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German Pages 226 Year 2015
Kathrin Audehm Erziehung bei Tisch
Kathrin Audehm (Dr. phil.) lehrt am Arbeitsbereich Anthropologie und Erziehung der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ritualforschung, pädagogische Ethnographie und interkulturelle Erziehung.
Kathrin Audehm
Erziehung bei Tisch Zur sozialen Magie eines Familienrituals
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Inhalt
Einleitung
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1. Familien und Rituale 1.1. Ähnliche Perspektiven und begriffliche Schwierigkeiten 1.2. Was transportieren Rituale? Transzendenz und Transformation Rituale als Handlungskomplexe »Religio« als Problem Rituale als symbolische Praxen 1.3. Wie erziehen Rituale? Kommunikation und die Macht der Sprache Einsetzung und Einübung als soziale Magie Autorität und Erziehung in Ritualen
13 15 24 26 32 38 44 46 47 50 53
2. Eine pädagogische Ethnografie des Tischrituals 2.1. Zugang zum Feld, Kontaktaufnahme und Auswahl der Familien 2.2. Erhebung und Auswertung: Gesprächsanalyse und Beobachtung im Rahmen einer Fallstudie Interpretation nach der dokumentarischen Methode Familie Zobel und der Glaslöffel 2.3. Teilnehmende Beobachtung und dichte Beschreibung
59 59 68 71 77 91
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Familie Zobel: Spielerische Askese beim Frühstück Das Frühstück Erziehungsversuche Wie mütterliche Autorität scheitert Der sonntägliche Umzug ins Wohnzimmer Erziehung als kollektive Selbstübung
97 98 107 117 126 135
4. 4.1. 4.2. 4.3.
Familie Maier: Kompetentes Understatement bei Tisch Musik und Geschmack Rituelle Formeln und die Grenzen einer Dyade Brot und Briefmarke
141 141 147 150
4.3. Erziehung zwischen rituellem Understatement und diskursiver Macht
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5.1. 5.2. 5.3. 5.4.
Familie Hauser: Normalisierende Gelassenheit beim Abendbrot Ordentliches Chaos im Familienraum Das erste Ma(h)l (07.09.1999) Ein Machtspiel und der Sieg des Rituals Erziehung zwischen Disziplin und Gelassenheit
167 169 175 183 198
6.
Die soziale Magie der Differenzbearbeitung bei Tisch
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5.
Literatur
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Danksagung
Mein erster Dank gilt den untersuchten Familien, ohne deren Bereitschaft, Vertrauen und Unterstützung mein Dissertationsvorhaben nicht durchführbar gewesen wäre. Außerdem gilt mein besonderer Dank den beiden Gutachtern Prof. Dr. Christoph Wulf und Prof. Dr. Ralf Bohnsack für ihre Geduld und Unterstützung. Die Dissertation ist Teil der Berliner Ritualstudie im Rahmen des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin. Deshalb danke ich den am Projekt beteiligten Kolleginnen und Kollegen für ihre Anregungen und Hilfe, insbesondere Jörg Zirfas, der mit mir gemeinsam den Gang ins Feld, die Datenerhebung und einen Großteil der Gesprächsanalysen bewältigte. Über Jahre in meiner intellektuellen Entwicklung begleitet haben mich Matthias Oberg und Paul Standish, denen ich wesentliche Impulse und Anregungen aus ungezählten Gesprächen und Diskussionen verdanke. Darüber hinaus bedanke ich mich herzlich bei Birgit Althans und Frithjof Flemmig, die mir mit ihren Korrekturarbeiten außerordentlich geholfen haben. Mein tiefster und innigster Dank gilt Joachim Gutsche für sein unendliches Vertrauen und seine großartige Unterstützung. Die Erforschung des familiären Tischrituals hat mich natürlich immer wieder an meine eigene Familie erinnert, und so ist diese Arbeit meinen Großeltern, Erna und Albert Suffa, gewidmet. Berlin, im März 2007
Einleitung
Rituale sind konstitutive Elemente des Familienlebens, doch über die pädagogischen Prozesse in Familienritualen ist bisher wenig bekannt. Während in der Pädagogik lange Zeit eine machtkritische Skepsis gegenüber Ritualen überwog, erfreut sich gegenwärtig eine kleine Anzahl von Büchern einer großen Verbreitung, in denen nahezu ausschließlich die positiven Wirkungen von Ritualen in Familien betont werden (Beil 1997; Kaufmann-Huber 1998; Baslé/Maar 1999). Dieser Perspektivenwechsel ist gekoppelt an die in der Ritualforschung zu beobachtende Tendenz, Rituale nicht mehr ausreichend von Gewohnheiten und Routinen abzugrenzen. In einer vereinfachenden Sichtweise liegt jedoch die Gefahr, Risiken und Machteffekte von Ritualen zu unterschätzen und in ihnen lediglich zweckmäßige (therapeutische) Instrumente zu sehen. Die Erforschung des Familienessens war bislang nicht auf die Wirkung der gesamten rituellen Inszenierung fokussiert, sondern beschränkte sich auf die Analyse von Tischgesprächen (Keppler 1995; Lossin 2003). Die vorliegende Untersuchung geht zwar ebenfalls davon aus, dass das Tischgespräch eine wesentliche Komponente der gemeinsamen Familienmahlzeit ist, ergänzt diese Perspektive jedoch hinsichtlich des szenischen Arrangements und des Zusammenhangs von verbalen und nonverbalen Interaktionen bei Tisch. Sowohl bezogen auf Familien als auch bezogen auf Rituale war längere Zeit von einem Bedeutungs- und Funktionsverlust die Rede, inzwischen überwiegt die These vom Bedeutungs- und Funktionswandel, der zusammenhängt mit der Informalisierung, Spezialisierung und Fragmentarisierung des Sozialen (Kapitel 1). Die damit verbundene Problematik einer zunehmenden Emotionalisierung und Reflexivierung des Familienlebens spitzt sich bezogen auf Familienrituale insofern zu, als sich hier die Frage stellt, wie diese Aspekte im Rahmen ritueller Handlungen in Einklang zu bringen sind. Zudem entzieht sich der Effekt ritueller Handlungen zumeist bewussten Intentionen oder geht zumindest über diese hinaus. Rituale wirken magisch, und weil die rituelle Magie auf der oft unbewussten, praktischen Anerkennung von Autorität beruht, wird die Untersuchung der Familienmahlzeit als Tischritual an die Problematik familialer Autorität gebunden.
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ERZIEHUNG BEI TISCH
Rituale werden als symbolische Praxen verstanden, deren transzendierende und transformative Kraft auf körperlichen – verbalen und nonverbalen – Interaktionen beruht. Transzendenz meint eine sinnstiftende Abgrenzung und Überhöhung, d.h., das Ritual als heilige Handlung vollzieht eine kollektive Identitätszuweisung an die Handelnden, die auf einer Grenzziehung basiert. Transformation bezieht sich auf die Veränderung der Ritualteilnehmer. Rituale sind Grenzfälle symbolischer Sinnsetzungen, die soziale Wirklichkeit hervorbringen und gestalten. Ihre performative Logik funktioniert dabei als soziale Magie, d.h., ihre Wirksamkeit hängt von der Anerkennung ritueller Autoritäten ab, die wiederum in den inkorporierten Dispositionen des Habitus verbürgt ist (Bourdieu 1990). Insofern ist nicht nur die Frage von Interesse, was Rituale transportieren, sondern vor allem, wie sich dieser Transport vollzieht. Mit ihrer Symbolfähigkeit, ihrem Appell- und Verpflichtungscharakter beinhalten Rituale eine Verhaltensaufforderung an die Teilnehmenden und lassen sich von Gewohnheiten und Routinen unterscheiden. Rituale können Gemeinschaften Sicherheit und Stabilität verleihen. Um jedoch eine ReMythologisierung des Rituals zu vermeiden, wird ein Rückgriff auf die fragwürdigen Konnotationen des Gemeinschaftsbegriffs und auf den soziologischen Mythos einer Einheitlichkeit der Familie vermieden. Um die gemeinsame Familienmahlzeit als Tischritual kennzeichnen zu können, wird die Klassifizierung ritueller Handlungskomponenten des Religionswissenschaftlers Axel Michaels aufgegriffen, ohne seiner Festlegung des Rituals als Ausdruck jenseitiger Welten und letzter Dinge zu folgen und dem Bewusstsein der Ritualteilnehmer einen vollständig zugänglichen Glauben an einen transzendentalen Wert zu unterstellen, der dem Ritual vorgängig ist (Michaels 2001; 2004). Rituale implizieren einen Wechsel des Verhaltens, gestalten einen Übergang, verändern die Ritualteilnehmer und beruhen auf einem formalen Entschluss. Rituelles Handeln ist vom Alltag herausgehoben, zeichnet sich durch Förmlichkeit aus und ist relativ festgelegt. Allerdings sind Rituale nicht nur Widerspiegelung und Ausdruck symbolischer Ordnungen, die sie reproduzieren und auf soziale Kontexte beziehen. Als symbolische Praktiken regulieren sie symbolische Ordnungen und besitzen ein produktives Potential zu ihrer Veränderung. Familien sind Gemeinschaften, die ihre Differenzen nicht aus ihren Ritualen ausgrenzen können. Insofern stellt sich die Frage, wie sich der Zusammenhang von Grenzziehung, Identitätszuweisung und Erziehung im Tischritual gestaltet und wie sich das Verhältnis von der Einheit der Familie einerseits und ihren Differenzen andererseits darstellt. Die Autoritäts- und Anerkennungsbeziehungen, die in den verbalen und nonverbalen Interaktionen und im szenischen Arrangement bei Tisch sichtbar werden, bilden die Grundlage für die Untersuchung des Tischrituals als normativer Inszenierung des Umgangs mit den Differenzen einer Familie. Dabei wird den untersuchten Familien kein Familienmodell unter10
EINLEITUNG
stellt, in dem Autorität selbstverständlich und klar an die Eltern verwiesen und noch deutlicher als väterliche Autorität ausgewiesen ist, das Tischritual wird also nicht aus der Perspektive einer vorab festgelegten Autoritätsstruktur untersucht. Das Tischritual selbst wurde für die Analyse nach den Kriterien der Relevanz und Vergleichbarkeit im Feld ausgewählt (Kapitel 2). Seine Erforschung stützt sich hauptsächlich auf die Verfahren der Gesprächsanalyse und der teilnehmenden Beobachtung, ergänzt durch Gruppendiskussionen und offenen Leitfadeninterviews. Die empirische Erforschung des Tischrituals ist nicht von den dargelegten theoretischen Bestimmungen ihres Gegenstandes ausgegangen, sie stellen also keine vorab feststehende Metatheorie dar, deren Hypothesen zu prüfen waren. Vielmehr ist der Gang ins Feld von der simplen Frage ausgegangen: »What to hell is going on here?« (Geertz 1983) Im Laufe der Untersuchung ist auf den verschiedenen Analyseebenen eine kritische Reflexion der theoretischen Grundlagen erfolgt, die ausgehend von den jeweiligen Interpretationsergebnissen das weitere methodische Vorgehen bestimmt haben. Diese theoretische Haltung wurde genutzt, um die ethnografische Haltung der Verfremdung des eigenen, praktischen Verstehens zu unterstützen, die in der Beobachtung und Interpretation von Handlungen in einer nichtfremden Kultur und in einem vertrauten Feld notwendig wird. Im Zuge des theoretischen Samplings wurden aus ursprünglich sieben Familien drei ausgewählt, deren Tischrituale einer tiefergehenden Analyse unterzogen wurden. Die Eltern dieser Familien gehören derselben Generation sowie derselben Bildungs- und Sozialschicht an. Die Kinder befanden sich zu Beginn des Beobachtungszeitraums im Alter zwischen vier (jüngere Geschwister) und dreizehn Jahren (ältere Geschwister). Die empirischen Vergleichshorizonte zwischen den Familien bildeten die Geschwisterkonstellationen, die Partnerschaftsformen bzw. Sorgerechtsregelungen und die Berufstätigkeit der Eltern. Die Fallbeschreibungen (Kapitel 3-5) begrenzen sich auf die Gesprächsanalysen und teilnehmenden Beobachtungen der Tischrituale. Die ergänzenden Informationen aus dem Feld wurden als Hintergrundinformationen im Sinne einer evaluativen Selbstbeobachtung genutzt, um die Interpretationen immer wieder kritisch zu überprüfen. Die empirische Analyse ist als theoretisches Sampling auf drei Ebenen erfolgt, wobei zunächst einzelne Gesprächspassagen interpretiert und sowohl innerhalb einer Familie, als auch zwischen den Familien kontrastiert wurden. Das Interpretationsverfahren ist an der dokumentarischen Methode orientiert, insbesondere wurde der methodische Begriff der Fokussierungsmetapher für die Sequenzierung der Tischgespräche angewendet, das mehrstufige Interpretationsverfahren übernommen sowie auf die Notwendigkeit der Kontrastierung des Materials und die Bildung empirischer Vergleichshorizonte rekurriert (Bohnsack 1997). Auch in der anschließend erfolgenden Interpretation der Beobachtungsprotokolle wurden die Ein11
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zelbeobachtungen sowohl innerhalb der Familien als auch zwischen den Familien verglichen. Auf dieser Ebene fiel die Entscheidung, die klassifizierten, aus dem rituellen Zusammenhang gelösten Gesprächs- und Handlungstypen zurück an den jeweiligen familiären Kontext zu binden. Die ethnografische Fallstudie des Tischrituals führte damit zu einer familienspezifischen dichten Beschreibung des rituellen Erziehungsstils und der Autoritätsstrukturen. Schließlich bot der Vergleich der Erziehungsstile die Möglichkeit, die untersuchten Tischrituale als Mittel der Differenzbearbeitung zu kennzeichnen und ihre soziale Magie – die Grundlagen ihrer Wirkung – zu verdeutlichen (Kapitel 6).
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1. Familien und Rituale
Wenn für Formen des sozialen Lebens dasselbe gelten würde wie für bedrohte Tierarten, müssten sowohl die Familie als auch das Ritual als besonders gefährdete Arten gelten. Seitdem Raubkatzen, Robben und Wale vom Aussterben bedroht sind und diese Tatsache ins gesellschaftliche Bewusstsein gedrungen ist, tauchen sie nicht nur verstärkt in den Medien auf, sondern werden in Werbung und Spielzeugregalen zu begehrten kulturellen Artefakten. Ebenso boomen die Themen Familie und Ritual gegenwärtig in den Printmedien, im Fernsehen und im Internet.1 Sie erscheinen dabei als kulturelle Errungenschaften, die in einer zunehmend unübersichtlich werdenden Welt Sicherheit und Stabilität gewährleisten. Der Zeitgeist scheint sich hier im propagierten Rückgriff auf Bewährtes einen Rest heiler Welt erhalten zu wollen, erschöpft sich dabei jedoch nicht in einer simplen nostalgischen Verklärung. Vielmehr sind insbesondere die gemeinsamen Thematisierungen von Familie und Ritual von einer ausgesprochen kreativen Suche nach einer Problemlösung bestimmt.2 Das Problem ist die Bewältigung eines Alltags, in dem es viele, wenn nicht zu viele Möglichkeiten und Wahlfreiheiten zu geben scheint und in dem die Suche nach Orientierung, Sinnstiftung und Identität zu einer Qual werden kann, weil die gemeinsamen Bezugspunkte und gemeinschaftsbildenden Praktiken entweder fehlen oder nur schwer realisierbar sind bzw. die Informalisierung ganzer Lebenswelten zu einer Zunahme individueller Verantwortung führt, die zuneh1
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So ergibt die Internetsuche mit Google unter dem Suchwort Familie 12,9 und unter dem Suchwort Ritual 3,6 Millionen Einträge. Trotz der hohen Anzahl von Mehrfachnennungen sind diese Zahlen gewaltig. Mit den beiden Stichwörtern Familien und Rituale reduzieren sich die Angaben auf 19.400, das Suchwort Familienrituale ergibt nur noch 736 Einträge (Stand: 01. September 2004). In Zeitschriften und im Internet stehen die stabilisierenden und entlastenden Wirkungen von Ritualen im Mittelpunkt, die systemische Familientherapie nimmt einen großen Platz ein und modische Therapien wie Familienaufstellungen werden selbst als Rituale dargestellt. Das Interesse verschiebt sich von den immer noch vorrangig thematisierten Familienfeiern – insbesondere Hochzeiten und Jubiläen – zu individuellen Geburts- und Trauerritualen sowie zunehmend auf alltägliche Rituale, insbesondere Einschlafrituale. 13
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mend als Belastung wahrgenommen wird. Die Postmoderne gebiert hier zwar keine neuen Ungeheuer, scheint aber die mit der Moderne verbundenen Problemlagen zu verschärfen, was unter dem Stichwort Familie als Krise und Erosion und unter dem Stichwort Ritual als Entzauberung und Sinnentleerung beklagt wird. Noch vor dreißig Jahren überwog ein kritischer und experimentierfreudiger Blick auf Familie und Ritual. Nun ist die Zeit für Experimente keineswegs vorbei, eher scheint das Gegenteil zu gelten, denn immer neue Experten tauchen am Horizont auf, um den Interessierten beizustehen in einer sinnvollen Auswahl aus vielfältigen Angeboten und sie zu eigenen Kreationen zu ermuntern. Allerdings gilt die Pflege dieser Lebensformen und der mit ihnen verbundenen Kulturtechniken grundsätzlich als sinnvoll, die Experimente beziehen sich lediglich auf spezifische Ausprägungen, stilistische Möglichkeiten und ihren nützlichen Einsatz. Gefragt wird nicht länger nach den sozialen Bedingungen, unter denen familiale Lebensformen und rituelle Praktiken positive oder negative Wirkungen hervorrufen.3 Damit haben sich eine radikale – und bisweilen ritualisierte – Kritik und radikale Experimente, die bis hin zur Ablehnung und Verwerfung der Formen selbst reichten, überholt. Diese Feststellung lässt sich insofern auch auf akademische Sichtweisen beziehen, als die klassische Kritik an Familie und Ritual, die auf eine strukturelle Kritik ihrer Machtwirkungen zielte, nunmehr selbst als traditionell wahrgenommen wird und schon seit längerem nicht mehr en vogue ist. Allerdings bleibt der Familien- und Ritualforschung ein verklärender Blick fremd, vielmehr zeigt sich in der Zunahme qualitativer empirischer Untersuchungen eine Interessenverschiebung. Nicht mehr die Fragen, was die Familie und das Ritual sind, welche generellen Funktionen sie besitzen und inwiefern ihre Effekte strukturell zu kritisieren sind, stehen hier im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses, sondern der Prozess ihrer Konstruktion, Hervorbringung und Reflexion in den konkreten Praxen und aus der Perspektive der Beteiligten werden analysiert. Damit wird ihr sinnvoller und nützlicher sozialer Gebrauch verstärkt deutlich, ohne dass auf eine kritische Auseinandersetzung gänzlich verzichtet wird. Zugleich zeigt sich nicht nur in den Erziehungswissenschaften, in denen bisher vor allem die Erforschung schulischer Rituale und biographischer Statuspassagen im Mittelpunkt stand, ein Unbehagen am Zurückdrängen einer kritischen Tradition, beispielweise wenn sich eine der renommiertesten erziehungswissenschaftlichen Ritualforscherinnen veranlasst sieht, eine Kritik an der »Schattenseite von Ritualen«, an ihren disziplinieren-
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Diese Beobachtung gilt für Ausführungen über die eigene Kultur. Ausgenommen davon sind beispielsweise Zwangsverheiratungen und die Verstümmelung von Frauen durch Beschneidungsrituale, die als rückständige Praktiken fremder Kulturen wahrgenommen und als solche kritisiert werden.
FAMILIEN UND RITUALE
den und möglichen destruktiven Effekten erneut einzufordern (Friebertshäuser 2004: 34). Die Erforschung der pädagogischen Wirkungen von Familienritualen steht erst am Anfang, und eine ethnografische Fallstudie über die Erziehungspraktiken im Tischritual betritt wissenschaftliches Neuland. Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Überlegung, dass Familien darauf angewiesen sind, sich in Ritualen und Ritualisierungen immer wieder neu als Einheiten interagierender Personen hervorzubringen (vgl. Burgess 1926; Burgess u.a. 1963). Damit werden Rituale als konstitutive Elemente familiären Lebens angesehen. Sie bestimmen in wesentlicher Weise alltägliches Verhalten, aber auch Interaktionen, Handlungen und Kommunikation an Feier- und Festtagen. Familienrituale können auf mehreren Ebenen des familiären Lebens stattfinden und werden ständig auf der »Familienbühne« aufgeführt: als Familienfeiern, als familiäre Traditionen oder als Muster familiärer Interaktionen. Das Tischritual erscheint als eine alltägliche familiäre Tradition, die zwischen den großen Familienfesten und ritualisierten Interaktionsmustern angesiedelt ist. Die vorliegende Studie stellt sich in eine machtkritische Tradition der Ritualforschung, auch wenn diese in der Vergangenheit Rituale aufgrund ihres Vermögens, Bestehendes zu festigen und zu legitimieren, infrage gestellt hat. Eine grundsätzlich kritische Haltung verlangt jedoch ebenso nach Kritik an den (post-)strukturalistischen und funktionalistischen Begrenzungen dieser Tradition, die für die dynamischen und innovativen Potentiale von Ritualen nur geringe Aufmerksamkeit besitzt. Gerade unter dem Aspekt der Erziehung in Ritualen ist es sinnvoll, die Erzeugungs- und Veränderungspotentiale von Ritualen in die eigene Perspektive einzubeziehen, wodurch nicht mehr vorrangig die Reproduktion von Herrschaft und sozialer Ordnung, sondern die Regulation von Handlungs- und Verhaltensweisen – insbesondere die Erzeugung eines Zusammenhangs von individueller Autonomie und kollektiver Verbindlichkeit – zum Gegenstand der Analyse wird. Diese Aussage verlangt nach einer genaueren Bestimmung der theoretischen Bezugspunkte und Darstellung der eigenen Forschungsperspektive.
1 . 1 . Ä h n l i c h e P e r s p e k t i ve n u n d b e g r i f f l i c h e S c hw i e r i g k e i t e n Wenn Familien zu den ursprünglichsten Formen sozialer Zusammengehörigkeit gehören (vgl. Mitterauer/Sieder 1991: 22), so erscheinen Rituale als die ursprünglichsten Praktiken zur Erzeugung sozialer Gemeinschaften. Während sich die Bedeutung des Begriffs Familie relativ eindeutig aus seiner etymologischen Herkunft und der Geschichte des Sprachgebrauchs bestimmen lässt, war der Begriff Ritual in seinen Anfängen wesentlich ein theoretisches Konstrukt, das auf fremde Kulturen übertragen wurde. Daher ist es nicht verwun15
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derlich, dass die Ritualforschung seit ihren Anfängen insofern große Schwierigkeiten hat, ihren Gegenstand zu definieren, als sowohl die Frage, was Rituale sind, als auch die Frage, wie Rituale wirken, einer bis heute andauernden Diskussion unterliegen. Das deutsche Wort Familie hat sich im Anschluss an das französische »famille« im 18. Jahrhundert im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt. Das französische Wort ist auf das alte lateinische »familia« zurückzuführen, dessen Grundbedeutung das »Haus« meint, also die Gesamtheit der im Haus lebenden Personen, einschließlich der Haussklaven und des Gesindes, und gewinnt in Mitteleuropa im Rahmen eines strukturellen Wandels im 17. und 18. Jahrhundert die Bedeutung der heute so geläufigen Kern- und Kleinfamilie (vgl. ebd., S. 27f.). Das »Normalverständnis« von Familie, auf das sich die Familienforschung bezieht, bezeichnet hier seit etwa 200 Jahren »die institutionelle Koppelung zweier grundlegender Beziehungsmuster, nämlich von liebesfundierter Ehe und Elternschaft« (Tyrell/Herlth 1994: 1). Im wissenschaftlichen Verständnis erscheint Familie aus der Außenperspektive als die historisch und regional jeweils verschiedene Organisationsform eines Mehrgenerationenhaushaltes, die den institutionellen Zusammenhang von Austauschbedingungen (ökonomische, soziale und kulturelle Reproduktion), Rechtsverhältnissen (Eigentum und Macht) und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen mehreren Personen regelt und privatisiert.4 Aus der Innenperspektive sind moderne Familien – die hier verstanden werden als zumindest Zwei-Generationen-Haushalte – Gemeinschaften, die in ihrem alltäglichen Leben ihr Miteinander gestalten und dabei vor die Aufgabe gestellt sind, ein Gleichgewicht zwischen gemeinsamer und individueller Bedürfnisbefriedigung herzustellen (vgl. Macha/Mauermann 1997). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, im gegenseitigen aufeinander Einwirken eine Balance zwischen Stabilität und Wandel zu gewährleisten, die sich dadurch verschärft, dass Familien gegenwärtig in ihren institutionellen Rahmungen – wie der Ehe – und in ihren Funktionen einen grundlegenden Wandel erfahren, der nicht nur die Selbstverständlichkeit traditioneller Bezüge und Werte außer Kraft setzt, sondern die Familie als soziale Institution – als Orientierung ge4
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Der Versuch einer Zusammenfassung des wissenschaftlichen Verständnisses von Familie muss angesichts des Umfangs und der Ausdifferenzierung der Familienforschung riskant bleiben. Demzufolge trägt diese Bestimmung weniger den Charakter einer Definition, auf die sich die Familienforschung einvernehmlich bezieht, sondern die genannten Kriterien ermöglichen eine Orientierung im Dschungel familiensoziologischer Forschung, in dem einerseits z.B. die Rolle und Bedeutung rechtlicher Kodifizierungen, institutioneller Rahmungen oder sozialer und ökonomischer Bedingungen für die Entwicklung des Systems Familie bestimmten Konjunkturen unterliegen, andererseits z.B. die vielfältigen Beschreibungen des familialen Wandels und seiner Ursachen an methodisch nicht einheitlich bestimmte Forschungsperspektiven gebunden sind.
FAMILIEN UND RITUALE
bende und Sinn stiftende Sozialform – gefährden kann (vgl. Hettlage 1998: 48ff.). Der Strukturwandel der Familie (vgl. u.a. Nave-Herz 1988: 61) steht unzweifelhaft in einem unmittelbaren Zusammenhang zum sozialen und kulturellen Strukturwandel, der sich unter dem Stichwort »Postmoderne« zusammenfassen lässt und der auch Rituale generell – vor allem ihre Wirkungen – nicht unberührt lässt. Sowohl bezogen auf Familien als auch bezogen auf Rituale war längere Zeit von einem Bedeutungs- und Funktionsverlust die Rede, inzwischen überwiegt die These vom Bedeutungs- und Funktionswandel. Familialer Wandel meint die »explosionsartige Zunahme pluraler Familienformen, familialer Lebensstile, Kommunikationspraxen und emotionaler Beziehungsverhältnisse«, die sich wechselseitig verschränken, überlagern und zeitlich neeneinander existieren (Hoffmeister 2001: 106). Einerseits wird das Verschwinden der Kleinfamilie beklagt oder zumindest befürchtet, andererseits wird relativierender von Deinstitutionalisierung, Pluralisierung und Diversifizierung familiärer Lebensformen gesprochen (vgl. ebd.: 111). Wenn im Rahmen familiensoziologischer Forschungen gegenwärtig eine Diskussion über die Zukunft der Familie geführt wird, dann steht im Mittelpunkt des Interesses die Frage, welche Bedeutung der Institution Familie im sozialen Gefüge bei anhaltendem Wandel ihrer Strukturen noch zukommt. Dies ließe sich als eine entschärfte Version familiensoziologischer Krisenszenarien interpretieren, die in unterschiedlichen Ausrichtungen die Familienforschung seit ihren Anfängen begleiten und die sich kritisch auf eine akademische Mythologisierung der Familie beziehen lassen (vgl. ebd.: 88/89). Doch familiensoziologische und familienhistorische Untersuchungen zeigen nicht nur, dass das klassische Familienmodell seine Alternativlosigkeit verloren und seine normative Kraft nachgelassen hat und dass die Toleranz und Akzeptanz gegenüber alternativen Lebensformen beständig zunimmt, sondern können dies als Zeichen verstärkter emanzipatorischer Ansprüche und eines zunehmend gelingenden Umgangs mit individueller Autonomie werten, die mit einer erhöhten Sensibilität für die Qualität der eigenen Beziehungen verbunden sind (vgl. Sieder 1987: 278). Allerdings führt diese erhöhte Sensibilität auch zur emotionalen Aufladung des Lebensmodells Familie und zu einer Individualisierung der mit diesem Lebensmodell verbundenen Risiken und Konflikte. Trotz der Verschiebungen in den verschiedenen Familienformen – der Zunahme von Fortsetzungsfamilien und des Rückgangs von Adoptionsund Pflegefamilien5 – und des veränderten Bedeutungsgehalts der Ehe bzw. 5
Die These einer Verschiebung im Gefüge bestehender Familienformen (NaveHerz 1994) steht der These von der Pluralisierung der Familienformen (BeckGernsheim 1998) zunächst kontrovers gegenüber. Nach wie vor existieren Adoptions- und Pflegefamilien, auch wenn diese Familienformen quantitativ abnehmen. Ebenso sind Alleinerziehende und Fortsetzungsfamilien, letztere wer17
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eheähnlicher Lebensgemeinschaften – vom »für immer« zum »auf Zeit« – ist ein Rückgang der Familienorientierung nicht zu beobachten, auch nicht im Sinn einer nachlassenden Orientierung am Leitbild der traditionellen Kleinfamilie (vgl. Hettlage 1998; Haug 2003). Insofern verändert der Mythos Familie seinen Charakter, verschwindet aber nicht (vgl. Hoffmeister 2001: 307ff.). Die Ritualforschung entwickelt eine ähnliche Perspektive auf ihren Gegenstand, wenn sie sich darüber einig ist, dass der Funktions- und Bedeutungswandel von Ritualen gekennzeichnet ist durch eine nachlassende Bindekraft von Ritualen, die mit der Säkularisierung und Fragmentarisierung des Sozialen zusammenhängen, die zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Informalisierung der Rituale führen. Zum einen sind einzelne Personen inzwischen immer in mehrere soziale, institutionelle und somit auch rituelle Kontexte involviert, zum anderen leisten Rituale nicht mehr den sozialen Zusammenhang in Bezug auf eine von allen geteilte gemeinsame und verbindliche Welt der Werte und Traditionen. Damit verbunden sind Orientierungsschwierigkeiten oder die Problematik relativer Bindungslosigkeit. Im Gegenzug erhöhen sich die Werte der Integration, Sicherheit und Geborgenheit, die nach wie vor in Ritualen gesucht werden. Bezieht man den Strukturwandel der Familie auf den Funktionswandel von Ritualen, dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung Rituale für moderne Familien besitzen. Rituale müssen offen genug sein, Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit von Familien gerade darüber zu gewährleisten, dass sie die Begrenztheit individueller Subjektivität, die Grenzen der Gemeinschaftlichkeit und die Grenzen des Rituals im Fluss halten und nicht für alle Zeiten festsetzen. Damit kann nicht mehr nur im Sinne traditioneller Familienformen davon ausgegangen werden, dass ein wesentlicher Teil der familiären Beziehungsarbeit im Rahmen von Ritualen stattfindet, sondern die Arbeit an den rituellen Rahmungen erscheint als eine Aufgabe der Beziehungsarbeit in Familien. Das Problem einer zunehmenden Emotionalisierung und Reflexivierung
den traditionell als Stieffamilien bezeichnet, keine neuen Phänomene. Zwischen den Nachwirkungen des II. Weltkrieges, die für die Zunahme und Existenz von Fortsetzungsfamilien bis in die 50er Jahre bestimmend waren, und der erneuten Zunahme nichtleiblicher und vor allem alleinerziehender Elternschaft seit den 60er Jahren liegt eine kurze Phase des quantitativen Rückgangs von Stieffamilien. Allerdings haben sich seither die Formen des Zusammenlebens innerhalb des Typs der Fortsetzungsfamilie ausdifferenziert, die nun als Patchworkfamilien bezeichnet werden. Die These von der Pluralisierung der Familienformen lässt sich deshalb nur dann aufrecht erhalten, wenn Pluralisierung nicht als quantitative Zunahme unterschiedlicher Familienformen sondern als qualitative Zunahme der legitimen Geltung bestehender Familienformen verstanden wird, die in Wechselwirkung mit der weiteren Ausdifferenzierung und Informalisierung familialer Lebensformen steht. 18
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des Familienlebens spitzt sich bezogen auf Familienrituale insofern zu, als sich hier die Frage stellt, wie diese beiden voneinander verschiedenen Aspekte in Einklang zu bringen sind, denn es ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass Rituale ihre Wirkung eher magisch erzielen, d.h., die Wirkung von Ritualen entzieht sich bewussten Intentionen oder geht zumindest über diese hinaus (vgl. Audehm 2001). Darüber hinaus von Ritualen zu erwarten, dass sie immer die Harmonie einer familiären Gemeinschaft erzeugen und selbst harmonisch ablaufen, kann entweder zu einer Überforderung der Familienmitglieder oder zu einer Erstarrung der Familienrituale führen. In den vorliegenden Untersuchungen über Familienrituale spielen diese Überlegungen bislang kaum eine Rolle. Die Erforschung von Familienritualen knüpft im angloamerikanischen Raum an soziologische Studien über die Familie als Interaktionssystem (Burgess 1926; Burgess u.a. 1963) sowie die erste systematische Untersuchung zur Funktion von Familienritualen an (Bossard/Boll 1950). So werden in Anknüpfung an van Gennep (1986, erstmals 1909) Übergangsrituale in Familien mit Jugendlichen beschrieben (Quinn et al. 1985), oder es wird der Versuch unternommen, den begrifflichen Schwierigkeiten der Ritualforschung im Anschluss an Grimes (1982) durch die Aufstellung von Ritualtypologien zu begegnen (Wolin et al. 1984; Burr et al. 1993). Andererseits stehen Ritualstudien oftmals in einem therapeutischen Kontext, der das Erfinden und den Einsatz von Ritualen in der Familientherapie als Erfolgsstory beschreibt (Imber-Black et al. 1998), womit auch aus dieser Perspektive vor allem die intentionalen und funktionalen Bedeutungen der Rituale betont werden. Die pädagogischen Wirkungen stehen bislang nicht im Fokus der Erforschung von Familienritualen. In Deutschland erfreut sich gegenwärtig eine kleine Anzahl von Büchern einer großen Verbreitung, in denen nahezu ausschließlich die positiven Wirkungen von Ritualen in Familien betont werden (Beil 1997; Kaufmann-Huber 1998; Baslé/Maar 1999), die jedoch aus mehreren Gründen zu kritisieren sind. So erscheint die Abgrenzung des Rituals von Regeln und Routinen, die zu Ritualen werden, »wenn sie in einer besonderen Weise zelebriert werden oder eine emotionale Bedeutung erlangen« (Baslé/Maar 1999: 19), als nicht ausreichend. Denn dies gilt zum einen auch für neurotische Zwangshandlungen, zum anderen werden Rituale lediglich an eine emotionale Aufladung gebunden, womit sie nicht mehr – im Unterschied zu Gewohnheiten – als darstellendes Verhalten erscheinen, ihre Symbolwirkung also vernachlässigt und ihre gemeinschaftsbildende Wirkung ausschließlich an Gefühle gebunden wird. In dieser vereinfachenden Sichtweise, in deren Konsequenz für die Analyse von Machteffekten kein Platz bleibt, liegt die Gefahr einer Sinnentleerung des Ritualbegriffs. Deutlicher sichtbar wird die Entleerung des Ritualbegriffs in dem Werk »Kinder brauchen Rituale« von Kaufmann-Huber (1998), in der jede von den Eltern ausgehende und über den unmittelbaren Zweck hi19
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nausreichende Bedeutungszuweisung aus einer Gewohnheit bzw. Notwendigkeit schon ein Ritual macht, wie etwa das mehr oder weniger regelmäßige Setzen des Kleinkinds aufs Töpfchen. Hier stellt sich die Frage, ob alle zweckmäßigen, wiederholbaren und für die Eltern bedeutungsvollen Handlungen schon Rituale sind. Darüber hinaus ist auf die Gefahren einer therapeutischen Individualisierung von Ritualen hinzuweisen, die zur Verschiebung der sozialen Funktion von Ritualen beitragen kann, dabei jedoch bestimmte Risiken (etwa von Initiationsritualen) übersieht und die Problematik umgeht, wie ohne die kollektive Bezugnahme auf rituelle Kontexte Sicherheit und Stabilität im Ritual überhaupt zu gewinnen sind (vgl. Erdheim 2001). Hier zeigt sich zwar einerseits eine Gegentendenz zur traditionell skeptischen und lange vorherrschenden Sichtweise auf Familienrituale, andererseits verschärfen sich die funktionalistischen Beschränkungen, wenn Rituale auf ihren intentionalen Gehalt oder ihre zweckmäßigen Wirkungen reduziert werden. Insofern geschieht hier unter der Voraussetzung einer Individualisierung von Familienritualen eine therapeutische Re-Mythologisierung des Rituals, die auf einer Sinnentleerung des Begriffs basiert und das Problem der rituellen Magie unterschlägt. Die empirische und qualitative Erforschung der gemeinsamen Mahlzeit in Familien beschränkt sich bislang auf die Analyse von Tischgesprächen (Keppler 1995; Lossin 2003). So zielt Angela Keppler mit ihrer Untersuchung auf allgemeine sprachliche Muster gegenwärtigen Gesprächsverhaltens und arbeitet mithilfe der Konversationsanalyse die Bedeutung sprachlicher Kommunikation für Prozesse der Vergemeinschaftung heraus. Die Studie weist nach, dass soziale Identität und soziale Orientierung sich in einem interaktiven Prozess herausbilden und an bestimmte Bedingungen seines Vollzugs gebunden sind. Die normative und regulative Kraft des Tischrituals wird als eine Vollzugsbedingung der Tischkommunikation dabei nicht fokussiert. Insofern ist die These, dass eine Einheit der Familie wesentlich im Konsens kommunikativer Verfahren begründet liegt, durch die Frage zu ergänzen, ob die familiale Erziehungsarbeit im Ritual nicht ebenso den Vollzug eines inhaltlichen Konsensus bezogen auf die Konstruktion einer familiären Gemeinschaft, auf ihre Werte und Normen, darstellt. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass das Tischgespräch zwar eine wesentliche Komponente des Tischrituals ist, sich jedoch nicht unabhängig von den nonverbalen Handlungen und dem szenischen Arrangement vollzieht. Die in einem therapeutischen Kontext stehende Untersuchung von Mathilde Lossin zur Bedeutung der Tischgespräche für die Stabilität in modernen Familien beschränkt die Bestimmung der rituellen Aspekte auf die Kriterien der emotionalen Bedeutung, Wiederholbarkeit und Rahmung der sprachlichen Kommunikation, womit auch hier wesentliche Aspekte rituellen Verhaltens vernachlässigt werden.
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Eine erziehungswissenschaftliche Erforschung von Familienritualen sieht sich mit einer pädagogischen Diskussion konfrontiert, die sowohl vor einem »Zuviel« als auch vor einem »Zuwenig« an Ritualen warnt. Die Warnungen vor einem »Zuviel« beziehen sich auf die herrschaftsstabilisierenden Funktionen von Ritualen und ihre Tendenzen zur Förderung eines stereotypen, abhängigen oder sogar entwürdigenden Verhaltens – kurz auf die repressiven Disziplinierungseffekte. In der Pädagogik überwog lange Zeit eine allgemeine Skepsis gegenüber Ritualen, die sich auf die magische Kraft von Ritualen, ihre Traditionsgebundenheit, ihre mitunter kanonische Regelhaftigkeit und die damit verbundene Tendenz zur Erstarrung bezog. Dagegen beziehen sich die Warnungen vor einem »Zuwenig« auf die Gefahr, dass sich durch ein Fehlen von Ritualen – etwa bei der Bewältigung von Statuspassagen – bestimmte Probleme der persönlichen Entwicklung wie Isolation, Bindungs- und Orientierungslosigkeit verstärken. Das Standardwerk der 70er-Jahre »Die Familienerziehung« (Mollenhauer/Brumlik/Wudtke 1975) kann als Beispiel dafür gelten, dass die pädagogische Skepsis gegenüber Ritualen bis zum Anti-Ritualismus führen konnte. Im Rückgriff auf Laings und Estersons (1975) technizistischen Begriff des Prozesses werden hier Rituale als Mechanismen verstanden, die aus komplexen, geregelten und gerichteten familiären Interaktionen eine starre Regelbefolgung werden lassen, die selbst wiederum keine Abweichungen zulässt und als deren Konsequenz familiäre Erziehung zum mechanischen System erstarrt (Mollenhauer/Brumlik/Wudtke 1975: 69). Diese mechanistische Lesart von Regelbefolgung und in der Konsequenz von Ritualen als erstarrten Interaktionsmustern ist zudem mit einem kognitivistischen Lernmodell verbunden, das als eine wesentliche pädagogische Leistung familiärer Kommunikation zwar die Einübung der Darstellungsregeln eigener Perspektiven und die Mitteilung von Erfahrungen bezeichnet, diese jedoch mit einem »Deutungsmusteransatz« (ebd.: 38) eng führt, der die Inkorporierung von Dispositionen und die Herausbildung von Identität einseitig auf die Ausbildung kognitiver Denkund Verhaltensschemata begrenzt. Es geht hier nicht darum, diesen Ansatz grundsätzlich zu verwerfen oder die Bedeutung der aus diesem Ansatz resultierenden Untersuchungen zur Rolle und Funktionsweise familiärer Kommunikation zu schmälern (Keppler 1995; Ullrich 1999), allerdings ist diese einseitige Sichtweise auf die Familienerziehung einerseits und die sich komplementär dazu ergänzende funktionalistische Sichtweise auf Rituale andererseits zu hinterfragen. Aus diesen Einseitigkeiten heraus wird auch erklärbar, weshalb die Problematik der Autorität in Familien – die aus beiden Perspektiven als gesetzte, feststehende und personale Hierarchisierung interpersoneller Beziehungen erscheint – anschließend sowohl aus dem familiensoziologischen wie auch aus dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs weitgehend herausgefallen ist. Mit 21
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dem unter dem Stichwort Pluralisierung diskutierten Wandel der Familienformen und der Veränderung der Verkehrsformen innerhalb der Familie hin zur partnerschaftlichen Familie (vgl. Herlth/Brunner/Tyrell/Kriz 1994) scheint sich zu bestätigen, dass Autorität in Familien entweder kein Thema familialer Beziehungsarbeit mehr darstellt oder unproblematisch geworden ist. Die klassischen Studien von Adorno (1982, erstmals 1950) und Horkheimer u.a. (Horkheimer/Fromm/Marcuse u.a. 1987, erstmals 1935) über den autoritären Charakter der Familie betrafen die Familie als »›Keimzelle‹ der bürgerlichen Kultur« (ebd.: 75) und untersuchten, wie die bürgerliche Kleinfamilie einerseits staatlich reguliert und kontrolliert wurde, und andererseits in ihren Strukturen ein autoritäres Erziehungsmodell begründet ist, das zur Anerkennung repressiver Autorität außerhalb der Familie beiträgt und ihre politische Instrumentalisierung insbesondere im Faschismus ermöglicht hat (vgl. Hoffmeister 2001: 90-92).6 Diese Arbeiten wurden in (West-)Deutschland vor allem im Zuge der 68er Bewegung rezipiert, flankiert von Alexander S. Neills Schrift »Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung«, die im Jahr 1969 eine explosionsartige Verbreitung fand; lange nach der Gründung von Summerhill, wo Neill Ideen in die Praxis umsetzte, die er ausgehend von seinen frühen Erfahrungen in der Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern aus gestörten Familienverhältnissen entwickelte. Die Folge waren sowohl kontroverse Diskussionen über Erziehung in- und außerhalb der Familie als auch 6
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Die Bezeichnung der Familie als »Keimzelle« einer Kultur verweist auf Freidrich Engels, der in »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« zur Einzelehe ausführt: »Sie ist die Zellenform der zivilisierten Gesellschaft, an der wir schon die Natur der in dieser sich voll entfaltenden Gegensätze und Widersprüche studieren können.« (Engels 1962 [1884]: 68) Dargestellt wird dies am Zusammenhang von Einzelehe und Geschlechterdifferenz, dem nach Engels ersten Klassengegensatz der Geschichte. Vgl. darüber hinaus die Ausführungen zum Zusammenhang der Entwicklung von Ehe und Liebe mit dem Aufstieg der kapitalistischer Produktionsweise, des bürgerlichen Rechts und bürgerlicher Moral (ebd.: 62, 80ff.). Die Art und Weise der »Reproduktion des unmittelbaren Lebens« wird zu einer grundlegenden Determinante von Kultur erklärt: »Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Epoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andererseits der Familie.« (Ebd.: 27, 28) Die wechselseitigen Rückkopplungen von Produktionsverhältnissen und Familienformen sind nicht erst durch Engels entdeckt worden, vor allem aber bleibt vom Basis-Überbau-Modell eines orthodoxen Marxismus hier wenig übrig. Die Ausführungen Adornos, Horkheimers u.a. wiederum ließen sich auf den Begriff der ideologischen Staatsapparate beziehen, zu denen die Familie gehört (vgl. Althusser 1977: 115-123). Ergänzend zur Problematik politischer Autorität, genauer zum Unterschied zwischen repressiver Autorität einerseits und ökonomisch und politisch sinnvoller Autorität andererseits vgl. Engels 1962 [1874]: 305-308.
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verschiedene Experimente und praktische Versuche in sogenannter antiautoritärer Erziehung. Die Experimente waren ebenso wie die Kontroversen zu einem nicht unerheblichen Teil von dem Missverständnis geprägt, dass aus der Ablehnung repressiver Erziehung und aus dem Verzicht autoritärer Beeinflussung der Kinder ein Verzicht auf jegliche pädagogische Autorität resultiert; eine Auffassung, die mit den Beschreibungen der pädagogischen Praxis in Summerhill nicht vereinbar ist (vgl. Summerhill: Pro und Contra: 8). Die Erforschung von Familienritualen an die Problematik familiärer Autorität zu binden, erscheint deshalb als sinnvoll, weil sich aus der Symbolwirkung von Ritualen, aus ihrem Appell- und Verpflichtungscharakter die Frage ergibt, was denn Orientierung, Stabilisierung sowie Integration und Identitätsbildung sowohl im Ritual als auch in der Familie gewährleistet und garantiert. Zum einen beruht die Wirkung von Ritualen auf der oft unbewussten, praktischen Anerkennung von Autorität, zum anderen ist die Einübung von Dispositionen der Anerkennung nicht allein – und auch nicht wesentlich – auf Kognitionsschemata zurückzuführen (Bourdieu 1993; 2001). Darüber hinaus zeigt sich in einer soziologischen Perspektive auf Autorität, in der die Möglichkeit von Verschiebungen innerhalb von Regelsystemen beachtet wird, dass Autorität an gegenseitige Anerkennung gebunden ist und somit der aktiven Ausgestaltung von Anerkennungsbeziehungen bedarf (Bourdieu 1990; Sennett 1990). In der Ritualforschung wird inzwischen anerkannt, dass rituelle Autorität nicht als festgesetzte und vorgegebene Autorität im Vollzug des Rituals lediglich bestätigt wird, sondern dass Rituale Verhandlungsräume darstellen, in denen »Akteure um Macht und Statuspositionen ringen« (Köpping/Rao 2003: 215). Somit kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die sozialen Funktionen als auch die Veränderungspotenziale von Ritualen im Zusammenhang mit den Autorisierungsstrategien der rituellen Akteure stehen und aus ihrer Analyse sich die pädagogischen Wirkungen von Familienritualen erschließen lassen. Die genannten Aspekte von Ritualen, ihre gemeinschaftsbildende und ordnungsstiftende Funktion, ihre Traditionsgebundenheit und magische Wirkungsweise, ihre Symbolwirkung, ihr Appell- und Verpflichtungscharakter, und damit ihre Macht- und Erziehungseffekte, lassen bisher eine Abgrenzung der Rituale von Routinen und Gewohnheiten zu (vgl. Ortmann 2003). Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern die gemeinsame Familienmahlzeit als Ritual zu verstehen ist. Für die Analyse der familiären Erziehungsarbeit im Tischritual ist es dabei sinnvoll, die Wirkungsweise von Ritualen ins Zentrum der Begriffsbestimmung zu stellen und die Frage zu beantworten, was Rituale transportieren.
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1.2. Was transportieren Rituale? Rituale sind wiederholbare Handlungen, soweit zumindest besteht Einigkeit. Und bis auf wenige – allerdings viel diskutierte – Ausnahmen wird Ritualen zugute gehalten, dass sie eine Bedeutung besitzen (Staal 1979; bereits relativiert Humphrey/Laidlaw 1994). Doch schon hier finden die Diskussionen über eine Definition des Rituals ihren Ausgangspunkt, in denen es zudem schwierig ist, sich zu orientieren, weil nicht nur unterschiedliche Positionen bezogen auf die Frage, was Rituale bedeuten, sondern auch verschiedene Perspektiven auf den begrifflichen Inhalt von Bedeutung selbst existieren. Bedeutung kann hier Rolle, Funktion, Sinn oder Zweck bezeichnen bzw. sich auf das Intentionale, Instrumentelle oder Funktionale beziehen, ohne dass zwischen diesen Konnotationen ausreichend unterschieden wird. Darüber hinaus erschwert die zunehmende Angewohnheit, jede gewohnheitsmäßige Handlung für ein Ritual zu halten, die James Goody bereits 1977 zu seinem Artikel »Against Ritual« veranlasst hat, die eigene Begriffsbestimmung (vgl. Michaels 2001: 39). Hieraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass es sinnvoll ist, eine Bestimmung des Rituals als distinkte Handlungsform in Abgrenzung von Gewohnheiten und Routinen vorzunehmen, insbesondere angesichts einer alltäglichen, gewohnheitsmäßigen gemeinsamen Mahlzeit, die nicht unter allen Umständen als Ritual zu kennzeichnen ist, so wie nicht jede sich wiederholende Ansammlung handelnder Personen schon ein Ritual ist. Unter welchen Voraussetzungen wird das Familienessen zum Tischritual? Die Etymologie des Wortes Ritual bietet einer Begriffsbestimmung nur wenig Sicherheit, denn es ist sowohl ableitbar vom lateinischen ritus – der sprachverwandtschaftlich nächsten Beziehung – und bezeichnet einerseits religiöse Bräuche selbst, andererseits deren zeremonielle Ordnung, als auch von Sanskrit rta – Ordnung, Wahrheit – und ebenso von der indogermanischen Wurzel ri – Fliessen. Das Wort bewegt sich also zwischen den gegensätzlichen Bedeutungen einer festgefügten zeremoniellen bzw. einer unveränderlichen kosmologischen Ordnung einerseits, und eines dynamischen, permanenten Wechsels andererseits. Der Ritualbegriff war zunächst ein akademischer Begriff, der über ein sich verstärkendes Interesse an religiösen Handlungen mit der Entstehung der Disziplinen Soziologie, Ethnologie und Religionswissenschaft verbunden ist, sodass die Begründer dieser Disziplinen zugleich auch die ersten Ritualtheoretiker sind (Smith 1894; Frazer 1890; van Gennep 1909; Durkheim 1912). Doch erst ein Jahrhundert später entstehen Ritualmonographien, die nicht mehr nur von einzelnen Ritualen ausgehen, sondern die bisherigen Ritualtheorien miteinander vergleichen (u.a. Grimes 1982; Lawson 1990; Bell 1992; Humhrey/Laidlaw 1994; Rappaport 1999).
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Die Erforschung von Ritualen wurde lange Zeit an fremden – anfänglich als primitiv und rückständig bezeichneten – Kulturen vorgenommen, und der Blick auf deren kultische und religiöse Praktiken nahm seinen Ausgangspunkt von den Prägungen und Problemen der eigenen Kultur. Daher trägt die europäische akademische Begriffsbildung nicht den Charakter einer Verallgemeinerung, die sich in anderen Kulturen wiederfindet bzw. aus einem Vergleich zwischen analogen Praktiken generiert wurde, vielmehr ist sie in ihren Anfängen als exotische Begriffsübertragung zu kennzeichnen.7 Diese wirkt seit den 60er Jahren in die eigene Kultur zurück und verliert – zunächst innerhalb der Ethnologie – ihre vorwiegend negative Bedeutung. Rituale gelten seither als erfahrungsreiche, kommunikative und performative Handlungen (vgl. Douglas 1988; Geertz 1983; Schechner 1990; Tambiah 1979; Turner 1989b). Darüber hinaus wenden sich Ethnomethodologie und Soziologie verstärkt den Ritualen der eigenen Kultur zu (vgl. Goffman 1971; Soeffner 1992). Als Ergebnis dieses Prozesses erscheinen Rituale »nicht mehr als irrationaler Ausdruck von Mysterien kultischen Ursprungs oder als Medium einer zum Irrationalismus geronnenen instrumentellen Vernunft totalitärer Systeme« (Wulf/ Zirfas 2004: 7). Die akademische Befreiung des Ritualbegriffs aus seinen eurozentristischen Verankerungen und die damit verbundene Relativierung einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber Ritualen sowie die weitgehende Lösung der Ritualforschung von religiösen Praktiken erscheint einerseits als ein hervorragender Ausgangspunkt zur Bestimmung einer an sich profanen Handlungsweise der eigenen Kultur als Ritual. Andererseits verweist die Frage der rituellen Magie, also der wundersamen Wirkung von Ritualen, auf den Ausgangspunkt der Ritualforschung. Die zu beobachtende Gefahr einer Sinnentleerung des Begriffs in der gerade erst einsetzenden empirischen Erforschung von Familienritualen lässt es als sinnvoll erscheinen, sich nicht nur auf die in der Soziologie entwickelte Abgrenzung des Rituals von Gewohnheiten und Routinen zu beziehen, sondern darüber hinaus einen Blick in die Religionswissenschaft bzw. in die ethnologische Erforschung religiöser Praktiken zu wagen, auch wenn das Familienessen nicht als religiöses Ritual zu bezeichnen ist.
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Der britische Ethnologe Nigel Barley geht so weit, anekdotisch den Wert der frühen Arbeiten seiner Berufskollegen nach ihrer konfessionellen Prägung zu unterscheiden. So hätten die protestantischen Anthropologen aufgrund ihres tiefen Misstrauens gegenüber Ritualen diese lediglich als symbolisches Handeln im Sinne eines »so tun als ob« verstanden. Auch er verweist dabei auf die seit Frazer berühmten Regenrituale (vgl. Barley 1999: 96f.). Zur zeitgeschichtlichen Einordnung und Kritik an der in der Anthropologie entwickelten Konstruktion des »Primitiven« vgl. Eagleton 2001: 40ff. 25
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Transzendenz und Transformation Weil Mahlzeiten weit mehr bedeuten als bloße Nahrungsaufnahme und die Befriedigung physiologischer Bedürfnisse, ist Ernährung vorrangig sozial und nicht biologisch bestimmt. Noch der einsamste Esser vollzieht eine kulturelle Handlung, und dies gilt auch dann, wenn seine Art zu speisen auf den ersten Blick als unkultiviert« erscheinen mag. An die Frage der Kultivierung, die aus der zufälligen Existenz essbarer Pflanzen und Tiere – also aus Natur – verfügbare Nahrung – also Kultur – werden lässt, ist jede menschliche Ernährung gebunden.8 Und dennoch verweist auch ein gemeinsames Essen darauf, dass Menschen natürliche und sterbliche Geschöpfe sind. Deshalb können gemeinsame Mahlzeiten die Eigentümlichkeit der menschlichen Existenz als einerseits somatischem und andererseits symbolischem Tier vorführen und diese Differenz zugleich erträglich werden lassen.9 Fragen der Nahrungsgewinnung, ihrer Zubereitung und Aufnahme besitzen somit ein hohes symbolisches Potential. Dass die Nahrungsaufnahme dabei weitgehend abgelöst von der Nahrungsgewinnung und der Zubereitung der Speisen erfolgt, ist eine historisch junge Erscheinung.10 Das außerordentliche symbolische Potential der Nahrung und Speisung zeigt sich in religiösen Ritualen, die bereits an Heilserwartungen bzw. sekundäre Zwecksetzungen gebunden sind. So sind die christlichen Konfessionen nicht unwesentlich über den symbolischen Gehalt des Abendmahls zu unterscheiden. Das Christentum stellt über Brot – und Wein – immer wieder eine Verbindung zwischen Mensch und Gott her, denn zum einen gibt Gott das Brot, dass jedoch weniger ein göttliches Geschenk als vielmehr eine moralische Gabe ist, denn es soll im Schweiße des eigenen Angesichts gegessen werden. Zum anderen verwandelt sich im religiösen Ritual das Brot in den Leib Christi und das Brechen des Brotes ermöglicht die Teilhabe aller an diesem Leib. Das gemeinsame Essen besitzt außer der regelnden Funktion im Tagesablauf traditionell die Funktion der Vergemeinschaftung – verstanden als 8
»Die Pointe des Wortes ›Natur‹ liegt gerade darin, uns an das Kontinuum zwischen uns und unserer Umgebung zu erinnern, so wie das Wort ›Kultur‹ dazu dient, den Unterschied zischen beidem hervorzuheben.« (Eagleton 2001: 13) 9 »Wir werden weder als kulturelle Wesen noch als von sich aus lebensfähige natürliche Wesen geboren, sondern als Geschöpfe, deren hilflose psychische Natur so beschaffen ist, dass Kultur eine Notwendigkeit fürs Überleben ist.« (Ebd.: 139) »Weil unser Eintritt in die symbolische Ordnung … einen Spielraum zwischen uns und unsere Determinanten legt, sind wir jene in sich verschobenen, nicht mit sich selbst identischen Geschöpfe, die man historische Wesen nennt.« (Ebd.: 137) 10 So wurden noch um 1860 zwei Drittel aller Brote zu Hause gebacken (Furtmayr-Schuh 1996: 39). 26
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gleichzeitige Bindung an und Unterwerfung unter eine Gemeinschaft – und kann in säkularen Gemeinschaften, wie beispielsweise in Landkommunen, den Platz und die Funktion des gemeinsamen Gebets einnehmen (vgl. Barley 1999: 142). Das gemeinsame Mahl ist auch außerhalb religiöser Rituale nicht nur ein bevorzugtes Mittel der Vergemeinschaftung, sondern vollzieht darüber hinaus eine Veränderung, wenn aus Feinden Freunde oder aus Fremden Gäste werden. Zudem vollziehen sich gemeinsame Mahlzeiten eher im Modus der Konjunktion als der Distinktion, wenn sich beispielsweise die Familien des Brautpaares beim Hochzeitsmahl traditionell einander sozial und ökonomisch verpflichten. In gemeinsamen Mahlzeiten wird aus einer größtmöglichen körperlichen Differenz eine kollektive Versicherung geteilter Gemeinsamkeit, denn das individuelle Einverleiben von Nahrung ist eine somatische Notwendigkeit, die im Widerspruch zum Teilen von Nahrung stünde, würden gemeinsame Mahlzeiten nicht soziale Notwendigkeiten verkörpern. Auch in diesem körperlichen Aspekt gemeinsamer Mahlzeiten, der die individuellen Körper leibhaftig aneinander bindet und sowohl real zur Gemeinschaft transformiert als auch symbolisch transzendiert, liegt ein außerordentliches rituelles Potential begründet, denn Rituale sind als kulturelle Aufführungen und soziale Gesten immer auch auf Körperlichkeit und Anwesenheit verwiesen (vgl. Gebauer/Wulf 2003: 126f.). Gemeinsame Mahlzeiten erscheinen nicht nur als universale Phänomene (vgl. van Gennep 1986: 164), sondern als darstellendes Verhalten, und insofern ist das Essen »die überzeugendste symbolische Gebärde« (Langer 1984: 158). Rituale als zunächst zweckfrei darstellendes (nachahmendes) Verhalten treten in mitlaufender Expression zu sich selbst ins Verhältnis und werden damit symbolfähig. Das Ritual stellt sich selbst als solches dar und gewinnt dadurch seinen Appell- und Verpflichtungscharakter. Im Moment des Darstellerischen liegt ein erster wesentlicher Unterschied zwischen Ritualen und Routinen (vgl. Ortmann 2003: 539). Eine Zwecksetzung erfährt das Ritual erst durch die magische Aufladung mit Heilserwartungen, die Arnold Gehlen als »sekundäre Motivation« bezeichnet hat (Gehlen 1956: 140). »Dann erst sollen Regentänze Regen bringen.« (Ortmann 2003: 539) Die sekundäre magische Aufladung von Ritualen resultiert aus ihrem primären symbolischen Bezug auf ein transzendentes Anderes, das in Form von Tabus bezeichnet und als Heiliges vom Profanen der Alltagswelt getrennt wird (Douglas 1988). Deshalb sind Rituale kulturelle Praxen, die Gemeinschaften Sicherheit und Stabilität verleihen, indem sie angesichts von Kontingenz Abgrenzungen vollziehen und zunächst Ordnung ins Chaos bringen (Turner 1979a). Auch hier geht es zunächst um zweckfreie, mimetische Darstellung des Heiligen, und auch in diesem Rekurs auf ein Heiliges unterscheiden sich Rituale bereits von Routinen.
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Zu etwas Heiligem kann jedes Ding und jede Handlung werden, deren Einsatz in bestimmten Situationen auf eine Transzendenz bezogen ist (Durkheim 1994). So wird den Göttern, von deren Wohlwollen das Wohlergehen der Gemeinschaft abhängt, Nahrung gereicht, die nicht unbedingt selten vorkommen oder besonders wertvoll sein muss, jedoch heilig ist, das heißt selbst bei einsetzender Nahrungsknappheit für Menschen nicht mehr berührbar und essbar, nachdem sie sich durch ein Ritual in Tempelspeisen verwandelt hat. Dieses Beispiel scheint eine Bestimmung von Transzendenz als Festlegung auf ein höheres (bzw. mehrere höhere) Wesen zu vollziehen. Löst man jedoch die Unterscheidung von primärer und sekundärer Motivation von der Frage des Ursprungs rituellen Handelns, dann bietet diese Unterscheidung die Möglichkeit, das Ritual als den Vollzug einer Grenzziehung und als die mit dieser Separierung verbundene Überhöhung der gemeinsamen Handlung zu verstehen. Transzendenz im Ritual meint dann eine sinnstiftende Abgrenzung, d.h., das Ritual als heilige Handlung vollzieht eine kollektive Identitätszuweisung an die Handelnden, die auf einer Grenzziehung basiert. Die gemeinsam – mit individuellen Motiven, jedoch nicht notwendigerweise bewussten Orientierungen – Handelnden werden zu einer Handlungsgemeinschaft transformiert. Wird der Zusammenhang von Transzendenz und Transformation in dieser Form verstanden, kann auch eine an sich profane Handlung heilig werden und normative und regulative Effekte gewinnen. Die sekundäre Motivation tritt dann ein, wenn vom Ritual eine Sicherstellung der heil(ig)enden Wirkung erwartet werden kann. Das Ritual wirkt dann beschwörend und wird magisch. Die rituelle Magie bleibt zwar an die primäre Motivation gebunden, kann sich aber von ihr entfernen, das Ritual wird »scheinheilig« bzw. wirkt – in neutralen Worten – nachträglich sinnstiftend und wird zur »Transzendenzprothese« (Ortmann 2003: 540), d.h. es kann nachträglich Begründungen und Geltungen produzieren und damit Notwendigkeiten behaupten. Ebenso kann es erstarren, zwanghaft werden und sich seines Sinns entleeren, dann erzielt die magische Beschwörung im Ritual keinen heil(ig)enden Effekt mehr, bzw. die rituellen Konventionen verlieren ihren Bezug zu den Konventionen ihres sozialen Kontextes. Dann führt die Einhaltung von Tischsitten zu einer zwar gesitteten Mahlzeit, im Unterschied zu einer sittlichen Mahlzeit werden die einzelnen Familienmitglieder jedoch nicht aus ihrer Separation gelöst. Die Familie mag sich noch ihrer eigenen Konvention, gemeinsam zu speisen, unterwerfen, als erstarrte und sinnentleerte konventionalisierte Vollzugspraxis verliert das Familienessen jedoch seine transformierende und transzendierende Wirkung. Bei aller Bindung an familiäre Traditionen ist es kein Ritual (mehr). Eine Festlegung des Rituals auf eine sinnvolle, heilige Handlung ließe sich als Re-Mythologisierung des Rituals lesen, solange man dem Ritual als darstellendes Verhalten die Funktion einer Gemeinschaftsbildung unterstellt, 28
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die per se als positive Wirkung erscheint. Als Warnschilder wirken nicht erst die Erinnerung an die sich einem Führer unterstellende deutsche Volksgemeinschaft, die auf der Ausgrenzung und Ermordung rassistisch, politisch und sexuell Verfolgter basierte, oder die Erinnerung an eine nicht zu umgehende Einbindung in sozialistische Kollektive, die auf der Unterstellung individueller und kollektiver Interessen unter gesellschaftliche Interessen basierte, die von einer »Avantgarde« in Form der Staats- und Regierungspartei definiert wurden.11 Als Warnschilder wirken bereits die Erinnerung an Gewalt in der Ehe, an Missbrauch von Kindern, an die repressiven Wirkungen von Suchtkrankheiten wie Alkoholismus oder von religiös und kulturell begründeten starren Traditionsbindungen, die zu individuellen Katastrophen führen und die Familie gerade dann zur Hölle werden lassen, wenn Familienrituale tatsächlich Solidarität und kollektive Bindungen erzeugen. Nicht nur das hegemoniale Verhältnis von Gemeinschaften zu ihrem sozialen Umfeld, auch Versicherung und Zusammenhalt innerhalb von Gemeinschaften und ihre nach innen wirkenden kollektiven Verbindlichkeiten können zur massiven Beschränkung individueller Autonomie und zur repressiven Begrenzung subjektiver Handlungskompetenz führen. Es besteht also wenig Anlass die Familie als Gemeinschaft zu feiern oder den Gemeinschaftsbegriff selbst zu verklären bzw. im Begriff der Familie als Einheit zu vereinfachen. Max Weber hat ähnlich wie später Émile Durkheim Gemeinschaft als subjektiv gefühlte Zusammengehörigkeit definiert (vgl. Weber 1980: 21f., 212ff.). Die Schwierigkeiten dieses Gemeinschaftsbegriffs liegen in der einschränkenden Engführung von Verbindlichkeit und emotionaler Bindung. Für die Beobachtung gegenwärtiger gemeinschaftsbildender Handlungen – wie dem Tischritual – liegen sie in der Notwendigkeit, dass solche Gefühle sichtbar werden müssen, sollen sie nicht introspektiv unterstellt werden, entweder als besondere Erregungszustände, sprachliche Benennungen oder Körpergesten, die auf Gefühle verweisen, seien sie nun theatralisch inszeniert oder real vorhanden. Doch anhaltende Verzückung, Rausch oder Ekstase sind gemeinhin keine typischen Zustände bei Tisch, auch Kniefälle oder andächtiges Schweigen ereignen sich eher selten. Die Merkmale des Faszinierenden, Numinosen und Geheimnisvollen scheinen dem gegenwärtigen Familienessen fremd zu sein.12 Die in der Pädagogik relevanten Gemeinschaftsbegriffe definieren Gemeinschaft entweder als vorgängige organische, natürliche Einheit (Tönnies 1991) oder als eine an ein vorgängiges Sinnsystem – die inhaltliche Verbind11 Die Präsentation beider deutscher Erinnerungsbilder in einem Satz ist nicht als Gleichsetzung von nationalsozialistischer Diktatur und SED-Herrschaft zu verstehen. 12 Das Numinose gehört für Victor Turner »zur Atmosphäre eines lebendigen Rituals« (Turner 1989b: 150). 29
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lichkeit gemeinsam geteilter Lebensentwürfe und Wertvorstellungen – gebundene Einheit, wie sie bspw. bei Vertretern des Kommunitarismus zu finden ist (vgl. Zirfas 1999).13 Darüber hinaus fungiert der Gemeinschaftsbegriff auch als Gegenbegriff zur Institution, was einer Analyse der familiären Erziehungsarbeit im Ritual entgegensteht, für die ein Rekurs auf die Sozialisierungs- und Bildungsfunktion der Familie – also klassische Bestimmungen der Familie als Institution – nicht hintergehbar ist. Den in der Ethnologie gängigen Rückgriff auf Victor Turners Begriff der Communitas auf die Familie bei Tisch zu übertragen, hieße entweder, dem soziologischen Mythos von der Einheit der Familie als Lebensform – also nicht als kollektiven Glauben bzw. gebunden an besondere Praxen – zu folgen, oder das Tischritual vorab als Übergangsritual zu definieren. Die Communitas erscheint bei Turner zunächst als antistrukturelle Gleichheit im Zustand der Liminalität, also in der Schwellenphase von (Übergangs-)Ritualen (Turner 1989a), später als Zustand der Befreiung der affektiven, kognitiven und kreativen Fähigkeiten des Menschen aus dem sozial Normativen und Konsistenten (Turner 1989b). Eine solche Befreiung wäre für das Familienessen zwar vorstellbar, doch schon Pierre Bourdieu weist auf die normative Wirkung von Übergangsritualen hin, indem er ihnen die Funktion der legitimen Grenzziehung – basierend auf der Ausgrenzung derer, die am Ritual nicht teilhaben – und damit der Erzeugung legitimer Differenzen als sozialer Institutionen zuweist, womit Rituale nicht als Befreiung von, sondern als Durchsetzung bzw. Bedingung von normativer Sozialität definiert sind (vgl. Bourdieu 1990: 84ff.). Für das Familienessen ist darüber hinaus auf die spezifische Bedingung familialer Erziehungsarbeit hinzuweisen, ihre – über das Sorgerecht und die Sorgepflicht juristisch kodifizierte – Bindung an die pädagogische Generationendifferenz. Im Unterschied zu Übergangs- oder Einsetzungsritualen, in denen sich rituelle Autorität als Repräsentation einer Institution vor einer Gemeinschaft von – im Vergleich zu den von der rituellen Inszenierung Ausgeschlossenen – mehr oder weniger Gleichen in Szene setzt, ist es fragwürdig, ob sich die Sozialität der Familie selbst in ihren kollektive
13 Allerdings kommt den Vertretern des Kommunitarismus das Verdienst zu, das Thema der Wertbindung in Gemeinschaften als Voraussetzung demokratischer Verhältnisse und damit zugleich das Problem universalistischer Orientierungen nach den anti-universalistischen Exzessen der Postmoderne erneut aufgeworfen zu haben (vgl. Honneth 1994: 119ff.). Sie schützen aber nur wenig vor einer bemerkenswert materialistischen Hypostasierung der Imagination – gebunden an wohlhabende Familien, die sich gemeinsam vor dem Kamin versammeln – als Voraussetzung für das Verständnis anderer Kulturen, wie sie sich etwa bei Richard Rorty finden lässt (vgl. Richard Rorty: Human Rights, Rationality and Sentimentality. In: Obrad Savic (Hg.): The Politics of Human Rights, London 1999: 80, zit.n. Eagleton 2001: 68). 30
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Identität und Einheitlichkeit darstellenden Ritualen als Aufhebung oder Ablösung ihrer strukturellen Differenz(en) beschreiben lässt.14 Aktuelle sozial- und erziehungswissenschaftliche Konzeptualisierungen zur Differenz der Generationen weisen gegensätzliche Befunde auf (vgl. Lüscher/Schultheiss 1993; Liebau/Wulf 1996; Ecarius 1997; Liebau 1997a; Zirfas/Wulf 2004). Das Generationennetzwerk erscheint einerseits als stabil, andererseits hält man eine Dynamisierung zwischen den Generationen für gegeben. Während einige von einer zunehmenden Distanzierung zwischen den Generationen ausgehen (vgl. Flitner 1984; Wagner-Winterhager 1990), konstatieren andere eine eher abnehmende Differenzierung zwischen den Generationen (vgl. Lenzen 1985; Hörisch 1997; Gogolin/Lenzen 1999). Trotz ihrer Gegensätzlichkeit lässt sich aus diesen Befunden die Schlussfolgerung ziehen, das Generationenverhältnis nicht als eine lineare Beziehung der älteren zur jüngeren Generationen, sondern als Netzwerk zu denken (vgl. Bien 1994; Rauschenberg 1995). Auf die pädagogische Dimension des Generationenverhältnisses bezogen, lässt sich folgendes zusammenfassen (vgl. Hornstein 1983): Erziehung bedarf einer Distanz zwischen den Generationen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene); diese Distanz schwindet, wozu gerade auch die Pädagogik auf der institutionellen und bildungspraktischen Ebene beiträgt; die Grenze zwischen den Generationen ist zugunsten von Brüchen und Unregelmäßigkeiten nicht mehr genau definierbar (vgl. Weber 1987). Die pädagogische Dimension des Verhältnisses der Generationen wurde zuerst von Schleiermacher (1829) formuliert, daran anschließend lässt sich die Pädagogik allgemein als eine »Wissenschaft vom Generationenverhältnis« beschreiben (vgl. Schulze 1968; Liebau 1997b). Schleiermacher bindet die Aufgaben und Möglichkeiten von Erziehung an die Kooperation zwischen den Generationen, indem Pädagogik eine Antwort auf zwei Fragen findet: Was will die ältere Generation mit der jüngeren und wie soll die Einwirkung der älteren Generation auf die jüngere beschaffen sein? Im Mittelpunkt einer Erziehung als Generationenerziehung steht dabei die Verantwortung für die Kontinuität und Entwicklung sozialer und kultureller Errungenschaften. Inzwischen kann man für viele Lebensbereiche – Technik, Medien, Ästhetik – die Frage stellen, wer eigentlich die ältere und wer die jüngere Generation ist. Dennoch bleibt die pädagogische Frage Schleiermachers relevant, selbst wenn man sich seinem linearen Modell nicht anschließen möchte. Für die kindliche Sozialisation, insbesondere in Familien, wird zwar deutlich, dass Kinder schon sehr früh verschiedene Kompetenzen erwerben, dennoch müssen sich Eltern nicht nur – wenn auch nicht notwendig in bewusst-reflexiver Form – die Frage beantworten, was sie den Kindern präsentieren und repräsentieren, 14 Die Generationendifferenz erscheint nur als eine strukturelle Differenz moderner Familien, hinzuweisen ist zumindest noch auf die Geschlechterdifferenz. 31
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sondern vor allem auch, wie sie die Erziehungsverhältnisse gestalten möchten. Erziehung bezieht sich somit nicht unmittelbar auf die Beherrschung der Kinder, sondern auf das Verhältnis zwischen den Generationen und damit auf die Beherrschung des Generationenverhältnisses (vgl. Benjamin 1984: 64). Es stellt sich also die Frage, inwiefern die gemeinsame Mahlzeit in Familien das Generationenverhältnis bestimmt bzw. von ihm bestimmt wird, oder: Wie wird das pädagogische Generationenverhältnis im Vollzug der gemeinsamen Mahlzeit transportiert? Um eine mögliche Re-Mythologisierung des Ritualbegriffs nicht über die fragwürdigen Konnotationen des Gemeinschaftsbegriffs zu erleichtern, und um den soziologischen Mythos von der Einheitlichkeit der Familie nicht zum Ausgangspunkt der Untersuchung des Tischrituals in Familien werden zu lassen, erscheint es sinnvoll, von der Darstellung der Gemeinschaftlichkeit der Familie im Tischritual zu sprechen, d.h. von der rituellen Erzeugung von Zugehörigkeit über Zuwendung und Unterstützung ebenso wie über Disziplin und Übung, sowie die Frage zu stellen, inwiefern die rituelle Inszenierung die Differenzen der jeweiligen Familien darstellt.
Rituale als Handlungskomplexe Mit der bisherigen Bestimmung von Ritualen als darstellendem Verhalten, das Transzendenz und Transformation bewirkt und damit Gemeinschaftlichkeit transportiert, erscheinen Rituale als komplexe kulturelle Aufführungen. Darüber hinaus sind Rituale selbst Handlungskomplexe, d.h., sie bestehen aus mehreren Handlungskomponenten, über deren Bestimmung, Gültigkeit und Zusammenhang sich die Ritualforschung alles andere als einig ist. Auf den ersten Blick scheinen Transzendenz und Transformation die Fragen der Bedeutung und Veränderung in Ritualkomplexen abzudecken. Tatsächlich verweisen die Charakterisierungen ritueller Handlungskomponenten immer wieder auf die Problematik von Transzendenz und Transformation, denn diese erscheint als Voraussetzung der Bestimmung von Ritualkomponenten, die wiederum abhängig sind von den jeweiligen Forschungsperspektiven. Werden Transzendenz und Transformation als Effekte des rituellen Handlungsvollzugs verstanden, dann besteht die Möglichkeit, die Voraussetzungen des begrifflichen Instrumentariums, mit dem rituelle Handlungskomponenten festgelegt werden, nach denen Rituale klassifiziert werden, zu hinterfragen. Die Auseinandersetzung bezieht sich im folgenden auf die Ausführungen des deutschen Indologen und Religionswissenschaftlers Axel Michaels, der ebenfalls von der Notwendigkeit einer Abgrenzung der Rituale von Routinen und Gewohnheiten überzeugt ist (vgl. Michaels 2001; 2004). Michaels sieht sich hier im Gegensatz zu Catherine Bell, die Ritualisierungen im Sinne von Handlungsmodi wie bspw. Formalität, Periodisierung, Körperzentriertheit 32
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usw. anerkennt, jedoch keine eigenständigen und damit von ritualisierten bzw. nicht-ritualisierten Handlungen unterscheidbaren Rituale (vgl. Bell 1992: 220; 2004: 238). Laut Michaels trennt Catherine Bell »kaum zwischen Routine und Ritual, und diejenigen, die von säkularen Ritualen reden, auch nicht unbedingt« (Michaels 2004: 218). Zunächst lassen sich zwei Voraussetzungen der Bestimmung notwendig gegebener Bausteine ritueller Handlungen durch Axel Michaels feststellen, zum einen die Kritik an der Auffassung von der Bedeutungslosigkeit von Ritualen, zum anderen das auf Durkheim zurückgehende und von Malinowski übernommene Diktum: »Es gibt kein Ritual […] ohne Glauben.« (Malinowski 1973: 189; vgl. Durkheim 1912: 50) Die These von der Bedeutungslosigkeit von Ritualen »war und ist theoretisch abstrakt, man könnte auch sagen blutleer« (Michaels 2004: 217). Bedeutungslosigkeit meint vor allem Funktionslosigkeit, denn um einen bestimmten Zweck zu erfüllen, müssen keine Rituale aufgeführt werden. Die Funktion von Ritualen bestünde dann darin, keine Bedeutung zu haben bzw. als reine Aktionismen und Handlungsmodi erst in bedeutungsrelevante Sinnsysteme (wie Religion) eingeordnet zu werden und durch einen solchen Zusammenhang eine Funktion zu gewinnen (vgl. Humphrey/Laidlaw 1994: 161). Dies liest sich zunächst analog zur Unterscheidung von primärer und sekundärer Motivation, verzichtet jedoch auf die Kennzeichnung des Rituals als darstellendes Verhalten. Bedeutung ist hier nicht an Sinn, sondern an Intentionalität gebunden. Deshalb arbeitet sich Michaels im wesentlichen und folgerichtig an diesem Begriff ab. Auch für ihn heißt Bedeutung Funktion, und diese ist jeweils am Anfang und am Ende seiner Bestimmung von fünf für ein Ritual notwendigen Handlungskomponenten auf Veränderung bezogen (vgl. Michaels 2001: 30; 2004: 218ff.). Diese fünf Komponenten stellen die Bestimmung der gemeinsamen Familienmahlzeit als Tischritual vor unterschiedliche Schwierigkeiten und werden insgesamt zur theoretischen Herausforderung. Dieser Herausforderung soll damit begegnet werden, die Konnotationen, die hierbei den Begriffen Transzendenz und Transformation verliehen werden, herauszuarbeiten. Die beiden Voraussetzungen der Bestimmung von Ritualbausteinen durch Axel Michaels werden dabei grundsätzlich geteilt, die Frage des Glaubens im Ritual letztlich jedoch anders bestimmt. Die fünf Komponenten sind (1) die ursächliche Veränderung bzw. der Anlass, (2) der förmliche Beschluss bzw. die rituelle Intention, (3) die Förmlichkeit, (4) die Motivationen bzw. modalen Handlungskomponenten und (5) die tatsächliche Veränderung der Teilnehmenden. »Wo keine Grenzüberschreitung, keine Veränderung, kein Wechsel stattfindet, gibt es keine Rituale.« (Michaels 2001: 30) Die ursächliche Veränderung (1) meint die Gestaltung eines Wechsels oder einer Veränderung der Handlungsebene, die das Ritual aus dem Gewöhnlichen, Alltäglichen abhebt und den Beginn des rituellen Geschehens festlegt. Der Zeitpunkt des Gesche33
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hens wird markiert, das selbst wiederum mit einer zeitlichen oder räumlichen Veränderung bzw. einem biologischen, körperlichen oder altersbedingten Wechsel in einer ursächlichen Beziehung steht. Das bedeutet vor allem, dass nicht jede Veränderung oder jeder Übergang ein Ritual ist, sie müssen durch eine Veränderung im Verhalten der Teilnehmenden, mit einem Wechsel auf die rituelle Ebene verbunden sein (vgl. Michaels 2004: 218). Dies bereitet der Auffassung von der Familienmahlzeit als Tischritual keine Schwierigkeit, weil eine gemeinsame Zeit bei Tisch für die Familienmitglieder leicht einen Wechsel oder eine Veränderung implizieren kann, von der individuellen Zeit in eine kollektive Zeit, aus der Familienwelt in die Arbeitswelt usw., und ein solcher Wechsel kann bei Tisch markiert werden. Damit findet im Tischritual zunächst jedoch nur eine Separation, eine Grenzziehung und damit ein Grenzübertritt statt. Eine tatsächliche Überschreitung von Grenzen, also eine Transgression, d.h. die zumindest zeitweise Suspendierung, Aufhebung oder Verschiebung bestehender Grenzen und mögliche, sich dabei ereignende Verschmelzungen finden bevorzugt in religiösen Ritualen statt, man denke nur an religiöse Trancezustände (vgl. Köpping/Rao 2003). Die schnelle Koinzidenz von Grenzziehung und Grenzüberschreitung, von Transzendenz und Transgression, verlangt nach symbolischen Hierarchien, nach dem Ritual äußerlichen, höheren Wesen bzw. Welten, Institutionen, Mythen oder Utopien, deren Grenzen im Rahmen ritueller Handlungen überschritten werden können, oder nach gesetzten, festgelegten und hierarchisch strukturierten sozialen Kontexten, deren Differenzen im Ritual aufgehoben werden. Eine solche Konsequenz zu ziehen, erschiene weniger als Utopie denn als Illusion vom Ritual. Deshalb wird hier, auch wenn das Wort Grenzüberschreitung von Axel Michaels nicht näher bestimmt wird und nicht unbedingt auf die Konnotation des Transgressiven zielen muss, an diese erinnert.15 Mit dieser Erinnerung sollen weder die Notwendigkeit eines Wechsels oder einer Veränderung zur Bestimmung ritueller Handlungen noch die Einbettung des Rituals in soziale Kontexte oder die Existenz sozialer Hierarchien geleugnet werden. Rituale werden hier jedoch als Praxen verstanden, die selbst konstitutiv für die Bestimmung ihres sozialen Kontextes sind und dessen symbolische Ordnung nicht nur reproduzieren, sondern diese Ordnung
15 Das Verdienst, das Transgressive von seinen negativen Bedeutungen befreit zu haben, kommt Michel Foucault zu, der im Rückgriff auf Bataille die Überschreitung bestehender Grenzen nicht nur als Tabubruch zu erkennen gibt, sondern dies emphatisch als Überschreitung der konstitutiven Grenzen subjektiver Handlungsfähigkeit ausführt, und damit das Einbrechen ins Chaotische als emanzipatorische Bewegung feiert (vgl. Foucault 1984). Die daraus resultierende Bestimmung der Grenze und des Transgressiven wird in der Ritualforschung auf die Ambivalenzen der rituellen Performanz bezogen (vgl. Köpping/Rao 2003). 34
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ebenso hervorbringen. Die Erinnerung dient an dieser Stelle einer eigenen, grundlegenden Positionsbestimmung. Der Wechsel auf die rituelle Handlungsebene wird über den Anlass hinaus durch den förmlichen Beschluss bzw. die rituelle Intention (2) markiert. »Die spontane, zufällige, willkürliche Feier eines Wechsels ist kein Ritual (auch wenn sie sich ritueller Elemente bedienen kann).« (Michaels 2004: 218) Der förmliche Beschluss ist eine intention to do, die Handlungssegmente aus dem Gewöhnlichen aussondert und die Veränderung ins Bewusstsein ruft, unabhängig von den Motiven der Handelnden bzw. der intention in doing. Weil eine formal beschlossene Handlung immer eine benennbare Handlung ist, folgt daraus, dass man kein Ritual vollführen kann, »ohne zu wissen, dass man ein Ritual begeht« (Michaels 2001: 33). Der förmliche, zumeist sprachliche Beschluss zur Durchführung des Rituals wird oft begleitet von visuellen und akustischen Signalen. Einladungen, die Festlegung eines Zeitpunktes, das Versprechen am Tisch zu erscheinen, werden bei einer oft wiederholten Handlung wie der gemeinsamen Mahlzeit sicher nur selten jedes Mal förmlich ausgesprochen, denn deren Bedingungen, Ort und Zeit dürften bekannt sein. Dennoch können Zeitabsprachen, Bitten, Aufforderungen, Ermahnungen, das Erscheinen bei Tisch unterstreichende Handlungen, sprachliche Formeln wie das »Guten Appetit!«, eine besondere Tischgestaltung oder das gemeinsame Speisen an einem anderen Ort als dem, wo die einzelnen Familienmitglieder individuell Nahrung zu sich nehmen, den Wechsel auf die rituelle Handlungsebene kennzeichnen und die gemeinsame Mahlzeit vom sonstigen Alltag der Familie abheben. Dies wären deutliche Zeichen einer rituellen Intention, die nicht allein daran erkennbar wäre, dass die Familien ihre gemeinsame Mahlzeit explizit als Ritual bezeichnen. Ihr Verhalten bei Tisch ließe sich dann als Bestätigung dieses Wissens lesen. Rituelle Handlungen sind an bestimmte formale Kriterien (3) gebunden. Rituelle Handlungen sind nicht spontan, privat, widerrufbar, singulär und beliebig für jedermann. Förmlichkeit ist ein zentrales Kriterium für Ritualdefinitionen und umfasst ein regelhaftes Verhalten, »aber auch eine gewisse Feierlichkeit, Starrheit und Steifheit« (Michaels 2004: 219). Deshalb sind Rituale auch keine zweckrationalen Handlungen, sie sind nicht beliebig zu verändern, um einen Zweck besser zu erreichen. Die Feierlichkeit, Starrheit und Steifheit ergibt sich daraus, dass Rituale kodifiziert, normativ und präskriptiv sind. Rituale sind unwiderruflich, d.h., sie sind nicht rückgängig zu machen. Und Rituale sind an Öffentlichkeit gebunden, sie sind keine Privatveranstaltungen. Aus diesen Anforderungen an ein Ritual ergeben sich einige Schwierigkeiten, die Familienmahlzeit als Tischritual zu bezeichnen. Spontan und singulär sind Familienmahlzeiten nicht und sie können sich durch eine gewisse Stereotypie auszeichnen. Ist aus einer gewohnten gemeinsamen Mahlzeit ein 35
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Ritual geworden, dann muss sie nicht allein – wie jede Handlung – bestimmten Regeln folgen, sondern sie muss eine gewisse Unveränderlichkeit aufweisen. Diese relative Starrheit kann die Speisen, ihre Anordnung auf dem Tisch, die Sitzordnung, den Beginn der Nahrungsaufnahme bzw. das Einläuten ihres Endes, die Abfolge der Themen des Tischgesprächs und insgesamt das Vorhandensein einer regelmäßigen, typischen Handlungsabfolge betreffen. Feierlichkeit kann durch die Tischgestaltung, Licht, Musik oder andere, unverzichtbare Requisiten, durch eine besondere Kleidung der Familienmitglieder, kurz durch besonderen Schmuck angezeigt werden. Ob die Familie sich aber regelmäßig und häufig bei Tisch versammelt, um nun jedes Mal eine feierliche Handlung zu vollziehen oder sich in einer gewissen Steifheit aufeinander zu beziehen, darf angezweifelt werden. Dennoch kann das Verhalten bei Tisch kodifiziert und normativ sein, etwa in der Verpflichtung zur Anwesenheit, in der Einhaltung von Tischsitten und eines bestimmten Verhaltens bei Tisch oder in der Übernahme bestimmter Aufgaben. Wenn man der Familienmahlzeit zunächst nur die Sättigung der Familienmitglieder als Funktion zuschreibt, dann wird deutlich, dass das Tischritual keine zweckrationale Handlung ist. Dieses Ziel ließe sich in den meisten Familien auch leichter erreichen. Angesichts von unterschiedlichen Arbeitsund Schulzeiten, Freizeitaktivitäten, Vorlieben wäre es oft einfacher, wenn die Familienmitglieder sich nicht erst gemeinsam bei Tisch versammeln, um satt zu werden. Gewinnt die gemeinsame Mahlzeit eine darüber hinausgehende Funktion, wird sie also zum Mittel, die Gemeinschaftlichkeit, Zusammengehörigkeit und Identität der Familie darzustellen, dann wird sie zum Ritual, wenn sie unverzichtbar für die Familie geworden ist, also nicht einfach durch andere Handlungen ersetzt wird. Doch was bedeutet, Rituale sind unwiderruflich und »wirken unabhängig von ihrer Bedeutung« (ebd.)? »Die Umgürtung macht einen Hindu zum Zweimalgeborenen, selbst wenn man – was natürlich nicht vorkommt – während des Upanayana-Rituals merkt, dass man lieber Muslim oder Christ sein möchte. Dazu bedarf es dann eines neuen Rituals.« (Michaels 2001: 35) Angesichts von Familie sind die Dinge komplizierter, denn institutionelle Rahmungen wie die Ehe oder das Sorgerecht bzw. die Sorgepflicht sind auf die Familie als staatliche Institution, d.h. als juristisch definierter Möglichkeitsraum (einschließlich der Möglichkeiten, die das Gesetz nicht verbietet) übergegangen. Das Tischritual hat eine solche Funktion nicht. Doch rechtliche Kodifizierungen bzw. institutionelle Rahmungen allein machen noch keine Familie. Das Tischritual macht einen zum Mitglied einer Familie, selbst wenn man – was natürlich vorkommen kann – beim Essen merkt, dass man lieber kein Mitglied dieser Familie sein möchte. Solange man am Essen teilnimmt, ist man Familienmitglied, und schon ein einmaliges oder häufiges Fehlen hält Konfliktstoff bereit. Man kann sich der gemeinsamen Mahlzeit nicht einfach 36
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entziehen. Das Tischritual ist deshalb unwiderruflich, weil eine häufig wiederholte Teilnahme eine doppelte Verpflichtung erzeugt, nämlich auch künftig am Tischritual teilzunehmen und sich als Familienmitglied angemessen zu verhalten; das Tischritual wirkt also über seinen unmittelbaren Vollzug hinaus. Das Familienessen ist auf den ersten Blick allerdings eine Privatveranstaltung. Doch Öffentlichkeit wird von Axel Michaels auf Intersubjektivität bezogen, und privat meint hier offensichtlich individuell und wird ergänzt durch die Bestimmung, dass Rituale Handlungen sind, »die dem Prinzip nach nicht auch jeder andere nachahmen kann« (Michaels 2004: 219). Andere Familien, Gruppen oder Zirkel können eine Familienmahlzeit nachahmen, aber nicht jedes vereinzelte Individuum. Einzelne können sich an Familienmahlzeiten nur erinnern oder davon träumen, unter Umständen auch als Albtraum. Die modalen Handlungskomponenten oder die Motivationen (4) enthalten ähnliche Schwierigkeiten, insbesondere weil sich hier eine seltsame Unbestimmtheit des im Ritual Gewussten und Bewussten sowie eine Trennung des Inneren vom Äußeren feststellen lässt. Die formalen Handlungskomponenten werden bestimmt als äußerliche Merkmale, die modalen beziehen sich auf »innere«, motivbezogene Kriterien (vgl. ebd.). Um eine solche Teilung nicht nachvollziehen zu müssen, wird die Frage gestellt, ob das Tischritual nicht einen spezifischen Stil gewinnt, der durch formale und inhaltliche Aspekte bestimmt wird. Dies bedeutet auch, die formalen nicht unabhängig von den inhaltlichen Aspekten, sondern in ihren wechselseitigen Relationen zu untersuchen. Eine Untersuchung des Tischrituals kann dann analytisch zwischen diesen beiden Seiten einer Medaille unterscheiden, ohne die rituellen Handlungsvollzüge in der Beschreibung in formale und modale Handlungskomponenten zu zerlegen. Damit wird davon ausgegangen, dass Erziehung bei Tisch sich sowohl auf die formalen als auch auf die inhaltlichen Aspekte bezieht, und der rituelle Stil wird unter dieser Perspektive untersucht. Das Tischritual wird damit zum pädagogischen Ritual. Die geringste Schwierigkeit geht von der modalen Handlungskomponente der Communitas aus, die Michaels zwar von Turner übernimmt, aber anders versteht, indem er unter dieser Komponente alle Funktionen eines Rituals zusammenfasst, die sich auf andere und auf die Gemeinschaft beziehen: Solidarität, Hierarchie, Kontrolle, Normierung oder Kommunikation (vgl. ebd.). Aufgrund der schon ausgeführten Kritik an einer allein positiven Konnotation des Begriffs der Solidarität, die sich ebenso auf die anderen angeführten Begriffe, insbesondere auf eine allein negative Konnotation von Normierung oder allein positive Konnotation von Kommunikation anwenden lässt, wird hier im Unterschied zu den Komponenten 1-3 auf eine begriffliche Festlegung oder Übernahme dieser Funktionen verzichtet. Sie werden als Beispiele aufgefasst, die sich auf die Gemeinschaftlichkeit der Ritualteilnehmer bezieht, 37
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und zwar auf die symbolischen Aspekte der sozialen Ordnung der Familie und ihre normativen Relationen zu anderen, außerfamiliären sozialen Kontexten. Während die erste modale Handlungskomponente der Communitas die kollektiven Dimensionen der rituellen Handlung thematisiert, bezieht sich die Individualitas (ein Kunstwort) auf die individuellen, genauer auf die – noch nicht notwendigerweise bewusste – Motivation des Einzelnen, wie Angstlinderung, Lustgewinn oder Grenzerfahrung. Die Beispiele deuten bereits an, was im folgenden deutlich wird: Individualität wird als Abwesenheit von Kollektivität definiert und geht in der Kollektivität verloren, denn die Individuen müssen sich »in soziale bzw. kulturelle Normen einfügen. So werden aus individuellen Körpern in Ritualen Körperschaften.« (Ebd.: 219/220) Noch deutlicher wird es, wenn man anstatt des Körpers den Leib einsetzt, dann wird aus individuellen Leibern ein Kollektivkörper, als wären die individuellen Körper nicht bereits eingebunden in ihre soziale Welt, also ein Produkt von Sozialität.16 Hinter diesen individuellen Leibern könnte sich das autonome Subjekt ins Fäustchen lachen, wären nicht einzelne Subjekte der rituellen Handlung über die Religio als Mängelwesen bestimmbar.
»Religio« als Problem Während weder die kollektiven noch die individuellen modalen Handlungskomponenten an ein Bewusstsein ihrer Motive gebunden sind, bzw. die Frage des Bewusstseins sich nur implizit stellt, ist Religio »das Bewusstsein, dass die Handlungen gemacht werden, weil ihnen ein transzendentaler Wert beigemessen wird« (ebd.: 220), wobei nicht jeder Ritualteilnehmer glauben muss, aber Religio muss nachweisbar sein, und meist ist dies durch die rituelle Intention (2) gegeben. Wohin aber führt der Unterschied zwischen einer rituellen Intention bzw. einem formalen Entschluss und einem bewussten, »inneren« modalen Motiv der Ritualteilnehmer? Oder anders formuliert: Was heißt Glauben? In der »Anthropologie spricht man gewohnheitsmäßig von ›Ritualen‹, wenn es um bestimmte Arten von Handlungen und den Ausdruck eines Glaubens an bestimmte symbolische Ordnungen geht, ohne weiter zu fragen, ob der Handelnde sich dem, was er tut, verpflichtet fühlt« (Douglas 1986b: 13). 16 »Handlung, Geschichte, Konservieren oder Transformieren von Strukturen: All dies gibt es nur, weil es Akteure gibt, die sich nicht auf das reduzieren lassen, was der gemeine Menschenverstand und ihm folgend der ›methodische Individualismus‹ unter dem Begriff Individuum fassen, und die als sozialisierte Körperschaft über ein Ensemble von Dispositionen verfügen, die die Neigung wie die Eignung einschließen, auf das Spiel einzugehen und es mehr oder weniger erfolgreich zu spielen.« (Bourdieu 2001: 199) 38
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Wenn ein Glauben an symbolische Ordnungen und damit ein Bewusstsein vom Ritual sich im formalen Entschluss ausdrückt, dann können bereits die Aspekte der Communitas und – nach erfolgter Kritik – auch die der Individualitas als Transzendenz und damit als potentiell erkenntnisfähig verstanden werden. Rituelle Transformation leistet dann die symbolische Vermittlung zwischen beiden Aspekten, womit der transzendentale Wert nicht vor allem ein Bestandteil einer der rituellen Handlung äußerlichen, vorgängigen Welt ist, sondern ein Effekt der Handlung selbst. Wird dieser in der rituellen Intention ausgedrückt, bedeutet Ausdruck nicht lediglich Widerspiegelung oder Abbild einer vom Ritual unabhängigen Welt, sondern ebenso die Erzeugung transzendentaler Werte, womit die Frage der Erkenntnisfähigkeit sich auf die Wirkung des Rituals bezieht, d.h., die normative Kraft des Rituals – also die rituelle Magie – wäre an den kollektiven Glauben an die transzendierende und transformierende Wirkung der rituellen Handlung gebunden. Dagegen schließt Axel Michaels die transzendierende Wirkung mit dem transzendentalen Wert kurz und bindet beides an das individuelle Bewusstsein der Ritualteilnehmer: »›Religio‹ umfasst die transzendierenden, auf eine jenseitige, höhere, geheiligte Welt bezogenen Intentionen. … Mit Religio erhalten alltägliche Handlungen Erhabenheit, wird das Unveränderliche, Nichtindividuelle, Nichtalltägliche Ereignis. Rituale sind nur mit Religio (nicht gleichzusetzen mit Religion) von bloßer Routine trennbar.« (Michaels 2004: 220) Einmal abgesehen davon, dass kaum noch erfassbar ist, welche Aspekte eines rituellen Bewusstseins hier nicht als religiös definiert sind17, bedarf es nun nicht allein einer bewussten intention to do, sondern einer bewussten intention in doing, um von einem Ritual zu sprechen. Ob nun alle Ritualteilnehmer glauben oder nur einige wenige, der transzendentale Wert einer kollektiven Handlung wird zur individuellen Angelegenheit. Dabei ist nicht der transzendentale Wert, der in den rituellen Handlungen kollektiv ausgedrückt wird und (als erkenntnisfähiger Wert) einem individuellen Bewusstsein zugänglich sein muss, das Problem, sondern die Unterstellung eines inneren Motivs der Ritualteilnehmer, das diesen Wert widerspiegelt. Das wird sich immer finden lassen, als inneres und bewusstes Motiv zumindest bei denjenigen, die den formalen Entschluss begründen und kodifizieren, das Ritual festlegen, auslegen und legitimieren, planen und gestalten. Diese Art der Klassifizierung ritueller Handlungsbausteine birgt vielmehr eine problematische Konsequenz.
17 Hier sei an die nicht-religiösen Konnotationen des lateinischen Wortes religio erinnert: Rücksicht, Bedenken, Skrupel, oder als Eigenschaften ausgedrückt Gewissenhaftigkeit, Skrupulosität, Ehrwürdigkeit; darüber hinaus auch Verehrung, Eid, heiliges Versprechen und heilige Verpflichtung (vgl. Stowasser/Petsching/Skutsch 1991: 390f.) 39
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Wenn sich einige Ritualteilnehmer ihres Glaubens bewusst sind, dann lässt sich – will man nicht allein an Zwang denken – die Frage stellen, weshalb sie sich bei allen Herausforderungen und Schwierigkeiten, Widersprüchen und Zumutungen, die von einer geheiligten, höheren Welt oder Sache ausgehen, innerhalb von Ritualen sozialen und kulturellen Normen unterwerfen, die sie angeblich ihrer Individualität entledigen, die doch die Voraussetzung für das Bewusstsein ihres Glaubens ist. Besteht bei diesen (selbst-) bewussten Subjekten etwa ein Mangel an Glaubensgewissheit oder vielleicht ein Mangel an Selbstgewissheit, die zur Ausführung einer rituellen Handlung nötigen? Oder wenn diejenigen, bei denen sich eine bewusster Glauben nicht feststellen lässt, von denen, die schon wissen, woran sie glauben, im Ritual zu einem Bewusstsein ihres Glaubens bekehrt werden, wären dann nicht diese bewusstlosen Individuen defizitär? Als dritte Möglichkeit bleibt noch, dass die Meister der Religio wissen, was sie im Ritual tun und was zu tun ist, damit der Glaube derer, die noch nicht wissen, woran sie glauben, unveränderlich und zeitlos sichergestellt wird. Die defizitären Individuen unterwürfen sich dann einer geschickten rituellen Inszenierung, deren Charakter als Inszenierung ihnen entgeht und die sie in die rituelle Masse einbindet. Eine reflexive Distanz zur rituellen Handlung würde hier nur stören. In der logischen Konsequenz haben rituelle Handlungen ebenso ihre genialen Meister wie ihre mehr oder weniger unbewussten Massen. Aus einer religiösen Eilfertigkeit wird leicht ein missionarischer Eifer, ebenso wie aus einem aufklärerischen Gestus leicht eine verächtliche Skepsis gegenüber den Defiziten einer sich kollektiven Normen unterwerfenden Masse erwachsen kann. Will man ausgehend von der Klassifizierung innerer modaler Handlungskomponenten durch Axel Michaels die komplizierte Frage nach der Macht von Ritualen aufwerfen, d.h. die gewaltige, faszinierende, verstörende und herausfordernde Kraft von Ritualen hinterfragen, dann liegt weniger in der Kürze der thesenartigen Auflistung als vielmehr in der Reihenfolge ihrer inhaltlichen Ausführung ein bitterer Beigeschmack. Die souveränen Meister der rituellen Inszenierung, die ein inneres und bewusstes Motiv vom transzendentalen Wert besitzen, stehen den abhängigen Ritualteilnehmern gegenüber, die sich mit der Unterwerfung unter kollektive Normen ihrer Individualität entkleiden. Mit einer solchen Bestimmung würde nicht nur dem autonomen Subjekt sein Lachen hinter den individuellen Leibern der gewöhnlichen Ritualteilnehmer vergehen, sie würde ebenso die einfachsten Formen von Ideologiekritik bestätigen, denn übrig bleiben – obwohl von Priestertrug und Opium nicht im entferntesten die Rede zu sein scheint – Verschwörung und Manipulation auf der einen und Bewusstlosigkeit und Rausch auf der anderen Seite. Zudem stellt sich die Frage, ob die jenseitigen Welten und die letzten Dinge (vgl. Michaels 2001) Bedingungen oder aber verzichtbare Beispiele in 40
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einer Reihe von Aufzählungen sind, um eine Handlung als Ritual zu klassifizieren. Letzte Dinge – wie Tod und Geburt – berühren Urängste menschlicher Existenz, deren Eigentümlichkeit Sinnstiftung erfordert. Darin liegen menschliches Selbst- und Gattungsbewusstsein und seine symbolischen Welten begründet. Darüber hinaus kann man an jenseitige Wesen und ihre Welten nicht unbewusst glauben.18 Wird der transzendentale Wert zur inneren, bewussten Widerspiegelung, dann sichert dies hauptsächlich die jenseitigen und letzten Dinge, um die es laut Michaels in Ritualen gehen muss. Es mag außerhalb der jenseitigen Welten, der höchsten und letzten Dinge sinn-, identitäts- und gemeinschaftsstiftende, intendierte, formale und stereotype, wiederholbare und öffentliche, kollektiv und individuell bedeutsame, gemeinsame Handlungen geben, die sich ursächlich auf eine Veränderung beziehen und einen transzendentalen Wert ausdrücken, aber sie sind, ist die Religio zum inneren, widergespiegelten Bewusstsein erklärt, keine Rituale. Da hat die Familienmahlzeit Pech gehabt. Zieht man vom transzendentalen, erkenntnisfähigen Wert jedoch die Jenseitigkeit und die letzten Dinge ab, spitzt sich die Frage zu, wie der Zusammenhang zwischen Transzendenz und tatsächlicher Veränderung (5) zu bestimmen ist: Wie erlangen Rituale Bedeutung? Bei aller Kritik an den begrifflichen Voraussetzungen, die mit einer Festlegung auf die bewusste Religio als der entscheidenden modalen Handlungskomponente transportiert werden, bleibt sie notwendig für die Bedeutung nicht-religiöser, institutioneller Rituale. Moderne diesseitige, höhere und geheiligte Welten zeigen sich hauptsächlich in Institutionen und säkularen Mythen, die in institutionellen Ritualen beschworen, beglaubigt und bestätigt werden können. Doch moderne, diesseitige, höhere und geheiligte Welten funktionieren in sich abgestuft, hier sind Abstände zwischen der rituellen Intention (2), der tatsächlichen Veränderung (5) und dem Glauben an den transzendentalen Wert (4) vorhanden, die sich nicht allein aus den Abständen zwischen Zeremonienmeistern, Zeugen und Publikum ergeben. Lady Windsor ist seit ihrer Krönung die britische Königin Elisabeth II. Nun ist die britische Königin selbst ein höheres und geheiligtes Wesen, dem man nicht irgendwann, irgendwo, irgendwie gegenübertreten kann. Darüber hinaus verkörpert sie als geheiligtes Wesen den Mythos der Krone, und dass hier eine gehörige Portion bewusster Religio im Spiel ist, zeigt sich daran, dass der Mythos der Krone eng gebunden ist an den Mythos der Britishness: 18 Jenseitige Wesen und ihre Welten sind nicht von dieser Welt. Sie werden in Ritualen beschworen und gewinnen dadurch ihre Gestalt. Ihre Präsenz wird in Ritualen evident. Diesseitige Wesen und Welten dagegen sind mehr oder weniger selbstverständlich in bestimmter Gestalt anwesend. Man kann sich in seinem Verhalten auf sie beziehen und ihre Existenz bewusst ebenso wie unbewusst anerkennen. 41
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»God save the Queen!« und »God save Britannia!« sind zwei sich wechselseitig aufeinander beziehende rituelle Formeln höherer Welten (vgl. Barley 1999: 149ff.). Damit sich eine Krönungszeremonie vollziehen kann, muss jedoch nur an die Berechtigung des Amtes und an die Richtigkeit des Rituals – an seinen angemessenen Vollzug – geglaubt werden, zumindest von einer ausreichend hohen Anzahl der Untertanen, also ans höhere Amt, nicht ans heilige Wesen oder die heilige Welt eines nationalen Mythos.19 Der Mythos von Amerika als god’s own country ist zwar ebenso ein imperialer Mythos, der us-amerikanische nationale Mythos funktioniert jedoch demokratischer. Nach seiner Inauguration unterstellt sich der amerikanische Präsident selbst dem patriotischen Mythos: »God save America!« Zudem kann an Amerika glauben auch heißen, nicht an den Präsidenten – weder an die Person, noch an das Amt – zu glauben, was für viele ein schmerzhafter Lernprozess gewesen sein mag. Das Amt verfügt über einen größeren Abstand zum nationalen Mythos und ist für diesen nicht bestimmend. Außerdem ist der Präsident im Vergleich zur Königin ein weniger heiliges Wesen, denn er muss sich mit seinem Schwur der Verfassung unterstellen.20 Und seine relative Heiligkeit ist zeitlich stark begrenzt, er musste sich einer Wahl stellen und muss sich einer Wiederwahl stellen, und spätestens im Wahlkampf ist kein Kandidat heilig. Der Glaube an nationale Mythen, die sich auf die Inauguration beziehen, ist hier keine Voraussetzung für die reale Veränderung, die das Ritual mit der eingesetzten Person vollzieht. Das heißt, die Religio kann sich sehr differenziert auf viele Aspekte des Rituals beziehen, sie kann sich auf die höhere Welt und den transzendentalen Wert sogar nur instrumentell beziehen, davon hängt weder die rituelle Intention (2) noch die reale Veränderung (5) ab. Zumindest nicht die Wirkung des Rituals beim Publikum, obwohl auch dieses daran glauben muss, dass sich hier eine reale Veränderung vollzieht. Selbst bei diesen höheren, geheiligten Wesen, die nicht allein diesseits dieser Welt liegen, sondern eine gewisse Jenseitigkeit erlangen können – erwünscht und erlaubt für die britische Königin, mitunter geduldet beim amerikanischen Präsidenten –, ist es daher sinnvoll, den transzendentalen Wert an den formalen Entschluss (2) und den Glauben der Ritualteilnehmer als Bedingung einer Krönung und Inauguration vor allem an die tatsächliche Veränderung (5) zu binden. Deutlicher wird der Abstand zwischen der realen Veränderung (5), die ein Ritual vollzieht, auf die sich der formale Beschluss (2) ausrichtet, und einem bewussten Glauben (4), der auf den transzendenten Wert des Rituals gerichtet 19 Wie die Königin von Gottes Gnaden diese erlangt, bleibt ein mysteriöses Geheimnis, das wiederum ihre Heiligkeit sichert. Demzufolge blieb die Salbung den Kamerateams verwehrt und wurde nicht im Fernsehen übertragen. 20 Dagegen schwört das Parlament in London der Krone die Treue (im Unterschied zum schottischen Parlament). 42
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ist, in institutionellen Ritualen, in denen ein Statuswechsel vollzogen wird, der sich auf die geheiligte Welt der Institution zwar bezieht, die Person, deren Status sich ändert, jedoch nicht heiligt. Die Disputation verleiht einem Prüfling den Doktortitel, der eine, wenn nicht die entscheidende Voraussetzung für einen Aufstieg in den heiligen Hallen der Wissenschaft ist. Die geheiligte Welt der Wissenschaft hat ihren Ort in der Universität, die höheren Wesen sitzen dem Prüfling gegenüber und sind in diesem Moment an die Spielregeln eines universitären Prüfungsrituals gebunden. Man braucht lediglich den formalen Beschluss, den erfolgreichen Vollzug und ein entsprechendes Urteil. Und selbst wenn man es kaum glauben kann, das Ritual ist unwiderruflich. Ebenso bei einer Eheschließung, man muss nicht an die Ehe als geheiligte Institution oder an den Mythos der Liebe glauben, ein simples »Ja« genügt und der eigene Status ist verändert. Die äußere, höhere und heilige Institution – die institutionelle Transzendenz der Ehe und des Bildungstitels – entfaltet erst mit der realen Veränderung der eingesetzten Personen – ihrer Transformation – eine rituelle Wirkung. Mit dem formalen Entschluss (2) wird eine institutionelle Transzendenz bestätigt, jedoch erst mit der rituellen Veränderung (5) wird sie für den Prüfling und das Ehepaar wirksam. Die Universität und die Ehe als staatliche Institutionen, als höhere und heilige Welten, gewinnen in der Transformation für die Ritualteilnehmer einen transzendentalen Wert, zu dem sie sich in Beziehung setzen können, sie können sich in ihrem neuen Status betrachten, es ist jedoch irrelevant, ob diese Realität für sie heilig ist. In diesen institutionellen Ritualen existiert demzufolge nicht lediglich eine Distanz zwischen Jenseitigkeit und Diesseitigkeit, sondern im transzendentalen Wert eine Differenz zwischen höheren und heiligen Welten. Darüber hinaus können institutionelle Rituale ihre Wirkung unabhängig von einem bewussten Glauben an den institutionellen, transzendentalen Wert entfalten. Glauben kann hier auf die Ebene von Konventionen absinken, die beachtet werden müssen. Doch wer ein institutionelles Ritual absolviert, weiß in der Regel, was er tut, und Nichtwissen schützt vor den Folgen nicht. Die rituelle Handlung bewirkt – bei aller möglichen Distanzierung – eine reale Veränderung (5), und es ist unmöglich, sich in der rituellen Handlung dem transzendentalen Wert zu entziehen. Das Paar und der Prüfling ebenso wie die Standesbeamten und die Prüfenden können sich nicht auf ein Vielleicht zurückziehen, sie müssen sich bewusst entscheiden und sich damit zur institutionellen Transzendenz in Beziehung setzen. Das ist die Voraussetzung einer normativen Transformation, mit der die symbolische Transzendenz für die Ritualteilnehmer real, d.h. zum transzendentalen Wert wird.
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Rituale als symbolische Praxen Mithilfe der kritischen Interventionen in die Bestimmung von Bedeutung und Veränderung, die im Ritual transportiert werden, wird eine Skala ritueller Handlungen sichtbar, die über mehr oder weniger ritualisierte Handlungen bis hin zum Ritual reicht. Bis auf die Familienmahlzeit gehören alle bisher genannten Beispiele für Axel Michaels zum Ritual (vgl. Michaels 2001; 2004), sie lassen sich jedoch weiter differenzieren. Auf der Skala ritueller Handlungen ganz oben stünden religiöse Rituale, gefolgt von institutionellen Ritualen, die sich auf einen übergreifenden politischen, nationalen Mythos beziehen. Diese lassen sich wiederum unterteilen gemäß der Frage der – gemessen an nationalen Mythen – erlaubten Jenseitigkeit der Wesen, von denen der transzendentale Wert als Institution verkörpert wird, und – in einigem Abstand und ebenfalls weiter auszudifferenzieren – in diejenigen institutionellen Rituale, die in der Einhaltung bestimmter Konventionen, die eine Transformation bewirken, an einen äußeren, transzendentalen Wert gebunden sind. Die Skala ritueller Handlungen wird sichtbar, wenn Transzendenz an Transformation gebunden wird. Die Religio wird dabei aus den modalen Handlungskomponenten (4) gelöst und an die reale Veränderung (5) gebunden, auf die sich der ursächliche Anlass als Wechsel der Handlungsebene (1) und der formale Entschluss (2) ein Ritual durchzuführen, beziehen. Der formale Entschluss (2), sondert – unabhängig von den inneren modalen Motiven und ihrer Bewusstheit – Handlungssegmente aus dem Gewöhnlichen aus und macht den Wechsel, den Grenzübertritt bewusst (vgl. Michaels 2004: 218). Damit ist die Voraussetzung für darstellendes, symbolfähiges Handeln gegeben. Dieses Handeln zeichnet sich durch Förmlichkeit (3) aus und bezieht sich auf die Sozialität der Ritualteilnehmer (4), wodurch es seinen Appell- und Verpflichtungscharakter gewinnt, aus Handeln wird Verhalten. Die Vermittlung zwischen der Individualität und Kollektivität der Teilnehmer gewinnt einen Inhalt, der – wie bei allen Handlungen – mehrdeutig sein kann und sich im Verhalten einstellt. Das Ritual ist damit bestimmbar als eine Handlung, die nicht nur selbst regelhaft ist, sondern aufgrund des Zusammenhangs von normativer Förmlichkeit und normativer Inhaltlichkeit über den unmittelbaren Handlungsvollzug hinaus wirkt, das Verhalten im Ritual wird zur regulativen Darstellung einer Haltung. Aufgrund der Ambivalenz der symbolischen Vermittlung von Verhalten und Haltung wird die Individualität der Ritualteilnehmer nicht aufgehoben, gelingt die symbolische Vermittlung jedoch nicht, scheitert die rituelle Inszenierung. Die Darstellung einer Haltung und das Verhalten der Ritualteilnehmer sind nicht beliebig bzw. zweckrational veränderbar, denn ihre symbolische Vermittlung im Ritual ist gebunden an die Voraussetzungen des sozialen Kontextes. Doch Rituale reproduzieren nicht nur soziale Ordnungen und richten das Verhalten der Ritualteilnehmer in Bezug 44
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auf ihre symbolische Ordnung aus, als performative Handlungen, die über den unmittelbaren Handlungsvollzug hinausgehend Haltungen verkörpern, regulieren sie den Zusammenhang von sozialer und symbolischer Ordnung. Damit dies funktioniert, müssen die Ritualteilnehmer glauben; ihnen muss bewusst sein, dass sie ein Ritual vollziehen, doch der Vollzug dieser symbolischen Vermittlung übersteigt ihre individuellen, bewussten Motive. Versteht man das Ritual in diesem Sinne als symbolische Praxis, dann werden auch an sich profane Handlungen, erfüllen sie die genannten Bedingungen, abgrenzbar von Routinen und Gewohnheiten. Auf den profanen Charakter des Familienessens weisen augenscheinlich die Aspekte der Räumlichkeit und Zeitlichkeit einer in den normalen Alltag eingebunden gemeinsamen Handlung hin. Es gibt nicht viele Orte, die bspw. eine moderne, funktionale Küche in einem großstädtischen Mietshaus an Profanität überbieten können. Dennoch kann ein solcher Ort zum rituellen Ort werden, so wie die Zeit des gemeinsamen Mahls zu einer besonderen Zeit der Familie werden kann. Zur Profanität des Essens tragen hauptsächlich zwei andere Aspekte bei, zum einen die zur Normalität gewordene ständige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, zum anderen der Wandel familialer Autorität. So hat der deutsche Sonntagsbraten einen Teil seiner Bedeutung zweifach verloren. Zum einen kann, wer will, mehrmals die Woche Fleisch zu sich nehmen oder bei veränderten Eßgewohnheiten ganz darauf verzichten. Als ein Zeichen von familiärem Wohlstand oder allgemeiner Wohlfahrt gilt der Sonntagsbraten in der Regel nicht mehr bzw. noch nicht wieder.21 Zum anderen besitzt das Privileg auf die erste und dickste Scheibe vom Braten auch nicht mehr selbstverständlich ein in seiner unhinterfragbaren Autorität und in seiner – im Gegensatz zur sonstigen weitgehenden Abwesenheit – geheimnisvollen Anwesenheit gottähnlicher Vater. Weder ist den Deutschen ihr Braten abhanden gekommen noch zeichnen sich Väter durch allzu häufige Anwesenheit aus, allerdings erscheint Autorität in Familien mit dem konstatierten Wandel zur partnerschaftlichen Familie als hinterfrag- und verhandelbar, zumindest zunehmend als legitimierungs- und erklärungsbedürftig. Die symbolische Verbindung von Braten und väterlicher Autorität ist zerbrochen, die den Vater als Garanten familiärer Autorität heiligt. Welche symbolische Vermittlung stellt ein Tischritual dann her? Die Familienmitglieder müssen, damit die symbolische Vermittlung zwischen ihrem Verhalten und einer Haltung funktioniert, gemeinsam an etwas glauben, denn sonst kann das Ritual keine Macht gewinnen. Während Axel Michaels einige seiner Ritualteilnehmer dazu zwingt schon vor dem rituellem Handlungsvoll21 Angesichts der Tatsache, dass Familie ein erhöhtes Armutsrisiko bedeutet, und angesichts zunehmender Kinderarmut in Deutschland ist hier eine Relativierung angebracht, obwohl die Aussage für die Mehrheit der Familien noch immer zutreffend ist. 45
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zug zu wissen, welchen transzendentalen Wert ihr Verhalten widerspiegelt, wird den Familienmitgliedern jetzt erlaubt, diesen Wert im Ritual zu erzeugen, unabhängig davon, ob der symbolische Gehalt der rituellen Darstellung den Familienmitgliedern in ihrem Verhalten vollständig zugänglich ist. Zumindest wird die Frage der Widerspiegelung eines der rituellen Handlung vorgängigen, äußerlichen transzendentalen Werts im Bewusstsein der Ritualteilnehmer nicht zur Voraussetzung einer rituellen Handlung erhoben. Vielmehr wird die Familienmahlzeit als symbolische Praxis verstanden, die Verhalten als Haltungen aufführt, womit die Transzendenz der Familie und die Transformation der Familienmitglieder dargestellt und in ihren Wiederholungen transportiert werden. Die Frage wäre, woraus ein kollektiver Glauben an das Ritual resultiert, der als bewusster individueller Glaube an die rituelle Intention zwar notwendig, jedoch für die Wirkung des Rituals nicht hinreichend ist und sich im formalen Beschluss nur unzureichend zeigt. Fehlt die Bedingung eines der rituellen Handlung vorgängigen, äußeren transzendentalen Wertes, der dem Bewusstsein der Ritualteilnehmer als inneres Motiv vollständig zugänglich ist, dann erklärt allein die rituelle Intention noch nicht, warum das Ritual dann auch transzendierend und transformierend wirkt.
1.3. Wie erziehen Rituale? Bildungsprozesse in Familien sind fundamental, weil sie die Perspektiven der einzelnen Familienmitglieder zentral beeinflussen und individuelles Verhalten über gemeinsame Formen der Kommunikation ausprägen (vgl. Mollenhauer/Brumlik/Wudtke 1975: 8f.). Kommunikation meint hier die notwendige Verständigung der Familienmitglieder untereinander, die für den Erhalt der Familie notwendig ist. Betrachtet man Familien als lebendige soziale Gebilde, dann müssen sie ihre Realität durch gemeinsame Interaktionen permanent herstellen. Erziehung erscheint dann »als ein Moment in einem Geflecht von Ereignissen« (ebd.: 46) und als eine «Form von interpersonellem Handeln« (ebd.: 91), das über die Ausprägung von Identitäten individuelles Verhalten formt. Die familiären Interaktionen sind vielfältig und komplex, aber nicht beliebig, sondern als Kommunikation gerichtet, gegliedert und geregelt. Familie selbst ist ein komplexes System, »das zur Umwelt hin offen ist […], aber […] dennoch Regeln folgt, deren Zweck in der Erhaltung des innerfamiliären Gleichgewichts besteht« (ebd.: 95; vgl. Nave-Herz 1994: 2). Rituale sind konstitutiv für das Zusammenleben in Familien, sie unterliegen jedoch dem Verdacht, die Kommunikation in Familien zu behindern, indem sie den Verständigungsprozess normativ begrenzen und erstarren lassen. Nicht jedes Verhalten ist in einem Ritual möglich, seine Regeln sind einzuhalten, ein rituelles Handeln kann im Vollzug des Rituals nicht zur Disposition stehen. Eine Verständigung über Rituale ist deshalb in Ritualen höchstens 46
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eingeschränkt möglich. Wenn Familien in Ritualen eine normative Realität gewinnen, verlieren sie dann nicht eine kommunikative Freiheit? Die Frage ist also, inwiefern Rituale die familiäre Kommunikation ermöglichen oder behindern.
Kommunikation und die Macht der Sprache Kommunikation wird zumeist an Sprache gebunden und unter das dialogische Modell subsumiert. Gemeint ist dann ein dialogisches Sprechen, in dem die Voraussetzungen und Bedingungen des Dialogs – verstanden als intersubjektive Bezugnahme – selbst potentiell verhandelbar sind. Wird Sprache im Ritual eingesetzt, ist sie eingelassen in nonverbale Symbol- und Handlungskontexte, d.h., Sprache im Ritual ist immer eingebettet in andere Formen ritueller Handlungen, denn Rituale erscheinen als multimediale Amalgame (vgl. Tambiah 1985: 1; Assmann 1992: 56f.) Die Auffassungen über die Funktion sprachlicher Handlungen im Ritual reichen von der linguistischen Annahme, dass Sprache in Ritualen eine zentrale Rolle spielt, bis hin zur kultur- und medientheoretischen Annahme, dass in der rituellen Kommunikation »konstitutive Eigenschaften der Sprache gerade suspendiert seien« (Jäger 2004: 305). Dies beruht darauf, dass die Ritualteilnehmer sich aufgrund der Stereotypie rituellen Handelns psychisch von ihrem Sprachhandeln distanzieren (können), sodass die privaten Gefühle bzw. individuellen Intentionen und Bedeutungen getrennt werden von einer öffentlichen Haltung und Semantik. Sprache im Ritual drückt die Konventionen des sozialen Kontextes und nicht spontan die Intentionen und Gefühle der Handelnden aus (vgl. Tambiah 1985: 131). Sprechakte in Ritualen funktionieren in diesen Auffassungen anders als Sprache außerhalb von Ritualen, rituelles Sprechen entspricht nicht dem Modell der dialogischen Rede, weil die Adressaten der Sprechakte in institutionellen Ritualen eine Aufführung erleben, ohne dass die institutionellen Repräsentanten eine soziale Verpflichtung oder Verbindung mit dem Auditorium eingehen (vgl. Krämer 2001: 143). Rituelle Begrüßungsformeln, seien sie verbal oder nonverbal, mit denen soziale Akteure auf der Vorderbühne ihrer sozialen »Rolle« agieren, um ihr Selbst, ihre persönliche Hinterbühne zu schützen, funktionieren nach derselben Logik (vgl. Goffman 1971; Bausch 2001). Darüber hinaus ist rituelles Sprechen ein formelhaftes und repetitives Reden, das seine Wirksamkeit nicht aus seiner Bedeutung gewinnt, sondern aus der Wiederholung von Sprachstereotypen. Rituelle Sprachformeln entleeren das Sprechen einer Bedeutung (vgl. Krämer 2001: 143f.). Das Sprechen in institutionellen Ritualen resultiert nicht aus dem freien Willen oder den Intentionen der sprechenden Individuen, sondern aus der überpersönlichen Macht der Institution, an der die Sprecher teilhaben (vgl. ebd.: 144).
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Zugespitzt lässt sich auch formulieren, dass ein Ritual nicht als Kommunikation funktioniert, denn es »differenziert nicht zwischen Mitteilung und Information, sondern informiert nur über sich selbst und die Richtigkeit des Vollzugs« (Luhmann 1997: 235). Dies scheint zunächst eine systemlogische Bestätigung der Bedeutungslosigkeit von Ritualen zu sein, die jedoch mit dem Hinweis, dass Rituale dort eingesetzt werden, »wo man glaubt, eine Kommunikation nicht riskieren zu können« (ebd.), Sprachhandlungen im Ritual als »Kommunikationsvermeidungskommunikation« (Jäger 2004: 306) kennzeichnet und ihnen damit eine Funktion zuweist. Rituale begrenzen die Freiheit einer individuellen Sinnzuweisung, das Ritual vermeidet also eine (inter-) subjektive Interpretation der Bedeutung des Gesprochenen. Insgesamt zeigen sich in diesen Auffassungen einerseits bestimmte Voraussetzungen des dialogischen Modells, die von einem objektiven Sinn der Sprache als eigentlicher, innerer Bedeutung ausgehen und das Sprechen selbst als Ausführung dieses objektiven Sinns beschreiben, womit dem Sprechen außerhalb von Ritualen ein bewusster, freier oder spontaner Wille der kommunizierenden Individuen unterstellt wird. Andererseits besitzen sie eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Problematik der institutionellen Repräsentation und der begrenzten Möglichkeiten subjektiver Sinnzuweisung im rituellen Handeln. Für Pierre Bourdieu realisiert sich der objektive Sinn der Sprache erst auf sprachlichen Märkten. Diese Märkte sind nicht als Jahrmärkte zu verstehen, auf denen sich das kunstvolle Spektakel der Sprache ereignet, sondern als Tauschmärkte, auf denen die Sprache wie eine Ware ihren Wert realisiert. Damit wird Sprache nicht auf eine gegebene Ansammlung von Bedeutungen und Verfahren ihrer Konstruktion festgelegt, sondern der objektive Sinn der Sprache wird an die sozialen Akteure gebunden, die auf den sprachlichen Märkten zueinander in Beziehung treten. Der objektive Sinn von Sprache liegt dann nicht in einem Inneren der Sprachdinge verborgen, die sich auf den Märkten präsentieren, sondern er ist gebunden an die Tauschbeziehungen der sozialen Akteure, die wiederum von den Konstitutionsbedingungen der Märkte abhängen. In Abhängigkeit von ihrer sozialen Position besitzen die Akteure dieser Märkte bestimmte Dispositionen des sprachlichen Habitus, die auf die Strukturen des jeweiligen sprachlichen Marktes treffen, welche sich als System von Sanktionen und Zensurvorgängen durchsetzen. »Es ist das Paradox der Kommunikation, dass sie ein gemeinsames Medium voraussetzt, aber ihr Ziel nur erreicht, wenn sie […] einmalige, das heißt sozial geprägte Erfahrungen erzeugt und wiederaufleben lässt.« (Bourdieu 1990: 13)22 22 Die Rede von sprachlichen Märkten wirkt provokant, riecht sie doch förmlich nach ökonomischem Reduktionismus. Judith Butler springt denn auch an und unterstellt Bourdieu (klassischen) Marxismus (vgl. Butler 1998: 222). Dabei entgeht ihr, dass die Marktbeziehungen der sozialen Akteure abhängen von ihrem Habitus und ihrer sozialen Positionierung, also von der Inkorporierung 48
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Sprache benennt die soziale Welt und strukturiert so deren Wahrnehmung und darüber deren Konstruktion. Jeder sozialer Akteur erhebt den Anspruch auf die Macht, zu benennen und benennend die Welt zu gestalten. Klatsch, Verleumdungen, Beleidigungen, Kritiken, Polemiken oder Lobreden besitzen den performativen Effekt, den von ihnen betroffenen Einzelpersonen im Namen einer mehr oder weniger bedeutenden Gruppe mitzuteilen, welche Eigenschaften sie besitzen und wie sie sich gemäß der ihnen mit solchen Äußerungen zugesprochenen Natur zu verhalten haben. Dies gelingt nur, wenn die Autorität der solchermaßen Sprechenden anerkannt wird, wenn sie also als Repräsentanten einer Gruppe wahrgenommen werden, deren symbolisches Kapital sie repräsentieren (vgl. ebd.: 75). Die Macht der Wörter, soziale Wirklichkeit wahrzunehmen und zu gestalten, Identitäten zuzuschreiben, Autorität zu verleihen, ist für Bourdieu nichts anderes als die delegierte Macht des Sprechers. Die Sprache repräsentiert, manifestiert oder symbolisiert diese Autorität nur (vgl. ebd.: 71ff.). Sprechen ist eine soziale Praxis und die performative Logik der Sprache funktioniert als symbolische Macht: »Man durchbricht nicht so leicht, die spontan performative Logik der Sprache, die … stets dazu beiträgt, namentlich über die zugleich kognitive und politische Konstruktionsleistung von Klassifizierungen das, was sie sagt, auch zu tun (oder ins Leben zu rufen).« (Bourdieu 2001: 150) Symbolische Macht ist definiert als die Macht, Bedeutungen durchzusetzen, mit denen soziale Differenzen als legitim und natürlich wahrgenommen und anerkannt werden (vgl. Schwingel 1993: 104). Jede symbolische Sinnsetzung, die nicht nur die soziale Welt beschreibt, sondern reale Wirkungen entfaltet, verdankt diese Wirkung der Macht der Sprache, die für Bourdieu auf der wirksamen Delegation von Autorität beruht. Die wichtigste Grundlage für das Gelingen performativer Akte ist nach Bourdieu die Anerkennung des Sprechenden und seines Diskurses als legitim, wofür es notwendig ist, dass der Sprachgebrauch und die Sprechsituation, also das Sprechen vor legitimen Adressaten in den legitimen Formen, und die soziale Funktion des Sprechenden in einem adäquaten Verhältnis zueinander stehen. (Einsetzungs-)Rituale stellen den sprachlichen Grenzfall solcher Sinnsetzungen dar. Sie obliegen den anerkannten kollektiven Autoritäten und in ihnen werden die sozialen Mechanismen sichtbar, die eine Delegation von Autorität bewirken, ihre Anerkennung gewährleisten und ihre Legitimation sichern. Die Wirkung sprachlicher Sinnsetzungen wiederum beruht auf der Inkorporierung sozialer Differenzen.
sowohl von ökonomischem als auch von sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital (vgl. Bourdieu 1982: 195ff.). Zur Kritik der mit dem Marktbegriff verbundenen möglichen Verzerrungen bei der Kennzeichnung sozialer Felder vgl. Müller 1992: 264f. 49
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Einsetzung und Einübung als soziale Magie Den Begriff der Einsetzungsrituale entwickelt Pierre Bourdieu aus einer Funktionsanalyse der Prüfungsrituale der französischen Eliteschulen, die ihn im Rahmen seiner Untersuchungen des sprachlichen Feldes als Grenzfälle symbolischer Sinnsetzungen interessieren. Der Begriff der Einsetzung erhält hier eine doppelte Bedeutung. Zum einen bezeichnet er konkrete Akte der Einsetzung einer Person in eine neue Position oder einen neuen Status, wie z.B. Initiationsriten, Krönungszeremonien, Ritterschläge, Berufungen und Prüfungen. Zum anderen wird die Einsetzung einer legitimen Differenz zur wesentlichen sozialen Funktion institutioneller Rituale. Mit der Kennzeichnung von Statuspassagen als Einsetzungsakte grenzt sich Bourdieu explizit vom Begriff des Übergangsrituals ab. Dabei wird nicht bestritten, dass in Ritualen Übergänge stattfinden oder sich Gemeinschaften bilden. Doch Rituale besitzen auch in den Formen, in denen sie Übergänge gestalten, eine grundlegendere Funktion als Trennungs- und Einsetzungsriten, denn Rituale setzen Grenzen zwischen denen, die im Ritual an einer Vergemeinschaftung teilhaben, und denen, die von einer solchen Teilhabe ausgeschlossen werden. Die rituelle Trennung vollzieht zum einen eine Grenzziehung, die zur sozialen Differenz wird, zum anderen ist sie mit einer Identitätszuweisung sowohl an die Ein- wie an die Ausgeschlossenen verbunden. Dies sind für Bourdieu die zwei grundlegenden Mechanismen der Einsetzung. Rituale markieren eine soziale Grenze dergestalt, dass die willkürliche Grenzziehung nicht als solche erkannt wird, sondern als natürlich und legitim wahrgenommen wird. So markieren Initiationsrituale eine Grenze zwischen noch Jungen und schon Männern und gestalten den Übergang vom Jungen zum Mann, vor allem aber wird eine Grenze gezogen zwischen dem vielleicht »weiblichsten« Mann und der vielleicht »männlichsten« Frau. Aus einer Reihe von objektiven Merkmalsverteilungen wird eine symbolische Trennung, aus faktischen Unterschieden werden legitime Differenzen, die den Charakter sozialer Institutionen tragen, die »im Ritual … vollzogene Trennung hat festschreibende Wirkung« (Bourdieu 1990: 85). Es gibt zwei Geschlechter, und eine Frau ist niemals ein Mann; und bezogen auf die Zugangsprüfungen zu (französischen) Eliteschulen wird der große Rest von der Elite getrennt und ein Versager wird nicht zur Elite zählen. Die Einsetzung gewinnt mit dieser legitimen Grenzziehung die symbolische Macht, sowohl die Vorstellung von der Wirklichkeit als auch direkt die Wirklichkeit zu beeinflussen, indem soziale Unterschiede sanktioniert werden. Diese Sanktionierung ist am wirksamsten, wenn die Unterschiede »den Anschein erwecken, sie beruhten auf objektiven Differenzen« (ebd.: 86). Einsetzungsrituale beziehen sich darüber hinaus auf die sozialen Akteure, denen eine Identität zugeschrieben wird. Rituale drücken Verhaltenserwar50
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tungen aus und appellieren an die Teilnehmenden, sich gemäß den Erwartungen zu verhalten. Deshalb bezeichnet Pierre Bourdieu den Einsetzungsakt als Kommunikationsakt von besonderer Art: »Er bedeutet jemandem seine Identität, aber in dem Sinne, dass er sie ihm ausspricht und sie ihm zugleich, indem er sie ihm vor aller Augen ausspricht, auferlegt … und ihm auf diese Weise mit Autorität mitteilt, was er ist und was er zu sein hat.« (Ebd.: 87f.) Die Einsetzung wird zum regelrechten Attributionsurteil, das demjenigen, über den es ausgesprochen wird, alles zuschreibt, was zu seiner sozialen Definition gehört. Diese Identitätszuschreibung schließt aber gleichzeitig alle Attributionen aus, die der mit ihr verbundenen sozialen Definition widersprechen. Diese Grenzziehung müssen die Ein- wie die Ausgeschlossenen anerkennen, sie dürfen die Grenze nicht überschreiten. Im Vollzug der rituellen Handlung eignen sich die sozialen Akteure die mit der Einsetzung verbundenen Attributionen körperlich an, durch die Nachahmung vorgegebener Haltungen, die Ausführung bestimmter Gesten usw. Die im institutionellen Ritual zugeschriebenen Attributionen werden zu einverleibter körperlicher Erfahrung in Gestalt eines Habitus, sie werden zur zweiten Natur. Rituale erziehen zur Inkorporierung sozialer Eigenschaften, sie erzeugen bleibende Dispositionen, Gewohnheiten und Gebräuche, die zur Herausbildung eines praktisches Wissens um soziale Grenzen führen und diesen Dauerhaftigkeit verleihen. »Alle sozialen Gruppen vertrauen ihr kostbarstes Vermächtnis dem Körper an, der wie ein Gedächtnis behandelt wird.« (Ebd.: 89) Die rituelle Zuschreibung einer sozialen Definition besitzt eine relative Autonomie, die sich darin zeigt, dass außerhalb ritueller Handlungen die soziale Definition weitgehend dementiert werden kann, ohne dass das soziale Sosein ganz hinter dem Tun verschwindet.23 Rituale gelingen nur, wenn die sie Durchführenden die Kompetenz zur Ausführung des Aktes besitzen, d.h. die Vollmacht der Institution, die sie repräsentieren, und die Verfügung über die anerkannten Formen, also die Beherrschung der richtigen Konventionen wie Zeit, Ort, Stil und Regeln. Die Voraussetzung für die Inkorporierung der einer sozialen Definition zugehörigen Attribute ist die Anerkennung der rituellen Autoritäten durch die sozialen Akteure, die aus dem kollektiven Glauben der sozialen Akteure an die Autorität institutioneller Repräsentanten und an die Legitimität der im Ritual erzeugten Werte und Normen resultiert. Dieser kollektive Glaube ist begründet in den habituellen Dispositionen zur Anerkennung sozialer Autorität, die wiede23 Der Privilegierte besitzt zugleich das Privileg, mit seinen Privilegien lässig umzugehen. Diese Attribution findet sich bis in die Geschmacksurteile der so Ausgezeichneten, wenn Bourdieu etwa untersucht, dass großbürgerliche Studenten die verbissene Studiendisziplin von Studenten kleinbürgerlicher Herkunft ablehnen und danach streben, sich von diesen gerade durch eine lässige Studienhaltung abzuheben. (Bourdieu 1971: 79f., 96f., 113f.) 51
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rum in den Symbolen, im rituellen Arrangement, im Kanon und dem ihm angemessenen Stil des Rituals verbürgt ist: »Der Glaube aller, der dem Ritual vorausgeht, ist die Bedingung seiner Wirkung. Gepredigt wird nur bereits Bekehrten.« (Ebd.: 92) Die magische Sanktionierung sozialer Unterschiede und die Aneignung einer sozialen Definition beruht auf der wirksamen Inkorporierung von Machtverhältnissen im System der Dispositionen, im Habitus.24 Einsetzung – als ritueller Akt und als Ritualfunktion – wird zum grundlegenden Mechanismus symbolischer Machtwirkung, die Bourdieu in Anlehnung an Austin (1988) als performative Magie bezeichnet, aber im Unterschied zu Austin und Derrida (1983) als soziale Magie erklärt.25 Für die Entfaltung aller beschriebenen Wirkungen der Einsetzung und Festschreibung sozialer Unterschiede – der Trennung objektiver Merkmale in unterschiedliche Gruppen ihrer Träger, der Zuschreibung und Ausbildung von Identität, der Ausbildung distinktiver Habitusformen und damit der Kenntnis und Anerkenntnis von Autorität und Legitimität – spielt Erziehung eine wesentliche Rolle.
24 »Was man die liturgischen Bedingungen nennen könnte, das heißt das Ensemble der Vorschriften, die die Form der öffentlichen Autoritätsäußerung regeln, die Etikette der Zeremonien, der Code der Gesten und die offizielle Abfolge der Riten, ist, wie man sieht, nur ein Element – das sichtbarste – eines Systems von Bedingungen, deren wichtigste und durch nichts zu ersetzende diejenigen sind, die – als Verkennung und Glaube – die Disposition zur Anerkennung produzieren, das heißt zu jener Delegation von Autorität, durch die der autorisierte Diskurs seine Anerkennung bekommt.« (Bourdieu 1990: 79) 25 Hier wird der wesentliche Unterschied in der Auffassung des Performativen bei Bourdieu und Derrida sichtbar: Während Bourdieu Sprache als soziale Praxis und Instrument von Herrschaft untersucht – bzw. die spontan performative Logik, auf der ihre symbolischen Macht beruht –, widmet sich Derrida der Performativität als Strukturmerkmal von Sprache, d.h. der Tatsache, dass Bedeutungen nicht fesgelegt bzw. nicht festzulegen sind, weil sich über Dekontextualisierung und Supplemeniterung die Abstände zwischen den Zeichen, aus denen Bedeutungen emergieren, ständig verschieben. Während soziale Kontexte als festgelegt – wenn auch nicht unveränderlich – erscheinen, basieren diskursive Kontexte auf permanenten strukturellen Brechungen. Bourdieu provoziert allerdings mit seiner Rede vom »unveränderlichen Kern« der Bedeutung von Wörtern (Bourdieu 1990: 14) die Kritik, in die Dichotomie von Sprache und Gesprochenem zurückzufallen. Will man sowohl eine Allgemeinbedeutung von Sprache als auch ihre Spezifik als soziale Praxis und damit als Produkt von Geschichte retten, ohne in die Dichotomie der strukturalen Linguistik zurückzufallen, könnte man Bourdieus Arbeiten zur sozialen Sprachpraxis auf Foucaults Diskurstheorie beziehen. Allgemeinbedeutungen existieren dann als historische Apriori, die historisch spezifisch allgemeingültig regeln, was sagbar und denkbar ist (vgl. Foucault 1993: 22-27). Darüber hinaus ließe sich eine Verbindung zwischen den »offenen Rändern« einer Gesellschaft, den diskursiven Praktiken und den sprachlichen Märkten denken, aufgrund derer sich diese allgemeinen Bedeutungen verschieben (vgl. Foucault 1994: 183-190). 52
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Autorität und Erziehung in Ritualen Aufgrund der Mechanismen der Grenzziehung und Identitätszuschreibung lassen sich Einsetzungsrituale als Anrufungen der sozialen Akteure lesen (vgl. Althusser 1977: 142f.). Die sozialen Akteure werden im Ritual als Subjekte mit bestimmten Eigenschaften angerufen und die subjektive Handlungskompetenz der Ritualteilnehmer ermöglicht sowohl die Anrufung als auch ein der Anrufung entsprechendes Verhalten: »Werde, was Du bist« (Bourdieu 1990: 88). Versteht man Erziehung als diejenigen Handlungspraktiken, die Bedingungen schaffen, die Menschen in die Lage versetzen, ein bestimmtes Handeln und Verhalten zu entwickeln, zu dem sie grundsätzlich in der Lage sind bzw. dessen Voraussetzungen sie bereits besitzen, dann wird sichtbar, dass Erziehung allgemein auf derselben Formel beruht. Versteht man Bourdieus Erklärung der Grundlagen für die Wirkung sozialer Magie in Ritualen als Beschreibung, dann wird das Verhalten im Ritual als angemessenes Verhalten beschrieben, indem den Anrufungen entsprechende soziale Identitäten und praktisches Wissen generiert werden. Das subjektive Verhalten der sozialen Akteure, das auf diesem praktischen Wissen beruht, würde sich dann allerdings als nachträgliche und kausal bestimmte Verkörperung einer vorgängigen Prägung erweisen. Eine solche Kausalität und Nachträglichkeit kann nur aufgrund einer Fixierung des institutionellen Kontextes, der die Autorität der Institution und ihrer Repräsentanten festlegt, funktionieren. Aus dieser Perspektive scheint Bourdieu hier lediglich auf die generierten Dispositionen des Habitus zu rekurrieren, und der Habitus erscheint nicht mehr als generatives Schema, also nicht als System sowohl strukturierter als auch strukturierender Dispositionen. Es soll hier nicht bestritten werden, dass eine solche Lesart einige Anhaltspunkte findet, es wird jedoch bestritten, dass dies eine angemessene Lesart ist, die zudem von der Vorstellung getragen ist, Bourdieu hätte eines seiner eigenen grundlegenden Konzepte nicht gut genug gekannt oder hier unfreiwillig dessen Einschränkungen offenbart.26 Das Habituskonzept bildet die theoretische Grundlage nicht nur für die Erklärung des kollektiven Glaubens an die Legitimität der rituellen Handlung, sondern auch für die Wirkungsweise symbolischer Macht als sozialer Magie. Zugleich wird damit die Macht der Sprache als symbolische Macht der Einsetzung sozialer Differenzen und sozialer Definitionen an den Körper gebun26 Vielmehr erweist sich die prominente Kritik Judith Butlers als verfehlte Aneignung des Habituskonzepts. Der Habitus ist eben kein passiver Niederschlag einer einfachen Sedimentierung von Machteffekten (vgl. Butler 1998: 219f.), und soziale Strukturen bilden kein statisches und geschlossenes System (vgl. ebd.: 205). Zur Kritik dieser Fehlaneignung vgl. Rademacher 2001: 36ff., zur Kritik des Butlerschen Konzeptes subjektiver Handlungsmacht im Rahmen einer Politik des Performativen vgl. ebd.: 48ff.; Audehm 2004a. 53
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den: »Wir lernen durch den Körper.« (Bourdieu 1990: 181) Die Beziehung sozialer Akteure zur Welt »ist eine Beziehung der Präsenz in der Welt, des in der Welt Seins im Sinne des der Welt Angehörens« (ebd.: 180). »Durch diese permanente, mehr oder weniger dramatische, aber der Affektivität, genauer gesagt dem affektiven Austausch mit der gesellschaftlichen Umgebung viel Platz einräumende Konfrontation dringt die Gesellschaftsordnung in die Körper ein.« (Ebd.: 181) In der Konsequenz gibt es keine natürlichen Körper: »Der menschliche Körper ist immer kulturell geprägt. Sogar die einfachsten physischen Tätigkeiten – Gehen, Essen, Stuhlgang – sind zutiefst von der Kultur bestimmt.« (Barley 1999: 67) Die sozialen Akteure nehmen an der sozialen Wirklichkeit teil, sie bewegen sich in sozialen Feldern, deren komplexes Spiel sie erlernen, sie können es beherrschen oder versagen, sich flexibel auf Veränderungen einstellen, Neues aneignen und Erfahrungen verarbeiten. Der Eintritt in ein soziales Feld verlangt keinen fertig ausgebildeten Habitus, sondern einen kompatiblen, formbaren, konvertierbaren, kongruenten und lernfähigen Habitus (vgl. Krais/Gebauer 2002: 61f.). Die Ausbildung eines Habitus ist ein langwieriger Lernprozess und keine mechanische Übertragung einer den sozialen Akteuren äußerlichen Anordnung, vielmehr »wird die Fülle der einzelnen Erfahrungen, die Menschen auf Grund ihrer Tätigkeit in der Welt machen, zu einem komplexen Erfahrungswissen zusammengearbeitet und immer wieder transformiert« (ebd.: 63). Das körperliche Einprägen von Erfahrungen führt zur Inkorporierung eines Systems von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata, die den sozialen Akteuren ermöglichen, »praktische Erkenntnisakte zu vollziehen, die auf dem Ermitteln und Wiedererkennen bedingter und üblicher Reize beruhen, auf die zu reagieren sie disponiert sind, und ohne explizite Zwecksetzung noch rationale Mittelberechnung Strategien hervorzubringen, die … angemessen sind und ständig erneuert werden« (Bourdieu 2001: 177f.). In der Teilnahme am Spiel, im Agieren in komplexen sozialen (Spiel-)Feldern werden soziale Ordnungen, Grenzen und Klassifizierungen in den »wie unauslöschliche Tätowierungen eingebrannten Dispositionen in Naturgegebenheiten« verwandelt – »und somit auch die kollektiven Prinzipien der Sichtung und Ordnung« (ebd.: 181). Die kontinuierliche, permanente und oft unmerkliche Gewalt der gewöhnlichen Dinge, der gewohnten Mechanismen und Routinen, der selbstverständlichen Institutionen, der materiellen Lebensbedingungen, der stummen Befehle wendet sich ebenso an den Körper, wie sich auch die strengsten sozialen Befehle nicht an den Intellekt, sondern an den Körper wenden. Soziale Ordnungen werden in institutionellen Ritualen ebenso wie in der alltäglichen pädagogischen Praxis oft »durch Emotion und psychisches oder sogar körperliches Leiden eingeübt; dies namentlich wenn der Oberfläche des Körpers selbst durch Verstümmelungen, Einritzungen oder Tätowierungen Unter54
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scheidungsmerkmale eingeschrieben werden« (ebd.). Denkt man nicht nur an schmerzvolle Initiationsriten sondern auch an die zeremonielle Steifheit, die unbequemen Haltungen (kerzengerade oder auf dem Boden kniend), die unbequemen und die Bewegung einengenden Habitate und an die enormen körperlichen Strapazen bspw. religiöser Rituale oder an die Angst vor Prüfungen und vorm Weihnachtsmann, erscheint dies sofort einsichtig. Aber wie steht es mit körperlicher und psychischer Gewalt in kleinen, alltäglichen pädagogischen Praxen, in simplen Sprechakten, einfachen Aufforderungen, Ermahnungen und klaren Regeln, die ohne Züchtigung auskommen? Die Arbeit mit Emotion und Leiden mag subtil, der Zwang kaum merkbar, die Gewalt unsichtbar und unbewusst, die Disziplin sinnvoll sein, ihr Befolgen sogar lustvoll, wesentlich ist an dieser Stelle der Anpassungsdruck, den pädagogische Praxen ausüben, weil sie das Einschreiben der sozialen Ordnung in die Körper nicht dem Zufall überlassen. Erziehung versucht, die Präsenz in der Welt zu steuern, zu führen und zu lenken, und das pädagogische Spiel zu gestalten, d.h. Bedingungen für ein vernünftiges, richtiges Spielen bzw. das Erlernen der sozialen Spiele zu schaffen, und wendet sich noch mit einer einfachen Vokabel, mathematischen Formel oder Essensregel ebenfalls an die Körper: Anwesend sein und pünktlich erscheinen, stillsitzen und mitmachen; schön schreiben und nicht klecksen; die Hände waschen, Ellbogen vom Tisch. Die krummen Rücken, das breitbeinige Sitzen und laute Lachen, insbesondere der Mädchen, das spontane Reinreden und Unterbrechen unterliegen schnell einer pädagogischen Korrektur – einschließlich von Selbstkorrekturen. Wenn Pierre Bourdieu sich kritisch von den Ritualauffassungen Arnold van Genneps und Victor Turners abgrenzt, so stellt er einer gemeinschaftlichen Einübung den Mechanismus der Grenzziehung voran. Und dies geschieht so grundsätzlich, dass dies sowohl für soziale Gruppen als auch für Institutionen gilt, d.h., Rituale funktionieren in Gemeinschaften nicht anders als in Institutionen. In der Konsequenz ist damit die klassische Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Institution aufgehoben, weil soziale Gruppen, die im Ritual zu Gemeinschaften werden, von denselben Strukturen des sozialen Raumes geprägt sind, die auch Institutionen prägen. Soziale Subjekte sind eingeschrieben und schreiben sich ein in ihre soziale Umwelt, orientiert an sozialen Institutionen, die auf Trennung, Unterscheidung und Hierarchisierung basieren. Dies erklärt den hohen Stellenwert, den die Distinktion in Bourdieus Werken einnimmt. Doch offenbar funktioniert die Distinktion, zu deren Werkzeugen er auch Rituale werden lässt, eben nur aufgrund von Konjunktionen, von Zusammenschlüssen, auch und gerade in Ritualen. Die Frage nach dem symbolischen Stellenwert einer Konjunktion in Ritualen stellt sich insbesondere dann, wenn Gemeinschaften nicht nur wie Institutionen funktionieren, sondern wenn eine Gemeinschaft zugleich eine Institution ist, bzw. wenn die gemeinschaftliche und die institutionelle Dimension im rituellen 55
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Handeln zugleich bearbeitet werden. Zugespitzt ließe sich formulieren: Wenn die Differenzen innerhalb einer sozialen Gruppe nicht aus der rituellen Inszenierung ausgegrenzt sind, wie gestaltet sich dann der Zusammenhang von Grenzziehung und Identitätszuweisung und wie wird das Verhältnis von der Einheit der sozialen Gruppe einerseits und ihren Differenzen andererseits dargestellt? Damit werden nicht unterschiedliche familiäre Habitus zum Gegenstand einer Analyse des Tischrituals, sondern das Habituskonzept wird hier als theoretisches Konzept einer Struktur zweiten Grades eingesetzt, die zwischen den Bedingungen des familiären Kontextes und der rituellen Inszenierung der Familie vermittelt. In dieser Sichtweise erscheinen Ritual und Habitus weder als gegensätzliche Handlungsweisen, noch wird von einem Gegensatz von »Ritual-Konzept« und »Habitus-Konzept« ausgegangen (vgl. Friebertshäuser 2004: 36ff.), vielmehr wird die Inkorporierung eines Systems von generierten und generierenden Dispositionen als Grundlage für die Wirkungsweise ritueller Transzendenz und Transformation verstanden. Die verbalen und nonverbalen Interaktionen bei Tisch lassen sich dann als Verkörperung der inkorporierten Dispositionen der Familienmitglieder lesen und der Erziehungsstil im Ritual erscheint als pädagogische Praxis der Einübung. Die Frage ist, wie die Familien als soziale Gruppen, die ihre Differenzen nicht aus der rituellen Inszenierung ausgrenzen können, diese in ihrer symbolischen Praxis darstellen. Die Autoritäts- und Anerkennungsbeziehungen, die in den verbalen und nonverbalen Interaktionen und im szenischen Arrangement bei Tisch sichtbar werden, bilden die Grundlage für die Untersuchung des Tischrituals als normativer Inszenierung des Umgangs mit den Differenzen einer Familie. Erziehung wird als Mechanismus der Einsetzung von Bourdieu nicht nur auf konkrete Einsetzungsrituale, sondern auch auf Sprechakte wie »Sitz gerade!« bezogen. Ein performativer Sprechakt ist noch kein Einsetzungsritual, auch wenn er Teil einer rituellen Handlung sein kann. Ein »Sitz gerade!« lässt sich gut als Sprechakt in der gemeinsamen Mahlzeit einer Familie vorstellen, ebenso wie sich vorstellen lässt, dass wahrscheinlich nicht die Kinder eine solche Aufforderung an die Eltern richten. Allerdings lässt sich ein »Selber!« oder ein »Warum?« als Reaktion vorstellen. Folgt man Bourdieu, dann wäre erstere Reaktion ein Hinweis auf die Forderung, dass die Repräsentanten einer Autorität sich selbst der von ihnen als gültig erklärten Definition zu verhalten haben, und damit Zeichen der Anerkennung dieser Autorität. Wenn Eltern nicht antworten, sie ihre Autorität als Repräsentanten also mit dem Ausbleiben einer Reaktion für gültig erklären, dann würde sich ihre Anerkennung im Befolgen der Ermahnung zeigen. Wenn sie antworten, dann würde der Inhalt ihrer Antworten zeigen, ob sie ihre Autorität mit ihrem Wissen um die Natürlichkeit und Zweckmäßigkeit der Handlung legitimieren – ihre Autorität also unsichtbar werden lassen oder sich sichtbar Autorität zuschreiben, die keiner 56
FAMILIEN UND RITUALE
weiteren Legitimation bedarf: »Weil ich es so sage!« Erziehung erscheint hier im Modus der Disziplinierung, ebenso wie die Beispiele eine pädagogische Praxis in Familien nahe legen, in denen die Autoritätsstrukturen festgelegt sind. Die Festlegung pädagogischer Praxis in Familien auf Disziplinierung ergibt sich aus Bourdieus Anschluss an die Wirkung der produktiven Inkorporierung in Prüfungsritualen, wie sie Michel Foucault beschrieben hat (vgl. Foucault 1991: 238ff.; Bourdieu 2001: 181). Die Verschiebung der Machtstrukturen von einer Disziplinarmacht, die sich über Verbote und Strafen in die Körper einschreibt, zur Führungsmacht (Gouvernementalität), die nicht verbietet, sondern erlaubt und die verbunden ist mit einer Verschiebung der Techniken der Normierung hin zur Normalisierung, wird von Foucault nicht an Ritualen ausgeführt, weshalb Inkorporierung in Ritualen an Normierung und Disziplinierung gebunden zu sein scheint.27 Es ist insgesamt auffallend, dass die Erziehung in der Familie, insbesondere die Inkorporierung kulturellen Kapitals in der frühkindlichen Sozialisation, zwar als grundlegend für die Ausbildung eines Habitus erscheinen, das Feld Familie in den soziologischen Untersuchungen Bourdieus jedoch weitgehend ausgeklammert bleibt (vgl. Müller 1992: 347). Pierre Bourdieu scheint in seiner Erklärung der Wirkungsweise performativer Magie am Beispiel familiärer Sprechakte auf ein Familienmodell zurückzugreifen, in der Autorität selbstverständlich und klar an die Eltern verwiesen und noch deutlicher als väterliche Autorität ausgewiesen war. Wenn es nicht um die Einübung einer selbstverständlichen Natürlichkeit »der« Familie geht, sondern um die Einübung der Dispositionen, die zur Anerkennung der Autoritätsbeziehungen in einer konkreten Familie beitragen, dann darf angezweifelt werden, ob ein patriarchales Familienmodell mit einem eindeutigen Autoritätszentrum sowie einer relativ starren Traditionsgebundenheit als Modell familialer Institutionalität bzw. familialer Autorität noch zeitgemäß ist. Eine solche Fixierung des institutionellen Kontextes ist in Bourdieus Äußerungen nahegelegt, obwohl er sich nicht über das seinen Auffassungen zugrunde liegende Familienmodell äußert. Insofern lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass das Tischritual in Familien nicht aus der Perspektive einer vorab festgelegten Autoritätsstruktur zu untersuchen ist. Um keine falschen Erwartungen zu wecken, sei noch darauf hingewiesen, dass mit dieser Gegenstandsbestimmung auch thematische Einschränkungen verbunden sind und es möglich wäre, anderen Anregungen aus der erziehungswissenschaftlichen und familiensoziologischen Literatur zu folgen. So zielt die Untersuchung des Tischrituals als symbolischer Praxis nicht auf die
27 Zur Bestimmung des Zusammenhangs der Begriffe Disziplin und Gouvernementalität in den Arbeiten Foucaults vgl. Lemke 1997, zur aktuellen Debatte in den Sozialwissenschaften Soiland 2002. 57
ERZIEHUNG BEI TISCH
Analyse der Wechselwirkung von Familienhabitus und distinktiven Lebensstilen (vgl. Hillebrandt 1998), nicht auf die empirische Einordnung des Tischrituals als biografische Erfahrung (vgl. Friebertshäuser 2004) oder auf die Untersuchung des Zusammenhangs von rituellen Handlungsvollzügen und kulturellen Familienleitbildern (vgl. Vaskovics 1997) bzw. von Familienmythen (vgl. Hoffmeister 2001), ebenso wenig auf eine Ideologiekritik der Lebensform Familie (vgl. Haug 2003).
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2. Eine pädagogische Ethnografie des Tischrituals
2.1. Zugang zum Feld, Kontaktaufnahme und Au s w a h l d e r F a m i l i e n Die Untersuchung familiärer Tischrituale fand im Rahmen eines Teilprojektes des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin statt, das Rituale und Ritualisierungen in den Sozialisationsbereichen Schule, Familie, Kinder- und Jugendkultur und im Umgang mit Medien untersuchte, wobei eine reformpädagogische Grundschule den Mittelund Ausgangspunkt der Analysen bildete und somit auch den Zugang zum Feld bestimmte (Wulf u.a. 2001; 2004). Für die Untersuchung von Familienritualen bedeutet dies konkret, dass die stellvertretende Schulleiterin um Rat gefragt wurde und eine Reihe von Familien nannte, die nach ihrer Einschätzung bereit sein würden, sich einer Beobachtung ihrer Alltags- und Festrituale zu unterziehen und Erziehungswissenschaftlern Zugang in ihr Privatleben zu gewähren. Damit wurden bestimmte Einschränkungen in Kauf genommen, denn die Familien, entweder die Kinder oder die Eltern selbst, mussten der stellvertretenden Schulleiterin bekannt sein und dürften ihr im Sinne einer institutionellen Wahrnehmung positiv aufgefallen sein, also aus ihrer Perspektive als unproblematisch und bereitwillig gelten. Aufgrund der Nennung durch die stellvertretende Schulleiterin einer reformpädagogischen Grundschule waren schulisch leistungsstärkere Kinder aus relativ stabilen Familienkonstellationen, eine relativ große Bildungsnähe der Eltern und Familien aus einem ähnlichen sozialen Milieu zu erwarten. Diese Erwartung folgt nicht den eigenen Selbstverständlichkeiten der Forscherin oder unterstellt quasi natürliche Zusammenhänge zwischen Schichtzugehörigkeit, Familienkonstellation, familialer Pädagogik und bzw. oder schulischem Leistungserfolg, sondern rechnet mit einer durchaus kritisch zu reflektierenden gesellschaftlichen Realität und ihrer dominierenden kulturellen Wahrnehmung. Daraus folgt, dass die Untersuchung ihren Ausgangspunkt nicht von den Rändern der Gesellschaft her nimmt, sondern von Beginn an in 59
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ihre relative Mitte bzw. deren gesellschaftliche Repräsentation zielt, sodass Rituale in Familien untersucht werden, deren Schichtzugehörigkeit, Familienstrukturen und Lebensstil aus einer pädagogisch-soziologischen Perspektive den Konstruktionen von Normalität entsprechen. Die zentrale Frage kann dann nicht lauten, was normal ist, weder an den Familien noch an ihren Ritualen oder ihrer Pädagogik, oder wie die Interpretationen der Familienrituale sich auf kulturelle Konstruktionen von Normalität beziehen lassen, denn empirische Vergleichshorizonte für eine Kritik bzw. eine Rekonstruktion der Bedeutung von Normalität in den Familien fehlen. Zugleich führt diese Selbstreflexion vor Augen, dass die Ethnografin und ihr Kollege insbesondere angesichts eines Forschungsfeldes, das als soziale Institution, säkularer Mythos und Organisationsform nur zu leicht als natürliche Verkörperung kultureller Normalitätsfolien erscheint, vor die schwierige Aufgabe einer »Befremdung der eigenen Kultur« gestellt sind (Hirschauer/Amann 1997). Die Untersuchung von Ritualen in Familien, die gesellschaftlichen Konstruktionen von Normalität entsprechen und diese repräsentieren, bietet den Vorteil, in dieser Begrenzung eine grundlegende Analyse der pädagogischen Prozesse in Familienritualen leisten zu können, die einen Ausgangspunkt und einen Vergleichshorizont für weitergehende Untersuchungen bilden kann. Bisher ist über die Pädagogik von Familienritualen nur wenig bekannt. Familienstrukturen und familiale Lebensstile beeinflussen die Alltags- und Festrituale und deren pädagogischen Stil und können deshalb in den Interpretationen nicht vernachlässigt werden, womit die Kontextgebundenheit der untersuchten Rituale in den ausgewählten Familien nicht hintergehbar ist. Gegenwärtige Familienstrukturen innerhalb einer mittleren Bildungs- und Sozialschicht sowie innerhalb einer Generation, der die Eltern angehören, bilden einen gemeinsamen Vergleichshorizont des Familienkontextes, womit vor allem die Anzahl und das Alter der Kinder, die Geschwisterkonstellationen und die An- bzw. Abwesenheit der Eltern im Alltag und damit die Frage der Berufstätigkeit, der Partnerschaftsformen und der Regelung des Sorgerechts zu Vergleichshorizonten zwischen den Familien werden, nach denen die Familien ausgewählt wurden. Insofern handelt es sich um den Beginn der Erforschung von Bildungsprozessen in Familienritualen, ohne die Behauptung aufzustellen, dass die Untersuchung Erziehungs- und Bildungsprozesse von Familien generell erschließen kann. Die Untersuchung verortet sich deshalb auch nicht vorrangig in der Familien- sondern vielmehr in der Ritualforschung. Die Untersuchung nahm ihren Ausgangspunkt von sieben Familien, zu denen telefonisch Kontakt aufgenommen wurde, wobei die elterlichen Vertreter über das Anliegen der Untersuchung kurz informiert und sie gefragt wurden, ob ihnen das Anliegen und Forschungsinteresse brieflich mitgeteilt werden darf. Die Eltern zeigten sich interessiert bis neugierig und waren, nach60
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dem sie den entsprechenden Brief erhalten hatten, beim zweiten Anruf bereit, einen Termin zur persönlichen Kontaktaufnahme zu vereinbaren. Entweder wurde dabei mitgeteilt, dass die Kinder anwesend sein würden, oder die Eltern fragten nach, ob dies erwünscht wäre, was nachdrücklich bejaht wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Kontakt zu vier deutschen, zwei polnischen und einer deutsch-türkischen Familie telefonisch und schriftlich hergestellt. Die Auswahl nichtdeutscher bzw. binationaler Migrationsfamilien sollte eine Befremdung eigener, kulturell geprägter Normalitätskonstruktionen im Verlauf der Untersuchung erleichtern, gerade weil der Schulerfolg der Kinder und die Schichtzugehörigkeit der Eltern dem gängigen Bild von Migrationskindern und der sozialen Randständigkeit ihrer Familien nicht entsprechen. Doch der türkische Vater teilte beim zweiten Telefonat mit, dass die Familie innerhalb der nächsten Monate in eine weit entfernte Stadt umziehen und sich damit das gesamte Umfeld der Familie und ihr Alltag einschneidend verändern würden. Eine solcher Einschnitt wäre zwar nicht von der Forschungssituation hervorgerufen worden, hätte jedoch bedeutet, die Familie nach ihrem gewohnten Alltag vor dem Umzug und nach den Veränderungen, die der Umzug mit sich gebracht hätte, zu befragen, ohne die Veränderung selbst beobachten zu können. Außerdem konnte keine weitere Familie in einer ähnlichen Situation gefunden werden, die einen empirischen Vergleich der beobachtbaren Situation ermöglicht hätte. Dieses Argument wurde vom Vater, der selbst den Umzug als einschneidende Veränderung antizipiert hatte, sofort verstanden. Der persönliche Kontakt wurde zu den verbleibenden sechs Familien aufgenommen, wobei – wie schon im Brief an die Familien – darauf verzichtetet wurde, den Ritualbegriff zu erklären oder zu begründen. In allen Fällen waren die Kinder anwesend, zeigten sich interessiert bis neugierig und beteiligten sich aktiv am Gespräch. Für die Eltern waren insbesondere die Schilderung einer neutralen Forschungsperspektive und die Vorstellungen zur Anonymisierung entscheidend für ihre Zustimmung zur Teilnahme an der Untersuchung. Eine neutrale Forschungsperspektive bedeutet, dass keine normativen Vorstellungen einer Richtigkeit und Angemessenheit bzw. des jeweiligen Gegenteils von Ablauf, Sinn und Funktion von Familienritualen unterstellt werden und dass die Beobachtung weder auf eine psychologische Analyse familialer Bindungen noch auf die Bewertung der pädagogischen Fähigkeiten und Kompetenzen von Eltern und Kindern zielt. Die letzten beiden Bemerkungen rief bei allen Eltern und einigen Kindern Schmunzeln und bestätigendes Kopfnicken hervor. Diese Art des Auftaktes erwies sich als vertrauensbildende Maßnahme, die sowohl die prinzipielle Bereitschaft der Familien, sich beobachten und ihre Rituale erforschen zu lassen, verstärkte als auch eine besondere Bereitwilligkeit und methodische Offenheit bei Eltern und Kindern unterstützte. Mit diesem Auftakt war in allen Familien ein prinzipielles Ein61
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verständnis erzielt, das es ermöglichte, die Familien ohne weitere begriffliche Ausführungen nach ihren Ritualen zu befragen. Das ethnografische Interesse lässt sich an dieser Stelle in dem (zunächst) einfachen Satz zusammenfassen: »What to hell is going on here?« (Geertz 1983). Die einfache Frage an die Familien lautete: »Welche Rituale hat Ihre und Eure Familie?« Nach einer kurzen Pause, in der die Eltern Blickkontakt zueinander aufnahmen, mit dem entschieden wurde, wer antwortet, begann zunächst ein Elternteil mit der Aufzählung von zwei Ritualen, nämlich Weihnachten und dem gemeinsamen Familienmahl. Dies wurde zumindest mit Kopfnicken bestätigt und erzeugte bei den Kindern nachdenkliches Stirnrunzeln, abwägendes Kopfwiegen oder sofortige Ergänzung. Nur das jüngste Kind von allen, der vierjährige Erik Hauser28, fragte seine Mutter: »Mama, was sind Rituale?« Diese antwortete ihm kurz und ihre Antwort entsprach dem bis dahin nicht geäußerten, aber vorhandenen und noch relativ weit gefassten und unspezifischen, gewissermaßen weichen Ritualbegriff der Forscher von regelmäßigen und bedeutungsvollen Handlungen, einschließlich sich dabei wiederholender Handlungsabfolgen. Die sich in ihrer Zurückhaltung ähnelnden Töchter Dorothea Maier und Frederike Hauser reagierten auf die Frage der Forscher zunächst mit einem kurzen Schulterzucken, beteiligten sich im Anschluss an die Eltern aber an der Aufzählung von Familienritualen, die in jeweils unterschiedlicher Reihenfolge fortgesetzt wurden mit Ostern, Geburtstagsfeiern und in drei Familien mit den sonntäglichen bzw. gelegentlichen Kirchenbesuchen zu besonderen Anlässen. Auch Jubiläen und größere Familienfeiern im Rahmen der Herkunftsfamilien sowie kleine, alltägliche Verabschiedungs- und Einschlafzeremonien wurden genannt, sowie sehr leise von den Eltern die Teilnahme an Beerdigungen und Trauerfeiern nachgeschoben, was von einigen Kindern wiederum durch Hochzeiten und Konfirmationen ergänzt wurde. Björn Zobel und die Brüder Schmidt waren hier besonders aktiv, Björn wurde zudem von seiner Zwillingsschwester Anna unterstützt. Am Ende der Aufzählung bestätigte Carolin Zobel die Aufzählung durch Vater, Mutter und ihre älteren Geschwister, indem sie ohne Aufforderung ihre Zustimmung zur Aufzählung äußerte. Die polnischen Kinder waren hier zurückhaltender, Adrian Posen wurde von seiner Mutter gefragt, ob er ihre Antwort teilen würde oder diese ergänzen wolle. Er stimmte seiner Mutter zu. Die beiden Töchter der anderen polnischen Familie wurden vom Vater gefragt, ob ihnen weitere Rituale einfielen, was diese verneinten. Die Aufzählung von Familienritualen wurde von den Eltern begonnen und von den Kindern mit unterschiedlichem Engagement bestätigt oder ergänzt. Insofern gaben die kurzen Aufzählungen eines Elternteils das begriffliche Raster vor, an dem sich die Antworten der Kinder orientierten. Bis auf Erik, 28 Die Vor- und Familiennamen sind anonymisiert. 62
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der noch keinen Begriff vom Ritual hatte, verfügten alle Kinder über eine ihren Eltern entsprechende bzw. sich an deren Muster orientierende Vorstellung davon, was Rituale sind. Weder die Eltern noch die Kinder fragten nach, was die Forscher unter Ritualen verstehen. Damit war eine der ersten Voraussetzungen für die Untersuchung von Familienritualen erfüllt, denn die Familien wissen, wann sie ein Ritual vollziehen. Ihre Aufzählung wurde zum empirischen Ausgangspunkt der Untersuchung, auch wenn während der Analyse zu prüfen war, inwiefern sich die von den Familien als Ritual definierte Handlung nach bestimmten Kriterien tatsächlich bzw. unter welchen Umständen sie sich genauer als Ritual kennzeichnen lässt. In der Aufzählung von Familienritualen unterschied keine Familie zwischen Alltags- und Festritualen, zwischen Ritualen der eigenen Kernfamilie und der Herkunftsfamilien bzw. grenzte Rituale von Ritualisierungen, Traditionen, Zeremonien und Gewohnheiten ab. Darüber hinaus wurden von allen ausschließlich kollektive Handlungen aufgezählt, lediglich Mutter Maier fragte nach, ob auch individuelle Rituale zählten, was mit der Antwort beschieden wurde, dass die Forscher an gemeinsamen Handlungen interessiert sind. Das Ziel der Untersuchung ist, Familienrituale als pädagogische Praxen zu analysieren und damit die Frage zu stellen, was die Familien in ihren Ritualen tun und inwiefern sie sich dabei selbst erziehen, sowohl als Familie als auch gegenseitig als Familienmitglieder. Die Analyse zielt auf das Verständnis der rituellen Handlungsvollzüge und die Beschreibung ihrer Pädagogik aus Sicht der beobachtenden Forscher, nicht auf das Verständnis bzw. das Wissen der Familien von ihren Ritualen oder die Erforschung der individuellen Perspektiven der Familienmitglieder auf die Rituale ihrer Familie. Die Frage war also nicht, was die Familien glauben, von ihren Ritualen zu wissen, sondern wie diese von den Forschern beobachtet und verstanden werden können. Um eine Vergleichbarkeit der rituellen Handlungsvollzüge zu gewährleisten, erschien eine Auswahl der beiden von allen Familien gleichermaßen und zuerst genannten Rituale für die Datenerhebung sinnvoll, also von Tischritual und Weihnachtsfest. Für die Familien war bei der Kontaktaufnahme, in der eine solche Entscheidung zwar als wahrscheinlich erschien, jedoch nicht mit Gewissheit vorauszusagen war, die Auswahl der zu untersuchenden Rituale selbst nicht relevant, sondern alle Familien stellten im Anschluss an ihre Aufzählung, die von den Forschern wiederholt und deren Richtigkeit von den Familien bestätigt wurde, von selbst die Frage nach den Erhebungsverfahren. Diese Frage stellten zuerst Vater Hauser, Mutter Schmidt und die polnischen Mütter sowie Björn Zobel und Dorothea Maier. Die Kinder fragten neugierig und erstaunt, die Eltern sachlich und interessiert. Die Forscher unterbreiteten ihre Vorstellungen den Familien als Vorschläge und Möglichkeiten, über deren Realisierung die Familien entscheiden würden, betonten aber die Notwendigkeit der Vergleichbarkeit, ohne dies über die Rituale hinausgehend explizit 63
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auf die Erhebungsverfahren zu beziehen. Das Argument der Vergleichbarkeit leuchtete allen Familien sofort ein und wurde mit positiven Reaktionen beantwortet. Die Erhebung von Gruppengesprächen und Einzelinterviews führte zu keinen Nachfragen, auf die Bitte um Gesprächsaufzeichnungen fragten die Mütter nach deren technischer Realisierung, der angestrebten Häufigkeit der Aufzeichnungen und was sie dabei zu beachten hätten. Die teilnehmenden Beobachtungen führten zu Nachfragen der Eltern und hauptsächlich witzigen und ausschmückenden Kommentaren der Kinder. Die Mütter fragten nach, wie sie sich eine Beobachtung vorzustellen hätten, und wurden von sich aus sehr schnell konkret hinsichtlich der Familienmahlzeit. Alle Mütter reagierten gelassen auf die Möglichkeit einer Beobachtung des gemeinsamen Essens und fragten zuerst lediglich nach der zu erwartenden Häufigkeit. Die Mütter Zobel und Maier allerdings reagierten erstaunt über die Bevorzugung einer vollständig beobachtenden Perspektive durch die Forscher und fragten noch einmal nach, ob die Beobachter wirklich nicht mitessen wollten. Die Forscher waren ihrerseits erstaunt über das in diesen Fragen hörbar enthaltene Angebot, zum Essen als Gäste eingeladen zu werden, bedankten sich herzlich und lehnten dies jedoch mit den Argumenten ab, dann die gemeinsame Mahlzeit stark zu beeinflussen und den Ablauf des Tischrituals zu verändern sowie von den vielfältigen Eindrücken überflutet zu werden, und begründeten ihren Verzicht mit der Bevorzugung eines genauen und gründlichen Blicks sowie der Möglichkeit, während der Beobachtung Notizen festhalten zu können. Auch den anderen Familien wurden diese Argumente genannt und mit zustimmendem Kopfnicken von den Eltern positiv beschieden. Im Anschluss erlaubten sich die Forscher die Frage, ob die Familien einer videogestützten Beobachtung zustimmen würden. Adrian Posen reagierte interessiert und zurückhaltend positiv, Erik Hauser neugierig, Björn Zobel und die Brüder Schmidt mit spontaner Begeisterung, alle Mädchen jedoch sofort skeptisch oder abwehrend. Auch die Eltern lehnten dies entweder spontan oder nach kurzer Überlegung ab. Die Ablehnung äußerten zuerst die Mütter, gefolgt von den Vätern, ohne dass die Ablehnung begründet wurde. Damit fällten die Mütter und Töchter, unterstützt von den Vätern, die Entscheidung gegen eine videogestützte Beobachtung, ermöglichten jedoch die teilnehmenden Beobachtungen. Im Anschluss an die Kontaktaufnahme entschieden die Forscher, sich auf das Tischritual zu konzentrieren und dies mithilfe von Gesprächsaufzeichnungen, teilnehmenden Beobachtungen und Einzelinterviews mit einer einleitenden Beschreibungsfrage und einem noch zu entwerfenden und für alle Familienmitglieder und alle Familien gleichen Leitfaden zu erheben. Das Weihnachtsfest sollte mithilfe von Gruppengesprächen erhoben und – insofern möglich – einmal in den Familien beobachtet werden (vgl. Audehm/Zirfas 2001). Dies wurde den Familien telefonisch mitgeteilt und erste Termine für 64
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das Vorbeibringen und die Erklärung der Aufzeichnungsgeräte vereinbart. Die Datenerhebung begann nacheinander in den Familien Zobel, Schmidt, Maier und Posen mit den Gesprächsaufzeichnungen, auf die im Abstand von ca. einem halben Jahr die teilnehmenden Beobachtungen folgen sollten. Anschließend sollte in den anderen beiden Familien die Datenerhebung beginnen. Doch es kam anders. Familie Schmidt besteht aus der geschiedenen und im Alltag alleinerziehenden Mutter und den beiden zu Beginn der Untersuchung neun und zehn Jahre alten Brüdern. Als der Familie das für die Gesprächsaufzeichnungen notwendige technische Gerät gebracht wurde, war der geschiedene Vater nicht nur zufällig anwesend und beschwerte sich bei den Forschern darüber, zur Kontaktaufnahme nicht eingeladen und über die geplante Untersuchung nicht informiert gewesen zu sein. Er verweigerte seine Zustimmung zu den teilnehmenden Beobachtungen und verlangte, bei den Einzelinterviews seiner Söhne anwesend zu sein. Der Vater argumentierte, als müsse er seine Söhne vor einer Beobachtung und Bewertung durch Pädagogen schützen, und war von der Offenheit des Forschungsinteresses nicht zu überzeugen. Seine Skepsis und sein Misstrauen richtete sich dabei weniger gegen ein wissenschaftliches Interesse an seinen Söhnen, sondern schien vielmehr auf den pädagogischen Berufsstand allgemein bezogen zu sein. Die Mutter übt freiberuflich eine pädagogische Tätigkeit aus. Darüber hinaus war aufgrund der väterlichen Äußerungen zu vermuten, dass der Vater vor Gericht einen erneuten Sorgerechtsstreit aufrollen will und die nichterfolgte Information durch die Forscher und die Nichteinladung durch die Mutter instrumentalisieren würde. Diese Vermutung wurde im Anschluss an die Auseinandersetzung und in Abwesenheit des Vaters von der Mutter bestätigt, die nun ihrerseits die Beobachtung unter allen Umständen durchführen wollte. Deswegen wurden Aufzeichnungsgerät und Tischmikrofon zunächst nicht eingepackt, und die Mutter nahm mit ihren beiden Söhnen zwei Tischgespräche auf. Doch der schwelende Konflikt zwischen Vater und Mutter war inzwischen offen ausgebrochen, die Söhne waren durch den Vater eingeschüchtert und dessen Bedingungen nicht akzeptabel. Hier war eine Zuspitzung der familiären Situation durch das Eindringen von Beobachtern entstanden und eine neutrale Position der Forscher nicht mehr gewährleistet, sie waren vielmehr zwischen die Fronten geraten. Deshalb entschieden sich die Forscher, die Untersuchung abzubrechen. In der Folge war Mutter Maier im Rahmen der Untersuchung die einzige Alleinerziehende. Darüber hinaus wurde ein Vergleich zwischen den polnischen Familien unmöglich, weil einer der Väter arbeitslos wurde und dieser Zustand so lange andauerte, dass die Mutter ein halbes Jahr nach der Kontaktaufnahme am Telefon von einer zunehmend angespannten Situation sprach, die das familiäre Zusammenleben erschwere. Die Forscher äußerten Verständnis für die mit 65
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der Arbeitslosigkeit des Vaters begründete Zurücknahme der Zustimmung zur Untersuchung und wünschten ein baldiges Ende der Arbeitslosigkeit und eine Erleichterung der familiären Situation. Die Familie spricht üblicherweise zu Hause deutsch, nur die Eltern sprechen manchmal polnisch miteinander, wie sie selbst den Forschern erzählten bevorzugt bei Themen und Diskussionen, die ihre Töchter nicht genau verstehen sollen. Familie Posen spricht zu Hause polnisch miteinander, was den begrenzten Deutschkenntnissen des Vaters geschuldet ist. Mutter und Sohn sprechen untereinander häufig auch zu Hause ein nahezu akzentfreies Deutsch, insbesondere Gespräche über die Schule werden außer im Beisein des Vaters in deutscher Sprache geführt. Die Forscher wiederum beherrschen die polnische Sprache nicht, aber die Familie, vor allem die Mutter, wollte sich dennoch an der Untersuchung beteiligen und bot an, am Tisch deutsch zu reden. Die Forscher willigten ein, weil sie zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgingen, dass ein Vergleich mit der anderen polnischen Familie möglich wäre, und sie sich aus den teilnehmenden Beobachtungen und aus den Tischgesprächen interessante Rückschlüsse auf den Einfluss einer nichtdeutschen Herkunftskultur und religiöser Prägungen auf das Tischritual sowie die Bedeutung des Migrationshintergrundes insbesondere im Themenbereich Schule versprachen. Die Datenerhebung wurde deshalb in Familie Posen vollständig durchgeführt und der rituelle Ort der Familienmahlzeit, insbesondere bezogen auf dessen religiöse Dimensionen, beschrieben sowie ausgewählte Gesprächspassagen zwischen Mutter und Sohn interpretiert (vgl. Audehm/Zirfas 2001; Wulf/Zirfas 2001). Eine sich im Untersuchungsverlauf ergebende Fokussierung der Analyse des familiären pädagogischen Stils in seinen Wechselwirkungen mit den Anerkennungsbeziehungen und Autoritätsstrukturen der jeweiligen Familien war hier jedoch nicht möglich, denn die Schweigsamkeit des Vaters bei Tisch war durch die Nutzung der deutschen Sprache verursacht. Demzufolge waren Anerkennungsbeziehungen bei Tisch oder gar Autoritätsstrukturen der Familie nur begrenzt analysierbar bzw. hätten bezogen auf den Vater lediglich unterstellt werden können. Deshalb schied Familie Posen auf dieser letzten Analyseebene aus der Untersuchung aus. Von ursprünglich sieben Familien, zu denen Kontakt aufgenommen wurde, blieben damit im Zuge der empirischen und theoretischen Fokussierung des Analysegegenstandes drei deutsche Familien übrig. Die Eltern der Familien Zobel und Hauser sind verheiratet, Mutter Maier ist geschieden und besitzt das alleinige Sorgerecht für ihre Tochter. Sie hat im Zeitraum der Untersuchung von 1999 bis 2003 keinen festen Lebenspartner und lebt allein mit ihrer Tochter. Familie Zobel besteht aus Vater, Mutter und den beiden Zwillingen Anna und Björn sowie ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Carolin. Familie Hauser setzt sich aus Vater, Mutter, der älteren Tochter Frederike und dem fast neun Jahre jüngeren Erik zusammen. Zu Be66
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ginn der Untersuchung waren Anna, Björn und Dorothea zwölf, Frederike dreizehn Jahre alt und besuchten dieselbe reformpädagogische Grundschule. Anna hat im Rahmen ihrer Jahrgangsstufe eine Klasse übersprungen und ist gemeinsam mit Dorothea in derselben Klasse. Beide Mädchen sind eng befreundet, die Familien haben jedoch untereinander keinen weiteren Kontakt. Frederike wechselt noch 1999 in eine weiterführende Schule, Anna und Dorothea ein Jahr später, schließlich gefolgt von Björn. Carolin ist ebenfalls Schülerin an der Grundschule ihrer Geschwister, Erik besucht bis 2002 einen Kindergarten und wird anschließend ebenfalls an dieser Grundschule eingeschult. Die Eltern sind zu Beginn der Untersuchung Anfang vierzig, bis auf Mutter Hauser, die mit Mitte vierzig die älteste ist, womit in Familie Hauser der Ehemann der um einige Jahre jüngere Partner ist, während in Familie Zobel der Ehemann um wenige Jahre älter als seine Partnerin ist. Mutter Maier lebt mit ihrer Tochter in der Stadt, in der sie schon als Kind aufgewachsen ist. Vater und Mutter Zobel stammen gemeinsam aus einer nördlicheren Region, Vater und Mutter Hauser gemeinsam aus einer südlicheren Region. Beide Paare haben in der Stadt, in der sie heute leben, zueinander gefunden. Alle Väter und Mütter sind berufstätig, Mutter Zobel ist in ihrem Beruf allerdings nur zweimal in der Woche vormittags tätig. Die Eltern üben einen im weiteren Sinne pädagogischen oder sozialen Beruf aus, z.B. eine medizinischpädagogische, sozial-pädagogische oder Lehrtätigkeit bzw. eine leitende Tätigkeit in der Sozialarbeit. Die Väter Zobel und Hauser sowie Mutter Maier erlangten ihre berufliche Qualifikation über den zweiten Bildungsweg, alle Eltern verfügen über einen Fachhochschul- bzw. Hochschulabschluss. Mutter Maier trägt als Alleinerziehende hauptsächlich zum Haushaltseinkommen der Familie bei, wobei sie durch die regelmäßigen Unterhaltszahlungen des geschiedenen Vaters an Dorothea unterstützt wird und vom mietfreien Nutzungsrecht der während der Ehe erworbenen Eigentumswohnung profitiert, deren Kosten ebenfalls der geschiedene Vater trägt. Mutter und Vater Hauser erzielen ein etwa gleich hohes Einkommen, Familie Zobel lebt nahezu ausschließlich vom Einkommen des Vaters. Die Familien verfügen über ein mittleres bis gehobenes Einkommen, wobei Familie Zobel über das höchste Haushaltseinkommen verfügt, das jedoch durch die Haushaltsgröße relativiert wird. Die Familien wohnen relativ großzügig, verfügen über ähnliche Wohnverhältnisse und leben im näheren bzw. relativ nahen Umfeld der Grundschule in einem großstädtischen Innenstadtbezirk, der sowohl durch Medien, Politik und Wissenschaft als auch in der Wahrnehmung der Eltern als sozialer Problembezirk gekennzeichnet ist. Berufstätigkeit, Bildungs- und Ausbildungsniveau der Eltern sowie das Haushaltseinkommen sind im Wohnumfeld der Familien ungewöhnlich hoch und die Familien gehören einer mittleren Sozialschicht an, die in der Außenwahrnehmung als untypisch für ihren 67
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Wohnbezirk gilt. Sowohl was die Bildungstraditionen ihrer Familien als auch die soziale Schichtzugehörigkeit betrifft, lässt sich Familie Zobel jedoch im Rahmen ihrer Herkunftsfamilien als typisch bezeichnen. Mutter Maier hat es nach ihrer Scheidung und mit ihrer zweiten Ausbildung geschafft, sich und ihrer Tochter den mit der Eheschließung verbundenen leichten sozialen Aufstieg als Status zu erhalten und auszubauen. Familie Hauser kann gemessen an den Herkunftsfamilien ebenfalls einen leichten sozialen Aufstieg verzeichnen. Die ausgewählten Familien folgen der in Mitteleuropa gebräuchlichen und vorherrschenden Sitte am Tisch zu speisen und versammeln sich regelmäßig zu mindestens einer gemeinsamen Mahlzeit am Tag. Während Familie Zobel täglich gemeinsam frühstückt, treffen Mutter und Tochter Maier sich entweder mittags oder abends bei Tisch, mitunter nehmen sie beide Mahlzeiten gemeinsam ein. Familie Hauser versucht so oft wie möglich, alle Familienmitglieder zum Abendessen am Tisch zu versammeln. Auch an den Wochenenden werden in allen Familien zumindest dieselben Mahlzeiten wie in der Woche gemeinsam eingenommen und Abstriche nur ungern in Kauf genommen, zumeist wird die für Wochentage typische gemeinsame Mahlzeit durch weitere gemeinsame Mahlzeiten ergänzt.29
2 . 2 . E r h e b u n g u n d Au s w e r t u n g : G e s p r ä c h s a n a l ys e und Beobachtung im Rahmen einer Fallstudie Die empirische Erforschung des Tischrituals ist nicht von den dargelegten theoretischen Bestimmungen ihres Gegenstandes ausgegangen, sie stellen also keine vorab feststehende Metatheorie dar, deren Hypothesen zu prüfen waren. Vielmehr ist der Gang ins Feld von der simplen Frage ausgegangen: »What to hell is going on here?« Wer eine pädagogische Ethnografie des Tischrituals erarbeiten will, muss versuchen, das Untersuchungsfeld möglichst wenig zu beeinflussen und zu verändern. Außerdem sind feld- und situationsabhängig verschiedene Verfahren der qualitativen Sozialforschung triangulierend für die Datenerhebung einzusetzen. In den im Zuge des theoretischen Samplings ausgewählten drei Familien gehören die Eltern derselben Generation sowie der gleichen Bildungs- und Sozialschicht an. In diesen drei Familien wurden 29 Damit entsprechen die Familien Zobel und Hauser wochentags dem statistischen Durchschnitt, Familie Maier übertrifft ihn, da in deutschen Haushalten zwei Drittel der Familien lediglich einmal (oder gar nicht) gemeinsam essen und nur fünf Prozent der Familien dreimal täglich. Doch nur ein Fünftel der Familien teilen gar keine gemeinsame Mahlzeit. Dagegen versammeln sich vier Fünftel der Familien am Wochenende zu drei Mahlzeiten fast vollständig am Tisch. Dies ist in den untersuchten Familien nur selten der Fall. Über 80 Prozent der Kinder verbinden mit der gemeinsamen Mahlzeit u.a. Gemütlichkeit und die Entlastung von Sorgen (vgl. Furtmayr-Schuh 1996: 41ff.; Barlösius 1999: 183ff.). 68
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zunächst jeweils fünf bis sechs Gesprächsaufzeichnungen und fünf bis sieben teilnehmende Beobachtungen durchgeführt, die im Laufe der Zeit durch Gruppengespräche, Leitfadeninterviews und weitere Beobachtungen anderer Familienrituale ergänzt wurden. Die Fallbeschreibungen begrenzen sich auf die Gesprächsanalysen und teilnehmenden Beobachtungen des Tischrituals, die ergänzenden Informationen aus dem Feld wurden als Hintergrundinformationen für eine evaluative Selbstbeobachtung genutzt, um die Interpretationen des Tischrituals kritisch zu überprüfen. Die soziologische Ethnografin »muss sich typischerweise der Fremdheit des Bekannten und Vertrauten in der ›eigenen‹ Gesellschaft durch eine artifizielle Einstellungsänderung erst wieder bewusst werden« (Hitzler 2003: 48). Durch eine solche »Befremdung der eigenen Kultur« (Hirschauer/Amann 1997) versetzt sich die Ethnografin in die Lage, eine kritische Reflexion des eigenen Vorwissens von Feld und Fall zu leisten. Dabei ist es nicht leicht, die in sich widersprüchliche Haltung zwischen einerseits einem Eintauchen ins Feld, d.h. einer nachvollziehenden Interpretation der Fälle aus den Gegebenheiten des Feldes heraus, und andererseits einer notwendigen Distanznahme zum Feld im Laufe einer Untersuchung aufrecht zu erhalten. Die Haltung des Dazwischen muss reflexiv einholbar werden, d.h. in eine bewusste Wahrnehmung der Verschränkungen von empirischen Positionierungen, methodischen Entscheidungen und theoretischen Reflexionen münden, mit denen sich die besondere ethnografische Position von verstehendem Nachvollzug einerseits und reflexiver Konfrontation andererseits auch gegenüber einem vertrauten Feld in einer nichtfremden Kultur tatsächlich durchhalten lässt und nicht allein situationsabhängigen Schwankungen unterliegt. Insofern erfordert die Befremdung des mehr oder weniger Vertrauten eine selbstreflexive Distanz zu den Selbstverständlichkeiten des eigenen Verstehens und Begreifens, d.h. sowohl des praktischen als auch des theoretischen Wissens. Deshalb ist im Laufe der Untersuchung auf den verschiedenen Analyseebenen eine kritische Reflexion der theoretischen Grundlagen erfolgt, die ausgehend von den jeweiligen Interpretationsergebnissen das weitere methodische Vorgehen bestimmt haben. Insofern basiert die kritische Ausarbeitung des theoretischen Hintergrundes auf den Ergebnissen der Interpretationen, von dem ausgehend wiederum eine schrittweise Fokussierung der Fragestellung erfolgte. Diese theoretische Haltung wurde genutzt, um die empirische Haltung der Verfremdung des eigenen, praktischen Wissens zu unterstützen, ohne hiermit behaupten zu wollen, dass sich die Spannung zwischen theoretischer Reflexion und empirischer Analyse auflösen oder hintergehen lässt. Eine der am schwierigsten zu beantwortenden Fragen im Rahmen qualitativer Forschung lautet: »Was ist ein ›Fall‹?« (Fatke 1997: 61) Obwohl innerhalb der Erziehungswissenschaften Fälle hauptsächlich auf einzelne Personen, ihre Handlungen oder ihre Lebensgeschichte sowie auf soziale Gruppen be69
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zogen sind (vgl. Hildenbrandt 1999), wird hier das Tischritual als empirischer Fall verstanden. Das Tischritual ist ein besonderes Ereignis, das sich vom Gewohnten abhebt und aus dem Durchschnittlichen heraustritt und damit vom normalen Alltag und seinem Ablauf herausgehoben ist. Die Auswahl der Fälle innerhalb von drei Familien kann nicht vornehmlich an einer möglichst breiten Erfassung von Tischritualen auf dem Feld der Familie orientiert sein, sondern orientiert sich daran, in der Konzentration auf einzelne Beispiele aus einem begrenzten Ausschnitt des Feldes tiefer in die Struktur des Tischrituals vorzudringen (vgl. Flick 1997: 89). Im Rahmen der ausgewählten Familien ließe sich höchstens davon sprechen, in deutschen Mittelschichtfamilien unterschiedlicher Struktur und mit in sozialen und pädagogischen Berufen tätigen Eltern das Tischritual möglichst breit zu erfassen. Allerdings würde dies bedeuten, den Eltern und ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit, insbesondere ihren Berufen, einen vorrangigen Einfluss auf die rituellen Handlungsvollzüge zu unterstellen, und hierin die Struktur ritueller Handlungsvollzüge und den pädagogischen Stil bei Tisch begründet zu sehen. Dies ist allerdings nicht der Fall. Die Besonderheit der ausgewählten Familien hat sich aus dem gewählten Zugang zwar nicht rein zufällig ergeben, sie war aber keine die Untersuchung leitende Absicht. Sie muss als Kontext der Untersuchung der einzelnen Fälle jedoch in Rechnung gestellt werden, d.h. die Relevanz dieser Kontextbedingungen ist aus der Rekonstruktion des Tischrituals heraus zu prüfen. Eine möglichst genaue Erfassung der einzelnen Tischrituale in diesen besonderen Familien ist das Ziel der Erhebung und Auswertung. Eine Fallstudie erschöpft sich nicht in der Beschreibung einzelner Fälle und der Darstellung ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sondern zielt auf die Korrektur, Ergänzung oder Erweiterung bestehender Wissensbestände, also auf Theoriebildung (vgl. Fatke 1997: 62; Flick 1999: 167). Diese ethnografische Fallstudie hat über die deskriptive und interpretative Erkundung der Pädagogik im familiären Tischritual eine Ergänzung bestehender Ritualtheorien zum Ziel. Hierbei geht es um die Generierung theoretischer Aussagen aus dem schrittweisen und allmählich aufsteigenden Vergleich einzelner Sequenzen und Passagen, aus der nachfolgenden Analyse und Zusammenfassung von typischen und abweichenden Handlungsmustern im Rahmen einer Familie und ihrer Funktion und Bedeutung sowie aus der Ableitung der invarianten Eigenschaften der Tischrituale aus dem anschließenden Vergleich der so konstruierten Fälle zwischen den Familien. Hierbei wird nach den jeweiligen Interpretationen schrittweise relevantes, d.h. ein besseres Fallverstehen ermöglichendes (vgl. Müller 1994: 16), theoretisches Wissen einbezogen. Die empirische Analyse ist als theoretisches Sampling auf drei Ebenen erfolgt, wobei zunächst einzelne Gesprächspassagen interpretiert und sowohl innerhalb einer Familie als auch zwischen den Familien kontrastiert wurden. Das Interpretationsverfahren der ausgewählten Gesprächspassagen ist dabei 70
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an der dokumentarischen Methode orientiert. Auch in der anschließend erfolgten Interpretation der Beobachtungsprotokolle wurden die Einzelbeobachtungen sowohl innerhalb der Familien als auch zwischen den Familien kontrastiert. Auf dieser Ebene fiel die Entscheidung, die klassifizierten, aus dem rituellen Zusammenhang gelösten Interpretationen einzelner Gesprächspassagen auf den jeweiligen Familienkontext zurückzubeziehen und mit den Ergebnissen der Beobachtung zu triangulieren. Die ethnografische Fallstudie des Tischrituals führte damit zu familienspezifischen Beschreibungen des pädagogischen Stils, um aus deren Vergleich Schlussfolgerungen für die Bestimmung des Tischrituals als Mittel der Differenzbearbeitung abzuleiten.
Interpretation nach der dokumentarischen Methode Die Anwendung der insbesondere mit dem Verfahren der Gruppendiskussion arbeitenden dokumentarischen Methode, wie sie von Ralf Bohnsack weiterentwickelt wurde, auf die Interpretation ausgewählter Passagen der Tischgespräche, die von den Familien selbst aufgezeichnet wurden, rekurriert insbesondere auf das mehrstufige Interpretationsverfahren, auf die Notwendigkeit der Kontrastierung des Materials und die Bildung empirischer Vergleichshorizonte sowie den Begriff der »Fokussierungsmetapher«. Die dokumentarische Methode widmet sich vor allem der Konstitution jugendkultureller Handlungspraxen von Peergroups, in denen die strukturidentische Erlebnisschichtung der Jugendlichen emergiert und sich zu generations- und milieuspezifischen Stilen und Orientierungen entfaltet (Bohnsack 1997: 9). Diese Milieus werden im Anschluss an Karl Mannheim als konjunktive Erfahrungsgemeinschaften verstanden und folgerichtig bezieht sich die dokumentarische Methode hauptsächlich auf die von Mannheim im Rahmen seiner Wissenssoziologie erkenntnistheoretisch fundierte dokumentarische Interpretation. Die Anschlussmöglichkeiten und damit die Einbeziehung der dokumentarischen Interpretation in eine pädagogische Ethnografie des Tischrituals ergeben sich aus der erkenntnistheoretischen Bestimmung der »Seinsverbundenheit« menschlichen Wissens, das vor allem an kollektive Erfahrungen geknüpft ist und dem gemeinsamen Handeln Orientierung verleiht (vgl. Mannheim 1980: 237ff.). Eine dokumentarische Interpretation zielt – ausgehend vom immanenten Sinngehalt – auf die Rekonstruktion des dokumentarischen Sinngehalts der Handlungspraxis, d.h. auf ein Verstehen, das im Unterschied zum Alltagsverständnis den Prozess der Konstruktionsgenese nachvollzieht. Um dies leisten zu können, müssen die Forscher in diesen Erlebnis- und Handlungszusammenhang eindringen, sei es als virtuelle Teilnehmer – wie bspw. über Gesprächsaufzeichnungen – oder als reale – wie bei der teilnehmenden Beobachtung. Interaktion und Kommunikation im Alltag werden auf ihre Standortgebundenheit hin durch die »prozess- oder sequenzanalytische 71
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Rekonstruktion von Handlungspraktiken« interpretiert (Bohnsack 1995: 7). Die formulierende Interpretation als erste Analyseebene vollzieht dabei den immanenten Sinngehalt nach, die reflektierende Interpretation rekonstruiert, welche Haltungen und Orientierungen sich in der Handlungspraxis dokumentieren und aus welchem Erlebniszusammenhang sie entsprungen sind. Letzteres wird in dieser Untersuchung eingeklammert, weil die pädagogische Ethnografie des Tischrituals den Erlebniszusammenhang selbst zum Ausgangspunkt der Rekonstruktion des Sinngehalts des aufgezeichneten Sprachhandelns hat. Von Interesse ist daher nicht, wie die Ritualteilnehmer sich in ihren Tischgesprächen über ihre rituelle Handlungspraxis äußern bzw. wie sie diese verstehen und wie in ihrer Praxis ein Orientierungswissen emergiert, sondern die Untersuchung zielt auf die Erkenntnis der sozialen Strukturen des pädagogischen Erlebniszusammenhanges Tischritual, d.h. auf den Prozess seines Vollzuges, seiner Konstruktion und Strukturierung. Trotz dieses gegenstandsbezogenen Unterschiedes empfiehlt sich die Anwendung der dokumentarischen Methode für eine detaillierte Sinn- und Bedeutungsrekonstruktion des verbalen Handelns im Tischritual, weil sie aufgrund ihrer wissenssoziologischen Fundierung auf einem ähnlichen, praxislogischen Verständnis wissenschaftlichen Interpretierens wie dem der Ethnographin basiert. Dabei wird die Ebene der reflektierenden Interpretation ergänzt durch eine zusammenfassende Interpretation der Strukturmerkmale des Sinnzusammenhangs der verbalen Interaktionen, die im dokumentarischen Sinngehalt der interpretierten Passagen sichtbar werden. Auf diesem Weg will die Ethnografin eine soziogenetische Reflexion leisten, wobei Soziogenese ausdrücklich nicht als mechanische, eindimensionale bzw. kausale Determinierung subjektiver Erfahrung durch objektive Strukturen verstanden wird.30 Die Analyse von Familiengesprächen ist traditionell innerhalb zweier Methodologien angesiedelt, der Ethnomethodologie und der objektiven Hermeneutik. Die Ethnomethodologie, deren bevorzugtes Verfahren die Konversa-
30 So wird das Habituskonzept Pierre Bourdieus auch nicht auf die zumeist als kausalgenetisch wahrgenommenen empirischen Untersuchungen begrenzt (vgl. Bohnsack 1999: 175), sondern als ein soziogenetisches theoretisches Konzept behandelt, das im Sinne der qualitativen Sozialforschung für diese Untersuchung als metatheoretisches Konzept grundlegend ist. Die Lesart der Ethnografin bezieht sich auf den methodisch-analytischen Unterschied zwischen empirisch beobachtbaren, habituellen Stilen und habitualisierten Dispositionen, die sich erst über theoretische Reflexionen erschließen. Das Habituskonzept Bourdieus verdeutlicht die Relationen zwischen Lebensstilen (als Zusammenhang von Wahrnehmen, Denken und Handeln), Dispositionen (als inkorporierte Systeme von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata) und objektiven Strukturen sozialer Felder und gewinnt im Zuge der Erarbeitung einer reflexiven Anthropologie zunehmend den Charakter eines erkenntnistheoretischen Konzepts (vgl. Bourdieu/Waquant 1996; Bourdieu 2001). 72
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tionsanalyse ist, geht davon aus, dass soziale Wirklichkeiten und Ordnungen im Handlungsablauf, an Ort und Stelle und aus der Situation heraus interaktiv erzeugt werden. Diese Interaktionen sind geordnet, wobei kein einzelner Punkt eines Interaktionsverlaufs als zufällig anzusehen ist, und sie sind gerahmt, was als strukturell organisiert und durch ihren Kontext geformt bezeichnet wird, den sie zugleich fortschreiben (vgl. Heritage 1985: 1). Ethnomethodologische Studien lassen die von den sozialen Akteuren eingesetzten Prinzipien und Mechanismen der Erzeugung sozialer Wirklichkeiten sichtbar und erklärbar werden (vgl. Garfinkel 1967: VIII) und sind hauptsächlich an den Routinen des Alltagshandelns interessiert. Die Konversationsanalyse zielt daher eher auf eine Verfahrens- als auf eine Sinnrekonstruktion, wobei die in einem konkreten Kontext erklärten Prozeduren allmählich im Sinne fallunabhängiger Regularien verallgemeinert werden können. Sie ist ein strikt sequenzanalytisches Verfahren, womit außerhalb identifizierter Sequenzen erfolgende frühere oder spätere Äußerungen nicht zur Erklärung einer Gesprächsordnung herangezogen werden (vgl. Flick 1995: 220). Die Ethnomethodologie bindet die Konstitution sozialer Wirklichkeit an die unmittelbare Handlungspraxis der sozialen Akteure. Dies geschieht so ausschließlich, dass das Handeln der Akteure nicht als von ihrer, sie außerhalb des konkreten (institutionellen) Kontextes umgebenden, sozialen Wirklichkeit konstituiertes und strukturiertes Handeln erscheint (vgl. ebd.: 33ff.). Deshalb verlangt die Interpretationshaltung der methodologischen Indifferenz nicht nur eine Suspendierung der natürlichen Einstellung im Sinne einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Regeln des Verstehens und der Interpretation, sondern impliziert darüber hinaus ein Absehen von der Standortgebundenheit bzw. »erlebnismäßigen Konstituierung« menschlichen Denkens und Handelns (Bohnsack 1999: 98) sowie von strukturellen Kontextbedingungen sozialer Praxen. Dies führt zur Unterstellung »natürlicher« Gesprächsräume, d.h. je nach dem Grad ihrer institutionellen Einbettung von besonderen sozialen Räumen machtfreier Kommunikation auszugehen. Die bislang vorliegenden, aktuellen Studien über Tischgespräche in Familien verdanken sich dem Einsatz der Konversationsanalyse, die hier nicht als Interpretationsverfahren gewählt wurde. Diese Entscheidung basiert zum einen auf einer theoretischen Skepsis gegenüber einem ethnomethodologischen Verständnis von Konstitution und Kontext, zum anderen fiel sie aufgrund der Fokussierung der symbolischen Handlungspraxis und der rituellen Rahmung innerhalb dieser Untersuchung. Während sich die grundlegende methodische Orientierung der Ethnomethodologie als interaktionistisch beschreiben lässt, weist die objektive Hermeneutik ein strukturalistisches Verständnis sozialen Verhaltens auf und liegt damit am entgegengesetzten Pol. Auch die objektive Hermeneutik arbeitet streng sequenzanalytisch, zielt jedoch auf die Erkenntnis latenter Sinnstruktu73
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ren. Bereits mit diesem Begriff wird die methodologische Verbindung texthermeneutischer und psychoanalytischer Verfahren deutlich, die allerdings dazu verführt, Störungen und Abweichungen im Kommunikationsverlauf als Entwicklungs- oder durch das Familiensystem bedingte Sozialisationsdefizite zu pathologisieren (vgl. Bohnsack 1999: 99). Die objektive Hermeneutik versteht die »Welt als Text« (Garz 1994) und geht dabei von einem grundsätzlichen Unterschied von subjektiver und objektiver Bedeutung aus, wobei die Ebene der latenten Sinnstrukturen, die sich in einem mehrstufigen Interpretationsprozess im Rahmen eines Falles erschließen, die objektive Bedeutung der in den Dokumenten aufgezeichneten Handlungen erkennt. Deshalb nennt sich die objektive Hermeneutik auch strukturale Hermeneutik, wobei die analysierten Dokumente keineswegs nur sprachliche Interaktionen oder Texte zum Gegenstand haben, sondern ebenso nonverbale Interaktionen und Bildaufzeichnungen einschließen können.31 Der Strukturbegriff der objektiven Hermeneutik lässt soziale Praxis als mechanisch von Strukturen determiniert erscheinen und kann das Verhältnis von handelnden Subjekten und objektiven Strukturen nur unzureichend erfassen, die objektiven Strukturen scheinen subjektives Handeln autonom zu steuern, weshalb es als gesetzmäßiges Handeln erscheint (vgl. Reichertz 1994: 139; 1997: 35).32 Hier ließe sich von einer »Metaphysik der Strukturen« sprechen (Lüders/Reichertz 1986: 95). Darüber hinaus trägt die objektive Herme-
31 Die Welt als Text aufzufassen, bedeutet weniger ein – obwohl traditionell vorhandenes – vorwiegendes Interesse an Sprachphänomenen oder Textdokumenten, sondern ein Verständnis von sozialer Welt, in dem soziale Wirklichkeit nach denselben Strukturmerkmalen wie Schriftsprache konstituiert ist. Die mit dem Begriff der Textualität verbundene poststrukturale Differenz der Zeichen und die performativen Brüche, die zu ständigem Gleiten der Zeichen und permanenten Bedeutungsverschiebungen führen, womit Bedeutung im Sinne dekonstruktiver Verfahren also nicht auf »letzte Instanzen« – seien sie ökonomistisch objektiviert oder psychologistisch subjektiviert – zurückzuführen ist, finden sich in den objektiven Sinnstrukturen der strukturalen Hermeneutik, in denen latent niedergelegt ist, was sich real ereignet und symbolisch manifestiert, bisher allerdings nicht wieder. Die Welt erscheint vielmehr als »geordneter Verweisungszusammenhang« (Garz/Kraimer 1994: 7). 32 Anzumerken ist, dass Determination nicht als vollständige Unterwerfung sozialer Akteure unter objektive Strukturen zu verstehen ist. Individuelle Autonomie ist der objektiven Hermeneutik keineswegs fremd, sie erscheint nur ebenfalls als »strukturelles Potential« (Oevermann 1986: 19). Soziale Praxis wird damit letztlich auf in sich hierarchisch geschichtete Strukturen zurückgeworfen (vgl. Reichertz 1997: 36) und die Problematiken der Überdetermination, der Rückkopplung, der Differenz von Struktur und Ereignis sowie verdichteter und hegemonialer Artikulation(en), d.h. die Zusammenhänge zwischen strukturell (rück)gekoppelten Determinanten und diskursiven Praktiken in solchen Konstruktionen wie Rasse, Klasse, Geschlecht oder Ethnie, bleiben ausklammert (vgl. Hall 2000). 74
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neutik im Verlauf der Interpretation möglichst viele verschiedene, zunächst vom unmittelbaren Handlungskontext unabhängige Reaktionsmuster an die einzelnen Sequenzen heran, die dann sukzessive durch Ausschluss der irrelevanten reduziert werden. Im Analyseverlauf gelingt es dabei, die Verschränkung der Interaktionen mit ihren Kontexten zu analysieren, d.h. über die Bildung und Überprüfung von Fallstrukturhypothesen im Rahmen des Falles selbst allmählich immer tiefer in dessen Struktur einzudringen (vgl. Reichertz 1997: 40). Anschließend können, falls bei diesem sehr aufwendigen Verfahren noch genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, die latenten Sinnstrukturen im Vergleich mit anderen Fällen verallgemeinert werden (vgl. Flick 1995: 227ff.). Die Validität der von außen herangetragenen möglichen Reaktionsmuster, von denen die Sinnrekonstruktion der tatsächlich erfolgten Interaktionen abhängt, ergibt sich dabei aus ihrer Angemessenheit, womit sie nicht nur von einem quantifizierbaren Bereich des »Normalen« ausgehen, sondern nur schwer von unterstellten qualitativen Normalitätsfolien zu unterscheiden sind (vgl. Reichertz 1994: 131ff.). Zudem ergibt sich ihre Zahl und Breite nicht aus einem kontrastierenden Vergleich mit anderen Fällen sondern aus den soziologischen Relevanzsystemen und dem Kontextwissen der Forscher, womit die methodische Überprüfung einer möglichen Verschränkung von Normalitätsannahmen der Forscher/innen einerseits und der Interpretation des tatsächlichen Interaktionsverläufe der Erforschten andererseits erschwert wird. Die Analyse latenter Sinnstrukturen verdankt sich dann einem zwar streng sequenzanalytischen, mehrstufigen und in seinem Aufbau konsequent reflektierten Interpretationsverfahren, dieses kann jedoch einer methodisch nicht kontrollierten, weitgehend zirkulären Rekonstruktionslogik folgen. Deshalb werden in der Erkenntnis der latenten Sinnstrukturen hauptsächlich jene institutionellen Kontextbedingungen nachvollziehbar und detailliert konkretisiert, die anhand des manifestierten Interaktionsverlaufs und in Abhängigkeit vom vorhandenen Kontextwissen zuvor allgemein vermutet werden konnten. Insofern besteht hier eine theoretische Skepsis der Ethnografin bezogen auf den zugrundeliegenden Struktur- und Sozialisationsbegriff sowie eine methodische Skepsis bezogen auf den Mangel an in die Interpretation einbezogenen empirischen Kontrastierungen. Eine der ersten Fragen, der sich eine dokumentarische Interpretation von Tischgesprächen stellen muss, ist die nach den Kriterien für die Abgrenzung einzelner Passagen und ihrer Auswahl für die Interpretation. Der Prozess der kollektiven Wirklichkeitskonstruktion wird anhand ausgewählter Sequenzen dort rekonstruiert, wo dieser sowohl hinsichtlich »seiner Dramaturgie (Form) als auch hinsichtlich des metaphorischen Gehalts (Inhalt) Höhepunkte des Engagements, der Intensität und Dichte erreicht«, also in jenen Passagen, die von der dokumentarischen Methode Fokussierungsmetaphern genannt werden 75
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(Bohnsack 1999: 100f.). Fokussierungsmetaphern sind dabei keine begriffliche Metaphern, sondern als szenische Metaphern Kristallisationspunkte von Erfahrung und Sinngebung. In allen untersuchten Familien sind die Tischgespräche thematisch organisiert, d.h., sie kreisen nicht spiralförmig um wiederkehrende Thematiken, sondern einzelne Themen werden innerhalb unterscheidbarer Passagen abgehandelt. Diese Passagen unterscheiden sich nicht nur innerhalb eines Tischgesprächs hinsichtlich der Interaktionsdichte und Gesprächsintensität, sondern einzelne Themen auch in der Häufigkeit ihrer Wiederholung bei Tisch. Deshalb kann anhand solcher thematischer Fokussierungen eine Sequenzierung des Gesprächsverlaufs und eine Auswahl der zu interpretierenden Sequenzen erfolgen, wobei ihre Auswahl sich aus ihrer Häufigkeit innerhalb einer Familie ergibt. Dabei interessierten die Forscher vor allem die einmaligen und außergewöhnlichen thematischen Fokussierungen. Ihre formulierende Interpretation ist gerichtet auf ihre zeitliche und thematische Einordnung im Ablauf des Tischgesprächs, auf die Interaktionsverläufe innerhalb der Sequenz und deren Zusammenhang zur Gesprächsform, also auf ihre weitergehende Unterteilung und die Formulierung von Textsorten bzw. Genres der Inszenierung von Sprachspielen. Diese Unterteilung wird in der reflektierenden Interpretation insofern überprüft, als hier die formale Dramaturgie auf die inhaltliche Dramaturgie bezogen wird. Die Ergebnisse der reflektierenden Interpretation wurden anschließend sowohl innerhalb der Familien als auch zwischen den Familien kontrastiert. Der Vergleich innerhalb der Familien nach den Kriterien maximaler und minimaler Kontraste ließ bestimmte individuelle Muster des Gesprächsverhaltens und analoge kollektive Strategien gegenseitiger Bezugnahmen erkennen. Die jeweilige Spezifik dieser kollektiven Typiken ergab sich aus dem Vergleich einzelner Sequenzen zwischen den Familien, der einerseits nach dem Kriterium des minimalen Kontrasts bezogen auf die thematischen Fokussierungen und andererseits des maximalen Kontrasts bezogen auf ihren Sinngehalt erfolgte. Die Kontrastierungen schienen zunächst die Möglichkeit der Generierung einerseits pädagogisch-thematischer Typen, also einer Differenzierung von pädagogischen Gesprächsstilen innerhalb bestimmter Thematiken, andererseits von rituell-thematischen Typen, also der Unterscheidung konjunktiver und kommunikativer Ritualfunktionen zwischen bestimmten Thematiken, zu bieten. Allerdings war erstere Typenbildung nur innerhalb der Familien sinnvoll und ließ sich nicht auf einen Vergleich zwischen den Familien beziehen. Mit der zweiten Typenbildung wäre den Gesprächspassagen, ohne ihren Stellenwert im Tischritual bezogen auf die nonverbalen Interaktionen zu prüfen, die Funktion ritueller Sequenzen zugeordnet worden. Darüber hinaus hätte die Typenbildung zu einer kategorialen Klassifizierung geführt, die den Bedeutungszusammenhang des Tischrituals selbst zerlegt. Dagegen verwiesen die Ergebnisse der reflektierenden Interpretationen immer wieder auf den Zu76
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sammenhang von kollektiver Sinnkonstruktion, den Aufgabenteilungen bezogen auf die Familie und den Rollenverteilungen bezogen auf die sprachliche Kommunikation. Die Zusammenfassungen widmen sich diesen Relationen, womit sich die Anerkennungsbeziehungen und Autoritätsstrukturen der Familien und die Normativität der im Tischritual dargestellten symbolischen Ordnung herauskristallisieren. Deshalb erschien es sinnvoller, die Ergebnisse der Gesprächsinterpretationen – im Anschluss an die Kontrastierung der Interpretationsergebnisse der teilnehmenden Beobachtungen innerhalb und zwischen den Familien – auf diese im Rahmen einer Familie zu beziehen. Auf dieser Ebene fiel die Entscheidung für eine familienspezifische Fallbeschreibung und den anschließenden Vergleich des Bedeutungsgehalts der so rekonstruierten pädagogischen Stile zwischen den Familien. Im folgenden soll das methodische Vorgehen der dokumentarischen Interpretation anhand einer Sequenz verdeutlicht werden, die für die Kodierung des Tischrituals als Mittel der Differenzbearbeitung grundlegend war (vgl. Audehm/Zirfas 2000). Im Gegensatz zur anfänglichen Kennzeichnung der Familie als konjunktivem Erfahrungsraum war dies eine Kodierung, die sich auf allen Ebenen der Kontrastierung und des theoretischen Samplings sowie der damit einhergehenden zunehmenden Fokussierung des Forschungsinteresses, der methodischen Entscheidungen und theoretischen Hintergrundarbeit, als zunehmend gesättigt erwies.33
Familie Zobel und der Glaslöffel An einem Sonntag kommt es bei Familie Zobel im Laufe des Frühstücks zur Diskussion um den zerstörten Glaslöffel der Sauciere, die von der Familie bei besonderen Gelegenheiten benutzt wird. Im Unterschied zu Wochentagen
33 Die Schwierigkeiten dieser vorläufigen begrifflichen Fassung der familiären Gemeinschaft entsprangen sowohl aus einem gegenstandsbezogenen Unterschied zwischen pädagogischem Generationenverhältnis und dem genealogischsoziologischen Generationenbegriff Karl Mannheims, als auch aus zunehmenden methodologischen Schwierigkeiten insbesondere hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Fundierung der mannheimschen Wissenssoziologie. Diese traten auf, als mit den Interpretationen zunehmend das Habituskonzept Bourdieus ins theoretische Spiel kam. Die Unzufriedenheit erwächst aus der Bindung sozialer Interaktion an ein gegenseitiges Verstehen, das (im Unterschied zu feldspezifischen Praktiken) auf milieuspezifische Erfahrungsräume beschränkt bleibt. Andererseits wird behauptetet, das Fremdheitserfahrungen für ein gegenseitiges kommunikatives Verstehen konstitutiv sind und dies wiederum als Reparaturverfahren Störungen im konjunktiven Erfahrungsmodus beheben könne. Hier wäre aus anthropologischer Sicht eine Unterscheidung von (reflexiver) Distanzierung und Fremdheitserfahrungen angebracht, denn Fremde sind im Unterschied zu Anderen Wesen, die sich dadurch auszeichnen, dass man mit ihnen nicht kommunizieren kann. 77
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frühstückt die Familie am Wochenende im Wohnzimmer. Etwa 10 Minuten nach Beginn des Frühstücks bringt die Mutter das Problem zur Sprache.
Transkript »Glaslöffel«, Aufzeichnung vom 14.03.1999 (A = Anna, B = Björn, C = Carolin, M = Mutter, V = Vater fett = laut, unterstrichen = betont, Zahlen in Klammern = Pausen, Einrückungen = Anschlüsse nach erfolgten Unterbrechungen) Zeilen 1-9 M Wisst Ihr, was euer Vater kaputt gekriegt hat? A (unverständlich) M Viel schlimmer, äh – den Glaslöffel. A Äh? M Aus der Sauc, – aus der Glassauciere. C Aus der. Wann denn? M Na letzte Woche, nachdem wir das benutzt hatten, für die Sahnesauce. C Für die … M Ja. (kurz) Zeilen 10-19 C Diesen Löffel? M Mh. (lang) B Ja, das is doch nicht so schlimm. C Doch! – Der war (1) B Noja. C Der war schöön. B Ja, der war schön, aber … A Der war so tief. C Och. A Mensch Papi. Zeilen 20-29 M Mensch Papi. Besorg uns mal nen neuen. Und geh mal durch die Geschäfte. A Und irgendjemand hat auch … C Und bring gleich ne Couch mit. V Phhh. (lachend) A Und Papi hat auch den Fisch, – den Fisch … M Stimmt. A (unverständlich) M Och, all die schönen alten Sachen. C Und Björn ein Kuhglas und einen, und einen … B Kannste ja dauernd nachkaufen. Zeilen 30-40 A Aber die Schale nich. C Jaa, die Schale. Die Blumenschale. 78
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C Schade! M Die hab ich für eine Mark aufm Trödel mitgebracht. A Ts! Die hat er immer an der gleichen Stelle verloren, danach hat er wochenlang keine Blumen… V Aber es gibt den jetzt ja wieder, den Trödler. Da könnt ihr gleich was Frisches kaufen. M Haha. V Na es gibt ihn. M Na ich hab auf jeden Fall sechs, sieben (unverständlich) für die (?) da ….
Reflektierende Interpretation: Die Schuld des Vaters In dieser Passage erscheint die Mutter als diejenige, die Verantwortlichkeiten in der Familie anspricht. In diesem Fall erhebt sie den Vater als Schadensverursacher zum Thema des Tischgesprächs (Z. 1). Die Zuweisung von Schuld verbindet sie mit einer Verhaltensaufforderung (Z. 20). Besteht die Schuld des Vaters darin, den Glaslöffel »kaputt gekriegt« zu haben? Die Mutter fordert den Vater auf, den von ihm verursachten Schaden zu beheben, doch der Vater reagiert weder auf die Schuldzuweisung noch auf die Verhaltensaufforderung und setzt sich am Ende mit seinem Lösungsvorschlag durch, der die Mutter auf ihre Zuständigkeiten verweist. Die Mutter scheitert mit ihrer Anklage und akzeptiert dies, indem sie nicht nur nicht widerspricht, sondern den Lösungsvorschlag Trödler auszuschmücken beginnt (Z. 40). Gibt sie sich geschlagen? Die Mutter inszeniert ihre Anklage so, dass die damit verbundenen üblichen institutionellen Implikationen verhindert werden. Die Frage, die sich für die Familie stellt, ist die nach möglichen Akten der Wiedergutmachung ohne die Verletzung des Verursachers, da dessen degradierende Aburteilung zugleich die gemeinschaftliche Solidarität bedroht. Die für die Familie nicht unproblematische Information, dass der Vater schuldig geworden ist, wird in einer bestimmten Weise verhandelt, nämlich zunächst in einem Quiz für die Kinder. Indem die Mutter den Schuldigen als Vater anruft und ihn als »euren« ins Spiel bringt, macht sie die Kinder und den Vater selbst auf die väterliche Vorbildfunktion aufmerksam, deren Verletzung zwar erst in Zeile 20 implizit als Untätigkeit entlarvt wird, jedoch enthält die Formulierung »euer Vater« die Bedrohung eines moralischen Verlustes für die ganze Familie. Betroffen von diesem Verlust ist nicht nur der Vater in seiner Vorbildfunktion, sondern auch die mitspielenden Kinder sind es, denn sie werden aufgefordert sich zu ihrem schuldigen Vater zu verhalten. Aber auch die Anklägerin selbst ist in ihrer gleichzeitigen Funktion als sorgende Mutter betroffen, auf die ihr Rollenspiel als Anklägerin verweist und aus der sie die Legitimation für ihr Rollenspiel gewinnt. Gleichzeitig zeigt das »kaputt gekriegt« an, dass die nun folgende Schuldverhandlung nicht als Gerichtstribunal gerahmt ist, in dem es
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um die Aburteilung eines Täters geht. In institutionellen Tribunalen wirkt sich ein Verweis auf die Bösartigkeit des Täters zuungunsten der Charaktereinschätzung des Angeklagten aus (vgl. Garfinkel 1982), dagegen transformiert hier die ironische Brechung einen solchen Verweis in sein Gegenteil, denn etwas kaputt zu kriegen ist eine Leistung, und eine solche Verfehlung eignet sich zur Eröffnung eines Quizspiels. Dass mit der Quizfrage ein »auf die Folter spannen« des Vaters impliziert ist, wird in Zeile 20 deutlich, in der die Mutter, nachdem sie in den Zeilen 3 und 5 auf ihre Frage selbst geantwortet und den Tatbestand geklärt hat, nun auf eine Lösung drängt und den Vater auffordert: »Mensch Papi, besorg uns mal nen neuen«. Auch hier ermöglicht die mit dem Kosenamen Papi verbundene Infantilisierung eine Karikierung der Situation und verhindert erneut, dass über den Vater ein Urteil gesprochen werden muss. Der Vater soll für Ersatz sorgen, womit sie ihrer Unzufriedenheit über die Zerstörung des Löffels Ausdruck verleiht und sich dabei gleichzeitig auf die Seite derer stellt, die von seiner Untätigkeit betroffen sind. Damit verweigert sie die durch die Untätigkeit des Vaters und die Aufgabenteilung in der Familie verursachte Zuständigkeit zur Schadensbehebung, wenn sie den Schaden nicht verursacht hat. Es geht ihr um die moralische Verantwortung des Vaters als Schadensverursacher, die Herstellung von Wiedergutmachung und Gerechtigkeit sowie die Anerkennung ihres mühevollen Engagements. Die Mutter wird’s nicht schon richten, wenn der Vater untätig bleibt. Zumindest kommt er nicht ohne die mit einem Quiz erspielte und ironisch gebrochene Schuldzuweisung und Verhaltensaufforderung vor allen davon. Mit Hilfe der Kinder wird aus einem Problem der Mutter eines der Familie. Zunächst behauptet die Mutter die Wichtigkeit des Schadens (Z. 3: »viel schlimmer«) und bringt vor allem die jüngste Tochter Carolin dazu, sich für den Schaden zu interessieren (Z. 6-10), wodurch der Schaden beim Sonntagsfrühstück verhandelbar wird. Carolin stellt über die Zeitlichkeit den Bezug zur Tat des Beschädigens her (Z. 6). Ihre Aufgeregtheit und ihre Unterstreichungen der Wichtigkeit des Problems, mit der sie sich auf die Seite der Beschwerdeführerin stellt, deuten darauf hin, dass sie dafür vorsorgt, in diesem Fall nicht selbst zu einer Verursacherin gemacht werden zu können. Im weiteren Gesprächsverlauf zeigt sich, dass sie sich mit allen ähnlichen Schäden und ihren Verursachern auskennt. Sie kann mitreden und nutzt diese Chance laut und oft. Die Mutter behauptet zwar den Schaden als einen Schaden für die Familie (Z. 7: »wir«), aber es sind die Töchter, die bestätigen, dass ein Schaden vorliegt, und ihn erklären (Z. 13-19). Mit ihrem Engagement unterstützen die Töchter die Mutter in ihrer Anklage und bestätigen ihre Betroffenheit, dennoch reagieren die Schwestern unterschiedlich auf die Frage der Mutter. Die ältere Tochter Anna reagiert zwar zuerst, doch ihr »Äh?« (Z. 4) auf die Erklärung der Mutter konterkariert 80
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das »viel schlimmer« des väterlichen Vergehens, »den« Glaslöffel »kaputt gekriegt« zu haben. So schlimm wie für die Mutter kann dessen Zerstörung für Anna nicht sein, wenn sie nicht sofort weiß, welcher Löffel gemeint ist. Das »Äh?« könnte sich außer auf den Gegenstand aber auch auf die Tat beziehen und eine Zurückweisung der mütterlichen Anklage beinhalten. Dann wäre die Mutter aufgefordert, entweder ihre Frage zu wiederholen und die darin enthaltene Schuldzuweisung zu erklären, oder aber ihre Rolle als Anklägerin zu legitimieren. Das »Äh?« kann zwar potentiell die Schuldzuweisung infrage stellen, durchbricht diese aber aufgrund seiner Mehrdeutigkeit nicht. Die Mutter nutzt diesen Spielraum und bezieht ihre Antwort auf den zerstörten Gegenstand. Deshalb widerspricht das »Äh« auch nicht der Tatsache, dass ein väterliches Vergehen vorliegt, doch es nimmt dessen Schwere zurück. Carolin dagegen, die nach der ergänzenden Erklärung der Mutter in die Diskussion um den Löffel einsteigt, interessiert sich sofort für die näheren Tatumstände. An der Fortsetzung des Quizspiels (Z. 8-12), in dem Carolin dem Problem Nachdruck verleiht, beteiligt sich Anna nicht. Schließlich greift Björn mit seiner ersten Äußerung am Frühstückstisch beschwichtigend in die Diskussion ein und beendet das Quiz (Z. 12). Seine Äußerung lässt explizit werden, was Annas »Äh?« nur andeutete, und untergräbt die Legitimationsstrategie der Mutter ohne die Tat zu leugnen. Als Verteidiger seines Vaters plädiert er für nicht schuldig, denn die Tat ist »nicht so schlimm«. Die Mutter reagiert nicht und es entspinnt sich eine Diskussion zwischen den Geschwistern über die Bedeutung der väterlichen Tat und die Schwere seiner Schuld (Z. 13-19). Carolin widerspricht dem Beschwichtigungsversuch Björns zunächst mit einem absoluten Argument (»Doch!«), auf dass Björn reagiert und dessen Begründung (Z. 15) er unterbrechen, aber nicht verhindern kann. Als er seine Einschätzung der väterlichen Tat zu begründen versucht (Z. 16), unterbricht ihn Anna und unterstützt ihre Schwester, bleibt aber zurückhaltender als diese und wendet sich, nachdem der Wert des Löffels begründet und Bedauern über seine Zerstörung ausgedrückt ist, ironisch bittend an den Täter und versucht damit eine erste Lösung herbeizuführen (Z. 19). Dabei wird aus dem väterlichen Täter der Mutter der menschliche »Papi« der Kinder, der nun zu seiner Tat Stellung beziehen und auf die Schuldzuweisung reagieren könnte, der Björn widersprochen und die Anna abgemildert hat. Das Eingreifen der Mutter verhindert eine mögliche Reaktion des Vaters, doch indem die Mutter Annas Ironie aufgreift, bestätigt sie die Abmilderung der Schuld (Z. 20). Als Anklägerin reagiert sie auf diese Veränderung positiv und vervollständigt, nun legitimiert durch ihre Töchter, die Anklage um die Forderung nach Bestrafung und schlägt ein Strafmaß vor. Der Schaden wäre behoben, wenn Vollständigkeit und Schönheit wieder hergestellt wären. Dafür soll der Vater als Verursacher sich der Mühe unterziehen, durch die Geschäfte
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zu gehen und einen adäquaten Ersatz zu besorgen, womit die Gerechtigkeit in der Familie wiederhergestellt wäre. Anna durchbricht als erste diese Aufforderung und den darin enthaltenen Appell an den Vater, denn es gibt noch andere Gegenstände, die »irgendjemand« (Z. 21) zerstört hat, womit die Frage von Schuld und Wiedergutmachung nicht mehr nur auf diese eine Tat beschränkt bleibt und als allgemeine Frage zum Problem der Familie wird. Es steht nicht fest, wer in dem Fall der Täter war, wie schwer sein Vergehen zu beurteilen ist und welches Strafmaß ihm zukommt. Anna lenkt nicht nur vom Vater als dem Täter ab, sondern ihre Reaktion stellt die legitimierende Verbindung von mütterlicher Funktion und Rolle als Anklägerin infrage, denn sie setzt sich selbst als gleichberechtigte Anklägerin ein. Dass sich ihre Anklage doch auf den Vater bezieht, wird erst deutlich, als sie nach der Unterbrechung durch Carolin die Aufzählung weiterer zerstörter Gegenstände fortführt und dabei den Täter konkret als Papi nennt. Anna wäre eine zurückhaltende und verständnisvolle Anklägerin (Z. 24). Doch bevor Anna diese Rolle einnehmen könnte, macht Carolin einen Witz, der zwar an den mütterlichen Appell anknüpft, weil der Vater ihr Bedürfnis nach einer neuen Couch befriedigen soll, letztendlich aber den Appell der Mutter durchbricht, weil der Vater zwar in einer Schuld steht, aber dies nicht als schuldiger Täter (Z. 22). Der Witz konterkariert sowohl Annas Ernsthaftigkeit als auch die der Mutter und beide Eltern müssen lachen. Dieses gemeinsame Lachen signalisiert und bestätigt, dass die Rollenverteilung als Anklägerin und Täter von den Kindern wirkungsvoll aufgehoben wurde. Jetzt ist nur noch der zerstörte Löffel das Problem und nicht mehr die Bestrafung eines Täters. Carolins Witz eröffnet einen Spielraum für die Art der Verhandlung über andere zerstörte Gegenstände, in dem die Frage der Wiedergutmachung zwar nicht durchbrochen oder wirkungslos geworden ist, es muss aber nicht unbedingt eine Strafe ausgesprochen werden. Die Verhandlung geht in die nächste Runde (Z. 24-33) und wird über die ähnlichen Fälle hinaus eine Verhandlung über die Fragen, wer in welcher Form Verursacher ist und wie dies zu beurteilen ist, was zu tun ist und von wem, und was als gerecht gilt. Familie Zobel verhandelt nun auch über die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer gemeinschaftlichen Bezüge, genauer über die Legitimation der Einnahme von Rollen in Fragen, die für die Gemeinsamkeit der Familie relevant sind. Wieder verhandeln die Kinder, diesmal aber greift die Mutter regelnd ein. Zunächst geht es um die Feststellung weiterer Schäden und weiterer Verursacher. Carolin nennt dabei Björn (Z. 28), der zuvor auf Seiten des Vaters eingelenkt hatte. Björn versucht sich mit dem Argument zu verteidigen, dass es sich bei dem von ihm zerstörten Gegenstand weder um einen seltenen oder schwer wiederzubeschaffenden Gegenstand handelt. An dieser Stelle (Z. 29) jedoch besteht seine Verteidigung nicht wie zuvor in einer Abschwächung der Tatfolgen, sondern in einer 82
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Abschwächung der Schwierigkeit, den Schaden zu beheben. Damit bestätigt er, dass die von der Mutter aufgeworfene Frage nach Wiedergutmachung für eine Verhandlung relevant ist. Und obwohl Anna seine Verteidigung mit einem Hinweis auf einen anderen defekten Gegenstand zerstört (Z. 30), bestätigt ihre Äußerung die Perspektive ihres Bruders. In dieser Sequenz erkennen die Kinder noch einmal das Problem der Zerstörung eines schönen und nützlichen Gegenstandes als ein Familienproblem an und sanktionieren so das Ansprechen dieses Problems durch die Mutter positiv, einschließlich ihrer Forderung nach Schadensbehebung durch den Verursacher. Allerdings wird im Verlauf der Verhandlung der Vater aus der Schusslinie genommen, indem die Mädchen dafür sorgen, dass sein ehemaliger Verteidiger in die Schusslinie gerät. Die Mutter unterstützt die Verhandlung (Z. 25) und verstärkt die Argumente (Z. 27), solange es sich um die vom Vater zerstörten Gegenstände handelt. Als Björn von seinen Schwestern zum Verursacher erhoben wird, greift die Mutter als Verteidigerin des Sohnes ein, auch wenn Carolins Bedauern (Z. 32) sich am Vorbild der Mutter orientiert (Z. 27). Der Hinweis der Mutter auf den billigen Kauf beim Trödler verhindert, dass die Frage der Schadensbehebung vom Vater auf den Sohn übertragen wird (Z. 33). Hier wird aus der den Vater anklagenden Mutter die den Sohn verteidigende Mutter, auch wenn der Preis dafür darin besteht, die Seite zu wechseln. Denn indem sie ihren Töchtern sagt, dass die Blumenschale billig und einfach zu beschaffen war, zerstört sie deren Argumentation und verlässt die Seite derer, von denen sie bis zu diesem Punkt in ihrem Problem unterstützt wurde. Diese Äußerung zieht Konsequenzen nach sich. Die Mutter erkennt zum einen an, dass Björn ihrem Argument gefolgt ist und nimmt ihn aus der Schusslinie. Die Forderung nach Schadensbehebung bezieht sich also nicht auf alle Familienmitglieder gleichermaßen, sondern nur auf den Vater. Verursacht dagegen ein Kind einen Schaden, zeigt ihre Reaktion, dass dies nicht ein Problem der Familie ist, sondern eines, das sie zu regeln weiß und dessen Regelung sie nicht ablehnt. Dies gilt zumindest für den Fall, wenn ein von den Kindern verursachter Schaden einfach und billig zu beheben ist. Hier taucht die Frage auf, ob sie die Zerstörung des Glaslöffels auch deshalb stört, weil es sich um einen eventuell teuren Gegenstand handeln könnte, also um ein finanzielles Problem. Bisher spielte dieser Aspekt keine Rolle, denn der Tatbestand wurde von ihr und den Kindern lediglich mit den Argumenten der Vollständigkeit und des Gebrauchs (Z. 5, 7), der Schönheit (Z. 15, 16), Besonderheit (Z. 17) und Seltenheit (implizit Z. 20, 29) sowie des Alters (Z. 27) des Glaslöffels begründet, von denen bisher der Wert dieses Löffels für die Familie abhing. Beim Trödler erworbene Gegenstände sind für gewöhnlich nicht teuer, und wenn auch der Glaslöffel dort gekauft wurde, dann war die Blumenschale nur besonders günstig zu erwerben. Dann aller83
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dings würde die Äußerung der Mutter nur umso deutlicher unterstreichen, dass ein potentieller Konfliktfall zwischen den Eltern vorliegt, und dass das Problem einer Verletzung von Schönheit und Ordnung und das Bedürfnis der Mutter nach Anerkennung ihres Engagements für die Familie sich nur auf den Vater bezieht. Dies würde auch bedeuten, dass die Mutter ein Modell repräsentiert, in dem allein die Eltern für die Sorge um die familiären Werte (gegenseitige Anerkennung, Sorge um die Familie, Übernahme von Verantwortung und Gerechtigkeit) sowie für das Funktionieren der familiären Gemeinschaft die Verantwortung tragen. Bisher dienten ihr die Kinder zur Legitimation und familiären Anerkennung eines Problems und wurden in die Problembehandlung einbezogen, aber die Forderung einer Schadensbehebung geht von der Person aus, die durch ihre Funktion und Verantwortung dafür legitimiert ist. Hier widerspricht sie der gleichberechtigten Rolle, die ihre Kinder in der Verhandlung einzunehmen versuchten. Darüber hinaus zeigt sich ein Erziehungsmodell der Mutter, denn nachdem sie versucht hat, den Vater zu belehren, belehrt sie nun ihre Kinder, indem sie diese auf ihre Plätze verweist. Dennoch erkennt sie bezogen auf den Tatbestand die Ergebnisse der bisherigen Verhandlung an und wiederholt ihr Bedürfnis. In ihrer Belehrung der Kinder steckt somit auch eine implizite Wendung an den Vater, ohne ihre Forderung an ihn noch einmal zu wiederholen. Als Verteidigerin ihres Sohnes wendet sie sich gegen ihre Töchter als Anklägerinnen, verzichtet aber auf die Rolle der Anklägerin des Vaters. Darüber hinaus scheint für den Fall, dass auch der Glaslöffel beim Trödler erworben wurde, in ihrer Verteidigung bereits eine andere Möglichkeit auf, das Problem zu lösen. Wieder reagiert Anna (Z. 34), die nun jedes Mal auf die Fragen und Argumente ihrer Mutter als erste reagiert hat und an neuralgischen Punkten zur Managerin der Verhandlung als Familienverhandlung wird. Dabei wird sie von Björn unterstützt, auch wenn er eine andere Strategie verfolgt und die Konsequenz beider sie auf unterschiedliche Seiten zu stellen scheint (Z. 29, 30). Während Björn das Problem allein durch Abschwächung zu lösen versucht, reagiert Anna vielfältiger. Zunächst scheint sie die Frage ihrer Mutter nicht diskutieren oder das Problem abschwächen zu wollen, bietet ihrer Mutter zugleich aber die Möglichkeit an, sich zu erklären (Z. 4). Dabei vermeidet sie zunächst eine Positionierung, indem sie sich am Quizspiel nicht beteiligt und erst einsteigt (Z. 17), nachdem sich ihr Zwillingsbruder klar positioniert hat (Z. 12, 16). Ihre Strategie zeichnet sich vor allem durch sachliche Anerkennung gegenüber allen an der Verhandlung Beteiligten aus (Z. 17, 21/24, 30), darüber hinaus durch Zuwendung und Unterstützung sowohl der Anklägerin als auch des Angeklagten, wobei sie mit den Mitteln der Ironie und Umlenkung arbeitet. Vor allem Annas Reaktionen schaffen die Bedingungen für eine konfliktfreie Lösung des Problems. Letztlich wird ihr Engagement von der Mutter positiv bestätigt und vom Vater belohnt werden. 84
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Die Selbstverständlichkeit, mit der Anna auf die Äußerung der Mutter reagiert (Z. 34), zeigt deutlich, dass der Gang zum Trödler eine vertraute Gewohnheit für die Familie ist, über die sich sofort und ohne weitere Erklärung eine Geschichte erzählen lässt, die also einen gesteigerten Erlebniswert besitzt. Auf die Preise der beim Trödler erworbenen Gegenstände geht Anna nicht ein. Damit bestätigt sie, was über den Inhalt der mütterlichen Verteidigung vermutet werden konnte, was auch bedeutet, dass sie diesen Inhalt als ebenso normal und selbstverständlich anerkennt. Sie bestätigt damit nicht mehr nur die Mutter in ihrer Funktion für die Familie, sondern erkennt deren Werte in dem Moment als gültig an, in dem die Mutter nicht mehr als Anklägerin fungiert. Gleichzeitig führt ihre kurze Erzählung vom Problem der Mutter weg, was dem Vater nun die Möglichkeit eröffnet, sich vollständig von der Rolle des Angeklagten zu befreien, indem er nun seinerseits eine Lösung vorschlägt, die an die Verteidigung des Sohnes durch die Mutter anknüpft (Z. 36/37). Ohne dass der Vater auf die anfängliche Schuldzuweisung und den Appell der Mutter reagieren muss, die ihre Rolle als Anklägerin bereits verlassen und ihre Verteidigung des Sohnes nicht auf das implizite Argument der Mühe und Gerechtigkeit stützt, sondern mit dem Hinweis auf ein Erlebnis verbindet, präsentiert er eine Lösung, die niemanden bestraft. Und offensichtlich stammte auch der Glaslöffel vom Trödler und Geldfragen scheinen an diesem Punkt keine Rolle zu spielen. Darüber hinaus scheint er nicht selbst zum Trödler zu gehen (»ihr«). Die Strategie des Vaters bestätigt selbstverständlich Annas und Björns Engagement, das auf die Lösung des Problems orientiert war. Ohne der Mutter in ihrem Appell zu folgen, widerspricht er ihren Werten nicht und übernimmt Verantwortung für die Familie, indem er sich auf den Erlebniswert bezieht und damit das von der Mutter selbst infrage gestellte Argument der Mühe zurückweist und das vom Sohn aufgebrachte Gegenargument der Einfachheit des Wiederbeschaffens nutzt. Die Lösung scheint verblüffend einfach und bezieht sich auf diejenigen, die das Problem angesprochen, unterstützt oder eine Lösung versucht haben. Nicht er muss handeln und durch die Geschäfte gehen, sondern Mutter und Kinder können zum Trödler gehen, den es »jetzt ja wieder« gibt. Indem er ebenfalls die Ergebnisse der Verhandlung – sowohl bezogen auf den Tatbestand als auch auf das Rollenspiel – anerkennt und seine Lösung eine Belohnung darstellt, führt er seiner jüngsten Tochter – die aufgeregt und mit klarer Positionierung dafür sorgte, nicht zur Verursacherin gemacht zu werden – vor, dass nicht auf jeden Schadensfall eine Strafe folgen muss, auch dann nicht, wenn der Schaden offenbar erheblich ist. Sein Erziehungsmodell setzt nicht auf Bestrafung, sondern auf Vermeidung von Verunsicherung und gemeinsames Handeln. Indem er am positiven Wert, den der Gang zum Trödler offensichtlich für die Familie darstellt, anknüpft, sanktioniert er die Quizfrage der Mutter positiv, bestraft sie nicht für ihr Rollen85
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spiel als Anklägerin, sondern unterstützt sie in der Suche nach einer Lösung und erkennt dieses Engagement für die Familie an. Die Anklage der Mutter scheitert inhaltlich lediglich in ihrer Verhaltensaufforderung und in ihrem Appell nach Bestrafung. In dem Moment aber, in dem die Frage der Mutter und ihre Forderung den Charakter einer Anklage verlieren, wird ihr Problem auch vom Vater bestätigt und ihr Bedürfnis nach Anerkennung offensichtlich befriedigt. Die Mutter muss sich nicht geschlagen geben, sondern kann die Erzählung ihrer Tochter über den Trödler fortsetzen (Z. 40). Das Problem ist gelöst.
Zusammenfassung: Familie Zobel bearbeitet das Verhältnis der Generationen und Geschlechter Die Sequenzen der Gesprächspassage weisen eine Reihe von Grenzziehungen auf, die entlang von Anrufungen erfolgen. Die Anrufungen erfolgen im Quizspiel (Z. 1-12), markieren das Ende der ersten Verhandlungsphase (Z. 13-18) und sind vor allem an den Vater gerichtet (Z 1, 19, 20). Deutlich wird bereits in der Quizfrage eine Abgrenzung sowohl der Mutter vom Vater als auch der Kinder vom Vater, denn dieser wird zum Angeklagten. Wenn die Kinder über die Schwere der Schuld verhandeln, verhalten sie sich gemäß der Anrufung durch die Mutter. Dies trifft auch auf Björn zu, der zwar das Quizspiel beendet (Z. 12), indem er eine Schuld des Vaters bestreitet, damit aber erst einen Zusammenhang zwischen Tat und Schuld herstellt. Dabei positioniert er sich eindeutig auf Seiten des Vaters. Während des Quizspiels vermeidet Anna eine Positionierung und während der ersten Verhandlungsphase bemüht sie sich um eine neutrale Position, indem sie versucht, zwischen Mutter und Vater zu vermitteln (Z. 17, 19). Carolin dagegen positioniert sich durchgängig auf Seiten der Mutter. Die Grenze, die damit zwischen Carolin und Björn gezogen ist, bleibt während der gesamten Gesprächsphase bestehen und ist für beide Verhandlungsphasen prägend. Anna positioniert sich erst im Laufe der zweiten Verhandlungsphase auf Seiten von Mutter und Schwester gegen Björn und hilft Carolin dabei, Björn auf die Seite der Schadensverursacher zu stellen. Diese kurze Abgrenzung verstärkt die Grenzziehung zwischen den Geschwistern, was von Carolin genutzt, von der Mutter jedoch zurückgenommen wird. Ihr Eingreifen verhindert nicht nur eine weitergehende Abgrenzung zwischen den Geschwistern, sondern hebt die Grenzziehung auf. Dies bedeutet, dass von der Anklage der Mutter eine Bedrohung für die Einheit der Familie ausging, die durch die unterschiedliche Positionierung von Carolin und Björn real wird und sich zuspitzt, worauf die Mutter selbst reagiert und diese Bedrohung abwendet, indem sie ihren Sohn in Schutz nimmt. Die Grenze zwischen den Eltern und zwischen Eltern und Kindern ist nicht aufgehoben.
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Die Aufhebung der Grenze zwischen den Eltern wird vor allem durch Annas Neutralität und Verhandlungsgeschick möglich. Ihre praktische Strategie ist am Ende erfolgreich und beeinflusst den Ablauf der gesamten Passage, insbesondere die Rollenverteilung. So sorgt ihre erste Nachfrage dafür, dass die Anklägerin den Tatbestand erklären muss. In der ersten Verhandlungsphase spielt Anna zunächst die Rolle der Zeugin. Ihre ironische Wendung an den Vater bestätigt dann sowohl Carolin als Anwältin der Mutter als auch Björn als den Anwalt des Vaters, denn eine Schuld liegt vor, sie wird aber abgeschwächt. Hier nimmt sie die Rolle der neutralen Richterin ein. Als die Mutter ihre Anklage mit einem Strafmaß verbindet, bestätigt sie dies nicht und nimmt nun die Rolle einer weiteren Anklägerin ein. Der Witz Carolins und die Aufzählung weiterer Schäden mildern aber nun den Charakter der Anklage ab, denn die Frage der Wiedergutmachung bzw. Bestrafung eines Täters ist aufgeschoben, weil das Strafmodell der Mutter durch die beiden Anklägerinnen nicht bestätigt wird. An der zweiten Verhandlungsphase ist die Mutter als Zeugin beteiligt. Das gemeinsame Lachen der Eltern bereitet eine gemeinsame Lösung vor, zumal es in der zweiten Verhandlungsphase keine Richterin gibt, die ein Strafmaß festsetzt. Dass die Frage nach Schuld und Wiedergutmachung in der Verhandlung enthalten ist, bestätigt das Eingreifen der Mutter, nun aber als Verteidigerin des Sohnes. Daraufhin beendet Anna mit der Erzählung vom Trödler die Verhandlung zwischen den Kindern und gibt ihre Rolle als Anklägerin auf. Damit ist nicht nur die Grenzziehung zwischen den Geschwistern, sondern auch die Schuldfrage endgültig aufgehoben und der Weg für die Aufhebung der Grenze zwischen den Eltern freigegeben. Was aber passiert mit der Grenzziehung zwischen Eltern und Kindern? Mit den direkten und indirekten Anrufungen und der Verhaltensaufforderung an den Vater sind Versuche von Identitätszuschreibungen verbunden, die an die Schuldfrage gebunden sind, in der das Problem der Gerechtigkeit und Anerkennung enthalten ist. Dieses betrifft letzen Endes aber nur Vater und Mutter, die dann auch das Problem lösen. Die Kinder dienen vor allem der Legitimation des Schadens, der Rolleneinnahme und der Identitätszuweisung, deren Charakter sich im Vollzug der Legitimation durch die Kinder verändert. Während sich die Mutter selbst erfolgreich eine Identität zuschreibt und dies mit Hilfe der Kinder gelingt, scheitert die mütterliche Identitätszuweisung an den Vater mit Hilfe der Kinder. Der Versuch, ihn zum Sündenbock (Girard 1988) werden zu lassen, gelingt nicht. Die Eingrenzung des Problemfalls der Familie auf die Eltern und deren Funktion sowie die Eingrenzung der Funktion der Kinder in der Verhandlung wird durch die Mutter eingesetzt und weder von den Kindern wirksam durchbrochen noch vom Vater aufgehoben. Dies deutet auf die Selbstverständlichkeit der Generationendifferenz hin, die hier allerdings nicht in einem ursprünglichen Sinn eingesetzt wird, sondern die Mutter rekurriert auf sie und die verbalen Interaktionen aktualisieren sie 87
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auf spezifische Weise. In dieser Aktualisierung wird das Generationenverhältnis ausgestaltet und durch Björns Widerspruch und Annas Verhalten neu justiert. Die Kommunikation bei Tisch vollzieht die Bearbeitung der Generationendifferenz, ohne diese aufzuheben. Dabei fällt auf, dass die Mutter, wenn sie von »wir« oder »uns« spricht, immer die Familie ohne den Vater gemeint ist (diese Festlegung kommt auch schon in dem »euer« am Anfang zum Ausdruck). Wenn die Mutter den Vater indirekt oder direkt anspricht, so stellt sie sich mit den Kindern in eine Gemeinschaft, die durch den Schaden konstituiert wurde. Über den Sachverhalt des Schadens wird so eine familiäre Teilloyalität geschaffen. Dagegen spricht sie dann von »ich«, wenn sie die Zuständigkeit für die gesamte Familie reklamiert, mithin dann, wenn sie etwas »für alle« besorgt, getreu dem Motto »Eine für alle«. Dieser Verantwortlichkeit für die Familie, die sie eindrucksvoll bestätigt, indem sie den Sohn nicht zum Verursacher eines Problems macht, das alle angeht, sondern ihn im Gegenteil verteidigt, wird von niemandem widersprochen. Und diese Verantwortlichkeit für die Familie fordert sie vom Vater ein. Der Vater handelt gemäß der Anrufung »euer Vater«, nicht aber gemäß der Identitätszuweisung als schuldiger Vater. Sein Lösungsvorschlag, der zwar widerstrebend, aber am Ende doch von der Mutter akzeptiert wird, folgt einem anderen Modell, denn er fordert die Familie auf, den Schaden gemeinsam zu beheben, und ergänzt das mütterliche Modell durch ein »Alle für Einen«. Wird im Modell der Mutter darauf rekurriert, dass der identifizierte Verursacher selbst den Schaden zu beheben habe, so hebt der Vater darauf ab, dass der eingetretene Schaden nur durch Teamarbeit von Mutter und Kindern behoben werden kann. Für den Vater besteht der Schaden offensichtlich nicht in den zerstörten Gegenständen, sondern in den erfolgten Grenzziehungen in der Familie. Doch die Bedrohung der familiären Einheit ist bereits abgewendet; seine Lösungsstrategie folgt ebenfalls einem Verursacherprinzip, sie weist den Verursachern eine solche Identität aber weder im Sinne einer Schuld noch im Sinne einer Strafe bzw. Wiedergutmachung zu. Sein Rückgriff auf eine Familientradition mit Erlebniswert stellt eher eine Belohnung für die Verursacher dar. Der Lösungsvorschlag des Vaters verzichtet auf Identitätszuweisungen, er bestätigt die Bearbeitung der Generationendifferenz durch die Familie, die wiederum die Autorität der Gemeinschaft bestätigt. Sein Modell enthält eine familiale Identität, die in der Anerkennung der einzelnen Familienmitglieder besteht. Darüber können die unterschiedlichen elterlichen Modelle der Schadensbehebung und die sichtbar werdenden Erziehungsmodelle integriert werden. Das väterliche Modell setzt sich durch, ohne das Modell der Mutter für ungültig erklären zu müssen. Das Problem ist gelöst und es gibt keine »Sündenböcke«. Die Gemeinschaft kennt zwar Grenzen (»ihr könnt« und nicht »wir können«), die Bedrohung ihrer Einheit ist jedoch 88
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endgültig abgewendet, als die Mutter dies akzeptiert. Im Vorschlag der gemeinsamen Schadensbehebung ist nun die Grenze zwischen den Eltern aufgehoben. Der Vater wird zum legitimen Verteidiger der familiären Gemeinschaft, deren nicht-personale Autorität durch seinen Rückgriff auf den Erlebniswert des Trödlers in Verbindung mit einer Belohnung für diejenigen, die diese Gemeinschaftlichkeit bedroht haben, bestätigt wird. Der Vater wird hier zum Repräsentanten dieser Autorität, ohne die Autorität der Mutter als Repräsentantin derselben Gemeinschaft zu gefährden. Die Legitimität der Funktion, die die Mutter für sich beansprucht und die Identität, die sich die Mutter in dieser Funktion zuweist, indem sie sich ebenso wie der Vater um die Gemeinschaftlichkeit der Familie – präziser um die Aufgabenteilung und die gemeinsame Verantwortung der Eltern – sorgt, wird vom Vater gerade dadurch bestätigt, dass er seine Autorität an dieselben Werte bindet. Hier werden aber nicht nur gegenseitige Anerkennung, Gerechtigkeit und Solidarität als gemeinsame Werte vom Vater bestätigt, sondern es wird eine Norm für elterliches Verhalten erzeugt bzw. erweitert, denn die Gemeinschaftlichkeit der Familie selbst besitzt einen so hohen Wert, dass sich elterliche Autorität an ihr orientieren muss. Zum Repräsentanten dieser Autorität kann nur werden, wer sich seiner Position – seiner Funktion und ihrer Bedeutung – im Rahmen der Gemeinschaft gemäß verhält. Verhandlungen über die Positionen sind nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sind hier notwendig, weil die elterliche Autorität als Repräsentation gemeinschaftlicher Autorität zum einen die Legitimation durch die Familienmitglieder benötigt, zum anderen nur dann wirkungsvoll ist, wenn sich alle an den gemeinsamen Werten orientieren. Die gemeinsame Orientierung im Verhalten bestätigt den normativen Charakter der familiären Gemeinschaft und führt zu Verhandlungen, in denen die Integration unterschiedlicher Erziehungs- und Gemeinschaftsmodelle möglich wird. Die Existenz verschiedener Modelle stellt nicht nur keine Bedrohung für die familiäre Gemeinschaft dar, sondern die Verhandlung bestätigt deren Normativität. Höchste Autorität besitzt in dieser Passage die nicht-personale Autorität der familiären Gemeinschaft und diese kann auch von den Kindern repräsentiert werden, was Anna und Björn in ihrem Verhalten zeigen. Die Generationendifferenz wird entlang dieser Norm bearbeitet, die auch erlaubt, dass die Differenz zeitweise suspendiert und unterlaufen wird. Deutlich ist in der gesamten Passage eine Differenzierung nach Geschlecht, denn nur die männlichen Familienmitglieder werden zu Verursachern und klar von den jeweiligen Teilgemeinschaften, die sich um die Mutter bilden, abgegrenzt. Darüber hinaus zeigt sich im Verhalten der Zwillinge, wie Geschlechtsverhalten mimetisch eingeübt wird: Anna regelt und versachlicht in einer eher der Mutter ähnlichen Art in Richtung Klärung und Benennung, Björn in der Art des Vaters eher in Richtung Entschärfung und Beschwichti89
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gung. Mit dem Eingreifen der Mutter als Verteidigerin des Sohnes tritt die Differenzierung nach Geschlecht allerdings hinter die Generationendifferenz zurück.
Methodischer Stellenwert der interpretierten Sequenz Die Interpretation zeigt, wie das Tischritual zu einem Mittel der Differenzbearbeitung – insbesondere der Ausgestaltung des Generationen-verhältnisses – wird. In den verbalen Interaktionen wird sichtbar, wie ein Problem der Mutter mit hohem Konfliktpotential zwischen den Eltern über das Engagement der Kinder lösbar und die im Aussprechen liegende Bedrohung für den Zusammenhalt der Familie abgewendet wird. Hier handelt es sich nicht um eine Konfliktvermeidung, sondern um eine Konfliktlösung. Im Vollzug dieser Konfliktlösung werden zugleich gemeinschaftliche Werte und Normen dargestellt. Damit führt Familie Zobel auf, was sie auszeichnet, und stellt ihre symbolische Ordnung dar. Hierbei zeigt sich Familie Zobel als strukturierte Gemeinschaft und als soziale Institution. Es ist daher nicht sinnvoll, von einem Gegensatz zwischen Institution und (Erfahrungs-)Gemeinschaft auszugehen, sondern die Verschränkung von gemeinschaftlichen und institutionellen Faktoren zu analysieren. Für die Gemeinschaftlichkeit der Familie, die Bezugnahmen auf die gemeinsamen Werte und Normen und ihren Vollzug in der Tischkommunikation sind die Aspekte der Aufgabenteilung und des typischen, interaktiven (Rollen-)Verhaltens so wesentlich, dass hier nach dem Zusammenhang zwischen ihnen und den sichtbar werdenden Gemeinschaftsmodellen und Erziehungsformen gefragt werden muss. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, den pädagogischen Stil des Tischrituals zu rekonstruieren. Die hier präsentierte Interpretation – insbesondere die Zusammenfassung – verdankt sich bereits rückwirkenden Kontrastierungen und Kodierungen. So schärfte sich die Aufmerksamkeit für die Bearbeitung der Geschlechterdifferenz erst anhand des Vergleichs mit verbalen Bezugnahmen auf Geschlechtlichkeit in den anderen beiden Familien. Die nach den ersten reflektierenden Interpretationen vorsichtig einsetzende Bezugnahme auf den Begriff der Einsetzung(srituale) verdankt sich insbesondere den Grenzziehungen innerhalb dieser Sequenz als auch der dazu im maximalen Kontrast stehenden diskursiven Macht Mutter Maiers (vgl. Kapitel 4). Aus diesem Vergleich resultierte ebenso die allmählich einsetzende Eingrenzung des Rollenverständnisses auf die Einnahme von Kommunikationsrollen, wobei außerhalb dieser Sequenz auf einen Rekurs auf Gemeinschaftsmodelle während der reflektierenden Interpretation verzichtet werden musste, weil sie sich in anderen Sequenzen und in anderen Familien nicht wiederholten bzw. erst aus deren Kontrastierung hervorgingen. Im Gegenzug ergab sich aus dem weiteren Vergleich mit anderen Sequenzen derselben Familie eine – durch den maximalen Kontrast 90
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zu den innerhalb der Familie Maier minimal kontrastiven Sequenzen »Brot« und »Briefmarke« angeregte – Fokussierung der Autoritätsstrukturen, die jedoch erst nach den Interpretationen der teilnehmenden Beobachtungen innerhalb Familie Zobels rückwirkend auf die interpretierte Gesprächspassage bezogen wurde. Erst im Zuge dieser Kodierung wurden Anrufung und Identitätszuweisung zu für die Interpretation nutztbaren begrifflichen Analyseinstrumenten.
2.3. Teilnehmende Beobachtung und dichte Beschreibung »Kennzeichnend für die teilnehmende Beobachtung ist die persönliche Teilnahme« der Forscher/innen »an der Praxis derjenigen, über deren Handeln« sie »Daten erzeugen möchten« (Lüders 2003: 151). Dieses Verfahren wird hier als ein wesentlicher methodischer Zugang innerhalb einer ethnografischen Studie eingesetzt, weil die für eine empirische Rekonstruktion ritueller Handlungskomplexe bedeutungsvollen Körperanordnungen und Körperpräsentationen, wie Sitzordnung, Kleidung, Gestik und Mimik, die nonverbalen Interaktionen und Handlungsabfolgen sowie der Ort des Rituals, und damit die Zeitlichkeit und Räumlichkeit, die Ästhetik, Expressivität und Atmosphäre der rituellen Handlungen erfassbar werden. Das Verfahren der teilnehmenden Beobachtung birgt jedoch ethische, praktische und methodische Probleme, denen sich die Forscher im Feld und aufgrund der langen Tradition methodischer (Selbst-)Kritik auch verfahrensreflexiv stellen müssen (vgl. Flick 1997; Friebertshäuser 1997; Lüders 2003). Zu den ethischen Problemen gehören die Lösung des Datenschutzes, der Umgang mit Informationen, deren Verwendung und Darstellung sich für die Beobachteten nachteilig auswirken bzw. die Anonymisierung gefährden könnte, und die Frage des gegenseitigen Vertrauens bei unterschiedlichen Interessen sowie die notwendige Unabhängigkeit der Forscher in der Fokussierung ihrer Fragestellungen. Wenn die persönliche Teilnahme bedeutet, Familien in ihrer gewohnten Umgebung zu beobachten, lassen sich diese Probleme zusammenfassen in der Frage: Wie weit darf man gehen? Die praktischen Probleme liegen vor allem in der Gefahr der Überflutung der Sinneseindrücke, der Flüchtigkeit und Vielschichtigkeit der beobachteten Handlungen sowie der Veränderung der Situation durch die Anwesenheit von Beobachtern. Diese lassen sich in der Frage zusammenfassen: Wie weit kann man gehen? Die Echtheit, Natürlichkeit und Reichweite des Beobachtbaren, das Verhältnis von Eintauchen einerseits und Beobachten andererseits, der Zusammenhang von Beobachten und Interpretieren, der nicht hintergehbare Wahrnehmungsfilter und die Verständnisgrenzen der Beobachter sowie die Nachvollziehbarkeit ihrer Verdichtungen der Eindrücke und Informationen aus dem Feld sind 91
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methodische Fragen, denen sich die Forscher stellen müssen: Wie kann man verstehen und beschreiben? Die ethischen Fragen betreffen ethnografische Feldforschung im allgemeinen, spitzen sich für die teilnehmende Beobachtung jedoch zu. Die Familienmahlzeit spielt sich für gewöhnlich in den Privaträumen von Familien ab. Wer hier Zugang bekommen will, kann dies schlecht im Rahmen einer verdeckten Beobachtung tun. Umso bedeutungsvoller ist die Vertrauensfrage, die sich bereits bei der Kontaktaufnahme grundlegend entscheidet. Die Bereitschaft der Beobachteten erwuchs aus dem Erstaunen und der Neugier der Kinder und der Bildungsnähe der Eltern, genauer ihrem inhaltlichen Interesse an Ritualen, ihrer Neugier am Ablauf eines Forschungsvorhabens sowie – was erst später sichtbar wurde – aus der den Eltern eigenen Professionalitätsverständnissen. Die Beobachter fanden hier nahezu ideale Voraussetzungen für teilnehmende Beobachtungen, denn weder die Kinder noch die Eltern fragten nach Einzelheiten des Forschungsinteresses und seiner Fokussierung, sondern gewährten bereitwillig Einblick in ihre Familienleben, ihre Familiengeschichten, Sozialdaten und Auffassungen, ohne nach deren Interpretation zu fragen. Die Forscher gaben allerdings selbst Auskunft über den Sinn der Befragungen und Beobachtungen, die Art und Weise ihres Umgangs mit personenbezogenen Daten sowie der Verwendbarkeit von besonderen Informationen, soweit möglich, erst im Anschluss an die Befragungen, Gespräche und Beobachtungen. Dabei achteten die Beobachter darauf, keine Interpretationen, Fokussierungen und Bewertungen zu äußern, sondern nur insofern notwendig die Familien sachlich über relevante Entscheidungen zu informieren. Zudem wurden die Familien – über die zeitweise Beobachtung der Beobachter hinausgehend – zu teilnehmenden Beobachtern des Forschungsprozesses, als sie selbst Gespräche aufzeichneten, die sie auch abhören konnten, und über deren Anfang und Ende, gelegentlich auch ihren Abbruch, und ihre Anzahl sie über eine vorgegebene Mindestanzahl hinaus entschieden haben. Die Verwendung kritischer Informationen wurde zum einen davon abhängig gemacht, ob die Eltern und die Kinder sie von selbst, spontan, sicher und ohne Aufforderung der Forscher weitergaben, d.h. durch die Einschätzung ihrer Freiwilligkeit bzw. Intendiertheit. Dies überprüft und trainiert zugleich die eigene Wahrnehmung der Forscher in Bezug auf die Frage, welche Informationen sie als kritisch deuten. Über die Verwendung solcher Mitteilungen entschied zum anderen ihr Einfluss auf die Beobachter und ihre Relevanz für die Interpretationen. Sie sollten nur insofern in den Deutungs- und Interpretationsprozess einbezogen werden, als sie sich als unverzichtbar und prägend erwiesen. Dies wiederum überprüft zugleich die Reichweite der schon vorhandenen Interpretationen und zeigt deren Begrenztheit im positiven Sinn einer Selbstevaluation, d.h., die Beobachter haben sich zu bremsen, wollen sie die Gültigkeit ihrer Rekonstruktionen gewährleisten und von voreiligen 92
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Schlüssen über die Bedeutung des Aufgezeichneten und Beobachteten unterscheiden. Am Ende gab es keine relevanten kritischen Informationen. Für die empirische Rekonstruktion des Tischrituals empfiehlt sich eine Beobachtung vor Ort, also in der Wohnung der Familien. Dort findet nicht nur das Ritual selbst statt, sondern die Wohnung ist gleichsam die Requisitenkammer der rituellen Szenerie. Um eine Überflutung der Beobachter so weit als möglich zu verhindern und die Vielschichtigkeit des Beobachteten erfassen sowie eine möglichst detaillierte Beschreibung ermöglichen zu können, wurde der Beobachtungstypus des vollständigen Beobachters gewählt (vgl. Flick 1997: 153; nach Gold 1958). Die Beobachter nahmen – so weit als möglich – nicht selbst am Essen teil und notierten ihre Beobachtungen. Dennoch handelt es sich um teilnehmende Beobachtung im Rahmen einer offenen Beobachtung. Zum einen ist für die Frage eines Wechsels auf die rituelle Handlungseben eine Beobachtung der Zeit vor und nach der gemeinsamen Mahlzeit notwendig, zum anderen eine Beobachtung der Vorbereitungen. Auch bei großer Zurückhaltung ist hier eine Teilnahme an der Praxis der Beobachteten nicht zu vermeiden, sei es durch Gespräche, Spiele mit den Kindern oder kleine Hilfen. Die Beobachter werden zu Gästen der Familien, die ein besonderes Interesse haben und deshalb nicht mitessen, die Anwesenheit der Beobachter normalisiert sich. Darüber hinaus hat keine Familie auf eine Bewirtung ganz verzichtet, sei es durch Vorkosten, kleine Häppchen oder Getränke. Und in allen Familien wurden die Beobachter doch noch zu Tisch gebeten, sei es zum Sonntagsfrühstück bei Familie Zobel oder zu einem extra Kaffeetrinken bei Familie Maier. Darüber hinaus waren die Beobachtungen der Tischrituale gerahmt von kleineren Gesprächen mit Eltern und Kindern zwischen Tür und Angel oder durch ein anschließendes längeres Zusammensitzen bzw. Extra-Einladungen. Die teilnehmenden Beobachtungen waren von Beginn an fokussiert auf die Familienmahlzeiten. Eine Sequenzierung erfolgte zwischen den Beobachtern, zum einen aufgrund ihrer besonderen Vorlieben und Fähigkeiten. So konzentrierte sich der Beobachter auf sprachliche Interaktionen, die Beobachterin auf individuelle Bewegungsabläufe, Haltungswechsel und nonverbale Interaktionen. Beide Beobachter sammelten Notizen zur Räumlichkeit, verfolgten den Handlungsablauf insgesamt und konzentrierten sich auf Gestik und Mimik einzelner Familienmitglieder. Zum anderen wurden die Interaktionen zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Eltern, zwischen den Geschwistern und zwischen den Geschlechtern selektiv und in wechselseitiger Konzentration beobachtet. Unmittelbar im Anschluss an die Beobachtungen tauschten sich die Ethnografen über erste Wahrnehmungen, Eindrücke und Einschätzungen aus. Danach wurden innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraumes getrennte Protokolle erstellt, wofür bei Rückfragen die Notizen gegenseitig genutzt wurden. Insofern verdanken sich die Protokolle einem 93
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kompensatorischen Vorgehen. Die Räumlichkeiten wurden in separaten gemeinsamen Protokollen beschrieben, die nach und nach vervollständigt wurden. Hieraus ergibt sich die Möglichkeit, anhand der gegenseitigen Notizen eigene Wahrnehmungsfilter, Eindrücke und deren Grundlagen relativ genau zu reflektieren und detaillierte und facettenreiche Protokolle zu erstellen. Gleichzeitig führt ein Vergleich von Notizen und Protokollen zu einer Selbstevaluation der Beobachter hinsichtlich der Unterscheidung von beobachteten Fakten, gewonnenen Informationen und an die Aufzeichnung herangetragenen Interpretationen. Mithilfe der zuvor erfolgten Gesprächsaufzeichnungen erlangten die Beobachter eine relativ genaue Vorstellung vom Ablauf und der Atmosphäre der Mahlzeiten und konnten ihre konkreten Erwartungen austauschen und reflektieren. Die ersten beiden teilnehmenden Beobachtungen in jeder Familie dienten dann auch der Gewöhnung und der selbstkritischen Überprüfung der Erwartungen sowie der Festlegung weiterer Fokussierungen und Selektierungen. Hier wird eine Selbstevaluation der Beobachter hinsichtlich der Fragen möglich, inwiefern sich der tatsächliche Handlungsablauf von den Erwartungen unterscheidet, woraus die Erwartungen genau resultierten und worin der Unterschied zwischen Informationen aus den Gesprächsaufzeichnungen und den teilnehmenden Beobachtungen besteht. Darüber hinaus disziplinieren die mikroanalytischen reflektierenden Interpretationen der Gesprächssequenzen die Beobachter sowohl bei der Erstellung der Protokolle als auch bei ihrer Interpretation. Trotz aller Gewöhnung und freundlichen Aufnahme stellt die Anwesenheit von Beobachtern einen erheblichen Störfaktor dar, der grundsätzlich nicht zu eliminieren ist, womit sich die Frage nach der Natürlichkeit der beobachteten Situation stellt. Zum einen ist hier darauf hinzuweisen, dass auch Rituale dynamisch und veränderungsfähig sind, also keine stereotypen, streng konventionalisierten und erstarrten Vollzugspraxen darstellen müssen, insbesondere nicht die Familienmahlzeit, die durchaus anpassungsfähig an besondere Situationen, Bedingungen, Entwicklungen und Veränderungen ist. Insofern gleicht die Annahme einer festgefügten, unveränderlichen Natürlichkeit, die sich durch den Eintritt von Beobachtern in eine künstliche Inszenierung für die Beobachter verwandelt, eher einer Unterstellung. Zum anderen sind Rituale wiederum nicht beliebig veränderbar und deshalb einer Beobachtung in besonderer Weise zugänglich. Und gesteht man Ritualen allgemein einen Inszenierungscharakter zu, dann können bestimmte Inszenierungsmodi – und damit der Einfluss der Beobachter auf die Situation – auch unterschieden werden. Darüber hinaus besteht eine methodologische Differenz zwischen der Thematik und dem Rahmen, innerhalb dessen diese Thematik behandelt wird. Beobachtet man Handlungsvollzüge vor allem unter dem Aspekt ihrer Ausführungsweise, dann lässt sich feststellen, dass den Beobachteten ihre inkorpo94
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rierten Praxen des Sprechens und Handelns – die modi probandi des gemeinschaftlichen Lebens – in einer systematischen Form nicht unmittelbar zugänglich sind, und insofern auch in einer Beobachtungssituation nicht beliebig inszenierbar. Diese Unverfügbarkeit sichert den gewohnten Ablauf der rituellen Handlungen auf der formalen Ebene der Interaktionen. Alle beobachtbaren Störungen zeigen zudem oftmals besondere Charakteristiken des individuellen Verhaltens sowie der Regeln und Regelung der rituellen Handlungsvollzüge. Sie können wichtige Hinweise auf bisher verborgen Gebliebenes enthalten und sind sozusagen das Salz in der Beobachtung. Insofern verdient die Frage des Einflusses der Anwesenheit von Beobachtern eine besondere Aufmerksamkeit und wird zu einem durchgängigen Fokus der teilnehmenden Beobachtung. Für die dargelegten Positionen, Festlegungen und Erfahrungen bezüglich der Frage, was beobachtbar ist und wie das Beobachtete aufgezeichnet und interpretiert werden kann, erwies sich ein Beobachterteam als günstige Lösung. Die Beobachter unterschieden sich nach Geschlecht, Alter, akademischer Position und hinsichtlich eigener Familienerfahrungen. Das bietet den »Türöffnern« und »Ritualhändlern« der Familien, die für die Außenkontakte zuständig sind, wie auch den anderen Familienmitgliedern und den Beobachtern selbst unterschiedliche Anknüpfungspunkte, Bezugnahmen und Kontaktmöglichkeiten. Relative Nähe und Distanz zu den Familien und einzelnen Familienmitgliedern sind somit unterschiedlich verteilt. Ebenso führen die Distanzen zwischen den Beobachtern und ihr voneinander verschiedenes Eintauchen ins Feld zu unterschiedlichen eigenen Wahrnehmungsfiltern und Eindrücken, die sich bei gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Offenheit im Team sehr gut reflektieren lassen. Augrund der Ergebnistriangulierung werden aus den Beobachtungen weder einfache Ergänzungen der Gesprächsanalysen noch werden die Beobachtungen als grundlegender für die Fallstudie angesehen. Erst durch die Komparation der interpretierten Gesprächssequenzen, der Einzelbeobachtungen und einzelner Aspekte innerhalb und zwischen den Familien lässt sich ihr pädagogischer, ritueller Stil prägnant formulieren. Eine ethnografische Fallbeschreibung ist eine »dichte Beschreibung« (vgl. Geertz 1983: 294). In dichten Beschreibungen, die auf texthermeneutischen Verfahren beruhen und zumeist der Denkfigur des hermeneutischen Zirkels nach Dilthey folgen (vgl. Geertz 1983: 307), fließen Interpretationen immer mit ein. Das Tischritual wird dabei, und dies geschieht bereits im Laufe der Komparation und Kodierung, aus der Perspektive seiner Teile erschlossen und diese wiederum zurückgebunden, also die Teile aus der Perspektive des zunehmend rekonstruierten Ganzen gedeutet. Der Vorteil einer dichten Beschreibung liegt in der Komplexität der Darstellung, ihr Nachteil in ihrem literarischen Charakter und der damit erzeugten Wahrheitsautorität der Ethnografen (vgl. Friebertshäuser 2003: 34f.). In einer dichten Beschreibung wird der 95
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Prozess der Bedeutungsrekonstruktion nur schwer nachvollziehbar, obwohl sich dessen Komplexität wiederum grundsätzlich nur schwer und nicht in allen Einzelheiten darstellen lässt. Die sich in der Methodenliteratur findenden Auflistungen, Einteilungen, Bögen und Schemata sind deshalb eher als Hilfsmittel bei der Gewinnung einer eigenen methodischen Orientierung und als Anregung zu verstehen denn als direkt anwendbare und übertragbare Verfahrenshilfen. Dennoch erschwert eine dichte Beschreibung die Offenlegung der eigenen Verständnisweisen. Deshalb wurde hier der Prozess der Verdichtung insofern stillgestellt, als zwischen Beobachtung und Interpretationen unterschieden wird, vergleichbar mit dem Unterschied zwischen formulierender und reflektierender Interpretation in der dokumentarischen Methode. Die Relevanz einzelner Aspekte und Beobachtungen für die Rekonstruktion der pädagogischen Stile der Familien soll damit präsent bleiben. Anhand dieser ausgewählten Beobachtungen wurde dann keine »undichte«, sondern eine lineare Beschreibung des Tischrituals in den Familien Zobel und Maier (Kapitel 3 und 4) erstellt, die anschließend »reflektierend« interpretiert wird. Die für die Komparation und Kodierung besonders bedeutsamen und anhand der Deutung der Beobachtung für eine dichte Beschreibung der pädagogischen Stile relevanten Gesprächssequenzen wurden anschließend ausgewählt und eingefügt. Auf diese Weise sollen die wesentlichen Verdichtungsvorgänge transparent und schließlich die Zusammenfassung im Sinne einer dichten Beschreibung nachvollziehbar werden. Vor allem die erste Fallbeschreibung – der pädagogische Stil von Familie Zobel – ist auch eine Beschreibung des eigenen Vorgehens und daher am ausführlichsten. Die dritte Fallbeschreibung (Kapitel 5) wiederum konzentriert sich auf die Beobachtungen und geht von einer Einzelbeobachtung und deren Interpretation aus, wobei anschließend auf die anderen relevanten Beobachtungen im Zuge einer Verdichtung Bezug genommen wird, die ebenfalls in eine dichte Beschreibung münden. Anschließend erfolgt ein Vergleich zwischen den Tischritualen und pädagogischen Stilen der drei Familien, womit eine theoretische Verallgemeinerung und Definition des Tischrituals verbunden ist (Kapitel 6).
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3. Familie Zobel: Spielerische Askese beim Frühstück
Anna, Björn, Carolin, ihr Vater und ihre Mutter frühstücken jeden Tag gemeinsam. Die Zwillinge Anna und Björn sind zwölf Jahre alt, Carolin ist die Jüngste und 9 Jahre alt. Der Altersabstand der Eltern ist gering, beide sind Anfang vierzig. Beide Eltern verfügen über einen Hochschul- bzw. Fachhochschulabschluss, den der Vater über den zweiten Bildungsweg erlangte. Der Vater ist in der kirchlichen Sozialarbeit in einer leitenden Position tätig, die Mutter übt ihren im weiteren Sinne pädagogisch-medizinischen Beruf zweimal wöchentlich am Vormittag aus. Sie hat die Erziehung der Kinder zu ihrer Haupttätigkeit erkoren und bezeichnet sich nicht als berufstätige Hausfrau und Mutter, sondern benennt ihre Tätigkeit als Mutter und Hausfrau explizit als ihren eigentlichen Beruf. Sie selbst stellt diese Entscheidung als ihre eigene Wahl dar, die sie nicht näher begründet, jedoch als sinnvolle Aufgabenwahl gegen antizipierte Annahmen einer eingeschränkten, begrenzten weiblichen Lebensweise – von denen sie sich in Gesprächen mit den Beobachtern vor und nach dem Frühstück sowie im Interview wiederholt ironisch distanziert – verteidigt. Gemessen an den durchschnittlichen Haushaltseinkommen der Großstadt, in der die Familie lebt, verfügt sie über ein mittleres bis gehobenes Einkommen, dessen Höhe sich durch die Haushaltsgröße allerdings relativiert, das jedoch den Durchschnitt der in ihrem Wohnbezirk erzielten Haushaltseinkommen übersteigt. Die Familie bewohnt eine helle, geräumige Mietwohnung in einem Neubau aus den späteren Jahren des Aufbauprogramms. Jedes Kind verfügt über ein eigenes kleines Zimmer. Im größeren Arbeitszimmer des Vaters befinden sich der Familiencomputer, der vor allem von Björn genutzt wird. Darüber hinaus wird das Zimmer als Gästezimmer und für Feiern und Feste genutzt, beispielsweise für die Geburtstagsfeiern der Kinder. Die Eltern teilen sich ein gemeinsames Schlafzimmer. Das Wohnzimmer ist mit fast 35 qm das größte Zimmer der Wohnung, hier befinden sich die Sitzecke der Familie, das Klavier, an dem die Kinder tagsüber üben, sowie ein großer Esstisch. Ab ca. 97
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20.00 Uhr gehört das Wohnzimmer den Eltern allein, eine Regelung, die von der Mutter eingeführt wurde und auf deren Einhaltung sie großen Wert legt. Die Geschwister besuchen gemeinsam eine reformpädagogische Grundschule, wobei Anna im Rahmen einer Stammgruppe eine Klasse übersprungen hat, während ihr Zwillingsbruder eine Klassenstufe niedriger zu einer anderen Klasse gehört. Die Kinder erreichen die Schule in etwa 10 Minuten zu Fuß und zumeist beginnt die Schule für sie zur gleichen Zeit. Die Geschwister gehen jedoch nicht gemeinsam zur Schule, sondern jeweils getrennt mit gleichaltrigen Freunden und Mitschülern, von denen sie entweder zu Hause abgeholt werden oder mit denen sie sich auf der Straße treffen.
3.1. Das Frühstück Familie Zobel frühstückt an jedem Werktag in der Küche ihrer Mietwohnung. Die Küche ist etwa 12 qm groß und recht schmal. An der Stirnseite befindet sich ein kleines quadratisches Fenster zu einem weiträumigen und begrünten Innenhof, dessen Baumkronen in genügendem Abstand zum Haus keinen Schatten ins Fenster werfen. Das Fenster zeigt nach Osten und bei sommerlicher Morgensonne verhindert ein halb heruntergezogenes Rollo, dass die am Tisch Sitzenden geblendet werden. Der rechteckige schwarze Tisch ist vor dem Fenster mit der schmalen Seite unmittelbar an die linke Wand gerückt und an beiden Längsseiten von jeweils zwei einfachen, ebenfalls schwarzen Stühlen umgeben. In Richtung Tür befinden sich auf dieser Seite der Küche Hochschränke. Auf der anderen Seite befindet sich eine übliche, mit Kühlschrank, Gefrierfach, Herd, Spüle und Spülmaschine ausgestattete Küchenzeile mit Hängeschränken. Der Abstand zwischen Küchenzeile und Tisch beträgt lediglich 80cm. Die Küche ist weiß gestrichen und auch Korpus und Frontflächen der Küchenmöbel sind weiß, während die durchgehende Arbeitsfläche in einem steingrauen Granitmuster gehalten ist. Über dem Tisch hängt eine einfache schwarze Küchenlampe und in der Küche ist keinerlei Raumschmuck in Form von Bildern, Vasen, Blumen oder dekorativ angeordnetem Geschirr zu finden. Den einzigen Farbakzent setzt das sonnengelbe Fensterrollo, ansonsten zeichnet sich die Küche durch den starken Schwarz-Weiß-Kontrast von Tischgruppe und Küchenmöbel aus, der allerdings durch die Arbeitsfläche abgemildert wird. Die grafische Farbgebung, die klare Raumgliederung und die schnörkellosen Möbel unterstreichen den modernen, funktionalen Charakter der Küche und verleihen ihr – abhängig von den Lichtverhältnissen – eine mitunter heitere, zumeist aber kühle und fast spröde Atmosphäre. Für das Frühstück, dass ihre einzige gemeinsame Mahlzeit während der Woche ist, lässt sich Familie Zobel – im Vergleich mit den anderen beiden Familien – viel Zeit. Es beginnt mit großer Regelmäßigkeit gegen 7.15 Uhr und dauert bis fast genau 8.00 Uhr. Nachdem die Kinder geweckt sind – eine 98
FAMILIE ZOBEL: SPIELERISCHE ASKESE BEIM FRÜHSTÜCK
Aufgabe, die beide Eltern übernehmen –, sorgt der Vater dafür, dass der Tisch jeden Tag pünktlich gedeckt ist. Er beginnt mit dem Tischdecken, lässt sich jedoch manchmal von der Mutter helfen, während die Kinder zu dieser Zeit im Bad oder in ihren Zimmern sind. Wenn die Mutter beim Tischdecken hilft, räumt sie die Speisen aus den Vorratsschränken bzw. aus dem Kühlschrank und stellt sie auf den Arbeitsflächen bereit. Beide Eltern verteilen sie dann gemeinsam auf diverse kleine Teller und decken den Tisch. Geschirr und Besteck werden in der Regel vom Vater auf dem Tisch angeordnet. Die Familie verfügt über Alltagsgeschirr, das sich in der Küche befindet, und Festtagsgeschirr, das sich im Wohnzimmer befindet. Das Alltagsgeschirr ist robust, die Teller sind groß, cremefarben oder weiß und ungemustert, die Kaffeetassen der Eltern zumeist leicht gemustert oder in kräftigen Blautönen gehalten, die Trinkgläser der Kinder farblos. Auf einheitliches Geschirr wird kein gesteigerter Wert gelegt, jedoch auf einheitliche Farbgebung, nur die Kaffeetassen mit ihren jeweiligen Untertassen können sich farblich vom restlichen Tischgeschirr abheben. Der Kaffee wird ausschließlich vom Vater zubereitet, der dann auch selbst die Kaffeekanne auf dem Tisch platziert. Dieser abschließende Akt des Tischdeckens wird vollständig vom Vater bestimmt, und wenn die Mutter mit der Platzierung des Untersetzers der Kaffeekanne scheinbar einen eindeutigen Ort zugewiesen hat, so wird dieser vom Vater jedes Mal verrückt, und sei es nur um wenige Millimeter. Auf dem Tisch lassen sich folgende Speisen finden: wenigstens zwei, aber auch bis zu vier Sorten Brot, und zwar Toast, Knäcke-, Grau- oder Vollkornbrot; Butter und Margarine; Wurstaufschnitt, zumeist Mortadella und Salami; zwei Sorten Käse, wobei Camembert und Streichkäse bevorzugt werden; zumeist zwei verschiedene Marmeladensorten und eine Sorte Obst oder Gemüse, zumeist Äpfel, Gurken oder Tomaten. Diese Speisen werden von allen Familienmitgliedern gleichermaßen gegessen, wogegen von den Eltern ausschließlich schwarzer, ungesüßter Kaffee und von den Kindern ausschließlich fettarme Milch getrunken wird. Gelegentliche Nachfragen der Zwillinge, ob sie auch Kaffee trinken dürfen, werden mit einem kurzen mütterlichen Nein – unter Umständen ergänzt durch den knappen Hinweis, dass sich an der bestehenden Regel nichts geändert hat – und einem lächelnden väterlichen Kopfschütteln beschieden. In der Anordnung der Speisen fällt auf, dass der Brotkorb am Rand des Tisches und der Kaffee in der Mitte des Tisches einen festen Platz einnehmen, während alle anderen Speisen, auf diversen Tellern nach ihrer Art sortiert, unterschiedlich um diese feststehende Ordnung gruppiert werden. Die Sitzordnung am Tisch kennt ebenfalls zwei feste Säulen, denn die Mutter sitzt immer auf dem äußeren, zum Raum hin offenen Platz und mit dem Rücken zum Fenster, der Vater immer ihr gegenüber mit dem Rücken zur Tür. Die Kinder verteilen sich je nach Reihenfolge ihres Erscheinens auf 99
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den restlichen Plätzen. Wer zuletzt kommt, muss einen Stuhl aus dem Wohnzimmer mitbringen und nimmt an der schmalen Stirnseite Platz. Zumeist betritt Anna als erste die Szene und bevorzugt den Stuhl neben ihrem Vater. Daraufhin erscheint Carolin, in der Regel noch im Schlafanzug, und kriecht, falls die Mutter schon sitzt, unter dem Tisch auf den Stuhl neben ihr. So ist es meist Björn, der den Stuhl mitbringt. Während der ersten Beobachtung erschienen alle Kinder mit verschlafenen Gesichtern und noch im Schlafanzug bei Tisch, beim zweiten Mal trug Anna Tageskleidung und blieb dabei, Carolin erschien einmal in Tageskleidung, Björn ab der dritten Beobachtung. Während die Forscher während der ersten Beobachtung an den Küchenmöbeln lehnten bzw. auf der Türschwelle saßen, standen ab dem zweiten Mal Stühle für sie bereit, einer neben den Hochschränken, der andere auf dem Flur. Dieser wurde, nachdem das letzte Familienmitglied erschienen war, von den Beobachtern in die Küche vor die offene Tür gestellt. Das zuletzt in die Küche kommende Kind versuchte nicht, einen der beiden Stühle für sich zu reklamieren, und holte den am Tisch fehlenden fünften Stuhl wie üblich selbst. Nachdem der Vater nach der ersten Beobachtung darauf bestand, dass die Beobachter, wenn sie schon nicht essen würden, doch wenigstens Kaffee trinken müssten, war der Kaffee ab der zweiten Beobachtung eingeschenkt, bevor die Beobachter auf ihren Stühlen Platz nahmen, und zwar genau unterschieden nach den geäußerten Wünschen, d.h. beide Male mit Milch, aber nur einmal mit Zucker. Die Tassen standen nebeneinander auf der Arbeitsplatte direkt neben der Tür. Der Vater drehte sich jedes Mal kurz um, nickte lächelnd in Richtung der Tassen und erklärte, in welcher Tasse der jeweilige Kaffee sei. Das Tischritual scheint keinen klaren, gemeinsamen Anfangspunkt zu kennen. Der Beginn wird weder sprachlich durch gegenseitige Begrüßungsformeln oder eine Aufforderung, am Tisch zu erscheinen, oder eine gemeinsame Anfangsformel, wie »Guten Appetit!«, noch durch besondere nonverbale Interaktionen oder Handlungen eines Einzelnen markiert. Nur wenn das letzte, noch fehlende Kind auch nach fünf bis zehn Minuten noch nicht erschienen ist, ruft die Mutter laut und fragend mit seinem Namen nach ihm. Unabhängig davon, ob alle Familienmitglieder anwesend sind, die Familie also vollständig am Tisch versammelt ist, beginnen die Sitzenden zu essen – oder auch nicht, denn zwischen dem Einnehmen des Platzes und dem Beginn des Essens kann einige Zeit verstreichen, auch bei den ersten Essern bis zu zehn Minuten. Der Beginn der individuellen Nahrungsaufnahme markiert also nicht den Beginn der gemeinsamen Mahlzeit, darüber hinaus gibt es auch kein bestimmtes Familienmitglied, von dem ein Signal zum Essensbeginn ausgeht. Irgendwann in den 45 Minuten, die das Frühstück dauert, nimmt jeder etwas zu sich, ohne dass sich dabei eindeutige kollektive oder individuelle Zeitmuster zeigen. Die einzelnen Familienmitglieder beginnen jeweils in unterschiedlicher Reihenfolge mit dem Essen, der Zeitpunkt zwischen Platzeinnahme und 100
FAMILIE ZOBEL: SPIELERISCHE ASKESE BEIM FRÜHSTÜCK
Beginn der Nahrungsaufnahme ist individuell von Mal zu Mal verschieden, ebenso ihre Dauer. Es zeigen sich lediglich bestimmte Neigungen. So beginnt kein Elternteil zu essen, wenn nicht wenigstens schon ein Kind am Tisch sitzt, wenn doch, begründen es die Eltern während der Beobachtungen voreinander mit der Notwendigkeit zur Eile wegen eines frühen Arbeitstermins. Carolin zieht es vor, erst in der zweiten Hälfte mit dem Essen zu beginnen, Anna wartet meist, bis ihr Bruder anwesend ist, und die Zwillinge beginnen kurz nacheinander mit dem Essen, in wechselnder Abfolge. Dabei scheint Björn sich an seinem Vater zu orientieren. Ist der Vater mit Kaffeetrinken beschäftigt, so trinkt auch Björn zunächst ausgiebig Milch, ist der Vater mit seiner Nahrungsaufnahme bereits fertig, beginnt Björn zügig mit dem Essen, lässt der Vater sich dagegen Zeit, so lässt auch Björn sich Zeit beim Essen. Eine vergleichbare Orientierung an der Mutter war nicht festzustellen, auch nicht bei seinen Schwestern. Manchmal dauert die individuelle Nahrungsaufnahme fast über die gesamte gemeinsame Zeit bei Tisch, manchmal wird zügig gegessen. Niemand isst viel, aber alle Familienmitglieder trinken, bevor sie etwas essen und insgesamt wird mehr getrunken als gegessen. Im Verlauf des Frühstücks sorgt die Mutter – durch Ermahnungen oder gezielte Aufforderungen – dafür, dass jedes Kind wenigstens eine Scheibe Brot zu sich nimmt. Und sie mahnt auch zur Eile, falls gegen Ende der gemeinsamen Tischzeit das ein oder andere Kind noch nicht begonnen bzw. seine Scheibe Brot noch nicht aufgegessen hat. Die Nahrungsaufnahme selbst vollzieht sich ruhig und leise. Zumeist bedient sich jeder selbst, die Darreichung der gewünschten Nahrungsmittel, die vom Einzelnen nicht erreicht werden können, erfolgt ohne größeren Aufwand und vorherrschend ohne gezielte Bitten. Es fällt auf, dass nur selten gefragt werden muss, sondern das dem Gewünschten am nächsten sitzende Familienmitglied reagiert auf kleine, bittende oder auffordernde Gesten zumeist zügig, aber ohne Eile. Mitunter wird auch erahnt, was der oder die andere will, denn das Gewünschte kann bereits gereicht werden, bevor eine Geste erfolgt ist, und selten passiert hier ein Irrtum, obwohl die individuellen Nahrungswünsche von Mal zu Mal differieren. Die größte gegenseitige Aufmerksamkeit für solche Zuwendungen besitzen die Zwillinge und der zumeist zwischen ihnen sitzende Vater. Carolin als die Jüngste muss zwar den Vater nur selten bitten, ihre Geschwister dagegen gezielt auffordern. Sie selbst ist wenig mit solchen Hilfen beschäftigt, da in ihrer unmittelbaren Nähe zumeist die Marmeladen stehen, von denen wenig Gebrauch gemacht wird. Die Mutter lässt sich in der Regel bitten und ist auch diejenige, die, falls das Wort »bitte« in einer Aufforderung sowohl an sie als auch an andere nicht enthalten ist, dieses einfordert. Insbesondere Carolin wird wiederholt und mit Nachdruck von ihr zum »Bitte!« ermahnt. Das Bitte-Sagen ist zwar nicht ungewöhnlich und stellt auch nicht lediglich einen mütterlichen Inszenierungswunsch ange101
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sichts der Anwesenheit der Beobachter dar, aber die Kinder bevorzugen den Einsatz von Körpersprache, der nicht zu Irritationen beiträgt, sondern in den meisten Fällen zielsicher zum Erfolg führt. Die Zwillinge kommen der – im Vergleich zu den anderen Familienmitgliedern – besonderen Eigenart ihrer Mutter zwar entgegen, konterkarieren diese aber bisweilen und spielen damit, indem sie entweder nach einer deutlichen Pause an eine leise Aufforderung ein betontes und lautes »Bitte!« anschließen oder mit Seitenblicken auf die Mutter sich gegenseitig zuwinken und stumm, aber auffällig auf das Gewünschte zeigen, teilweise mit leicht übertriebenen Gesten und leisem Lachen, was vom Vater bemerkt wird, der eher mitspielt, als dieses Spiel zu unterbinden. Versucht Carolin ein ähnliches Spiel, reagieren die Zwillinge nicht immer. Generell sind sie jedoch allen gegenüber aufmerksam, wobei Anna diese Aufmerksamkeit auch mitten im Gespräch zeigt. Die Mutter ist aber nicht nur diejenige, die sich gern bitten lässt, sondern sie fragt die anderen auch am häufigsten nach ihren Wünschen und bietet den Kindern gelegentlich an, für sie die Brote zu schmieren. Diese gelegentlichen Angebote an einzelne Kinder rufen bei niemandem Verwunderung hervor und werden gern angenommen, ohne dass dies zu besonderen Dankbarkeitsbezeugungen führt. Außerdem gibt es weder entsprechende Bitten an die Mutter oder gar Diskussionen darum, warum sie wem dieses Angebot unterbreitet, auch Vergleiche im Hinblick auf ihre gerechte Verteilung oder sprachliche Interaktionen, die in einem solchen Angebot eine Belohnung vermuten lassen könnten, bleiben aus. Vor allem während dieser gegenseitigen Zuwendungen kommt es über dem Tisch zu gegenseitigen Körperkontakten. So sind häufige, kurze und bisweilen zärtliche Berührungen der Hände und Arme zu beobachten, die anzeigen, dass diese Zuwendungen nicht nur einen funktionalen Zweck erfüllen, sondern auch eine Hinwendung zum anderen bedeuten, denn obwohl die häufig damit verbundenen Darreichungen unangestrengt und selbstverständlich aussehen, wirken sie nicht beiläufig. Auch unter dem Tisch sind Körperkontakte recht häufig, ohne dass sie an die Hilfsleistungen über dem Tisch gebunden wären. Die Eltern sind über die längste Zeit des Essens die einzigen, die aufrecht und gerade am Tisch sitzen. Carolin sitzt die meiste Zeit stark zurückgelehnt, jedoch mit vorgeschobenem Bauch auf ihrem Stuhl und lässt die Beine baumeln, wobei sie damit am häufigsten die ihr zumeist gegenübersitzende Anna berührt, aber auch ihren Vater und schon mal die Mutter, was niemanden zu stören scheint. Zudem ist Carolins Blick häufig und über längere Zeit in die Ferne gerichtet, sie dreht auch manchmal ihren Kopf hin und her, schaukelt ab und an rhythmisch mit dem Oberkörper und summt vor sich hin. Björns Beine halten unter dem Tisch oft Kontakt zum Vater, den er beim Reden gelegentlich mit der Hand am Arm berührt und diese dort für einen Moment verweilen lässt. Manchmal schiebt er sein Bein unter dem Tisch so 102
FAMILIE ZOBEL: SPIELERISCHE ASKESE BEIM FRÜHSTÜCK
weit vor, dass er Annas Bein mit dem Fuß berührt. Allerdings sitzt Anna häufig quer auf dem Stuhl, wobei sie ihre Beine über die Armlehne in Richtung Vater baumeln lässt. Ihre Füße können über längere Zeit seinen Arm berühren. Der Vater ist der Mittelpunkt dieser kleinen Zärtlichkeiten, am expressivsten sind die Körpergesten zwischen den Zwillingen. Weder Vater noch Mutter fordern eine ordentliche Sitzhaltung ein, nicht bei der Nahrungsaufnahme und nicht beim Reden, auch dann nicht, wenn die Kinder beim Essen nicht wie gewohnt eine ordentlichere Haltung einnehmen. Aufgefordert werden die Kinder von der Mutter allerdings zum richtigen Reden. Während der Beobachtungen werden sie dazu angehalten, sich gegenseitig verbal um das Gewünschte zu bitten, obwohl eine solche Aufforderung den Gesprächsfluss kurz unterbricht. Die Aufforderung, sich gegenseitig über Sprechakte aufeinander zu beziehen, erfolgt zwar nicht ausschließlich, aber vor allem in Momenten, in denen eine leichte Gefahr besteht, dass ein Überborden von Gestik und Mimik das Gespräch behindert. Im Gespräch korrigiert die Mutter fehlerhafte Benennungen oder kleinere grammatische Fehler und hilft beim Finden der richtigen Worte, wobei die Fehlerkorrekturen eher im Stil knapper, fast beiläufiger Hinweise erfolgen, die Wortsuche eher im Stil fragender Hilfestellungen und Ratschläge. Mütterliche Belehrungen über Sinn und Unsinn sprachlicher Äußerungen erfolgen nahezu ausschließlich auf interessierte Nachfragen hin, insbesondere der Zwillinge. Hier wird die Mutter vom Vater unterstützt, wenn es um die begriffliche Bedeutung oder die Herkunft von Wörtern geht. Die Familie arbeitet während des Essens also nicht an der Sitzhaltung, die Eltern aber sehr wohl an einem verfeinerten Umgang ihrer Kinder mit Sprache. Der bei aller gestischen und mimischen Zuwendung zurückhaltende Körperstil trifft beim Essen auf einen ebenso zurückhaltenden Sprachstil, denn drastische Bezeichnungen oder größere Schwankungen in Tonfall und Lautstärke ereignen sich so selten wie ausschweifende oder platzraubende Körperbewegungen und werden, falls dies doch einmal passiert, von Mutter und Vater beiläufig korrigiert. Die körperlichen Interaktionen über dem Tisch werden während intensiver Gesprächsphasen nicht seltener, zeichnen sich aber durch eine noch größere Zurückhaltung aus. Dagegen werden die Körperkontakte unter Tisch weder von den Gesprächsthemen, ihrer Intensität oder der Beteiligung am Gespräch beeinflusst. Für eine fünfköpfige Familie ist zwar nicht erstaunlich, dass der Gesprächsfluss keine langen Unterbrechungen kennt, dass die Familienmitglieder sich dabei aber nur selten gegenseitig unterbrechen oder ein Gesprächsthema in der Regel trotz Ab- bzw. Umlenkungen und Einschüben nicht abgebrochen, sondern bis zu einem vorläufigen Ende besprochen wird, erscheint jedoch als ungewöhnlich. Ein Gesprächsthema ist dann beendet, wenn alle angesprochenen oder betroffenen Familienmitglieder sich geäußert haben. Auch wenn entsprechende Reaktionen erst 103
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spät erfolgen, müssen sie nur selten eingefordert werden. Die Gesprächsthemen werden aber zumeist zu einem schnellen Ende geführt, was weniger im Stil eines zügigen, konzentrierten Abarbeitens erfolgt, sondern eher als vertrautes, fast zufälliges Zusammenspiel, das auf einen für alle befriedigenden Schluss hin orientiert ist, wodurch der Gesprächsaufbau nicht als spiralförmiges Kreisen um wiederkehrende Themen, sondern als Abfolge thematischer Schwerpunkte organisiert ist. Die Tischgespräche werden hauptsächlich von den beiden Zwillingen und der Mutter bestritten. Zu Diskussionen im Sinne eines mehr oder weniger produktiven Streits kommt es beim Essen nicht, allerdings lassen sich Strategien einer Streitvermeidung beobachten, die von den Zwillingen ebenso wie von den Eltern eingesetzt werden, etwa indem ein konfliktträchtiges Thema auf den Nachmittag vertagt, der Wunsch auf ein Gespräch unter vier Augen geäußert oder auf eine geltende Regel hingewiesen wird. Insbesondere der Vater, der sich nur selten ausführlich an den Gesprächen beteiligt, sondern diese in der Regel lediglich mit wenigen Bemerkungen oder kurzen Kommentaren würzt, versucht entweder sachlich oder humorvoll, bisweilen auch mit ironischen Zuspitzungen die Tischgespräche zu entschärfen oder umzulenken. Streit oder Diskussionen zwischen den Eltern gibt es bei Tisch nicht, allerdings auch keine über die Darreichung von Nahrung hinausgehenden besonderen Zuwendungen oder Zärtlichkeiten. Zu den vorrangigen Gesprächsthemen gehören die Schule und die Regelung des Alltags. Insbesondere die Kinder werden dabei auf ihre konkreten Aufgaben und Pflichten individuell eingestimmt und die Familienmitglieder klären, was sie im Tagesverlauf voneinander erwarten können. Die Kinder stimmen sich auf die Schule ein, wenn sie sich gegenseitig von Lehrern und Mitschülern und von besonderen Vorkommnissen erzählen, die im Laufe des vorangegangen Tages in der Schule passiert sind oder die sie erwarten. Anna und Björn starten oft einen Wettstreit, indem sie sich gegenseitig Rätselaufgaben aus der Schule stellen oder über Hausaufgaben diskutieren. Hier entfalten sich auch Gespräche über Sinn und Unsinn schulischer Lernaufgaben oder eine Diskussion über ihr schulisches Engagement, in denen die Zwillinge versuchen, sich gegenseitig an Kompetenz zu überbieten. Mutter und Vater lassen den Wettstreit und die Diskussion um schulische Inhalte und ihre Lösung zu, die Mutter greift jedoch ein, wenn es sich um Fragen einer Haltung zu Lehrerinnen und Lehrern, zu Schulfächern und ihrer Wichtigkeit bzw. zum schulischen Lernen handelt. Die Schule als Bildungsinstitution und ihre Normen sowie die Regeln der Reformschule, die von den Kindern besucht wird, unterliegen dabei keiner kritischen oder distanzierten Betrachtung. Beide Eltern vermitteln ihren Kindern die Wichtigkeit der Institution, die Richtigkeit ihrer Normen und fordern implizit ein entsprechendes Engagement von ihren
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Kindern ein, d.h., über Schule wird beim Essen geredet, aber nur innerhalb eines von den Eltern bestimmten zulässigen Rahmens diskutiert. In diesen Gesprächspassagen fordern die Eltern nicht explizit schulische Leistungserfolge ein, sondern appellieren an die Selbstverantwortung der Kinder bezogen auf ihre Chancen und ihre Zukunftsvorstellungen, indem sie die Entscheidungen über Sinn oder Unsinn individuellen schulischen Verhaltens auf diese argumentativ ausrichten. Insbesondere die Mutter engagiert sich in diesem Sinne und kann dabei durchaus Regeln aufstellen, allerdings werden explizit aufgestellte Regeln vom Vater abgeschwächt. Damit sorgt der Vater für einen größeren Entscheidungsspielraum der Kinder und unterstützt letztlich die mütterliche Erziehung der Kinder zu Eigenverantwortung. Der Maßstab für die gelegentliche Bewertung schulischer Leistungen oder die Erfüllung der Hausaufgaben während des Tischrituals sind dann auch weniger die erzielten oder möglichen Zensuren, sondern das schulische Verhalten wird als individuelle Haltung auf die Aufgabe der Selbstbildung bezogen. In den Gesprächen über die Schule fragen die Eltern auch nach möglichen individuellen Lernschwierigkeiten, die hauptsächlich am Zeitaufwand zur Erledigung der Hausaufgaben festgemacht werden, und bieten Hilfestellung hinsichtlich der Informationsbeschaffung, Gliederung und Diskussion von Inhalten sowie Strategien der Arbeitseinteilung an. Diese Hilfsleistungen werden im Gespräch lediglich angeboten und – falls notwendig und erwünscht – wird ein Zeitpunkt für ihre Ausführung festgelegt, sie werden jedoch nicht während des gemeinsamen Essens ausführlich erläutert. Ausführliche Hilfestellung leisten die Eltern im Umgang mit Mitschülern und Lehrern, indem sie mögliche Handlungsoptionen anbieten und mit ihren Kindern gemeinsam diskutieren. Kommt es während des Tischrituals zu Unterhaltungen über Filme und Bücher, werden vor allem von der Mutter Regeln des Umgangs der Kinder mit Bild- und Textmedien aufgestellt. Diese Regeln betreffen weniger die Auswahl geeigneter Inhalte, sondern legen vorrangig den Zeitumfang fest. Dabei unterliegen ausschließlich das Fernsehen und der Computer Zeitrestriktionen, während das Lesen von Büchern lediglich an die Regel des Einklangs mit anderen Aufgaben, Pflichten und Interessen gebunden ist. Hier kann sich bezogen auf die Inhalte eine Diskussion entwickeln, in die alle Familienmitglieder einbezogen sind, bahnt sich jedoch eine Diskussion – initiiert von Anna oder Björn – über die Zeit vor dem Fernseher oder aber – immer von Björn angezettelt – vor dem Computer an, wird diese von den Eltern mit spöttischen oder kritischen Bemerkungen über deren Bildungspotential schnell beendet oder von der Mutter abgebrochen, indem sie auf ihr Recht verweist, solche Zeitregeln festzusetzen. Dieses Recht wird von ihr begründet, entweder im Rückgriff auf ihre Bedürfnisse nach eigenem Freiraum, die mit ihrer Verantwortung für die Familie in Einklang zu bringen wären, wobei sie von den 105
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Kindern Rücksichtnahme einfordert, denn sie fühlt sich von einem laufenden Fernseher tagsüber gestört, bzw. sie argumentiert mit ihrer Sorge um die Vielfalt der Interessen der Kinder. Letzteres wird vom Vater unterstützt, der insbesondere Björn auffordert, seinen konkreten Wunsch nach mehr Zeit vor dem Computer zu begründen. Ob die Zeitbegrenzungen von den Kindern eingehalten werden, wird bei Tisch nicht kontrolliert, allerdings weisen die Eltern im Falle einer sich anbahnenden Diskussion auf vergangene Regelverstöße hin. Diskussionen über Politik finden kaum statt, politische Wertungen werden nahezu ausschließlich von den Eltern vorgenommen und folgen einem sozialen Gerechtigkeitsideal, das von den politischen Entscheidungen Nachvollziehbarkeit und Sinnhaftigkeit, von den Politikern vor allem Integrität und von den von ihren Entscheidungen Betroffenen eigenes Engagement verlangt. Begründet oder näher erläutert wird dies nicht. Die Kinder stellen hier gegen Ende des Tischrituals, wenn der Vater zur Zeitung greift, gelegentlich Verständnisfragen, die vorwiegend vom Vater kurz beantwortet werden. Die Gespräche über die Regelung des Alltags sind auf die Festlegung eines Tagesablaufs ausgerichtet. Im Mittelpunkt stehen dabei der Speiseplan für das Mittag- und Abendessen und die anstehenden Aufgaben im Haushalt sowie die Abstimmung der individuellen Tagespläne. Diese Thematiken werden vorwiegend von der Mutter initiiert, indem sie die Kinder nach ihren Wünschen, Vorstellungen und Plänen fragt, deren Äußerungen sinngemäß wiederholt und sie dabei explizit mit ihren eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten vergleicht und eine Lösung vorschlägt, die sie scheinbar zur Diskussion stellt. Zumeist erfolgen aber keine Diskussionen, sondern die Mutter holt sich die Zustimmung der Kinder zu ihren Vorschlägen ein. Allenfalls kommt es zu kleineren Abweichungen. Diese konkreten Planungen sind für das Ende des Tischrituals reserviert. Das Ende des gemeinsamen Essens deutet sich auf dreifache Art an. Bezogen auf die Nahrungsaufnahme kontrolliert die Mutter, ob die Kinder genug gegessen haben, bezogen auf das Tischgespräch durch den Themenwechsel hin zur konkreten Planung des Tagesablaufs, bezogen auf die nonverbalen Interaktionen durch das Zeitungslesen des Vaters. Während der Endphase bereiten die Kinder – unterstützt von der Mutter – ihre Schulbrote zu. Die Eltern geben das Signal für das Erreichen der Endphase, wobei die zeitliche Abfolge des väterlichen Griffs zur Zeitung oder der mütterlichen Kontrolle ausreichender Nahrungsaufnahme nicht von Bedeutung ist, zumal der Vater den Tisch manchmal als erster verlässt, wenn er früher zur Arbeit muss, ohne auf sein Zeitungslesen zu verzichten, und das Essen nach seinem Weggang noch andauert. Der Griff zur Zeitung, die zumeist am Ende der Arbeitsfläche oder auf der nahen Flurkommode bereit liegt, erfolgt nicht abrupt, sondern deutet sich an, 106
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wenn der Vater seinen Teller wegstellt bzw. ein Stück nach hinten schiebt, sich erneut Kaffee einschenkt, die Kaffeetasse auf dem Tisch näher an sich rückt und sich dabei geruhsam nach hinten lehnt, wobei er seinen Stuhl ebenfalls ein Stück vom Tisch wegrückt und für einen kurzen Moment auf das Geschehen am Tisch schaut. Wenn der Vater dann die Zeitung in Händen hält, schaut er zunächst auf die erste Seite und überblättert dann in der Regel von hinten Sport-, Anzeigen- und Werbeseiten und widmet sich entweder einem Artikel auf den Kultur- oder Politikseiten oder erfasst die Artikel im Überblick. Seine Zeitungslektüre nimmt nur wenige Minuten in Anspruch und lässt sich eher als Gewinnen eines Überblicks, denn als gründliche Lektüre beschreiben. Seine kurzen Kommentare über die Themen der Artikel sind an niemanden konkret gerichtet. Unterdessen dauern die Gespräche bei Tisch an, in die der Vater in der Regel nun nicht mehr involviert ist. Er beendet seine morgendliche Zeitungslektüre, indem er die Zeitung zusammenfaltet und zurück auf die Arbeitsfläche legt oder wirft und für einen kurzen Moment weiterhin zurückgelehnt und entspannt sitzen bleibt, eventuell zur Kaffeetasse greift und nach einem letzten Schluck Kaffee entweder den Tisch verlässt oder den Kindern bei der Zubereitung ihrer Schulbrote durch kleine Darreichungen der benötigten Lebensmittel hilft. Das Zubereiten der Schulbrote erfolgt am Tisch, wobei das an der Stirnseite sitzende Kind – also meistens Björn – aufsteht und Gemüse oder Obst und die Brotdosen verteilt. Anna und der Vater helfen ihm dabei häufig. Die Kinder verlassen in unterschiedlicher Reihenfolge und Zeitabständen den Tisch und die Küche, um die verpackten Schulbrote und das Obst oder Gemüse zu ihren Schultaschen zu bringen. Schließlich trägt das Kind, das zuletzt zum Frühstück erschien, den fünften Stuhl zurück ins Wohnzimmer. Dies ist das Ende der gemeinsamen Mahlzeit. Das Abräumen des Tisches wird von Vater oder Mutter bewerkstelligt, wobei sie von Anna oder Björn unterstützt werden. Die jüngste Tochter Carolin ist dieser Aufgabe enthoben.
3.2. Erziehungsversuche Das Frühstück vollzieht sich ruhig, in der Regel konfliktfrei und in entspannter Atmosphäre, die sich während der gemeinsamen Tischzeit nahezu mühelos entfaltet. Dabei kennt das Frühstück keinen besonderen Höhepunkt oder einen Moment der Andacht. Die individuelle Nahrungsaufnahme nimmt während des gemeinsamen Frühstücks nur wenig Zeit in Anspruch und wird bei hoher verbaler Interaktionsdichte oft unterbrochen. Dies geschieht allerdings unabhängig von einer direkten Gesprächsbeteiligung, außerdem kann das Essen auch während einer thematischen Fokussierung wieder aufgenommen werden. Das Innehalten beim Essen markiert hier eine höhere Konzentration und Aufmerksamkeit der Familienmitglieder auf die Gespräche als auf die Nah107
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rungsaufnahme. Die Familie redet nicht nebeneinander her, isst im Unterschied dazu aber nebenbei. Außerdem wird auffallend wenig gegessen, im Gegensatz dazu aber nahezu ununterbrochen geredet. Die gemeinsame Mahlzeit scheint auf den ersten Blick dem gemeinsamen Gespräch zu dienen bzw. der Vergemeinschaftung im Gespräch, denn die gemeinsame Mahlzeit kennt weder lange Pausen noch lange Monologe oder die Nichtbeachtung von Äußerungen bei Tisch. Die aufeinander folgenden Gesprächspassagen können – gemessen an Sprecherwechsel, Sprechtempo, Lautstärke und Nachdrücklichkeit – kulminieren, die Dichte der verbalen Interaktionen hat jedoch nur geringen Einfluss auf die nonverbalen Interaktionen. Die gegenseitigen Zuwendungen und Körperkontakte über Tisch werden zwar relativ ruhig gestellt, jedoch nicht abgebrochen und es können neue aufgenommen werden. Darüber hinaus haben die Gesprächsintensität und die Gesprächsbeteiligung keine Auswirkungen auf die Interaktionsdichte unter dem Tisch. Insofern sind die aufeinanderfolgenden Gesprächspassagen zwar thematisch gegliedert, sie selbst gliedern jedoch die Zeit des Tischrituals nicht. Die unmittelbare Funktion der Nahrungsaufnahme steht nicht nur bezogen auf die Gespräche, sondern auch bezogen auf die Körperkontakte auffallend im Hintergrund. So gewohnt das Essen erscheint und so selbstverständlich das Frühstücken selbst abläuft, so wenig lässt sich die gemeinsame Mahlzeit allein als routinierte Speisung der Familienmitglieder bezeichnen. Die rituelle Funktion der Gemeinschaftsbildung wird sowohl am nicht abreißenden Gesprächs- als auch Berührungsfluss, in denen sich die Familienmitglieder permanent aufeinander beziehen, sichtbar. Der Vater hat entschieden, dass in der engen Küche gefrühstückt wird. Die Familie könnte mit nur geringem zusätzlichen Aufwand ebenso am großen Esstisch im gegenüberliegenden Wohnzimmer frühstücken. Ein Tablett zum einfachen und kurzen Transport des Geschirrs und der Speisen ist in der Küche vorhanden. In der Küche nimmt sich die Familie viel Zeit füreinander, gönnt sich aber nur wenig Platz. Die funktionale, klar gegliederte und nüchtern wirkende Küche wird dort zum lebendigen Ort, wo der Schwarz-WeißKontrast den Betrachtern bereits eine Fokussierung des Blicks auf das Geschehen nahe legt, wogegen nichts in der Raumgestaltung den Blicken vom Tisch eine ähnliche Fokussierung bietet. Die Familie verzichtet beim Frühstück auf jegliche sinnliche Ablenkung vom Tischgeschehen, hebt diesen Ort aber auch nicht gestalterisch hervor, etwa durch zusätzliches Licht, Tischdekorationen, Musik oder Duftkerzen. Die funktionale und relativ schmucklose Anordnung von Geschirr und Speisen auf dem Tisch entspricht dem Charakter der Küche und der Funktionalität des Essens als Anlass der Vergemeinschaftung. In diesem Raum lenkt nichts – außer der Anwesenheit von Beobachtern – von der Zusammenkunft bei Tisch ab und die Enge der Küche 108
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unterstützt die Aufmerksamkeitsfokussierung auf die sich versammelnde Familie, die in der Raumgestaltung bereits angelegt ist. Die räumliche Enge impliziert ein hohes Maß an körperlicher Nähe, die sich in den permanenten Berührungen unter Tisch verwirklicht. Die Körpergesten über Tisch signalisieren Zurückhaltung, Effizienz und Disziplin, die von den Kindern gebrochen wird durch ihre wenig aufrechte Sitzhaltung. Insofern ist unter dem Tisch eine permanente intensive Nähe möglich, während für die Körpergesten über Tisch eine intensive Nähe erlaubt ist, wenn sie nicht beim Reden stört. Die Tischplatte trennt hier Körperspiel und Körperdisziplin. Die Eltern spielen mit und halten das Spiel gestisch und verbal im Rahmen, d.h., sie bestimmen, welches Körperverhalten als angemessen gilt. Darüber hinaus rahmen sie die Interaktionen bei Tisch bereits durch ihre Platzeinnahme. Die Sitzordnung kennt zwei kanonische Sitzplätze, wobei die Eltern bestimmen, wo die Kinder sitzen können. Da die Eltern sich gegenüber sitzen und die äußeren beiden Plätze einnehmen, schließen sie zunächst räumlich den Ort des Rituals. (Auf der anderen Seite wird er von der Zimmerwand abgeschlossen.) Die beiden zuerst erscheinenden Kinder müssen sich entweder an den Eltern vorbeidrängeln oder die Eltern müssen ebenso umständlich aufstehen. Manchmal kriecht die Jüngste sogar unter dem Tisch durch. Eine für den Ablauf des Frühstücks zweckmäßigere Sitzordnung ist zumindest vorstellbar, z.B. könnten die Eltern gemeinsam auf einer Tischseite Platz nehmen, oder aber warten, bis die Kinder erscheinen. Letztere Variante würde die Kinder jedoch zwingen, pünktlich zu erscheinen, was in einer fünfköpfigen Familie den morgendlichen Zeitdruck und den Erziehungsaufwand – bspw. in Form von Ermahnungen, Kontrollen, bis hin zu Strafen – beträchtlich erhöhen und die Entfaltung einer entspannten Atmosphäre behindern könnte. Würden die Eltern auf derselben Tischseite sitzen, dann säßen sie ihren Kindern gegenüber und unaufwändige sowie im Tischgeschehen eher unauffällige ermahnende Gesten könnten nur von einem Elternteil bezogen auf zwei Kinder ausgehen. Dagegen sitzen sie, wenn das bis dahin fehlende Kind mit dem fünften Stuhl den Kreis tatsächlich schließt, im Zentrum des Geschehens, und auf beiden Seiten des Tisches ist die Generationenverteilung ausgewogen sowie – zumindest räumlich – die Möglichkeit und der Aufwand eines erzieherischen Eingreifens zwischen den Eltern gleich verteilt. Die Sitzordnung mag bezogen auf einen ungestörten Beginn der Nahrungsaufnahme hinderlich sein, sie unterstützt jedoch die Vergemeinschaftung bei Tisch. Den ersten beiden Kindern wird die Platzeinnahme erleichtert, wenn der fünfte Stuhl fehlt. Das Kleinwerden beim Kriechen oder Dünnwerden beim Vorbeidrängeln könnte zwar das Kindsein bezeichnen, doch auch die elterliche Körperausdehnung wird kleiner, wenn die Eltern ihren Kindern Platz machen, indem sie vor- oder zurückrücken oder die Beine zurückziehen. Außer109
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dem sind hier körperliche Berührungen nahezu unvermeidlich. Die erste Kontaktaufnahme am Tisch ist immer eine körperliche, die nur manchmal durch verbale Interaktionen unterstützt, niemals aber konterkariert wird. Wer zuletzt kommt, muss zunächst auf diese selbstverständlichen Berührungen verzichten und für seinen Platz bei Tisch und körperliche Zuwendungen selbst sorgen. Der fünfte Stuhl bezeichnet keinen Unterschied in der elterlichen Zuwendung, denn der Tisch ist für fünf Personen gedeckt, er erzeugt aber einen Unterschied bezogen auf die Selbstverantwortung der Kinder, und insofern wird aus dem späten Erscheinen ein verspätetes Erscheinen, das allerdings durch keine weiteren Signale gekennzeichnet wird, denn eine zuvor erfolgte mütterliche Aufforderung bzw. Ermahnung bleibt ohne weitere Konsequenzen. Die Kinder versuchen nicht, die für die Beobachter bereitgestellten Stühle zu nutzen, um sich die Aufgabe zu erleichtern. Dies ist weniger als Folgsamkeit angesichts einer bestehenden Regel oder einer drohenden Bestrafung zu verstehen, denn wer später als alle anderen kommt, darf eine umgekehrte »Reise nach Jerusalem« spielen.34 Dieses Spiel bestätigt die besondere Bedeutung des fünften Stuhls, der am gedeckten Tisch zur einzigen dinglichen Besonderheit wird und den Familienkreis endgültig schließt. Und somit trägt, wer sich bezogen auf den Zeitpunkt des Erscheinens bei Tisch die größte individuelle Freiheit erlaubt, eine große Verantwortung für die gemeinsame Mahlzeit. Sie wird durch das Tischdecken und die Platznahme der Eltern vorbereitet und beginnt allmählich mit körperlichen Berührungen, ihr endgültiger Beginn ist durch das Hinzuholen des fünften Stuhls förmlich markiert. Der Stuhl ist das Requisit, mit dem der Tisch zum rituellen Ort wird. Das Ritual beginnt also, wenn sich die einzelnen Familienmitglieder gemeinsam am Tisch versammeln und sich mit Hilfe gewohnter körperlicher Bezugnahmen einander versichern. Die einzelnen Familienmitglieder sind vollzählig erschienen und werden zu einer Gemeinschaft transformiert, d.h., die Familie erscheint in diesem doppelten Sinn vollständig bei Tisch. Auch das Ende der gemeinsamen Mahlzeit wird durch Körperhandlungen signalisiert. Die mütterlichen Hinweise auf das bevorstehende Ende sind weniger bedeutsam als der väterliche Griff zur Zeitung. Die körperliche Zurücklehnung wird zur körperlichen Zurückhaltung, denn der Vater gönnt sich hier einen Freiraum, der räumlich durch den zurückgeschobenen Stuhl und den Umfang der Zeitung markiert wird, der eine Grenze zur familiären Gemeinschaft zieht. Dabei zieht sich der Vater aber nicht vollständig vom Gespräch zurück, außerdem bleiben Berührungen durch Anna und Björn möglich. Sein Griff zur Zeitung wird zum Signal für die Kinder, der mütterlichen Aufforde34 Bei der »Reise nach Jerusalem« fehlt ebenfalls ein Stuhl. Während des Spiel verkleinert sich jedoch der Stuhlkreis nach und nach und die Mitspieler, die sich nicht rechtzeitig auf einen Stuhl setzen, scheiden aus. Bei Familie Zobel wird, wer zu spät kommt, nicht bestraft und darf den Stuhlkreis vervollständigen. 110
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rung zur Beendigung der Nahrungsaufnahme zu folgen und mit dem Zubereiten der Schulbrote zu beginnen. Hierin werden die Kinder fast ausschließlich von der Mutter unterstützt. Der Vater bestimmt den Ort der gemeinsamen Mahlzeit, bereitet das Tischritual vor, läutet sein Ende ein und verwandelt – falls sein Arbeitsbeginn es zulässt – den rituellen Ort wieder in den nüchternen Küchenraum. Er verkörpert also die zeitliche und räumliche Rahmung der gemeinsamen Mahlzeit und wird dabei von Mutter und Zwillingen unterstützt. Darüber hinaus ist der Vater für die Außenbezüge der Familie zuständig. Er begrüßt noch einmal am Anfang des Frühstücks die Beobachter mit einer persönlichen Geste. Und während der Tischgespräche sorgt er für diejenigen inhaltlichen Bezüge, die über das schulische Verhalten der Kinder hinausgehend die Familiengemeinschaft thematisch übersteigen, wie begriffliche Bedeutungen, Etymologie oder Politik, und stellt damit eine Verbindung zur Welt außerhalb von Schule und Familie her, während die Mutter Verhalten einfordert und Regeln erklärt. Explizite Regeln und kommunikative Zuspitzungen werden von ihm entschärft, womit er den Handlungsspielraum für die Familienmitglieder vergrößert, einschließlich den der Mutter, deren Verhalten sich zwar durch eine gewisse Strenge auszeichnet, die aber doch mit Humor und Lachen agieren kann. Insofern ist auch nicht von einem Gegensatz zwischen mütterlichem und väterlichem Verhalten auszugehen, sondern von einem gegenseitigen, eingespielten pädagogischen Einverständnis, in dessen Rahmen die Eltern verschiedene Aufgaben bei Tisch einnehmen. Der Vater sorgt für Entspannung und Lockerheit, womit er die ruhige und gelöste Atmosphäre des Frühstücks unterstützt und trotz seiner verbalen Zurückhaltung den Charakter der rituellen Interaktionen wesentlich beeinflusst. Andererseits sorgt er aber auch für eine sichtbare Differenz, wenn er den Kaffee zubereitet. Der Kaffee bleibt ausschließlich den Eltern und den Beobachtern vorbehalten, also den erwachsenen Personen, und wird letztendlich vom Vater – im Gegensatz zur Milch – in der Mitte des Tisches platziert. Die zentrale Platzierung des Kaffees könnte die Bedeutung von Getränken anzeigen, jedoch bleibt der Milch, die von der Mehrzahl der Familienmitglieder tatsächlich getrunken wird, nur die Arbeitsfläche vorbehalten. Zumeist reichen die Eltern – die Mutter öfter als der Vater – ihren Kindern die Milch und schenken ihnen nach, auch ohne von den Kindern dazu verbal oder gestisch aufgefordert zu sein. Damit üben die Eltern eine Kontrolle darüber aus, dass die Kinder genug trinken, und erst dadurch wird die Bedeutung der Getränke sichtbar. Das Getränk der Eltern steht im Zentrum und unterstreicht damit ihre Leistungen für das gemeinsame Frühstück – vorrangig die des Vaters – sowie gleichzeitig ihr umsorgendes und forderndes Eingreifen – vorrangig das der Mutter – bezogen auf die Ernährung der Kinder. Der Kaffee bezeichnet die Generationendifferenz zwischen Eltern und Kindern. Wenn das vom Vater 111
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zubereitete Zeichen der Generationendifferenz von ihm zentral auf dem Tisch platziert wird und er sich darüber hinaus während des Frühstücks einen besonderen Freiraum gönnen kann, wird darin seine besondere Funktion für die Familie sichtbar. Seine Autorität, mit der er die Grenzen der familiären Gemeinschaft nach außen und innen bestimmt, wird im Tischritual bestätigt, bedarf aber keiner weiteren Legitimierung. Die Auswahl der dargebotenen Speisen lässt auf das Gebot einer gesunden Ernährung schließen, das Nahrungsangebot ist abwechslungsreich, ausgewogen, fettarm und vitaminreich, ohne dass sich die Familie einen besonderen Luxus gönnt. Ein üppiges Mahl bereitet sich die Familie nicht, auch wenn das Angebot an Nahrungsmitteln im Vergleich zur Menge der tatsächlich verspeisten Nahrung üppig ist. Am Tisch wird betont, dass genug zu essen vorhanden ist. Und obwohl die Familie auf besonderen Tischschmuck verzichtet, wird die Nahrung ansprechend arrangiert, wodurch die Nahrungsaufnahme nicht nur eine Notwendigkeit darstellt, deren Erfüllung am Tisch möglich ist, sondern der Genuss am Essen betont wird. Das Essen selbst wird nicht zum Thema bei Tisch und die Selbstverständlichkeit, genügend und Gutes zu sich nehmen zu können, wird durch die Beiläufigkeit der Nahrungspräsentation und der Nahrungsaufnahme sowie zusätzlich durch die lockere Körperhaltung beim Essen unterstrichen. Dabei wird nur gegessen, was auf den Tisch kommt, ohne dass dies infrage gestellt oder eingefordert wird. Disziplinarische Eingriffe, die sich auf ein richtiges Essverhalten beziehen, finden nicht statt. Die Auswahl und das Arrangement der Speisen zeigen bereits eine Selbstdisziplin, der alle Familienmitglieder entsprechen, die eingespielt und selbstverständlich zu sein scheint und in der ein entspannter Umgang mit der Notwendigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen, möglich wird. Insofern wird aus einer gesunden Ernährung, die die Speisen auf dem Tisch darstellen, eine vernünftige Ernährung, die in eine Balance zwischen Notwendigkeit und Genuss führt, in der sich eine Disziplin entwickelt, die zügellosen Luxus oder zügelloses Verhalten verhindert. Die Zügel sind straff gespannt, werden aber nicht sichtbar, und die Vernünftigkeit des Essens trägt den Charakter einer impliziten Norm. Die hauptsächlich auf die Schule bezogene Vernünftigkeit des eigenen Wollens und Sollens dagegen wird zur expliziten Norm, aus der konkrete Verhaltensregeln abgeleitet werden können. Hierbei zeigt sich eine relative Trennung von Bildung und Schule, die als Trennung von allgemeinem Wert und konkreter Institution erfolgt. Schule erscheint notwendig für Bildung und insofern bleibt die Kritik zurückhaltend und bezieht sich nur auf konkrete Personen, insbesondere auf die Lehrerschaft. Maßstab für die Kritik an den Repräsentanten der Institution ist die Zweckmäßigkeit ihres Verhaltens bezogen auf die Bildungsaufgabe der Schule bzw. deren Interpretation durch die Eltern. Die sich aus den allgemeinen Wert von Bildung ableitenden Verhal112
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tensregeln werden begründet, und wer sie aufstellt, hinterfragt oder umgeht, wird an den Kriterien der Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit gemessen, die zum Maßstab für Schönheit und Richtigkeit werden und somit einen logisch geschlossenen Kreis erzeugen, dem sich niemand entzieht.35 Ästhetische und stilistische Merkmale sowie einfache Lust- bzw. Unlustäußerungen werden als Begründungen nicht zugelassen. Die Familie arbeitet rational an ihren Regeln, Gewohnheiten und Vorlieben. Hier wird das Bildungsgebot explizit und Erziehung als Eingreifen der Eltern sichtbar, um die Einhaltung des Gebots abzusichern. Anna folgt der Orientierung einer rationalen Begründbarkeit am ehesten, während bei Björn vor allem stilistische Kriterien den Maßstab seiner Kritik darstellen, was auch seine Mitschüler betrifft. Björn wiederholt hier die elterliche Trennung von Bildung und Schule entlang des Verhaltens von Personen in der Institution, allerdings als ästhetische Kritik und als Mittel der Distinktion, worin ihn der Vater mitunter bremst, auch wenn er Björns Humor dabei aufgreift. Der Vater nutzt seinen Humor als Instrument der Konjunktion, d.h. als entspannendes, entschärfendes Mittel, mit der aus einer räumlichen Enge eine körperliche Nähe wird, die nicht nur als bloße, unmittelbare körperliche Anwesenheit erscheint, sondern in der einfache, zärtliche Zuwendungen in ihrer Selbstverständlichkeit nicht durch verbale Konfrontationen gestört werden sollen. Die Skepsis der Eltern gegenüber elektronischen Medien wie dem Fernseher und dem Computer, ihre Vorliebe für Printmedien, die sich in den ausführlichen Gesprächen über Bücher und im Zeitungslesen des Vaters zeigen, sowie der Vorrang der Arbeit an einer korrekten und logischen Ausdrucksweise – also an der Ausbildung eines Sprachvermögens – verdeutlichen, dass es sich um eine Nähe der Eltern zu klassischen Bildungsvorstellungen handelt. Ihre Nähe zu Bildungsinstitutionen zeigt sich darin, dass sie für eine Inkorporierung von Schulnormen sorgen, indem sie deren Selbstverständlichkeit unterstreichen und die Möglichkeit von Kritik eingrenzen. Hier besteht bei beiden Elternteilen eine Koinzidenz von eigener Biografie und Familienarbeit, denn die Bildungslaufbahn und die Bildungsabschlüsse der Eltern bilden den Hintergrund und die Ressourcen, die von den Eltern bei Tisch eingesetzt werden, um ihre Kinder im Sinne einer klassischen Bildung zu erziehen. Diese Bildung bezieht sich nicht ausschließlich auf Schule, sondern wird darüber hinaus in die Familie zurückgebunden, vor allem über Freizeitinteressen – wie das Erlernen von Musikinstrumenten – und Abendgespräche mit dem Vater. Damit wird Bildung auch aus einer unmittelbaren Zweckrationalität be35 Vgl. die Sequenz »Glaslöffel« (Kap. 2.2.) Dass dies von den Kindern eingeübt und selbsttätig ausgeübt wird, zeigen nicht nur die Gesprächspassagen, sondern insbesondere ein zwei Jahre später stattfindendes Interview mit den Zwillingen über ihre Konfirmation (vgl. Audehm 2004b: 224ff.). 113
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freit, schulischer Erfolg zeigt zwar Bildungserfolge an, aber diese werden zum einen nicht ausschließlich durch Schulerfolge bezeichnet und zum anderen erscheint schulischer Erfolg vor allem als Voraussetzung und Zeichen für die Fähigkeit, sich Bildung aneignen zu können. Insofern wird Bildung von den Eltern an die Schule gebunden und über sie hinaus zur individuellen Lebensaufgabe erklärt und erhält somit sinnstiftende Funktionen. In den Tischgesprächen erscheint Schulerfolg als Zeichen von Bildung und als größere Chance auf ein sinnvolles und befriedigendes Leben. Die Beobachtungen und die Interpretation der Gesprächspassagen zeigen, dass die Zwillinge zunehmend zu eigenem Engagement und zur Selbstbewertung aufgefordert sind, während Carolin dieser Anforderung nicht ausgesetzt zu sein scheint. Ihr wird bei Tisch ähnlich wie dem Vater ein größerer Rückzugsraum zugestanden, sie besitzt mehr individuelle Zeit zum Spielen und zur geistigen Abwesenheit. Sie enthält sich weiter gehenden Äußerungen über Schulfreunde oder Schulaufgaben und wird auch nicht aufgefordert, sich an den Gesprächen über Schule zu beteiligen. Bezogen auf die Norm der Selbstbildung besitzt sie also noch einen Freiraum als Kind, während die Zwillinge schon einen gewissen Freiraum als Erwachsene besitzen, deren schulische Leistungen – sichtbar in den Schulnoten – von den Eltern nicht explizit bewertet werden, lediglich die Einstellung und das schulische Verhalten der Zwillinge stehen zur Diskussion. Dieser Freiraum führt zu einer abgegrenzten Position, denn Carolin wird zwar in den Gesprächen nicht vollständig ausgeschlossen, aber auch nicht ausdrücklich einbezogen. Am Tisch werden Schulerfolge am Gebot der Selbstbildung gemessen, wobei insbesondere die Mutter den Erfolg der Einübung dieser Norm kontrolliert. Dabei erkennt sie die Kompetenz der Zwillinge an, eigene Maßstäbe und Verhaltensweisen bezüglich dieser Norm zu entwickeln und verzichtet weitgehend auf Regelableitungen. Dies bedeutet, dass die Mutter die Zwillinge anerkennt, wenn diese die Norm der Selbstbildung anerkennen, die wiederum von der Mutter verkörpert wird. Somit verläuft die wechselseitige Anerkennung zwischen Mutter und Zwillingen entlang der gemeinsamen anerkannten Norm der Selbstbildung. Das Verhalten der Eltern und ihr erzieherisches Eingreifen sind zum einen darauf gerichtet, das schulische und familiäre Verhalten ihrer Kinder im für sie angemessenen Rahmen zu halten, zum anderen lassen sie zu, dass die Zwillinge diesen Rahmen erweitern, wenn sie ihre Eltern von der Vernünftigkeit ihrer Überzeugungen und Vorlieben sowie ihrer Verhaltensweisen überzeugen können. Erweisen sich die Zwillinge bezogen auf die Norm der Selbstbildung eigenverantwortlich und kompetent, werden sie als junge Erwachsene anerkannt. Die Kriterien der Anerkennung werden von den Eltern festgelegt, die wiederum aufgrund der sich bei Tisch zeigenden grundsätzlichen Akzeptanz der Norm der Selbstbildung durch die Zwillinge
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in ihrer Autorität anerkannt werden. Allerdings werden solche Diskussionen beim Frühstück in der Küche eher abgekürzt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie einen geringeren Stellenwert besitzen. Wären sie nur von geringer Bedeutung, dann könnten die Eltern ausführlichere Gespräche zulassen oder ihren Kindern einfach nur zuhören. Offenbar handelt es sich um ein sensibles Thema, dass die Balance bei Tisch auch gefährden kann, indem die normative Einheit der Familie aufzubrechen droht und die körperlich erzeugte Nähe der Familieninszenierung bei Tisch als gefährdet erscheint. Die Abkürzung erscheint eher als Vermeidung einer Störung der gemeinsamen Zeit bei Tisch. An diesen Abkürzungen entzündet sich jedoch kein Streit, und so wenig wie die Verpflichtung zur Kohärenz im Verhalten im Sinne eines expliziten Appells erzeugt wird, so wenig sind hier Appelle zur Einhaltung des gemeinsamen Rahmens notwendig. Die Familie verfügt offenbar über kollektive Kommunikationsstrategien, die eine explizite Appellierung, sich im Namen der familialen Einheit angemessen zu verhalten, häufig überflüssig werden lassen, denn die Familienmitglieder wissen praktisch, wann sie welches Thema wie gemeinsam besprechen bzw. vermeiden. Auffallend ist die Ausgrenzung der Arbeitswelt aus den Tischgesprächen. Im Gegensatz zu den Normen der Schule, auf die in den Tischgesprächen Bezug genommen wird, fehlt eine explizite Thematisierung des Arbeitslebens der Eltern. Damit sind die Eltern in ihrem außerfamiliären Verhalten keiner möglichen Bewertung durch ihre Kinder ausgesetzt. Diese unterliegen als Schüler einer Bewertung, wobei die Anforderungen der Schule bei Tisch mit der Familienwelt vermittelt werden, und die Kinder, wenn sie Schüler sind, auch Familienmitglieder sein sollen. Einer solchen Engführung zwischen Familien- und Schulwelt unterliegt die Arbeitswelt der Eltern nicht. Darüber hinaus erscheinen die Eltern bei Tisch auch nicht als Liebespaar. Gespräche oder körperliche Zärtlichkeiten allein zwischen den Eltern finden beim Frühstück in der Küche nicht statt. Jedoch legt die Mutter fest, dass ab 20.00 Uhr die Familienzeit vorbei ist und sie Zeit für sich und ihren Mann hat. Bis zu diesem Zeitpunkt sind Gespräche zwischen dem Vater und seinen Kindern zu beenden. Insofern besteht eine Zeitregel, die den Eltern eine gemeinsame Zeit als Paar sichert, außerhalb ihrer Aufgaben als Eltern und außerhalb eines öffentlichen Bereichs wie der Arbeitswelt. Diese Zeitregel bestimmt die Regelung des Tagesablaufs, die bei Tisch besprochen wird, und sie wird von der Mutter wiederholt. Hier zieht die Mutter eine Grenze zwischen individuellen Bedürfnissen und kollektiven Interessen, allerdings braucht es offenbar eine explizite Regel und deren wiederholte Durchsetzung, die der Mutter eine Vereinbarung ihrer Bedürfnisse als Ehefrau mit ihren Aufgaben als Mutter erlaubt. Für die Eltern existiert eine Grenzziehung zwischen ihren Familienaufgaben und einem damit verbundenen angemessenen Verhalten und ihrer Welt als Berufstätige und als Paar. Eine ähnliche Grenzziehung vollzieht das Tisch115
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ritual für die Kinder nicht. Das Verhalten der Eltern als Eltern unterliegt bei Tisch einer Bewertung durch die Kinder, insbesondere durch die adoleszenten Zwillinge, als Paar und als Berufstätige erziehen sich die Eltern bei Tisch jedoch nicht selbst und werden auch von ihren Kindern nicht erzogen. Das Tischritual lässt ihnen in ihrem Verhalten einen größeren individuellen Freiraum als Erwachsene, während der Freiraum der Kinder bei Tisch verhandelt wird. Hier wird die hierarchische Anordnung des Generationenverhältnisses aufgeführt. Der Kontrast zwischen den Eltern bezieht sich auf die Teilung der Zuständigkeit in unterschiedliche Aufgabenbereiche. Der Vater ist für die Begründung von Werten und Inhalten zuständig, die aber nur in geringem Umfang bei Tisch eine Rolle spielen und ihm nur wenig Einsatz abfordern. Die Mutter ist zuständig für die Ableitung von Regeln und die Kontrolle schulischen und außerschulischen Verhaltens, wobei der Vater dafür sorgt, dass der normative Freiraum, der zur Verwirklichung des Gebots der Selbstbildung notwendig ist, den Kindern erhalten bleibt, auch wenn er dabei die Mutter bremsen muss. Dies führt nicht zum Konflikt zwischen den Eltern, jedenfalls nicht bei Tisch, und kann verstanden werden als gegenseitige Anerkennung ihres individuellen Engagements und Bestätigung ihrer individuellen Autorität während des Frühstücks. Die gegenseitige Anerkennung der Eltern untereinander basiert auf einem grundsätzlichen Einverständnis, das entweder habitualisiert ist oder von ihnen diskursiv außerhalb der gemeinsamen Mahlzeit erzielt wird und bei Tisch ihre Gemeinsamkeit trägt. In der Gemeinsamkeit zeigt sich eine klare Aufgabenteilung: Der Vater regelt das Allgemeine, die Mutter das Konkrete und die Unterschiede in ihrem Verhalten bei Tisch lassen sich insgesamt auf diese Aufgabenteilung beziehen. Was der Vater bei Tisch verkörpert, ist das ungeschriebene Gesetz der Familie: Einer für alle und alle für einen. Die Mutter verkörpert (und verbalisiert) die Aufforderung, sich so zu verhalten, dass das Gesetz eingehalten werden kann. Die Autorität des Vaters wird bei Tisch weniger sichtbar als die Autorität der Mutter, weil das Gesetz, das der Vater in der rituellen Inszenierung verkörpert und das ihn als Garant der familiären Gemeinschaft bestätigt, als allgemeines Gesetz fungiert, das den Rahmen vorgibt für die Art und Weise, wie es bei Tisch ausbuchstabiert wird. Die personale Autorität des Vaters, die auf das Gesetz bezogen ist, tritt hinter das Verhalten der Familie bei Tisch zurück, und auch der Vater hat sich dem Gesetz zu unterwerfen, d.h., die entpersonalisierte Autorität der Gemeinschaft wird zur Kraft, die den Rahmen für die angemessene Einhaltung des Gesetztes vorgibt. Die personale Autorität der Mutter, die regelt, wie das Gesetz ausformuliert wird, ist bei Tisch deutlicher sichtbar. Doch auch sie muss sich dem Gesetz unterwerfen. Insofern stellt das Tischritual eine Relativierung der Asymmetrie der Generationenbeziehung dar, d.h. das Generationenverhältnis wird bei Tisch immer neu 116
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bearbeitet und ausgestaltet, ohne dass seine hierarchische Anordnung ganz hinter der bei Tisch normativ erzeugten Einheit der Familie zurücktritt. Ob das Verhalten der Mutter im Sinne des Gesetzes angemessen ist, wird hauptsächlich vom Vater kontrolliert, zumindest greift er ein, wenn sie beginnt, den Rahmen, den das Gesetz lässt, zu verengen. Und weil die Mutter den schwieriger auszuführenden Part übernimmt und dabei ihre Autorität sichtbarer wird, wird diese auch angreifbarer. Die Autorität der Mutter unterliegt einer stärkeren Kontrolle, auch durch die Zwillinge, wie sich in der folgenden Sequenz zeigt.
3 . 3 . W i e m ü t t e r l i c h e Au t o r i t ä t s c h e i t e r t Familie Zobel frühstückt auch am Morgen des 12. März 1999 in ihrer Küche und auch dieses Frühstück dauert über 40 Minuten. Unmittelbar nachdem der Vater den Frühstückstisch und die Küche verlassen hat, um zur Arbeit zu gehen, und kurz vor Ende des Frühstücks, das auch an diesem Tag durch das Zubereiten der Schulbrote eingeleitet wird, eskaliert ein während der Zeit der Untersuchung einmaliger Konflikt.
Transkript »Es reden mir alle ständig dazwischen«, Aufzeichnung vom 12.03.1999 (A = Anna, B = Björn (Zwillinge, 12 Jahre), C = Carolin (9Jahre), M = Mutter, V = Vater; Fett = laut; unterstrichen = betont; Einrückungen = Anschlüsse (als Unterbrechungen)) Zeilen 1-11 A Weißt du was, wir führen jetzt immer einen Wochenabgabezettel, wo wir eintragen, was wir gemacht haben und uns dann auch (unverständliches Wort) selbst bewerten und dann für, für den nächsten Tag … M Carolin! A … vornehmen, also schneller zu arbeiten oder in dem Tempo weiter arbeiten. M Ja. (2) Und? Wie geht’s dir damit? Liegste du so im, im Limit drin? C Hast du, Mami, hast du (unverständlich)… M Bist du schneller fertig? B Butterbrot, weil das ziemlich dick ist. M Ich bin jetzt noch gerade mit deiner Schwester. Es reden mir alle ständig dazwischen. Das ist eine Angewohnheit von uns fürchterlich. Zeilen 12-23 A Von uns? M Ja, das macht doch jeder. Ja, ich nehm mich auch gar nicht davon aus. Aber das ist eine schreckliche Angewohnheit. Das können wir uns mal (.) wirklich (.) ab-
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B A M B M
gewöhnen. Da muss jeder mal ein bissel mitdenken. Jetzt sag doch noch mal Anna, kriegst du es gut hin, bist du schneller, zu langsam… Butter, bitte. Ich glaub, ich schmier mir noch ein Brot. Ja. (.) Schaffst du es immer, ja? Mami … Björn, ich habe eben was dazu gesagt zum Zwischenreden, die Anna fängt kaum an, fängt der wieder an mit der Butter und dem Brot.
(2) Zeilen 24-30 B Mami, ich bin der erste, der eh, ich bin der einzige, der noch nicht die Hausaufgaben vergessen hat. A Im Halbjahr oder im Schuljahr? B Schul… C Mami… M Das ist ja ganz toll, das ich das mal höre. C Mami! Zeilen 31-44 M Ja, zum Spaßen finde ich so was nicht, macht ihr euch da ein Hobby draus. B Ha, ha, ha, mecker doch nicht immer so. A (Wird doch schon einen Brief bekommen) C (singt) M Ich darf hier wohl noch meine Meinung dazu sagen, mein lieber Sohn. B Ja. M Ja, das tue ich auch. A Ich hatte einen Alptraum. Ich hab geträumt, dass ich V. die Hand geben muss (.), war ein Alptraum. M Anna, das kannst du dir jetzt auch sparen. A Warum? M Ich hab nun gar keine Lust mehr zu reden mit dir. A Na ja, du musst ja auch nicht. M So, du machst dir das Brot jetzt selber fertig, oder wie. Die Stimmung bleibt gereizt, auch wenn Björn nach wenigen Minuten das Brot lobt, welches die Mutter eingekauft hat.
Interpretation Die Themen dieser Szene sind die Kommunikationsregeln der Familie und die Anerkennung schulischer Normen. Während des gesamten Frühstücks hat vor allem Carolin die Gespräche immer wieder durch Singen, Faxen und Zwischenrufe gestört, worauf die Mutter zunehmend empfindlich reagierte. Am Ende des Frühstücks, an dem die Kinder bereits ihre Schulbrote zubereiten, lässt sie den Konflikt eskalieren. Allerdings ist diese sprachliche Eskalation offenbar bis in die letzte Zeile gerahmt durch eine fürsorgliche Geste, denn 118
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sie scheint zunächst den Kindern ihre Aufgabe abgenommen zu haben und sie in der Zubereitung der Schulbrote zu unterstützen, was sie in der letzten Zeile einem Kind aber verweigert. Die Sequenz lässt sich unterteilen in ein von Carolin und Björn gestörtes Mutter-Tochter-Gespräch über den Wochenabgabezettel und die damit implizierten Schulnormen (Z. 1-8), in die Explosion der Mutter (Z. 10, 11), die in eine Regelaufstellung und deren Rechtfertigung zwischen den Zwillingen und der Mutter mündet (Z. 12-19), die scheitert und wiederholt wird (Z. 20-23), woran sich ein den Konflikt potentiell rettendes Gespräch im Sinne einer Umlenkung vom Konfliktthema auf das anfängliche Thema der Schulnorm zwischen einem Verursacher des Konflikts, nämlich Björn, und der Mutter anschließt (Z. 24-29). Dieses wird jedoch von Carolin gestört (Z. 30) und führt zu einer erneuten Diskussion um die Kommunikationsregel (Z.31-37), die wiederum scheitert, weil die Mutter zu einer neuerlichen den Konflikt potentiell beendenden Ablenkung nicht bereit ist, und die mit einer strafenden Aufforderung der Mutter an eines der Kinder endet (Z. 39-44). Dies ist die letzte Äußerung der Mutter am Frühstückstisch und der Konflikt bleibt ungelöst. Die Mutter explodiert, nachdem zuerst Carolin (Z. 7) und dann Björn (Z. 9) mit einer Frage bzw. Bemerkung, die sich auf das Essen bezieht, ein Gespräch zwischen ihr und Anna über die Schule stören (Z. 1-8). Carolin und Björn unterbrechen zwar nicht den Redefluss, drängeln sich mit ihren Äußerungen aber exakt in dem Moment in das Gespräch über Schule, als die Mutter ihre Perspektive auf den Wochenabgabezettel offenbart. Die Mutter schließt sich zunächst der Schilderung Annas an, die selbst den Sinn der Zettel auf das Tempo der Erfüllung der mehr oder weniger selbst gewählten Aufgaben bezog (Z. 3, 5). Allerdings spitzt sie die bis dahin neutrale Äußerung ihrer Tochter zu und fragt nicht mehr nur, ob Anna im »Limit« liegt, sondern ob sie »schneller« ist (Z. 8), was sie entweder zu erwarten scheint oder zumindest für möglich hält. Zum neuen schulischen Instrument der Selbstkontrolle der Schüler angesichts selbstgeschaffener Zeitnormen, wie es in Annas Schilderung deutlich wird, nimmt sie weder eine kritische Distanz ein noch fragt sie nach Annas Perspektive. Hier unterstellt die Mutter ein Einverständnis im Sinne einer gemeinsamen Perspektive. Ob dieses Einverständnis tatsächlich vorhanden ist, kann Anna aber weder nachweisen noch widerlegen, denn Mutter und Anna werden gestört, die Mutter explodiert und aus einem Gespräch über Schulnormen wird eine (verhinderte) Diskussion über die Kommunikationsregeln der Familie. Die Mutter kritisiert die Störenden aber nicht persönlich, sondern nimmt die Störung zum Anlass, ein ihrer Meinung nach generelles Problem der Familie zur Sprache zu bringen. Allerdings bezieht sie sich durch das »uns« in die Kritik und in die Familie ein, obwohl es semantisch unsinnig ist, dass es
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»eine Angewohnheit von uns« ist, dass ihr alle dazwischenreden (Z.10/11).36 Auch hier versucht sie mit derselben Strategie wie in der Sequenz »Glaslöffel« (Kapitel 2.2.) aus einem Problem, das vor allem sie als solches interpretiert, ein Problem aller zu machen. Annas folgende Frage zeigt, dass sie diesen Versuch erkennt (Z. 12). Die kritische Rückfrage Annas könnte den Raum für eine Diskussion über die Regel und über die Regeln ihrer Anerkennung eröffnen. Doch in ihrer Antwort versucht die Mutter, indem sie sich selbst explizit in die Kritik einbezieht (Z. 13), ihren persönlichen Wunsch erneut als Verhaltensnorm der Familie erscheinen zu lassen. Damit maßt sie sich erneut die Autorität an, über die Regeln zu bestimmen. Dabei wiederholt sie ihre Meinung, dass es eine schreckliche Angewohnheit wäre, anderen dazwischenzureden. Ihr Lösungsvorschlag heißt Abgewöhnen und Mitdenken (Z. 14 und 15). Obwohl sie zur Gesprächsnorm erhebt, dass man anderen nicht dazwischenredet, stellt sich hier die Frage, warum das so sein soll. Ohne Pause versucht sie jetzt nämlich, sich ihrer Tochter Anna wieder zuzuwenden und das Gespräch mit ihr fortzusetzen. Damit soll das angeblich familiäre Problem der Nichteinhaltung verbindlicher Kommunikationsregeln nicht diskutiert werden, sondern die Mutter fordert Gehorsam ohne Diskussion. Aus der Anrufung der Gemeinschaft durch die Mutter, mit der sie glaubt ihr Problem als familiäres Problem erscheinen lassen zu können, und aus der impliziten Auffassung, dass die Normen der Gemeinschaft gültig wären und nicht diskutiert werden müssten, wird die Anrufung der Kinder, die Autorität der Mutter zur Einforderung eines anderen Verhaltens anzuerkennen. Die Art und Weise, wie die Mutter ihre Legitimation aufbaut, würde verlangen, dass sie sich selbst an die von ihr als gültig erklärte Regel hält und abwartet, ob ihre Kinder ihr antworten, sie also nicht nur aussprechen, sondern auch zu Wort kommen zu lassen. Sonst macht die Anrufung der Gemeinschaft keinen Sinn, weil die anderen zwar zur Anerkennung der Normen der Gemeinschaft explizit aufgefordert werden, sich aber in diese Gemeinschaft, hier in das als gemeinschaftlich postulierte Problem, nicht einbringen können. An diesem Punkt scheitert die Anrufung der Mutter. Obwohl die Kinder über die Regel nicht diskutieren, halten sie diese auch nicht im Sinne der Mutter ein. Der jüngere Zwillingsbruder Björn lässt zwar die Mutter ausreden, wartet jedoch nicht ab, ob Anna zu antworten gedenkt. Er stört also das Gespräch, allerdings unter betonter, korrekter Benutzung einer anderen Sprachregel der Familie, auf deren Einhaltung die Mutter besonders achtet, nämlich 36 Dieser logische Widerspruch hebt sich auf, wenn man bedenkt, dass die Familie sich in einer Beobachtungssituation befindet und die Mutter sich vor einem Aufzeichnungsgerät in die Familie einbindet. Doch auch dies bestätigt, dass die Mutter sich eine Autorität zuschreibt, nämlich die Kontrolle und den Schutz der Familie vor virtuellen Beobachtern zu leisten. 120
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eine Aufforderung mit einem »Bitte« zu beenden (Z. 17). Er erkennt damit die Sprachkompetenz seiner Mutter und deren legitime Autorität, auf die Sprechweise ihrer Kinder zu achten, an. Seine gezielte Bitte nach dem Brot entspannt die Situation, zumindest verschafft er seiner Schwester eine Pause. Die Autoritätsanmaßung der Mutter, für die Familie allein und ohne weitere Diskussion Regeln zu setzen und zur verbindlichen Norm zu erklären, wird von ihm nicht infrage gestellt. Er reagiert inhaltlich nicht, stimmt der Mutter weder zu noch kritisiert er sie direkt, doch die betonte Umlenkung von der Schule aufs Brot lässt sich als Verweigerung einer Zustimmung zur Anerkennung der von der Mutter aufgestellten Regel verstehen. Anna benutzt diesen Einschub Björns, um ein Interesse am Essen anzumelden. Sie antwortet weder auf die Frage der Mutter, ob sie die Anforderungen des Wochenabgabezettels erfüllen kann, noch wiederholt sie ihren kritischen Einwurf (Z. 12), sondern folgt Björns thematischer Verschiebung: Sie antwortet nicht, sie kritisiert nicht, sie will noch ein Brot (Z. 18). Die Mutter bestätigt dies positiv, fragt dann aber noch einmal nach, rekurriert also weiterhin auf ein unterstelltes Einverständnis, ohne dass Anna ihr ein Zeichen gegeben hat, dass ein solches Einverständnis vorliegt. Im Gegenteil, Anna antwortet schon zum vierten Mal nicht. Dass sie von ihren Geschwistern unterbrochen wird, äußert sie nicht als ein Problem. Sie begrenzt die auf schulische Verhaltensregeln bezogene Autorität der Mutter, indem sie sich von ihr nicht kontrollieren lässt. Und Björn greift ein zweites Mal ein, indem er die auf eine Antwort wartende Mutter erneut stört (Z. 20). Er lässt sie zwar ausreden, unterbricht aber ein Gespräch zwischen Anna und der Mutter, allerdings erst nach Annas vierter Verweigerung einer Antwort. Damit hält er das Gespräch als Familiengespräch – im Unterschied zu seiner Schwester – aufrecht. Die Mutter fühlt sich von ihm gestört, da er ihre Kontrolle stört. Sie will eine Antwort von Anna, die diese ihr nicht gibt. An ihrer Stelle springt Björn ein (Z. 20). Im Sinne der Mutter verletzt er die Regel. Die Mutter interessiert sich nicht für die Butter und das Brot, für die sich ihre Kinder interessieren, was sie an dieser Stelle Björn allerdings nur unterstellt (Z. 22). Die Mutter verstößt hier, indem sie Björn unterbricht, gegen ihre eigene Regel (Z. 21/22). Das Gespräch stockt kurz, bis Björn fortfährt. Er weist seine Mutter nicht auf ihren Regelverstoß hin und setzt das Gespräch an der Stelle fort, an der zunächst Anna aufs Butterbrot umgelenkt hat, wobei er es nun seinerseits weg vom Brot wieder hin zur Schule verschiebt (Z. 24/25). Er entspricht dem Interesse der Mutter, über die Schule zu reden, und stellt hier seine besondere Leistung dar, »der Einzige« zu sein, der die Hausaufgaben noch nicht vergessen hat, was demzufolge eine Realität beschreibt, in der Verstöße gegen eine Schulnorm – das Erledigen der Hausaufgaben – nicht selten passieren. Anna reagiert auf dieses implizite Angebot nicht, dass sie nutzen könnte, wenn sie Schwierigkeiten hätte, die Anforderungen des Wochenabgabezettels zu erfül121
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len, um nun ihrer Mutter eine Antwort zu geben, die vielleicht den Wünschen der Mutter nicht entspricht. Damit zeigt sich, dass Anna nicht aus Mangel an Leistung der Mutter eine Antwort bislang verweigert hat, sondern dass das von der Mutter unterstellte Einverständnis nicht vorhanden ist. Das implizite Angebot Annas, über den Sinn des Aufgabenzettels zu diskutieren, wurde von der Mutter nicht angenommen, ebenso wenig wie der Versuch Annas, die Mutter zur Diskussion über die von ihr aufgestellte Regel zu verleiten und dieser somit eine Anerkennung auch durch die Kinder zu ermöglichen. Anna hinterfragt die Aussage ihres Bruders, was auch eine Überprüfung darstellt, wie großartig dessen Leistung tatsächlich ist (Z. 26). Hier wird deutlich, dass Anna die Schulnormen grundsätzlich anerkennt, auch wenn sie sich von der Mutter nicht kontrollieren lässt. Björn antwortet kurz, wird zwar von Carolin unterbrochen, aber die Mutter hat das Wesentliche gehört und lobt Björn ausdrücklich (Z. 29); für die Erfüllung der Schulnorm, nicht für seine kommunikative Leistung. Björn war dem Interesse seiner Mutter positiv begegnet, mit seiner Äußerung wurde Anna wieder in das Gespräch über Schule einbezogen, die sich offensichtlich nicht von ihrem Bruder gestört fühlte und deren präzisierende Nachfrage auch keine Kritik darstellt, die das Lob der Mutter verhindert oder aufgehalten hätte. Die Mutter ist besänftigt. Björn hält das Familiengespräch als solches aufrecht, gibt damit der von der Mutter aufgestellten Kommunikationsregel einen Sinn, auch wenn er nicht abwartet, ob Anna nun endlich auf die Frage der Mutter antworten würde. Die Interpretation der Mutter, dass er das Gespräch gestört hätte, ist nicht zutreffend. Gestört haben die Mutter die Bitten um Brot und Butter, die allerdings von Björn ins Spiel gebracht wurden. Der Verursacher ist richtig benannt, nicht aber die Störung. Und Björn behebt den Schaden selbst, den er für die Mutter angerichtet hat. Damit verhindert er allerdings auch eine kritische Diskussion der von der Mutter aufgestellten und als allgemein gültig behaupteten Regel, die von Annas Frage angeregt wurde. Annas kritischer Einwand auf die semantische Unsinnigkeit der mütterlichen Beschwerde bleibt bestehen und wird auch von Björn nicht unterlaufen. Nur reagiert er nicht mit Kritik, sondern mit Entschärfung auf die Anmaßung der Mutter. Er reagiert anders als seine Schwester, ohne deren kritische Frage zu kontern. Mit seiner erneuten Verschiebung des Gesprächs weg von der Kommunikationsregel und weg vom störenden Brot hin zur Schulnorm rettet er das Gespräch als Familiengespräch, weil er auf die in der Familie vorhandene Anerkennung der Schulnormen zurückgreift, jedenfalls zeigt die Passage bisher, dass er (Z. 24/25), Anna (Z. 26) und die Mutter (Z. 6, 8, 16, 19, 29) diese grundsätzlich anerkennen. Wenn Björn sich also positiv hinsichtlich der schulischen Norm, die Hausaufgaben zu erledigen, in Szene setzt, rekurriert er auf die positive Anerkennung schulischer Normen in der Familie und reinszeniert damit nach der wirkungslosen Explosion der Mutter die Familie als Gemein122
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schaft. Zwar vermeidet er mit seinen Äußerungen eine positive Sanktionierung der Autoritätsanmaßung der Mutter für die Aufstellung und Durchsetzung undiskutierter Kommunikationsregeln. Indem er aber das unterbrochene Gespräch zwischen Mutter und Tochter als Familiengespräch fortsetzt, gibt er der Regel, die anderen aussprechen zu lassen, erst einen Sinn, obwohl er – aus der Perspektive der Mutter – gegen die Regel verstößt. Die implizite Anerkennung einer gemeinschaftlichen Norm funktioniert hier trotz explizitem Regelverstoß. Außerdem wiederholt er die Anerkennung schulischer Normen und erkennt auf dieser Ebene – im Unterschied zu Anna – die Autorität der Mutter an, die für die Kontrolle der schulischen Leistungen in der Familie verantwortlich ist. Mit dieser Ebenenverschiebung bietet er der Mutter einen Kompromiss an. Dieser Verführung widersteht die Mutter nicht. In den familiären Gesprächen über die Schule kommt es oft zu einem Wettbewerb zwischen Anna und Björn. Hier unterbricht Björn das Gespräch zwischen Mutter und Tochter – nachdem Anna ein größeres Interesse am Brot als am Antworten gezeigt hat – und holt sich an Annas Stelle das Lob der Mutter ab. Anna unterstützt diesen Kompromiss, wenn sie nicht gegen den Regelverstoß Björns und das Lob der Mutter protestiert. Vielleicht kann man an dieser Stelle behaupten, dass sie den schwelenden Konflikt bereits dadurch deeskalieren wollte, dass sie die Mutter von den Störungen Carolins ablenkte, indem sie das Gespräch auf die Schule brachte und später trotz ihrer kritischen Frage auf die Explosion der Mutter nicht darauf bestand, das Problem gemeinsam zu diskutieren. Dann wären sich Björn und Anna hier einig in ihrer Reaktion auf die Stimmung und Anmaßung der Mutter. Hinter dieser Einigkeit verschwindet ihre sonst übliche Konkurrenz. Doch die von Anna und Björn wiederhergestellte, aktuell fragile Einheit der Familie wird durch Carolins erneute »Störung« und die Reaktion der Mutter sofort wieder zerstört (Z. 30). Carolin war bisher vom Gespräch ausgeschlossen, nachdem die Mutter eine Frage ihrer jüngsten Tochter (Z. 7) ignoriert hat. Nun versucht Carolin, im Anschluss an das Lob der Mutter – also nach der abschließenden Bewertung einer schulischen Leistung durch die Mutter – sich wieder ins Gespräch einzubringen. Sie hat die Mutter ausreden lassen, das Ende eines Themas abgewartet, bringt sich ins Tischgespräch ein und bietet der Mutter die Möglichkeit, ihre jüngste Tochter nicht länger zu ignorieren. Carolin verstößt nicht nur nicht gegen die mütterliche Kommunikationsregel, auch sie könnte ihr einen Sinn verleihen. Doch die Mutter empfindet dies als Störung, sie findet »so was … nicht zum Spaßen« (Z. 31). Die erneute Störung durch Carolin nimmt die Mutter nicht zum Anlass, den erzielten Kompromiss aufrecht zu erhalten, sondern indem sie alle drei Kinder generalisiert und ihnen mit dem Begriff »Hobby« die Lust auf Störung unterstellt, zieht sie eine Grenze zwischen sich und den Kindern und zeigt damit, dass sie nicht bereit ist, ihre Autorität infrage stellen zu lassen (Z. 31). 123
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Zugleich treibt sie ihre Autoritätsanmaßung weiter, denn sie maßt sich nicht nur das Recht an, Regeln aufzustellen und ohne Diskussion als verbindlich zu erklären, sondern darüber hinaus festzulegen, wann eine Störung vorliegt, also ein Gespräch nicht beendet und eine andere Frage zulässig ist, unabhängig von den Reaktionen der Gesprächspartner. Darüber hinaus untergräbt die Mutter ihre eigene Legitimationsstrategie, denn jetzt gibt sie zu, dass die Störungen ihr Problem sind. Dies ist nicht nur semantisch richtig und stellt eine indirekte Beantwortung des kritischen Einwands ihrer ältesten Tochter dar, es ist auch inhaltlich richtig, denn gestört wird ihr Interesse, von Anna eine Antwort zu erhalten. »Fürchterlich« ist also nicht, dass ihr »alle ständig dazwischenreden«, was die Kinder in dieser Passage weder ständig und die Zwillinge im Grunde gar nicht tun, fürchterlich ist, dass sich Anna nicht kontrollieren lässt und zudem den Sinn ihrer Explosion hinterfragt. Außerdem verweigert die Mutter ihren Kindern die Anerkennung einer Kompetenz, nämlich der von der Mutter aufgestellten Regel zu folgen, indem sie ein durch die Mutter gestörtes Familiengespräch im Fluss halten und sich dabei gegenseitig das Recht zuerkennen, sich ohne Aufforderung ins Gespräch einzubringen. Nun ist auch Björn nicht mehr kompromissbereit und verschiebt die Thematik erneut, indem er die Art und Weise kritisiert, mit der die Mutter generell ihre Autorität bezüglich der Legitimierung und Anerkennung familiärer Normen durchsetzt: Sie »meckert« ihm zu oft. Daraufhin begibt sich die Mutter in eine Verteidigungshaltung (Z. 32). Björns kurzes »Ja« erkennt die Forderung der Mutter an, sie dürfe ja wohl noch ihre Meinung sagen. Diese Regel gilt für alle und die Mutter erhebt sich hier nicht als Autorität über die Kinder. Aber die Mutter muss das letzte Wort behalten. Dies ist ihr letzter Versuch, ihre Autorität durchzusetzen. Als Anna auf den noch immer ungelösten Konflikt ihrerseits mit einer Themenverschiebung reagiert, weist die Mutter beleidigt das Gespräch mit ihr zurück (Z.40). Nachdem ihre Strategie nun endgültig gescheitert ist, kann die Mutter diese Verschiebung nicht mehr positiv sanktionieren. Anna kann sich »jetzt auch sparen« (Z. 40) von einem Traum zu reden, nachdem sie die aus Sicht der Mutter eintretenden Störungen des Gesprächs durch ihren Zwillingsbruder und ihre jüngere Schwester implizit positiv sanktioniert hat, denn sie hat der Mutter ihre Frage noch immer nicht beantwortet. Die Mutter war nicht in der Lage, ihr Interesse an Annas Antwortet klar zu formulieren; sie erkennt den Interessengegensatz zwischen sich und ihrer ältesten Tochter nicht an und beharrt auf einer Autoritätsanmaßung, die von ihren Kindern nicht akzeptiert wird. Der Konflikt bleibt ungelöst, die Stimmung bis zum nahen Schluss schlecht und ihre Weigerung, einem der Kinder das Schulbrot zuzubereiten, stellt sie außerhalb der Tischgemeinschaft. Björn scheint sich sein Schulbrot selbst zubereitet zu haben, weil er so dezidiert nach Butter und Brot fragte. Anna könnte sich ihr Schulbrot selbst zu124
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bereitet haben, jedenfalls wollte sie sich »noch ein Brot« (Z. 18). Die Mutter verweigert entweder der sich ihrer Kontrolle entziehenden Anna oder der ihr Kontrollinteresse störenden Carolin, ihr Schulbrot fertig zuzubereiten. Björns Äußerungen in dieser Passage des Tischgesprächs haben die Mutter am wenigsten gestört. Er greift ein letztes Mal befriedend ein, indem er die Kompetenz der Mutter anerkennt, gut für die Familie zu sorgen, denn sie hat das gute Brot, das sie nun zwar nicht mehr für eines der Kinder belegen will, besorgt.
Zusammenfassung Die Strategie der Mutter scheitert, sich die Durchsetzung von Geltungsansprüchen anzumaßen. Obwohl Björn das Kontrollinteresse der Mutter positiv beantwortet, bezieht ihn die Mutter in die Behauptung, die Kinder würden das Tischgespräch stören, ein. Die Mutter ist nicht in der Lage, die Interessen ihrer Kinder anzuerkennen; nicht Annas Interesse, sich der Kontrolle der Mutter zu entziehen und Regeln zu diskutieren, die von der Mutter zur Norm erhoben werden; nicht Björns Interesse, den Konflikt zu entschärfen; ebenso wenig Carolins Interesse, sich am Gespräch zu beteiligen. Die Mutter verfehlt in ihren Reaktionen auf die Einschübe, Umlenkungen und Äußerungen ihrer Kinder, die verhindern, dass die Mutter ihrem eigenen Interesse folgen kann, nicht nur die unterschiedlichen Perspektiven ihrer Kinder im Gespräch, sondern sie verfehlt auch den Sinn der von ihr aufgestellten Regel. Es sind Björn und Anna, die hier ihre Kompetenz unter Beweis stellen, über Ebenen- und Themenverschiebung Räume für Kompromisse zu eröffnen. Die Autorität der Mutter kann teilweise anerkannt werden, zum einen über die Anerkennung ihrer Sorge um das leibliche Wohl der Kinder, obwohl die Mutter am Ende selbst dieser Anerkennung eine Absage erteilt hat, zum anderen über die gemeinschaftliche Anerkennung schulischer Normen in der Familie, deren Durchsetzung und Kontrolle zu den Aufgaben der Mutter gehört. Die Strategie der Mutter zur Durchsetzung ihrer Autorität gegen Annas Perspektive, die darin besteht, das Gesprächsverhalten ihrer Kinder zu kritisieren und eine allgemeine Regel für gültig zu erklären, sich also eine andere Autorität anzumaßen, indem sie unhinterfragt den Gehorsam der Kinder implizit einfordert, wird von den Kindern durchschaut und von ihnen zurückgewiesen. Anna versucht dies kurz explizit, ansonsten gelingt dies den Kindern über die Ebenenverschiebung. Es ist nicht die Kommunikationsregel, der die Kinder eine Anerkennung verweigern, denn sie beweisen ihre Kompetenz, trotz der Autoritätsanmaßung der Mutter der Regel einen eigenen Sinn zu verleihen und sich diesen nicht allein von der Mutter vorgeben zu lassen. Die Kinder weigern sich aber, der Regel zu folgen, wenn diese dafür herhalten muss, dass die Mutter sich das Recht anmaßt, aus einer für sie existierenden Störung ein Problem der Familie zu machen. Die Mutter verstößt – im Gegen125
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satz zu ihren Kindern – gegen den Sinn der von ihr aufgestellten Regel. Dieser Verstoß wird von den Kindern nicht legitimiert und die Mutter bedroht die Einheit der Familie, weil es ihr nicht gelingt, der Konfliktlösungsstrategie ihrer Kinder zu folgen.
3.4. Der sonntägliche Umzug ins Wohnzimmer Am Wochenende frühstückt Familie Zobel im Wohnzimmer. Das Frühstück selbst beginnt zwei Stunden später und dauert etwa eine Stunde. Auch das Wohnzimmer fällt zunächst durch seine fast spartanische Einrichtung auf, was zusätzlich dadurch unterstrichen wird, dass sich keine Bilder an den mit weißer Raufaser tapezierten Wänden befinden. Das weiträumige Wohnzimmer ist ca. 35 qm groß und in die zwei etwa gleichgroßen Ess- und Sitzbereiche unterteilt. Die Familie nimmt sich am Wochenende also nur unwesentlich mehr Zeit, dafür aber mehr Raum. Der Essbereich wird beherrscht vom großen ovalen Tisch mit sechs Plätzen. Eine Mahlzeit an einem runden – wenn auch nicht kreisförmigen – Tisch unterstreicht die Ordnung der Gleichheit, da alle Beteiligten vom Mittelpunkt etwa gleich weit entfernt sind. Während der Familienkreis in der Küche durch die Hinzunahme des fehlenden fünften Stuhls geschlossen wird, ist er im Wohnzimmer durch die »fehlende« Person auf dem sechsten Stuhl geöffnet. Traditionell stellt der Kreis bzw. das Oval eine von der übrigen Welt abgegrenzte Gemeinschaft dar und sichert so die zentripedalen Kräfte des Sozialen. Hier bleibt die Runde geöffnet und fordert ein stärkeres Engagement ein, da sich die Familie nicht auf die enge funktionale Rahmung des rituellen Ortes und der rituellen Zeit an Werktagen verlassen kann. Die größere räumliche Freiheit stellt also eine größere normative Freiheit dar, die mehr vom Einzelnen bezogen auf die Gemeinsamkeit der Familie bei Tisch fordert. Insofern erzeugt der sonntägliche Umzug ins Wohnzimmer mit seinen räumlichen und zeitlichen Aspekten einen Solidaritätsrahmen. Der Umzug ins Wohnzimmer trägt selbst rituellen Charakter, er wird wiederholt, ist für die Familie selbstverständlich und gilt allen als notwendige und unverzichtbare Handlung. Dass die Kinder sonntags nicht mehr in Nachtkleidung bei Tisch erscheinen, ist nicht die Regel und kann als Reaktion auf die Anwesenheit der Gäste interpretiert werden. Die Forscher waren hier zum Frühstück eingeladen und haben die Perspektive der vollständig teilnehmenden Beobachter eingenommen und mitgefrühstückt. Die folgenden Aussagen zum sonntäglichen Frühstück basieren auf eigenen Beobachtungen, Antworten der Familienmitglieder auf Fragen nach Regelmäßigkeiten des sonntäglichen Frühstücks bzw. nach Unterschieden zur Beobachtungssituation und auf der Interpretation von Tischgesprächen, die von der Familie sonntags aufgezeichnet wurden. 126
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Sonntags deckt die Familie den Tisch gemeinsam, wobei die Kinder sich nach und nach beteiligen. Im Unterschied zur asketischen Raumgestaltung ist der Tisch liebevoll gedeckt mit einer Tischdecke, einer dicken weißen Kerze, einem mit einem Tuch ausgeschlagenen Brotkorb, mit Monogrammen versehenen Stoffservietten und Geschirr, das nicht zum Festtagsgeschirr der Familie gehört, sondern auch während der Woche benutzt und aus der Küche geholt wird. Am Wochenende überwiegt – im Gegensatz zum Frühstück in der Küche – das große, robuste, bunte und farblich aufeinander abgestimmte Geschirr. Die Auswahl der Speisen unterscheidet sich nicht wesentlich von der des werktäglichen Frühstücks, allerdings werden sonntags zusätzlich gekochte Eier und frische Brötchen gegessen. Die gemeinsame Mahlzeit beginnt hier bereits durch die Platzeinnahme, die sehr zügig und nahezu gleichzeitig geschieht, sowie durch die sprachliche Formel »Guten Appetit!«, die aber nicht von allen ausgesprochen wird. Wer diese Formel nicht sagt, bewundert die frischen Brötchen oder die Tischgestaltung, auch wenn dies schon beim Tischdecken Gesprächsthema war. Björn fragt regelmäßig danach, wie die Eier gekocht wurden, falls er deren Kochzeit nicht ohnehin kontrolliert hat. Das Essen selbst findet eine höhere Aufmerksamkeit. Während Björn sich um die Qualität des Essens kümmert, beschränken sich Anna und Carolin darauf, die Auswahl der Speisen mitzubestimmen, nicht nur, indem sie sagen, was sie gern essen wollen, sondern indem sie am Ende des Tischdeckens kontrollieren, ob ihre bevorzugten Speisen auf dem Tisch zu finden sind, und diese gegebenenfalls aus der Küche holen. Die Kinder sind also am Wochenende zum einen an der Sorge ums Essen und an der Vorbereitung des Tischrituals beteiligt, zum anderen unterstreichen die verbalen Interaktionen am Beginn des gemeinsamen Essens die Bedeutung des gemeinsamen Tischdeckens. Darüber hinaus findet im größeren Raum das Essen selbst eine höhere Bedeutung, es wird im Unterschied zum Frühstück in der Küche zum Thema des Tischgesprächs. Wenn der Tisch gedeckt ist, sind bereits alle Familienmitglieder vollzählig versammelt und die Familie als Gemeinschaft vollständig im Raum anwesend. Während in der Küche die räumliche Enge und körperliche Nähe durch die gegenseitigen Berührungen bei der Platzeinnahme und die umgekehrte »Reise nach Jerusalem« symbolisch aufgeladen werden, wird sonntags die Konzentration auf die Gemeinschaft bereits im sozialen Akt des Tischdeckens erzeugt. Sonntags lässt eine kollektive Handlung in einem räumlich erweiterten Rahmen den Tisch zum rituellen Ort werden, mit der die einzelnen Familienmitglieder ihre gleichrangige Bedeutung für die Familie erfahren. Insofern repräsentiert der von allen gemeinsam gedeckte Tisch im Wohnzimmer eine gemeinschaftliche Ordnungsleistung, die aus einer tabula rasa eine tabula composita macht, an der die Generationendifferenz – als unterschiedliche
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Sorge ums Essen und als unterschiedlicher Einsatz für die Familie – durch ein gemeinsames rituelles Engagement aufgehoben wird. Trotz des Unterschieds zwischen kollektivem Akt und individuellen Handlungen, die das Ritual jeweils einläuten, ist auch sonntags die Aufmerksamkeitsfokussierung gleichbleibend gerahmt. Die Intimität der Essgemeinschaft in der räumlichen Enge eines funktional und farblich abgesetzten und fokussierten Bereichs durchbricht wochentags die Funktionalität der Küche, darüber hinaus wird die Konzentration der Essgemeinschaft auf sich selbst durch den Verzicht auf jegliche sinnliche Ablenkungen vom Tischgeschehen unterstützt. Auch sonntags sind alle sinnlichen Reize auf dem Tisch platziert und werden zu Anreizen für die gemeinsame Mahlzeit, auch hier gibt es also außerhalb der räumlichen Fokussierung keine Ablenkungen. Zudem betonen die Klarheit der Raumgliederung, die durch die Anordnung der Möbel und die Farbkontraste erreicht wird, die Kargheit des Raumschmucks sowie die insgesamt zurückhaltende Farbgebung die Funktionalität von Küche und Wohnzimmer und bieten trotz aller Unterschiede einen strukturell gleichbleibenden räumlichen Rahmen für das in ihnen vollzogene Tischritual, in dem Nähe, Zuwendung, gegenseitige Sorge und Unterstützung sowie Verhaltensgewohnheiten und Regeln erzeugt, wiederholt, stabilisiert und beglaubigt werden. Der Umzug der Familie von der Küche ins Wohnzimmer lässt sich als Wiederholung des räumlich Gleichen interpretieren, in der die Konzentration auf sich selbst zum Ausdruck kommt. Bezieht man den jeweiligen Kontrast zwischen der funktionalen Raumgestaltung und der intimen Atmosphäre der Essgemeinschaft zudem auf die Formen, in denen sich die Familie als Gemeinschaft präsentiert, so wird deutlich, dass die strukturelle Gleichheit von Küche und Wohnzimmer eine Isotropie nahe legen, die den Einzelnen eine gleichbleibende Ordnung vermitteln. Wo immer sich die Familie aufhält, sie findet räumlich gleichbleibende Bedingungen vor, welche ihre Identität als Gemeinschaft nicht in Frage stellen. Insofern speist sich die Identität der Familie nicht allein aus gemeinsamen Traditionen, Erinnerungen, Werten und Erfahrungen, die in den sonntäglichen Tischgesprächen einen höheren Stellenwert besitzen, sondern sie wird darüber hinaus durch die Erfahrung gleichbleibender Räumlichkeiten vermittelt. Diese Einheitlichkeit lässt aber auch bedeutsame Kontraste zu, denn die strukturell gleichbleibenden Räumlichkeiten und das strukturell gleichbleibende Ritual wirken identitätsstiftend, unterscheiden sich jedoch durch einen unterschiedlich großen normativen Spielraum. In der Mitte des Tisches steht sonntags nicht der Kaffee, sondern die Kerze, die als eine sinnliche Aufmerksamkeitsfokussierung auf das Geschehen bei Tisch allerdings nicht notwendig zu sein scheint, sie wird nämlich nicht angezündet. Damit ersetzt die Kerze, die in der Mitte eines ovalen Tisches die relativ gleichweite Entfernung aller von der Mitte betonen könnte, zwar das 128
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Zeichen der Generationendifferenz, sie erlangt jedoch keine Geltung als Zeichen einer Gleichheit. Zudem bekommt Björn vom Vater die Erlaubnis Kaffee zu trinken, allerdings wird dieser vom Vater mit viel Milch verdünnt und dem Sohn mit der Bemerkung gereicht, dass dies eine Ausnahme darstellt und nicht als Regeländerung zu verstehen sei. Zum einen wird damit die Bedeutung des Vaters für die Gemeinschaft bestätigt, denn er bleibt für die Grenze zwischen den Generationen zuständig, die wochentags durch den Kaffee gezogen wird. Zum anderen verdeutlicht die väterliche Erlaubnis, dass die Eltern den Möglichkeitsrahmen für die Auswahl an Getränken vorgeben und sich die Kompetenz zuschreiben, diesen Rahmen gegebenenfalls zu erweitern. Die hierarchische Anordnung des Generationenverhältnisses bezieht sich hier lediglich auf den Kompetenzunterschied zwischen Vater und Sohn und erscheint zwar als Voraussetzung für die Aufhebung der Grenze zwischen den Generationen. Weil sich hier aber ein Verbot, das werktags eine Grenze zwischen den Generationen zieht, in eine Erlaubnis verwandelt, mit der die Grenzziehung aufgehoben wird, bleibt das Generationenverhältnis zwar asymmetrisch angeordnet, doch die väterliche Erlaubnis lässt die Hierarchie zwischen den Generationen zum Verschwinden kommen. Sonntags fehlt auf dem Tisch nicht nur das Zeichen der intergenerativen Grenze, an einem Sonntag hebt die Autorität des Vaters die Generationendifferenz bei Tisch auf. Während des Tischdeckens wurde die Familie gebeten, sich ohne Rücksicht auf die Beobachter an den Tisch zu setzen. Die Beobachter übernahmen es, für einen noch fehlenden Stuhl zu sorgen, und nahmen dann auf den frei bleibenden Stühlen Platz. Die Mutter nimmt den Platz unter dem Fenster und gegenüber der Tür ein. Links neben ihr sitzt der Vater und es folgt Carolin. Rechts von der Mutter sitzen Björn und dann Anna, sodass der sechste Platz gegenüber dem Fenster frei bleibt und keines der Familienmitglieder mit dem Rücken zur Tür sitzt. Das Nebeneinanderrücken der Eltern ermöglicht die Darstellung einer intragenerativen Gemeinschaft ohne festgelegtes elterliches Zentrum und unterstreicht die Auflockerung des Generationenverhältnisses am Wochenende. Die Sitzordnung am Wochenende unterbricht die Normativität des unmittelbaren körperlichen Miteinanders um ein elterliches Zentrum zugunsten eines dezentrierten, mittelbaren körperlichen Nebeneinanders. Die Gleichheit bei Tisch wird bisher bestimmt durch die Gleichwertigkeit des Engagements für die Tischgestaltung, das Fehlen des Zeichens der Generationendifferenz auf dem Tisch und seine Aufhebung als intergenerative Grenze sowie das Nebeneinander der Generationen am Tisch. Die Auflockerung des Generationenverhältnisses zeigt sich darüber hinaus in einer nachlassenden disziplinarischen Strenge der Tischgespräche. So rahmt die Mutter bspw. ihr Bedürfnis nach Anerkennung und die damit verbundene Verhandlung über väterliche Schuld als Quizspiel, in der die Generationendifferenz zwar nicht ausgesetzt wird, die Kinder – insbesondere die Zwillinge – aber 129
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verantwortlich werden für die Herbeiführung einer Lösung (vgl. Kapitel 2.2.). Hier zeigt sich im Unterschied zum Frühstück in der Küche, dass am Wochenende Differenzen zwischen den Eltern zugelassen werden. Insofern enthält die größere normative Freiheit auch die Gefahr, dass innerfamiliäre Konflikte am Wochenende eine größere Rolle spielen können. Dieser Gefahr wird dadurch begegnet, dass die mütterliche Strenge keine normative Fokussierung erfährt, denn unmittelbare Verhaltensregeln bei Tisch oder Verhaltensaufforderungen bezogen auf die Schule werden sonntags nicht zu Themen des Tischgesprächs. Außerhalb originärer Familienthemen erhält die normative Expressivität der Mutter keinen Rückhalt und die Mutter verhält sich sonntags anders als in der Woche. Einerseits regelt, fordert und korrigiert sie weniger, andererseits erklärt und begründet sie mehr, sie lässt ihren Kindern mehr Zeit, um sich auszudrücken und Fragen an die Eltern zu stellen, und hört ihnen geduldiger zu. Die großen Themen – wie Fragen zur eigenen Familiengeschichte, zu Politik und Religion – bleiben dem Vater überlassen, allerdings mit einer Ausnahme, nämlich wenn Fragen der Bildungslaufbahn oder der Organisation und Bedeutung schulischen Erfolgs zum Thema werden (vgl. Audehm/Zirfas 2005). Doch auch hier wirkt die Mutter entspannter und zurückhaltender und verbindet ihre Ausführungen nur gelegentlich mit kurzen Verhaltensaufforderungen, die wie gewöhnlich durch den Vater, aber auch durch Björn humorvoll entschärft oder ironisch konterkariert werden, was die Mutter nicht nur geschehen lässt, sondern durch ihr eigenes, sonntags häufiger zu hörendes Lachen positiv sanktionieren kann. Bezogen auf ihre Aufgaben in der Familie und ihre Rolle in den Tischgesprächen, gesteht sie sich selbst sonntags also einen größeren Freiraum zu, den ihr die weniger enge funktionale Rahmung der gemeinsamen Mahlzeit auch erlaubt. Der Vater tritt als Garant der familiären Gemeinschaft sonntags anders in Erscheinung als beim Frühstück in der Küche. Sonntags beteiligt er sich aktiver an den Gesprächen, ist mitteilsamer, unterhaltender und erklärender. Allerdings bleibt er zurückhaltend, wenn es um Fragen der Haushaltsführung geht und bestätigt damit die Teilung der Aufgabengebiete zwischen den Eltern. Die Regelung des Haushalts, einschließlich der Frage nach Gerechtigkeit im Haus(halt), bleibt das Revier der Mutter, was vom Frühstück am Wochenende bestätigt wird, denn sonntags sind andere Themen, die den alltäglichen Erfahrungsbereich der Familie und der Kinder – also einschließlich unmittelbarer schulischer Anforderungen – übersteigen, von größerem Gewicht, womit der Kontrast zwischen den Eltern auffallend wird, der sich im individuell typischen Zusammenhang von Thematiken und Sprachverhalten zeigt. Nimmt man die Gesprächsbeteiligung – also Häufigkeit und Länge der sprachlichen Äußerungen – und den Charakter der sprachlichen Äußerungen – wie Neugier, Interesse, Aufgeschlossenheit, Entspanntheit, Humor – zum Maßstab, dann sind sich die Eltern in ihrem Sprachverhalten allerdings ähnlicher als 130
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während der Tischgespräche in der Küche. Insofern werden sonntags die Unterschiede zwischen den Eltern nur dann sichtbar, wenn die Themen der Tischgespräche die unterschiedliche Aufgabenteilung verdeutlichen. Im verbalen Verhalten dagegen treten die individuellen Unterschiede zwischen den Eltern zurück, denn die Mutter nähert sich dem Verhalten des Vaters an. Der grundsätzliche Kontrast zwischen den Eltern betrifft weniger die Orientierung an Werten wie Gerechtigkeit, Zuwendung, Nähe, Unterstützung und Verantwortung, sondern eine unterschiedliche Perspektive auf die Notwendigkeit und den Inhalt von Regeln, die diesen Werten entsprechen, bzw. an Verhaltensmodellen, die diesen Werten Geltung verleihen und sie real werden lassen. Beide Eltern zielen auf Koinzidenz zwischen Überzeugung und Verhalten, wobei werktags eher die Verhaltensregeln – also der Aufgabenbereich der Mutter – zum Tragen kommt, während sonntags allgemeine moralische, politische und kulturelle Werte – also der Aufgabenbereich des Vaters – eine größere Rolle in den Tischgesprächen spielen, wobei die Familie sich sonntags mehr Zeit nimmt, einen Zusammenhang zur Familie, zu den Vorstellungen, Orientierungen und Wissensbeständen der Familienmitglieder herzustellen, also familientypische Orientierungen auszubilden. Familientypisch ist für Familie Zobel dabei, dass die Eltern kein vorher festgelegtes oder regelmäßiges Bildungsprogramm für die Kinder abspulen, sondern sich an den Fragen, Wünschen und Themen ihrer Kinder orientieren und auf diese auch dann eingehen, wenn sie zunächst wenig zu antworten wissen oder die Fragen unbequem werden, weil die Kinder Dinge diskutieren, mit denen die Eltern sozial, kulturell oder finanziell herausgefordert werden – wie z.B. Kleidungs- und Reisewünsche, erste Partys mit Gleichaltrigen oder Besuche von Freunden, der schon vom Frühstück in der Küche bekannte Umgang mit Fernseher und Computer oder das Taschengeld. Die Eltern stellen sich diesen neuen Herausforderungen, die bestehende Regelungen oder Gewohnheiten in Frage stellen, jedoch existiert ein vorgegebener Rahmen des Erlaubten. Vorgegeben ist er, weil er von vornherein bestimmt, was bei Tisch bis zu welchem Punkt verhandelbar ist. Diskussionen vermeidet die Familie sonntags nicht, aber diese tragen eher den Charakter von ruhigen Erklärungen und ausführlicheren Erörterungen, womit die Diskussionen in der Küche auf Grund der Knappheit der vor allem mütterlichen Einwürfe und Bescheide als verkürzt erscheinen. Allerdings wird auch sonntags Streit vermieden. Die beiden häufigsten Strategien der Streitvermeidung in der Sonntagsrunde sind zum einen der Ausschluss von einzelnen und bereits im Vorfeld bekannten problematischen Fragen und zum anderen das Ausweichen auf einen Zeitpunkt außerhalb der Tischzeit. Vor allem die Mutter regelt – unterstützt vom Vater – den Ausschluss heikler Themen aus den Tischgesprächen, wenn diese auf die Regelung des Familienalltags bezogen sind. So muss der Vater sonntags seinen Humor weniger einset131
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zen, um von drohenden Konflikten abzulenken und beginnende Zuspitzungen zu entschärfen, und kommt in den Gesprächen ausführlicher zum Zuge. Die Zwillinge erhalten ebenfalls einen größeren Spielraum, den sie verstärkt nutzen, um vorbeugend Lösungsmöglichkeiten potentiell konfliktträchtiger Themen zu testen, wobei sie die Unterschiede zwischen ihren Eltern wiederum geschlechtsspezifisch wiederholen. Anna versachlicht und regelt, Björn vermeidet Konfrontationen und entschärft. In den Gesprächen selbst tritt die explizite Normativität hinter eine implizite Normativität zurück, vor allem weil die Mutter sich weniger disziplinarisch verhält. Mit dem präventiven Ausschluss heikler Themen, die zu einer Konfrontation zwischen Eltern und Kindern führen könnten, befreit sich die Mutter von den normativen Zwängen ihres Aufgabengebietes und kann sich sonntags selbst eine größere Freiheit in ihrem Verhalten gönnen. Carolin ist sonntags nur etwas aktiver an den Gesprächen beteiligt und erhält vom Vater, der sich ihr häufig zärtlich zuwendet und den Carolin oft und lange berührt eine größere Aufmerksamkeit. Auch Björn wendet sich seiner kleinen Schwester häufiger zu. Die Paarbildung zwischen einerseits den Eltern und andererseits den Zwillingen, die sich untereinander jeweils unterstützen, wird dennoch nicht durchbrochen. Carolin ist am Sonntag vor allem nonverbal stärker eingebunden, ihre verbale Abgrenzung wird jedoch gelockert. Der Ausschluss von Problemen sichert die Tischzeit als friedliche Zeit der Familie füreinander, denn in großer Ruhe und Gelassenheit werden sonntags Themen so lange verhandelt, wie sie den Familienmitgliedern eine gemeinsame Bezugnahme in einer aufgelockerten Atmosphäre erlauben. Insofern bestätigen die Tischgespräche die andere, weniger funktionale Rahmung des rituellen Ortes und der rituellen Zeit und die herausgehobene Bedeutung des sonntäglichen Frühstücks für die Familie. Die Familie löst sich aus einer durch die Anforderungen von Haushalt, Schule und Arbeit vorstrukturierten Zeit und versichert sich ihrer selbst. Diese Versicherung trägt weniger den Charakter einer Verhandlung über Verbotenes bzw. Erlaubtes, also über die Grenzen der familiären Gemeinschaft, sondern eher den einer Einübung von Gewünschtem und Geschätztem. Während die Gleichheit am Tisch durch den kollektiven Akt des Tischdeckens erzeugt wurde, auf dem die liebevolle und üppige Gestaltung sowie die Kerze auf eine festliche Atmosphäre verweisen, werden die Grenzen dieser Gleichheit bei Tisch nicht verhandelt, weil sie die gemeinsame Mahlzeit dennoch rahmen, zugleich bestätigt.37 Das Tischritual stellt die familiäre Gemeinschaft dar und sichert die Gemeinsamkeit ihrer Mitglieder vor allem durch längere, ausführlichere Tischgespräche. Weil die Grenzen ihrer Gemeinschaftlichkeit bei Tisch jedoch nicht verhandelt werden, bleiben sie relativ unverfügbar. Inso-
37 Die Kerze wird nicht zum vollen Zeichen einer besonderen Atmosphäre. Weil sie nicht angezündet wird, bleibt sie ein Indiz. 132
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fern gewinnt die gemeinsame Mahlzeit auch hier den Charakter einer Prävention, denn Störungen, die sonntags die gemeinsame Zeit bei Tisch und nicht die Regelung des Familienalltags betreffen, werden vermieden. Die gemeinsame Mahlzeit ist weniger vorstrukturiert, das szenische Arrangement trägt festlicheren Charakter und die Tischgespräche sind vor Störungen geschützt, womit sich weniger eine zeremonielle Form der Tischzeit einstellt, als vielmehr eine entspannte, lockere Atmosphäre, in der die Familie sich vom profanen Alltag löst und unauffällig ein Fest ihrer selbst begeht. Mit ihrer Autorität geben die Eltern den Möglichkeitsrahmen der Tischgespräche vor, die wiederum diese Autorität legitimieren, denn ihre gemeinsame Kompetenz wird in ihren Unterschieden anerkannt. Zugleich besitzen die Kinder mehr als nur die Kompetenz, die Autorität ihrer Eltern zu legitimieren. Innerhalb des vorgegeben Rahmens, den die Kinder in der Regel einhalten, sind es vor allem ihre Interessen, Vorlieben, Vorstellungen, Auffassungen und Überzeugungen, die zu Themen werden, was deren Legitimität wiederum bestätigt, auch dann, wenn diese kritisch und kontrovers diskutiert werden. Insofern bearbeiten die Kinder zwar nicht den Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten, aber sie entscheiden gleichberechtigt darüber, welche Möglichkeiten real werden. Und obwohl der mögliche Inhalt von Tischverhandlungen durch die Eltern begrenzt wird, besteht am Wochenende nicht nur ein größerer inhaltlicher, sondern auch ein größerer normativer Spielraum, an den auch die Eltern gebunden sind. Die hierarchische Anordnung des Generationenverhältnisses zeigt sich sonntags in der Rahmung der gemeinsamen Mahlzeit, wird jedoch mit dem Tischdecken bereits durchbrochen. Außerdem rufen die rituellen Interaktionen und die Gestaltung des Rahmens die Kinder weniger als Kinder und die Eltern weniger als Eltern an, sodass individuelle Unterschiede weniger störend wirken und ausgedrückt werden, zugleich aber auf die Gemeinsamkeit der Familie bezogen sind. Die individuell verschiedenen Reaktionsmuster bleiben dabei erhalten, allerdings kommt es einerseits zu einer auffallenden Annäherung aller im Charakter des Verhaltens und andererseits zu größeren individuellen Rückzügen vom Tischgeschehen. Die rituellen Interaktionen tragen sonntags einen spielerischen Charakter, dessen Regeln von den Eltern bestimmt werden, worin ihre Autorität sichtbar wird, das Spielen selbst und damit mehr als ein bloßer Regelvollzug wird von allen aufgeführt, d.h., die Eltern verhalten sich selbst entsprechend dem normativen Freiraum, der als Ordnungsfolie zum Spielen anregt, worin ihre personale Autorität zugleich unsichtbar wird. Sichtbar wird sonntags die entpersonalisierte Autorität der Gemeinschaft, deren bei Tisch nicht verhandelten und ungeschriebenen Gesetzen sich alle unterwerfen, denn alle spielen mit und sie spielen gemeinsam. Sonntags spielt das Essen selbst eine größere Rolle, es wird mehr gegessen und die Speisen selbst können zum Thema des Tischgesprächs werden. 133
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Die Kinder nehmen dabei eine ordentlichere Sitzhaltung als in der Küche ein, die Körpergesten werden dabei nicht expressiver, obwohl die Größe des Tischs nach raumgreifenderen Darreichungen verlangt. Und weil eine disziplinarische Spracharbeit sonntags nicht stattfindet, fehlt auch die Möglichkeit, durch den Einsatz von Sprachdisziplin die Körper der Kinder zu disziplinieren. Sonntags kann sich das Spiel der Kinder – einschließlich eines Rückgriffs auf Nahrungsmittel – entfalten und wird von den Eltern nicht gebremst. So kann Carolin mit einer Scheibe Brot und dem Serviettenring Traktor spielen oder die Serviette als Kopftuch benutzen. Das werktägliche Zeitungslesen des Vaters, das am Wochenende ausbleibt, wird zum Zeitungslesen der Kinder, das auch zum spielerischen und nicht aggressiven Zweikampf mit der Zeitung als Schild, Helm oder Schlagwaffe werden kann, oder aber die Kinder zitieren und kommentieren die sonst unerwähnt bleibenden Werbeseiten und entwerfen eigene – die Anzeigen ironisierenden – Werbeslogans. Und die Eltern haben Zeit für sich als Paar, für Gespräche ebenso wie für körperliche Zärtlichkeiten, die das allmähliche Ende der gemeinsamen Mahlzeit einläuten. Das Frühstück kennt am Wochenende kein förmliches Ende, das in der Küche durch das Entfernen des fünften Stuhls signalisiert wird, sondern die Kinder verlassen nacheinander den Tisch, gehen zur Sitzecke, spielen Klavier oder verlassen das Zimmer. Die Eltern bleiben gemeinsam länger sitzen und verlängern ihre Zeit am Tisch als Paar. Sonntags erlauben sich die Eltern gemeinsam einen Freiraum als Paar und räumen anschließend den Tisch allein ab. Das Frühstück am Wochenende führt der Familie aufgrund der strukturellen räumlichen Ähnlichkeit die Freiheit des Wohnzimmers nicht als Alternative zur Enge der Küche vor Augen, sondern das im größeren Umfang festgelegte Verhalten, die normativen Zwänge und verbalen wie nonverbalen Disziplinarmaßnahmen in der Küche werden durch einen größeren Spielraum im Wohnzimmer kompensiert. Die Weite des Wohnzimmers, die Öffnung des Familienkreises durch den sechsten, nicht besetzten Stuhl, das Nebeneinander der Generationen und das Fehlen eines elterlichen Zentrums bei Tisch erzeugen im Vollzug des Tischdeckens und mit der Erlaubnis zum Kaffeetrinken eine nichthierarchische Neujustierung des Generationenverhältnisses, die im Verlauf des Tischrituals durchgängig bestätigt wird. Die Unterschiede zwischen den Generationen – insbesondere der Autoritätsunterschied – werden dabei zwar nicht aufgehoben, jedoch auch nicht als Differenz dargestellt, womit die Einheit der Familie weniger normativ fundiert ist und sich ihre Gemeinsamkeit stärker in der Ähnlichkeit des individuellen Verhaltens darstellt.
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3.5. Erziehung als kollektive Selbstübung Folgt man der bekannten und oft benutzten Analogie von Ritual und Theater (vgl. Burgess 1926; Turner 1989b; Brandstetter 2001), so erscheint das Frühstück weniger als Stück, in dem die Familie für sich und andere – hier für die Beobachter – Theater spielt, ein Drama bearbeitet oder sich den Spiegel vorhält, sondern eher als Mannschaftsspiel. Dies trägt jedoch nicht die Züge eines Fußballspiels, das entweder offensiv gestaltet ist und einzelne Stürmerstars in Szene setzt oder als taktisch defensives Spiel dem Schutz vor gegnerischen (oder Eigen-)Toren dient und zum Triumph über gegnerische Mannschaften beitragen kann. Diese sind nicht anwesend. Das Frühstück gleicht also weniger einem Stadionspiel, sondern eher einem taktischen Mannschaftszeitfahren, dessen Bedeutung nicht im individuellen Sieg eines Teammitglieds liegt, sondern in der gemeinsamen und möglichst sturzfreien Bewältigung der Tour der Familie. Das Frühstück in der Küche und seine alltäglichen Wiederholungen sind dabei die schwierigen Etappen, die aufgrund der zu bewältigenden Anforderungen phasenweise einer Fahrt durch die Pyrenäen bzw. Alpen gleichen können, das Frühstück im Wohnzimmer dagegen ist der krönende Abschluss auf den Champs-Elysées. Nur übersteigt die Mannschaft dabei nicht ihre gemeinsamen Grenzen, auch wenn sie diese immer wieder neu für sich zieht. Aber sie arbeitet an der Ausgestaltung und Erweiterung ihres normativen Rahmens, der die gemeinsame Zeit bei Tisch bestimmt, die wiederum regulativ und normativ über die gemeinsame Mahlzeit hinaus wirkt. Mit ihrer gemeinsamen Mahlzeit verschafft sich die Familie eine Versicherung ihres Zusammenhalts und vollzieht die individuelle Anerkennung ihrer Mitglieder als Voraussetzung dieses Zusammenhalts, der jedoch nicht bis in die letzte Konsequenz verhandelbar ist. Und dies nicht nur, weil der Zusammenhalt als solcher einer Reflexion nur bedingt zugänglich ist bzw. als reflektierter Zusammenhalt eine Emotionalisierung stören könnte, die von den Eltern nur bedingt bei Tisch zugelassen wird, sondern weil die Familie bei Tisch – insbesondere in der Küche – zwar individuelles Verhalten, nicht aber ihren kollektiven Zusammenhalt zur Disposition stellt. Durch das szenische Arrangement, das auf körperliche Nähe ausgerichtet ist, und die körperlichen Vollzüge, die den Ablauf des Tischrituals gliedern, wird deutlich, dass vor allem das körperliche Miteinander den Zusammenhalt der Familie bei Tisch erzeugt. Charakteristisch für Familie Zobel sind die Muster der Strenge und des Spiels, welche die inhaltlichen und formalen Aspekte der rituellen Inszenierung insgesamt prägen. Das Rationale, Geregelte und Normative auf der einen Seite und das Humorvolle, Spielerische und Gelöste auf der anderen Seite bestimmen auch die Grenzziehungen innerhalb der Familie, die aber gerade wegen der klaren Aufgabenteilung zwischen den Eltern flexibel genug sind, um die unterschiedlichen Interessen und Prioritäten 135
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aller auch in ihren Differenzen integrieren zu können. Trotz des Primats disziplinierender Eingriffe in der Küche droht auch hier die Einheit der Familie nur dann auseinander zu brechen, wenn die körperliche Anwesenheit aller nicht gewährleistet ist. Die größere körperliche Nähe in der Küche sowie der geschlossene Familienkreis antworten auf die Bedrohung der familiären Einheit durch die größere Relevanz und deutlichere Inszenierung der Generationendifferenz. Vor allem das Frühstück in der Küche trägt den Charakter einer Inszenierung der Generationendifferenz, während das Frühstück im Wohnzimmer diese Differenz relativiert. Sie wird jedoch nicht aufgehoben, denn auch hier bestimmt insbesondere der Vater, inwieweit eine Relativierung erlaubt ist. Ob und inwieweit die sonntägliche Neujustierung des Generationenverhältnisses wirksam bleibt, entscheidet das Frühstück in der Küche. Und auch hier organisiert der Vater die räumliche und zeitliche Rahmung der gemeinsamen Mahlzeit und nimmt wesentlichen Einfluss auf die rituelle Inszenierung der Familie als Gemeinschaft. Für die Einlösung des die Gemeinschaft strukturierenden Gesetzes im individuellen Verhalten der Kinder sorgt die Mutter, deren Autorität sich in ihrem Verhalten als Kompetenz erweisen muss, sonst unterliegt sie einer Korrektur durch den Vater bzw. einer Kritik durch die Zwillinge. Die weniger sichtbare Autorität des Vaters unterliegt einem solchen Legitimierungsdruck nicht. Sie kann sich auf das magische Zeichen der Generationendifferenz wie der väterlichen Autorität verlassen: die Kaffeekanne. Neben der impliziten Normativität der rituellen Inszenierung ist die insgesamt hohe explizite Normativität auffallend, die mit der Aufgabenteilung der Familie korrespondiert. Die explizite Normativität verlangt den Einsatz von Legitimierungsstrategien, die in dieser Familie mit dem Vernünftigen, Zweckmäßigen, Rationalen des Gemeinsamen arbeiten. Dabei besitzen die Eltern die Definitionsmacht über Regeln, die allerdings einer kritischen Bewertung der adoleszenten Zwillinge unterliegt, die wiederum Widersprüchlichkeiten der normativen Performanz nutzen, um die Anmaßung von Geltungssetzungen zu begrenzen. Wenn bspw. die mütterliche Autoritätsanmaßung die Regel verletzt, die von der Mutter als gemeinsame und gültige Regel aufgestellt wurde, können sie der Regel einen Sinn verleihen und dabei die Autoritätsanmaßung der Mutter unterlaufen. Elterliche Autorität kann so in Frage gestellt werden, die Autorität der Gemeinschaft jedoch wird von allen immer wieder bestätigt. Dies geschieht auch, wenn im Konfliktfall über die Schuldfrage verhandelt wird und es dabei gelingt, den Verursacher eines Schadens zwar zu benennen, gerade aber durch die spielerische Gestaltung der Verhandlung als Quizspiel die Festlegung einer Identitätszuschreibung als Schuldiger vermieden wird. Im Konflikt wird bei Familie Zobel weniger jemandem
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bedeutet, dass er ein Verursacher ist, sondern die Familie vergewissert sich ihrer Zusammengehörigkeit. Während die Inszenierung der Familie von der Mutter vor allem über das explizite Aussprechen von Regeln und deren Einfordern geregelt wird, organisiert der Vater den Zusammenhalt der Familie über körperliche Nähe, Intimität und Zuwendung. Die Mutter verkörpert eine explizite, der Vater eine implizite Normativität. Diese Unterschiede im elterlichen Verhalten resultieren aus einer klaren Aufgabenteilung und sind nicht mit festgeschriebener Identität zu verwechseln. Die Zuschreibungen tragen den Charakter von Skalierungen um zwei Pole, die in den rituellen Inszenierungen der Familie in einem Wechselverhältnis stehen und immer wieder miteinander vermittelt werden. So kann die Mutter sich mit ihrer Aufgabe und zugleich mit den Gemeinschaftsmustern des Vaters identifizieren. Zugeschriebene Identitäten können so flexibler gestaltet werden, gerade weil die Aufgaben relativ unflexibel sind. Dieser flexible Rahmen einer relativ festgelegten Normativität eröffnet auch im Alltag den Raum für den spielerischen Umgang – etwa in der umgekehrten »Reise nach Jerusalem« – mit Grenzziehungen und Differenzbearbeitungen, in denen die Wirklichkeit der Familie erarbeitet wird. Beim sonntäglichen Umzug der Familie zum Frühstück in das Wohnzimmer zeigt sich, wie trotz der Strenge auch des Wohnzimmers Raum für den lockeren und spielerischen Umgang der Generationen unter- und miteinander entsteht. Die Kargheit und Enge der Küche garantieren Nähe und Intimität der Zuwendungen, die bei Familie Zobel zwischen den Geschwistern und zwischen Eltern und Geschwistern, trotz des scheinbaren Primats verbaler Interaktionen, immer wesentlich über körperliche Bezüge vermittelt wird. Sowohl in der Küche als auch im Wohnzimmer lenkt nichts von der Zusammenkunft der Familie ab, die Gestaltung der Räume impliziert eine Aufmerksamkeitsfokussierung auf die gemeinschaftlichen Interaktionen, die auch dann nicht gestört ist, wenn beispielsweise die Kinder die unmittelbare Umgebung des Tisches für das Zubereiten der Schulbrote verlassen. Die Strenge der Mutter, deren Aufgabe in der Regelung des Alltags der Familie, der Durchsetzung der familiären Normen und der Kontrolle des schulischen Verhaltens der Kinder besteht, findet hier einen Rahmen, der ihr Raum gibt für Phantasie, Humor, Nähe zu den Kindern und Zuwendung zu ihnen selbst noch im Fall eines Konflikts. Der Kontrast in der elterlichen Autorität ergibt sich aus der elterlichen Aufgabenteilung, die wiederum geschlechtsspezifisch konnotiert ist. Das unterschiedliche individuelle Verhalten von Vater und Mutter korrespondiert mit der elterlichen Aufgabenteilung, die zu einer Hierarchisierung elterlicher Autorität führt. Insofern ist die Geschlechterdifferenz an die Generationendifferenz gekoppelt, sie wird jedoch im Unterschied zur Generationendifferenz nicht inszeniert, allerdings von Vater und Mutter verkörpert. Über diese Ver137
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körperung hinaus kommen weitere Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit im Verhalten der Eltern oder Verweise auf Geschlechterstereotypen im Verhalten der Kinder während des Tischrituals nicht zur Aufführung. Allerdings lassen sich auf der Ebene des Kommunikationsverhaltens geschlechtsspezifische mimetische Bezugnahmen der Zwillinge feststellen, obwohl sie bereits in einem Alter sind, in dem das Lernen zunehmend auf Reflexionsprozessen beruht. Die mimetische Einübung geschlechtsspezifischen Verhaltens zeigt sich, wenn sich die Kinder in Konfliktsituationen am Vorbild der Eltern orientieren, z.B. wenn Anna im Umgang mit der jüngeren Schwester den pädagogischen Gestus der Mutter übernimmt, wenn sie gegenüber ihrem Bruder versachlicht oder aber gegenüber der Mutter auf die Zuspitzung eines Konflikts verzichtet und nur vorsichtig mithilfe von Fragen, auf deren Klärung sie nicht besteht, dem mütterlichen Gestus der expliziten Normativität folgt. Björn übernimmt eher den väterlichen Gestus der Verteidigung, Abschwächung und des Humors und der impliziten Verschiebung und Verlagerung von Konflikten. Dass die mimetische Einübung keine bloße Imitierung des elterlichen Verhaltens ist, zeigt sich insbesondere bei Björn, der im Unterschied zum Vater seinen Humor und seine Wertschätzung für Ästhetik als Mittel der Distinktion nutzt. Insofern ist das mimetische Erlernen der Geschlechterdifferenz durch die Zwillinge (noch) ungebrochen, es eröffnet aber bereits einen Spielraum zur eigenständigen, individuellen Umarbeitung der inkorporierten Verhaltensweisen.38 Die Familie erzeugt in ihrer gemeinsamen Mahlzeit einen besonderen, von anderen sozialen Feldern abgegrenzten Sozialraum und stellt sich als Einheit dar. Die symbolische Überhöhung des Essens zur Tischzeit, in der die Familie sich als Einheit hervorbringt, wird durch das Tischdecken vorbereitet und durch die Ausgrenzung der Arbeitswelt abgesichert. Diese Abgrenzung von der Außenwelt bei gleichzeitiger Erhöhung der familialen Einheit, die selbst eine entpersonalisierte Autorität gewinnt, kann als Erzeugung einer säkularen Transzendenz verstanden werden. Doch das Tischritual stellt nicht nur eine Inszenierung der Familie als Einheit dar, sondern die Familie gestaltet ihr Generationenverhältnis als hierarchisiertes, asymmetrisches Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, als Differenz. Diese Hierarchie ist nicht nur auf die Aufgabenteilung in der Familie bezogen, sondern sie bezieht sich auch auf die andere, außerfamiliäre Lebenswelt der Kinder, die im Tischritual als Familienmitglieder angerufen werden, um sie über das Frühstück hinaus als zunehmend gebildete, selbstverantwortliche und kompetente Familienmitglieder 38 Zur Lösung des Begriffs der Mimesis aus dem Bereich der Ästhetik und der Zuschreibung sozialer Dimensionen vgl. Gebauer/Wulf 1992: 431-437; zur Ausdifferenzierung sozialer Mimesis als Handlungspraxis vgl. Gebauer/Wulf 1998 und zum Zusammenhang von mimetischen Bezugnahmen und rituellem Handeln vgl. Gebauer/Wulf 2004. 138
FAMILIE ZOBEL: SPIELERISCHE ASKESE BEIM FRÜHSTÜCK
zu ebensolchen Schülern zu erziehen. Dies sind Aspekte einer allmählichen Transformation, die in die rituelle Inszenierung zurückwirkt und den selbstverständlichen Konsens in den Tischgesprächen gefährden kann. Der Vorrang der Sprachdisziplin und des Sprachvermögens erscheint aus dieser Perspektive als im doppelten Sinn zweckmäßig. Die Ausbildung eines Sprachvermögens ist sowohl zur Erfüllung der Erziehungsaufgabe zweckmäßig, die am Gebot der Selbstbildung orientiert ist, als auch zur Anpassung des Tischrituals an sich verändernde Außen- und Innenwelten der Familienmitglieder. Das Tischritual wird zu einem geeigneten Instrument, mit dem die Entwicklung der Familienmitglieder, die Veränderung von außerfamiliären Anforderungen und die Autorität der Gemeinschaft miteinander vermittelbar bleiben. Das Frühstück erzeugt also eine direkte Vermittlung zwischen Familie und Schule, die Familie erscheint als zwar besonderer, jedoch nicht von der Außenwelt abgegrenzter Erfahrungsraum. Dabei unterwirft sich die Familie ihrem Tischritual nicht, das demzufolge auch keine rigide, erstarrte konventionalisierte Vollzugspraxis darstellt. Die Vermittlung von Ritual, Familienpraxis und schulischen Normen, die gegenseitige Erziehung der Familienmitglieder untereinander und die wechselseitige Anerkennung erfolgen als Einübung eines protestantischen Bildungsgebots.39 Die Orientierung an diesem Gebot vereinheitlicht den Erziehungsstil der Familie während des Tischrituals, ohne die unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmale aufzuheben oder die individuellen Perspektiven der Familienmitglieder, die sich in ihrem Verhalten bei Tisch zeigen, zu einer einzigen Perspektive der Familie zu verschmelzen. Das Verhalten der jeweiligen Repräsentanten der Autorität der Gemeinschaft appelliert kollektiv an die Familie, die diesem Gebot entsprechenden Kompetenzen individuell auszubilden bzw. einzusetzen, einschließlich der damit verbundenen Aufforderung zu einem angemessenen Verhalten an die hauptsächlichen Repräsentanten – die Eltern – selbst. Die Zwillinge haben bereits begonnen, sich diesem Appell gemäß zu verhalten. Die Räumlichkeiten, der gedeckte Tisch, die lockere Körperdisziplin und die strenge Sprachdisziplin, das protestantische Bildungsgebot und der Vorrang klassischer Textmedien vor neuen Bildmedien, der Erziehungsstil der 39 Im Rahmen einer protestantischen Ethik wird nicht nur eigene Arbeit zur Tugend, sondern auch Bildung zum guten Werk und damit zur Aufgabe. Ein protestantisches Bildungsgebot lässt die Aneignung von Wissen und Können sowohl zur Pflicht im Sinne einer Selbstverantwortung als auch zur Tugend im Sinne einer Selbstbildung werden. Insofern besagt das protestantische Bildungsgebot hier, dass die Erziehung bei Tisch darauf gerichtet ist, Bildung als selbstauferlegte Pflicht anzuerkennen und zu einer selbstgewollten Tugend werden zu lassen (vgl. Weber 1985; zum Zusammenhang von christlicher Religion und familialer Autorität, der Familie Zobel zur christlichen Bildungsgemeinschaft werden lässt, vgl. Audehm 2004b: 234ff.). 139
ERZIEHUNG BEI TISCH
Familie und der Bildungsstil der Eltern verweisen auf das soziale Milieu der Familie. Das Tischritual stellt auch die soziale Zugehörigkeit der Familie dar. Diese wird jedoch nicht als Distinktion von anderen sozialen Milieus oder als soziale Differenz aufgeführt. Die Einheitlichkeit des Erziehungsstils und die sichtbare Herstellung des rituellen Arrangements sind an das soziale Milieu der Familie gebunden, das als Normalität aufgeführt wird, jedoch nicht als Selbstverständlichkeit angenommen wird. Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu wird zum Bildungsprogramm, als Aufgabe und als Leistung in Szene gesetzt. Dabei werden Zuschreibung, Einübung und Lernen im Tischritual zur gemeinsamen Übung an sich selbst, wobei der asketische räumliche Rahmen und der Vorrang einer Sprachdisziplin gegenüber der Einübung einer Körperdisziplin den spielerischen Umgang miteinander ermöglicht. Das Frühstück wird zur spielerischen Askese.40
40 Spielerische Askese bezeichnet weniger eine entsagungsvolle und lustarme Art und Weise der Erziehung im Ritual, sondern betont vielmehr das Spiel mit Strenge und Disziplin während einer kollektiven Selbstübung. Die Familienmitglieder üben nicht nur selbst das Ritual aus, sondern üben sich selbst – den Umgang mit sich, anderen und der Welt – ein. »Askese ist ein Sich-Einüben (askein), das ebenso mit Anmut, Schönheit und ästhetischen Wohlgefallen, aber auch mit Freundschaft, modulierter Wahrnehmung und stilistischen Selbstpraktiken – mit einer Ästhetik der Existenz zu tun hat.« (Wulf/Zirfas 1999: 10) 140
4. Familie Maier: Kompetentes Understatement bei Tisch
Mutter Maier ist geschieden und übt eine Lehrtätigkeit aus. Dorothea wird im Sommer die Grundschule verlassen. Die Mutter kommt um etwa dieselbe Zeit wie Dorothea nach Hause – ein Umstand, der ihre zweite Berufswahl entscheidend beeinflusst hat – und muss oft nach dem Mittagessen die gemeinsame Wohnung aus beruflichen Gründen noch einmal verlassen. Dorotheas Vater wohnt im selben Haus, ein Stockwerk über Mutter und Tochter. Dorothea besucht ihren Vater – zumeist kurz – auch innerhalb der Woche und – zumeist länger – an den Wochenenden. Festgesetzte Termine und Regelungen gibt es hierfür nicht, Dorothea fragt ihre Mutter zwar, ob sie den Vater besuchen kann, was die Mutter in der Regel erlaubt, sie kann ihrer Mutter aber auch einfach nur mitteilen, dass sie am Nachmittag oder Abend zum Vater gehen will. Für die kürzeren Besuche sind besondere Zeitabsprachen nicht notwendig, Dorothea versucht einfach, ob der Vater zu Hause ist und Zeit für sie hat. Die Besuche in der Woche und die gemeinsamen Unternehmungen mit dem Vater – gemeinsame Unternehmungen der geschiedenen Eltern mit ihrer Tochter finden nicht statt – sind um ein von Vater und Tochter geteiltes Interesse organisiert, ohne dass sich dies als gemeinsames Hobby bezeichnen lässt: Fußball. Mutter und Tochter essen in der Regel gemeinsam zu Mittag und zu Abend. Das Mittagessen findet jeweils gegen 14.30 Uhr, das Abendessen zwischen 19.00 und 20.00 Uhr statt. Während das nicht gemeinsam eingenommene Frühstück in der Küche stattfindet, essen Mutter und Tochter gemeinsam am Esstisch im Wohnzimmer.
4.1. Musik und Geschmack Familie Maier bewohnt eine während der Ehe erworbene Eigentumswohnung im näheren Umfeld der Grundschule, die Dorothea zu Beginn der Untersuchung noch besucht. Es handelt sich um einen sanierten Altbau in einer engen Seitenstrasse. Die Familie bewohnt eine Wohnung im fünften Geschoss des Hauses, die aus Küche und Bad und etwa drei gleich großen Zimmern besteht. 141
ERZIEHUNG BEI TISCH
Dorotheas Zimmer zeigt wie das Wohnzimmer auf die Strasse, Schlaf- und Arbeitszimmer der Mutter auf den entkernten, begrünten Innenhof. Das Wohnzimmer hat einen kleinen Balkon und ist ca. 22 qm groß. Die Wände sind in einem hellen Gelbton gehalten, über dem Esstisch befindet sich – als größtes Bild – ein Kunstdruck mit einem Detail aus der Sixtinischen Madonna von Raffael. An den anderen freien Wandflächen hängen einige weitere gerahmte Grafiken und Aquarelldrucke. Sie sind weder streng nach Motiven, Stilrichtungen oder Größe an den Wänden angeordnet und auch nicht nach verlängerten Linien untereinander ausgerichtet, sondern lose miteinander kombiniert und umeinander gruppiert. An den Fenstern, die mithilfe weißer Jalousien verdunkelt bzw. beschattet werden können, befindet sich Fensterschmuck in Form von Glasbildern und Scherenschnitten. In der Regel werden die Fenster am Abend und zur Nacht jedoch nicht verdunkelt, wenn im Wohnzimmer Licht eingeschaltet wird. Zur Weihnachtszeit folgt die Familie einer typischen, regional zunehmend verbreiteten Sitte und dekoriert die Balkontür außen mit einer blinkenden Lichterkette. Die Mutter begründet dies, ohne dazu aufgefordert zu sein, mit dem Argument, sich der in ihrem Wohnumfeld weit verbreiteten Sitte nicht wirklich entziehen zu können, mit dem Lichteffekt selbst, der ins Wohnzimmer zurückstrahlt, und damit, dass sie diesen Brauch witzig findet und ihr deshalb ebenso wie Dorothea auch nicht ungern folgt. Neben der Balkontür hängt eine größere Grünpflanze von der Decke, auf Regal und Fensterbrett stehen einige kleinere Grünpflanzen. Die Balkontür liegt der Zimmertür gegenüber. An der linken Längswand des Zimmers steht ein modernes Regal mit metallenem Korpus und schwarzen Regalböden. Im Regal stehen vor allem Bücher, die Stereoanlage und der Fernseher. Gegenüber und vor dem rechten Fenster befindet sich die Sitzecke, bestehend aus einer schwarzen Ledercouch in modernem Design, einem gläsernen Couchtisch und einem freistehenden roten Ledersessel. Die Möbel stehen auf einem weißen Wollteppich, der auf dem Parkettboden liegt. Die Sitzecke wird optisch durch den weißen Teppich abgesetzt und ist zusätzlich vom Essbereich durch ein an der Decke befestigtes Mobilé abgegrenzt. Vor der Sitzecke ist der dunkelbraune, rechteckige Esstisch aus Holz an die rechte Längswand gerückt und an seinen Längsseiten von jeweils zwei in Material, Farbe und Design passenden modernen Holzstühlen umgeben. Der Tisch wird – falls notwendig – von einer großen runden Hängelampe gleichmäßig beleuchtet. Ihm gegenüber befindet sich an der Stirnwand des Zimmers neben der Tür ein hölzernes Bücherregal, in dem sich außer Büchern auch gerahmte Fotos und einige Handpuppen befinden, die von der Mutter zwar nicht intensiv gesammelt, aber in größeren Abständen durch weitere Exemplare vervollständigt werden. Die Bilderrahmen stellen eine Farb- und Materialverbindung zwischen Essbereich, Sitzecke und Regalwand her, wobei der Essbereich sich von der 142
FAMILIE MAIER: KOMPETENTES UNDERSTATEMENT BEI TISCH
Sitzecke farblich nur leicht und ohne starken Kontrast abhebt. Auch die hellgelben Wände mildern den Kontrast zwischen schwarzen Regalböden und schwarzer Couch einerseits und weißem Teppich und rotem Sessel andererseits. Auf dem Parkettboden liegt nichts herum, weder Kleidung noch Zeitungen oder Zeitschriften, Geschirr oder ähnliches. Der Esstisch bleibt frei oder ist mit einer Vase und Blumen geschmückt, die zum Essen auf den Couchtisch gestellt werden. Die Regalböden sind übersichtlich, einreihig und ordentlich gefüllt, ohne dass bspw. die Bücherrücken genau in einer Linie ausgerichtet sind. Der Essbereich im Wohnzimmer liegt der Küche schräg gegenüber und ist schnell und ohne Umwege von dort aus direkt zu erreichen. Die Einrichtung lässt sich insgesamt als übersichtlich, farblich zurückhaltend, klassisch modern, unprätentiös und schnörkellos bezeichnen. Weder das Zimmer noch die Einrichtung sind verwinkelt, alles lässt sich direkt und ohne Umwege oder Räumaktionen und Möbelrücken erreichen und nutzen. Das Zimmer besticht durch seine klare Gliederung, seinen hellen, freundlichen Charakter und seine Aufgeräumtheit und vermittelt eine helle, lichte Atmosphäre praktischer und großzügiger Gemütlichkeit. In diesem Zimmer essen Mutter und Tochter an einem Tisch, der für die gemeinsame Mahlzeit aufwendig gedeckt wird. Platzdeckchen, die sich in Material und Farbe gleichen, darauf abgestimmte Servietten, Besteck und Gläser sowie passendes Geschirr gehören auf den Tisch, der von Mutter und Tochter gemeinsam gedeckt wird, wobei Dorothea die Entscheidung über die Farb- und Geschirrauswahl trifft. Es dominieren einerseits Rot- und Gelbtöne oder andererseits Blau- und Grüntöne. Die Mutter hat ihren festen Platz an der Außenseite des Tisches mit dem Rücken zum Fenster, Dorothea sitzt auf dem Platz gegenüber und mit dem Rücken zur Tür. Ist zum Abendbrot eine Freundin anwesend, nimmt sie neben Dorothea an der Innen- bzw. Wandseite Platz. Für ihre Tante rückt Dorothea nach innen. In den Gesprächsaufzeichnungen läuft im Hintergrund immer Musik oder der Fernseher ist eingeschaltet. Die laufende Fernsehsendung – der Trickfilm »Asterix und Obelix in Amerika« – wurde dabei zum Thema des Tischgesprächs, über die laufende Musik oder Musikstile finden keine Gespräche statt. Lediglich die Lautstärke der Musik ist Thema bei Tisch, wenn die Mutter darauf hinweist, dass Dorothea die Musik etwas leiser stellen soll. Dorothea wird nicht förmlich gebeten, sondern die Mutter äußert eine einfache, ruhige Aufforderung. Mitunter läuft schon Musik während des Tischdeckens, ansonsten trifft Dorothea kurz vor Beginn des Essens die Feststellung: »Ich mach jetzt mal Musik an.«; was von der Mutter positiv mit einem »Ja.« oder »Ja, gut.« beschieden wird. Wenn Dorothea die Musik »anmacht«, wählt sie sie auch aus. Die Musik kommt dann nicht aus dem Radio, sondern von einer Kassette oder CD. Gehört wird deutsche oder internationale Popmusik, was den Raum akustisch unaufdringlich mit einem Hintergrundrauschen – also mit 143
ERZIEHUNG BEI TISCH
Geräusch und nicht mit Klang – möbliert. Auch bei der inkriminierten Fernsehwerbung während des Asterix-Streifens wird die Lautstärke von Dorothea heruntergedreht, aber nicht völlig ausgeblendet. Während der teilnehmenden Beobachtungen blieben Fernseher, Radio und Stereoanlage ausgestellt. Nachdem die Mutter die Speisen aus der Küche ins Wohnzimmer geholt und in großen Schüsseln in die Mitte des Esstischs gestellt hat, nimmt sie am Tisch Platz. Dorothea folgt ihr, nachdem die Musik eingeschaltet ist. Auch während der teilnehmenden Beobachtung setzt sich zuerst die Mutter. Nach dem von der Mutter initiierten und von Dorothea beantworteten »Guten Appetit« weist die Mutter gern auf eine besondere Zubereitungsart hin (z.B. geriebener Käse auf den Nudeln) oder fragt Dorothea, ob ihr das Essen schmeckt. Bemerkungen der ersten Art haben zur Folge, dass Dorothea das Wesentliche des aktuellen Essens bemerkt (z.B. Spaghetti), auf Fragen nach dem Geschmack antwortet Dorothea murmelnd und unbestimmt. Anschließend steht Dorothea noch einmal auf, um das von der Mutter vergessene Salz und die Vitamin-Brausetabletten aus der Küche zu holen. Die Mutter vergisst immer das Salz und manchmal ihre Brausetabletten. Die Brausetabletten sind für die Mutter reserviert, wobei sie Dorothea auf ihre Brausetabletten hinweist, was von Dorothea entweder ignoriert oder mit einem »Na und.« beschieden wird. Eine direkte Aufforderung an Dorothea, auch Vitamintabletten ins Wasser zu geben, erfolgt nicht, womit auch keine direkte Zurückweisung einer solchen Aufforderung nötig wird. Dorothea reserviert die Tabletten für ihre Mutter. Dagegen ist das Salz, hat sie den Salznapf aus der Küche geholt, für sie reserviert. Das Salz holt Dorothea nach einem kurzen, immergleichen und immer wieder erfolgenden Schlagabtausch mit der Mutter. Die Mutter kocht bewusst salzarm – und nur mit Rücksicht auf ihre Tochter nicht gänzlich salzfrei – und würzt ihr Essen nicht nach. Dorothea sagt zwar nicht direkt, dass ihr das Essen nicht schmeckt, informiert sich aber zumeist darüber, wie die Mutter das Essen gewürzt hat. Nachdem beide festgestellt haben, was auf den Tisch gekommen ist, stellt Dorothea fest, was sie an Geschmack erwarten kann. Das »Guten Appetit!« erfolgt vorher. Die Mutter benutzt zum Kochen vor allem zwei Gewürze, sehr wenig Salz und etwas mehr Pfeffer. Andere Gewürze befinden sich zwar in der Küche, werden von der Mutter jedoch nie erwähnt und – so ihre Antwort auf eine entsprechende Nachfrage – auch nur sehr selten – bei besonderen Anlässen, wenn sie einen größeren Kochaufwand betreibt und Gäste eingeladen sind – eingesetzt. Dorothea begründet ihrem Wunsch nach Salz nicht, geht aber auch nicht wortlos hinaus, sondern stellt in einer ähnlichen Art fest, dass sie jetzt das Salz holt, wie sie auch feststellt, dass sie Musik anmacht. Die Mutter widerspricht jedes Mal kurz, zumeist in Form einer Nachfrage, ob das denn wirklich nötig sei oder ob Dorothea nicht erst kosten will, worauf Dorothea in gelassenem, ruhigem, nicht entnervtem Tonfall mit einem »Ich brauch immer 144
FAMILIE MAIER: KOMPETENTES UNDERSTATEMENT BEI TISCH
Salz.« schon aus der Küche antwortet. Ein kurzes »Okay.« oder andere kurze Zustimmungen der Mutter, zumeist versehen mit dem Hinweis, dass Salz nicht gesund ist, erfolgen erst, wenn Dorothea den Salznapf an den Tisch gebracht hat, den sie, nachdem sie – zumeist ohne vorher zu kosten – nachgesalzen hat, neben ihren Teller stellt. Manchmal würzt sie ein zweites Mal nach, nachdem sie gekostet hat. Die Familie isst in einer relativ kurzen Zeit, kein Essen dauert länger als zwanzig Minuten. Gegessen werden mit Vorliebe einfache, von der Mutter zubereitete Nudelgerichte mit unkomplizierten Soßen und gemischte Salate. Gesprochen wird wenig, dafür sind die Pausen zwischen den Gesprächen umso länger. Während der Gesprächsphasen unterbricht die Mutter auch dann ihr Essen, wenn nur Dorothea spricht. Die bevorzugt behandelten Themen sind: das Essen selbst, Erlebnisse und Erfordernisse aus Schule und Arbeit, Pläne für das Wochenende, Freunde und Mitglieder der Herkunftsfamilien, vor allem die Tante, aber auch der Vater können zu Gesprächsthemen werden. Nicht immer wird während der Gesprächspausen gegessen. Insbesondere die Mutter unterbricht die Nahrungsaufnahme öfter, ohne ein Gespräch zu beginnen. Mittags verharrt sie dann zumeist in einer leicht vorgebeugten Haltung, die Beine unter dem Stuhl verschränkt, den linken Ellbogen und den Kopf aufgestützt, mit einem Blick, der in die Ferne gerichtet ist. Oder sie stützt beide Ellbogen auf und massiert sich mit den Fingern leicht die Schläfen und streicht sich über die Augenbrauen und die Stirn. Abends lehnt sie sich während der Pausen, in denen sie weder isst noch spricht, öfter zurück, wobei sie Schultern und Rücken entspannt und die Arme locker auf dem Tisch aufliegen. Wenn sie die Nahrungsaufnahme beendet, wird eine zurückgelehnte Haltung mit entspannten Schultern und vorgeschobenen Beinen typisch, wobei sie auch hier oft den Kopf auf die linke Hand stützt. Dabei schweigt sie zumeist und mit der Zeit richtet sich der Blick wieder in die Ferne. Sie lässt einige Minuten verstreichen, bevor sie sich mit einer Frage an Dorothea wendet und das Gespräch fortsetzt. Dorothea unterbricht ihr Essen kaum, lässt sich in der Regel Zeit, um auf Fragen zu antworten, und isst auch dann, wenn ihre Mutter erzählt oder ihrerseits auf Fragen ihrer Tochter antwortet. Ob Dorothea ausführlicher antworten oder erzählen wird, lässt sich bereits daran erkennen, wie schnell sie die Nahrungsaufnahme unterbricht. Je länger sie sich Zeit lässt, je gründlicher sie kaut und je länger sie braucht, um runterzuschlucken, um so kürzer fallen ihre Gesprächseinlagen aus. Kurze Kommentare oder sehr knappe Antworten erfolgen auch schon mal mit vollem Mund, wobei sie dann das Essen nicht unterbricht. Antwortet sie auf die Art schnell und versucht die Mutter wiederum, sie zum Erzählen anzuregen, isst Dorothea in aller Ruhe weiter. Dorothea kann auf die Fragen ihrer Mutter eingehen oder mit einem Gegenimpuls reagieren, bis zu dieser Reaktion dauert es in etwa so lang, wie sie sich Zeit 145
ERZIEHUNG BEI TISCH
nimmt für ihre kurzen Antworten. Längere Antworten erfolgen nach schneller Reaktion und Unterbrechung der Nahrungsaufnahme. Je näher die Themen an Arbeits- oder Schulerfordernissen sind – an Stundenvorbereitungen, Leistungskontrollen und Hausaufgaben – umso kürzer sind die Gesprächspassagen. Diese dienen der gegenseitigen Information, erfolgen meist zu Mittag und lassen sich als kurze Mitteilungen über die restliche Tageseinteilung interpretieren. Abends erfolgt unter Umständen eine Kontrolle durch die Mutter, ob Dorothea ihre Aufgaben erledigt hat. Die Mutter fragt hier mitunter kurz nach eventuellen Lernschwierigkeiten und bietet Hilfe an, ohne dabei konkret zu werden. Je mehr die Themen Erlebnischarakter tragen, umso länger werden die Passagen und umso lebhafter wird der Ausdruck. Es erfolgen Ausschmückungen, kurze Witze und Lachen, ausführlichere Erläuterungen und detailliertere Beschreibungen bei steigender Lautstärke, zunehmender Betonung und stimmlicher Untermalung. Einen Erlebnischarakter besitzen dabei kleinere Geschichten aus der Schule, über Mitschüler und Freunde. Die Lehrerschaft wird nur ein Mal zum Thema, auch die Mutter äußert sich nicht über Kollegen oder Kolleginnen und erzählt nur sehr selten und kurz über ihre Arbeit. Zumeist ist es die Mutter, die Frageimpulse gibt, die nur nach einer kurzen Antwort verlangen, weil sie auch als Information über Zeit, Ort und wesentlichen Inhalt erfolgen können. In dieser Art fallen Dorotheas Antworten für gewöhnlich auch aus, was die Mutter oft dazu bringt, mithilfe der erlangten Informationen nun Fragen zu formulieren, die Dorothea zum Erzählen bewegen könnten. Das klappt etwa in der Hälfte der Fälle. Dorothea isst wie ihre Mutter zügig, mit raschen, effektiven Bewegungen. Längere Pausen wie ihre Mutter legt sie beim Essen nur sehr selten ein. Sie greift schnell nach Besteck und Gläsern, nimmt sich – allerdings nur selten – selbst nach und wird in der Regel von der Mutter dazu angehalten, mehr zu essen. Verschränkte oder vorgeschobene Beine sind öfter zu beobachten, tiefes Zurücklehnen bei vorgeschobenem Bauch selten, ebenso ein Aufstützen des Kopfes oder ein tief nach vorn gebeugter Rücken. Manchmal beugt sich Dorothea weit über den Teller zum Nudelessen. Dorothea spricht rasch, unterstreicht ihre Äußerungen nur sehr selten gestisch oder verleiht ihnen mit einer besonderen Stimmfärbung und gehobenen Lautstärke Nachdruck. Allenfalls wiegt sie den Kopf hin und her und wägt damit die Äußerungen der Mutter ab. Einspruch erhebt sie selten, doch des öfteren zeigt sie ein Schulterzucken. Weder Mutter noch Tochter äußern eindeutige und klare Gegenpositionen, sie fragen kritisch bei der anderen nach, ob sie ihre Äußerung wirklich so gemeint habe, oder antworten mit einem Einwurf, der eine andere Perspektive einschließt. Solche verschiedenen Perspektiven werden jedoch nicht diskutiert, Mutter und Tochter teilen sich ihre Standpunkte kurz, knapp und ohne Nachdruck mit, ohne dabei ihre Meinung zu erläutern, und außer kurzem 146
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Schulterzucken, abwägendem Kopfschütteln, die eine andere Meinung anzeigen könnten, erfolgen keine weiteren Äußerungen. Man lässt sich gegenseitig seine Meinung und orientiert sich an Regelungen und Absprachen, die getroffen werden. Vorschläge und Gegenvorschläge bzw. Akzeptanz werden nicht begründet. In einem kurzen Ping-Pong-Spiel sind wichtige Dinge schnell geregelt und kleinere Probleme schnell gelöst. Am Ende der gemeinsamen Mahlzeit existiert ein knapper Überblick über beidseitig momentan Relevantes. Mutter und Tochter informieren sich über ihr Arbeits- und Schulleben, die nächsten Pläne, die wichtigsten Ereignisse und verkörpern ihre diesbezügliche Haltung. Der lakonische und zuweilen trockene Humor richtet sich bei beiden darauf, Dinge nicht zu wichtig zu nehmen, Distanz zu von außerhalb gesetzten Anforderungen einzunehmen und möglichst wenig zu einem Problem werden zu lassen. Vorsichtig nähern sich Mutter und Tochter dabei den Themen an, in denen der mögliche Problemgehalt indirekt geprüft wird. Hier lässt sich bei der Mutter eine Art der Selbstironie finden, die sich weniger auf tatsächliche Erlebnisse bezieht, sondern auf antizipierte Vorwegnahmen, die darstellen, wozu eine zu ernsthafte oder engstirnige Haltung führen könnte, die sich wiederum an typischen Ängsten und Sorgen der Mutter ausrichten würde. Darauf reagiert Dorothea in der Regel zustimmend, ausschmückend, bestätigend oder ergänzend. Mutter und Tochter versichern sich, dass sie keine Probleme sehen wollen, wo keine sind, dass sie dies einschätzen können und dass zumeist auch keine vorliegen. Mutter und Tochter spielen hier auf locker und cool, was sie zumeist störungsfrei durchhalten. Häufigere Blickkontakte, lebhaftere Gesten, längere Gespräche, höhere Lautstärken, deutlichere Wechsel in Tonund Stimmlage ereignen sich bei beiden, wenn Gäste anwesend sind. Auch hier fallen die gegenseitigen und aufeinander bezogenen Ähnlichkeiten in Körperhaltung und sprachlichen Äußerungsformen zwischen Mutter und Tochter auf. Das gemeinsame Essen endet mit einer kurzen Frage: »Fertig?« Mutter und Tochter räumen den Tisch gemeinsam ab.
4 . 2 . R i t u e l l e F o r m e l n u n d d i e G r e n z e n e i n e r D ya d e Die Mutter sorgt auf ihre Art für das Essen und erlaubt der Tochter einen anderen Geschmack, die Tochter sorgt auf ihre Art für die Begleitmusik und erlaubt der Mutter Einwände gegenüber der Lautstärke. Die von Dorothea gewählte Musik ist leicht verdauliche Ware. Es handelt sich um deutsche, englische und türkische Popmusik, die sich nicht weiter spezifizieren lässt und weder dazu auffordert genau hinzuhören, damit sich ihr Klang im Mithören entfalten kann, noch alltägliche Hörgewohnheiten herausfordert, sei es durch lange Soli kreischender, elektrischer Gitarren, schnell hämmernde, treibende Beats, schwer verständlichen Rap, bombastische Instrumentierungen, unge147
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heure Stimmlagen oder überraschende Rhythmuswechsel, wie sie bei angrenzenden Musikstilen zu finden sind. Die von Dorothea gewählte Musik ist gegenwärtige Popmusik, deren Musikzitate sich stilistisch nicht einzelnen Generationen oder einer besonderen Zeit zurechnen lassen. Sie funktioniert altersunspezifisch und erlaubt Mutter und Tochter ein easy listening, ein anstrengungsfreies weder Hin- noch Weghören, eine Musik, der man sich leicht zuwenden und von der man sich ebenso leicht abwenden kann. Die Musik wird zum Hintergrundgeräusch, ohne zum Klang zu werden, der Konzentration erfordern und eine Spannung erzeugen würde, sie bildet einen Geräuschteppich, auf dem sich gemeinsam Essen und Reden lässt, selbst wenn beim Essen die Geschmäcker auseinander gehen. Darüber hinaus entspricht die akustische Rahmung der räumlichen Rahmung einer kontrastarmen, zurückhaltend modernen Möblierung, die Farbakzente setzt, aber keine visuelle Ablenkung anregt. Visueller Blickfang ist der sorgfältig gedeckte Tisch, für den kein Aufwand gescheut wird. Mutter und Tochter stimmen die Details der Tischgestaltung ab, doch auch hier entscheidet Dorothea über die Einzelheiten der Farb- und Geschirrwahl, über deren Grundsätze sich Mutter und Tochter einig sind. Die Mutter erklärt den betriebenen Aufwand mit dem Kontrast zum Wohnumfeld: »…wenn man hier schon wohnt, muss man es sich doch schön machen.« Hier zu wohnen, bedeutet nach Auffassung der Mutter in einer architektonisch vorwiegend hässlichen, verkehrsreichen Gegend zu wohnen, in der sich auch die Ladenflächen und Geschäftsauslagen nicht als anspruchsvoll oder ansprechend gestaltet bezeichnen lassen. Das Salz könnte Mutter und Tochter das Ritual fast versalzen. Während im Musikgeschmack und nach erfolgtem Hinweis durch die Mutter auch hinsichtlich der Lautstärke Einvernehmlichkeit besteht, bleibt der Geschmack beim Essen unterschiedlich. Ein Unterschied, der von der Mutter regelmäßig vergessen und dann doch jedes Mal positiv sanktioniert wird. Dies geschieht eingebettet in den Beginn des Rituals und die rituelle Formel des »Guten Appetit!«. Diese Formel wird von Mutter und Tochter gleichermaßen ernst genommen und das von der Mutter zubereitete Essen wird jedes Mal zum Thema bei Tisch. Dies wäre eine Unterstreichung ihrer Aufgabe für die Familie und könnte ihr im Ritual eine besondere Position zuweisen. Aber dies wird durch die zumindest indirekte Kritik der Tochter, die zur Richterin über die Kochkünste ihrer Mutter wird, gerahmt, und zwar nicht als Zuweisung einer Versorgerinnenrolle, sondern als Zuweisung einer Aufgabe für die gemeinsame Mahlzeit, so, wie Dorothea zuvor ihre Aufgabe erfüllt hat. Hier entsteht auch ein Unterschied zwischen der Art der Kompetenz für das gemeinsame Essen. Dorothea gestaltet den Rahmen, die Mutter sorgt für den Inhalt. Gäbe es diese Einteilung nicht, könnte Dorothea ja auch gleich an den Salznapf denken, den ihre immer nahezu salzfrei kochende Mutter immer vergisst. So, 148
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wie die Mutter nicht über die Erfüllung der musikalisch-räumlichen gestalterischen Aufgabe durch ihre Tochter urteilt, so urteilt Dorothea nicht über die Erfüllung der kulinarischen Aufgabe durch die Mutter. Sie besteht lediglich darauf, Salz zu holen, kritisiert die Mutter aber nicht und beschwert sich nicht. Salzarmes Kochen wird zum Spleen der Mutter, zu einer erlaubten Eigenart. Im Gegenzug bedeutet das Salz der Tochter auch kein Gegenargument gegen die vernünftige – salzarme und vitaminreiche – Ernährung der Mutter. Mutter und Tochter müssen sich nicht über das Salz streiten, weil es nicht mehr als einen verschiedenen Geschmack bedeutet. Die Mutter versteht es weder als Kritik an ihrer Koch- oder Versorgungskompetenz noch als Kritik an ihrer Ernährungseinstellung. Und Dorothea versteht das Vergessen der Mutter nicht als Vergessen ihrer Bedürfnisse. Dorothea wird nicht unvernünftig, weil sie Salz will, sowie die Mutter nicht unvernünftig wird, weil sie das Salz vergisst. Über Geschmack wird nicht gestritten. Die Gemeinsamkeit beim Essen stellt sich bei unterschiedlichen Geschmäckern dann her, wenn ein Rahmen existiert, in dem die Bedürfnisse und Vorlieben des anderen akzeptiert werden. Der rituelle Beginn – vom besonders schönen Tisch über den Geräuschteppich, das »Guten Appetit!«, die Bemerkungen übers Essen bis zum vergessenen und wieder geholtem Salz – erzeugt einen solchen Rahmen. Die ewig gleiche Panne des vergessenen Salznapfes wird in einem sich immer wieder gleichenden Anerkennungsspiel behoben. Der Unterschied bleibt erhalten und die Distanz wird gewahrt, ein solches gemeinsames Essen schmeckt beiden. Mutter und Tochter haben verschiedene Aufgaben und sind verschieden, aber gleich. Weil auf die musikalische Rahmung auch verzichtet wird und das gemeinsame Tischdecken auf das Spiel mit dem Salznapf zusteuert, das immer aufgeführt wird, erscheint das Spiel als magisches Spiel, mit dem das Tischritual als antigenerative Inszenierung erscheint. Dieser Schein wird während der Beobachtungen immer wieder erzeugt und aufrecht erhalten. Zwischen dem Alltag von Familie Maier und ihrem Tischritual besteht vor allem ein wesentlicher Unterschied: Eine elaborierte, lebhafte Sprache weicht einer formelhaften, mit absoluten Argumenten arbeitenden, restringierten Sprache, mit der das Wesentliche gesagt wird, ohne zu viel auszusprechen. Zu viel wäre alles, was die Mutter-Tochter-Dyade gefährden könnte. Wenn Mutter und Tochter zu Beginn des Tischrituals nicht über Dinge streiten, über die sich nicht streiten lässt, wird in den anschließenden Gesprächen von beiden vermieden, sich streiten zu müssen. Mutter und Tochter bieten sich keine Angriffsflächen. Das Tischritual stellt bezogen auf die Generationendifferenz eine Gegeninszenierung dar. Aber verfügen beide über dieselbe Autorität?
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ERZIEHUNG BEI TISCH
4.3. Brot und Briefmarke Die folgenden beiden Sequenzen stellen eine thematische Ausnahme dar. Über im Haushalt zu erledigende Aufgaben oder die Besorgung notwendiger Dinge wird, so glaubt die Mutter, am Tisch nicht gesprochen. Tatsächlich ereignet sich dies nur zweimal während der Aufzeichnungen und Beobachtungen.
Transkript »Brot«, Aufzeichnung vom 03.06.1999, Mittag Das Mittagessen beginnt um 14.30 Uhr. Im Hintergrund läuft türkischer Pop, der türkische Sänger Tarkan gibt mehrere Songs zum besten, wahrscheinlich von CD. Nach dem üblichen Beginn und einer Zeit des Schweigens folgt nach etwa 10 Minuten diese Passage: (M = Mutter; D = Dorothea; Zahlen in Klammern = Pausen; Einrückungen = Anschlüsse) Zeilen 1-14 M Ich wollte früher los. Ich wollte noch was einkaufen. Brot und Getränke. M (6) Könnt ich ja gleich ins Auto schmeißen. D Hm. (5) M Oder du gehst das vom Bäcker kaufen. D Hm. (ablehnend) M Ach bitte. D Ich vergeß das aber immer. M Nee. D Doch. M Ich leg dir nen Zettel hin. M Nur zum Bäcker… D Kannst du doch machen. M Nur (verschluckt sich) nur zum Bäcker. D Och, o.k. (leise)
Interpretation Die Sequenz beginnt mit einer Antwort der Mutter auf die Frage Dorotheas, warum die Mutter heute nach dem Mittagessen das Haus früher als gewöhnlich verlassen muss. Das Präteritum der Mutter (»wollte«, Z. 1) wirkt merkwürdig, sie könnte auch präsentisch direkt sagen, dass sie etwas einkaufen will. Kann man hier schon interpretieren, dass sie gar nicht einkaufen will? Dann müsste sie auch nicht früher fahren. Oder aber ist das Präteritum hier eine grammatikalische Verschleifung des Futur, eine kleine sprachliche Fehl150
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leistung? Durch seine Wiederholung ist das Präteritum wahrscheinlich auch ein Ausdruck dafür, dass sie den Gedanken des Einkaufens schon länger mit sich herumträgt. Am ehesten ist die Feststellung der Mutter wohl als kommissiver Konjunktiv zu verstehen, der im Rahmen einer Art von Selbstgespräch stattfindet, auf einer Theaterbühne wären die ersten beiden Bemerkungen für das Publikum »beiseite gesprochen«. Sie eröffnet damit eine syntaktische Ellipse, die sie dann in Zeile 4 komplettiert, indem Sie explizit das »Du« anspricht. Wie dem auch sei, die Begründung für das Einkaufen liefern die Grundnahrungsmittel Brot und Getränke, darüber kann man nicht sinnvoll diskutieren, diese Lebensmittel sind notwendig und der Einkauf demzufolge unumgänglich. Das Einkaufen ist damit aber nicht mehr Gegenstand eines Wollens, sondern es verschiebt sich zur Pflicht, womit auch der Begründungszusammenhang sichtbar wird: Die Mutter muss nicht früher los, weil sie einkaufen will, sondern sie wollte einkaufen, weil sie muss. Die Pflicht des Einkaufens lässt sich leichter ertragen, wenn ein Auto benutzt werden kann. Das spart (vielleicht) Zeit und die Einkäufe müssen nicht gleich nach dem Einkauf nach oben getragen werden. Sie könnten im Auto zwischengelagert werden, d.h., die Mutter könnte die notwendigen Grundnahrungsmittel ins Auto »schmeißen« (Z. 2), was den Pflichtcharakter des Einkaufens unterminiert, konterkariert oder zurücknimmt. Hier taucht die Möglichkeit auf, dass die Mutter zwar mit dem Auto zur Arbeit fahren wollte, aber nicht zum Einkaufen, denn dann müsste sie – und könnte nicht nur – die Einkäufe im Auto parken, es sei denn, sie würde noch früher die Wohnung verlassen. Hier wird der Zusammenhang zwischen früher losmüssen, um noch schnell einzukaufen (etwas zu schmeißen ist eine schnelle Handlung), und der Erwähnung des Autos als Möglichkeit nicht deutlich. Einkaufsmöglichkeiten gibt es in der Nähe, die allerdings nicht über größere Parkflächen verfügen, überhaupt sind Parkplätze in der Gegend Mangelware. Vielleicht ist das Auto deshalb auch keine Erleichterung, sondern ein Hindernis. Jedenfalls bleibt eine Lücke bestehen zwischen den notwendigen Nahrungsmitteln und ihrer Zwischenlagerung im Auto, die verhindert, dass Brot und Getränke in die Wohnung gelangen. Dorothea kommentiert diese Überlegungen der Mutter mit einem schlichten »Hm«, das einerseits eine Bestätigung des Tagesplanes der Mutter darstellen könnte, zum anderen aber auch die Anerkennung dieser Form des Einkaufens bedeuten kann. Zusätzlich wäre möglich, dass die Aufgabe der Mutter als Ernährerin der Familie (sie sorgt für das Einkommen und das Essen) mit dem »Hm« bestätigt wird: Sie ist einfach dafür zuständig. Die Lücke zwischen den Zeichen Grundnahrungsmittel und Auto schließt das »Hm« nicht. Nach einer kurzen Pause von fünf Sekunden schließt die Mutter die Lücke selbst (Z. 4) und für Dorothea droht das Unheil: »Oder du gehst das vom Bäcker kaufen.« Dieser Satz ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Das einführende »oder« 151
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kann meinen, dass entweder die Mutter oder die Tochter einkaufen gehen, oder aber im Sinne eines »sogar« du kannst/sollst/musst zum Bäcker gehen. Während die erste Variante die Notwendigkeit betont, dass eine von beiden einkaufen muss, womit ein gemeinsamer Einkauf ausgeschlossen und damit die Alternative einer freien aber unumgänglichen Wahl zwischen zwei Möglichkeiten indiziert, betont die zweite Variante, dass auch die nicht im Besitz eines Führerscheins befindliche Tochter die Möglichkeit und Fähigkeit besitzt, den notwendigen Einkauf zu erledigen. Das »oder« der Mutter kombiniert eine doppelte Rahmung (Goffman 1977), die sie im weiteren, im Indikativ formulierten Satz ergänzt : »… Du gehst das vom Bäcker kaufen«. Hiermit können ein Konjunktiv gemeint sein – du könntest; eine Frage – gehst du; eine Aufforderung – geh bitte; oder ein Befehl, nämlich – Geh! gemeint sein. Dorothea scheint sich über den Sinngehalt des Satzes auch nicht im Klaren zu sein und bezieht sich ablehnend auf alle möglichen implizierten Angebote der Mutter. Damit wird die Verneinung einer konkreten Möglichkeit vermieden, das zweite, ablehnende »Hm« (Z. 5) signalisiert lediglich Unlust, überhaupt einkaufen zu gehen, unabhängig davon, wie die Mutter ihre Präposition verstanden wissen wollte. Wiederum schließt Dorothea die Bedeutungslücke nicht. Daraufhin verlegt sich die Mutter auf die konkrete Strategie der Bitte und eröffnet gleichzeitig mehr oder weniger explizit einen eingelagerten Kompetenzdiskurs, der von Zeile 6 bis 10 reicht. Wird die Bitte in intergenerativen Verhältnissen nicht vor allem als Höflichkeitsform geschätzt, die es ermöglicht, seinen Willen auch ohne Gewalt oder Frustration durchzusetzen? Begibt man sich nicht mit der Bitte in die Hand des anderen, macht sich von diesem abhängig, um so zu erhalten, was man begehrt? Und es gibt die Bitte als verschleierten Befehl. Das der Bitte vorangestellte »Ach« indiziert jedenfalls wiederum mehrere Interpretationsmöglichkeiten: Auch du könntest einmal einkaufen, du hast mehr Zeit, oder für dich ist ein vollständiger Einkauf, d.h. einschließlich des nach Hause Tragens, leichter (das Auto als Hindernis). Das »ach bitte« wird so zum impliziten Argument der Mutter, mit dem sie ihre eigenes Nichtwollen und Nichtmüssen legitimiert. Dorothea kontert mit einem geballten, absoluten Argument (Z. 7). Aus ihrem mangelnden Gedächtnis folgt unweigerlich, dass die Familie nichts zu essen und zu trinken bekommen wird. Allerdings kann sich Dorothea auf ihr Gedächtnis unfehlbar verlassen, denn sie erinnert sich, dass es »immer« nicht funktioniert und sie fürs Einkaufen ungeeignet ist. Das Argument nutzt ein regelmäßig beobachtbares und von Dorothea wahrgenommenes Phänomen. Dorotheas Erinnerungsvermögen drückt sowohl Kompetenz aus, mit der sie den Vorschlag der Mutter zurückweisen kann, als auch Inkompetenz, sie ist unfähig zum Einkaufen, immer noch. Sollte die Mutter ihren freien Willen oder ihre Fähigkeit zur Einsicht angerufen haben, nützt das nichts. Niemand 152
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kann jemals Dinge tun, die er oder sie immer vergisst. Das ist ein anthropologisches Argument. Die memorative Unfähigkeit rettet Dorotheas moralische Kompetenz, denn selbst wenn sie der Bitte der Mutter aus freiem Willen oder aus Einsicht entsprechen würde, sie könnte es nicht. Dorothea würde sogar lügen, wenn sie die Aufgabe übernimmt, denn sie kann sie nicht erfüllen. Dorothea muss sich nicht moralisch positionieren, sie ist aus dem Schneider. Es sei denn, die Mutter interpretiert ihr absolutes Argument (vgl. Heidegger 1980: 132), mit dem Dorothea sich aus der Relation der Einkaufenspflicht vollständig löst und jede Form des Einkaufens kategorisch und apodiktisch ausschließt und für sich einen Freispruch von der Pflicht erwirkt, als moralische Zurückweisung. Dorotheas »aber« eröffnet jedoch die Absolutheit ihres Arguments, denn es drückt Zweifel, Verwunderung oder Verärgerung über den – wie anschließend ausgeführt – sinnlosen, abseitigen Vorschlag der Mutter aus. Dorotheas geballter These setzt die Mutter in Gestalt der Anti-These ein schlichtes »Nee« gegenüber, das die These Dorotheas als ganze verneint (Z. 8). Auf dieser geballten, absoluten Ebene scheint aber keine Einigung möglich, wie das (trotzige) »doch« von Dorothea vermerkt, das durch seine emotionale Verstärkung nun ihren Widerstand markiert. Daraufhin wechselt die Mutter die Ebene, um dem mangelnden Erinnerungsvermögen ihrer Tochter auf die Sprünge zu helfen. Ein Zettel (Z. 10) soll hier Abhilfe verschaffen, der entweder die zu besorgenden Posten enthält oder schlicht die Tatsache, dass Dorothea einkaufen gehen soll. Nun könnte Dorothea im Zusammenhang mir ihrer absoluten These vermerken, dass sie selbst eine schriftliche Erinnerung noch vergessen kann, wenn denn ihr Gedächtnismangel in Bezug auf Einkäufe tatsächlich so groß ist. Sie könnte das Angebot der Mutter also dialektisch zurückweisen, denn um sich an einen Zettel zu erinnern, der einen an etwas Vergessenes erinnern soll, muss man sich erinnern, etwas vergessen zu haben. Sie könnte das Hilfsangebot der Mutter auch mit einem didaktischen Vorwurf zurückweisen. Es ist pädagogisch sinnvoller und nachhaltiger, Dinge selbst zu lernen. Dann müsste Dorothea es auch selbst lernen, an Einkäufe zu denken. Zudem ist kaum möglich, sein Erinnerungsvermögen mithilfe von Zetteln zu trainieren, die einen vielleicht ans Einkaufen erinnern, eine Erinnerung aber von den Zetteln abhängig werden lassen können. Doch Dorothea reagiert nicht, weil die Mutter einen möglichen Einwand dadurch verhindert, dass sie ein zweites Argument nachschiebt, mit der sie die Größe der Aufgabe und den Umfang ihrer Bitte verkleinert: »Nur zum Bäcker« muss Dorothea gehen, wenn sie einkauft (Z. 11). Vielleicht verkauft der Bäcker auch Getränke, oder zum Bäcker ist der Weg am längsten und Getränke lassen sich auch auf dem Hin- oder Rückweg kaufen. Wie dem auch sei, Dorothea reagiert auf die Verkleinerung der Aufgabe und Bitte, indem sie kontert und nun die Mutter darauf hinweist, 153
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dass sie ein »nur« Einkaufen doch selbst erledigen kann (Z. 12). Die Mutter verschluckt sich am »nur« und damit fast an ihrem »wollte«, das nicht nur durch die Nahrung blockiert wird, sondern die Unlust der Mutter erfährt mit der Einschränkung ihrer Bitte, die ihre eigene Pflicht ebenfalls einschränkt, keine Rechtfertigung. Ein Umstand, den sie selbst erst (bewusst oder unbewusst) runterschlucken und damit anschließend ihre Verkleinerung ein drittes Mal wiederholen muss. Mit ihrem dreimaligen »nur« sorgt die Mutter dafür, dass nicht die Kraft des besseren Arguments verhandelt wird. Dorothea soll auch ohne Einsicht in den Sinn der mütterlichen Bitte, deren Unsinn sie bislang dargestellt hat, der Bitte entsprechen und einwilligen. Ob nun wirklich alles korrekt ist (o.k. oder okay als Verschleifung von all correct), darf angezweifelt werden, jedenfalls nimmt Dorothea der Mutter den Brocken, an dem sich diese fast verschluckt, ab und klärt damit sämtliche Implikationen der mütterlichen Rede. Dorothea hat praktisch verstanden, was die Mutter »wollte«, nämlich nicht Einkaufen. Und Dorothea löst den von der Mutter aufgeworfenen Widerspruch zwischen Müssen ohne zu Wollen, d.h., ohne »müssen« zu sagen, aber »wollte« zu behaupten, indem sie eine Entscheidung fällt. Damit beweist Dorothea, dass sie die Familiensolidarität aufrecht erhalten und ebenso wie ihre Mutter (doch schon) Versorgungsaufgaben übernehmen kann.
Zusammenfassung Diese kleine Sequenz scheint nur allzu bekannt, weil alltäglich zu sein. Sie erinnert an oft beobachtete und erlebte Szenen, wenn es um die Verhandlung von Aufgabenteilungen geht: Mittels weniger kryptischer Aussagen, einem Dialog in minimal art, der gleichsam eingespielt wirkt und in dem Klischees als Argumentationen verwendet werden, wird bei gegensätzlichen Interessen (Positionierungen) eine Entscheidung herbeigeführt und es werden Familienaufgaben verteilt. Dabei wirkt die Szene höchst indexika – vieles wird angesprochen, das als für die Teilnehmer bekannt erscheint, aber unausgesprochen bleibt. Ihre Dramaturgie lässt sich als Eröffnung und Schließung einer Ellipse, einem eingelagerten Exkurs über die Inkompetenz bzw. Kompetenz der Tochter und zum Schluss als ein symmetrischer Diskurs inter pares kennzeichnen, denn die Mutter wiederholt nur noch ihre Bitte bzw. deren Verkleinerung und die Frage ist nur noch, wer den längeren Atem hat. In diesem Sinne erscheint hier ein nicht-intentionales Lernparadigma, denn die Mutter eröffnet Dorothea mit der Ellipse die Möglichkeit, ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen, und zwar sowohl ihre Kompetenz in Bezug auf ein Verstehen, um die Unlust der Mutter, um die Situation als solche usw.; des weiteren ein theoretisches Wissen, denn die Mutter unterstellt, dass Dorothea weiß, wo der Bäcker sich befindet, wie Einkaufen funktioniert usw.; als auch ihre Kompetenz in Bezug auf ein praktisches Können, denn der Einkauf fordert Hingehen, Aussuchen, 154
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Bezahlen, Tragen etc. Noch grundlegender erscheint allerdings die Tatsache, dass sie Dorothea die Möglichkeit eröffnet, auf ihr »Angebot« eine Erwiderung zu finden, d.h., sie eröffnet die Möglichkeit einer situativen Symmetrie der Dialogpartner. Allerdings erlaubt dies nur ein Entweder-Oder und impliziert die Gefahr, dass die Unlust von Mutter und Tochter zum Konflikt führt. Man kann die Sequenz selbst als eine ritualisierte Lösungssuche betrachten in Bezug auf die beste Möglichkeit, wechselseitig das Gesicht zu wahren. Die (erfolgreiche) Strategie der Mutter und der (erfolglose) Widerstand der Tochter werden als solche nicht entlarvt. Der Mutter, die nicht pädagogisch doktrinär auftreten will, aber gleichwohl nicht für die Familie einkaufen will, woran sie ihr »nur« allerdings doch noch erinnert, steht die Tochter gegenüber, die als »gute« Tochter ihren Widerstand nicht konsequent durchhält und doch noch einwilligt. Die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten, der versteckte, mögliche Gehalt erzeugen Vorsicht, und Dorothea reagiert nicht mit einem Aufgreifen eines möglichen Dialogs über das Einkaufen, sei es der heutige Einkauf oder künftige Einkäufe. Sie reagiert zurückhaltend, misstrauisch abwartend und überlässt es der Mutter, den Gehalt ihrer Äußerungen zu verdeutlichen. Dorothea läuft der Mutter nicht bereitwillig in die Falle. Erst nach einem Hilfsangebot, der Verkleinerung und nach Wiederholungen willigt Dorothea ein, Brot zu kaufen bzw. zum Bäcker zu gehen. Offensichtlich ist dieses Einverständnis wichtiger als die Klärung der Frage, wer die Getränke kauft. Das »o.k.« ist eine grundsätzliche Entscheidung, die wohl auch die Getränke einschließt, weil, wer sich erinnern kann und sich auf den Weg zum Bäcker macht, kann auch Getränke mitbringen. Bezogen auf die Diskursstrategien der Mutter, die Aufgabenteilung der Familie, die hier – falls Dorotheas Vergessen eine Realität bezeichnet – neu verhandelt wird, und die solidarische Sorge ums gegenseitige Wohlergehen ist Dorotheas Erinnerungsvermögen dem der Mutter voraus. Während die Mutter zwar an die familiäre Versorgung denkt, ihre Aufgabe aber vergessen will, vergisst die Tochter zwar Brot und Getränke, übernimmt aber die Aufgabe der Mutter, nicht nur, indem sie den Einkauf übernimmt, sondern indem sie einwilligt und damit – wenn auch widerstrebend – die Situation rettet. Und sie gewinnt damit zugleich an Kompetenz, denn Dorothea wird sich eben doch – gezwungenermaßen – erinnern (können). Der von der Mutter ausgeübte Handlungszwang wirkt sehr subtil, weil über die Kompetenzdiskussion und die damit einhergehende Generationendifferenz vermittelt und daher nicht so massiv. Trotzdem gibt es hier eine »Einbahnstraße« (Benjamin 1984), denn der von der Tochter erbrachte Beweis der Familiensolidarität geht allzu deutlich auf ihre Kosten, als dass man hier von einem herrschaftsfreien Diskurs sprechen könnte. Die mütterliche Macht wird hier nicht als Zwang oder Gewalt qua expliziter Einforderung von Handeln mit inhärenten Sanktionsmechanismen deutlich, sondern als verschleierte 155
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Form der Vergegenwärtigung von Vermeidungspotentialen, die hier nicht aktualisiert zu werden brauchen. Die damit einhergehende Neuordnung der Aufgabenteilung basiert jedoch auf der Generationendifferenz, denn Dorothea ist die einzige, deren Kompetenzen zur Debatte stehen, wogegen die Unlust der Mutter, die Dorotheas Problem erst auslöste, keinem Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck unterliegt. Während die Mutter lediglich diskursives Geschick beweisen muss, um sich einer Aufgabe zu entledigen, muss Dorothea, um eine – widerstrebend akzeptierte – neue Aufgabe ohne eigenen Gesichtsverlust annehmen zu können, mehrfach Kompetenz beweisen. Die Tochter weiß, dass sie an dieser Stelle einlenken muss, will sie nicht Gefahr laufen, die von der Mutter angespielte Neuordnung des Generationenverhältnisses, die eine Anerkennung der Kompetenzen der Tochter in Form einer indexikalen Aufgabenverhandlung – im Unterschied zu einer nicht verhandelbaren, einfachen Aufgabenzuweisung – beinhaltet, in Frage zu stellen und die damit – unausgesprochen gebliebenen – einher gehenden Folgen zu tragen. Das implizite Verständnis in der familiären Kommunikation generiert eine ebensolche Solidarität, die, weil sie nicht Thema wird, um so bedeutsamer und stabilisatorischer erscheint.
Transkript »Briefmarke«, Aufzeichnung vom 06.06.1999, Abend Dass die Aufgabenteilung nicht nur einmalig zur Debatte steht, sondern deren Neuordnung zum aktuellen Thema der Familie wird, unterstreicht die nur drei Tage später, an einem Sonntag stattfindende Passage. Das Abendessen hat um 20.20 Uhr begonnen, mit einem üblichen Anfang und üblicher musikalischer Untermalung. Diesmal kommt die Mutter nach nur drei Minuten direkt zur Sache: (M = Mutter; D = Dorothea; Einrückungen = Anschlüsse bei Unterbrechungen) Zeilen 1-8 M Ich leg grad mal den Brief hier hin, kannst du morgen ne Briefmarke kaufen. Ich geh morgens schon aus dem Haus und komme D Wo denn? M Hier beim Ze, hier beim Zeitungsfritzen, hier der… D Aber ich muß doch selber heut so früh, morgen so früh raus. M Aber du kommst doch viel früher als ich zurück, wenn ich D Ja, o.k.
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Interpretation Die Szene beginnt mit einem offensichtlichen Kommentar der Mutter zu einer Handlung, in dem sie eine gewisse Beiläufigkeit zum Ausdruck kommen lässt: Wer »grad mal« etwas tut, sagt zugleich, dass diesem Tun eine gewisse Kontingenz innewohnt und man sie nicht besonders ernst zu nehmen braucht. Allerdings deutet ein »grad mal« an, dass noch eine Folgehandlung zu erwarten ist, was sich durch die Kombination mit dem »hier« noch verstärkt. Das »hier« erzeugt Aufmerksamkeit, Dorothea soll sich merken, wohin die Mutter den Brief legt, um ihn später seiner Bestimmung überführen zu können. Der Zusammenhang von Raum und Zeit – der auch im weiteren Verlauf der Sequenz eine nicht unwesentliche Rolle spielt – signalisiert mithin nicht nur eine Beiläufigkeit der Handlung, sondern zugleich eine noch zu erwartende Notwendigkeit: Hier wird Kontingenz mit Kategorizität verknüpft und in der nachfolgenden Äußerung kommt eine implizite kommissive Äußerung (vgl. Austin 1988: 176) zum Ausdruck, die allerdings, wie sich zeigt, nicht die Sprecherin, sondern die Hörerin auf ein bestimmtes Verhalten festlegen soll. Zunächst verweist das »können« in Zeile 1 lediglich auf eine Möglichkeit, wobei die Mutter wiederum mehrfache Interpretationsmöglichkeiten offen lässt, denn es wird nicht deutlich, ob hier eine Frage, Bitte, Aufforderung oder lediglich eine Präposition zum Ausdruck kommt. »Können« verweist aber auch darauf, dass jemand fähig ist, eine bestimmte Handlung auszuführen. Doch weder besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Hinlegen eines Briefes und dem Kaufen einer Briefmarke, noch besteht ein solcher Zusammenhang zwischen dem Hinlegen des Briefes durch die Mutter und der Möglichkeit, dass die Tochter die Briefmarke kauft. Dieser Zusammenhang muss erst hergestellt werden. Ein Brief braucht, um als solcher zu gelten, eine Briefmarke, und um diese Notwendigkeit dreht sich des weiteren die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter. Evident wird auch, dass ein Brief, der beim Abendbrot zu einer Handlung führt, die das Essen unterbricht, und der einer Kommentierung bedarf, weil am nächsten Tag eine Briefmarke gekauft werden soll, eine gewisse Dringlichkeit besitzt und keine Zeit (mehr) zu haben scheint. Damit ist der Sachverhalt geklärt: Für einen Brief muss morgen eine Briefmarke gekauft werden. Aber warum nur eine? Das »ne« ist eine sprachliche Verschleifung, die eine Marke – und nicht vielleicht zehn Marken – bedeutet. Kommt in dieser Verschleifung wiederum eine Marginalisierung zum Ausdruck? Es dürfte ja kein Problem sein – auch nicht für die Tochter, eine Briefmarke zu kaufen. Dann antizipiert die Mutter eine ablehnende Reaktion der Tochter. Oder delegiert sie lediglich ein ihr lästiges Problem so, dass sie auch hier der Tochter die Aufgabe nicht dirigistisch zuweist, sondern ihr diesmal ein Angebot oder eine Bitte unterbreitet, die kein »nur« erfordert, al157
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so bereits ein emphatisches Verständnis beinhaltet? (Dass Mutter oder Tochter bei jedem Brief erneut nur eine Briefmarke kaufen, wird hier nicht unterstellt.) Mit dem zweiten »ich« und im Aufgreifen des »morgen« beginnt die Mutter die Legitimation der Delegierung, die jedoch argumentativ schief gehen könnte. Denn ein frühes Verlassen des Hauses würde der Dringlichkeit des Briefes entsprechen und also dafür sorgen, dass die Mutter sinnvoll selbst die Briefmarke kauft. Allerdings nur dann, wenn sie das Haus nicht so früh verlässt, dass die Läden, in denen man Briefmarken erwerben kann, noch geschlossen sind (was – wie sich später zeigt – nicht wahrscheinlich ist, denn die »Zeitungsfritzen« haben schon in den sehr frühen Morgenstunden geöffnet). Zunächst schließt die Mutter hier ein Zeitfenster, denn am nächsten Morgen aus dem Haus zu gehen und morgen eine Briefmarke zu kaufen, engen den Handlungsspielraum ein. Die Mutter scheint hier zu behaupten, dass, wer morgens aus dem Haus geht, nicht gleichzeitig eine Briefmarke kaufen kann. In diesen beiden Sätzen wird über das Präsens und den Indikativ (»ich leg grad«) zweimal auf das Futur zugegangen, ohne es grammatikalisch korrekt zu bilden, einmal über das Modalverb »können«, das einen Konjunktiv, Optativ oder Imperativ nahe legt, und dann im Sinne des »Gehens« und »Kommens« als Futur I, das eine Ankündigung der Mutter ausdrückt, die ebenfalls einen Indikativ meint. Unterstrichen wird dieser Indikativ durch das Temporaladverb »schon«, das verstärkend die Zeitlichkeit des Morgen betont. Grammatikalisch ist also die auf Dorothea gerichtete Modalität eingerahmt in zeitliche Indikationen. Dieser Schließung wird die Modalität nicht mehr entkommen: Dorothea wird einkaufen gehen müssen. Das lässt sich auch nicht in einer Reaktion darauf ändern, dass die Mutter das Klischee der allseitigen Versorgerin bemüht. Wer von morgens an unterwegs ist und spät wiederkommt, steht ununterbrochen im Dienst der Familie, und man kann dann nicht verlangen, dass die Mutter auch noch und nur eine Briefmarke kauft. Nicht nur, weil es eine andere Befähigte gibt, die nur noch ihre Zuständigkeit erkennen und akzeptieren muss, sondern weil es Wichtigeres und Höheres gibt. Insofern darf die Tochter auch weiterhin Tochter bleiben, wenn sie der Mutter wieder eine kleine Aufgabe abnimmt. Doch diese Argumentation – die allzeitige Versorgerin kann (konnte und wird können) keine Briefmarken besorgen – läuft auf einen performativen Widerspruch hinaus, denn die Mutter bemüht ein Klischee, um sich einer Aufgabe zu entledigen, derer sie sich morgen nicht zu entledigen bräuchte, würde sie das Klischee erfüllen. Und sie nutzt das Klischee, um sich für dieses Mal von der damit verbundenen einseitigen Aufgabenteilung zu befreien. Die Mutter stellt sich hier in einer Rolle dar, zu der sie gleichzeitig eine Distanz einnimmt (vgl. Goffman 1973: 121). Mit diesem Widerspruch wird Dorothea in die Pflicht genommen, die Mutter kommuniziert also eine Aufforderung. 158
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Dorothea greift das Zeitmodell der Mutter nicht auf (Z. 3), auf dieser Ebene besteht keine Widerspruchsmöglichkeit, vielmehr sucht sie nach einem Ausweg in der Bestimmung des Ortes. Ihre opponierende Rede setzt buchstäblich in dem Moment ein, wo die Mutter – dramaturgisch – schon fast das Haus verlassen hat, beim »dem«. Die Tochter erkennt das Klischee insofern an, als sie ihm nicht widerspricht, und wahrscheinlich weiß sie, wie der Satz enden würde. Sie versucht, sich die Mutter zu greifen, solange sie noch nicht ausgeführt hat, dass sie das Haus morgens verlässt. Sprachlich ist die Mutter also noch anwesend und vielleicht besteht die Möglichkeit, die Mutter zu fassen zu kriegen und über eine räumliche Verschiebung dem drohenden Kaufauftrag doch noch zu entgehen. Die fragende Entgegnung zeigt, dass Dorothea den Aufforderungscharakter verstanden hat. Dorothea setzt mit ihrem Widerstand ein, bevor die temporale Schließung der Mutter vollständig ist, bevor diese sprachlich (spät) nach Hause gekommen sein kann. Dorothea weist hier zwar die ihr von der Mutter unterstellte Fähigkeit zurück, zieht die Kompetenz der von der Mutter vorgeschlagenen Person jedoch nicht grundsätzlich in Zweifel, denn ein ungeduldiges »wo denn« beinhaltet zwar eine Verweigerung, aber die Mutter kann der von ihr vorgeschlagenen Person dieses Wissen einfach vermitteln. Insofern ist diese Verschiebung des Problems von der Zeit- auf die Ortsfrage wohl schon die Reaktion einer resignierenden Akzeptanz. Die Mutter kommt dem Ort mit dem »Hier« entgegen (Z. 4), sodass für eine Briefmarke auch nur ein kleiner Aufwand erforderlich ist. Dies ist nach der Marginalisierung über die Anzahl nun eine räumliche Marginalisierung, die durch die zweifache Widerholung – ähnlich wie beim dreifachen »nur« in den Zeilen 11 bis 13 der Sequenz »Brot« – noch unterstrichen wird. Die topografische Schließung des Ortes ergänzt nun die temporale Schließung zu einer Argumentation: Weil die Mutter aus zeitlichen Gründen nicht kann und der Ort für die Tochter so nahe liegt, bleibt für den Kauf der Briefmarke nur eine Lösung. Doch dies gelingt nicht sofort, zwischen der dreifachen räumlichen Schließung ereignet sich ein Versprecher, die Mutter setzt mit »Ze« an, stolpert und muss ein zweites Mal ansetzen. Meint sie hier zunächst den Zeitungsladen und reagiert auf ihr zweites »hier«, dass die Aufgabe verkleinert, indem sie den Zeitungsladen zum saloppen, umgangssprachlichen »Zeitungsfritzen« runterspielt? Der Fritze von nebenan entspricht zumindest der räumlichen Marginalisierung besser als ein unpersönlicher, distanzierter Laden. Vielleicht äußert sich im Versprecher aber auch eine Distanz der Mutter zum despektierlichen »Zeitungsfritzen«, der – wie schon nur eine Briefmarke – unter ihrem Niveau liegt. Dies würde eine topografische Wiederholung des bemühten Klischees bedeuten, allerdings wäre diese Anbindung nun mit einer Zumutung an ihre Tochter verbunden, die sich zu einem Ort begeben müsste, an den die Mutter sich nicht begeben will. Oder ist sich die Mutter nicht si159
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cher, ob man in (allen) Zeitungsläden Briefmarken erhält, und muss nun aufpassen, dass sie ihrem bemühten Klischee nicht auch noch dadurch widerspricht, dass sie selbst die Frage ihrer Tochter nicht genau beantworten kann? Damit wäre Dorothea aus der Pflicht genommen, denn ihr ausgedrückter Mangel an Kompetenz könnte von der Mutter nicht behoben werden, womit die Mutter ein neues Argument zur Aufgabendelegierung finden müsste, ohne dass sie das Zeitargument noch nutzen könnte. Nicht zu wissen, wo Briefmarken erhältlich sind, erhöht den Zeitaufwand unter Umständen beträchtlich. Die Mutter könnte sich auch versprechen, weil es noch einige andere Orte gibt, an denen man Briefmarken kaufen kann, die also von ihr tagsüber erreichbare Orte wären. Doch die Mutter nimmt die Klippe mit Bravour und nutzt den Versprecher für die Wiederholung der räumlichen Schließung, womit sie einen sehr hohen Aufwand betreibt, um einem Scheitern zu entgehen (Z. 4). Wahrscheinlich war Dorothea einer Lösung in ihrem Sinn sehr nah gekommen oder hat die Mutter mit dem Eingeständnis eigener Inkompetenz verblüfft, die ja auch das empathische Verständnis der Mutter infrage gestellt hat: Wie viel Verständnis bringt eine Mutter auf, die ein Können ihrer Tochter behauptet (Z. 1), ohne zu wissen, was ihr Kind nicht weiß (Z. 3)? Zumindest reparieren der »Zeitungsfritze« und die gebetsmühlenartige Wiederholungen des »hier« die im Versprechen missglückte Benennung des Ortes (vgl. Austin 1998: 36ff.) und stellen das von der Mutter behauptete Können Dorotheas sicher. Dorothea versteht auch diese Lösung und wartet eine genauere Ortsbeschreibung nicht ab, sondern widerspricht mit einem »aber«, das zunächst noch einmal bestätigen kann, dass die Aufgabe für Dorothea neu ist. Dorothea begibt sich mit ihrem »aber«, das sich unmittelbar an das dritte »hier« der Mutter anschließt, in eine deutliche Opposition, obwohl sie eine Antwort auf ihre Frage bekommen hat und nun tatsächlich in der Lage ist, die Briefmarke zu kaufen. Dorothea willigt nicht ein, dass die normative Kraft des Faktischen – eine Marke muss auf den Brief – sich zu ihren Ungunsten als faktische Normativität – du musst die Marke kaufen – umwandelt. Sie stellt dieser faktischen Normativität mit »aber«, »doch« und »so« (Zeilen 5, 6) eine diskursive und faktische Blockade und Verstärkung gegenüber, sie ist »selber« ein Zeitmangelwesen. Damit rekurriert sie auf eine symmetrische Ausgangslage, in Bezug auf Zeit herrschen die gleichen Bedingungen für alle, und kehrt zurück zu der temporalen Argumentation ihrer Mutter, deren Geltung sie wiederum nicht infrage stellt, sondern für sich in Anspruch nimmt (Z. 6). Damit versucht Dorothea das Klischee der Mutter zu kopieren, doch dabei unterläuft nun ihr ein Versprecher, der die Sinnlosigkeit des Widerspruchs auf semantischer Ebene abbildet. Sie korrigiert sich schnell, doch der Versprecher ist fundamentaler als allein die Verwendung der falschen Tagesbezeichnung vermuten lässt. 160
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Dorothea begibt sich selbst in einen performativen Widerspruch, denn man kann »heute« nicht mehr »so früh raus« müssen (Z. 6), wenn man längst aufgestanden ist (und sich zwischenzeitlich nicht wieder hingelegt hat). Das zweimalige »so früh«, dass nach der Verbesserung den nächsten Tag betrifft, scheint eine Ausnahme zu sein und bezieht sich dann auf den einen Tag, an dem die Briefmarke zu kaufen ist. Hier folgt Dorothea der temporalen Schließung ihrer Mutter. Es geht auch für Dorothea um eine Briefmarke und eine Handlung an nur einem besonderen und nahen Ort an nur einem besonderen und nahen Tag. Inhaltlich ist der mit einer temporalen Bestätigung verbundene Widerspruch sinnlos, weil die Kopie des Klischees nur bestätigen kann, was Dorothea mit ihrem ersten Einspruch – der Frage nach dem Ort – schon einmal akzeptiert hat: Die Mutter muss – wie Dorothea – das Haus früh verlassen. Bezogen auf die Briefmarke löst ein symmetrisches Zeitproblem auf Dorotheas Seite die Frage nicht, wer einkaufen gehen kann. Da helfen auch keine diskursiven Verstärkungen. Das »aber« der Mutter (Z. 7) verstärkt dann auch Dorotheas eigene Argumentation, denn die Mutter hat ihr Klischee selbst bisher nicht ausgeführt. Erst jetzt klärt sich, dass sie später als Dorothea zurück sein wird, bzw. wird Dorothea morgen »viel« früher als die Mutter zurückgekommen sein. Damit ist das erste Argument der Mutter ausgeführt. Es ist jetzt nicht mehr auf die Mutter selbst bezogen, die vom »ich« (Z. 1, 2), das die Aufforderung an Dorothea begründet, zum »Du« wechselt, womit im Vergleich die Tochter schlechter abschneidet. Das »Du« markiert in der Zeitfrage einen Wechsel zum anderen Subjekt, das als direkt angesprochenes Gegenüber nicht nur eine größere Zeitsouveränität besitzt, sondern auch eine größere Autonomie erlangt und diese in den Dienst der Familie stellen soll. Die Zeitbudgets von Mutter und Tochter werden – angeregt von Dorothea – hier direkt verglichen und der zeittheoretische Vorteil entpuppt sich für Dorothea als handlungspraktischer Nachteil. Die Mutter erkennt dies an und rückt sofort die symmetrische Behauptung Dorotheas zurecht, denn beide unterliegen nicht demselben Zeitmangel. Die Mutter kippt Dorotheas Begründung, indem sie das Klischee wieder gerade rückt – und in dieser Inversion ebenfalls auf den Dreiklang verstärkender Adverbien nicht verzichtet: »aber«, »doch«, »viel«. Das bestätigt die Autorität der Mutter, die sich in einen Widerspruch begeben kann und sich dennoch durchsetzt. Beim »zurück« der Mutter weiß Dorothea, dass sie verloren hat. Die Mutter muss nicht mehr ausführen, was passiert, »wenn« sie … (zurückkommt). Dorotheas »ja« vor dem »o.k.« signalisiert nun aber keine resignierende Einwilligung, sondern eine Einsicht in die – von Dorothea akzeptierten – besseren Argumente der Mutter. Dorothea hätte, um die Zukunft des Könnens zu nutzen, den performativen Widerspruch der Mutter sichtbar werden lassen müssen und ihre Mutter 161
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als Versorgerin (sorgt sich um die Briefmarke), Umsorgerin (sorgt sich um Dorotheas Kompetenzen und Belastung durch die Aufgabe) und Besorgerin (verschafft Dorothea die nötige Ortskompetenz) infrage stellen müssen. Denn egal wie der morgige Tag beginnt, Dorothea wird von der Mutter keine Zeitlücke gelassen, von der aus Dorothea argumentieren könnte. Aus dem Futur I in Zeile 1 ist in Zeile 7 ein Futur II geworden, das eine Abgeschlossenheit ausdrückt, in der die Zukunft – und damit auch die Entscheidung über das Briefmarkenkaufen – immer schon entschieden ist. Der Kreis schließt sich ganz im Sinne der Mutter, die jetzt – durch den Widerspruch Dorotheas verspätet – zu ihrem legitimatorischen Ausgangspunkt zurückkehrt. Dorothea kann den direkten Vergleich mit der Mutter nicht bestehen, und für sie fängt die Zukunft erst an, während sie für die Mutter schon vergangen ist. Aus Dorotheas Perspektive wird sie erst morgen die Briefmarke kaufen. Aus der Perspektive der Mutter steht schon heute fest, dass Dorothea morgen die Briefmarke gekauft haben wird.
Zusammenfassung Diese kleine Sequenz wirkt insgesamt wie ein Versuch der Mutter, durch Unscheinbarkeit und Beiläufigkeit Notwendigkeit zu erzeugen. Die Zeit ist dafür ein hervorragendes Medium. Sie sickert in alle Bereiche menschlichen Lebens und verströmt eine Macht, der man sich nur schwer entziehen kann. Die selbstverständliche Akzeptanz einer Zeitordnung erzeugt auch hier eine diskursive Macht, die von der Mutter eingesetzt und gegenüber Dorothea letztlich beherrscht wird. Die Zeit scheint als Argument unangreifbar zu sein, selbst wenn die Mutter sich widersprüchlich in ein mit Zeit begründetes Klischee verstrickt. Dorothea durchbricht die Macht der Zeit und damit die Position der Mutter nicht, weil sie die performative Differenz, die von der Mutter beiläufig zwischen Zeit und Klischee gesetzt wird, nicht nutzen kann. Nur die Versprecher von Mutter und Tochter verweisen auf die Differenz. Die Macht der Zeit erzeugt eine familiale Konformität, weil sich an ihr die individuellen und kollektiven Zeitrhythmen ausrichten. Die Mutter kann sich einer Aufgabe entziehen, wenn sie behauptet, individuell keine Zeit zur Erfüllung einer Aufgabe zu haben, und Dorothea muss einsehen, dass sie am nächsten Tag einen Teil ihrer Zeit für eine neue Aufgabe aufwenden wird. Darüber hinaus werden neue Aufgaben offenbar doch während der Tischzeit verhandelt. Mutter und Tochter unterwerfen sich beide der Macht der Zeit, doch wirkt sich diese Anerkennung in einer merkwürdigen Umkehrung aus, die bezogen auf die Zeitsouveränität eine bestehende Asymmetrie verkleinert. Das der Zeit bisher stärker unterworfene Subjekt gewinnt in dieser Unterwerfung eine diskursive Macht über diejenige, die sich bisher der Macht der Zeit – zu Hause – weitgehend entziehen konnte. Die Schule wird thematisch nicht tangiert, doch nun 162
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lernt Dorothea auch zu Hause den Zusammenhang zwischen Zeitkompetenz und Aufgabenkompetenz normativ kennen. Dass diese Unterwerfung während der gemeinsamen Tischzeit erfolgt, bestätigt die Bedeutung der neuen Aufgaben und der bewiesenen Solidarität für die Familie. Letztlich kann die Mutter sich einer Aufgabe entziehen, ohne dass ihre Identität gefährdet wird. Die Mutter bleibt die Versorgerin der Familie. Dorothea ist aufgefordert, sie darin zu unterstützen. Aus einer Polyvalenz von Äußerungen und sprachlichen Interaktionsmustern ergeben sich neue Pflichten und Verantwortlichkeiten für Dorothea. Die engen, wechselseitigen Entsprechungen lassen auf habitualisierte Handlungsmuster schließen, die von Mutter und Tochter ritualisiert eingesetzt werden. In beiden Sequenzen geht es um Kleinigkeiten, in denen sich eine ganze Pädagogik entfaltet. Im interaktiven Vollzug dieser Kleinigkeiten, die vor dem Aussprechen des Gegenteils schützen, werden die Zuständigkeiten in der Familie neu verhandelt. Im Mittelpunkt des Angedeuteten steht Handlungskompetenz, die von der Mutter auf die Tochter im Sinne einer Anrufung übertragen, und von der Tochter, deren praktische, verschiebende Anrufung des Klischees an der diskursiven Macht der Mutter scheitert, akzeptiert wird. Während die Mutter sich für die Delegation von Aufgaben eine veränderte Identität zuschreiben kann – sie schränkt ihre Handlungskompetenz ein, muss Dorothea die von der Mutter zugewiesene Identität anerkennen, sie handelt kompromissfähig, obwohl ihre Selbstbehauptungen von mangelnder Kompetenz scheitern. Der Mutter gelingt es, den Rahmen für die Verhandlung vorzugeben und die von ihr in den Sequenzen ins Spiel gebrachten argumentativen Kategorien von Raum und Zeit wirken sich entgegen der geäußerten Opposition, d.h. gemessen an der Asymmetrie der Generationendifferenz zu Dorotheas Nachteil aus, die diesen grundlegenden Argumenten nichts Adäquates entgegensetzt. Belohnt wird Dorothea mit einer der Inszenierung der Mutter folgenden Anerkennung ihrer bestehenden und neu erworbenen Kompetenzen durch die Mutter. Die Mutter präsentiert ihre diskursive Kompetenz gerade durch die Aufgabenteilung der Familie und gewinnt aus diesem Zusammenhang ihre Autorität. Doch diese Autorität spielt im Kontext der Mutter-Tochter-Dyade und ist störanfällig. Dorothea bräuchte der nahezu unsichtbaren Machtverkörperung ihrer Mutter diskursiv nichts entgegenzusetzen, sie bräuchte lediglich praktisch ihre Weigerung und ihren Widerstand aufrecht zu erhalten. Dies erfordert kein besonderes Sprachvermögen oder eine bewusste Erkenntnis der mütterlichen Macht und ihrer Grundlagen. Es wäre psychologisch jedoch ungeheuer anstrengend, denn Dorothea müsste sich den Ähnlichkeiten und Gewohnheiten des ritualisierten Diskurses und der rituellen Inszenierung, für die sie bereits Verantwortung trägt und die sie aktiv gestaltet, entziehen. Was immer sie bezogen auf ihre Mutter bereits anzuerkennen gelernt hat, müsste 163
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sie selbst praktisch stören, um die Macht der Mutter brechen zu können. Diskursiv vollzieht sie die normativen Vorgaben der Mutter nach und gewinnt dabei an familialer Kompetenz. Zwei Buchstaben, von Dorothea ausgesprochen, bestätigen die familiale Kompetenz der Tochter, die nur aufgrund der Anrufung der Mutter einer Bestätigung bedarf, und legitimieren zugleich die familiale Autorität der Mutter, die auf diese zwei Buchstaben angewiesen ist: »O.k.«
4.3. Erziehung zwischen rituellem Understatement u n d d i s k u r s i ve r M a c h t Das Tischritual wird bei Familie Maier zum Transmissionsriemen ihrer gegenseitigen Versicherung als Familie. Die Gestaltung des rituellen Raumes verdankt sich einer Reihe von Distinktionen. Die Normen der Arbeits- und Schulwelt sind thematisch weitgehend ausgegrenzt. Anforderungen, die nicht auf die Familie bezogen sind, werden ebenfalls lapidar ausgegrenzt. Das als Abschwächung von Leistungsanforderungen und normativen Vorgaben, die sich auf familiäre und berufliche Leitbilder beziehen, außerhalb der rituellen Inszenierung geäußerte Understatement der Mutter findet sich auf der sprachlichen und gestischen Ebene des Tischrituals auch bei der Tochter wieder. Die Mutter vermeidet Anspannung und sucht Entspannung. Dies gilt auch für die Neuverteilung von familiären Aufgaben. Das Risiko, das eingespielte und aufeinander bezogene Selbstverständnis von Mutter und Tochter durch längere Diskussionen außerhalb der gemeinsamen Mahlzeit infrage zu stellen, geht die Mutter nicht ein. Vielmehr nutzt sie den von Mutter und Tochter gewohnten restringierten Sprachcode des Tischrituals und rekurriert auf ein habitualisiertes Einverständnis, das sich im gemeinsamen Sprach- und Körperstil zeigt.41 Dieses Einverständnis wird in der Vorbereitung und zu Beginn der gemeinsamen Mahlzeit praktisch erzeugt. Ein gemeinsam geteilter Stil zeigt sich in der – auf Seiten der Mutter bewusst sozial distinktiven – Tischgestaltung und im geteilten Musikgeschmack, über den nicht geredet wird. Eine ästhetische Kompetenz wird auf die Tischgestaltung und seine akustische Untermalung ausgebildet, wobei die Musik selbst nicht zum Gegenstand kommunikativer Verständigung wird. Mit Musik verbinden weder Mutter noch Tochter Bildungsansprüche. Die Aufführung sozialer Differenzen in der Tischgestaltung wird in der akustischen Gestaltung zurückgenommen. Tischgestaltung und akustische Untermalung unterstreichen den Charakter des rituellen Raumes als Ort, an dem sich Mutter 41 Ein restringierter Sprachcode ist voller Lücken und verbalisert nicht, was als selbstverständlich gelten kann: »A restricted code is generated by a form of social relationship based upon a range of closely shared identifications selfconsciously held by the members.« (Bernstein 1971: 108) 164
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und Tochter sehr eng aufeinander beziehen. Die Tatsache, dass Dorothea die Tischgestaltung bestimmt und die Musik auswählt, inszeniert diesen gemeinsamen Ort als symmetrischen Raum. Das »Guten Appetit!«, die urteilsfreien Bemerkungen über das Essen und das erlaubte Vergessen der Mutter sowie die entgegen der mütterlichen Intention einer gesunden Ernährung am Tisch erlaubte Nutzung zusätzlichen Salzes durch die Tochter würzen die Gemeinsamkeit der Familie mit Unterschieden. Die Geschmacksunterschiede werden ebenso wenig problematisiert wie das notwendige Spiel ums Salz. Mutter und Tochter vermeiden durch den betriebenen Aufwand und ihre gegenseitiges Understatement eine Zuspitzung und Überlastung, denn dies erzeugt einen stabilen Interaktions- und Kommunikationsrahmen. Deshalb erscheint die rituelle Inszenierung als die Darstellung einer generativen Gleichheit bzw. als antigenerative Inszenierung. Das gemeinsame Understatement gerät nur in Gefahr, wenn im Gewohnten Verschiebungen erfolgen sollen, die ausschließlich von der Mutter initiiert werden. Eine antigenerative Inszenierung legt eine enge Verflechtung von Interaktionen nahe, die auch als solche aufgeführt wird. Hierbei gelingt es der Mutter, eine funktionierende Balance zwischen ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten herzustellen und über die Zustimmung ihrer Tochter eine Überlastung zu vermeiden. Die Mutter muss nicht zur raffinierten Köchin und perfekten Aufgabenmanagerin werden und sich diese Identitäten auch nicht in Form einer pädagogisierten – auf der Generationendifferenz basierenden – Kompetenz zuschreiben. Hier verkörpert die Mutter eine Distanz zu vermuteten kulturellen Werten und führt ihrer Tochter leibhaftig einen Gestaltungsspielraum vor Augen, in dem sie sich zumindest zu Hause anders verhalten kann, als ihr Beruf und ihre Erziehung es ihr nahe zu legen scheinen. Die Mutter verkörpert in der gemeinsamen rituellen Inszenierung mit ihrer Tochter ihren eigenen veränderten Status als geschiedene Mutter und im Rahmen eines beruflichen Aufstiegs als wenig anstrengend, verkraftbar und einer gemeinsamen Normalität nicht im Weg stehend. Die Mutter trennt zwischen ihrer Berufsund Familientätigkeit und verhält sich in beide Richtungen gegenüber ihrer Tochter nicht wertkonservativ. Berufstätigkeit hat ihre Tücken, wird aber als Normalität dargestellt, ebenso wie Familientätigkeit als gemeinsame Normalität von Mutter und Tochter inszeniert wird. Dorothea spielt bezogen auf ihre Arbeitswelt – die Schule – mit, opponiert aber gegen die von der Mutter unterstellte Selbstverständlichkeit neuer Aufgaben und Pflichten. Die Mutter inszeniert sich auf der rituellen Bühne so weit als möglich nicht als Mutter. Dass dieses auf ihre Identität als Mutter bezogene Understatement weniger eine Verkörperung als vielmehr eine Inszenierung ist, zeigt sich erst deutlich, als sie ein abgedroschenes Klischee bemüht, um ihre Autorität zu legitimieren.
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Das rituelle Einverständnis zwischen Mutter und Tochter ist weitgehend inkorporiert und die rituelle Bühne scheint nicht gefährdet zu werden, wenn die Mutter hier etwas tut, was den Rahmen der Bühne sprengen könnte. Sollten sich ähnliche Sequenzen häufen, könnte der rituelle Rahmen seine Wirksamkeit verlieren. Doch die Tochter beweist eine so große individuelle Anpassungsfähigkeit, dass der rituelle Raum sich wohl nur wenig in seiner Anordnung verschieben muss, um im Tischritual auch weiterhin eine antigenerative Inszenierung zu gewährleisten. Zumindest gelingt Mutter und Tochter eine Neujustierung des Generationenverhältnisses im bewährten Rahmen. Dass dieses Verhältnis hierarchisch angeordnet ist, beweist die diskursive Macht der Mutter, die sich – falls sie relevant wird – hinter der normativen Kraft von Zeitordnungen und Raumargumenten oder hinter der Vermeidung diktatorischer Zuschreibungen weitgehend verbergen kann. Sie wird bislang nur sichtbar, wenn die Mutter versucht, die bestehende Asymmetrie in der Aufgabenteilung zu verengen, was der symmetrischen Inszenierung widerspricht, aber aufgrund der mimetischen Nähe und der Beherrschung eines mehrdeutigen, relativ restringierten Sprachcodes gerade im antigenerativ gesetzten szenischen Arrangement möglich wird. Mutter und Tochter sind durch die Ausgrenzungen und die Nähe in ihrem Tischritual so eng aneinander gebunden, dass sie mit ihrer rituellen Inszenierung riskieren könnten, einander den Spiegel vorzuhalten. Die kommunikativen Kompetenzen von Mutter und Tochter – sie beherrschen außerhalb des Tischrituals durchaus die Kunst des Streitens – sowie die akustische, räumliche und kulinarische Gestaltung der rituellen Bühne verhindern dies jedoch. Auch diese Bühne wird zur Arena, in deren Grenzen und nach deren eigenen Regeln sich Mutter und Tochter gegenseitig die Bälle zuspielen. Die diskursive Macht der Mutter sorgt dabei für einen – nicht ganz freiwilligen – Kompetenzgewinn der Tochter.
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5. Familie Hauser: Normalisierende Gelasse nheit be im Abe ndbrot
Familie Hauser besteht aus vier Personen, den Eltern, der dreizehnjährigen Frederike und dem fünfjährigen Erik. Die Familie legt wert auf eine gemeinsame Mahlzeit am Tag, die aus organisatorischen Gründen in die Abendstunden fällt, wobei mitunter Freunde der Familie anwesend sind, der Vater aus beruflichen Gründen jedoch nicht immer anwesend sein kann. Der Vater ist zum Zeitpunkt der Untersuchung vierzig Jahre alt und verfügt über einen Fachhochschulabschluss, den er über den zweiten Bildungsweg erlangte. Er arbeitet zumeist nachmittags und häufig bis in die Abendstunden im sozialpädagogischen Bereich. Die Mutter ist Mitte vierzig, hat ein Universitätsstudium absolviert und ihre Arbeitszeit fällt in die Vormittagsund Mittagsstunden. Sie arbeitet in einem ihrem Studienabschluss angemessenen pädagogischen Beruf. Darüber hinaus zieht sie sich in den Abendstunden und an Wochenenden häufig in ihr Atelier zurück, um künstlerisch zu arbeiten. Die Familie verfügt, wiederum gemessen an den durchschnittlichen Haushaltseinkommen der Großstadt, in der sie lebt, über ein mittleres Einkommen, doch auch dieses übersteigt den Durchschnitt der in ihrem Wohnbezirk erzielten Haushaltseinkommen. Charakteristisch für die Familie ist eine ruhige, abgeklärte Regelung und für spontane Änderung offene Organisation des Familienalltags. Dabei besteht im Unterschied zu Familie Zobel keine explizite Aufgabenteilung zwischen den Eltern im Haushalt und bei der gemeinsamen Erziehungsarbeit. Beide regeln den Alltag der Familie, der Vater vormittags, die Mutter nachmittags und abends, bis der Vater nach Hause kommt. Die dabei vorhandenen Unterschiede in der Aufgabenteilung resultieren auch aus verschiedenen Vorlieben, prinzipiell sind aber beide in gleicher Weise für die Familie verantwortlich. Zu keiner Zeit ereigneten sich während der Beobachtungen Diskussionen über die Aufgabenteilung bzw. Zuweisungen, Ablehnungen oder Begründungen für besondere Zuständigkeiten. Demzufolge sind nicht die Aufgaben, sondern die Zeiten für die Familie zwischen den Eltern aufgeteilt.
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ERZIEHUNG BEI TISCH
Familie Hauser bewohnt eine Mitte der 80er Jahre ausgebaute Dachgeschosswohnung in einem sanierten Altbau aus der Zeit der Jahrhundertwende (19. Jh.). Die Wohnung befindet sich im Eigentum der Familie und verfügt über zwei Eingänge. Beide Wohnungstüren sind aus Stahl und haben denselben Klingelton. Die Familie nutzt den hinteren Eingang, der über das Treppenhaus des Seitenflügels zu erreichen ist. Gegenüber diesem architektonischen Hintereingang, der von der Familie als Vordereingang bzw. »richtiger« Eingang definiert wird, befindet sich der Eingang zum Atelier der Mutter, das von ihr in kürzester Zeit zu erreichen und ihr allein vorbehalten ist. Es wird weder als erweiterter Wohnraum der Familie oder zusätzlicher Spielraum der Kinder noch – wie der Treppenabsatz des Seitenflügels – als zusätzlicher Abstellraum genutzt. Die Wohnung betritt man durch einen langen, schmalen Flur, von dem rechts zuerst das gemeinsame Schlafzimmer der Eltern und dann das gemeinsame Familienbad abgeht. Gegenüber der Eingangstür befindet sich am Ende dieses schmalen, von Wand hohen, einfachen Holzregalen gesäumten Korridors die Tür zum ca. 35 qm großen gemeinsamen Arbeits-, Wohn-, Ess- und Küchenraum der Familie. Rechts befinden sich Ess- und Kochbereich, geradeaus Arbeits- und Wohnbereich, und der Blick fällt auf einen geräumigen, wenn auch nicht sehr großen Balkon. Von der rechten oberen Ecke dieses Zimmers aus wurde ein weiteres ca. 8 qm großes Zimmer abgeteilt, das zum Zeitpunkt der Untersuchung von Frederike genutzt wurde. Zwischen Zimmerwand und Kochbereich führt eine weitere Tür in Eriks Reich, das mit 14 qm wesentlich größer als das Zimmer seiner älteren Schwester ist und von dem der Wohnungseingang ins Vorderhaus abgeht. Alle Fenster der hellen Wohnung zeigen auf begrünte Innenhöfe, der Balkon eröffnet einen weiten Blick über andere entkernte Innenhöfe und Grünanlagen. Frederike hat zum Zeitpunkt der Gesprächsaufzeichnungen noch dieselbe reformpädagogische Grundschule wie Anna, Björn, Carolin und Dorothea besucht, allerdings zum Zeitpunkt der Beobachtungen bereits aufs Gymnasium gewechselt. Die Beobachtungen fanden kurz nach dem Schulwechsel statt und waren insofern von einer anderen Situation als die Gesprächsaufzeichnungen geprägt, weil der Schulwechsel und seine Konsequenzen den Ablauf der gemeinsamen Mahlzeit und die Themen bei Tisch entscheidend beeinflussten. Erik besucht einen städtischen Kindergarten, aus dem ihn die Mutter erst am späteren Nachmittag abholt.42 Erik darf nach vorheriger Absprache auch mit 42 Die offizielle Bezeichnung lautet zwar Kindertagesstätte, die Eltern finden die Bezeichnung Kindergarten aber schöner und äußern sich erfreut darüber, dass diese Bezeichnung für die konkrete Einrichtung auch passend ist. Sie wird auch von anderen Eltern bevorzugt und hat sich durchgesetzt. Die Eltern haben für die Auswahl eines geeigneten Kindergartens ebensolche Mühe verwendet wie für die Auswahl der reformpädagogischen Grundschule ihrer Tochter und wol168
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anderen Kindern und deren Eltern nach Hause gehen, die ihn bis zur Haustür begleiten. Die Mutter empfängt ihn dann am Wohnungseingang zum Vorderhaus. Manchmal holt eine Mutter oder ein Vater mehrere Kinder ab, eine Regelung, die am Tag zuvor abgesprochen und mitunter über längere Zeit aufrecht erhalten wird, wobei die Eltern sich abwechseln, bis es zu neuen Absprachen oder telefonisch zu schnellen Änderungen kommt. Nach dem Kindergarten darf Erik auf dem kleinen Spielplatz im Hof, im Treppenhaus oder in der Wohnung von Nachbarskindern bzw. in seinem Zimmer spielen. Kurz vor Beginn der Beobachtungen hat Erik es sich zur Angewohnheit gemacht, das gemeinsame Essen zu boykottieren. Zumindest versucht er es, und auch dies ist eine einschneidende Veränderung der Beobachtungssituation. Deshalb bezieht sich die folgende Beschreibung auf die Beobachtungsprotokolle, zu deren Ergänzung und Kontrastierung die Gesprächsaufzeichnungen im Sinne von Beobachtungsnotizen herangezogen wurden. Die Aufzeichnungen der Gespräche und die interpretierten Passagen bilden damit einen Vergleichshorizont für die Beobachtungsprotokolle.
5.1. Ordentliches Chaos im Familienraum Alle Mahlzeiten werden im Familienraum eingenommen. Dieser Raum ist deswegen als solcher zu kennzeichnen, weil in ihm verschiedene Funktionen vereint sind. Hier wird gekocht, gegessen, gearbeitet und gebastelt, gespielt, gemeinsam geredet, gemeinsam und einzeln ferngesehen und gelesen, Musik gehört und selbst musiziert. Der Raum wird individuell und gemeinsam genutzt. Vater und Mutter bereiten hier ihre Arbeit vor, Frederike kann hier oder in ihrem eigenen Zimmer ihre Hausaufgaben erledigen und Erik nutzt den Raum als erweitertes Spielzimmer. Darüber hinaus verfügen drei Familienmitglieder über einen eigenen Rückzugsort. Frederike und Erik haben jeweils ihre eigenen Zimmer und die Mutter das Atelier. Nur der Vater verfügt über kein eigenes Zimmer. Er nutzt vormittags den Familienraum für sich, auch zum Musik hören. Zieht sich die Mutter abends ins Atelier zurück, bleibt er meist im Wohnbereich des Familienraums (der Sitzecke) und liest oder sieht fern. Auf gezielte Nachfragen hin gibt er zu verstehen, dass er auf ein eigenes Zimmer keinen Wert legt, und begründet dies mit der begrenzten Zimmerzahl und der damit verbundenen Unmöglichkeit einer wesentlich anderen Raumaufteilung sowie mit einer für ihn ausreichenden Befriedigung seines Bedürfnisses nach Ruhe und Zeit für sich am Vormittag. Er bevorzugt einen großen Raum für die Familie gegen-
len, dass Erik dieselbe Schule besucht. Frederike wurde in der Auswahl der weiterführenden Schulform und insoweit möglich in der Auswahl der konkreten Schule von ihren Eltern ausführlich beraten. 169
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über einer Aufteilung der verschiedenen Funktionsbereiche in kleinere Räume und begründet so auch die Wohnungswahl.43 Im Familienraum wird Besuch empfangen und bewirtet. Freunde und Bekannte der Eltern, auch Nachbarn stellen sich nicht selten abends ein, nachmittags oder am frühen Abend mitunter auch Freunde der Kinder, allerdings nur einzeln und nicht in Gruppen. Frederike nutzt diese Möglichkeit noch seltener als ihr Bruder. Die Freunde der Eltern sind häufig auch gute Bekannte der Kinder, unterhalten sich mit Frederike und spielen mit Erik. Wollen die Eltern allein mit ihren Freunden sein, dann dauert es längere Zeit bis nach dem Abendbrot, um sich ungestört unterhalten zu können. Während Frederike sich von allein allmählich in ihr Zimmer zurückzieht, muss Erik mehrmals dazu aufgefordert werden, allein zu spielen oder sich schon bettfertig zu machen. Spielt er noch in seinem Zimmer, dann lässt er die Tür offen, ruft einzelne beim Namen, kommt immer wieder zurück, zeigt seine Spielsachen oder holt eine Person – auch wenn sie der einzige Gast ist – in sein Zimmer, um ihr seinen Spielaufbau, die Materialien oder Regeln zu erklären. Hier greifen die Eltern nur selten ein, bei Wiederholungen sagen sie nach einiger Zeit leise, freundlich und ohne großen Nachdruck: »Es reicht jetzt, ja.« Besucher und Gäste werden zuerst von Erik empfangen, der auch die Begrüßung der Beobachter managt. Mitunter öffnet er selbst die Wohnungstür, nachdem die Beobachter an der Hautür klingelten, und wartet, bis sie den letzten Treppenabsatz erreicht haben, läuft dann zurück und postiert sich an der Zimmertür zum Familienraum. Oder er kommt zum Wohnungseingang gerannt, wartet bis die Beobachter endlich oben angekommen sind und begrüßt sie, bevor er zur Zimmertür läuft, mit einem neugierigen Grinsen und kurzen »Hallo.« Von der Zimmertür aus beobachtet er, wie die Beobachter ihre Sachen ablegen. Noch bevor sie die Schuhe ausgezogen haben, kommt die Frage »Willst du spielen?« bzw. »Spielst du mit mir?« oder aber gleich die Aufforderung, in sein Zimmer zum Spielen zu kommen. Zunächst bevorzugt er den männlichen Beobachter, kommen die Beobachter nacheinander und die Be-
43 Kurz nach dem Beobachtungszeitraum der gemeinsamen Mahlzeit ändert sich die Raumaufteilung und Frederike und Erik tauschen ihre Zimmer. Darüber hinaus wurde die Gliederung des Familienraums verändert. Der Esstisch wurde neu gebaut und mit zwei Sitzbänken versehen. Er befindet sich nun gegenüber dem Küchenbereich an der Zimmerwand, womit der freie und ungehinderte Zugang zu Frederikes neuem Zimmer zwar verstellt ist, dieses dadurch aber auch deutlicher vom Familienraum abgetrennt ist. An die Stelle des Tisches rückt die Werkbank, sodass die Sitzecke mehr Platz erhält und insgesamt der Familienraum eindeutiger gegliedert ist. Das führt dazu, dass der Tisch zumeist frei bleibt und im unmittelbaren Eingangsbereich des Zimmers eine für Familie Hauser bis dahin ungewöhnlich aufgeräumte Ordnung herrscht. Darüber hinaus wird die Wand über dem Tisch für jahreszeitlich typische Dekorationen wie z.B. winterliche Scherenschnitte genutzt. 170
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obachterin zuerst, reagiert er jedoch genauso erfreut und neugierig auf eine potentielle Spielpartnerin. Den Familienraum zu betreten und sich nach einem kurzen »Hallo!« zu setzen, entbindet einen nicht von der Spielpflicht entweder in Eriks Zimmer oder im Familienraum, zumindest nicht von der Aufmerksamkeit für seine Spielgeräte und Ideen. Erik kann dabei auch neugierige Fragen stellen, die mit seinem Tagesablauf, seinen Ideen und Erlebnissen verbunden sind. Wer die Wohnung betritt, tritt damit zuerst in Eriks Welt ein. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die große körperliche Nähe, die Erik beim Spielen sucht. Diese Nähe kennt zunächst kaum einen Moment der Ruhe, sondern zeichnet sich durch Eriks schnelle und nachdrückliche Bewegungen und Körperkontakte sowie seinen insgesamt großen Bewegungsdrang aus, die eine körperliche Distanz nicht zulassen und zunächst einen fast aggressiven Eindruck erwecken. Mit der Zeit verschwindet dieser Eindruck und wer sich auf Eriks Körpergebaren einlässt, kann feststellen, wie gezielt und effektiv sein heftiges Gestikulieren funktioniert und wie selbstverständlich er zumindest kurzzeitig auf den Wunsch reagieren kann, es nicht zu wild werden zu lassen. Nimmt man sich Zeit und schenkt ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit, dann wird Erik selbst – zuerst im Gespräch, später auch beim Spielen – leiser und ruhiger. Dabei hört er nicht nur konzentriert und aufmerksam zu, sondern auch seine Bewegungen werden entspannter und die körperliche Nähe gewinnt an Zärtlichkeit. Eriks körperliche Aufgeregtheit weicht dann einer konzentrierten körperlichen Spannung. Solange ihn das Thema interessiert, legt Erik im Gespräch auf ausführliche Antworten und Erklärungen wert und fragt sofort laut und ausdrücklich nach, wenn er etwas nicht versteht. Ebenso ausführlich antwortet er auf Nachfragen der Beobachter. Dabei ist die Genauigkeit seiner technischen Erläuterungen, die das Spielgerät und die Materialien sowie seinen Spielaufbau betreffen, beeindruckend. Seine Ausführungen sind dann besonders detailliert, wenn er den Prozess der Herstellung beschreibt. Erik bevorzugt es, seine Spielwelten aus allen möglichen vorhandenen Geräten und Materialien, insbesondere aus Holz, selbst aufzubauen und darüber zu reden, bis auch seinen Kindergarten das Go-Go-Spiel erreicht hat und man mit ihm um die Figuren werfen muss. Dabei ist er ehrgeizig, merkt aber auch, wenn man zu seinem Vorteil schummelt, korrigiert dies anfangs und will dann so lange spielen, bis er wirklich siegt. Siegreichen Würfen der Spielpartnerin zollt er dann immer noch Anerkennung. Erik hat Spaß am Spiel und am Wettstreit, im Vordergrund seiner Spiel- und Erzählfreude steht die Lust am Können. Während dieser Gespräche und Spielszenen mit Erik bereitet die Mutter das Essen vor, Frederike zieht sich entweder in ihr Zimmer zurück oder beobachtet ihren Bruder und – mit gelassener und bisweilen spöttischer Zurückhaltung – die Beobachter bzw. wendet sich mit Fragen zu ihren Hausaufgaben an die Mutter. Die sagt ihr dann zumeist, wie sie ein Problem dadurch lösen 171
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kann, dass sie in ein Lexikon, Atlas oder spezielles Buch schaut, oder fragt schon mal die Beobachter, ob die weiter wüssten. Ist der Vater anwesend, kümmert er sich ums Tischdecken, versucht das Problem seiner Tochter zu erkennen und gibt kurze Ratschläge, wie und wann es gelöst werden kann, oder aber er beginnt ein Gespräch mit demjenigen Beobachter, der nicht von Erik absorbiert ist. Somit lässt hauptsächlich Erik, flankiert und unterstützt von Mutter oder Vater, die Beobachter in der Zeit vor dem Abendessen zu vollständig teilnehmenden Beobachtern werden, während Frederike versucht, sie nach einer knappen Begrüßung weitgehend zu ignorieren. Diese Szenen spielen sich in einem Familienraum ab, in dem der Unterschied zu den Wohnstilen von Familie Zobel und Maier deutlich ins Auge sticht. Wenn man den Familienraum betritt, erscheint er zunächst als Wohnküche. Vorbei an einem großen, dunklen, antiken Schrank gelangt man geradeaus zur Eckcouch und kann den Balkon betreten, auf dem sich zwei Kaninchenställe befinden. Die Kaninchen gehören beiden Kindern, ohne dass hier eine klare Zuordnung erkennbar wäre. Sie werden vorwiegend von Frederike mit Futter versorgt, die Ställe häufig vom Vater gereinigt, oft zusammen mit Erik. Gespielt wird mit den Kaninchen vor dem Abendbrot nicht mehr, Erik zeigt sie aber den Beobachtern, holt sie einmal aus dem Käfig und schmust mit ihnen. Werden die Kaninchen freigelassen, dann in den Kinderzimmern oder auf dem Balkon und nur ausnahmsweise auf dem Flur. Die Mutter erklärt, dass sie die Tiere nicht im Zimmer haben will. Wendet man sich zurück, dann geht links neben dem Balkonfenster die Tür zu Frederikes Zimmer ab, dahinter und der Couch gegenüber befindet sich ein halbhohes Metallregal, in dem Fernseher, Videorecorder, Stereoanlage und CDs, Ton- und Videokassetten sowie Notenblätter und eine Blockflöte untergebracht sind. Nach ca. 3,50 m öffnet sich der Raum nach rechts in den Küchenbereich. An dieser Wandseite, die zugleich die Rückwand von Frederikes Zimmer ist, stehen keine Möbel und es bildet sich ein geräumiger freier Gang zu Eriks Zimmer. Neben dessen Zimmertür befindet sich an der Seitenwand links neben dem Küchenfenster eine große, alte Küchenanrichte, in der ein Großteil des Familiengeschirrs untergebracht ist. Vorbei an der Anrichte öffnet sich ein schmaler Gang in den Küchenbereich, der nach zwei Seiten hin durch zwei rechtwinklige Küchenzeilen definiert ist, die wie eine Ecktheke den Kochbereich vom Wohnbereich abgrenzen. Unter dieser Theke befinden sich die Küchengeräte, an der etwa 1,50 m langen Seitenwand rechts neben dem Küchenfenster die Spüle, die Spülmaschine und der Herd, daneben in der Verlängerung durch die halbhohe Theke der Kühlschrank und über Eck die Arbeitsflächen. Von der Theke aus öffnet sich der Blick auf den Esstisch, den alten Schrank sowie auf eine Werkbank und Sattlermaschine. Der Esstisch befindet sich vor dem Küchenbereich und, wenn man den Familienraum vom Flur aus betritt, gleich rechts neben der Tür. Die Wand, 172
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vor der er steht, reicht bis zum Küchenbereich, wo sich der Raum durch die nach links abzweigende Seitenwand verbreitert. Diese Wand wird in voller Länge von einer hölzernen Sitzbank flankiert, während die Stirnseiten und die linke Seite des rechtwinkligen Tisches von verschiedenartigen Holzstühlen umgeben sind. Hinten links steht ein Kinderstuhl. Auf dem Tisch befinden sich zahlreiche Requisiten: Notizblätter, Schreibpapier, Rechnungen, Stifte, eine Schere, Kleberollen und ähnliches. Er ist nur insofern freigeräumt, wie ein Familienmitglied Platz für seine Arbeiten benötigt, und muss vor dem Essen erst aufgeräumt werden. Die Werkbank steht an der linken Wandseite des Eingangs und besteht aus einem robusten Holztisch, an dem ein Schraubstock angebracht ist, sowie einem Regalbrett über dem Tisch, auf dem kleinere Geräte zur Holzbearbeitung sowie Schraubendreher, Hammer und ähnliches Werkzeug untergebracht sind. Daneben und noch vor dem alten Schrank steht eine in den Raum ragende Sattlermaschine. Weil am Tisch nicht nur gegessen wird und sich in dessen unmittelbarer Nähe die Werkbank und die Sattlermaschine befinden, ist dieser Bereich zwar vom Küchen- und Wohn- bzw. Sitzbereich abgetrennt, jedoch als Arbeitsbereich mit diesen eng verbunden. Werkbank und Sattlermaschine werden hauptsächlich vom Vater genutzt, der hier nützliche Dinge für seine Arbeit vorbereitet oder mit seinen Kindern, vor allem mit Erik, Holz- und Bastelarbeiten ausführt. Hierbei handelt es sich in erster Linie um Spielgeräte oder Raumschmuck, der Werkbereich wird nicht für größere handwerkliche Arbeiten bzw. für Selbstbauten benutzt, die sich in Form der Küchentheke oder von Wandborden etwa im Bad finden lassen. Der Vater verfügt hier über einen zwar nicht vollständig abgrenzbaren, aber doch eigenen Bereich im Familienraum, und weder seine Arbeitswelt außerhalb der Familie noch seine Arbeiten für die Familie und mit den Kindern sind aus der Familienwelt räumlich ausgegrenzt. Diese Tätigkeiten und die Arbeitswelt des Vaters sind auch selbstverständliche Themen der Tischgespräche. Insofern besteht hier ein räumlicher und sprachlicher Kontrast zu den gemeinsamen Mahlzeiten der anderen beiden Familien. Wenn man in der Mitte des Raumes steht, kann man zum Balkon in Richtung Osten und aus dem Küchenfenster in Richtung Südwest/West schauen. Die Fenster im Familienraum sind für eine Dachgeschosswohnung ungewöhnlich groß und lassen den Raum großzügig, licht und hell wirken. Die Fenster können verdunkelt und der Balkon verhangen werden, dies bedeutet allerdings einen erhöhten Einsatz und Aufwand, weil sich an ihnen weder Vorhänge noch Jalousien befinden. Diesen Aufwand betreibt die Familie, allen voran der Vater, nur einmal im Jahr zu Beginn des Sommers und nur zur Verhängung des Balkons, um eine Aufheizung des Zimmers durch Sonneneinwirkung zu verhindern. Auf Fensterdekorationen verzichtet die Familie ganz, im Gegensatz zu Wanddekorationen. An den Wänden hängen von der 173
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Mutter gestaltete, große und kleinere Gemälde und Collagen und über den Türen kleine, von allen Familienmitgliedern gemeinsam erzeugte Kunstwerke, die keine direkten Hinweise auf die Zimmernutzung oder die Bewohner geben, allerdings anhand der dargestellten Szenen und der verwendeten Materialien auf deren Geschmack und Können verweisen. Die Fenster weiten den Familienraum und die Wände zeigen Arbeiten der Familie, die – bis auf die Kunstwerke der Mutter – im Familienraum entstanden sind. Die Atelierwerke der Mutter finden hier einen gebührenden Platz und ihre individuelle Zeit in einem am stärksten abgegrenzten Bereich wird in die Familie räumlich zurückgebunden. Auf ihre Arbeit im Atelier und ihre Berufswelt wird nur dann in den Tischgesprächen Bezug genommen, wenn es für Zeitabsprachen notwendig ist. In Eriks Zimmer sind die Wände durch Regale verstellt, während Frederike ihre Zimmerwände mit Pferdepostern dekoriert hat. In Flur, Bad und Elternschlafzimmer ist an den Wänden kein Platz für Dekorationen und Schmuck, denn auch diese sind mit Regalen und Borden nahezu vollständig verstellt. Insofern ist der Familienraum durch die Kunstwerke an den Wänden als besonderes Zimmer hervorgehoben, und nur Frederike verleiht ihren individuellen Vorlieben an ihren Zimmerwänden Ausdruck. Dennoch fällt dieser Unterschied zu anderen Zimmern auf den ersten Blick nicht auf, denn die Einrichtungsgegenstände und das allgegenwärtige Chaos lassen den größten Raum der Wohnung als ein Zimmer fast wie jedes andere der Wohnung erscheinen. Bis auf den Wandschmuck unterscheiden sich die Zimmer nur durch ihre Nutzung und diese werden im Familienraum zusammengebunden. Bis auf die Küche besteht die Wohnungseinrichtung vorwiegend aus Schränken und Kommoden aus der Zeit der erste Serien- und Massenanfertigungen vom Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, aus einfachen Holzregalen im Flur und Eriks Zimmer sowie aus selbstgebauten Borden. Sitzgelegenheiten sind eher selten und hier muss improvisiert werden. So wird ein Stuhl von der Essecke herangeholt, wenn mehrere Personen auf der Couch Platz nehmen wollen. Zum Sitzen müssen die Sitzmöbel meist erst frei geräumt werden. Auch sonst befindet sich die Wohnung – auf den ersten Blick – in einem chaotischen, unordentlichen Zustand. Überall liegen Sachen verstreut, wodurch die vorhandene Gliederung in verschiedene Tätigkeitsund Wohnbereiche für die Augen der Betrachterin unterlaufen wird. Auch die Bücher und das Geschirr stehen nicht ordentlich sortiert in Reih und Glied in den Regalen und auf den Borden. Zudem liegen überall in der Wohnung Eriks Kleinigkeiten herum. Diese Unordnung erscheint jedoch auf den zweiten Blick als sinnvoll und erweist sich als unaufgeräumte Ordnung, die bis auf Ausnahmen durchgehalten wird. So bleibt immer ein größerer Bereich auf dem Esstisch frei und auch die Couch ist nie vollständig mit Sachen belegt. Es bilden sich den Funktionen der Wohnbereiche entsprechende Haufen von Sa174
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chen, beispielsweise befindet sich schmutzige Kleidung hauptsächlich im Bad, in dem die Wäsche gewaschen wird, Bücherhaufen bilden sich in der Nähe der Regale oder der Sitzecke, Stoffe, Leder, Holz und Werkzeuge häufen sich in der Nähe der Werkbank und Sattlermaschine. Somit herrscht bei Familie Hauser keine wirkliche Unordnung, obwohl sich nicht alles an seinem Platz befindet und Aufräumaktionen auch nicht zum festen Bestandteil des Familienalltags gehören. Die Wohnung wirkt dadurch zwar unaufgeräumt, jedoch sind zumeist eher früher als später alle für besondere Vorhaben notwendigen Utensilien gefunden, sowohl von den Eltern als auch von den Kindern. Wenn Erik nachfragen muss, bekommt er von Mutter und Vater jeweils eine genaue Erklärung und spätestens beim dritten Versuch findet er, was er sucht. Die Familie beherrscht ihr – auf den ersten Blick als solches erscheinendes – Chaos, das sich bei näherer Betrachtung als unaufgeräumte Ordnung erweist. Dabei wirken alle Zimmer intensiv genutzt und der eigenen Entfaltung scheinen räumlich keine Grenzen gesetzt zu werden, auch wenn dies zur Überschreitung der Wohnungsgliederung führt. Während Familie Hauser ihre räumliche Unordnung über Improvisationen, Spontaneität und Entspanntheit beherrscht, führen Frederikes Schulwechsel und seine Folgen sowie Eriks Weigerungen, gemeinsam mit der Familie zu Abend zu essen, auf den ersten Blick zu Chaos am Tisch, das zu Beginn der teilnehmenden Beobachtungen noch nicht beherrscht zu werden scheint.
5.2. Das erste Ma(h)l (07.09.1999) Der männliche Beobachter ist bereits anwesend, als die Beobachterin erscheint. Dabei kommt ihr der Vater im Flur entgegen, der kurz grüßt und die Wohnung verlässt. Daraufhin wird die Beobachterin von Erik an der Tür zum Familienraum begrüßt, wobei ihr auffällt, dass Erik sehr still ist, tief atmet und sich seiner Brust sogar ein leichtes und leises Schluchzen und Seufzen entringt. Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet Erik in quengeligem Tonfall und hat Tränenspuren im Gesicht. Die Beobachterin streicht ihm kurz über den Kopf, betritt das Zimmer, begrüßt mit einem kurzen »Hallo!« und Kopfnicken zuerst die Mutter und reicht anschließend ihrem Kollegen zur Begrüßung die Hand. Während die Beobachterin auf der Couch Platz nimmt, geht ihr Kollege mit seinem Feldtagebuch nach vorn zum Esstisch und beginnt mit ersten Aufzeichnungen. Die Mutter setzt sich neben die Beobachterin und Erik beginnt, mit der Beobachterin zu spielen. Dabei fragt die Mutter Erik, ob sie auf Frederike warten sollen. Die Frage trägt den Charakter eines Vorschlags, auf den Erik nicht reagiert. Als Erik beginnt, sein Spiel zu intensivieren und seine anfänglichen Stille sich bei steigender Lautstärke in heftige, quirlige Bewegun175
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gen verwandelt, reagiert die Mutter ruhig, aber bestimmt mit der Aufforderung, er solle das beenden, sonst würde ihm wieder schlecht werden. Dieses Spiel kenne sie schon, dann wolle er wieder nichts essen, oder erst dann, wenn alle anderen fertig sind. Diesmal gäbe es das aber nicht, wenn er nicht mit allen gemeinsam isst, würde er danach nichts mehr zu essen bekommen. Ihre Stimme ist dabei leise, sie spricht entspannt und äußert sich, als würde sie lediglich einen Tatbestand feststellen. Als Frederike kommt und den Familienraum betritt, verändert die Mutter ihre Sitzhaltung nicht, spricht aber mit Frederike, die offensichtlich reichlich zu spät gekommen ist. Die Stimme der Mutter wird ein wenig lauter als bei den Ermahnungen Eriks, allerdings nur am Anfang ihrer Äußerungen. Frederike war bei einer neuen Schulfreundin, von der die Eltern nur den Namen, nicht aber die Adresse kannten. Frederike versucht mit sachlichen, entgegenkommenden Äußerungen ihre gar nicht aufgeregte Mutter zu beschwichtigen und reagiert damit auf einen Vorwurf, den die Mutter so (noch) nicht ausgesprochen hat. Dabei bleibt sie am Esstisch stehen. Die Stimme der Mutter ist sehr ruhig und wird wieder sehr leise, als sie Frederike darauf hinweist, dass die Eltern nicht gewusst haben, wo sie ist, und dass sie dann nicht so viel zu spät kommen könne. Die Mutter wirkt sehr ruhig, als sie ihre Schlussfolgerung zieht: »Nee, solche Verabredungen treffe ich nicht. Dann geht das eben nicht.« Sie sagt nicht, sie hätte sich Sorgen gemacht, und offenbar entscheidet sie über Zeitvereinbarungen, denn ihre Schlussfolgerung bleibt allein auf sie bezogen, während sie in ihrer Argumentation zuvor auf beide Eltern verwiesen hat. Währenddessen hat Erik ruhiger und etwas leiser weiter mit der Beobachterin gespielt. Frederike geht anschließend kurz in ihr Zimmer und legt ihre Sachen ab. In diesem Moment kehrt der Vater in die Wohnung zurück und die Kinder werden von der Mutter aufgefordert, sich die Hände zu waschen. Dies ist das Signal, dass nun das Essen beginnen kann. Der Vater, Frederike und Erik verschwinden alle drei im Badezimmer, die Mutter holt den Topf aus dem Herd, stellt ihn auf den Tisch und beginnt das Essen auszuteilen. Der Tisch war von der Mutter bereits für vier Personen gedeckt worden, bevor sie auf der Couch Platz nahm. Von den sechs möglichen Plätzen, die der Tisch bietet, sind damit vier als Essplätze definiert. Auf dem Tisch stehen an den entsprechenden Plätzen jeweils ein Teller, daneben auf der rechten Seite jeweils ein Löffel und eine Gabel, drei robuste Porzellanteller sind weiß und haben einen schmalen roten Rand, der Teller vor dem Kinderstuhl ist ganz weiß. Dabei fällt auf, dass keine Trinkgefässe auf dem Tisch zu finden sind. In der Mitte stehen jeweils auf einem Korkuntersetzer die gläserne Salatschüssel mit metallenem Salatbesteck und der Suppentopf aus Emaille, mit Suppenkelle und Deckel. Auf dem gedeckten Tisch findet sich keinerlei Schmuck, es gibt keine Servietten, Tischdecke, Kerzen, Blumen oder ähnliches. Der Tisch wird von 176
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einer Hängelampe gleichmäßig beleuchtet. Es gibt einen gemischten Salat mit Kräuter-Öl-Essig-Dressing und eine Gemüsesuppe zu essen. Die Beobachter nehmen ihre Positionen ein, einmal hinter der Küchentheke, einmal an der dem Tisch gegenüberliegenden Wand. Nach und nach erscheinen alle Familienmitglieder und nehmen am Tisch Platz, wobei Erik am längsten braucht. Die Mutter teilt das Essen sitzend von dem Platz aus, an dem dann der Vater sitzt, und wechselt anschließend zur oberen Stirnseite. Als der Vater und Frederike zum Tisch kommen, einigen sich beide, wer wo sitzt, wobei der Vater letztendlich Frederike den Platz an der unteren Stirnseite durch eine Geste mit der Hand anbietet und selbst an der linken Tischseite neben dem Kinderstuhl Platz nimmt. Die Sitzordnung ist also nicht fest geregelt, lediglich der Platz von Erik ist durch den Kinderstuhl definiert. Durch die Platzeinnahme der Eltern sitzt Erik zwischen ihnen. Erik nimmt auf seinem Stuhl mit der Bemerkung Platz, dass er nichts essen will. Die Mutter daraufhin: »Das Spiel kennen wir. Es gibt aber nur jetzt was.« Sie wiederholt damit nahezu wörtlich die Erik bereits von ihr vor dem Essen mitgeteilte Regel. Weder Frederike noch der Vater äußern sich dazu. Damit wird die Regel, da öffentlich von der Mutter ausgesprochen und von niemandem infrage gestellt oder widersprochen, zur gültigen Regel für dieses Abendbrot. Nach einer kurzen Pause fragt Erik daraufhin die Mutter: »Mama, warum schreiben die beiden?« Die Antwort der Mutter: »Das ist ihr Beruf.«, löst bei allen anderen Schmunzeln aus. Danach wünscht die Mutter: »Guten Appetit!« Frederike, der Vater und auch Erik antworten ihr nacheinander mit derselben Sprachformel. Anschließend beginnen alle zu essen und für ca. zwei Minuten herrscht Schweigen. Die Mutter beginnt das Tischgespräch mit einer Frage an Frederike: »Habt ihr schon Klassenlisten?«, was diese verneint. Daraufhin der Vater: »Dann mach’ mal ne Liste von Deinen Freundinnen mit Adressen und Telefonnummern.« Damit wird Frederikes Verspätung zum ersten Thema des Tischgesprächs. Das Gespräch geht weiter, indem Frederike sagt, sie benötige fürs Vokabellernen einen Karteikasten. Der Vater versteht den Schluss des Satzes nicht und fragt nach, dabei wird seine Stimme lauter und auch einen Grad schärfer. Die Mutter wiederholt den letzten Teil des Satzes laut für den Vater. Währenddessen nörgelt Erik, steht dann auf und verlässt das Zimmer in Richtung Bad, was die Mutter dazu bringt, gedehnt »Och Erik!« zu sagen, aber zu keinen weiteren Reaktionen führt. Erik geht zur Toilette, lässt die Badtür offen, singt und kommt mit heruntergelassenen Hosenträgern wieder rein. Er fordert die Mutter auf, ihm mit den Hosenträgern zu helfen, die sagt aber, dass er sie gleich unten lassen kann. Daraufhin nimmt Erik wieder auf seinem Stuhl Platz.
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Unterdessen unterhalten sich der Vater, Frederike und die Mutter weiter über die Einzelheiten des Karteikastens, den der Vater von seiner Arbeitsstelle mitbringen soll. Im Mittelpunkt steht die erforderliche Größe des Karteikastens und weil diese von Frederike nicht genau sprachlich bestimmt wird, fordert die Mutter Frederike auf, dem Vater eine Karteikarte mitzugeben, und sie ist es auch, die darauf hinweist, dass der Kasten eher flach sein soll, jedenfalls nicht zu tief sein darf. Der Grund hierfür wird nicht erklärt und scheint sich von selbst zu ergeben, wenn der Karteikasten mit den auf Karten festgehaltenen Vokabeln zwischen Wohnung und Schule transportiert werden soll bzw. als Lernmittel auch zwischendurch, in der U-Bahn oder auf Reisen, eingesetzt werden soll. Nach einer kurzen Pause beginnt Frederike zur Mutter gewandt zu erzählen, wie sie von der Wohnung der Schulfreundin nach Hause lief. Die Mutter hört ihr zu, lässt sie erzählen, fragt aber nicht nach und wendet sich unterdessen in ruhigem und besänftigendem Tonfall an Erik, der immer noch nörgelt: »Komm, lass mal, sei lieb.« Dabei beugt sie sich lächelnd leicht nach vorn. Das Nörgeln Eriks und die Reaktion der Mutter stören Frederikes Erzählfluss nicht, und der Vater fragt interessiert nach. Die Mutter hört Frederikes Antwort nicht und fragt nun ihrerseits nach, womit sie indirekt und mit relativ lauter Stimme nachhakt bzw. um eine Wiederholung bittet. Nun bekommt sie vom Vater eine Antwort. Das Tischgespräch zwischen Frederike und den Eltern dreht sich inzwischen nicht mehr um den Schulweg oder die Freundin, sondern um die Schule selbst, konkreter um den Stundenplan, die Länge der Unterrichtstage, vor allem um den Zeitpunkt ihres Endes. Dieses FrageAntwort-Spiel ist kein freies Kreisen um ein Thema, zu dem die Beteiligten ihre Perspektiven äußern. Die Eltern stellen einfache Fragen an Frederike, ohne dies zu begründen oder Auskünfte über den Sinn der Fragen zu geben, und Frederike versucht zu antworten. Sie gibt dabei bereitwillig Auskunft, unterstreicht aber immer wieder die Schwierigkeiten, auf die Fragen genau zu antworten, weil doch alles neu sei und sie noch nicht den richtigen Überblick hätte. Plötzlich klingelt es an der Wohnungstür. Der Vater steht langsam und ruhig auf – und geht zum falschen Eingang. Als es wieder klingelt, steht diesmal die Mutter auf und geht durch den Flur zum anderen Eingang. An der Tür steht ein Nachbar aus dem Haus und gibt Teller zurück. Gerade als sich die Tür wieder schließt und die Mutter den langen Flur zurückkommt, steht Erik auf, um zu gucken, wer da ist. Als er merkt, dass es zu spät ist, setzt er sich schnell wieder hin. Die Mutter geht am Esstisch vorbei und räumt die Teller in einen Unterschrank. Währenddessen urteilt die Mutter über den Nachbarn: »Das ist aber ein Netter!« Daraufhin bemerkt Frederike: »Der kann aber kein deutsch.« Doch die Mutter kontert: »Aber französisch.« Woraufhin Frederike bemerkt, dass sie kein französisch kann, was die Mutter weiß und 178
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ihr dieses Wissen auch bestätigt, um nach einer kurzen Pause noch einmal zu betonen: »Der ist doch ganz anders als der davor.« Als die Mutter wieder am Tisch Platz genommen hat, führt Frederike das Gespräch über den Schulwechsel und dessen Schwierigkeiten fort, indem sie erzählt, dass der Geschichtslehrer zwar gefragt hätte, was die Einzelnen in der Grundschule durchgenommen haben, dann aber entschieden hätte, die arabische Geschichte nicht noch einmal zu wiederholen, obwohl dieses Thema an Frederikes Grundschule kaum behandelt wurde. Der Vater beruhigt mit leichtem Schulterzucken und der kurzen Bemerkung: »Nachhilfe.« Die Mutter dagegen fragt nach, wie es einerseits zu dieser Lücke an der Grundschule gekommen ist, andererseits zur Entscheidung des Lehrers. Während dieser Sequenz ist Frederikes Stimme am aufgeregtesten und lautesten. Beide Eltern dagegen bleiben sehr ruhig und verstärken die Aufgeregtheit Frederikes nicht. Auf die Gelassenheit der Eltern reagiert Frederike insofern positiv, als sie nicht darauf insistiert, dass hier ein wirklich großes Problem vorliegen würde. Während dieser Passage wendet sich die Mutter zwischendurch ermahnend an Erik, der mit den Fingern einzelnes Gemüse aus der Suppe klaubt und daran herumpult. Die Mutter fordert ihn auf, alles zu essen, sonst könne er nach dem Essen nicht noch zu einer Freundin im Haus gehen. Dort hatte Erik am Nachmittag seinen Fußball und die Schuhe vergessen. Dabei erinnert ihn die Mutter auch, wie das üblicherweise geregelt wird. Vergisst jemand etwas bei anderen im Haus, dann werden die vergessenen Sachen jeweils vor die Tür gestellt. Anschließend fragt die Mutter in der Pause, die entsteht, als Frederike mit dem Problem der arabischen Geschichte offensichtlich fertig ist, den Vater, ob noch Suppe im Topf wäre, was dieser bejaht. Die Mutter öffnet den Topf selbst, der schräg hinter der Salatschüssel und von ihr aus weiter weg als diese steht, legt aber den Deckel wieder auf und fragt Frederike, ob sie schon Salat hatte. Als diese verneint, reicht sie ihr die Salatschüssel und bedient sich dann aus dem Topf. Frederike beginnt von der großen Wohnung ihrer neuen Schulfreundin zu erzählen und beschreibt diese. Vor allem die Mutter hört ihr zu, reagiert mal mit Kopfnicken, mal mit Schulterzucken, fragt aber nicht nach. Währenddessen wendet sich der Vater zu Erik. Dabei beugt er den Oberkörper seitlich in Richtung Erik, winkelt den rechten Arm an und stützt sich mit Unterarm und Handgelenk auf dessen Stuhllehne. Von schräg oben schaut er zu Erik hinunter und flüstert leise und eindringlich. Dabei unterstreicht er seine Sätze mit einem Kopfnicken. Auf die Ermahnungen des Vaters reagiert Erik zweimal mit der stereotypen Entgegnung: »Na und!« Haltung und Stimmlage des Vaters verändern sich dadurch nicht, beim zweitenmal reagiert die Mutter mit einem leisen, kurzen, trockenen Lachen. Erik scheint den Ermahnungen des Vaters zunächst zu folgen, zumindest rührt er nicht mehr nur mit dem Finger in der Suppe herum, sondern nimmt den Löffel in die andere Hand und lässt 179
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ihn in die Suppe eintauchen. Kurzzeitig nimmt er seine Finger ganz aus der Suppe und widmet sich dem Auffischen der Gemüseteile mit dem Löffel, um sie nach verschiedenen Gemüsearten in der Suppe zu sortieren, oder aber er löffelt nur die Gemüsebrühe ohne Gemüse, um sie an einem Tellerrand aufzunehmen und am anderen wieder zurückfließen zu lassen. Letztendlich spielt er also noch immer mit der Suppe und isst sie noch immer nicht. Inzwischen hat Frederike ihre Schilderung wohl beendet und nach Eriks zweitem »Na und!« und ihrem eigenen Lachen erzählt die Mutter mit Kopfhaltung in Richtung Vater, dass Erik im Kindergarten eine neue Freundin hat. Der Vater reagiert mit anerkennendem Kopfnicken und Frederike wendet sich neugierig, mit gespieltem Erstaunen und deutlicher Anerkennung fragend an Erik. Der bestätigt die Äußerung seiner Mutter und beginnt zu erzählen. Sein Erzählfluss wird nur von wenigen Nachfragen unterbrochen und im Mittelpunkt des Interesses steht weniger die Freundin, sondern der Prozess des Kennenlernens und Sich-Anfreundens. Dabei verzichtet Erik darauf, sein Interesse an dem Mädchen zu begründen. Vielmehr wird aus seiner Erzählung deutlich, dass er auf ein Interesse des Mädchens geantwortet hat, dass sich beim Spielen und Basteln zeigte, und Erik erklärt, wie er mit dem Mädchen gemalt und gebastelt hat. Dabei verwechselt er »morgen« und »gestern« und wird von der Schwester verbessert, bleibt aber dabei. Nun korrigiert ihn lustig der Vater, dann sagt ihm die Mutter, wie es richtig ist. Bei keinem ist der Tonfall belehrend, eher freudig oder sachlich. Erik fragt noch einmal interessiert nach, übt jedoch die richtige Verwendung nicht, sondern erzählt, was er mit dem Mädchen gebastelt hat, und schildert die dabei aufgetretenen Schwierigkeiten. Mutter und Schwester fragen nach, aber Erik hält sich nicht lange bei einer ausführlichen Beschreibung und ästhetischen Einschätzung seiner Malund Bastelarbeit auf und nimmt das wohlwollende Urteil von Mutter und Schwester, dass sich seine Beschreibung nach einer schönen Arbeit und einem richtigen Kunstwerk anhört, ohne weitere Reaktionen auf. Das Lob der Frauen nimmt er cool zur Kenntnis und fährt nach kurzer Pause in seiner Schilderung fort, indem er zunächst seiner Schwester ausführlich und lauter werdend zu erklären beginnt, wie man auftretende Schwierigkeiten dieser Art durch die richtige Handhabung von Malstiften und Schere technisch lösen kann. In seiner Erklärung geht er zwar von seinem konkreten Problem aus, er abstrahiert jedoch vom konkreten Fall und widmet sich der Begründung der Problemlösung, indem er Details der allgemeinen Handhabung einer Schere, auf die zu achten ist, erklärt. Dabei schweigen Frederike und die Mutter und aus ihrem anfangs leicht spöttischen Lächeln, das sich bereits in ein erfreutes Lächeln verwandelt hat, wird nun ein erstaunt anerkennendes Lächeln. Der Vater ist bereit, Eriks Äußerungen zu unterstützen, mit gespanntem Blick und konzentriertem, mitunter leicht geöffnetem Mund wartet er, ob Erik seine Hilfe braucht. Erik muss nicht um Worte ringen und wendet seinen Kopf und 180
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Blick mit der Zeit von den zuhörenden Frauen zum interessierten und kompetenten Vater. Der unterstreicht die Ausführungen seines Sohnes mit häufigem Kopfnicken, das entweder langsam mit den Äußerungen Eriks mitgeht oder diese rasch bestätigt, sowie verbunden mit einem wiederholten, bedächtigen Herunterziehen der Mundwinkel. Als Erik seine Ausführungen beendet hat, fordert ihn die Mutter noch einmal auf: »Iß jetzt!« Nun ist ihre Stimme energisch und ihr linker Unterarm bewegt sich kurz in seine Richtung, auch beugt sie den Oberkörper zu ihm. Der Vater reagiert mit einer ähnlichen Hinwendung zu Erik, ohne dass er diesmal den Unterarm auf die Lehne stützt. Dies ist nur eine kurze Geste, dann isst der Vater zunächst kurz weiter und neigt schließlich den Oberkörper leicht zur Seite, wobei er knapp, bestimmt und leise sagt: »Ich habe keine Lust mit dir an einem Tisch zu sitzen!« Dabei unterstreicht er die Aussage durch ein Wippen der rechten Hand, die den Löffel hält. Erik, der für seine Schilderungen den Löffel aus der Hand gelegt hat, nahm ihn nach der mütterlichen Aufforderung wieder zur Hand, begann aber nicht mit dem Essen. Während sein Vater mit ihm beschäftigt ist, sieht er auf den Teller und hebt einmal den Blick zum Vater. Dabei verzieht er keine Miene, die Augen sind nicht aufgerissen und nicht mit Tränen gefüllt, die Stirn nicht gekraust, die Lippen nicht geschürzt. Weder Überraschung noch Wut, Trotz oder Protest sind in seinem Blick enthalten, nur eine leichter Hauch von Beharrlichkeit bzw. Uneinsichtigkeit. Nach der Unlustäußerung des Vaters wendet sich Erik an die Mutter und fragt: »Kann ich was trinken?« Daraufhin antwortet ihm die Mutter: »Wenn du fertig bist!« Nun protestiert Erik quengelnd, worauf die Mutter kurz nein sagt und ihre Antwort wiederholt. Frederike, Vater und Mutter sind fertig mit Essen. Nun geht es um Besorgungen, die der Vater am nächsten Tag erledigen soll. Die Mutter räumt ihren Teller in die Spüle und holt Zettel und Stift. Alle drei überlegen gemeinsam, was besorgt werden muss. Die Mutter wird vom Vater aufgefordert Lebensmittelfarbe aufzuschreiben. Daraufhin fragt Frederike, wozu er Lebensmittelfarbe bräuchte. Der Vater erklärt ihr, dass er die Farbe für seine Arbeit braucht, um für die Kinder, die dort nicht Geisterbahn fahren wollen, ein »Mutgetränk« zu fabrizieren. Mutter und Frederike reagieren amüsiert auf die Erklärung des Vaters. Frederike lässt sich erst erklären, wie die Herstellung des Mutgetränks funktioniert und schmückt dann die Erklärungen ihres Vaters aus, indem sie ihm Vorschläge für die Erzeugung verschiedener Farb- und Geschmacksvarianten unterbreitet. Diese reichen von tintenblau und blutrot über schimmelgrau bis giftgrün sowie von chilischarf über gallebitter bis schimmelsüß und verlangen einen gesteigerten Mut, um seinen Ekel zu überwinden und dieses vermeintliche Zeug wirklich zu schlucken. Die Mutter lacht und der Vater äußert sich über die Möglichkeiten bzw. den Aufwand ihrer Realisierung und entscheidet sich dann für seine Ausgangsvariante, ein 181
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bitter schmeckendes, rötliches Elixier. Anschließend schiebt Frederike ihren Teller in die Tischmitte und lehnt ihren Oberkörper weit über den Tisch, sodass ihr linker Oberarm auf dem Tisch aufliegt, sie den linken Ellbogen aufstützt und sie mit der linken Hand ihren Kopf hält. Ihre rechter Hand liegt auf ihrem linken Oberarm und der rechte Unterarm liegt auf dem Tisch auf. Frederike lässt damit ihre aufrechte und aufgelockerte Haltung kurzzeitig zugunsten einer Bewegungslosigkeit und einer lümmelnden Haltung fahren. Sie lässt sich körperlich gehen. In der Zwischenzeit hat Erik angefangen, die Suppe tatsächlich auszulöffeln. Nun wendet er sich an die Mutter: »Mama, ich platze gleich!« Diese fordert ihn daraufhin laut und energisch auf: »Iß deinen Teller leer!« Außerdem wiederholt sie die Strafe, falls er nicht aufisst. Frederike, Vater und Mutter vervollständigen die Besorgungsliste und Frederike verändert ihre laxe Körperhaltung wieder in ihre ansonsten gewohnte, lockere Sitzhaltung. Dabei erwähnt Frederike, dass bei ihr Kaiserschmarren nie schmecken, woraufhin ihr die Mutter Tipps zum Gelingen gibt. Danach warten die drei, dass Erik fertig wird. Die Mutter sagt: »Ich hab’ keine Lust so lange an diesem Tisch zu sitzen.« Frederike bestätigt mit: »Ich auch nicht.« Die Mutter fragt nun Frederike, ob sie alle ihre Aufgaben erledigt hat, was diese für den folgenden Tag bestätigt, inzwischen räumt der Vater seinen und Frederikes Teller weg. Schließlich fragt Frederike die Mutter, ob sie aufstehen darf, was diese erlaubt, und Frederike verschwindet in ihrem Zimmer. Der Vater setzt sich nicht wieder hin, sondern bleibt nur leicht entfernt vor seinem Platz stehen und schaut von oben auf den Teller von Erik. Der löffelt in unverändertem Tempo weiter zügig seine Suppe. Als Erik triumphierend »Fertig!« ruft, quittiert die Mutter dies mit einem erleichterten »Überstanden.« Dann sagt sie zu Erik: »Du darfst deinen Teller selbst abräumen.« Erik steht sofort auf, nimmt seinen Teller mit dem Löffel vom Tisch und läuft zur Spülmaschine. Währenddessen erhebt sich auch die Mutter und sagt ihm, er soll seinen Teller neben die Spülmaschine stellen. Die Mutter geht in Richtung Balkon und merkt erst nach einer Weile, dass Erik versucht, den Teller in die Spülmaschine zu räumen. Sie geht zügig, aber ohne Hast in den Küchenbereich und verhindert dies, weil die Spülmaschine noch voll sauberem Geschirr ist. Nach der mütterlichen Erlaubnis an Erik haben die Beobachter ihre Posten verlassen und auf der Couch Platz genommen. Der Vater gesellt sich dazu, die Mutter nimmt einen Stuhl vom Esstisch weg und setzt sich gegenüber, Frederike betritt das Zimmer, nur Erik läuft aus dem Familienraum in sein Zimmer. Als die Mutter sich der Beobachterin gegenüber setzt, nickt diese ihr zu, worauf die Mutter mit den Worten reagiert, diesmal wäre es ganz gut gegangen, es hätte schon schlimmeren Stress gegeben. Der ältere, männliche Beobachter bestätigt diese Äußerung, indem er zu verstehen gibt, dass er es gar nicht 182
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schlimm fand. Daraufhin fragt die Beobachterin: »Seit wann hat er das denn?« Die Mutter sagt, noch nicht so lange, der Vater murmelt etwas von vielleicht zwei Wochen, in denen es so extrem wäre. Frederike hört zu, äußert sich aber nicht. Schließlich kommt Erik strahlend ins Zimmer gerannt und fragt, ob er jetzt zu seiner Freundin im Haus gehen darf. Die Mutter sagt, er solle noch warten und die Familie vereinbart mit den Beobachtern einen nächsten Beobachtungstermin. Die Beobachter stehen auf, verabschieden sich kurz und gehen in den Flur. Erik bleibt an der Tür stehen und auf die Frage, ob er vorbei will, schüttelt er den Kopf. Er wartet, bis die Beobachter bereit zum Gehen sind und sich mit einem »Tschüß« in Richtung Familienraum verabschiedet haben, bringt sie zur Wohnungstür und verabschiedet sich winkend, kommt aber nicht mit hinunter.
5 . 3 . E i n M a c h t sp i e l u n d d e r S i e g d e s R i t u a l s Die Situation vor Beginn des Abendbrotes hält potentiellen Konfliktstoff bereit, einmal zwischen den Eltern und Erik, der nicht mit den anderen essen will, zum anderen zwischen den Eltern und Frederike, die zu spät nach Hause kommt. In beiden Fällen erscheint dieser zunächst durch die Äußerungen der Mutter an Erik. Während Frederikes spätes Erscheinen die gemeinsame Mahlzeit nicht gefährdet, ist sie durchs Eriks Weigerung bedroht. In beiden Fällen reagieren die Eltern während des Essens mit erzieherischen Maßnahmen. Durch die Verweigerung Eriks erscheint die gemeinsame Mahlzeit nicht als schon eingespieltes Ritual, sondern sie wird mit pädagogischer Strenge erst eingeübt. Mutter und Vater müssen Erik nicht das Essen selbst beibringen, sondern mit ihm die Norm des gemeinsamen Essens mit der Familie sowie einige Essensregeln einüben. Erik muss lernen, richtig mit der Familie zu essen. Und Frederike muss lernen, trotz der neuen Umstände, die ihr Schulwechsel hervorruft, nicht zu spät zu kommen und damit eine Voraussetzung für eine gemeinsame Familienmahlzeit zu erfüllen. Insofern lernen die Kinder hier die Voraussetzungen und Regeln des Tischrituals selbst kennen – und die Pädagogik ihrer Eltern. Spielerisch ist diese Übung an den Voraussetzungen ihrer gemeinsamen Mahlzeit nicht, sondern die pädagogische Strenge wird bis zur Lösung des jeweiligen Problems durchgehalten. Dabei wechseln sich Anspannung und Entspannung ab, wobei sich in den elterlichen Reaktionen auf Frederikes, der gemeinsamen Mahlzeit vorgelagertem Regelverstoß eine geringere Spannung zeigt als in den Reaktionen der Eltern auf Eriks Regelverweigerung während des Abendesens. Frederikes Regelverstoß ist für den Beginn der gemeinsamen Mahlzeit und die erste Hälfte bestimmend, dann bestimmt Eriks Weigerung den gemeinsamen Verlauf. Die Mutter macht die Beobachterin indirekt mit der Situation vertraut, als sie Erik mitteilt, dass er dieses Mal nichts mehr zu essen bekommt, wenn er 183
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nicht mit allen gemeinsam isst. Sie reagiert hier einerseits wie üblich, denn sie stört sich nur deshalb an Eriks heftiger werdendem Spiel mit der Beobachterin, weil sie hier eine Strategie vermutet, mit der Erik seine neue Angewohnheit, das Essen zu verweigern, wiederholen kann. Andererseits gibt sie ihrem Sohn zu verstehen, dass er, wenn er wieder sein Spiel mit ihr bzw. den anderen Familienmitgliedern spielt, dieses Mal mit Konsequenzen zu rechnen hat. Ob die Tränenspuren in Eriks Gesicht auf einen Konflikt hinweisen, der ein lautes Spielen oder bereits eine Auseinandersetzung um das gemeinsame Essen betraf oder eine andere Ursache hatte, wird nicht deutlich, und diese Frage kann auch nicht von demjenigen Beobachter geklärt werden, der wenige Minuten zuvor erschienen war. Damit wird nicht deutlich, ob die Mutter hier auf eine Ankündigung ihres Sohnes oder nur auf ein ihr schon bekanntes Verhalten reagiert und Erik den Wunsch nach einer erneuten Wiederholung seines Verhaltens unterstellt. Möglicherweise beschwört sie eine Wiederholung auch erst herauf. Eine Verschärfung der Situation wird hier nicht erkennbar, denn die Mutter spricht sehr leise, als sie ihrem Sohn seine Strafe androht. Nichts zu essen zu bekommen, weil er gegen die Regel des gemeinsamen Essens verstößt, ist eine Drohung mit Hunger. Dass sie hier pädagogische Konsequenz androht, ihm diesmal einen Regelverstoß nicht durchgehen zu lassen, weist darauf hin, dass es Erik zuvor gelungen sein muss, sich durchzusetzen. Insofern ist die Drohung neu, und dass sie von der Mutter weder mit einer inhaltlichen Erklärung noch mit einer Legitimation begründet wird, zeigt die mütterliche Autorität, solche Strafen androhen zu können. Das Spiel wird zum Machtspiel zwischen Mutter und Sohn, die Machtkonkurrenz wird sichtbar. Wer wird sich am Ende durchsetzen und das Spiel gewinnen? Dieselbe leise Stimme erwartet Frederike, als sie endlich zu Hause erscheint. Die Mutter erklärt ihrer Tochter, dass ein Regelverstoß vorliegt. Dieser scheint bislang – im Unterschied zu der Weigerung ihres Bruders – einmalig zu sein, und damit neu. Frederike darf sich nicht allzu sehr verspäten, wenn ihre Eltern nicht wissen, wo sie ist. Die Mutter begründet auch hier die Regel nicht und Frederike fragt nicht nach. Vielleicht kennt sie die Regel schon, oder aber sie ist ihr auch ohne jede Erklärung einsichtig bzw. sie verzichtet auf eine Diskussion, weil sie sich ihrer Schuld bewusst ist oder ihre Mutter nicht reizen will. Die leise Stimme der Mutter klingt jedoch nicht wie eine harte Stahlseite oder nach unterdrückter Anspannung. Inhaltlich setzt die Regel Frederike auch nicht sonderlich unter Druck, denn sie kann eine Schulfreundin besuchen und sie darf sich verspäten, die Frage ist nur, wie sehr. An dieser Stelle darf sie nicht Verabredungen mit ihrer Mutter treffen und dann gegen sie verstoßen. Erfüllt Frederike bestimmte Bedingungen nicht, dann »geht es eben nicht«. Dies wird von Frederike akzeptiert. Es ist die Mutter, die hier Zeitabsprachen und Verabredungen mit ihrer Tochter trifft. Wieder
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werden der ruhige Tonfall und die leise Stimme der Mutter zum Zeichen ihrer gewohnten Autorität, Regeln festzulegen. Erik nimmt als letzter am Tisch Platz und noch bevor das gemeinsame Essen beginnt, eröffnet er die Zusammenkunft der Familie bei Tisch mit der Erklärung, jetzt nichts essen zu wollen. Damit macht er seine Weigerung, die sowohl bedeuten kann, dass Erik keine Nahrung zu sich nehmen will, oder aber bedeutet, dass er nicht mit der Familie gemeinsam essen will, öffentlich bekannt. Als Reaktion auf die Aufforderung der Mutter vor dem Essen gleicht das einer Kriegserklärung. Die Mutter reagiert für die Familie, wenn sie mit leichtem Spott sagt: »Das Spiel kennen wir.« Und sie wiederholt die Regel, die besagt, dass Erik nur gemeinsam mit der Familie zu Abend essen kann. Zugleich erklärt die Mutter, dass sie nicht will, dass Erik sein Spiel wiederholt. Aus der Konfrontation des Sohnes hat die Mutter ein Spiel werden lassen, aber ein ernstes, denn sie wird nicht zulassen, dass die gemeinsame Mahlzeit zur Disposition steht. Für die Mutter hört beim Ritual das Spiel auf. Ihre Äußerung ist ruhig, und weil sie nicht von Kampf oder Angriff redet, nicht empört reagiert oder den Einwurf Eriks mit einer sprachlichen Wendung auf ihn persönlich zurückwirft, spitzt sie die Situation mit der Sanktionsdrohung auch nicht zu, aber sie stellt die Regel unmissverständlich klar. Sie fragt nicht nach, warum Erik nichts essen will, und sie begründet die Regel nicht. Frederike und der Vater fragen ebenfalls nicht nach und weder erheben sie einen Einwand noch stimmen sie zu, aber sie wiederholen die Äußerung auch nicht und erklären sie nicht. Mit ihrem Schweigen bestätigen sie das mütterliche »Wir« und positionieren sich damit eindeutig. Die Mutter kann bestimmt, unkommentiert, unhinterfragt und unwidersprochen klare und eindeutige Festlegungen über die gemeinsame Mahlzeit, genauer über deren Grundbedingung, treffen. Das Abendbrot ist eine gemeinsame Mahlzeit der ganzen Familie, zu der Erik gehört, der also mitessen muss. Die Mutter, die auch die rituelle Anfangsformel spricht, repräsentiert dieses Gesetz der Familienzusammenkunft bei Tisch und besitzt die Autorität der Gesetzgeberin. Erik hat zuvor die Gegenposition eingenommen, womit nun die Fronten geklärt sind und die Gegenspieler feststehen, falls ein Spiel stattfinden wird. Erik reagiert nicht mit Widerspruch, sondern mit einer Frage an seine Mutter, die sich als Ablenkung verstehen lässt, denn es geht nicht um sein Essen, sondern um die neue Situation, beobachtet zu werden. Vielleicht prüft er damit auch nur die neue Situation und damit die Bedeutung der Anwesenheit von Beobachtern für seine Chancen auf ein Spiel. Anschließend eröffnet die Mutter die gemeinsame Mahlzeit und die Formel wird von allen Familienmitgliedern erwidert, auch von Erik. Er scheint sich in die gemeinsame Mahlzeit und damit in seine Familie einzubinden, wenn er das »Guten Appetit!« der Mutter zurückgibt. Vielleicht gibt er das Spiel auf, bevor er es anfängt. Dann würde er sich dem mütterlichen Gesetz trotz seiner konträren Willensbekun185
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dung vor den anderen kampflos ergeben. Als rituelle Sprachformel kann das »Guten Appetit!« aber auch nur einfach eine stereotype Formel sein, die für ihn keinen weiteren Sinn besitzt, als das Spiel zu eröffnen. Dann handelt es sich um eine ihm bekannte Gewohnheit, die seiner neuen Angewohnheit, nicht mit seiner Familie essen zu wollen, nicht im Wege steht und sein Spiel mit der Mutter nicht verhindert. Außerdem will nur er nicht mit den anderen speisen, was bedeutet, dass er das Gesetz der Familienmahlzeit infrage stellt, ohne die anderen auffordern zu müssen, sich seiner Weigerung anzuschließen. Dann verleiht er der rituellen Formel retrospektiv einen Sinn, denn er drückt nicht die Erwartung aus, dass ihnen ihr Essen nicht schmecken soll. Vielleicht macht es ihm nichts aus, allein mit der gesetzgebenden Mutter zu spielen. Sollte er tatsächlich nicht essen, dann hat er mit seiner Antwort auf die rituelle Formel seine Ankündigung keineswegs zurückgezogen, möglicherweise jedoch die Mutter über seine Absichten getäuscht oder von sich abgelenkt, die Situation jedenfalls nicht verschärft. Dann würde Erik sein Spiel mit einem geschickten Schachzug eröffnen.
Frederikes Regelverstoß wird pädagogisch bearbeitet Die Mutter, die ihm die Konsequenzen vor Augen geführt hat, falls er sein Spiel durchsetzt, wendet sich dann ihrer Tochter zu und eröffnet nach kurzem, gemeinsamen Schweigen das Tischgespräch. Möglicherweise hat es vor dem Essen Absprachen zwischen den Eltern gegeben, wie auf die Regelverstöße ihrer Kinder zu reagieren ist. Zunächst weist der Vater Frederike einen Platz zu, womit Erik automatisch zwischen seinen Eltern platziert wird. Und er unterstützt ohne Nachfrage die Aufforderung der Mutter an Frederike, eine Liste ihrer neuen Klassenkameraden aufzustellen, und führt diese näher aus. Zunächst erscheint damit das Problem der Eltern mit Frederikes Verhalten nicht direkt auf deren Unpünktlichkeit bezogen zu sein, sondern sie fordern Information ein. Dies entspricht der Äußerung der Mutter vor dem Essen. Telefonnummern geben den Eltern jedoch auch die Möglichkeit, bei einer erneuten Verspätung ihrer Tochter nicht nur herauszufinden, wo diese sich aufhält, sondern auch zu kontrollieren, ob sie eine getroffene Verabredung einhält, indem sie sich am von ihr angegebenen Ort aufhält. Darüber hinaus könnten sie Frederike dann auch telefonisch auf eine drohende Unpünktlichkeit aufmerksam machen und sie auffordern, nach Hause zu kommen. Der Ort, von dem eine solche Kontrolle ausginge und an dem Frederike erscheinen soll, steht fest. Frederike hat auch nicht gegen eine räumliche Ordnung oder eine Informationsanordnung verstoßen, die neuen Informationen werden von den Eltern eingefordert, weil Frederike gegen eine Zeitordnung verstoßen hat. Insofern fordern die Eltern Informationen zur Absicherung der Möglichkeit, ihrer Tochter durch ihre Kontrolle zu helfen, solche Verstöße und damit 186
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falsche Absprachen in Zukunft zu verhindern. Die Kontrolle wird nicht angedroht und die angekündigte Strafe, bei Regelverstößen Besuche von Schulfreundinnen nicht zu erlauben, wird abhängig gemacht von der Existenz von Informationen, nicht von einem Zeitverhalten der Tochter. Die Normativität einer Zeitordnung erscheint hier nur implizit und die Verhandlung des Problems mündet nicht in eine Diskussion um Verhaltensweisen, sondern in eine technisch-organisatorische Lösung. Frederike widerspricht ihren Eltern auch hier nicht, nach der expliziten Aufforderung durch Mutter und Vater wechselt sie jedoch die Ebene. Auch beim Karteikasten fürs Vokabellernen geht es um die technische Lösung einer Anforderung, die diesmal die Schule stellt. So wenig wie zuvor elterliche Autorität diskutiert wurde, wird hier schulische Autorität diskutiert. Vokabellernen ist selbstverständlich sinnvoll, ergo auch ein Lernmittel wie der Karteikasten. Die Mutter unterstützt das Bedürfnis ihrer Tochter nach einem Karteikasten und sorgt für eine schnelle Lösung des Größenproblems, wenn sie darauf aufmerksam macht, dass der Karteikasten nicht zu viel Platz einnehmen sollte. Anschließend reagieren beide Eltern nicht auf Frederikes beginnende Schilderung der großen Wohnung ihrer neuen Schulfreundin. Vielmehr führen beide Eltern, nach einer kurzen Ermahnung Eriks, das Gespräch mit ihrer Tochter auf die Frage der Zeitordnung der Schule zurück. Frederike kann hier kein Erlebnis schildern, dass zu ihrer Unpünktlichkeit geführt hat. Aber sie nutzt die Gelegenheit, um ihre Eltern auf die Schwierigkeiten ihres Schulwechsels aufmerksam zu machen. Damit entschuldigt Frederike ihre Verspätung nicht, erklärt ihren Eltern aber die Gründe. Sie selbst führt es auf ihr Defizit zurück, keine klaren Auskünfte geben und in der logischen Konsequenz – die allerdings unausgesprochen bleibt – auch keine klaren Zeitabsprachen treffen zu können. Sie reagiert damit positiv darauf, dass die Eltern ihre Unpünktlichkeit nicht direkt kritisiert bzw. keine Zweifel an ihrer Verhaltenskompetenz geäußert haben. Frederikes Themenwechsel von der Klassenliste zum Karteikasten hat die Möglichkeit eröffnet, beim Abendessen nicht doch über die Unpünktlichkeit selbst reden zu müssen, sondern über die Schule und insbesondere den Schulwechsel sprechen zu können, der insofern in Zusammenhang mit Frederikes Unpünktlichkeit steht, als sie vor dem Schulwechsel klare Zeitabsprachen getroffen und sich an diese auch gehalten hat, und der das Informationsdefizit der Eltern verursacht hat. Sowenig Frederike infrage stellt, dass die Eltern eine Liste ihrer Mitschüler benötigen, sowenig stellen die Eltern infrage, dass Frederike einen Karteikasten braucht. Eine Diskussion um den Geltungsanspruch von Bedürfnissen bzw. die Legitimität, diese bei Tisch zu äußern, findet nicht statt, entsprechende Aussagen oder Nachfragen fehlen vollständig. Der Karteikasten scheint zwischen den Eltern und Frederike ein Gleichgewicht der Generationen herzustellen, wäre das Thema nicht hierarchisch ge187
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rahmt. Das Problem des Informationsdefizits ist von den Eltern als solches definiert worden, sie geben Frederikes Schilderung der Wohnung ihrer Schulfreundin keinen Raum und verbinden das Thema Schule anschließend erneut mit Frederikes Verspätung. Darüber hinaus wird im Anschluss ein Kontrast zwischen Mutter und Tochter deutlich, der nachträglich den Sinn des Vokabellernens und einer schnellen Lösung des kleinen Karteikastenproblems durch die Mutter unterstreicht. Als der Nachbar klingelt, stört das niemanden. Das Urteil, dass die Mutter anschließend über den Nachbarn fällt, wird von der Tochter nicht bestätigt, sondern sie konterkariert das mütterliche Urteil über die Nettigkeit des Nachbarn durch einen Hinweis auf dessen mangelnde Deutschkenntnisse. Die Mutter sorgt im Gegenzug für einen Selbstverweis der Tochter auf ihre mangelnden Fremdsprachenkenntnisse. Die Tochter besitzt zwar die Kompetenz zur Selbsteinschätzung ihres Mangels, sie ist im Gegensatz zu ihrer Mutter aber nicht kompetent, über den Nachbarn zu urteilen. Nicht nur, weil sie kein Französisch sprechen kann, denn die Nettigkeit des Nachbarn, mit dem die Mutter an der Tür kurz geplaudert hat, erscheint als Höflichkeit, weil er sich an eine getroffene Absprache hält und die Teller unversehrt (und in einem angemessenen Zeitrahmen) zurückbringt. Diese Kompetenz muss die Tochter erst noch beweisen, während die Mutter diejenige ist, die ein kompetentes und legitimes Urteil über die Vorzüge anderer fällen kann. Klassenliste und Stundenplan sind die technischen Lösungen eines praktischen Problems, das auf die Zeitordnung von Familie Hauser verweist und die Autorität der Mutter implizit bestätigt. Der Karteikasten unterbricht diese Bestätigung, doch das mit den jeweiligen Verweisen auf die Fremdsprachenkenntnisse durchgesetzte Urteil stellt die mütterliche Autorität als Kompetenz dar. Dass der Vater zuerst auf das Klingeln des Nachbarn reagiert, kann insofern als Bestätigung der mütterlichen Autorität verstanden werden, als sich damit die Person, die bisher alle Regeln gesetzt und keine erklärt oder näher ausgeführt hat, nicht zuerst vom Tisch erheben muss. Darüber hinaus erfolgt auch keine väterliche Infragestellung bzw. Ergänzung des mütterlichen Urteils. Damit dient der beim Abendbrot oft abwesende Vater der unhinterfragten und keiner weiteren Bestätigung bedürfenden Autorität der Mutter: Wenn der Nachbar zweimal klingelt. Frederike reagiert mit Anspannung, wenn sie das Thema Schulwechsel nun aufgeregt an ein Problem im Geschichtsunterricht bindet. Der Vater bietet schnell eine Lösung an, die Mutter fragt genauer nach, wie es zur Stofflücke und zur für ihre Tochter problematischen Entscheidung des Lehrers gekommen ist. Auch hier findet keine Infragestellung oder Sinnbegründung des Problems statt, es wird von beiden Eltern in der Form anerkannt, dass nach der Entstehung und praktischen Lösung des Problems gesucht wird. Die Mutter sorgt für eine Suche weniger nach den Ursachen als vielmehr nach der De188
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finition des Problems und solidarisiert sich hier mit ihrer Tochter, ohne dabei ein Urteil über die Lehrer abzugeben. Damit erkennt sie Frederikes Kompetenz zur Einschätzung eines eigenen schulischen Problems an, ohne eine Darstellung ihrer Urteilskompetenz zu wiederholen. Darüber hinaus reagieren beide Eltern sehr gelassen, ohne dass hiermit Frederikes Schwierigkeiten infrage gestellt werden. In der Folge entspannt sich auch Frederike. Anschließend kümmert sich die Mutter noch um die Ernährung Frederikes und schließlich wird im Gespräch über die zu erledigenden Besorgungen die Generationendifferenz zwischen Frederike und ihren Eltern bezogen auf die Haushaltskompetenz der Familienmitglieder aufgehoben. Hier erhält darüber hinaus die Kompetenz des Vaters Raum, der seine Arbeitswelt darstellt, die hier zum Teil der Familienwelt wird. Doch zuvor spielt Erik geschickt sein Spiel.
Pädagogisches Machtspiel mit Erik Während die Eltern gemeinsam mit Frederike eine Lösung des anfänglichen Problems herbeiführen, dass von Frederikes Unpünktlichkeit mit abnehmender elterlicher Spannung zu Frederikes Unterrichtsproblem führt, bis sich hier auch Frederikes Anspannung löst und sie anschließend sogar ihr beeindruckendes Erlebnis, das zur Unpünktlichkeit geführt hat, doch noch erzählen kann, nimmt die Spannung bezogen auf Eriks Essverhalten allmählich wellenförmig zu. Zunächst nörgelt Erik leise, was ohne Reaktion der Eltern bleibt. Sein Gang zur Toilette wird von der Mutter kurz kommentiert und ihre Äußerung zeigt, dass sie begreift: Das Spiel ist eröffnet. Erik scheint keinen großen Respekt vor der Mutter als Gesetzgeberin zu haben, wenn er sie anschließend bittet, ihm mit den heruntergelassenen Hosenträgern zu helfen. Zumindest zeigt er keine Angst vor ihrer Reaktion. Die Mutter legt aber auf einen besonders ordentlichen Zustand seiner Kleidung keinen Wert und lässt ihn hier auch nicht Zeit schinden. Damit zeigt sie zugleich, dass sie sich von ihm nicht im Gespräch stören lässt. Erik nimmt Platz, sein Nörgeln wird nicht quengelig, aber lauter, bis die Mutter doch reagiert und nun eine Verhaltensbewertung vornimmt. Erik soll lieb sein, d.h. im Gegensatz zu seinem bisherigen Verhalten am Tisch lieb werden. Bisher folgt sein Spiel der Abfolge von verbaler Ankündigung, nonverbaler Weigerung – er verlässt den Tisch – und verbaler Weigerung – er äußert sein Missfallen. Dabei sorgt er dafür, dass sein Wunsch von allen Familienmitgliedern zur Kenntnis genommen wird. Er nutzt den Zwang, am Tisch zu sitzen, um auf dieser Bühne seinen Willen zu präsentieren, dem Zwang nicht Folge zu leisten. Der nächste Versuch ist wieder ein nonverbaler, der aber unbemerkt bleibt bzw. nicht zum Bühnenauftritt für Erik wird. Normalerweise wäre Erik der erste an der Tür, und dass er nicht sofort aufsteht, 189
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um zu einer der beiden Wohnungstüren zu laufen, zeigt, dass er der mütterlichen Aufforderung, lieb zu sein, Folge leistet. Erst als beide Eltern den Ort der Familienmahlzeit verlassen haben, steht er auf und schaut nach. Sein erneutes Verlassen des Tischs kann hier nicht zur Bühne werden, denn die Gegenspielerin fehlt. Nur seine Schwester wäre Zeugin, und die hat gerade ein anderes und ganz eigenes, noch nicht ganz gelöstes Problem mit ihren Eltern und spielt hier nicht die Rolle einer Aufpasserin. Außerdem ist das Essen von den Eltern, die zur Tür gehen, kurz unterbrochen worden, also nicht von ihm. Zu gucken, wer an der Tür ist, könnte seine Neugier befriedigen. Er folgt hier einer Gewohnheit und Vorliebe, die von den Eltern insofern unterstützt wird, als sie ihm den Empfang von Gästen, Freunden und Besuchern überlassen. In diesem Sinne darf er aufstehen und er erhebt seinen Anspruch auf diese Rolle. Dass er sich schnell wieder hinsetzt, kann einerseits darauf zurückgeführt werden, dass er diese Aufgabe nicht erfüllen kann, denn er kommt zu spät. Andererseits könnte er hier eine Verzögerung einbauen, würde dann aber seiner Mutter deutlich Recht geben, denn in ihren Augen wäre er noch immer nicht lieb. Wenn Erik schnell wieder am Tisch Platz nimmt, verlässt er seine bisherige Taktik, denn er beharrt nicht darauf, den Tisch zu verlassen. Statt dessen wendet er eine neue Taktik an. Erik beginnt mit der Suppe zu spielen. Während die Mutter diesmal auf das Aufstehen Eriks zunächst nicht reagiert und damit die Spielsituation nicht zuspitzt und ihrem Sohn damit auch keine Bühne gibt, bemerkt sie dieses Spielen und ermahnt ihn mitten in der Äußerung Frederikes über ein für sie ernstes Problem in der Schule. Doch der Vater hört seiner Tochter auch noch zu und hat mit seinem knappen Lösungswort offenbar keine Abwehr oder Verunsicherung bei der Mutter hervorgerufen. Die Mutter stellt Fredrike eine Nachfrage, gibt deren Anspannung Raum, reagiert ruhig und besonnen und verlässt sich auf den Vater, wenn sie sich an Erik wendet. Doch Erik hat mit seinem Spielen mit dem Gemüse eine Unterbrechung des Gesprächs zwischen Mutter und Tochter erreicht. Auch Frederike hält kurz inne. Auf sein Nörgeln, sein zweimaliges Aufstehen und seinen Verstoß gegen die Tischsitten der Familie reagiert die Mutter jetzt und lässt sich stören. Es folgt eine erneute mütterliche Strafandrohung, die – nachdem die erste Strafandrohung offensichtlich wirkungslos geblieben ist – bei Fortsetzung des Spiels die zu erwartende Strafe für Erik erweitert. Die Mutter droht ihm an, eine Erlaubnis zurückzuziehen, die deshalb eine besondere Erlaubnis ist, weil Erik hier nach dem Essen seine vergessenen Sachen zurückholen kann und nicht erst bis zum nächsten Morgen warten muss, ob die Nachbarn daran denken, sie ihm vor die Wohnungstür zu stellen. Außerdem dürfte er mit dieser Erlaubnis die Wohnung nach dem Abendessen noch einmal verlassen, was eine Seltenheit ist. Wenn die Mutter ihm die übliche Regel erklärt, unterstreicht sie diese Besonderheit und erklärt Erik auch, dass sie ihm zwar den 190
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Inhalt der Strafe erklärt, mit ihm aber nicht über die Strafe diskutieren wird. Denn sie nimmt potentiellen Gegenargumenten, dass er die Sachen dann vielleicht nicht wieder bekäme, sie nicht ordentlich zusammenräumen kann oder sie am nächsten Tag braucht, den Wind aus den Segeln. Ihre Stimme ist dabei nicht leiser und nicht unfreundlich, sie wendet sich mit derselben Ruhe und Gelassenheit an Erik wie zuvor schon an ihre Tochter. Anschließend lässt sie Frederike selbst ein Ende ihrer schulischen Schwierigkeit finden, bevor sie ihr die Salatschüssel reicht und sich selbst Suppe nachschenkt. Dies geschieht zwar nicht im unmittelbaren Anschluss an ihre Strafandrohung an Erik, aber während einer kurzen Gesprächspause. Keiner ist abgelenkt, und jetzt nutzt die Mutter den Tisch als Bühne, denn sie führt Erik vor, dass er, der noch nicht einmal damit angefangen hat seine Suppe zu essen, vielleicht selbst auch noch mit Salat zu rechnen hätte. Und sie selbst ist mit der Suppe noch nicht fertig. Das Spiel ist noch lange nicht vorbei und von einem Sieg ist Erik weit entfernt. Wenn er weiterhin mit seiner Suppe spielt, wird er Ausdauer und Beharrlichkeit zeigen müssen. Insofern lässt die Mutter die Muskeln spielen und zeigt zugleich, dass Erik noch ein wenig Zeit hat, sein Spiel aufzugeben, aber nicht mehr sehr lange, denn viel Suppe ist nicht mehr im Topf, und alle anderen essen zügig. Die Norm des gemeinsamen Essens ist damit von ihr körperlich mit den Regeln ausformuliert worden, ordentlich und zügig zu essen. Die Szene enthält ein Waffenstillstandsangebot und zeigt, dass es nun ums Essen selbst gehen wird. Dieser mögliche Effekt zeigt jedoch bei Erik nur geringe Wirkung. Erik lässt sich weder von der mütterlichen Strafandrohung noch von der mütterlichen Bühnenshow beeindrucken, sondern spielt weiter mit dem Suppengemüse. Allerdings nimmt er nun den Löffel zur Hand. Doch der Vater versteht, denn er übernimmt nun bezogen auf Erik das Steuer. Die Mutter kann als diejenige, die Frederikes Regelverstoß definiert hat, sich dem Erlebnis ihrer Tochter ungestört widmen, das zu deren Regelverstoß geführt hat, und damit die herbeigeführte Lösung implizit positiv sanktionieren. Frederike bekommt bei Tisch Raum für ihr Erlebnis, das nun kein Problemfall mehr ist. Es besteht keine Anspannung mehr bei ihr oder ihrer Mutter, Frederikes Regelverstoß hat sich bei Tisch erledigt und die Spannung aufgelöst. Diesen Effekt erzeugt die Interaktion zwischen Mutter und Tochter, und dass die Mutter vom Vater hier aus der Frontlinie zu ihrem Sohn geholt wird, mag zwar zufällig geschehen, ist aber ausgesprochen sinnvoll und passend. Wieder erscheint die Mutter als entspanntes und entscheidendes Autoritätszentrum. Der Vater weiß, was er zu tun hat, und muss dafür weder wach geklingelt noch dazu aufgefordert werden. Die Mutter ist so entspannt, dass sie auf Eriks zweimaliges »Na und!« mit Lachen reagieren und ihrerseits die Taktik wechseln kann. Nun gibt die Mutter den Conferencier für die große Bühnenshow ihres Sohnes. Erik erhält damit zum ersten Mal die ungeteilte Aufmerksamkeit aller 191
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und steht im Mittelpunkt. Die mütterliche Anrufung seiner Männlichkeit, die von seiner Schwester unterstrichen wird, weist ihm nun die Hauptrolle zu. Von dieser Möglichkeit macht er ausgiebig Gebrauch. Die Frauen wenden sich ihm zu, gefolgt vom Vater. Erik erzählt nicht viel von seiner Kindergartenfreundin, aber sehr ausführlich von den Details seiner Bastelarbeit im Kindergarten. Hier begeht er einen Sprachfehler, lässt sich korrigieren und fragt sogar nach, lässt sich jedoch nicht unterbrechen, sondern beweist anschließend hauptsächlich seine sachliche Kompetenz. Nach der alterstypischen Verwechslung der temporalen Formen »gestern« und »morgen« führt er nun seine außergewöhnliche Sprachfähigkeit in der Beschreibung von Dingen, Werkzeugen und Handarbeiten vor. Erik erweist sich als Star, der sein Rolle beherrscht. Sein Vater folgt ihm hierbei mimisch und gestisch am deutlichsten. Während die weiblichen Familienmitglieder ihn im Sinne einer heterosexuellen Matrix anrufen und verbunden mit dieser Konnotation von Männlichkeit ein großes Interesse an ihm zeigen, sind es beim Vater das handwerkliche Geschick und die darauf bezogene sprachliche Exaktheit und Detailliertheit.44 Eingebunden in diese Konnotationen von Männlichkeit ist die Anerkennung seiner ästhetischen Kompetenz durch die weiblichen Familienmitglieder. Frederike wird hier bezogen auf ihre Mutter zur Gleichberechtigten. Die gleichaltrige Kindergartenfreundin wird von der Mutter eingesetzt und diese Einsetzung von Frederike bestätigt, um ihrem kleinen Familienmann eine Bühne zu bieten, und von Erik praktisch genutzt, sich der Anrufung seiner Männlichkeit gemäss großartig zu präsentieren. Die anwesenden Frauen und das abwesende Mädchen werden zu Agenten und Mitteln einer zeit- und raumgreifenden Darstellung früher Männlichkeit. Erik zeigt sich hier als kleiner Mann, der seine Männlichkeit schon vorzutanzen weiß. Im Unterschied zu Frederike, deren Fremdsprachenkenntnisse als Kontrast zur Mutter erwähnt werden, arbeiten Vater, Mutter und ältere Schwester gemeinsam mit Erik an dessen deutscher Sprachkompetenz. Bekommt Erik eine Hauptrolle, zeigt er sich interessiert und lernwillig. Als Erik mit seiner Show fertig ist, wird er mit einem Befehl von der Mutter jedoch sofort zurechtgestutzt. Damit zeigt sich der Sinn der mütterlichen Taktik, denn der sich verweigernde Sohn bekommt eine Hauptrolle beim Abendessen, die ihm ja auch mimetisch den Sinn einer gemeinsamen Familienmahlzeit erschließen und ihm entweder zu einer wenn auch nicht unbemerkten Aufgabe oder zu einer freudigen Kompromissfähigkeit verhelfen könnte. Doch Stimmlage, Tonfall und Gestik der Mutter zeigen, dass der Spaß 44 Der Begriff der heterosexuellen Matrix geht auf Judith Butler zurück und bezeichnet ein diskursives Dispositiv, »das aus den Dimensionen von anatomischem Geschlecht (sex), sozialem Geschlecht (gender) und Begehren (desire) besteht, die wechselseitig aufeinander bezogen sind« (Arbeitsgruppe Gender 2004: 280; vgl. Butler 1990: 59). 192
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jetzt vorbei ist. Erik kann eine Bühne bekommen und zum Star bei Tisch werden, aber er hat noch immer gemeinsam mit der Familie zu essen. Und Erik folgt dem mütterlichen Befehl ein wenig, denn er nimmt den Löffel wieder zur Hand. Aber das reicht nicht mehr und funktioniert auch nicht als Ablenkung oder Beschwichtigung. Dies zu zeigen, übernimmt der Vater, der erneut die mütterliche Autoritätsäußerung unterstützt und erklärt, indem er diesmal eine Begründung für den Befehl angibt. Der Vater äußert seinen Unmut über Eriks Essverhalten als Unlust, mit ihm am Tisch zu sitzen, die er mit einer fast bedrohlich wirkenden, zumindest nachdrücklichen Geste untermauert. Die Mutter hatte am Anfang Erik aufgefordert lieb zu sein, und nun begründet der Vater einen Befehl mit einer Emotion. Er äußert sich klar, knapp, energisch und nachdrücklich, aber nicht ärgerlich oder wütend und seine Äußerung erhält darüber hinaus keine besondere emotionale Färbung. Dennoch ist eine solche Äußerung extrem, denn sie folgt auf einen Befehl und steht inhaltlich in absolutem Gegensatz zu seiner eben noch dem Sohn folgenden Unterstützung. Der Vater bestätigt dies im Anschluss an die Beobachtung auf der Couch unbewusst, wenn er Eriks etwa zwei Wochen andauernde Verweigerungshaltung als »extrem« bezeichnet. Dies könnte auch darauf hinweisen, dass der Vater die Zustände am Tisch deshalb so empfindet, weil er oft nicht anwesend ist, womit ihm die Veränderung und die Störung besonders auffallen dürften, während die Mutter gelassener damit umgehen kann. Sie kennt die Situation besser und konnte Strategie und Taktik ihres Sohnes genauer kennen lernen. Dagegen verliert der Vater hier sein humorvolles und mitgehendes Gesicht, wenn er wiederum die Autorität der Mutter unterstützt, die zuvor einmal gelacht hat, als er mit seinen Ermahnungen auf Eriks Abwehr in Form eines absoluten – weil argumentativ nicht einholbaren – »Na und!« gestoßen und daran pädagogisch gescheitert ist. Ein mütterlicher Befehl bedarf offensichtlich einer väterlichen Unterstützung und Erklärung, auch wenn die befehlende Autorität ihn nicht selbst rechtfertigen muss. Der Vater bedient erneut die Autorität der Mutter und verhält sich auf diese bezogen wie gewohnt, bezogen auf das Verhalten seines Sohnes fällt er inhaltlich aus der Rolle. Die Beobachterin hält hier den Atem an, Erik nicht. Die Unlustäußerung des Vaters, die direkt und explizit auf die Person seines Sohnes, wie sie sich an diesem Abend zeigt, gerichtet ist, erstaunt und stört diesen nicht. Möglicherweise sind Erik emotionale Begründungen und Sinnzuweisungen auch vertraut, anfangs hatte er selbst seinem Unwillen Ausdruck verliehen. Der Vater lässt nicht mehr offen, dass er Eriks Unwillen als Marotte und Störung empfindet, und äußert nach dem mütterlichen Befehl sein Unverständnis, dass Erik zwar die Bühne nutzt, aber noch immer seine Unlust an einer gemeinsamen Mahlzeit zeigt. Deshalb drückt die Äußerung des Vaters seine Erwartung aus, dass Erik auch weiterhin nicht essen wird, was dem bisherigen Verhalten 193
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Eriks entspricht und damit seinen bisherigen Spielerfolg unterstreicht. Die Unlustäußerung des Vaters enthält eine abstrafende Anerkennung Eriks, über dessen persönliches Verhalten der Vater ein seinen Sohn disqualifizierendes Urteil spricht, wenn ein emotionales Argument Gültigkeit besitzt. Dies wird nach einer Weile von der Mutter und anschließend auch von Frederike bestätigt werden. Und auch Erik bestätigt dies, zumindest zeigt die ermahnende Abstrafung Wirkung, wenn er seine Mutter nach etwas zu trinken fragt. Erik wendet sich an die richtige Person, und obwohl er noch immer nicht aufgibt, ist er jetzt immerhin bereit, überhaupt etwas zu sich zu nehmen. Doch die Mutter verweigert ihm diesen Wunsch und bestätigt implizit ihren Befehl und die väterliche Erklärung. Erik hat ihrem Befehl Folge zu leisten, Kompromisse werden nicht gemacht. Erik muss jetzt nicht nur mit allen gemeinsam essen, sondern er darf auch nichts trinken, bevor er dem Befehl nicht gehorcht hat. Die Mutter beweist die pädagogische Konsequenz, die sie vor und zu Beginn des Abendessens angekündigt hat. Eriks Quengeln zeigt, dass er verstanden hat, und nun versucht er, sein Spiel nach der verbalen Ablenkung und dem zeitlichen Gewinn durch seine Show mit einem verbalen Widerspruch fortzusetzen. Damit beweist er Ausdauer, Beharrlichkeit und Geschick. Sein Spiel kennt Tricks und Finten, es ist varianten- und abwechslungsreich und er lässt sich nicht ins Bockshorn jagen. Und bevor er aufgibt, meldet er noch einmal Protest an. Er hat fast alles versucht und ist noch immer nicht mit seinem Latein am Ende. Die Eltern und nach erfolgter Problemlösung auch Frederike haben schon alles versucht. Sie sind fertig mit Essen, sitzen am Tisch und nutzen die Zeit, die Erik braucht, der nun nicht mehr abgebrüht mit Gemüse und Brühe spielt, sondern tatsächlich isst, für das Aufstellen einer Besorgungsliste. Bezogen auf Eriks Spiel schinden jetzt sie Zeit, um sich doch noch durchzusetzen. Erik hat nach seinem letzten erfolglosen Protest angefangen, seine Suppe zu essen. Nun versucht er, die Zeit seines Essens zu verkürzen oder nur wenig zu essen: Er teilt seiner Mutter mit, dass er satt ist. Aus seinem Nichtwollen wird hiermit die Behauptung, nicht zu können. Dies ist sein letzter Versuch. Die Mutter versteht den Sinn der Bemerkung und verschärft den Sinn ihres Befehls, denn nun heißt es, nicht nur gemeinsam zu essen, sondern auch aufzuessen, was alle anderen getan haben und was demzufolge die Wiederholung einer Essensregel ist. Dass sie hier eine Essensregel als Verschärfung anbringt und dabei Härte und Konsequenz beweist, wird dadurch sichtbar, dass sie zum zweiten Mal einen Befehl ausspricht und die erweiterte Strafandrohung wiederholt. Daraufhin löffelt Erik gleichmütig und zügig seine Suppe. Aufstehen können die anderen nicht, sie können Erik auch nicht des Tischs verweisen, denn in beiden Fällen hätte Erik sich klar durchgesetzt. Deshalb konnten alle angekündigten Sanktionen nicht Eriks Ausschluss aus der Essgemeinschaft betreffen. Obwohl Erik dem mütterlichen Befehl letzt194
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lich Folge leistet, besitzt er hier eine Machtfülle, die der seiner Mutter gleichkommt. Erik übernimmt die Führung des Tischrituals, die anderen müssen sich vor seinen Karren spannen lassen. Die anderen folgen dieser Führung, wenn sie aus dem Zwang sitzen zu bleiben, den ihnen ihr eigene Norm auferlegt hat, zunächst einen nützlichen Zweck werden lassen, indem sie sich um die zu erledigenden Besorgungen kümmern, der sich schließlich in eine Lust am Gespräch verwandelt. Der Vater vermittelt hier, wenn er die Frage seiner Tochter nach dem »Mutgetränk« aufgreift, ausführlich antwortet und mit der amüsanten Schilderung seiner Arbeitswelt die entspannte und gelöste Atmosphäre bei Tisch fortführt und verstärkt. Mutter, Vater und Frederike füllen die Wartezeit sinn- und humorvoll aus, womit die Tatsache, dass sie auf Erik warten müssen, an Relevanz verliert. Sie unterwerfen sich ihrer Familiennorm freiwillig, ohne sich einen Zwang auferlegen zu müssen. Die Disziplin, die sie hier aufbringen müssen, wird durch die von ihnen während der gesamten Mahlzeit genutzten Selbsttechniken der humorvollen Entspannung und aufmerksamen Zuwendung, die sie auch auf Erik bezogen haben, zur zweckmäßigen und lustvollen Fügung. Insofern führen sie Erik die Normativität einer gemeinsamen Familienmahlzeit vor Augen und bestätigen diese durch ihre eigene Normalisierung, die auf Eriks Disziplinierung durch den mütterlichen Befehl folgt. Anschließend lassen sie diese Selbsttechnik explizit werden, als sie ihr zeitliches Ende findet, wenn die Mutter die Unlustäußerung des Vaters, der von Frederike zugestimmt wird, wiederholt, allerdings in einem feinen, aber aufschlussreichen Kontrast. Die Frauen beziehen ihre Unlust nicht auf die männliche Person, denn sie haben zwar keine Lust, so lange an einem Tisch zu sitzen, an dem ein männliches Familienmitglied ein für die anderen unerwünschtes Machtspiel aufführt, aber sie äußern keine Unlust darüber, mit dieser Person generell an einem Tisch zu sitzen. Insofern bestätigen sie das emotionale Argument des Vaters, reagieren jedoch entspannter als er auf die Nötigung durch Erik, ihm wiederholt und lange eine intensive und besondere Aufmerksamkeit zu schenken und länger als gewollt am Tisch sitzen zu bleiben. Eriks Spiel ist ein Machtspiel, dass der Vater nicht spielt, dennoch fehlt er als die andere männliche Person oft beim Abendessen. Die Frauen sorgen dafür, dass Erik seine Männlichkeit bei Tisch beweisen kann, ohne dass er das Recht des Vaters auf Abwesenheit bei Tisch für sich reklamieren kann. Mutter und ältere Schwester zeigen Erik am Schluss, dass er damit zu weit geht. Hier besteht die Gefahr, dass sich zwischen Disziplin und lustvoller Selbsttechnik ein Graben öffnet, wenn sie anschließend nicht aufstehen könnten und Erik sie weiterhin nötigen würde, auf ihn zu warten. Diese Lücke schließt die Mutter, wenn sie eine Ausnahme vom Gesetz zulässt und ihrer Tochter erlaubt, schon aufzustehen. Und auch der Vater sitzt letztlich nicht mehr am Tisch, erhöht aber körperlich den Druck auf Erik. Gesagt ist alles. 195
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Und nun fällt die Entscheidung, ob sich mit der disziplinierten und lustvollen Entspannung die Situation für Erik normalisiert hat oder ob sie ohne Wirkung bleibt. Dann müssten die Eltern zurückkehren zu repressiven Befehlen, Strafandrohungen und Verboten. Bisher haben die Eltern nur – mehr oder weniger subtil – mit Liebesentzug gedroht, jetzt müssten sie ihn ausführen. Doch Erik krönt die pädagogische Form der normalisierenden Selbsteinbindung seiner Eltern mit Erfolg, er ist fertig mit dem Essen.
Der pädagogische Sieg des Tischrituals Erik hat noch im Beisein der anderen Familienmitglieder angefangen zu essen, aber erst als diese mit der Nahrungsaufnahme schon fertig waren. Er isst in der von ihm erspielten Verlängerung. Und fertig wird er erst, als die anderen bereits die Teller weggeräumt haben. Gemessen an seiner Verweigerung einer gemeinsamen Mahlzeit hat er sein Spiel gewonnen, gemessen daran, dass er doch noch gegessen hat, ist die Mutter die Siegerin. Erik hat auf Zeit gespielt und insbesondere die Mutter zu besonderem Einsatz und zu besonderer Aufmerksamkeit genötigt. Den Höhepunkt an Aufmerksamkeit erlangt Erik nicht in den Ermahnungen seiner Eltern, die trotz einem Höhepunkt im Spannungsbogen der Ermahnungen nicht in Aggressivität umschlagen und bei der Strategie der subtilen Liebesentzugsdrohung bleiben, sondern in der Aufmerksamkeit, die seinem Erleben und Erzählen geschenkt wird. Erst nach dem Erlangen der totalen Aufmerksamkeit und nachdem alle anderen fertig mit Essen sind, ist auch Erik bereit aufzuessen. Die Mutter hat, unterstützt von Vater und Frederike, Erik zur Nahrungsaufnahme in einer absehbaren Zeit, an einem vorgegebenen Ort und im Rahmen einer gemeinsamen Zusammenkunft der Familie genötigt. Die anderen führen ihm die Normativität eines ordentlichen Essens vor Augen, d.h. gemeinsam mit der Familie, gesittet, zügig und ausreichend Nahrung aufzunehmen, indem sie nicht aufstehen und auf ihn warten. Erik entzieht sich dieser Normativität am Ende nicht. Am Ende steht es unentschieden, doch Erik hat die besondere Erlaubnis, nach dem Abendbrot noch die Wohnung verlassen zu dürfen, für sich aufrecht erhalten können. Die Mutter und insbesondere der Vater zeigen sich erschöpft, dagegen präsentiert sich Erik als ein strahlender Sieger. Die Familie hat es unter erschwerten Bedingungen geschafft, keine Verlierer und für sich selbst keine Niederlage zu produzieren. Eriks Spiel ist überstanden und das gemeinsame Abendessen ist für alle ein pädagogischer Sieg, der einerseits auf Klarheit, Strenge, Disziplin und Konsequenz basiert, andererseits auf Nachahmung, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Humor und Gelassenheit. Die ruhige, insgesamt entspannte Atmosphäre steht in starkem Kontrast zur Repression und zum Machtkampf, der während des Essens ausgetragen wird. Die Mutter ist hier das Autoritätszentrum der Familie und 196
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muss der Familiennorm einer gemeinsamen Mahlzeit zum Durchbruch verhelfen. Sie agiert mit erzieherischer Disziplin und Selbstdisziplin. Ihrer Tochter gegenüber verzichten die Eltern auf Befehle, Strafandrohung und Verbote, sie führen sie zur Einschätzung ihrer Defizite und Probleme und helfen ihr, eine Lösung zu finden. Dass dies bezogen auf Frederikes Unpünktlichkeit notwendig ist, ist eine von den Eltern definierte Tatsache. Die Eltern zeigen sich als fordernde und fördernde Partner ihrer Tochter, die sowohl auf die elterliche Forderung, als auch auf deren Unterstützung positiv reagiert. Hier erfolgt ein gegenseitiger Spannungsabbau, der über eine Begeisterung am Erzählen und die Aufmerksamkeit beim Zuhören am Ende zu lustvollem Gespräch führt. Zwischen Frederike und ihren Eltern besteht zunächst eine pädagogische Differenz, die sich auf Forderungen und Ratschläge der Eltern und deren Befolgung und Annahme durch Frederike bezieht und als Kompetenzgefälle aufgeführt wird. Anschließend wird diese Generationendifferenz zwischen Tochter und Eltern durch die gemeinsame Beherrschung normalisierender Selbsttechniken in Bezug auf Erik aufgehoben. Sie zeigt sich noch einmal am Ende, als das Autoritätszentrum der Familie der Tochter eine Ausnahme erlaubt. Die gemeinsame Mahlzeit ist von der Autorität der Mutter gerahmt. Der Vater fügt sich der rituellen Autorität der Mutter und unterstützt deren pädagogische Bemühungen, den Regelverstoß der Tochter und die Weigerung des Sohnes beim Essen zu bearbeiten. Dabei agiert er durchgängig normalisierend, sowohl bezogen auf seine Tochter als auch bezogen auf seinen Sohn. Das pädagogische Einverständnis der Eltern bezieht sich nicht nur auf die Essensnorm der Familie, sondern es ist als wechselseitige Ergänzung eingespielt und bezieht sich ebenso auf die pädagogischen Formen. Auch die Mutter beherrscht die Techniken der Entspannung und Konfliktentschärfung, der Abschwächung und des Humors, der Aufmerksamkeit und Lust. Um das Ritual zu beherrschen, muss sie nur ihren Sohn disziplinieren. Dabei dreht sich das Machtspiel zwischen Mutter und Sohn weniger um die Frage, wer wen im Griff hat, sondern um die Frage, wer das Ritual im Griff hat: Darf Erik, ebenso wie sein Vater, auch allein zu Abend essen oder kann die Mutter dafür sorgen, dass er sich dem Ritual, das sie als solches bestimmt, fügt? Erik fügt sich am Ende der Autorität der Mutter, die das pädagogische Spiel gemeinsam mit Vater und älterer Schwester beherrscht. Erik erlernt das Ritual, indem er sich der sichtbaren Autorität seiner Mutter partiell unterwirft und sich einer Disziplin fügt. Die Norm des Tischrituals muss er erst noch inkorporieren, um sich selbstverständlich in das Ritual seiner Familie einbinden zu können. Dass er die Dispositionen zur Anerkennung der rituellen Norm bereits ausgeprägt hat, beweist weniger seine partielle Unterwerfung, sondern vielmehr seine eigene, den pädagogischen Fähigkeiten der an-
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deren entsprechende Fähigkeit, lustvoll von der rituellen Bühne Gebrauch zu machen.
5.4. Erziehung zwischen Disziplin und Gelassenheit Ob Erik sich zum Ritual hat bekehren lassen, zeigen erst die folgenden vier Beobachtungen. Eine öffentliche Ankündigung, nichts oder nicht mit den anderen gemeinsam essen zu wollen, wiederholt sich nicht. Wenn Erik die Weigerung beim ersten Mal ausgesprochen hat, so kann dies der Anwesenheit von Beobachtern geschuldet sein. Dann hat er seine Verhaltensänderung in einer zugespitzten Situation wiederholt und seinen Machtanspruch in der Familie vor Zeugen dargestellt. In den folgenden Beobachtungen lässt er sich zweimal Zeit am Tisch zu erscheinen und verlässt einmal den Tisch, um zur Toilette zu gehen. Dreimal beginnt er sehr spät mit dem Essen, wobei er einmal per Blick und zweimal ausdrücklich von der Mutter dazu aufgefordert werden muss. Mehrmals spielt er lange mit dem Essen, und er beginnt jedes Mal erst, nachdem er sich länger am Tisch hat äußern können und im Mittelpunkt stand, bzw. erst, nachdem er mehrmals kurz die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen erfahren hat. Er versucht, etwas trinken zu dürfen, sagt, dass ihm das Essen nicht schmeckt oder dass er satt ist. Aber er isst, ohne dass sich die Befehle oder Unlustäußerungen wiederholen. Allmählich gibt Erik seine Verweigerungshaltung auf, die nicht von der Tatsache verursacht wurde, unter Beobachtung zu stehen. Die insgesamt vierte und vorletzte Beobachtung bestätigt dies eindrücklich. Hier ist der Vater nicht anwesend, dafür eine Freundin der Eltern. Diese empfängt Erik in seiner gewohnten Art. Als die Freundin am Tisch Platz nimmt und die Mutter noch kocht, setzt er sich auf ihren Schoß, erzählt leise, schmust und lacht. Als die Mutter sagt, die Tomatensuppe wäre fertig, verschwindet er ohne weitere Aufforderung schnell im Bad, kommt mit gewaschenen Händen zurück, setzt sich sofort auf seinen Stuhl und nimmt den Löffel schon zur Hand, bevor er auf das »Guten Appetit!« antwortet. Der Stuhl wurde von der Mutter neben den Stuhl der Besucherin gerückt. Wieder spielt er mit der Suppe, hört dem Gespräch zu, runzelt die Stirn und stützt den Kopf auf. Er äußert sich, gibt Einschätzungen zum Besten, versucht eine Bühne für eine Geschichte zu bekommen, womit er jedoch scheitert, schaut nichts desto trotz interessiert auf die Besucherin, berührt ihren Unter- und Oberarm mit der Hand, tippt sie mit dem Finger an, nickt und lacht. Und beginnt mitten im Gespräch zu essen. Als die Besucherin, die selbst zwar schon angefangen hat zu essen, dies aber immer wieder unterbrach, auf eine Frage der Mutter lange und ausführlich antwortet, unterbricht Erik seine Mahlzeit und hört mit offenem Mund zu. Als die Besucherin fertig ist, sagt er zu ihr: »Du musst aufessen.« Erik hat sich hier schnell eingebunden und versucht, die Autoritätsposi198
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tion seiner Mutter zu übernehmen. Hier erweist er sich als gelehriger Schüler, der nicht nur dem Ritual und seinen Regeln folgt, sondern auch für deren Einhaltung durch andere sorgt. Er erreicht diesmal zwar keine Hauptrolle auf der rituellen Bühne und überlässt diese der Besucherin, aber er meldet seinen Anspruch auf eine pädagogische Hauptrolle an. Die Mutter korrigiert ihn lachend. Als Autoritätszentrum der Familie wird die Mutter bei Tisch zur traditionellen Figur des Familienpatriarchen und damit zur Überlieferin eines tradierten Familienmodells. Dies zeigt sich zum einen, weil sie entgegen dem Willen ihres Sohnes an der Durchführung des Rituals festhält. Die Mutter fordert Gehorsam ein und erlaubt Erik keine Freiheit in Bezug auf das Tischritual, an dem er teilnehmen muss. Erik kann nicht selbst entscheiden, wann und wie viel er essen will, die Mutter verlangt von ihm, sich an die von ihr festgesetzten Regeln zu halten. Die Norm des gemeinsamen Essens steht nicht zur Disposition und die Mutter stellt die aus dieser Norm erwachsenden Regeln fest. Ihre Autorität und das Ritual sind fixiert. Insofern garantiert die Mutter die Generationendifferenz zwischen Eltern und Kindern. Zum anderen wird bei Tisch der Autoritätsunterschied zwischen Vater und Mutter dargestellt, wobei das tradierte patriarchale Modell umgekehrt, die Differenz aber nicht überschritten wird. Bei Tisch werden auch die Abweichungen vom Modell der patriarchalen Kleinfamilie dargestellt. Das oberste Zentrum der familiären Autorität zeichnet sich durch alltägliche Anwesenheit aus. Die Welt der mütterlichen Arbeit findet zwar kaum Erwähnung bei Tisch, doch wird sie bei Tisch auch nicht ausgegrenzt. Die Mutter verkörpert weniger die Trennung von Arbeits- und Familienwelt, sondern widmet sich ihrer Aufgabe, der Familie eine rituelle Bühne zu schaffen und für die Einhaltung des Rituals und der Tischsitten zu sorgen. Diese Aufgabe steht im Vordergrund und ihre eigene berufliche und künstlerische Arbeit tritt in den Hintergrund. Der Souverän des Rituals macht auch die Arbeit.45 Beide Eltern leisten einen etwa gleich großen Beitrag zum Familieneinkommen und wenden für die Familie in etwa die gleiche Zeit auf. Dass die Mutter nachmittags und abends für die Familie zuständig ist, also in der Zeit, in der das familiäre Tischritual stattfindet, während der Vater vormittags sich um die Familie und den Haushalt kümmert, weist auf eine gleichberechtigte Aufgabenteilung hin. Die zeitliche Trennung ist notwendig, 45 Außerhalb des Tischrituals spricht die Mutter mit der Beobachterin auch im Beisein ihrer Kinder bereitwillig und ausführlich über ihre künstlerische Arbeit, erklärt ihre eigene künstlerische Entwicklung, die Entstehung von Bildthemen, welche Farben und Materialien sie wann, wie und warum einsetzt und interpretiert ihr eigene, über der Couch hängende Collage. Auch über ihre berufliche Arbeit spricht sie, wenn auch nicht mit vergleichbarer Detailliertheit und Begeisterung. 199
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weil beide Eltern nur auf diese Weise Beruf und Familie vereinbaren können. Beiden Eltern gilt eine gemeinsame Mahlzeit der Familie als unverzichtbar, und dass diese am Abend stattfindet, hängt mit ihren unterschiedlichen Schlafgewohnheiten und ihren gemeinsamen Vorlieben bei der Morgengestaltung zusammen. Außerdem sind beide Eltern der Auffassung, dass ein gemeinsames Ritual am Abend einen Tageshöhepunkt setzt, der für alle in der Familie stattfinden soll. Darüber hinaus äußern sich nicht nur beide Eltern gleichermaßen über ihren pädagogischen Stil und beschreiben sich als eingespieltes Team, sie sind es auch. Die Eltern ergänzen sich gegenseitig und unterstützen sich in ihren gemeinsamen Bemühungen. Dabei folgt der Vater dem zuweilen disziplinarischen Spiel der Mutter, die immer wieder Regeln setzt. Die schnelle und spontane Unterstützung der Mutter durch den Vater und das pädagogische Wechselspiel der Eltern wird bereits bei der ersten Beobachtung, und später auch in Abwesenheit des Vaters, von Frederike beherrscht. Frederike kann das pädagogische Spiel bei Tisch gleichberechtigt mitspielen und bei seiner Abwesenheit die Rolle ihres Vaters übernehmen. Hier wird regelmäßig die pädagogische Generationendifferenz zwischen Vater und Tochter aufgehoben, die Autoritätsdifferenz, die zwischen Mutter und Vater besteht, dabei auf Frederike übertragen und wiederholt. Auf klare Regeln und Absprachen legen beide Eltern wert, auch als Eindämmung eines chaotischen Zustandes, der bei den vielen Interessen und Vorhaben, die die Familienmitglieder gemeinsam und einzeln hegen, sonst auszubrechen droht. Dass die Mutter diese Regeln nennt und die Autorität für ihre Durchsetzung besitzt, kommt ihrer Persönlichkeit entgegen, dass der Vater unterstützend eingreift und spaß- und lustbetont agiert, seiner. Insofern haben die Eltern für sich ein Modell des Familienlebens gefunden, das die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für beide sichert, ihren Interessen und Vorlieben entspricht, in dem sie ihre Persönlichkeit zur Geltung bringen können und in dem sie, wenn auch nicht konflikt-, so doch widerspruchsfrei agieren können. Frederike erweist sich wie bereits vor ihrem Schulwechsel als gute und sehr gute Schülerin und als gute Tochter. Sie kommt pünktlich und bewältigt auch den Unterricht in Geschichte. Die Mutter unterstützt sie bei den Hausaufgaben, insbesondere in Englisch. Die pädagogische Berufskompetenz der Mutter, die sich schon in den Gesprächsaufzeichnungen zeigte, bleibt auch während der Beobachtungen beim Abendessen relevant. Sie bezieht sich auf die Erledigung der Hausaufgaben, den Lernumfang und das Lerntempo, also auf die schulischen Anforderungen in der Weise, dass sie kurz nachfragt, was Frederike zu tun hat und ob sie Hilfe braucht. Die Mutter informiert sich, ob und wie Frederike die Anforderungen erfüllen kann. Die Bildungskompetenz und der Bildungsauftrag der Schule werden nicht infrage gestellt und die In200
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stitution Schule wird nicht kritisiert. Auch werden Entscheidungen der Lehrer, von ihnen erteilte Hausaufgaben, vorgegebene und angekündigte Leistungskontrollen oder vergebene Noten nicht diskutiert. Die Mutter schaut sich vor dem Essen die Arbeiten ihrer Tochter und die Noten an. Als Frederike vor dem Abendbrot einmal eine Note anzweifelt, entscheidet die Mutter, dass es sich um einen Grenzfall handelt und fragt Frederike, welchen Gewinn sie davon hätte, sich mit dem Lehrer über die Zensur zu streiten. Der Vater reagiert während der Gesprächsaufzeichnungen ähnlich, als er mit seiner Tochter über die Möglichkeit des Überspringens von Klassen in der Grundschule spricht. Frederike stellt hier ein Urteil des Lehrers über einen Mitschüler infrage und ist sich unsicher in ihrem allgemeinen Urteil über die Möglichkeit des Überspringens. Der Vater reagiert auf diese Unsicherheit, wenn er nicht nach einer Begründung durch den Lehrer fragt, sondern allgemein über den Sinn einer verkürzten Schulzeit redet. Er äußert hier nicht seine Meinung, sondern stellt verschiedene Möglichkeiten der Einschätzung dar, die letztendlich auf den persönlichen Gewinn rekurrieren. Auch hier verweist der Vater nicht etwa auf Schulerfolg, Laufbahnverkürzung oder Aufstiegsmöglichkeiten, sondern auf persönliche Wünsche, auf Lust und Unlust. Angesichts der Institution Schule zeigen beide Eltern, dass sie eine Infragestellung oder prinzipiellen Widerstand gegenüber einer gegebenen, alltäglichen und grundsätzlich als sinnvoll erachteten Institution ausschließen. Vielmehr leben sie den Kindern vor, im Rahmen von Institutionen nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen und vorhandene Spielräume zu nutzen, wenn dies für die eigenen Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse sinnvoll ist. Hier wird die Übereinstimmung von eigenem Familienmodell und pädagogischer Haltung am greifbarsten. Darüber hinaus wird bei Tisch generell auf Urteile über andere verzichtet. Das mütterliche Urteil über den Nachbarn bleibt die einzige Ausnahme. Und so wie Eriks Widerstand und Frederikes Unpünktlichkeit selbst nicht explizit kritisiert werden, so bleiben Einschätzungen über persönliches Verhalten weiterhin aus. Im Vergleich zur ersten Beobachtung wird kleineren Regelverstößen dadurch begegnet, dass den Kindern von der Mutter die Regeln klar und unmissverständlich mitgeteilt werden, ebenso wie die Konsequenzen, die in eine praktische Lösung aufgetretener Probleme münden. Auf eine weitergehende Bestrafung wird verzichtet. Es gibt einfache, klare Regeln des Zusammenlebens in- und außerhalb der Familie, die innerfamiliären werden weiterhin von der Mutter einfach, ruhig und gelassen gesetzt und ausgedrückt. Schon in der ersten Beobachtung zeigt sich, dass die disziplinarische Strenge der Mutter weniger auf eine Zucht Eriks ausgerichtet ist, als vielmehr auf eine Veränderung seiner inneren Einstellung, ohne diese zu kritisieren. Nicht nur wird die Disziplinierung während der folgenden Beobachtungen von einer Normalisierung verdrängt, sondern bereits in der konfliktträchtigsten Situa201
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tion und dem sichtbaren Machtkampf zwischen Mutter und Sohn liefert die Mutter ihm den perfekten Grund, gemeinsam mit der Familie zu essen. Die große Bühnenshow kommt Eriks gesteigertem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung sehr weit entgegen. Nur kann die Mutter als rituelle Regisseurin ihre Autorität nicht vom Sohn infrage stellen lassen, denn das würde sowohl das Tischritual und damit einen geregelten Alltag gefährden und ihr einen zumindest erhöhten Aufwand abverlangen. Darüber hinaus würde eine Nichteinhaltung des Rituals das Autoritätsmodell der Familie bedrohen und damit ihre symbolische Ordnung gefährden. In den Tischgesprächen beschreiben, schildern und erklären Kinder und Eltern sich Dinge, Begebenheiten, Erlebnisse, Fähigkeiten und Lösungen gegenseitig, ohne dass dies zu gegenseitigen Belehrungen führt. Dinge, Prozesse und Erlebnisse werden beurteilt, und jeder, der hier glaubt, kompetent zu sein, kann sich äußern. Frederike macht davon sehr häufig Gebrauch, Erik äußert sich zwar seltener, dafür aber lautstark und ausführlich. Die Kommentare und Bemerkungen der Eltern sind überwiegend knapp und lakonisch, Frederike erzählt ihren Eltern die Dinge so, dass diese Lachen können und hat einen ihren Eltern ähnlichen Humor ausgebildet. Die Familie arbeitet bei Tisch hauptsächlich am sprachlichen Ausdruck ästhetischer und technischer, künstlerischer und handwerklicher Kompetenzen. Hiermit beweisen die Eltern eine außerordentliche Bildungsnähe, die sich weniger auf die Schule als Institution bezieht, als auf Wissen und Können im Sinne einer hohen Allgemeinbildung. Hier wird zwar weiterhin ein Kompetenzunterschied zwischen Eltern und Kindern sichtbar, doch führt dieser nicht zu einer hierarchischen Anordnung des Generationenverhältnisses. Alle können sich mit Autorität äußern, sind sie kompetent. Diese Kompetenz wird in Begründungen und Erklärungen geäußert. Der Ausweis und Nachweis von Kompetenz wird dabei nicht allein von den Eltern bestätigt, auch diese müssen sich Nachfragen, Hinweise, Verbesserungen und Ergänzungen durch die Kinder gefallen lassen. Nur rechtfertigen muss sich niemand für eine Meinung oder ein Urteil. Dieses wird höchstens indirekt infrage gestellt, wenn jemand eine andere Meinung äußert. Dann ist der Wettstreit eröffnet, den aufgrund ihres Wissens, ihrer Erfahrung und ihres rhetorischen Geschicks oft die Eltern gewinnen. Die Mutter äußert sich hier mit großer Selbstsicherheit, hält sich aber im Vergleich zum Vater zurück. Diese Sequenzen des Tischrituals, von denen die Nahrungsaufnahme zumeist unterbrochen bzw. beendet wird, zeichnen sich durch gegenseitiges Interesse, große Aufmerksamkeit füreinander, eine große Lockerheit und Entspanntheit und durch viel Humor aus. Sie sind die Höhepunkte des Tischrituals und ereignen sich ohne Ausnahme. In der Regel wird in diesen Sequenzen die Arbeitswelt des Vaters Teil des Tischrituals. Der Vater ist aus beruflichen Gründen insgesamt nur fünfmal anwesend, zweimal bei den Gesprächsaufzeichnungen und dreimal bei den 202
FAMILIE HAUSER: NORMALISIERENDE GELASSENHEIT BEIM ABENDBROT
Beobachtungen. Davon findet seine Arbeitswelt viermal Erwähnung bei Tisch, zweimal kurz, zweimal lang. Zwischen den sprachlichen Äußerungen bei Tisch und den gemeinsamen Aktionen zwischen Vater und Kindern, in denen sowohl eigenes Spielgerät, als auch Materialien und Vorrichtungen für den väterlichen Beruf gesammelt, bearbeitet, gebastelt und gebaut werden, sowie der räumlichen Einbindung ins Familienzimmer besteht eine auffallende Nähe. Insbesondere in seinen Höhepunkten verbindet das Abendessen im pädagogischen Stil einer normalisierenden Gelassenheit das Familienmodell mit der Arbeitswelt der Eltern und der institutionellen Lernwelt der Kinder sowie die unterschiedlichen Individualitäten der Familienmitglieder miteinander. Das Tischritual ist eine pädagogische Praxis, die das räumliche, zeitliche und normative Zentrum der Familienmitglieder erzeugt. Dieses Zentrum verkörpert zwar die pädagogische Generationendifferenz der Familie und stellt sie als Repräsentation der mütterlichen Autorität und familialen Normativität dar, deren Koinzidenz im Familiemodell wird jedoch durch den pädagogischen Stil der Eltern – bei aller noch notwendigen disziplinarischen Einübung – normalisiert, wenn auch nicht durchbrochen. Diese Normalisierung erlaubt der Familie innerhalb eines gesicherten Rahmens eine weitgehende Auflösung der pädagogischen Generationendifferenz in ihren rituellen Interaktionen. Selbstbildung zielt bei Familie Hauser auf die Ausbildung lustbetonter Selbsttechniken und ist weit von einer protestantischen Bildungsaskese entfernt. Dagegen wird die Geschlechterdifferenz bezogen auf Eriks Männlichkeit und die weibliche Rolle der an- und abwesenden Frauen traditionell dargestellt, andererseits bezogen auf das Autoritätsgefälle der Eltern, also auf Mütterlichkeit und Väterlichkeit, verkehrt und im pädagogischen Eingespieltsein beider partiell aufgehoben.
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6. Die soziale Magie der Differenzbearbeitung bei Tisch
Im Tischritual schaffen sich die Familien einen abgegrenzten Sozialraum, in dem sie ihren kollektiven Zusammenhalt festigen. Das Tischritual stellt die Familie als Einheit in Differenzen dar, denn sowohl die familiale Solidarität als auch ein asymmetrisches und hierarchisches Autoritätsgefüge werden aufrecht erhalten. Das Tischritual ist in den untersuchten Familien von drei Differenzen geprägt. Charakteristisch sind die symbolische Inszenierung der Generationendifferenz und die mimetische Aufführung der Geschlechterdifferenz. Darüber hinaus wird die soziale Schichtzugehörigkeit verkörpert, sie wird jedoch nicht als Differenz dargestellt. Der Zusammenhang von szenischem Arrangement, Erziehungsstil und Autoritätsgefüge rahmt die Interaktionen bei Tisch und garantiert den Transport eher diffuser Werte wie Nähe und Intimität, Zuwendung und Solidarität. Insofern wird ritualtheoretisch erklärbar, dass die Tischrituale in den untersuchten Familien keine dogmatischen Verhaltensnormen und festgelegten Kodifizierungen sowie keine mehr oder weniger erstarrten zeremoniellen Formen aufweisen. Dennoch sind die gemeinsamen Mahlzeiten als spezifische und eigenständige Handlungskomplexe erkennbar, die sich vom sonstigen Alltag der Familien unterscheiden und abheben. Das Tischritual hat seine besondere Zeit, seinen besonderen Ort, seine spezifischen Anordnungen und Gesprächsthemen sowie seine eigene Disziplin. Im Tischritual wird dabei zwar individuelles Verhalten, nicht aber der kollektive Zusammenhalt der Familie zur Disposition gestellt. Darin liegen die Grenzen des Ritualverhaltens und der gegenseitigen Anerkennung der rituellen Akteure, die den diffusen Werten wiederum einen spezifischen Bedeutungsgehalt verleihen. Die Abgrenzung der Tischzeit als besondere Zeit der Familie wird vor allem durch die weitgehende thematische Ausgrenzung der elterlichen Arbeitswelten erreicht. Im Unterschied dazu ist die Arbeitswelt der Kinder – Schule und Kindergarten – ein Hauptthema aller Tischgespräche. Darüber hinaus dient die Tischzeit der Regelung des Tagesablaufs, wobei vor allem Informationen ausgetauscht und kurze Absprachen getroffen werden. Nur im Aus205
ERZIEHUNG BEI TISCH
nahme- und Störungsfall werden Normen wie Pünktlichkeit, die grundsätzliche Aufgabenteilung im Haushalt oder generelle Verhaltensregeln diskutiert. Zumeist verweisen die Eltern bei Tisch lediglich auf bestehende Regeln und Absprachen. Die Eltern verschieben mögliche Konflikte bzw. Verhandlungen auf die Zeit außerhalb der gemeinsamen Mahlzeit. Diese thematischen Begrenzungen sind von der Autorität der Eltern bestimmt und ziehen eine sprachliche Grenze sowohl zur außerfamiliären Elternwelt als auch zum sonstigen Familienalltag. Indem die Eltern diejenigen Themen, über die ihre elterliche Autorität wesentlich legitimierbar wäre, aus den Tischgesprächen weitgehend ausgrenzen, werden deren Grenzen relativ unverfügbar. Die elterliche Autorität kann deshalb bei Tisch als selbstverständlich wirken und wird von den Kindern auch nicht grundsätzlich infrage gestellt. In den eingespielten Tischritualen der Familien Maier und Zobel kennt das hierarchische Autoritätsgefüge magische Zeichen und Spiele. Familie Hauser muss dagegen an der Sicherung ihres Rituals arbeiten, dessen Selbstverständlichkeit durch den Schulwechsel der dreizehnjährigen Frederike und den fünfjährigen Erik, der plötzlich nicht mehr mit allen gemeinsam Essen will, bedroht ist. Verdichtete Symbole (vgl. Douglas 1986b) und magische Autoritätszeichen fehlen hier und die pädagogische Arbeit, die zur Einübung eines angemessenen Ritualverhaltens der Kinder notwendig ist, wird sichtbar. Der rituelle Erziehungsstil Familie Maiers lässt sich als inszeniertes Understatement kennzeichnen, das auf der diskursiven Macht der Mutter basiert und im Rahmen einer Mutter-Tochter-Dyade ein Lernparadigma enthält, in dem eine Erweiterung der Kompetenzen der dreizehnjährigen Tochter erzielt wird. Dieses Thema entspricht zunächst nicht dem rituellen Arrangement von Mutter und Tochter, kann aber in der Sicherheit und Stabilität des rituellen Rahmens verhandelt werden, ohne die rituelle Inszenierung zu gefährden. Diese Leistung erbringt Dorothea, die mit ihrem der diskursiven mütterlichen Macht relativen Unterworfenseins eine zumindest implizite Anerkennung vorhandener Kompetenzen und einen unfreiwilligen Kompetenzgewinn erfährt. Die diskursive Macht der Mutter zeigt sich in der Beherrschung der Gesprächsdramaturgie und in ihrem besonderen Geschick, mit dem Einverständnis der Tochter zu spielen. Arbeiten Mutter und Tochter an der Neujustierung der Aufgabenverteilung im Haushalt, kann die Mutter notfalls auf Klischees zurückgreifen, ohne dass die Tochter dies für eine Gegenargumentation nutzt. Das rituelle Understatement und die mimetische Angleichung von Mutter und Tochter verbergen jedoch die asymmetrische Anordnung der Aufgabenteilung und die hierarchische Machtverteilung. Insofern lässt sich das Tischritual Familie Maiers als antigenerative Inszenierung verstehen. Das gemeinsame Tischdecken von Mutter und Tochter rahmt die rituelle Inszenierung. Die arrangierte Behauptung von Gleichrangigkeit wird dadurch verstärkt, dass die zwölfjährige Dorothea über die Geräuschkulisse entschei206
DIE SOZIALE MAGIE DER DIFFERENZBEARBEITUNG BEI TISCH
det, indem sie entweder das Radio oder den Fernseher anstellt, während die Mutter sich darauf beschränkt, die Lautstärke zu kontrollieren. Diese Behauptung wird durch das magische Spiel mit dem Salznapf gesichert. Immer kocht die Mutter sehr salzarm, fragt aber ihre Tochter, ob es ihr schmeckt. Dorothea verneint nicht, holt aber daraufhin den Salznapf aus der Küche. Beide »vergessen« während des Tischdeckens ihre Erfahrung mit der Salzarmut des Essens regelmäßig, sodass sich das Spiel wiederholen kann. Damit werden beide für ein schmackhaftes Essen zuständig und verständigen sich zugleich über diese Gemeinsamkeit wie ihre verschiedenen Geschmäcker. Der Salznapf wird zum verdichteten Symbol der antigenerativen Inszenierung und funktioniert als magisches Zeichen, dass die mütterliche Macht verbirgt ohne ihre Autorität infrage zu stellen. Die Mutter vermeidet eine rituelle Selbstzuweisung von Identität und frönt einem mehr oder weniger betonten Understatement. Dieses Understatement verkörpert die Schichtzugehörigkeit einer sozial Aufgestiegenen, die für ihren beruflichen Statusgewinn und seine Sicherung als alleinerziehende Mutter enorme Anstrengungen auf sich genommen hat und auf sich nimmt. Die damit verbundene Anspannung wird bei Tisch transformiert und dadurch ausgegrenzt. Das erklärt den im Vergleich zu den anderen beiden Familien erhöhten Aufwand zur Tischgestaltung, der dem sonstigen rituellen wie außerrituellen Understatement der Mutter zunächst zu widersprechen scheint. Die antigenerative Inszenierung dient in diesem Sinne auch einer sozialen Erholung. In den seltenen Fällen, in denen die Mutter bei Tisch über ihre Arbeit spricht, ironisiert sie deren Zumutungen, ohne ihren Wert gänzlich infrage zu stellen. Dass sie es als ihre Pflicht empfindet, den Anforderungen ihres pädagogischen Berufs gerecht zu werden, äußert sich mit großer Selbstverständlichkeit. Diese verlangt sie auch von ihrer Tochter, ohne dass dies bei Tisch zu Kontrollen führt. Mutter Maier interessiert sich während der gemeinsamen Mahlzeit weniger dafür, ob Dorothea den schulischen Anforderungen gerecht wird, sondern vielmehr dafür, wie sie sich angesichts schulischer Aufgaben und Normen sowie mit ihren Klassenkameraden fühlt. Mit ihrer Ironie bezogen auf ihren eigenen Beruf gibt die Mutter ihrer Tochter ein Modell der Distanznahme zu erkennen, dass sie jedoch nur selten ins Spiel bringt. Wenn Dorothea dem Modell der Mutter nicht folgt und deren Ironie verpuffen lässt, hält diese das rituelle Understatement aufrecht, indem sie keine weiteren Nachfragen stellt und die Tochter nicht drängt, ihrem Verhaltensmodell zu folgen. Die Mutter hält längere Gesprächspausen aus und wechselt anschließend das Thema, wobei im Vergleich zu den Familien Zobel und Hauser bei Tisch wenig gesprochen wird. Die Erziehung bei Tisch erfolgt in Familie Zobel im Stil einer spielerischen Askese, d.h. als kollektive Selbstübung, die sich zwischen Strenge und 207
ERZIEHUNG BEI TISCH
Spiel bewegt. Die Eltern besitzen die Definitionsmacht über Regeln. Die Mutter ist für die Durchsetzung von Verhaltensregeln bei Tisch zuständig. Ihre sichtbare Autorität unterliegt dabei einer Korrektur durch den Vater und einer Kontrolle durch die zwölfjährigen Zwillinge. So werden mütterliche Autoritätsanmaßungen, die der pädagogischen Grundregel der familialen Gemeinschaftlichkeit – Selbst- und Mitbestimmung im Sinne des »Einer für alle und alle für einen!« widersprechen oder diese gefährden, von ihnen zurückgewiesen. Die elterliche Hierarchie ist bei Tisch asymmetrisch zwischen Mutter und Vater Zobel verteilt. Der Vater erscheint als Garant der familiären Gemeinschaft und besitzt gegenüber der Mutter die höhere Autorität. Die väterliche Autorität wird durch das pädagogische Handeln der Mutter legitimiert und dabei relativ unsichtbar, während sich die mütterliche Autorität in ihrer Sichtbarkeit legitimieren muss und auf unmittelbare, explizite Anerkennung angewiesen ist. Die Mutter ist während des Tischrituals strenger und weniger humorvoll als außerhalb der rituellen Inszenierung, ihre Autorität wird kontrolliert und ihr Verhalten bei Tisch diszipliniert. Die Autorität des Vaters äußert sich u.a. im Griff zur Zeitung, der das Ende des Tischrituals einleitet. Der Vater schafft sich mit der Zeitung einen zusätzlichen Freiraum. Über die Zeitung wird nicht gesprochen. Während die neunjährige Carolin einen ähnlichen Freiraum bei Tisch genießt, sind die Zwillinge Anna und Björn am stärksten den mütterlichen Erziehungsversuchen ausgesetzt. Zum magischen Zeichen der unhinterfragbaren und nicht legitimationsbedürftigen Autorität des Vaters wird die Kaffeekanne. Der Vater bereitet den Kaffee zu und sorgt für dessen letztgültige Platzierung in der Tischmitte. Wenn die Mutter den Tisch gedeckt hat, verschiebt er jedes Mal den Untersetzer, und sei es nur um wenige Millimeter. Die Kinder dürfen keinen Kaffee trinken. Ihre Milch steht auf der Küchenzeile neben dem Esstisch und um nachzuschenken, muss erst umständlich nach ihr gegriffen werden. Die Kaffeekanne wird zum verdichteten Symbol der pädagogischen Generationendifferenz und das Tischritual zur symbolischen Inszenierung ihrer Bearbeitung. Auch in Familie Zobel, die am längsten bei Tisch verweilt und das Tischgespräch im permanenten Fluss hält, gliedern weniger die Themen des Gesprächs sondern vielmehr die körperlichen Interaktionen den Ritualverlauf. Und Carolin, die als jüngstes Kind aus den Tischgesprächen weitgehend ausgegrenzt bleibt und sich mental zeitweise vom Ort des Geschehens entfernen kann, bleibt über das Essen und die körperliche Nähe dennoch in die Tischgemeinschaft einbezogen. Ihren Spielraum nutzt Carolin klug, auch wenn sie besondere Anstrengungen unternehmen muss, um in den Gesprächen gleichberechtigt anerkannt zu werden. Die pädagogisch-sprachlichen Strategien der Mutter werden ergänzt durch die gemeinschaftlich-körperlichen Strategien 208
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des Vaters, wobei diese voneinander unterscheidbaren Orientierungen der Eltern im Verlauf der gemeinsamen Mahlzeiten integriert werden. Der Vater kann sich den Tischgesprächen weitgehend entziehen, nicht weil er nichts zu sagen hätte, sondern weil er nichts zu sagen braucht. Carolin beherrscht die Logik der pädagogischen Spielregeln des Tischrituals insofern, als sich ihr Verhalten bei Tisch stärker auf den Vater bezieht. Während in den Familien Maier und Zobel die gemeinsame Mahlzeit als gesichert erscheint, muss Familie Hauser es noch lernen, das Ritual zu beherrschen. Die Pädagogik des Rituals richtet sich zum Zeitpunkt der Untersuchung also hauptsächlich auf die Einübung eines angemessenen rituellen Verhaltens, eine Anforderung die auch von den Eltern Disziplin verlangt, d.h. der pädagogische Stil diszipliniert nicht nur Erik und Frederike Hauser sondern auch ihre Eltern. Erik folgt den Grundregeln des Tischrituals trotz seines anfänglich erheblichen Widerstands relativ schnell. Dennoch ist seine Erziehung ein mühsamer Vorgang und die Mühsal der Erziehungsarbeit liegt vor allem bei der Mutter. Sie muss das Ritual durchsetzen und ist zu Strenge, Befehlen und Konsequenz genötigt, die ihrer Gelassenheit und ihrem Humor zunächst widersprechen. Weil die mütterliche Gelassenheit jedoch der Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit ihrer Autoritätsposition entspricht, bleibt sie trotz der Strenge der Befehle erhalten. Die Mutter reagiert auf Eriks Versuche, die gemeinsame Tischzeit zu torpedieren, als Souverän, der sich in seiner Autorität nicht angreifen lässt. Als Souverän ist die Mutter (selbst-)diszipliniert genug, um sowohl ihr Gesicht nicht zu verlieren, als auch dafür zu sorgen, dass sich Erik an die Regeln halten kann, ohne sich ihr unterwerfen zu müssen. Mit hohem inszenatorischen Geschick überlässt die Mutter dem Sohn als Mann die Bühne und letztlich erarbeiten alle Familienmitglieder die familiale Solidarität, bis Erik seinen Widerstand allmählich aufgibt. In der Folge entwickelt sich aus dem anfänglichen disziplinierenden Machtspiel zwischen Mutter und Sohn eine zunehmende Gelassenheit bei Tisch, mit der die Familie ihre Generationendifferenz normalisiert. Die unhinterfragte und nicht legitimationsbedürftige Autorität von Mutter Hauser, die bei Tisch das sichtbare Autoritätszentrum der Familie ist, wird vom Vater unterstützt, der den strengen Setzungen der Mutter folgt und sie in Eriks Richtung wiederholt. Insofern orientieren sich seine Handlungen an der souveränen Inszenierung der Mutter. Wie in Familie Zobel ist die elterliche Hierarchie bei Tisch auch hier asymmetrisch angeordnet, allerdings besitzt hier die Mutter die höhere Autorität. Außerhalb des Tischrituals ist der Vater an der Erziehungs- und Hausarbeit, Setzung und Durchsetzung von Regeln und Normen sowie ihrer Legitimierung gleichberechtigt beteiligt. Die rituelle Inszenierung lässt ein eingespieltes Einverständnis zwischen den Eltern deutlich werden, dass von den Eltern gegenüber Erik und Frederike auch deswegen ohne gegenseitige Irritationen durchgehalten werden muss, weil der müt209
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terliche Souverän des Rituals sich (noch) nicht auf die performative Logik magischer Zeichen und Spiele verlassen kann. Die pädagogischen Bemühungen der Eltern sind in Familie Hauser während des Zeitpunkts der teilnehmenden Beobachtungen auf die Sicherung des Tischrituals als gemeinschaftlicher Inszenierung gerichtet. Dies betrifft die Arbeit an Frederikes Pünktlichkeit ebenso wie die Umarbeitung von Eriks Weigerung in einen Wunsch nach Einbeziehung. In Familie Zobel richtet sich Erziehungsarbeit auf die spielerische Übung der Familienmitglieder an sich selbst. In beiden Familien arbeiten die Eltern an der Selbstbildung der Kinder, d.h. an der Anerkennung vor allem normativer (Zobel) und ästhetischer (Hauser) Kompetenzen im Sinne einer zunehmenden Selbstbestimmung der Kinder auch außerhalb der Familien. Beide Familien arbeiten in ihren Ritualen an der Ausbildung und Anerkennung dieser Kompetenzen, in denen sich ihre soziale Schichtzugehörigkeit verkörpert. Bei Familie Zobel zeigt sie sich im klassischen Bildungsideal der Eltern und der rituellen Vermittlung eines normativen Zusammenhangs zwischen Familie und Schule, bei Familie Hauser in der alternativen Form einer normalisierenden Selbstermächtigung angesichts normativer Setzungen durch Schul- und Arbeitswelt. Auffallend ist in beiden Familien, wie sehr die jeweilige räumliche Szenerie diesen pädagogischen Fokussierungen entspricht. Im Gegensatz zu Familie Zobel, in der die Arbeitswelt der Mutter nur implizit bei Tisch aufscheint und die des Vaters bei Tisch gar keine Rolle spielt, bleibt in Familie Hauser zwar die Arbeitswelt der Mutter vollkommen ausgegrenzt, die des Vaters wird dagegen zur häufigsten, dichtesten und längsten thematischen Fokussierung bei Tisch, wobei diese sich zumeist direkt auf die Schulwelt Frederikes oder die Kindergartenwelt Eriks beziehen kann. In beiden Familien erfolgt die thematische Abgrenzung zur Außenwelt also entlang der Asymmetrien innerhalb der elterlichen Autorität. Darüber hinaus hängt die thematische Abgrenzung der Tischgespräche vom normativen Gehalt der Tischrituale ab. Die spielerische Askese am Tisch von Familie Zobel arbeitet an der disziplinierten Einübung eines den Normen der Schulwelt entsprechendem Verhaltens der Kinder als Voraussetzung für individuelle Autonomie. Die Anerkennung der Kinder durch die Eltern im Rahmen der Familie ist an diese Kompetenz gebunden, wobei der spielerische Charakter der rituellen Inszenierung die Strenge der normativen Vermittlung mildert und den Kindern einen eigenen Gestaltungsspielraum ermöglicht. Für ausführliche Gespräche über Moral und Religion, Weltanschauung und Politik ist in Familie Zobel der Vater zuständig, während die Mutter sich intensiv an Gesprächen über Kunst und Literatur beteiligt sowie die Diskussionen über geltende Regeln und Normen (an)führt. Diese finden jedoch nicht bei Tisch statt. Dagegen nimmt Familie Hauser, d.h. die Eltern und die dreizehnjährige Frederike, eine Distanz zu den Normen außerfamiliärer Welten ein, ohne die210
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se grundsätzlich infrage zu stellen. Vielmehr suchen die Familienmitglieder nach Erlebnissen und Möglichkeiten, mit denen sich individuelle Autonomie nicht als an äußeren Vorgaben orientierte Selbstbehauptung sondern als an inneren Vorlieben orientierte Selbstbestimmung ausbilden lässt. Den außerfamiliären normativen Setzungen wie den innerfamiliären Regeln des Tischrituals wird mit den Selbsttechniken der Lust und Freude, Kunstfertigkeit und Ästhetik begegnet. Dies wird selbst noch in der Nötigung Eriks zur Teilnahme am Tischritual sichtbar. In den untersuchten Familien scheint – bei unterschiedlichem Umfang, Dauer und Intensität der Tischgespräche – zunächst die Sprache das wichtigste Medium kommunikativer Verständigung zu sein. Insofern ist eine genaue Gesprächanalyse unverzichtbar, um den Sinn der Tischrituale zu erschließen. Die teilnehmenden Beobachtungen verdeutlichen jedoch, dass die sprachlichen Interaktionen in die symbolische Praxis des Rituals eingebettet sind, d.h., sie sind zwar ein eigenständiges Mittel der Kommunikation, aber was sie bedeuten, hängt davon ab, wie sie sich auf die nonverbalen Interaktionen beziehen. Die Körperbewegungen ergänzen als nonverbale Interaktionen die Bedeutung der Sprache, indem sie diese verstärken oder kontrastieren, gliedern den Handlungsablauf des Rituals und tragen entscheidend zum performativen Effekt der rituellen Inszenierung bei. Körperliche Anwesenheit ist in den Familien also nicht nur eine simple Voraussetzung für die gemeinsame Mahlzeit, sondern der kollektive Sinn des Rituals hängt von den körperlichen Handlungsvollzügen ab, von Bewegungen und Haltungen, Körperdisziplin und Körperanordnung. Deshalb werden Verstößee – wie Unpünktlichkeit – entweder wie in Familie Hauser geahndet oder durch spielerische Interaktionen vermieden – wie durch die umgekehrte Reise nach Jerusalem in Familie Zobel. Alle rituellen Akteure wissen praktisch, was während der gemeinsamen Mahlzeit zu tun und was zu lassen ist, bei der Nahrungsaufnahme, beim Reden und beim Sitzen, bzw. wie Provokationen und Protest sprachlich und körperlich ausgedrückt, aufgenommen, abgeschwächt, einbezogen und Konflikte verschoben werden können. Auch das jüngste Kind der Untersuchung, der fünfjährige Erik Hauser, weiß schon um die Regeln des Tischrituals und beweist großes Geschick im Machtspiel mit der Mutter. In den untersuchten Tischritualen beherrschen die Eltern weniger ihre Kinder als vielmehr das Generationenverhältnis (Benjamin 1964) und bleiben auf die Anerkennung ihrer Autorität durch die Kinder angewiesen. Ihre Autorität lässt sich im Anschluss an Max Weber (Weber 1995) als überwiegend rational legitimierte Form der Beherrschung des Generationenverhältnisses verstehen, da sie sich vor den Kindern – der neunjährigen Carolin, den zwölfjährigen Kindern Anna, Björn und Dorothea und der dreizehnjährigen Frederike – bewähren muss. Wird dabei die hierarchische Anordnung des pädagogischen Generationenverhältnisses sichtbar, ist der Prüfstein dieser kompetenten 211
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Kontrolle elterlicher Autorität durch die Kinder die Bewährung an den Spielregeln der gemeinschaftlichen Inszenierung. Die rationale Autorität der Eltern wird flankiert und stabilisiert durch die traditionale Selbstverständlichkeit elterlicher Autorität, die sich bei Tisch in der weitgehend unsichtbar bleibenden Beherrschung der rituellen Dramaturgie durch alle Eltern und ihrem eingespielten pädagogischen Einverständnis untereinander zeigt. Zudem wird in den Familien Maier und Zobel diese traditionelle Form elterlicher Herrschaft durch magische Zeichen und Spiele gesichert. Die Autorität von Mutter Hauser basiert dagegen auf ihren charismatischen pädagogischen Fähigkeiten, insbesondere auf ihrer Souveränität und Gelassenheit, die sich auf die väterliche Unterstützung verlassen kann. Das Tischritual stellt die Einheit der Familien in ihren Differenzen dar. Dabei erweisen sich die Tischrituale in den untersuchten Familien nicht als erstarrte, stereotype Vollzugspraxen festgefrorener Gemeinschaften, sondern als flexible und anpassungsfähige kollektive Handlungskomplexe, in denen die Familien ihre Differenzen aufführen. Im Vollzug der rituellen Handlungen werden diese Differenzen jedoch nicht allein wiederholt und bestätigt, sondern auch bearbeitet. Diese Bearbeitung erfolgt über die gegenseitige Erziehung der Familienmitglieder. Die untersuchten Tischrituale sind keine eindimensionalen und mechanischen Verkörperungen einzelner Differenzen, die in den Wiederholungen des Handlungsvollzugs im Rahmen eines familienspezifischen pädagogischen Stils wie vorgegeben inkorporiert werden, sondern in den Tischritualen wird die symbolische Ordnung der Familien artikuliert und aktualisiert. Die Artikulation der strukturellen Differenzen, d.h. ihre Darstellung und Verknüpfung, schafft einen Handlungs- und Spielraum, in dem Autorität praktisch verhandelt wird. Die Selbstverständlichkeit der elterlichen Autorität, ihre magischen Zeichen und Spiele, und die pädagogische Rahmung der rituellen Inszenierungen begrenzen diesen Spielraum. Dennoch kann das rituelle Ereignis auf das Autoritätsgefüge zurückwirken und seine Neujustierung bzw. allmähliche Verschiebung bei Tisch erlauben, denn das Gelingen der kollektiven Inszenierung ist angewiesen auf gegenseitige Anerkennung und individuelle Autonomie. Die soziale Magie der untersuchten Tischrituale erweist sich als pädagogisch produktiv.
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Pädagogik Johannes Giesinger Autonomie und Verletzlichkeit Der moralische Status von Kindern und die Rechtfertigung von Erziehung Oktober 2007, ca. 200 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-795-0
Christian Schütte-Bäumner Que(e)r durch die Soziale Arbeit Professionelle Praxis in den AIDS-Hilfen August 2007, ca. 252 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-717-2
Fabian Lamp Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis April 2007, 258 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-662-5
Paul Mecheril, Monika Witsch (Hg.) Cultural Studies und Pädagogik Kritische Artikulationen 2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-366-2
Felicitas Lowinski Bewegung im Dazwischen Ein körperorientierter Ansatz für kulturpädagogische Projekte mit benachteiligten Jugendlichen
Peter Kossack Lernen Beraten Eine dekonstruktive Analyse des Diskurses zur Weiterbildung
Juni 2007, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-726-4
2006, 218 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-294-8
Kathrin Audehm Erziehung bei Tisch Zur sozialen Magie eines Familienrituals
Autostadt GmbH (Hg.) DENK(T)RÄUME Mobilität Bildung – Bewegung – Halt unter wissenschaftlicher
Juni 2007, 226 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-617-5
2005, 176 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 978-3-89942-357-0
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Pädagogik Thorsten Kubitza Identität – Verkörperung – Bildung Pädagogische Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners 2005, 352 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-318-1
Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs 2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-316-7
Thomas Höhne Pädagogik der Wissensgesellschaft 2003, 326 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-119-4
Werner Friedrichs, Olaf Sanders (Hg.) Bildung / Transformation Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Perspektive 2002, 252 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-933127-94-5
Ellen Schwitalski »Werde, die du bist« Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2004, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-206-1
Thomas Brüsemeister, Klaus-Dieter Eubel (Hg.) Zur Modernisierung der Schule Leitideen – Konzepte – Akteure. Ein Überblick 2003, 426 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-120-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de