulturelle Diversität oder Pluralität auch für jeden „Lernenden“ eine biographische Herausforderung dar, der man sich nur in einem kollektiven Rahmen stellen kann und die unmittelbar politische Implikationen hat. Wie leben Kinder und Jugendliche die Konfrontation mit kultureller Diversität? Wie erfahren sie ihre eigene kulturelle Verschiedenheit? Was sind die Auswirkungen kultureller Pluralität auf ihre Vorstellungen und biographischen Konstruktionen, d. h. auf die Art und Weise, wie sich selbst repräsentieren, wie sie Bilder und Darstellungen ihrer selbst konstruieren, in Beziehung zum Anderen als dem „kulturell Anderen“? Das Nachdenken hierüber kann in zwei Richtungen gehen. Die erste betrifft die Schule als solche, insofern sie selbst ein kulturelles Universum, eine Kultur, ist; die zweite betrifft das Lernen der Diversität und stellt die Frage nach den „politischen“ Bedingungen der biographischen Arbeit, die ein solches Lernen auf Seiten der Schüler erfordert.

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Die Schule als Kultur Zunächst ist festzustellen, dass die Schule als solche, das, was man in der Schule tut und wie man es tut, für alle Schüler, gleich welcher Herkunft und Zugehörigkeit, eine kulturelle Erfahrung darstellt. Die erste Erfahrung von Schülern definiert sich als Oppositionsbeziehung: Die Schule ist ein sozialer Raum, in dem das Kind oder der Jugendliche nicht in seiner Familie ist, in dem es mit Kindern oder Jugendlichen leben muss, die nicht seine Brüder oder Schwestern sind, und mit Erwachsenen, die nicht seine Eltern sind. „In die Schule gehen“ heißt, seine Eltern, seine Familie verlassen, Orts- und Herkunftsbindungen aufgeben, aus „privaten“ Beziehungen und Kenntnissen heraustreten, um in einen „gemeinsamen“ sozialen Raum einzutreten, Zugang zu einem Wissensuniversum zu finden, das aus dem institutionalisierten und objektivierten Wissen einer Gesellschaft besteht. Die Erfahrung von Schule, wie sie von Kindern und Jugendlichen erlebt wird, stellt deren ursprüngliche Lebenswelt in Frage und konfrontiert sie mit dem Universum der schulischen Kultur (Delory-Momberger 2003, Kap. 5). Die Kultur der Schule ist durch die Vorherrschaft von Zeichen und Diskursen über unmittelbare Erfahrung charakterisiert, der abstrakten Intelligenz über praktische Kenntnisse. Das Wissen, das in der Schule vermittelt und erworben wird, ist ein diskursives Wissen, und die Schüler werden nach ihrer Fähigkeit bewertet, rhetorisch kodifizierte Aufgabenstellungen zu bearbeiten (Aufsatz, Zusammenfassung, Abhandlung, Problembehandlung, Kommentar, Textanalyse). Diese Vorherrschaft der Zeichen und Diskurse ist für die schulische Kultur in einem doppelten Sinne charakteristisch: Die Schule ist nur sehr selten Ort einer unmittelbaren Erfahrung der Welt oder eines erkennenden Umgangs mit der Welt, die Welt ist hier nur in Form eines Diskurses über die Welt präsent. Andererseits privilegiert die Schule eine autoreferentielle Beziehung zum Wissen: Mehr als in jedem anderen Alter, mehr als in jedem anderen sozialen Raum werden die „Lernenden“ in der Schule dazu aufgefordert, in Wissen um seiner selbst willen zu investieren, ohne jeglichen Zweckbezug zur Realität. Dies trifft insbesondere auf die formalen Kenntnisse zu, die die Schule in Bezug auf die Sprache verlangt. Die Fähigkeit der Schüler, diesen reflexiven Bezug zur Sprache zu leisten, ist entscheidend für den schulischen Erfolg und einer der wichtigsten Faktoren für die Probleme von Kindern, deren familiäre und soziale Erfahrung von Sprache denkbar wenig mit den Praktiken und Anforderungen der Schule gemein hat (Lahire 1993). Aus all diesen kurz angesprochenen Gründen stellt die Schule als solche eine Erfahrung kultureller Konfrontation dar; je nach Herkunft und Zugehörigkeit der Schüler unterschiedlich stark, unterschiedlich schwierig, fordert sie von diesen eine Anstrengung bei der Anpassung und der Auseinandersetzung mit ihrer Herkunftswelt und mit den Vorstellungen, die sie vom Wissen und vom Lernen haben. Diese Konfrontation der Schulkultur mit der Herkunfts-

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kultur stellt sicherlich einen interkulturellen Raum dar, in den der Lehrer intervenieren kann, um die „kulturelle“ Natur der Probleme des Kindes zu verstehen und dessen Kompetenzen und Kenntnisse zu erkennen und ihm dabei zu helfen, diese zu transferieren und in neuen Kontexten auf neue Weise anzuwenden (Ogay et al. 2002). „Politische“ Bedingungen des Lernens der Diversität Der zweite Aspekt betrifft die individuellen und kollektiven Implikationen des Unterrichtens der Diversität. Die Schule ist nicht nur ein Raum, in dem man den Unterrichtsstoff lernt, sie ist auch ein Raum, in dem man „zusammenlebt“ und das Zusammenleben lernt. Die Präsenz von Schülern aus vielfältigen Kulturen bildet eine wesentliche Dimension dieses Zusammenlebens: kulturelle Diversität der Vorstellungen und Verhaltensweisen, Vorurteile gegen und Stereotypen vom jeweils „anderen“, Spannungen, die aus den antagonistischen Ansprüchen an die Identität erwachsen können, implizite und explizite Machtverhältnisse zwischen dominanten und dominierten Kulturen, unterschiedliche Einstellungen zur Kultur der Schule. Die simple Bejahung der Prinzipien des „Respekts vor dem Anderen“ und des „staatsbürgerlichen Verhaltens“ reichen weder dazu aus, um den jeder kulturellen Gruppe eigenen Ethnozentrismus in eine universelle Harmonie zu verwandeln, noch dazu, die historischen und sozialen Realitäten vergessen zu lassen, insbesondere den ungleichen Status der Kulturen und die Dominanzbeziehungen, die zwischen ihnen existierten oder gar noch existieren. Auch ist es keineswegs übertrieben, von einer Herausforderung sowohl der biographischen Konstruktion wie auch des „Urteilsvermögens“ zu sprechen: Die Deplatzierung und Überschreitung seiner selbst, welche die Öffnung zum Anderen impliziert, stellt die Zentrierung eines jeden auf sich und seine kulturellen Gewohnheiten wahrhaft auf die Probe; die durch die Anerkennung des Anderen erforderte Dezentrierung erschüttert die Grundlage und die Reflexe der Herkunftskultur – die die Rüstung für unsere Existenz bildet – und wirkt sich zutiefst auf die Vorstellungen aus, die jeder von sich und seinem eigenen kulturellen Universum hat.3 Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, diese Herausforderung könne, da sie jeden Einzelnen betrifft, vom Einzelnen geleistet werden. Eine solche Herausforderung kann keine rein individuelle Aufgabe sein: Sie stellt ein kollektives Projekt dar, das der Konstitution der Klasse als politischer Einheit. Kulturelle Pluralität kann nur dann Realität und positive Praxis ––––––––––––––––––

3 „Es ist das Ziel einer interkulturellen Pädagogik, die durch die plurikulturelle Entwicklung der Gesellschaft gebotene Gelegenheit zu ergreifen, um die im anthropologischen Sinne kulturelle Dimension jeder Erziehung zu erkennen und um den Anderen, genauer die Beziehung zum Anderen, in das Lernen einzuführen [...] Das Ziel interkultureller Erziehung besteht nicht in dem Unterrichten von Kulturen, der eigenen oder anderer, sondern darin, jedem Lernen seine kulturelle Dimension zurückzugeben“ (Abdallah-Pretceille 1996, S. 158f.).

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in der Klasse werden, wenn diese zu einem gemeinsamen Raum von Aktivitäten und Projekten wird, wenn sie für jeden Beteiligten – Schüler und Lehrer – zu einer von allen errichteten gemeinsamen Welt wird, wenn also die Klasse zu einer Metapher des Staates und der bürgerlichen Demokratie wird. In dieser gemeinsamen Welt, zusammen errichtet und gelebt, kann jeder gemäß seiner Singularität und Diversität handeln und anerkannt werden, da diese Singularität und Diversität an einem gemeinsamen Werk partizipieren. In dieser gemeinsamen Welt können die biographische Aneignung der Diversität und das Erlernen eines Urteilsvermögens, das den Gesichtspunkt des Anderen einschließt, sich vollziehen, denn nur eine solche Welt gemeinsamer Aktivitäten und Projekte ermöglicht es der Gestalt des Anderen, ihren Platz und ihren Sinn in den Vorstellungen und biographischen Konstruktionen zu finden, die jeder von sich und seinem Handeln entwirft. In diesem Sinne kann das Projekt einer Erziehung zu kultureller Diversität und der zu ihrer Durchsetzung erforderlichen politischen Bedingungen sich von dem von Paulo Freire gewiesenen Weg und von seinen Prinzipien einer dialogischen Erziehung und der gesellschaftlichen Transformation anregen lassen: „Keiner erzieht den anderen, keiner erzieht sich selbst, die Menschen erziehen einander durch die Vermittlung der Welt.“ Aus dem Französischen von Manfred Momberger

Literatur Abdallah-Pretceille, M.: Vers une pédagogie interculturelle. Paris 1996 Abdallah-Pretceille, M.: Former et éduquer en contexte hétérogène: pour un humanisme du divers. Paris 2003. Abdallah-Pretceille, M.: L’éducation interculturelle. Paris 2004. Alleman-Ghionda, C.: La pluralité, dimension sous-estimée, mais constitutive du curriculum de l’éducation générale. In: Raisons éducatives 3: Pourquoi des approches interculturelles en sciences de l’éducation? (dir. P. R. Dasen/Ch. Perregaux), 2000/ 1-2, Section des sciences de l’éducation de l’Université de Genève, S. 163-180. Bruner, J.: L’éducation, entrée dans la culture. Les problèmes de l’école à la lumière de la psychologie culturelle. Paris 1996. Delory-Momberger, Ch.: Biographie et éducation. Figures de l’individu-projet. Paris 2003. Lahire, B.: Culture écrite et inégalités scolaires. Sociologie de l’„échec scolaire“ à l’école élémentaire. Lyon 1993. Ogay, T./Leanza, Y./Dasen, P. R./Changkakoti, N.: Pluralité culturelle à l’école: les apports de la psychologie interculturelle. VEI Enjeux 129, 2002. Ricoeur, P.: Civilisation universelle et cultures nationales. In: Esprit 10, Oktober 1961. Schütz, A.: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Wien 1960 [1934].

Eckart Liebau

DEMOKRATISCHE BILDUNG Perspektiven einer Pädagogik der Teilhabe

Den Hintergrund der folgenden Überlegungen bilden westliche, insbesondere deutsche Erfahrungen. Zunächst werden einige Entwicklungstendenzen der Moderne skizziert; es folgt ein Abschnitt über schulische Bildung und Partizipation; den Abschluss bilden Überlegungen und Vorschläge zu einem besseren Schulalltag.

I. Modernisierung Die Zukunftsaussichten sind undeutlich geworden. Dies betrifft einerseits den Bereich der Bedrohungen der existentiellen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens, wie sie in den Szenarien der globalen „Risikogesellschaft“ beschrieben sind (Beck 2008); auf die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Einzelheiten der Globalisierung soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden, da sie pädagogisch in der Regel nicht direkt beeinflussbar sind. Wenn man sich mit pädagogisch direkter beeinflussbaren Problemen und Perspektiven beschäftigen will, rücken Situation, Haltungen und Praktiken der einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Modernisierung hat die Situation eben nicht nur entscheidend im Blick auf die allgemeinen Lebensbedingungen, sondern auch und vor allem im Blick auf die individuellen Lebensformen und Lebensperspektiven verändert, in Arbeit und Beruf, im privaten Bereich und im öffentlichen Leben. Traditionale Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten haben sich aufgelöst und die Notwendigkeit für den Einzelnen hinterlassen, immer mehr Orientierungs-, Entscheidungs- und Bewältigungsleistungen selbst zu übernehmen. Die Erweiterung der Möglichkeitsräume zwingt den Einzelnen zu immer mehr Entscheidungen, bei gleichzeitig wachsender Unsicherheit über die Richtigkeit und den Ausgang einmal getroffener Entscheidungen; sie zwingt ihn gleichzeitig, die Konsequenzen aus Umständen und eigenen Entscheidungen zu verantworten und zu bewältigen. Vor allem die traditionellen Normen und Werte mittlerer Reichweite, die als Sitten, Gewohnheiten, übliche Handlungsmuster, auch als Stereotype in den alltäglichen Lebensformen und Orientierungsmustern sedimentiert waren, haben sich in den Modernisierungsprozessen verflüssigt: Was früher als Abwei-

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chung galt, gilt heute als normale Variante. Die mit der Globalisierung verbundenen transkulturellen Entwicklungen spielen dabei eine zentrale, beschleunigende und die Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung entscheidend radikalisierende Rolle (Göhlich u. a. 2006). Die Sicherheiten, die die traditionalen Selbstverständlichkeiten bei allen mit ihnen verbundenen Zwängen einstmals geboten haben, sind – offenbar unwiederbringlich – dahin. Pädagogisch rückt damit die Entwicklung individueller Haltungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Ein adäquater Umgang mit Kontingenz muss erlernt werden. Hier liegt eine, wenn nicht die zentrale Herausforderung für die Pädagogik der Gegenwart und der absehbaren Zukunft. Es führt kein Weg zurück in die Tradition; die klassische westliche Moderne, die klassische Arbeits- und Klassengesellschaft kommt nicht zurück. Man muss diesen Verlust nicht betrauern. Allerdings gibt es bisher weder einen gesellschaftlichen Konsens noch gar allgemeingültige praktische Lösungen im Blick auf die neuen Aufgaben und Probleme. Aber wahrscheinlich wäre schon eine solche Art der Fragestellung irreführend: Nötig ist es stattdessen, Unsicherheit und Kontingenz zu akzeptieren und damit leben zu lernen. Partizipation, Teilhabe, ist ein Schlüsselkonzept in diesem Zusammenhang, mit dem die Frage nach der gesellschaftlichen Integration unter Bedingungen radikaler Differenz eine Antwort finden kann. Es geht darum, trotz aller Konflikte und Konfliktquellen wie z. B. unterschiedlichen objektiven und subjektiven Interessenlagen, Glaubensformen und individuellen Haltungen einigermaßen friedlich und tolerant miteinander leben zu können und eben dieses zu lernen. Mit Differenz, Fremdheit, dem Anderen umgehen zu lernen, stellt sich damit als allgemeine Aufgabe. Man muss den Anderen nicht unbedingt verstehen, nicht einmal unbedingt verstehen wollen, aber man muss lernen, miteinander in einer Gesellschaft zu leben. Daher müssen konkurrierende, widersprüchliche Werte und Normen – Frieden und Freiheit, Solidarität und Autonomie, Gemeinschaft und Konkurrenz – ausgehalten werden können. Zu lernen ist, wie das Leben mit Widersprüchen, Ambivalenzen und Risiken geführt und bewältigt werden kann. Eine lediglich äußere Kontrolle durch die Sicherheitsinstitutionen, so unabweisbar nötig sie in gewissem Umfang ist, kann die nötige Integration der Gesellschaft nicht leisten; die Sicherheitsinstitutionen können allein nicht einmal die Sicherheit garantieren; starke Sicherheit kann nur durch die Zivilgesellschaft selbst, durch ein zivilisiertes Zusammenleben zustande gebracht werden. Daher muss die Zivilgesellschaft kultiviert werden. Partizipation kann wesentlich zu einer „Wiedergewinnung von Verantwortlichkeit“ („reconstructing responsibility“) beitragen, wie sie Barack Obama in seinem Wahlkampf 2008 gefordert hat. Und Partizipation kann eine Antwort auf die schamlose Ausbeutung der gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen durch einen wild gewordenen Kapitalismus darstellen. In einer globalisierten, transkulturellen Gesellschaft haben die Fragen nach zentralen, von allen akzeptierten Mindest-Werten erneut an Dringlichkeit ge-

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wonnen. Die Staaten und die Gesellschaften müssen auf der einen Erde in einer „Weltgesellschaft“ zusammen leben; es gibt dazu keine Alternative. Die Globalisierung hat u. a. das Wachstum der Migration zur Folge; sie verändert alle modernen Gesellschaften grundlegend. In Deutschland gibt es eine wachsende Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass die Einwanderung und ihre Folgen über lange Zeiten geleugnet oder allenfalls oberflächlich wahrgenommen worden sind. So hat die allgemeine Öffentlichkeit mit Überraschung auf die Tatsache reagiert, dass der Schulerfolg von Migrantenkindern deutlich unter dem Durchschnitt liegt (Konsortium 2006). Für die Forschung war dieser Befund natürlich nicht neu, sondern altbekannt, aber erst neuerdings hat eine breite öffentliche Debatte begonnen, die dann auch zu politisch relevanten Veränderungen führen kann. Dass die Erfahrungen von Migranten besonders wertvolle Ressourcen darstellen können, ist eine in Deutschland noch ziemlich neue und noch immer ungewöhnliche Einsicht – manche anderen Länder sind da wesentlich erfolgreicher (Bendel/Kreienbrink 2008). In der klassischen Moderne galt die ökonomisch-technische Expansion als der Fortschritt, mit dem sich zugleich auf Dauer der soziale Frieden bewahren ließ. Inzwischen ist deutlich, dass unter modernen Lebensverhältnissen eher die soziale und kulturelle Entwicklung als entscheidende Bezugspunkte des Fortschritts gelten müssen. Die westlichen Gesellschaften haben sich, in den Begriffen Bourdieus ausgedrückt (Liebau 2006), hauptsächlich auf das ökonomische Kapital konzentriert und dabei das soziale und das kulturelle Kapital vernachlässigt. Auch das symbolische Kapital der Anerkennung stand nicht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die westlichen Gesellschaften sind daher mit ihren Ressourcen schlecht umgegangen. Eine wichtige Aufgabe besteht unter diesen Umständen darin, nicht nur den ökonomischen, sondern auch den sozialen, kulturellen und symbolischen Reichtum in seiner ganzen Breite und Vielfalt wahrzunehmen und die verfügbaren Ressourcen für die soziale und kulturelle Entwicklung zu erschließen, um der Atomisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken und neue Teilhabe- und Integrationschancen zu erschließen (Deutsche UNESCO-Kommission 2008). Daher müssen Bildung und Partizipation wiederum neu bedacht werden. Zum Thema wird dabei einerseits die anthropologische Grundlage aller Bildung, also die zugleich leibliche, soziale, kulturelle, historische Basis aller Subjektivität und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen (Liebau 2004; Zirfas 2004); dieser Aspekt soll hier jedoch nicht im Mittelpunkt stehen. Andererseits, und darum soll es im Folgenden gehen, sind die sozialen und kulturellen Felder, auf die die Bildungsprozesse bezogen und zu beziehen sind, erneut zu bedenken. Das führt direkt zur Frage nach dem Curriculum. Daher soll es nun um die Schule als Beispiel gehen; aber das Problem ist natürlich ein allgemeines.

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II. Bildung und Partizipation Der normale soziologische Blick auf das Schulsystem unterscheidet fünf Funktionen: die Qualifikations-, die Selektions-, die Integrations-, die Legitimations- und die kustodiale Funktion. Aber dieser soziologische Blick ist der Blick von Erwachsenen, die nur an den Ergebnissen der Schule und des Schulsystems interessiert sind. Man muss aber auf die Bedürfnisse und Wünsche der jungen Generation, der Kinder und Jugendlichen, schauen, um etwas über die pädagogischen Notwendigkeiten und die pädagogisch relevanten Dimensionen herauszufinden. Schule, so hat Paul Goodman bekanntlich einst geschrieben, sollte ein „place for young people to grow up in“ sein. Die Grundlage allen Aufwachsens aber ist der Leib, der Kultur und Natur untrennbar verbindet. Bildung kann man übersetzen als aktive Teilhabefähigkeit und als aktives Teilhabeinteresse in den verschiedenen Lebensbereichen des Alltags, der Kultur und Kunst, der Öffentlichkeit und Politik, der Wissenschaft, der Arbeit und der Religion, also der unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft und der Gerechtigkeit, um Michael Walzer zu zitieren (2006). Je undeutlicher die Zukunftsperspektiven werden, desto wichtiger wird eine solche breite Definition von Bildung. Sie gewinnt zumal unter den Bedingungen einer höchst unsicheren Zukunft der Arbeitsgesellschaft immer stärkere Bedeutung. Es ist daher nicht nur für die Zukunft unseres Bildungssystems, sondern für die Gesellschaft insgesamt entscheidend, Bildung nicht nur auf vorberufliche Qualifikation, sondern auf Lebensführung und -bewältigung im Ganzen zu beziehen, so wichtig die Teilhabe an der Arbeit auch sein mag. Aber die Kinder und Jugendlichen müssen leben lernen, nicht nur arbeiten. Das schließt auch die Befähigung zur politischen Teilhabe als Grundlagenkompetenz für das Leben in einer demokratischen Gesellschaft ein. Der Erwerb demokratischer Haltungen kann nachhaltig nur durch die Einübung in alltägliche demokratische Praxis gefördert werden. Pädagogisch stellt sich also die Aufgabe, für Kinder und Jugendliche in der Schulzeit nicht nur spätere Teilhabemöglichkeiten antizipatorisch vorzubereiten, sondern ihnen zugleich aktuelle Teilhabemöglichkeiten zu erschließen und zu eröffnen. Im Umgang mit unbekannten, fremden, herausfordernden Fragen und Situationen geschieht Bildung im nicht abschließbaren Wechselspiel von Ich und Welt, als Bildung der Person durch Bildung der Welt. Weltbilder, Erfahrungen, Kompetenzen sind immer an die individuellen Bildungsprozesse der Person gebunden; aber diese Prozesse können nur in der und durch die gestaltende Auseinandersetzung mit den Um- und Mit-Welten zustande kommen. Die Aufgabe des Lehrers besteht darin, den Erfolg solcher Prozesse zu ermöglichen und zu unterstützen. Er muss Möglichkeiten und Chancen eröffnen. Aber das Lernen und der Bildungsprozess bleiben in jedem Fall strikt personal und individuell.

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Die Dimensionen einer partizipatorischen Pädagogik sind bereits angesprochen:1 1) Erziehung zur Arbeit bildet den ersten Bezugspunkt – Arbeit bildet schließlich die Grundlage allen gesellschaftlichen Lebens. 2) Das gesellschaftliche Leben muss gestaltet werden – Bildung zur Politik stellt daher die zweite wesentliche Dimension dar. 3) Kultur und Kunst geben nicht nur dem Leben Form, sondern bilden zugleich die Medien, in denen sich Subjektivität entfalten kann; sie bilden daher den dritten Bezugsbereich. 4) Für die moralische Bildung im engeren Sinne bilden Wissenschaft, Religion und Ethik zentrale Dimensionen. 5) Schließlich aber ist es der Lebensalltag, in dem die Menschen mit den verschiedenen Bezugsbereichen umgehen und in dem sie ihre Werte finden und leben müssen. Aber wie kann eine partizipatorische Pädagogik, eine Pädagogik der Teilhabe erreicht werden? Was können Schulen bieten? 1. Arbeit: Lernen, etwas zu tun2 Das Zusammenleben in modernen Gesellschaften basiert auf Arbeit und Beruf. Entsprechende fachliche Qualifikationen bedürfen besonderer Ausbildung. Und entsprechende allgemeine Grundhaltungen zur Arbeit (Schlüsselkompetenzen) müssen ebenfalls erst erworben werden; das wusste im Übrigen schon Kant, der daraus ein zentrales Argument seiner Erziehungstheorie gemacht hat (1964). Ein angemessener Begriff von gesellschaftlicher Arbeit schließt nicht nur die Erwerbsarbeit, sondern auch die private Reproduktions- und Familienarbeit und die unbezahlte öffentliche Arbeit, z. B. im Bereich der ehrenamtlichen Tätigkeiten, ein. Die Schulen können in diesem Bereich sehr wichtige Aufgaben übernehmen. Selbstverständlich ist die normale schulische Arbeit die erste und wichtigste Grundlage in dieser Hinsicht. Schüler können im Rahmen der Schule selbst produktiv tätig werden und dabei allgemeine Arbeitskompetenzen erwerben. Arbeitshaltungen und Arbeitstechniken müssen kultiviert werden. Aber diese Erfahrungen reichen nicht aus. Man braucht die Erfahrung der sozialen Realität von Arbeit und Beruf als einem zentralen Aspekt des Lebens und des Zusammenlebens als Teil der all––––––––––––––––––

1 Zum Folgenden vgl. ausführlicher Liebau 1999. 2 In dem von Christoph Wulf, Fathi Triki und Jacques Poulain verfassten Grundlagenpaper zur TUNIS-Konferenz „Education and Empowerment of Democracy“ werden vier Pfeiler des Lernens unterschieden: „Learning to know, learning to do, learning to live together and learning to be“ (S. 1). Diesem Grundansatz wird hier gefolgt, allerdings werden die Begriffe etwas stärker differenziert und variiert.

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gemeinen Bildung. Und man muss lernen, Kopf, Herz und Hand zu gebrauchen, je für sich und vor allem gemeinsam, wie Pestalozzi gefordert hat. Daher sind produktive Lernformen aller Art erforderlich, einschließlich praktischer Projekte und einschließlich Betriebspraktika (Fauser et al. 1991). 2. Politik: Lernen, in der Gesellschaft zusammen zu leben Schulen sind die Orte in der Gesellschaft, wo sich Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen Hintergründen treffen. Sie sind daher die Orte, an denen soziale, interkulturelle und transkulturelle Integration geschehen muss. Schulen sind die Orte, an denen die Schüler die Vielfalt zu tolerieren und von ihr zu profitieren lernen. Hier haben sie zu lernen, warum es Demokratie gibt, wie sie arbeitet und wie sie anerkannt werden kann. Politische Bildung gehört also zu den Kernbereichen der schulischen Aufgaben. Dazu gehören nicht nur eine in ihrer Bedeutung kaum zu unterschätzende profunde Wissensvermittlung und die Forderung und Förderung der politischen Reflexion. Politische Bildung darf sich aber nicht in Belehrung erschöpfen, wenn sie zur Bildung tragfähiger demokratischer Haltungen beitragen will. Wenn, wie Hartmut von Hentig einmal formuliert hat, die Schule ein „Mittleres“ sein soll, eine „Brücke“ (1993, S. 218) zwischen den intimen Räumen der Familie und Privatheit und den öffentlichen Räumen von Gesellschaft und Politik, muss sie zu beiden Seiten offen sein. Für die Schüler muss die Schule ein von ihnen beeinflussbarer Ort sein, an dem es auch um für sie wichtige Fragen geht, wo sie Verantwortung übernehmen, ihre eigenen Angelegenheiten organisieren, demokratische Regeln erproben können, wo es also Sinn macht zu partizipieren. Zugleich aber müssen sie diesen Ort als eine Institution erfahren können, die sich verantwortlich um öffentliche Angelegenheiten kümmert, sich auch selbst als Teil bürgerlicher Öffentlichkeit versteht und dementsprechend auch ihre inneren Angelegenheiten auf bürgerlich-zivile, demokratische Weise regelt (Beutel/Fauser 2001). John Dewey nannte das „embryonic society“; er meinte, dass Schüler Demokratie als Lebensform und nicht nur als formale Hülle erfahren sollten. 3. Kunst: Lernen, wahrzunehmen, zu erscheinen, sich auszudrücken und zu gestalten Vor dem Hintergrund der Globalisierung kommt den Künsten wachsende Bedeutung für die Bildung zu (Wulf et al. 2007). Im Blick auf Kommunikation und interkulturelle Dialoge bildet die Bildung durch Kunst und kulturelle Erfahrung eine conditio sine qua non. Bisher hat die ästhetische Bildung zwar in manchen Fächern (Musik, Kunst, Sport, Deutsch, Fremdsprachen, zunehmend auch Theater) ihren Ort; viele in-

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teressante Ansätze finden sich darüber hinaus seit eh und je in außerunterrichtlichen schulkulturellen Aktivitäten (Chor, Orchester, Bands, Theater etc.). Aber in der Qualifikationshierarchie rangieren die wissenschaftsorientierten Inhalte einstweilen eindeutig und mit weitem Abstand vor den ästhetischen. PISA zum Beispiel untersucht mathematische, naturwissenschaftliche und sprachliche Kompetenzen, und nichts sonst. Kreativität, Imagination, Innovation werden zwar gefordert, aber seltsamerweise nicht dort gefördert, wo sie doch am deutlichsten ausgeprägt sind: in den Künsten. Vermutlich hat dies etwas mit der Geringschätzung der Künste in der Qualifikationshierarchie auch der Schulen selbst zu tun. Dabei liegt die wachsende Bedeutung der Künste unter Globalisierungsbedingungen auf der Hand: Anne Bamford hat überzeugend dargestellt, dass „in unserer heutigen Ökonomie Kreativität, Design und Innovation für das Überleben notwendig sind. Innovation erfordert, dass Ideen frei fließen, was wiederum erfordert, dass die Leute kreativ und gut gebildet sind. Die jungen Leute von heute werden die Erfinder der neuen kulturellen Gewohnheiten und sozialen Philosophien von morgen sein. Sie müssen in der Lage sein, Materialien, Bedingungen und Formen des Zusammenlebens zu gestalten, um diese neue Welt stark zu machen. Um das zu erreichen, brauchen junge Leute gehaltvolles und sequenzielles Lernen sowohl in den als auch durch die Künste“ (2006, S. 19). Die Kultivierung des kreativen und phantasieorientierten Lernens, gerade auch in der produktiven und selbsttätigen Verbindung von Hoch- und Alltagskultur, gehört daher heute nicht nur in die Randbereiche der Schulpraxis, sondern ebenfalls in ihren Kern, und zwar mit gleichem Gewicht wie das wissenschaftsorientierte Lernen – nicht zuletzt aus sehr trockenen und nüchternen Qualifikationserwägungen: Kreativität und Phantasie sind unter postmodernen Lebensbedingungen schließlich in allen und für alle Bezugsbereiche zentrale „Schlüsselqualifikationen“. Es ist daher eine der wichtigsten pädagogischen und bildungspolitischen Aufgaben, hier die Spielräume und Praxismöglichkeiten zu erweitern, also den Kunst-, den Musik-, den Literatur- und Theater-, aber auch den Sportunterricht und die entsprechende außerunterrichtliche Arbeit in der Schule so intensiv wie möglich zu fördern (Bilstein u. a. 2007; Liebau/Zirfas 2008). Dabei ist es wichtiger, Theater zu spielen, als über Theater pseudowissenschaftlich Bescheid zu wissen. Man weiß nicht, was Theater ist, wenn man niemals auf der Bühne gestanden oder die Lichter angedreht hat (Jurké et al. 2008). Die Kultivierung der Künste trägt entscheidend zu einer breiteren Akzeptanz kultureller Vielfalt bei. Denn die Künste bieten eine dritte Sprache, die auch die Chancen interkultureller Kommunikation nachhaltig erhöht: Man kann miteinander tanzen (Klepacki/Liebau 2008). Für die Erziehung zur Arbeit, die Bildung zur Politik und die Entfaltung der Subjektivität durch die Künste gelten jeweils auch ethisch-moralische Ansprüche. Sie bedürfen der Rechtfertigung im Horizont des guten Lebens. Wissenschaft als Frage nach der Wahrheit, Religion als Frage nach dem Sinn und

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Ethik als Frage nach den Prinzipien des guten Lebens stellen die Bereiche dar, in denen ethisch-moralische Ansprüche direkt thematisiert werden. 4. Wissenschaft: Lernen, zu fragen, herauszufinden, zu wissen Seit der Aufklärung bildet der wissenschaftliche Weltzugang für die moderne Schule den konstitutiven Rahmen. Wissenschaftsorientierte Bildung verfehlt allerdings ihren Sinn, wenn sie sich in der Vermittlung und Aneignung wissenschaftlich kontrollierten Wissens erschöpft, aber keine Gelegenheiten gibt, etwas über die Entstehung von Wissen zu erfahren. Nicht die Übernahme eines vorgeblich festen und gesicherten wissenschaftlichen Wissens, das sich dann doch in kürzester Zeit als überholt erweisen wird, sondern die Aneignung der Methoden wissenschaftlichen Arbeitens im Umgang mit offenen Fragen – forschendes Lernen also – bildet den Kern einer wissenschaftsorientierten Bildung. Schon Wilhelm von Humboldt hielt das „Lernen des Lernens“ für die entscheidende Aufgabe. Unter den Bedingungen radikaler Beschleunigung des Wissensverfalls durch neue Wissensproduktion gilt dies umso mehr. Es geht also um das Erlernen und die Habitualisierung der wissenschaftlichen Haltung. Alle Schulfächer bieten alltagsnahe Formen wissenschaftlicher bzw. wissenschaftsorientierter Arbeit, die sehr wohl auch die Erzeugung neuen Wissens, neuer Erkenntnis zum Gegenstand haben können und die zugleich vielfältige Formen der Partizipation eröffnen. Vielleicht ist „Recherche“ hier eine angemessenere Bezeichnung als Forschung; aber die Perspektive auf eine aktive Teilhabe ist wohl deutlich. Sie sollte so weit wie möglich eröffnet werden – nicht zuletzt, um den Schülern die Illusion der absoluten Verlässlichkeit und Sicherheit wissenschaftlichen Wissens zu nehmen (Rumpf 2004). Scheinbar plausible Lösungen können sich als irreführend erweisen. Für manche Probleme findet man keine Antworten. Forschung kann in die Irre führen. Forschungsergebnisse sind immer nur begrenzt gültig. Endgültige Wahrheit ist Illusion; sie lässt sich wissenschaftlich niemals erweisen: Das Wesen wissenschaftlichen Wissens besteht in seiner prinzipiellen Offenheit und Revidierbarkeit; wissenschaftliches Wissen ist unsicheres Wissen. Gerade diese Einsicht hat für die ethisch-moralische Erziehung höchste Bedeutung und muss daher allen Schülerinnen und Schülern erschlossen werden. 5. Religion: Lernen, mit Kontingenz zu leben Die Wissenschaft bietet keine Antwort auf die „letzten Fragen“ nach dem Ursprung und dem Sinn des Lebens. Dies ist das Feld der religiösen Erfahrung. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen gehört daher genuin zur allgemeinen, schulisch zu vermittelnden Bildung. Wie mit diesem Thema umgegangen

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wird, hängt selbstverständlich von den religiösen, sozialen und institutionellen Kontexten ab. In Deutschland wird Religion in der Schule als Fach angeboten, in Frankreich nicht. In manchen islamischen Kontexten wird Religion als Grundlage allen Unterrichts gesehen. Religion ist sicher ein relevanter Referenzrahmen und Bezugsbereich allgemeiner Bildung. Aber Schulen können und dürfen nicht Kirchen, Moscheen, Tempel oder Synagogen werden. Sie sind nicht der Ort religiöser Mission. In Deutschland müssen Schulen weltanschaulich neutral bleiben; auch der schulische Religionsunterricht fällt damit in den Aufgabenbereich der Religionsgemeinschaften. Das ist eine sehr besondere Konstruktion, die aber, alles in allem, ganz gut funktioniert. Für die, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen wollen, wird ersatzweise EthikUnterricht angeboten. Religionsunterricht führt Kinder und Jugendliche einerseits zur Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen und dem individuellen Glauben; es geht andererseits aber auch um das religiöse Phänomen als solches und seine verschiedenen Formen. Schleiermacher hat das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ als Kern von Religion identifiziert. Das scheint ein anthropologisch ubiquitäres Phänomen zu sein (Wulf et al. 2004). Ein wissender und reflexiver Umgang mit Religion gehört daher zu den Kernbereichen allgemeiner Bildung. Die Geschichte des Mittelmeerraums und die gesamte abendländischeuropäische Tradition sind mit der Geschichte der drei Schwestern, Judentum, Christentum, Islam, eng und untrennbar verwoben, aber natürlich auch mit Heidentum und antiker Philosophie. Die Gegenwart kann ohne einschlägige Kenntnisse der Religionsgeschichte als Teil der Kulturgeschichte überhaupt nicht verstanden werden. Im Blick auf die heute notwendige Allgemeinbildung ist eine Begrenzung auf die christliche Tradition allerdings unter Bedingungen der Globalisierung, der Inter-Kulturalität und der Inter-Religiosität nicht mehr zu vertreten (Wulf et al. 2006). Der konfessionelle Religionsunterricht darf daher nicht die einzige Verbindung zum Bezugsbereich Religion darstellen, weil sonst ein erheblicher Teil der Schüler von diesem Teil der Allgemeinbildung und damit der entsprechenden kulturellen Teilhabe ausgeschlossen würde; daher ist in jedem Fall über den konfessionellen Religionsunterricht hinaus Religionskunde für alle Schülerinnen und Schüler in der einen oder anderen Form notwendig. Schulen können dabei zu zentralen Orten interkultureller und interreligiöser Diskurse werden, weil dort tendenziell alle religiös relevanten Haltungen repräsentiert sind. 6. Ethik: Lernen, das Gewissen wahrzunehmen, Handlungsgründe zu finden und Sorge für andere zu tragen Was wollen und was sollen wir tun? Wie können wir als freie und daher verantwortliche Menschen unser Handeln begründen und rechtfertigen? Wie wol-

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len und wie sollen wir mit dem Konflikt von Pflicht und Neigung umgehen? Eine partizipatorische Pädagogik lässt sich ohne ethisch-moralische Dimension nicht denken. Die Förderung der ethisch-moralischen Urteils- und Handlungsfähigkeit gehört daher zu den Kernaufgaben der Schule: die Wahrnehmung und Prüfung des Gewissens, die moralische Beurteilung von Handlungen und Handlungsgründen, die Verpflichtung auf die Sorge um den Anderen müssen auch schulisch gelehrt und gelernt werden. Aber Ethik unterscheidet sich von den anderen Bezugsbereichen insofern wesentlich, als sie ihrem Wesen nach nicht als ein eigener arbeitsteiliger Bereich der Gesellschaft institutionalisiert werden kann, sondern als Frage nach legitimen Werten, Zielen und Prioritäten die gesamte gesellschaftliche und individuelle Lebenspraxis durchzieht. Kants Kategorischer Imperativ gilt in allen Lebensbereichen, also auch in der Schule – zumindest in der schlichten Form der „goldenen Regel“: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.“ Dementsprechend muss Ethik in jedem Fall als Unterrichtsprinzip – quer zu allen anderen Lernbereichen – institutionalisiert sein; die Institutionalisierung eines für alle verbindlichen Fachs „Ethik“ oder „Praktische Philosophie“ stellt keine Alternative, allerdings eine durchaus erwägenswerte Ergänzung dazu dar. Die ethischmoralische Urteils- und Handlungsfähigkeit kann jedoch nur dann nachhaltig gefördert werden, wenn das gesamte Arrangement des schulischen Alltags hier unterstützend wirkt. Das gilt nicht allein für „gerechte Gemeinschaften“ sensu Kohlberg. Die Menschenrechte erlauben keine Ausnahmen.

III. Das Glück des Schulalltags: Lernen, zu sein Selbstverständlich sind Schulen Teil der Gesellschaft und müssen den Erwartungen erwachsener Kultur und Gesellschaft entsprechen. Aber vor allem müssen sie die Bildungsbedürfnisse der jungen Generation befriedigen. Hier ergibt sich eine glückliche Koinzidenz: Schule bildet nämlich dann am besten für den außerschulischen Alltag und die Zukunft, wenn sie in der Gegenwart ihren eigenen, den Schulalltag kultiviert und den Schülerinnen und Schülern hier entsprechende Teilhabe-Möglichkeiten erschließt. An interessanten Reformschulen – der Laborschule Bielefeld, der Helene-Lange-Schule Wiesbaden, der Reformschule Kassel u.v.a.3 – kann man beobachten, was das heißt: Es bedeutet, den Kindern und Jugendlichen nicht nur für ihr Lernen, sondern auch für ihr alltägliches Zusammenleben Zeit zu geben und Zeit zu lassen (mit erheblichen Konsequenzen für die Zeitorganisation der Schule); es bedeutet, ihnen Raum zu geben und zu lassen, der zur Begegnung mit Sachen und Menschen einlädt, der gestaltet werden kann, der offen und öffentlich ist (und auch ––––––––––––––––––

3 Viele wichtige Reformschulen haben sich im Arbeitskreis reformpädagogischer Schulen „Blick über den Zaun“ zusammengeschlossen. Informationen über die einzelnen Schulen und über das Netzwerk finden sich im Internet (http://www.blickueberdenzaun.de).

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die Flure z. B. als Arbeits- und Ausstellungsorte einschließt); es bedeutet, die Kinder und Jugendlichen nicht nur zu belehren, sondern ihnen auch eigene, selbsttätige Erfahrungen bei der Aneignung zu ermöglichen, was neben rezeptiven auch aktive, praktische Weltzugänge erfordert; es bedeutet, ihnen Verantwortung zu übertragen, ihnen also Gelegenheiten zu geben, für etwas zuständig zu sein und gebraucht zu werden (und sei es als Statist im Schultheater); es bedeutet, ihnen mit Vertrauen und Respekt zu begegnen, also auch vertrauenswürdige Verhältnisse einzurichten, in denen mit Interesse und Vergnügen gelernt und gelebt werden kann (Liebau 1999). Das betrifft dann selbstverständlich auch Fragen der Mitberatung und der Mitbestimmung in Unterricht, Schulleben und Schulkultur. Und es hat Folgen für das Verständnis professioneller pädagogischer Arbeit in der Schule; denn alle diese Gesichtspunkte lassen sich auch auf die in der Schule tätigen Pädagogen beziehen. Nicht so sehr die unterrichtliche Thematisierung des Alltags als Lehre für eine nahe oder fernere Zukunft, eher ein reiches Leben von Schul-Alltag bildet in dieser Dimension das Zentrum. Es geht um die Gestaltung der Gegenwart als bedeutsame Zeit, als Zeit, die als solche wertvoll ist und zählt (v. Hentig 1997). Jeder Lebensabschnitt im Lebenslauf ist besonders und in sich wertvoll, wie Rousseau und Schleiermacher gelehrt haben. Das gilt auch für die Schulzeit in allen ihren Abschnitten. Schulen dieser Art und Qualität können nicht von Lehrern und Schülern allein gestaltet werden. Das gilt räumlich, zeitlich, kulturell und sozial. Schulisches Lernen wird künftig weniger an die vier Wände des Schulgebäudes und die festen Schulzeiten gebunden sein, sondern den Schülern eine Fülle unterschiedlicher Bildungsmöglichkeiten erschließen: einerseits in den praktischen Welten von Arbeit, Öffentlichkeit und Politik, andererseits aber an den Orten öffentlich geförderter Kultur und Bildung, den Universitäten und Hochschulen, den Museen, Theatern, Kulturzentren, den öffentlich-rechtlichen und privaten Medien (Rundfunk, Fernsehen, Zeitung), den Sportanlagen, Zoos, botanischen Gärten, Parks, Schlössern – und selbstverständlich in den unermesslichen virtuellen Welten des Internet (Hill et al. 2008). Schulen dieser Art entwickeln sich zu kulturellen Zentren, die nicht nur für die Schüler, sondern auch für eine breitere Öffentlichkeit Bedeutung gewinnen. Das ist eine demokratische Perspektive, und eine sehr willkommene Art der Teilhabe (Liebau/ Zirfas 2009).

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„Je voudrais tout contenir en moi et rester simple. C’est difficile. Car, quel que soit mon désir de rester simple, je ne veux pas dissoudre la multiplicité.“1

Elias Canetti

Ich stelle den hier vorliegenden Aufsatz in das Zeichen des lebendigen Lebens mit Beziehungen des Lobes und der Dissonanz, mit einer fluiden Identität und einem interkulturellen Maßstab, um das Trugbild der exklusiven Harmonie, der obligatorischen symbolischen Unterwerfung unter ein und dasselbe kategorische Modell ein wenig vergessen zu machen. Die geschichtlich bedingte interkulturelle Natur mancher Gesellschaften, die sich in konstanter Veränderung oder auf der Suche nach politischer, wirtschaftlicher, technischer, intellektueller Vervollkommnung befinden, besteht nämlich gerade darin, Brüche und Kontraste, Neuordnungen von Kodes und komplementäre Erziehungen zu erzeugen. Dies erklärt sich aus dem Übergang von einem Zustand zu einem anderen, von einer primären – oder zumindest als primär angesehenen – Kultur hin zur Hingezogenheit zu anderen Verhaltensweisen, die mit dem in Konflikt treten, was zunächst an Gewohnheiten, Einstellungen und Empfindsamkeiten vorhanden ist. Man lernt nicht mehr nur und ausschließlich, indem man von sich selbst ausgeht, sondern man lernt in einem Rhythmus von Beziehungen; man tritt in einen Zyklus der Selbst-Transformation, ausgehend von dem, was geschieht. Dabei geht es nicht um neue Faktoren der Enteignung, sondern um eine konfliktreiche Intensität, um eine konkurrierende Legitimität von Interessen und dem symbolischen bzw. praktischen Nutzen beispielsweise der Demokratie, um den Bruch mit der Hegemonie der Tradition, um die Freiheit des Denkens, das Prinzip des Erschaffens, das Primat der Vernunft, die Konstruktion des ethischen Subjektes, das Ideal des Bürgers [citoyen], die Gewissensfreiheit usw. Die ganze horizontale Bandbreite des Lebens ist betroffen und wird durchzogen von den vertikalen Linien anderer Genealogien zwischen Anziehung oder Abstoßung, seien diese nun freiwillig oder ungewollt, übernommen oder aufgezwungen. ––––––––––––––––––

1 „Ich würde gerne alles in mir enthalten und doch einfach bleiben. Das ist schwierig. Denn ungeachtet meines Verlangens, einfach zu bleiben, will ich doch die Vielfalt nicht auflösen.“

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Man lernt dies lernt ungeachtet seiner selbst und gegen sich selbst, in der Verunsicherung neuer Erkenntnisse, neuer Untergliederungen, neuer Infragestellungen, neuer Merkmale, die mit der Geschichte der Übergänge zusammenhängen. Das ist mit „negativem Lernen“ gemeint, am Ursprung einer Erneuerung, einer Komplementarität, einer Neudefinition von Zugehörigkeit. Deutlich zeigt sich hier, dass es ohne dieses Wieder-Anschließen keine Distanz gäbe, keine neuen sozialen Beziehungen. Die kulturellen Konstruktionen der Welt sind verschiedene und unterschiedliche Weisen, auf die Existenz selbst zu antworten, und man kann sie in gewissen Zusammenhängen, in gewissen Idiosynkrasien, in gewissen wünschenswerten Konvergenzen, in gewissen sensiblen Überschneidungen pulsieren sehen. Die Konvergenzen liegen nicht darin, was diese Konstruktionen aussagen, sondern worauf sie abzielen. Gemeint ist die Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Basis um die Existenz selbst herum, die auf die Logik des Lebens und dessen Unordnung zurückgeführt, nicht in ein normatives Verhalten gezwängt wird: Sinn des Lebens, Macht, Geschlecht, Glauben, Verlangen nach Mimesis, Subjektivität, Tod, Bildung des Selbst ... Das zwingt dazu, andere Perspektiven wieder bzw. neu zu erzeugen auf das, was normalerweise als unabänderliche, unveränderbare Geschichte(n) angesehen wird. Die Rede ist von einer Wiederaneignung von Kultur (re-culturation), die auf dem Weg über eine vielschichtige und differenzielle Erziehung verläuft und nicht immer einfach zu leben ist. In diesem Sinn macht Interkulturalität die Unbequemlichkeit zu einem Lebensprinzip. Anders ausgedrückt haben wir – in diesen nicht immer eingestandenen Veränderungs-Gesellschaften – ein Vermächtnis geerbt, das sich von Tag zu Tag neu schreibt; dies ist es, was Peter Sloterdijk den „mythologischen Horizont“2 nennt, der eine ewige Gegenwart voraussetzt, aber im Unterschied dazu ist für uns, im Maghreb beispielsweise, die Gegenwart nicht frei von Vergangenheit, und diese dauert in gemeinschaftlicher Weise an, indem sie sich durch andere Kräfte weiterführen lässt, sich in gewissen Fällen verändert, und sich den Unebenheiten der Zeit, der Gegenwart unterwirft, den Überflutungen, die ein Pensée-autre (AndersDenken)3 hervorruft, der Entwicklung komplexer Genres: Kunst, Literatur ...; all dies entweder in einer verstärkenden Weise, die assimilierte menschliche Entwicklungen hervorbringt, oder aber mittels Akkulturation, die als schuldbeladen empfunden wird oder schuldhaft gemacht wird durch die Macht eines Gruppen-Blicks mit der Gruppe als abstraktem, klerikalen Modell oder als Herde. Das Wichtige sind die dissonanten Subjektivitäten. Hier zu sein, allerdings in einer revidierten Gegenwart, erhellt durch eine Transparenz, die durch Verbindungen erzeugt wird, die ihrerseits aus der Binnen-Erfahrung einer kollek––––––––––––––––––

2 Essai d’intoxication volontaire. Paris 2001. 3 Vgl. Abdelkébir Khatibi, Maghreb pluriel. Paris, Rabat 1983. [Khatibi entwickelt dort das Konzept des Anders-Denkens als Auflösung der Dialektik von Selbst und Anderem, A.d.Ü.]

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tiven Geschichte gebildet werden. Angesichts der Unmöglichkeit, definitiv Besitz vom eigenen Selbst zu ergreifen und dieses Selbst definitiv zu verorten, weckt das Erlernen der Abweichung durch komplementäre Kulturen Zweifel an der Mystifizierung der maximalen Identität, die nach wie vor dazu tendiert, in der Gleichsetzung des Selbst mit sich selbst zu erstarren (durch die Rasse, das religiöse Absolute, die offiziellen, politischen Identitäten usw.). Die interkulturelle Erziehung (die verschiedenen Philosophien, die Ästhetik des Sichtbaren, die neuen Rechte, die Dekonstruktion der Modelle, die Vielfalt der Lebensentwürfe) ermöglicht es, sich alle Traditionen vorzustellen, indem sie den Faden der alleingültigen Tradition durchtrennt, die ja nur eine Sichtweise ist, nicht mittels monströser Zwitterkonstruktionen oder ökumenischem Dialog, sondern indem sie die menschlichen Erfahrungen zueinander in Perspektive bringt, in Resonanz, in gleichzeitige Präsenz, in Fragmentierung. Es gehört zur Bestimmung einer solchen Erziehung als einer Ausdifferenzierung von Verbindungen, eines modernen In-Verbindung-Bringens, dass sie nie vollendet ist. Grundlage bildet eine minimale Identität (das Vertraute, das Mütterliche, die erste Sprache, die ersten Soziabilitäten, die konventionellen Identifikationen, die Atavismen usw.), aber zugleich versteht sich das kollektive Bild einer Gesellschaft in Transformation nicht mehr als Block; es erweist sich als komplexe Färbung, als Addition einer Abfolge spezifischer Bilder, als Spiel, als Strukturierung und nicht als Struktur; eine Addition, die erneut etwas Plurales erzeugt, selbst wenn dies in der Rohheit der Globalisierung oder der Spaltungen besteht, der neuen Tribalisierungen oder Balkanisierungen, oder das Risiko des Farbloswerdens mit sich bringt. Diese Addition setzt die geistigen Möglichkeiten frei – durch Ansteckung, durch die „strategischen Synkretismen“,4 durch die Künste, die Literatur, die Musik, und schafft autonome Räume, auch wenn es eine Vergeudung und Verschwendung des angehäuften kulturellen Kapitals, der historischen Hoffnung der Entkolonialisierung in einer Region wie dem Maghreb gibt, die sich im Wesentlichen der Schwäche der Institutionen und unregulierten Ressentiments gegenüber allem Exogenen (Fremdsprachen, politische Methoden ...) verdankt, wie auch der Umwidmung von Legitimitäten, der Irreführung von Nationalismen,5 dem Mangel an Großzügigkeit sich selbst gegenüber, dem primären Anti-Okzidentalismus usw.; und weil der politische Diskurs immer in einer Überbietung des Unbehagens und unserer schlechten Stellung in der Welt verharrt; weil man in der arabischen Welt die Demut und die Fragilität der Präsenz in der Welt noch nicht begriffen hat; denn es ist immer schwierig, „uns mitten unter den anderen als lokales Beispiel der Formen zu sehen, die das menschliche Leben hier und jetzt angenommen hat, als einen Fall unter vielen, als eine Welt unter vie––––––––––––––––––

4 Zur Verwendung exogener politischer oder kultureller Elemente im Dienst autochthoner Zielsetzungen vgl. J. F. Bayard, L’illusion identitaire, Paris 1996. 5 Vgl. Hélé Béji, Nous, décolonisés. Paris 2008, S. 62-98 u. pass.

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len.“6 Und es ist nach wie vor schwierig, sich selbst ein für allemal zu erobern, daher auch die ewige Wiederkehr der gleichen Fragen: Religion als unhintergehbarer Horizont, die Sakralität der arabischen Sprache,7 die Schuldzuweisungen gegenüber dem Westen, das unveränderliche Wesen der eigenen Vorstellungen. Mein Anliegen in diesem Zusammenhang ist selbstverständlich nicht die Hoffnung, die in eine hybride Erziehung gesetzt wird, ebensowenig die Generalisierung der Akkulturation, noch habe ich eine zugeschnürte Kehle bei der Idee, heute zu den ursprünglichen vereinheitlichenden Bezugspunkten zurückzukehren; ich stelle mir lediglich vor, dass es nicht wirklich vernünftig ist, die Sterblichkeit der Zivilisationen in einer Gewalt-Beziehung, im Beibehalten der Schwere8 herbeizusehnen, dass es nicht notwendig ist, die politische Vergangenheit (den Kolonialismus), die ökonomische Gegenwart (das HerrschaftsMonopol), die kompromisslose Ausdehnung bestimmter Zivilisationsformen für unsere eigene Schwäche von heute verantwortlich zu machen und so unsere Ablehnung der Heterogenität der Kulturen, die Re-Kulturalisierung unseres Blicks, den Wunsch nach der Verortung in einem großen Zusammenhang zu rechtfertigen. In Wirklichkeit gibt es ein doppeltes Problem, ein doppeltes Angespanntsein – seitens der Einfluss ausübenden Gesellschaften und seitens derer, die diesem Einfluss unterliegen: Die einflussreichen Gesellschaften verharren in der Selbstverteidigung, indem sie die Separation wieder einführen, indem sie nur die allgemeine Konvergenz suchen, einen Mimetismus und eine ahistorische Reproduktion ihres Modells fordern, beispielsweise des demokratischen Formalismus, des abstrakten Universalismus ..., was die Reaktion der Subalternen erklärt, die die Provinzialisierung der westlichen Modelle anstreben; und andererseits verfallen die Gesellschaften, die dem Einfluss unterliegen, in ein willensschwaches Denken, in autoritäre Regimes, in ein dogmatisches Eintrichtern in Lehre und Unterricht, in die Anmaßung, alles mithilfe des theologischen Repertoires zu erklären, in eine schlechte Staatsführung, in eine Souveränitäts-Rhetorik, in den Solipsismus der Identität – ich erspare mir weiteres. Aus diesem Grund bedeutet negatives Lernen eine Revision der Dinge, es bietet die Möglichkeit, sich in komplexen Denkmustern zu hinterfragen, in Dispositiven der Infragestellung und der Neukonfiguration: das Religiöse als Teil und nicht als Gesamtheit zu re-konfigurieren, alle vergessenen, ver––––––––––––––––––

6 Clifford Geertz, Savoir local, savoir global. Paris 1986, S. 24 („nous voir parmi les autres comme un exemple local des formes que la vie humaine a prises ici et là, un cas parmi les cas, un monde parmi les mondes“). 7 In Marokko hat kürzlich die Unabhängigkeitspartei die Frage nach der Arabisierung und die alten Sprachdebatten wieder aufgeworfen. Die Herausbildung der politischen Elite bleibt einem reaktiven post-kolonialen Denken verhaftet, wogegen doch eine praktische sprachliche Neugestaltung vonnöten wäre, nicht eine ideologische. 8 Sloterdijk, a.a.O., S. 166.

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schwiegenen Wahrheiten unserer Geschichte und die vielen daraus resultierenden Irrwege wiederzufinden, Bildung und Erziehung neu zu denken als Dispositive der Akkumulation, der Liberalisierung des Geistes und der Distanz, die es erlauben, nicht am eigenen Selbst kleben zu bleiben wie an einer Geburtsmaske, und die „Dispositive der Gefangennahme“,9 wie Deleuze sie nennt, zu fürchten, das heißt, all das, was uns unsere eigene Knechtschaft begehren lässt. Unter dem Anschein einer trans-historischen Legitimität nämlich, die geschickt auf das Schuldgefühl gegründet wird und die Angst, von sich selbst und vom eigenen Stamm verlassen zu sein, beleben sich häufig die schrecklichen Figuren der Nichtanpassung an die Welt und wiederholen sich. Das kontrastierende Lernen impliziert einen klaren Blick auf die restriktiven Vorstellungen von Kulturzugehörigkeit. Es bedeutet nämlich nicht, gegen sich selbst zu denken, sondern lediglich, die kollektiven Bekräftigungen, die spezifischen Radikalisierungen abzulehnen. Diese haben zu bestimmten Zeitpunkten der Geschichte eine Rolle gespielt (Entkolonialisierung, Identitätsbewegungen wie die Negritude, die Amazighität10, die Dritte-Welt-Bewegung ...), heute jedoch sorgen sie lediglich dafür, dass sich die Grenzen11 verfestigen, ebenso wie die Alterität, das Übermaß an kultureller Eigenheit und der reaktive Fundamentalismus. Aus diesem Grund darf man Identität nicht mit Souveränität verwechseln, indem man letztere aus ersterer ableitet. Erstere ist eine Repräsentation, ein Inden-Diskurs bringen, ist gebunden an Kontexte und Transformationen, an Pluralität und an strategische Bildung; letztere ist politisch und verbunden mit der Entscheidung für eine Orientierung, damit, dem Gegenüber Rechte abzutrotzen, mit der politischen Erfahrung von Staat, mit der Stärkung der (öffentlichen) Institutionen, mit der Kompetenz und dem Unterscheidungsvermögen der Regierenden. Daher muss also die Identität aus der Souveränität kommen. Allgemein gilt es zu beachten, dass es sich immer um ein abgeleitetes Problem handelt, ein Problem der Meinungsverschiedenheit in politischen, theologischen, populären Diskursen, während die Realitäten etwas anderes aussagen: Sie beschreiben die Kontinuität der Ausbildung von Gesellschaften und Individuen mithilfe der Idee der Verzweigung12 und der Zirkulation. Die modernen Einflüsse reduzieren sich nicht auf die Technik, auf Veränderungen der Morphologie, sie liegen in der Methode, in der Aneignung von Kenntnissen, von Ideengeschichte, von Sensibilitäten – ob sie nun von hier oder von einem anderen Ort stammen. Das Interkulturelle in diesem Sinn bedeutet nicht eine geradlinige Anleihe von einer Kultur zur anderen oder umgekehrt, es ist die Manifestierung der anthropologischen Spuren, die Übernahme von Erkenntnisfortschritten, von verschiedenen Inhalten, die mit Disziplinen, mit Erfah–––––––––––––––––– 9 10 11 12

„Dispositifs de capture“, zit. n. Bernard Stiegler, in Le Théâtre des idées. Paris 2008, S. 52. [Den Begriff Amazigh verwenden „Berber“ als Selbstbezeichnung; A.d.Ü.] Vgl. Jean-Loup Amselle, L’Occident décroché. Paris 2008, S. 146f. Vgl. Jean-Loup Amselle, Branchements. Paris 2004.

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rungsfeldern zusammenhängen und nicht zwangsläufig in erster Linie mit Bevölkerungen, mit kulturellen Identitäten außerhalb ihrer eigenen verbunden sind. Derjenige, der sie übernimmt, kann sich in einer Logik der Verdichtung befinden, einer Logik der Synthese auf einem gemeinsamen anthropologischen Fundament, einem gemeinsamen Intellegiblen, und so die Zweideutigkeiten beenden, die die kulturalistische Praxis der Konfrontation13 ermutigen, die Entwertung der eigenen internen Vielfalt (Kunst, marginalisierte Lehren und Kenntnisse, Sprachen ...), den Mangel an Verständnis gegenüber der Alterität,14 die Angst vor der Unvollständigkeit,15 die interne Blockade des Schöpferischen, indem man es seiner Mittel beraubt, die Verbreitung der religiösen „Sub-Kultur“ in breitem Maßstab, für die Masse bestimmt16 und für eine ernüchterte, allzu flexible, gleichsam rückgratlose Elite. Es geht darum, sich einen „Weg aus der Scholastik“ zu wünschen und das Intellektuelle zur Kenntnis zu nehmen, und dies ist nur möglich durch den Bruch mit dem Verhaftetsein im eigenen Milieu,17 sofern dies veraltet ist, und durch die Forderung nach einem Blick auf die eigene und reale kulturelle Genealogie, die oft reduziert wird auf eine Vereinfachung, auf eine zielgerichtete, moralisierende und willkürliche Lesart, die im Voraus festlegt, was man zu sein hat. Das Interkulturelle lehrt uns eben gerade einen anderen Maßstab der Dinge, eine Umwertung, eine kontinuierliche Geschichte von Oszillationen –––––––––––––––––– 13 Samir Kassir, Considérations sur le malheur arabe. Arles 2004, S. 95. 14 Ich denke an mehrere Beispiele für kulturelle Verhaltensweisen: a) Eine soziologische Untersuchung (El Ayadi/Rachik/Tozy, L’Islam au quotidien. Casablanca 2007, S. 132) zeigt, dass das Kriterium der Religion sich auswirkt darauf, welche Person man als sich selbst am nahestehendsten wahrnimmt: Ein afghanischer Moslem wird weithin als näher eingeschätzt als ein palästinensischer Christ oder ein marokkanischer Jude; dass die muslimische Religion mehrheitlich als überlegene Religion erachtet wird, die für alles eine Lösung hat. Dies zeigt den fehlenden Übergang absolutistischer Normen, die meist durch religiöse Systeme erzeugt werden, zu relativen Normen (vgl. hierzu A. Charfi, La Pensée islamique, rupture et fidélité. Paris 2007, S. 237). b) Kürzlich haben marokkanische Touristen in Thailand beim Betreten eines buddhistischen Tempels gelacht, ohne Rücksichtnahme auf die Riten, und haben diese als mit Sicherheit unwahr behandelt. Die Diversität der Kulturen schlägt sich nicht immer in einer Erweiterung unserer Blickwinkel nieder. Hierin zeigt sich eine Aporie, die Schwierigkeit, in singuläre Logiken einzutreten, auf dem Weg über die Fremdheit zu Kenntnissen zu gelangen. c) Heterogenität begleitet uns nicht unser ganzes Leben hindurch. Sie ist vielmehr in zwei Phasen unterteilt, eine Phase der Öffnung, liberal und mit Gefallen an den verschiedenen Dingen der Existenz, die andere ist gekennzeichnet durch die Suche nach Erlösung, in fortgeschrittenerem Alter, und reduziert die Vision auf eine Wiederanwendung von Glauben und Riten. d) Das vierte Beispiel betrifft die hartnäckige Kontinuität von Werturteilen über die Differenz des Anderen: Jude, Christ, Frau – nicht immer geht dies einher mit einem entsprechenden Maß an verfügbaren Kenntnissen zur Verbesserung des Verständnisses für die Phänomene. Das Kapital des menschlichen Wissens für eine Verbesserung des Verständnisses der Phänomene ist verfügbar, aber das Kapital menschlicher Erkenntnis wird übergangen, negiert zugunsten einer groben Vereinfachung, die keinen Widerspruch erträgt. 15 Arjun Appadurai, Géographie de la colère. Paris 2007, S. 24. 16 Vgl. Charfi, a.a.O., S. 235. 17 Vgl. Régis Debray, L’Intellectuel contre les tribus. Paris 2008.

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und verwickelten Implikationen,18 eine kompromisslose Hingezogenheit zur Diversität des Menschlichen. Was bedeutet, dass wir nicht assimilierbar sind von einer Kultur hin zu einer anderen, sondern vielmehr zu dem hin, was in der anderen Kultur von einem Denk- oder Geschmacksparadigma (Kunst, Videosphäre, Rationalität, Erleuchtung, befreiende Gedanken usw.) herrührt, sowie von einer Regulierung offener, allgemeiner und großzügiger Werte. Dieses Paradigma existiert und kann sich zu einer Schule des Relativismus, der historischen Bedingtheit von Werten und ihrer sozialen, menschlichen Natur verstärken. Was heute Vorrang hat, ist also verhandelbar, aber zum Gegenstand der Debatte kann es nur durch die Überschneidung von Denkkonstruktionen werden, die nicht durch die Identität, sondern durch die Erfahrung von Sinn definiert werden, anders gesagt, durch die Kreativität in der Gegenwart, im leibhaftigen Lernen dessen, was kommt, und nicht dessen, was wiederkehrt, durch das Nie-da-Gewesene, nicht das Wiederholte. Es ist jedoch wichtig und ratsam, dies ohne extreme Begeisterung, ohne Pathos vorzutragen, denn die Neuinterpretation seiner selbst, von der Paul Ricoeur19 träumt, und wir mit ihm, durch das Überschneiden, die Übersetzung, die Erneuerung der Narrationen ist eine schwierige Aufgabe: weil der „dogmatische Schlaf“ allgegenwärtig ist, weil interkulturelle Erziehung nur in einem offenen Erziehungsklima möglich ist. Man darf nicht vergessen, dass Subjekte, die durch die Geschichte, durch die Unsicherheit, durch Ressentiments gebeutelt wurden, dazu neigen, in gleicher Weise verschieden bleiben wollen, anstatt auf verschiedene Weise gleich zu sein; und dass sie danach streben, allein als mürrischer, unfreundlicher Gegner unterzugehen, anstatt hier in einer Situation der Überschneidung von Darstellungen und Ideen zu bleiben, als Freund, als schwieriger Freund oder als Feind, als um so wertvollerer Feind, der das süße Leben nie im Namen einer abstrakten Gemeinschaft opfern würde, im Namen einer Homogenität ohne den Geschmack der Widersprüche der Geschichte und des Subjekts der Geschichte. Die konkrete Alterität, ohne moralische Einfärbung, lässt sich erlernen, sie verbirgt Schätze der Wissbegierde, einen realen Reichtum, welcher Beachtung statt Bewertung erfordert20 und es notwendig macht, sich dem zuzuwenden, was da ist, in der Erwartung von Erkenntnis; dieser Erkenntnis, die uns zu etwas anderem werden lässt und uns als Ersatz existenzielles Entfalten bietet, das Öffnen der Augen, das andere Möglichkeiten des Denkens und Lebens eröffnet. Denn der Vollständigkeit fehlt immer etwas, und diese schöne Negativität lässt uns, wenn wir dies möchten, jeder Begrenztheit entsagen, lässt uns verstehen, dass der Horizont sich immer entzieht und sich durch keine vorab entwickelte, feste Form fixieren lässt. Deshalb ist das Interkulturelle emanzipatorisch und eine ––––––––––––––––––

18 Vgl. Jacques Demorgon, L’histoire interculturelle des sociétés. Paris 2002, S. 76. 19 Vgl. Où vont les valeurs? Hg. v. d. UNESCO. Paris 2004, S. 75-80. 20 Edith de la Héronnière, Attention et simplicité, Revue des deux mondes, September 2008.

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Triebkraft zugleich, denn es führt jedes Mal weiter zurück, wenn wir selbst Gutes wollen für uns selbst, in die Entfaltung neuer Wissensnotwendigkeiten im Zirkulieren zwischen unterschiedlichen Intelligibilitäten21 mit fluidem Geist, denn es liegt ja gerade im Wesen des zeitgenössischen Subjekts, sich kontinuierlich Ressourcen, Brüche, (kulturelle) Verhaltensabweichungen zu geben. Es gibt Themen und es gibt Variationen: Das ist unumgänglich. Man muss weder die einen opfern noch die anderen. Kein einziger kultureller, politischer Spieler kann seine Figur aus dem relationalen, interkulturellen Spiel herausziehen, denn alles beruht auf den Konjunktionen und Disjunktionen, den historischen Allianzen und der Erneuerung des kontrollierten Dialogs. Ich möchte enden mit jenem äußerst zutreffenden Satz von Valéry – „die Variablen [sind] als Konstanten zu nehmen“. Das ist häufig der Fall, aber uns fällt vergessen leicht, und dann entscheidet unser Gedächtnis. Warum? Das ist eine andere Geschichte. Aus dem Französischen von Ursula Liebing

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21 Für eine Vertiefung dieser Frage vgl. François Jullien, De l’Universel, de l’uniforme, du commun et du dialogue entre les cultures. Paris 2008: Fayard, S. 148, 215f.

Danksagung Die Herausgeber danken sehr herzlich Herrn Dr. Roland Bernecker, dem Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission, der sich von Anfang für dieses Projekt in hohem Maße engagiert hat. Dank schulden wir auch dem Auswärtigen Amt für die Unterstützung dieser dritten internationalen Tagung des Netzwerks „Philosophie und Anthropologie des Mittelmeerraums“, das von den Herausgebern im Jahre 2004 gegründet wurde. Herzlich möchten wir uns sodann bei den Übersetzerinnen und Übersetzern bedanken, die die Beiträge aus sechs islamisch geprägten und mehreren europäischen Ländern und aus den USA ins Deutsche übersetzt haben. Herrn Dr. Michael Sonntag danken wir für die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge. Christoph Wulf, Fathi Triki, Jacques Poulain

AUTORINNEN UND AUTOREN

Abdul Karim Al Barghouti, Professor für Philosophie an der Birzeit Universität, Palästina. Benmeziane Bencherki, Professor für Philosophie an der Universität Oran, Algerien. John Borneman, Professor für Anthropologie an der Princeton University. Christine Delory-Momberger, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Paris 13/Nord. Lydia Goehr, Professorin für Philosophie der Musik, Columbia University, New York. Mohammed Ali Halouani, Professor für Philosophie und Geschichte der arabischen Wissenschaften, Universität Sfax, Tunesien. Mehrez Hamdi, Professor für Philosophie an der Universität Ezzitouna in Tunis, Tunesien. Hany M. El Hosseiny, Faculty of Science an der Universität Kairo, Ägypten. Mitglied der Gruppe für Hochschulautonomie. Klaus Krüger, Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Mustapha Laarissa, Professor für Philosophie an der Universität Cadi Ayyad in Marrakesch, Marokko. Eckart Liebau, Professor für Erziehungswissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Abu Yaareb Marzouki, em. Professor für arabische und griechische Philosophie, Tunesien.

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Autorinnen und Autoren

Reyes Mate, Gründungsmitglied des Instituts für Philosophie in Madrid, dem er 1990-1998 als Direktor vorstand. Mitglied des Conseil Scientifique du Collège International de Philosophie in Paris. Anwar Moghith, Professor der Philosophie, Direktor des Institut universitaire de la formation des professeurs (IUFP), Université de Helwan, Kairo. Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik und Semitistik an der Freien Universität Berlin. Direktorin am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Beirut und Istanbul 1994-1999. Jacques Poulain, Leiter des Philosophischen Instituts der Universität Paris VIII Saint-Denis; Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie der Kulturen und Institutionen in Europa. Antoine Seif, Professor für Philosophie an der Université Libanaise, Beirut, Libanon. Fathi Triki, Professor für Philosophie an der Universität Tunis, Tunesien; Inhaber eines UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie. Hassan Wahbi, Professor für französische Literatur an der Universität Ibn Zohr, Agadir, Marokko. Christoph Wulf, Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Muhammad Quasim Zaman, Professor für Nahost-Studien und Religion, Princeton University.