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German Pages 408 [412] Year 1999
Erzählkunst und Volkserziehung
Erzählkunst und Volkserziehung Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf
Mit einer Gotthelf-Bibliographie
Herausgegeben von Walter Pape, Hellmut Thomke und Silvia Serena Tschopp
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999
Umschlagbild: Ausschnitt aus „Gotthelf: Die schwarze Spinne. Mit Illustrationen von Fritz Walthard (1979), S. 59"
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Erzählkunst und Volkserziehung : das literarische Werk des Jeremias Gotthelf ; mit einer Gotthelf-Bibliographie / hrsg. von Walter Pape ... -Tübingen : Niemeyer, 1999 ISBN 3-484-10798-7 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt Vorwort
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Die großen Romane Walter Pape
„Gotthelf, suchet euch ein Wirtshaus aus": Der „Bauern-Spiegel" - Bildungsroman, Schweizer Art
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Wolfgang Braungart
Hiobs Bruder: Zur ästhetischen Theodizee der „Uli"-Romane
27
Peter Rusterholz
Gotthelfs „Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht": Historischer Anlaß und aktuelle Bedeutung
43
Sven Aage J0rgensen
Humor, Komik und Satire in der „Käserei in der Vehfreude"
55
Gotthelf als Erzähler für das Volk Remy Charbon Tradition und Innovation: Gotthelfs Bedeutung für die Dorfgeschichte ... 69 Daniel Fulda
Geburt der Geschichte aus dem Gedächtnis der Familie: Gotthelfs historische Erzählungen im Kontext vormärzlicher Geschichtsdarstellung 83 Silvia Serena Tschopp
„Predigen, gefaßt in Lebenssprache": Zur narrativen Strategie von Gotthelfs „Neuem Berner-Kalender"
111
Ästhetik, Rhetorik, Religion Walter Pape
„Ein Wort, das sich in seine Seele hakte": Bild und Metapher bei Jeremias Gotthelf
131
Renate Böschenstein
Mythos und Allegorie: Zur Eigenart von Gotthelfs Schreiben
151
Peter Utz Redeströme, Bilderbrücken, Schriftschwellen: Gotthelfs „Wassernot im Emmental" in literarischer Sicht
171
vi
Inhalt
Klauspeter Blaser Todesfluten, Glaubensbrücken, Liebesströme: Theologische Anmerkungen zu Gotthelfs „Wassernot im Emmental" . . . 185 Roger Paulin Der Kindertod in Predigt und Roman bei Gotthelf
199
Michael A ndermatt „Keinem wurde ein einziges Gericht geschenkt": Leiblichkeit bei Gotthelf
209
Gotthelf und die Politik Hellmut Thomke Gotthelfs .Konservativismus' im europäischen Kontext
227
Werner Hohl Gotthelfs Liberalismus-Kritik im europäischen Kontext: Ein Blick auf Benjamin Disraelis Roman „Sybil. Or the Two Nations" . . . 243
Gotthelf im europäischen Vergleich Robert Godwin-Jones Soziale und politische Modelle in George Sands „Le Compagnon du Tour de France" und Gotthelfs Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz" 267 Peter Skrine Die Brautschauerzählung bei Jeremias Gotthelf und Hannah More
289
Die Rezeption Gotthelfs Hanmut Laufhütte Gotthelfs Bedeutung für die Selbstvergewisserung Gottfried Kellers
307
Dotninik Müller Illustration als Interpretation: Gotthelfs „Schwarze Spinne" als Bildvorlage 321
Bibliographie
345
Register
389
Verzeichnis der Beiträger
401
Vorwort Für Gottfried Keller war Gotthelf „ohne alle Ausnahme das größte epische Talent [...], welches seit langer Zeit und vielleicht für lange Zeit lebte." Wilhelm Heinrich Riehl erkannte in ihm Shakespeare als Dorfpfarrer im Emmental, und Jacob Grimm rühmte in der Vorrede zum Deutschen Wörterbuch die Sprachgewalt seiner Werke und erwartete von seiner „kräftigen Ausdrucksweise" eine Bereicherung der deutschen Sprache. Der 200. Geburtstag Gotthelfs am 4. Oktober 1997 war Anlaß einer Tagung an der Universität Bern, die neben einem Theologen namhafte Germanisten aus England, aus den USA, aus Dänemark, Deutschland und der Schweiz zusammenführte, um das Werk des großen Schweizer Dichters aus internationaler Sicht im europäischen Kontext zu würdigen und dabei längst überholte Fehlurteile zu korrigieren. Die Teilnehmer an dieser - atmosphärisch, kollegial und wissenschaftlich faszinierenden - Tagung waren sich mit allen ernsthaften Gotthelf-Kennern darin einig, daß Gotthelf trotz seiner unbestrittenen ästhetischen Qualitäten und seines epischen Genies „zum Nachteil der deutschen Bildung und der gesamten literarischen Welt" zu wenig gelesen wird (Friedrich Sengle). Obwohl Gotthelf einen autonomen Bezirk der Kunst zurückwies, gilt von seiner Wirkung auch heute noch, was er im Schulmeister so umschreibt: „Gab es aber nicht auch Bücher, die euch ergriffen mit ganz eigener Gewalt, die euch festbannten an sie, daß ihr sie kaum aus den Händen bringen konntet und noch viel weniger aus dem Kopf, die euer ganzes Wesen aufwühlten wie der Sturm das Meer, die ein eigen Feuer in euch anzündeten, daß ihr nach den Köpfen griffet, ob nicht auch feurige Zungen denselben entsprühten, die eine süße Wonne in eure Herzen gössen, eine Labung, für die ihr keine Namen fandet?" Solcher Faszination und der literar- wie kulturhistorischen Bedeutung Gotthelfs mit dezidiert literaturwissenschaftlicher Methodik auf den Grund zu gehen und seine Werke dem Kanon der großen realistischen Erzählkunst und damit einem größeren Lesepublikum zurückzugewinnen ist das Plädoyer dieses Buches. Der vorliegende Band faßt die meist überarbeiteten und erweiterten Vorträge der Tagung zusammen, ergänzt sie durch einen weiteren Beitrag zum Bauern-Spiegel und eine Bibliographie, welche die Gotthelf-Bibliographie von Bee Juker und Gisela Martorelli von 1976 bis 1998 weiterführt und zugleich die wichtigste ältere Literatur verzeichnet. Dem Max und Elsa-Beer-Brawand-Fonds der Universität Bern und der Berner Burgergemeinde, welche die Tagung großzügig unterstützten, sei hier der Dank der Herausgeber und der Beiträger ausgesprochen. Bern und Köln, April 1999
Walter Pape Hellmut Thomke Silvia Serena Tschopp
Die großen Romane
Walter Pape
„Gotthelf, suchet euch ein Wirtshaus aus": Der „Bauern-Spiegel" - Bildungsroman, Schweizer Art1 Jedes Existierende ist ein Analogen alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles in's Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet.2
1. Ein Kalbskopf an weißer Sauce [...] der Dorngrütbauer war der Meinung, daß seinesgleichen nicht auf Erden sei, und kein Altadelicher konnte auf seine Weise stolzer sein als der Dorngrütbauer. Seine Einbildung stützte sich nicht nur auf seinen Reichtum, sondern auch auf seine Weisheit und Einsicht. [...] Daher behandelte er niemand als seinesgleichen [...]. Es wäre sehr merkwürdig gewesen, wenn der und Goethe sich einmal getroffen hätten, sie zwei an einem Wirtshaustisch, zwischen beiden etwa ein Kalbskopf an weißer Sauce, und hätte der Goethe nicht gewußt, wer der Dorngrütbauer sei, und der Dorngrütbauer ebensowenig von dem Goethe: was die sich für Augen gemacht hätten, und wie jeder bei sich gedacht hätte, der weiß afe nüt, wird ume so ne Löhl sy!3
Man muß nicht diese Szene aus Gotthelfs Geld und Geist (1843/44) zitieren, um auf die unterschiedlichen kulturellen Kontexte hinzuweisen, in denen die Schweizer Bauern Gotthelfs und der deutsche Bürger Goethe stehen. Gegenübergestellt wird in der Person der beiden „Notabilitäten"4 eine vergleichbare Entfremdung innerhalb dieser Kulturen: Wie der Dorngrütbauer in seinem sich über die Mitbauern überhebenden Stolz sich von diesen abgrenzt, so steht Goethe in den Augen Gotthelfs (den man mit dem Erzähler des Romans gleichsetzen darf) seinen Mitbürgern nicht in republikanischer Nähe, sondern mit dem Führungsanspruch des Geistesaristokraten
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Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Geschichtlichkeit und Gegenwart. Festschrift für Hans Dietrich Irmscher zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Hans Esselborn und Werner Keller. Köln, Weimar: Böhlau 1994 (Kölner Germanistische Studien. 34), 2., verb. Aufl. 1996, S. 245-265. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, Betrachtungen Nr. 115 - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 10, S. 575. - Der Anstoß zur Beschäftigung mit Gotthelf geht auf meinen Lehrer Alfred Liede (1926-1975) zurück. SW 7, S. 223-224. Vgl. auch Holl: Gotthelf im Zeitgeflecht, S. 16-18: „Goethe und der Dorngrütbauer". SW 7, S. 224.
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gegenüber. Gotthelfs komödienhafte sozialpsychologische Kulturkritik reflektiert auch den Zustand der Literatur als sozialer Institution: Nach den optimistischen Versuchen der Aufklärung, Literatur als Erziehungsmittel einzusetzen, entfernte sich die Literatur der Klassik und Romantik so weit vom breiteren Lesepublikum, daß ihre ästhetische Erziehung von vornherein Utopie bleiben mußte. Diese Kluft innerhalb der literarischen Kultur wurde in der literarischen Theorie entgegen tatsächlichen ästhetischen, funktionalen und stofflichen Verbindungen noch vertieft und damit zum unübersteigbaren Dogma. Die Literatur der Hochkultur entwickelte sich zum Träger von .Bildung', und damit waren automatisch andere Schichten mit anderer Kultur von dieser Bildung ausgeschlossen. Diese Entstehung der (mindestens) zwei Kulturen in Deutschland ist oft genug beschrieben und gedeutet worden.5 Doch ist die Absolutsetzung der „Reinheit der bürgerlichen Kunst"6 als wahre und gültige Maßstäbe setzender Kulminationspunkt einer historischen Entwicklung Teil einer literarhistorischen Mythologie, ohne die zu leben vielen schwerfällt. Die früheren und heutigen Sinngebungsversuche .bürgerlicher' kultureller Identität zu erforschen ist Teil der Literaturwissenschaft geworden. Die literarischen Werke sind vom kulturellen Diskurs über sie oft in den Hintergrund gedrängt worden. Und so erfreuen sich weniger die umstrittenen Exemplare der deutschesten aller hochliterarischen Gattungen der Aufmerksamkeit der Forschung als vielmehr der Diskurs über sie. Eine der jüngsten Untersuchungen zum Bildungsroman versucht sich dann auch weder an der üblichen Durchforstung der Texte oder der Definitionen, sondern stellt fest, daß „die Einheit der Gattung in der Kommunikation über sie zu suchen" sei.7 Das macht so lange Sinn, als für die Geschichte von „Bildung und Roman als Momenten bürgerlicher Kultur" von Rousseaus „perfectibilite"-Vorstellung und ihren weitläufigen Folgen ausgegangen wird, weniger wenn die überhaupt nicht effektiv gewordene, weil lange unbekannt gebliebene erste Definition Karl Morgensterns von 1820 oder aber Diltheys Beschreibung in handlicher Verkürzung8 einer Diskursanalyse zugrundegelegt wird. Denn die Nachzeichnung der zeitgenössischen Kommunikation über Gattung und Bildungsbegriff ist immer noch ahistorischen Pauschalisierungsversuchen in der allerletzten Abenddämmerung eines längst verloschenen idealistischen Bildungsglaubens vorzuziehen. Nicht erst Thomas Mann wußte, daß der Bildungsroman nur noch als Parodie möglich ist,9 5
6 7 8 9
Vgl. z. B. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit; Hohendahl: Literarische Kultur, besonders die ersten Kapitel und den Abschnitt „Kultur für das Volk", S. 340-375. Vgl. auch die Hinweise bei Kontje: Private Lives in the Public Sphere, S. 1-5. Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 157. Stanitzek: Bildung und Roman, S. 418. Vgl. dazu Laufhütte: Entwicklungs- und Bildungsroman, S. 301-305. Mann: [Der autobiographische Roman]-Gesammelte Werke Bd. 11, S. 700-703, hier S. 703.
Der „Bauern-Spiegel" - Bildungsroman, Schweizer An
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schon E. T. A. Hoffmann parodierte das Genre mit seinem Kater Murr10. Ob Romane wie Immermanns Epigonen oder Gottfried Kellers Grüner Heinrich jedoch tatsächlich die „völlige Unmöglichkeit" zeigen, „im 19. Jahrhundert noch die Ziele Goethes zu erreichen"11, scheint zumindest nicht ganz die richtige Frage. Denn es ist eine viel zu pauschale und zweifelsfreie Gewißheit der Moderne, in einem Roman wie dem Grünen Heinrich den Beweis dafür zu sehen, „daß das Individuum in seiner Eigenart an der Welt nur noch scheitern kann, daß die klassischen Bildungsideale inadäquat geworden sind"12. Das Phantom des deutschen Bildungsromans13 im Nacken, Wilhelm Meister zur Seite, Gotthelfs Bauern-Spiegel vor Augen und Kellers Grünen Heinrich (allerdings nur die erste Fassung) im Visier, soll im folgenden vor allem der Blick darauf gerichtet werden, wie die „Verfassung der Gesellschaft selbst"14 im Roman Bildung und Bildungsvorstellungen des einzelnen prägt. Den Bauern-Spiegel in die Diskussion um den Bildungsroman einzubeziehen heißt nicht, die umstrittene Gattung lediglich um ein weiteres umstrittenes Exemplar zu bereichern;15 schon Walter Muschg charakterisierte den Bauern-Spiegel, klugerweise ohne den Begriff .Bildungsroman' zu verwenden: „Im Mittelpunkt steht die allgemeinere Frage der menschlichen Bildung, des Menschsems überhaupt, der persönlichen und öffentlichen Moral."16 Doch kann die Analogie zu einem historisch und kulturell verschiedenen, tendenziell aber der klassisch-romantischen Gattung .Bildungsroman' und vor allem der zeitgenössischen Bildungsdiskussion verpflichteten Werk die deutscheste aller Gattungen, das angebliche „Nationalmerkmal"17, der Schweizer Variante (zu der bei aller Bedeutung der deutschen Kultur für Keller eben auch der Grüne Heinrich gehört) gegenüberstellen und dazu beitragen, historische und kulturelle Unterschiede 10 11 12
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Siehe dazu Steinecke: .Wilhelm Meister' und die Folgen, S. 91. Ebenda. Ebenda S.91-92. Sammons: The Mystery of the Missing Bildungsroman, S. 243. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre 5. Buch, 3. Kapitel - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 9, S, 659. Die etwas pauschalen Hinweise zum Bauern-Spiegel als Bildungsroman bei Holl: Gotthelf im Zeitgeflecht, S. 43-44 sind ungenügend, vgl. auch die Kritik von Grawe: Of Bildungsromane and Zeitromane, S. 199. Gotthelfs Uli-Romane (Wie Uli der Knecht glücklich wird [1841] und Uli der Pächter [ 18470 sind z.B. von Hans Heinrich Borcherdt im fünften Band (1941) von Gerhard Frickes berüchtigter Sammlung Von deutscher Art in Sprache und Dichtung im Kapitel „Der deutsche Bildungsroman" für die Gattung vereinnahmt worden, vgl. Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman, S. 195: „[...] viele seiner Texte auch als Erziehungs- und Entwicklungsromane oder -Erzählungen aufgefaßt werden könnten, was in den Forschungen zu diesem Genre bislang kaum berücksichtigt worden ist." Muschg: Jeremias Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 59. Vgl. Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 812: „Die frühere Neigung, den Bildungsroman als das Zentrum der deutschen Romangeschichte oder gar als Nationalmerkmal zu betrachten, verschwindet allmählich, - selbst im Ausland."
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Walter Pape
klarer zu sehen. Nicht umsonst beginnen die erste wie die zweite Fassung des Grünen Heinrich mit einer ausdrücklichen Betonung Schweizer Besonderheiten, die erste gar mit der Versammlung des „gesetzgebenden Rates der Republik"18.
2. Wenn Anne Marei Schweine mästet Jacob Grimm schreibt 1854 in der Vorrede zum ersten Band des Deutschen Wörterbuchs: von jeher sind aus der Schweiz wirksame Bücher hervor gegangen, denen ein theil ihres reizes schwände, wenn die leisere oder stärkere zuthat aus der heimischen spräche fehlte; einem lebenden schriftsteiler, bei dem sie entschieden vorwaltet, JEREMIAS GOTTHELF (BlTZIUS), kommen an Sprachgewalt und eindruck in der leseweit heute wenig andre gleich."
Heute aber ist Gotthelf, so Friedrich Sengle, „zum Nachteil der deutschen Bildung und der gesamten literarischen Welt" wenig gelesen und kaum Gegenstand der Forschung.20 Die Gründe dafür sind zu mannigfaltig, als daß sie hier erörtert werden könnten. Der Stoff mag zur Mißachtung beigetragen haben, hat das deutsche Bildungsbürgertum doch aus verständlichen historischen Ursachen nie recht einsehen wollen, was Bauern in der Literatur zu suchen haben, und solche Literatur schnell mit dem Etikett „provinziell" versehen und einer weiteren Phantomgattung, der .Dorfgeschichte' zugeschlagen. Zudem gilt als ausgemacht, daß „Gotthelf teilweise noch einem vormodernen, operativen Literaturkonzept folgt."21 Kunst ist für ihn kein autonomer Bezirk, der Künstler kein höherer Mensch; es kommt für Gotthelf nur darauf an, daß der Mensch nach besten Kräften und verantwortungsvoll handelt. Deshalb geißelt er den Bildungshochmut und den bürgerlichen Bildungsbetrieb des 19. Jahrhunderts und fragt: „[...] wenn einer nach seinen besten Kräften Gemälde macht und einer ebenso Bücher macht und Anne Marei ebenso Schweine mästet, [...] wer unter ihnen ist berechtigter zum Selbstgefühl als der andere?"22 Tatsächlich greift Gotthelf in solcher Hochschätzung menschlicher Arbeit auf die Kunstkritik Platos zurück, der die unmittelbare poiesis in der Lebenswelt höher bewertet als die nachgeahmte in der Kunst: Der Tischler, der einen Tisch nach dem „Begriff" des Tisches verfertigt, steht als „Werkbildner" höher als der bloße 18 19
Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung - Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 2, S. 11. Jacob Grimm: [Vorrede] zu Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. l, Sp.
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Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 3, zu Gotthelf: S. 888-951, hier S. 888. Braungart: Aufklärungskritische Volksaufklärung, S. 185. SW 14, S. 126.
Der „Bauern-Spiegel" - Bildungsroman, Schweizer An
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„Nachbildner", der Maler, der den wirklichen Tisch nur nachahmt (Politeia, 10. Buch, 597a-598d).23 Doch fällt Gotthelf nicht hinter die ästhetische Diskussion zurück, dafür war er zu sehr mit der Ästhetik der Moderne vertraut;24 unentfremdete Arbeit ist letztlich schöpferisch, und da alle Menschen „in sich schöpferische Kraft" tragen, fängt für ihn „die Reihe der Darstellenden schon an bei Hans Uli, der einen Zaun macht"25. Gotthelfs Werke entziehen sich trotz seines Vorbehaltes der autonomen Kunst gegenüber natürlich nicht der literarästhetischen Wertung, wußte doch schon Gottfried Keller, daß Gotthelf „nur darum ein guter Volksschriftsteller [war], weil er ein guter, von innen heraus produktiver Dichter war."26 Nach Keller „ohne alle Ausnahme das größte epische Talent, [...] welches seit langer Zeit und vielleicht für lange Zeit lebte",27 ging es Gotthelf gleichwohl in keinem seiner Werke darum, ein Kunstwerk zu schaffen: Er will lehren, mahnen, warnen, alles wird der Tendenz dienstbar gemacht. Der Bauern-Spiegel von 1836 ist Gotthelfs erstes literarisches Werk, und das Pseudonym „Jeremias Gotthelf", das sich der Pfarrer Albert Bitzius ursprünglich nur für diese Erzählung wählte, sollte er auch weiterhin beibehalten. Der Weg zu diesem Werk ist exemplarisch für sein Schaffen und sein Selbstverständnis, denn es ist direkt hervorgegangen aus seinem praktischen und politischen Kampf als Pfarrer und Schulkommissär, aus seinen zahllosen Eingaben an die Regierung, seinem hartnäckigen Eintreten für bessere Erziehung und soziale Gerechtigkeit. In Bern war er als Vikar Aufseher der oberen Schulen, wurde aber von der Schulkommission ausgeschlossen und schließlich kurz vor dem Sieg der liberalen Kräfte als unbequemer Außenseiter auf die entlegene Pfarrei in Lützelflüh abgeschoben. Man reagierte kaum noch auf seine Eingaben. In der Motivierung und Erklärung seines Schreibens fehlt jeder Hinweis auf ein wie auch immer geartetes künstlerisches Selbstgefühl: „So wurde ich von allen Seiten gelähmt, niedergehalten, ich konnte nirgends ein freies Tun sprudeln lassen. Konnte mich nicht einmal ordentlich ausreiten, hätte ich alle zwei Tage einen Ritt tun können, ich hätte nie geschrieben. Begreife nun," heißt es weiter in diesem Brief an einen Verwandten, „daß ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand Ahnung hatte, und wenn einige Äußerungen sich losrangen, so nahm man sie halt als freche Worte. Dieses Leben mußte sich entweder aufzehren oder losbrechen auf irgendeine Weise. Es tat
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Platon: Werke, Bd. 4, S. 797-803. Vgl. z. B. Gotthelfs frühe Preisschrift (1815) über das Thema: Ist sich das Wesen der Poesie der Alten undNeuern gleich u. a. mit ausführlicher Bezugnahme auf Schiller und dessen ästhetische Schriften - EB 12, S. 9-54. Gotthelf: Die Armennot (1840) - SW 15, S. 159. Keller: Jeremias Gotthelf (TV, 1855) - Sämtliche Werke in sieben Banden, Bd. 7, S. 124. Ebenda S. 117.
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es in Schrift."28 Neben der persönlich-psychologischen Motivation steht die tendenziöse Wirkungsabsicht: Er sei Schriftsteller geworden, „unwillkürlich, durch den Drang unserer Zustände, durch den Wunsch, unserem Volk, dem man von allen Seiten Sand in die Augen streute, treu die Wahrheit vorzuhalten [...]."29 Gotthelf hat diese doppelte Motivierung, den inneren und äußeren Drang zum Schreiben, in ein Bild gefaßt, das die Ferne von ästhetischem Ausdruckswillen betont, aber zugleich seine Kraft zu ästhetischer Anschaulichkeit offenbart: „Es ist merkwürdig, daß die Welt und nicht Ehrgeiz oder Fleiß mich zum Schriftsteller gemacht. Sie drückte so lange auf mich, bis sie Bücher mir aus dem Kopfe drückte, um sie ihr an die Köpfe zu werfen. Und da ich etwas grob werfe, so will sie das nicht leiden."30 Auch der Ich-Erzähler des Bauern-Spiegels greift zur Feder, um seine Lebensgeschichte niederzuschreiben, und die Irrwege des Helden können durchaus als „merkwürdig verhüllte Selbstdarstellung"31 von Gotthelf s langer und erfolgloser Wander- und Wartezeit als Pfarrvikar angesehen werden. Er hat selbst auf seine innere Verwandtschaft mit dem Romanhelden hingewiesen, beide seien sie „unterdrückte Naturen", die sich freigeschlagen hätten, und Gotthelf fügt erklärend hinzu, daß dieser Zug des Romanhelden auch mehr oder weniger seine eigene innere Lage als Schriftsteller bezeichnet.32 So nennt Walter Muschg den Jeremias des Bauern-Spiegels zu Recht einen „erdichteten Doppelgänger" Gotthelfs33. Der zweifache, persönliche und didaktische, Entstehungsgrund gibt dem Werk nun aber auch seine Doppelgesichtigkeit in dichterischer und tendenzieller Hinsicht: Als Tendenzdichtung dient er der Volkserziehung, ist aber zugleich Geschichte des Bildungsweges eines einzelnen, zu dem immer ein Stück innerer Autobiographie gehört. Bekenntnisse einer schönen Seele aber darf man nicht erwarten; denn „zarte Seelen" warnt Gotthelf vor der Lektüre seines Buches, sie könnten eine Gänsehaut bekommen ob seiner Derbheit.34
3. Eine Kachle Milch ins Gesicht Doch Gotthelf ist nicht der literarische Naturbursche, das aus sich selbst schöpfende Naturtalent, als das man ihn lange Zeit ansah und zu dem er sich selbst stilisierte. Noch Walter Muschg irrt gerade hinsichtlich des 28 29 30 31 32 33 34
Brief Nr. 163 vom 16. Dezember 1838 an Carl Bitzius - EB 4, S. 280. Brief Nr. 174 vom 28. September 1843 an Irenäus Gersdorf - EB 5, S, 331. Brief Nr. 167 vom 26. Dezember 1838 an Joseph Burkhalter - EB 4, S. 288. Muschg: Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 59. Brief Nr. 162 vom 16. Dezember 1838 an Carl Bitzius - EB 4, S. 281. Muschg: Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 60. Gotthelf: Der Bauern-Spiegel, Vorrede zur ersten Auflage - SW l, S. 379.
Der „Bauern-Spiegel" - Bildungsroman, Schweizer An
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Bauern-Spiegels, wenn er ihn „wildgewachsen, abseits von aller Literatur" entstanden sieht.35 Sein Verhältnis zur literarischen Tradition hat Gotthelf in ein Bild gefaßt, das auf den ersten Blick die These vom literarischen Naturburschen zu bestätigen scheint: Er sei in das Gebiet der Schriftstellerei geritten, schreibt er, „ohne Theorie und Plan wie ein kecker Husar in Feindesland, der auf alles haut, was ihm vor den Säbel kommt, der das Beste nimmt von dem, was ihm in die Augen fällt. So entstund mein erstes Buch, der .Bauernspiegel' [...]".36 Doch dieser Husarenritt ist nicht planlos: Als kämpfender Tendenzschriftsteller ergreift er von dem in die Augen Fallenden - also von dem, was die größte Wirkung verspricht - das Beste, also das seinen zuvor erläuterten Zwecken am besten Entsprechende. Das ist nichts anderes als das knappe Programm einer Literatur, die alles der Tendenz unterordnet. An literarischen Großmustern, die Gotthelf für seine Zwecke abwandelt und die bis zu einem gewissen Grade Form und Gehalt des Bauern-Spiegels mitprägen,37 sind zu nennen: die Selbstbiographie des Mannes aus dem Volke, die verschiedenen volkserzieherischen Schriften seit der Spätaufklärung und eben die Romane der „Schule des Wilhelm Meister". Der volle Titel von Gotthelfs Erstling lautet: Der Bauern-Spiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf. Von ihm selbst beschrieben. Die fiktive Lebensgeschichte ist der Einheit stiftende Kunstgriff, der auch gleich die Verbindung zum Bildungsroman herstellt. Gotthelf knüpft an die Tradition von Selbstbiographien einfacher Leute an, die nicht erst seit der Aufklärung literarische Sensation machten. Es sei nur an Meister Johann Dietz, des Großen Kurfürsten Feldscher und seinen Lebenslauf, an Leben und Ereignisse des Peter Frosch, eines Tyrolers von Ried im Zillertal oder an den bekanntesten von allen, an Ulrich Bräker und seine Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des armen Mannes im Tockenburg aus dem Jahre 1789 erinnert. Was Gotthelf von diesen Vorbildern unterscheidet, ist die Bewußtheit, mit der er diese Form der .naiven' Autobiographie seinen Zwecken dienstbar macht. Die Kindheitsgeschichte des Jeremias nimmt das ganze erste Drittel des Bauern-Spiegels ein und ist, in ihrer Funktion als aufklärerische Volksschrift betrachtet, zunächst ein Pamphlet gegen einen der schlimmsten sozialen Mißstände der damaligen Schweiz: das Verdingkinderwesen. Verdingkinder: das waren Waisen oder Halbwaisen, aber auch Kinder, deren Eltern
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Muschg: Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 15. Brief Nr. 174 vom 28. September 1843 an Irenäus Gersdorf - EB 5, S. 332. Für H. M. Waidson ist der Bauern-Spiegel eines der wenigen Werke Gotthelfs mit möglichem direkten literarischen Einfluß auf den plot: Waidson nennt neben Ulrich Bräkers/lr/newi Mann im Tockenburg, wo der Held ein .Ännchen' liebt, unfreiwillig in die preußische Armee gerät, am Siebenjährigen Krieg teilnimmt und desertiert, noch Zschokkes Goldmacherdorf von 1817, wo der Held nach der Heimkehr, von der Unmoral des Dorflebens schockiert, tatsächlich Reformen einleitet. Waidson: Jeremias Gotthelf, S. 56-58.
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für ihren Unterhalt nicht sorgen konnten; sie wurden von der Gemeinde bei Bauern in Pflege gegeben, und zwar demjenigen, der das geringste Entgelt dafür verlangte. Als kostenlose Arbeitskraft waren sie den Bauern zur maximalen Ausbeutung und Ausnützung überlassen. Die Jugendgeschichte des Jeremias - ich nenne im folgenden den Helden nur bei seinem Vornamen, um ihn vom Dichter Gotthelf (Bitzius) zu unterscheiden - ist ein fiktives autobiographisches Exempel über eine konkrete Art von Kinderelend im 19. Jahrhundert. Man könnte für diese Art Sozialroman auf Vorläufer in der Aufklärung verweisen, zum Beispiel auf Christian Gotthilf Salzmanns sechsbändigen Briefroman Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend (1783-1788). Die soziale Anklage ist dort nicht minder scharf als bei Gotthelf, aber die Form des Briefwechsels zwischen einigen Adligen und Bürgern zerfasert die großangelegte Schilderung in Einzelbilder. Salzmann fügt dem letzten Band ein Register an, damit der geneigte Leser nachschlagen kann, wo über welches Elend gehandelt wird. Salzmanns mangelndes erzählerisches Talent liegt offen zutage, und Georg Forster, einer der brillantesten Stilisten seiner Zeit, nennt ihn einen „Schmierer", obwohl er der Tendenz zustimmt.38 Gotthelfs Rückgriff auf die Form der Autobiographie dagegen erlaubt ihm ganz zwanglos, nicht nur das Verdingkinderwesen, sondern auch die Verderbtheit der Gesellschaft und aller gesellschaftlichen Autoritäten von der Familie über die Gemeinde bis hin zum Staat vorzuführen. So herrschen auf dem Hof des Großvaters, wo Jeremias zunächst aufwächst, Dummheit und Aberglauben; Großeltern und Eltern werden grausam entlarvt. Des Großvaters Erziehungsmaxime ist der Glaube an Reichtum und Besitz, und wenn eines der „Kinder nur notdürftig lesen und beten konnte, so glaubten sie es überflüssig geschickt."39 Dabei ist der Großvater von ungeheuerer Herzlosigkeit und unnatürlicher Härte: Er verkauft den Hof um den halben Preis an den jüngsten Sohn Sami - eine damals häufige Praxis - und mißbraucht seine übrigen Kinder als billige Arbeitskräfte. Als das ruchbar wird, wird der Konflikt nicht .zivilisiert' ausgetragen, es folgt keine Diskussion der Beteiligten, sondern eine wüste Schlägerei der Familie, wobei sich besonders Jeremias' Vater hervortut: „Mein Vater hatte bereits den Sami in eine Ecke geschleudert, wollte Vreni [dessen Frau] beim Göller nehmen, die warf ihm eine Kachle Milch ins Gesicht, daß er schnopsen mußte."40 Der Vater, der bisher mit seiner Frau auch am Hof des Großvaters gelebt hat, verläßt zornig das väterliche Gut, übernimmt ein Lehen und wird dabei vom Besitzer und den Gemeindeobersten ebenso betrogen wie später seine Frau nach seinem 38
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Brief Nr. 222 an Friedrich Heinrich Jacobi vom l. November 1790 - Forster: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 15, S. 364. SW l, S. 8. SW l, S. 33.
Der „Bauern-Spiegel" - Bildungsroman, Schweizer An
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Tod, der das Elend des Jeremias besiegelt. Hatten schon die Eltern in ihrer Armut und Not völlig bei der Erziehung versagt, so erwartet Jeremias als Verdingkind die erste Erniedrigung. Symbol dafür ist der Verlust des Namens: Er heißt jetzt überall nur der Bueb.41 So ist die Kindheit des Jeremias auch eine Zeit der seelischen Qual; mit durchdringender Schärfe werden die Stufen seiner inneren Verhärtung, Verbitterung und Verschlossenheit dargestellt und in einem Bild zusammengefaßt: „Mit eisiger Hand, frostig durch und durch, wühlen die meisten Menschen in den Kinderherzen, und unter ihren Händen erstarrt der schöne Frühling [...]·"42 Schon eine solche Kindheit, dieser Weg nach unten von Anfang an, der sich nun unaufhaltsam fortsetzt, unterscheidet den BauernSpiegel vom ,Bildungsroman' der Klassik und Romantik. Gerade für den Wilhelm Meister hat man zu Recht festgestellt, daß „der Glücksweg Wilhelms", seine „Erwählung und Auszeichnung" mit seiner Kindheit zusammenhängen.43 Die letztlich harmonischen Bildungsumwege Wilhelms gründen in der Sicherheit des wohlhabenden Vaters; nur in solchen Verhältnissen kann der Wunsch reifen, sich vom kaufmännischen Vater zu emanzipieren und „mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden"44. Jeremias aber, der, seinem Namen entsprechend, „mit ungewöhnlichem Klaggeschrei" das Licht der Welt erblickt haben soll, hat einen Vater, der von allen Kindern des Großvaters „das vernachlässigste" war: „roh, aber nicht ohne Gefühl; er sprach nicht viel; nur im Zorn, der aber selten ausbrach, konnte er nicht schweigen, sondern tobte fürchterlich. [...] Übrigens war er nicht gewohnt, viel zu denken, auch nicht an die Zukunft; er ließ die Dinge gehen, wie sie mochten, und nahm sie, wie sie kamen."45 Die Katastrophe des Lebensund Bildungsweges des Jeremias ist auch Ergebnis seiner Kindheit. In die soziale Tendenzerzählung mischt sich von Anfang an auch die kritische Abrechnung mit den Bildungsinstanzen von Elternhaus, Pfarrer und Schule. Darin ist die Jugendgeschichte des Jeremias durchaus Vorbild für die Jugendgeschichte von Gottfried Kellers Grünem Heinrich, den Hermann Hettner ja zu Recht eine „Bildungstragödie"46 genannt hat. Auch Heinrich Lee verliert wie Jeremias seinen Vater früh, doch kann Heinrich immerhin noch das verklärte Bild des politisch und religiös engagierten Vaters erinnern.47 Dem Jeremias bleibt nicht einmal der Name: In ein „Lob 41 42
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SW l, S. 71. SW l, S. 72. Röder: Glück und glückliches Ende, S. 161. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre 5. Buch, 3. Kap. - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 9, S. 657. Vgl. dazu auch Irmschen Beobachtungen zum Problem der Selbstbestimmung. SW l, S. 8-9. Brief Hettners vom 11. Juni 1855 an Keller - Keller: Gesammelte Briefe, Bd. l, S. 413. Vgl. dazu Kaiser: Keller, S. 118-153: „Väter: Die Zurücknahme des Entwicklungsromans"
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des Herkommens", wie Keller das erste Kapitel der zweiten Fassung des Grünen Heinrich überschrieb, kann Jeremias nicht einstimmen. Doch versagen bei Gotthelf die Familie und die Bildungsinstitutionen derart, daß im Bauern-Spiegel zunächst erst gar nicht die Hegeische Spannung zwischen der Prosa der Wirklichkeit und der Poesie des Herzens sich bilden kann. Der Leser wird nicht Zeuge eines sich stufenweise entfaltenden menschlichen Potentials, sondern seiner allmählichen Erstickung. Die Qualen der Kindheit aber können dem Jeremias im Grunde nichts anhaben, er bleibt in allen Situationen der zwar verbitterte, aber unschuldige und einfältige Tor, was der Erzähler immer wieder betont. Die Entlarvung der Welt wirkt dadurch umso stärker, und man muß schon zu Grimmelshausens Simplicissimus zurückgehen, um einen ähnlichen Kunstgriff zur Darstellung der völlig verderbten Welt aus der Perspektive des Kindes zu finden. Neben der Unfähigkeit der Familie und der verschiedenen „Pflegeeltern " des Verdingbuben werden Schulmeister und Pfarrer als Vertreter von Staat und Kirche in einer Weise gebrandmarkt und bloßgestellt, die eine direkte Fortsetzung von Gotthelfs Kampf für eine Reform dieser Institutionen ist. Die Zeit über, die Jeremias in der Schule verbringt, ist er „geistig tot, körperlich gefesselt"48. Der Schulmeister im Heimatdorf kann nicht einmal schreiben, ein anderer ist zwar Gemeindeschreiber, der Unterricht aber wird meist von einem Dreizehnjährigen abgehalten. Die Bauern sind damit zufrieden, benutzen die Schule als Druckmittel gegen die Kinder, und wenn von Verbesserungen der Schule die Rede ist, antworten sie nur: „Je gelehrter, desto verkehrter"49. Der Pfarrer, der im Sommer die Unterweisung der Kinder übernimmt, ist dumm und stolz auf seine angebliche Autorität, aber man hat ihn zum besten und flucht auf den „Predikantesack"50. Solches Versagen der Schule hat Keller, autobiographisch grundiert, im Schulverweis seines Grünen Heinrich wieder aufgenommen. Endgültig entlarvt werden Pfarrer und Schulmeister gegen Ende der Jugendgeschichte. Die Gemeinde hat von Jeremias bereits die Verdingkosten zurückgefordert, der Bauer ihn um seinen Lohn von fünf Jahren betrogen. Als schließlich sein Mädchen im Kindbett stirbt, zeigt sich die Brutalität der Umwelt noch einmal, ähnlich wie früher beim Tode von Jeremias' Vater: Der Arzt verlangt am Sterbebett des Mädchens sofort seinen Lohn, und die Grausamkeit der Vertreter der Bildungsmächte drängt Gotthelf in zwei kurze Sätze: „Der Schulmeister meinte, es sei nur ein unehlich Kind weniger. Der Pfarrer las mir ein Kapitel über die zeitlichen Strafen der Sünde."51 Erst jetzt stellt sich Jeremias bewußt gegen die Gesellschaft, die ihn bisher 48
SW l, S. 82.
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SW l, S. 123. SW l, S. 151. SW l, S. 210.
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als Ausgestoßenen behandelt hatte. Er schmiedet Rachepläne, gerät wegen einer Bagatelle ins Gefängnis, entflieht und läßt sich für eines der Schweizerregimenter des Königs von Frankreich anwerben. Der Bruch zwischen Jeremias und der heimatlichen Gemeinschaft ist vollkommen, und bis hierher zeigt der Bauern-Spiegel die Umkehrung des üblichen Bildungsweges, ist er ein .Bildungsroman' jn absteigender Linie. Doch gerade die ätzende Kritik Gotthelfs an den Bildungsinstitutionen sowie sein eigenes Bemühen um deren Verbesserung in der Wirklichkeit verweisen auf das, was man einmal seinen „universalen Bildungsoptimismus"52 genannt hat. Doch erst im zweiten Teil des Romans wird der Zweck der Volkserziehung und der Bildung des Helden erreicht, erst dort zeichnet sich ein positiver Sinnhorizont ab.
4. Der Kanton Bern solle kein Lebkuchen mehr sein Goethes Wilhelm Meister wurde, weit entfernt davon, nur als automes Kunstwerk gelesen zu werden, auch „als Handlungsanleitung und Verstehenshilfe bürgerlicher Existenz aufgefaßt". Goethes Roman wie das bürgerliche Bildungskonzept des späten 18. Jahrhunderts lassen sich so auch als „Antwort auf die durch die Französische Revolution evident gewordnen Krisenerfahrung der beginnenden Moderne" verstehen.53 Wilhelms Bildungsvorstellungen sind, wie seine Antwort auf Werners Brief im dritten Kapitel des fünften Buches zeigt, einerseits erst denkbar „in der geschichtlichen Situation des Übergangs zu einer offenen Gesellschaft"54, andererseits hat er als Nichtadeliger „keinen Zugang zur repräsentativen Öffentlichkeit"55. In einer Staatenwelt und einer gesellschaftlichen Verfassung wie der deutschen nach 1789 war für Goethe naturgemäß keine jakobinische, sondern letztlich nur eine konservative Utopie wie die der Turmgesellschaft möglich, die „eine spätabsolutistische Alternative der Einordnung des (geläuterten) Bürgertums in eine (reformierte) vom Adel bestimmte Verfassungs- und Gesellschaftswirklichkeit" darstellt.56 Allerdings ist die Utopie der Turmgesellschaft politisch so wenig konkret, sind Lotharios Ideale so sehr punktuell und nur sozialreformerisch, daß die prinzipielle Überholbarkeit dieses Modells außer Frage steht. Das hat bereits Dilthey scharf er52 53
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Spengeler: Jeremias Gotthelf, S. 39. Voßkamp: Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution, S. 342. Vgl. auch Lichtenstein: Bildung. - In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. l, Sp. 921-937. Ebenda Sp. 921. Stellenkommentar zu Goethes Wilhelm Meister - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 9, S. 1436; siehe auch die dort angegebene Forschungsliteratur. Voßkamp, Jaumann: Struktur und Gehalt - ebenda S. 1376.
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kannt, nur ist bisher eher am Rande darauf aufmerksam gemacht worden.57 Von der Tendenz, angeblich autonome Literatur auch zu enthistorisieren, ist bei Diltheys Diskussion des Bildungsromans wenig zu spüren: „So sprechen diese Bildungsromane den Individualismus einer Kultur aus, die auf die Interessensphäre des Privatlebens eingeschränkt ist. Das Machtwirken des Staates in Beamtentum und Militärwesen stand in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten dem jungen Geschlecht der Schriftsteller als eine fremde Gewalt gegenüber."58 Das gilt natürlich nicht für den Geheimen Rat und Minister Goethe persönlich, wohl aber für seinen Wilhelm Meister. Sind Bildungskonzept und das Tätigkeits-Postulat der Turmgesellschaft im Wilhelm Meister auch als Reaktion auf die Französische Revolution zu lesen, so steht im Bauern-Spiegel der Bildungs- und Reifungsprozeß des Jeremias im Anschluß an die Jugendjahre ganz im Zeichen der Julirevolution von 1830, ganz ähnlich wie die entscheidenden beiden Schlußkapitel von Kellers Grünem Heinrich ganz konkret Ende Juni, Anfang Juli 1844, zur Zeit des großen eidgenössischen Schützenfestes und der Basler Vierhundertjahrfeier der Schlacht bei St. Jakob an der Birs, spielen und damit in Reden und Reflexionen ebenso konkret eidgenössische demokratische Tätigkeit thematisieren.59 Der entscheidende Unterschied zu Goethe jedoch ist: Der schrieb gegen die politischen Ideen der Französischen Revolution, die beiden Schweizer aber schrieben ihre Romane, nachdem sie zwischen 1830 und 1847 den Sieg .ihrer' Revolutionen erlebt hatten. Zwei symbolische Gestalten - auch damit greift Gotthelf auf Figuren der Bildungsroman-Tradition zurück60 - weisen Jeremias in den neuen politischen Verhältnissen den Weg: in der Fremde der Hauptmann Bonjour, in der Heimat ein namenloser Eichmeister (Fecker). Der Hauptmann Bonjour, einer jener Schweizersoldaten, die Napoleons Rückzug über die Beresina gedeckt haben, wird für Jeremias zum Lehrer, nicht nur im Waffenhandwerk, sondern auch im Schreiben, Rechnen, ja sogar in die Mathematik, Geographie und Geschichte führt er ihn ein. Er macht ihn aber nicht nur zu einem rechten Menschen, sondern auch zu einem wahren Christen, wozu Bonjour ebenfalls nicht durch die traditionellen Institutionen von Staat und Kirche geworden ist, sondern wiederum durch seinen früheren Hauptmann. Die Kritik, die der Pfarrer Gotthelf damit übt, sprengt den Rahmen einer christlichen Besserungsgeschichte, als die Sengle den Roman verstanden wissen will,61 und verleiht dem Bauern-Spiegel auch hierin Züge des modernen Bildungsromans, der ja auch dadurch gekennzeichnet ist, daß reli-
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Z. B. von Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman, S. 2 und Laufhütte: „Entwicklungs- und Bildungsroman", S. 301-305. Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, S. 272. Vgl. dazu auch Holl: Gotthelf im Zeitgeflecht, S.45-49. Vgl. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 272-273. Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 925.
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giöse und soziale Bindungen traditioneller Art fragwürdig geworden sind. Für Bonjour ist .Bildung' „des Mannes Pflicht, sich tauglich zu machen zu allem Nützlichen, damit, wenn er nichts werde, nie er selbst, sondern unser nur Herrgott schuld daran sei."62 Der Hauptmann Bonjour aber gibt dem ziellosen Jeremias neben dem himmlischen auch einen „irdischen Gott"63: Napoleon, an dessen Rückkehr der Hauptmann hartnäckig glaubt.64 Der Traum von Napoleon, den Jeremias übernimmt, erweist sich als typischer Irrtum des Bildungsroman-Helden. Gotthelf stellt die Entlarvung dieses Irrtums in einen ganz konkreten historischen Zusammenhang: Bonjour und Jeremias kämpfen in Paris als Schweizer während der Juli-Revolution von 1830 für den König gegen das aufständische Volk. Doch ahnen sie, daß sie auf der falschen Seite stehen; denn das Volk scheint ihnen von einem Geiste belebt: Anderthalb Tage wogte der Kampf auf und ab, Generale sahen wir durch unsere dünner werdenden Reihen eilen, sahen den alten Marmont, der der Kopf des Ganzen sein sollte und den eigenen verloren hatte, sahen, daß wenige wußten, was sie sagten, noch weniger, was vorzukehren sei. Auf der anderen Seite sah man keine Generale, kein besterntes Oberhaupt; Knaben, unbärtige Jugend, warfen sich an die Spitze der einzelnen Volkssäulen vor, und doch schien alles von einem Geiste geleitet zu sein, ein Geist die wilde Masse zu vereinigen, zu beleben, zu lenken.65
Bonjour glaubt noch, es sei der Geist Napoleons, der die Massen beseele. Der rückschauende Jeremias aber weiß, daß es nicht dieser irdische Gott Bonjours war, sondern der „Volksgeist"66. In ihm kündigt sich das neue Lebensziel des Jeremias an. Denn der Traum von Napoleons Wiederkehr wird nicht diskreditiert, sondern zum Vorbild für utopisches Denken erhoben: „Die Träume blieben Träume, aber doch haben sie mich zu einem Manne gemacht, der seinem Schöpfer keine Schande macht. Darum träumet nur, liebe Leute, aber ob dem Träumen verträumt das Leben nicht, sondern ob dem Träumen lernet ringen nach einem hohen, schönen Ziele, nach der Vervollkommnung eurer selbst!"67 Was drücken diese Worte anderes aus als eine Bildungsidee vor dem Hintergrund der Spannung zwischen Utopie und Poesie (Traum) einerseits und Leben andererseits? Die Bildung in der Fremde durch einen Außenseiter trägt - analog der Goetheschen Turmgesellschaft - viel stärker symbolische Züge als die Jugendgeschichte; das Gleichnishafte, das bewußt konstruierte Gegenbild zur verderbten Heimat tritt in den Vordergrund. Jeremias aber ist für Gotthelf 62
SW l, S. 236.
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SW l, S. 246. SW l, S. 242-244. SW l, S. 250. SW l, S. 250. SW l, S. 244.
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bei seiner Heimkehr trotz der christlichen Läuterung in der Fremde, trotz der gewonnenen Bildung und des dadurch erworbenen Gefühls des eigenen Wertes noch nicht am Ziel seines Bildungsweges. Individuum und Gesellschaft lassen sich bei ihm nicht durch einen einseitigen Bildungsprozeß versöhnen. Denn Bildung ist für den Schweizer Gotthelf nicht dasselbe wie für das deutsche Bürgertum. Martin Swales hat den Bildungsbegriff des 19. Jahrhunderts einen Grundbegriff der „unpolitischen bürgerlichen Ideologie" genannt68. Jeremias aber muß erst den neuen nachrevolutionären Schweizerischen Staat und das Volk kennenlernen, um seinen Bildungsweg zu vollenden. Dem widerspricht gerade das Bewußtsein des Jeremias, jetzt „über den meisten in meiner Gemeinde zu stehen und mehr zu wissen als alle Schullehrer"69: Die Gefahr des Bildungshochmutes kündigt sich darin an. Und so muß ein zweiter Läuterungsprozeß durch eine letzte Demütigung einsetzen. Der Heimgekehrte steht auf der untersten Stufe der Gesellschaft; als ehemaliges Verdingkind und verhaßter Aristokratensöldner bleibt er im Heimatdorf der Ausgestoßene. Seelisch und körperlich gebrochen gelangt der Todkranke ins verkommene Dorfspital, wo sich noch einmal die ganze Verderbtheit der Heimat offenbart. Nach seiner Genesung bewirbt er sich in absteigender Linie vergeblich um die Posten des Schulmeisters, des Straßeninspektors und des Polizeidieners; für alle Ämter bringt er bessere Voraussetzungen mit als andere. Bei Jeremias will sich nun erneut die Bitterkeit des Ausgeschlossenen breitmachen: „Also nichts, gar nichts wollte man von mir; für nichts fand man mich gut, wie einen Taugenichts verwarf man mich allenthalben."70 Aus dieser letzten Erniedrigung und diesem letzten Wahn reißt ihn der zweite väterliche Freund, jener Eichmeister (Fecker), der wie es heißt, „gar e Gwundrige und e Politische sei und vier Zytige lese.71" Namenlosigkeit und Beruf dieser Figur sind ebensowenig zufällig wie Name und Gestalt des miles christianus Bonjour. Die Namenlosigkeit verweist auf den Symbolcharakter der Gestalt, deutet darauf, daß sein Amt, die Überwachung von Maß und Gewicht, auch sein Verhalten den Menschen gegenüber kennzeichnet: Er hält in allen Fragen politischer, sozialer und religiöser Natur das rechte überparteiische Maß. Der Eichmeister beginnt mit der politischen Bildung des Jeremias, und gleichzeitig tritt die auf den Leser gerichtete Volkserziehung in eine neue Phase. Die Gespräche des Eichmeisters mit Jeremias klären diesen und den Leser in deutlichen und prägnanten Gleichnissen über den nachrevolutionären Staat auf, nehmen Partei für ihn und die neuen Verfassungen von 1830/31, die für elf Kantone Volkssouveränität und repräsentative Demo68 69 70 71
Swales: Unverwirklichte Totalität, S. 103. SW l, S. 254. SW l, S. 289. SW l, S. 265.
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kratie garantierten. In einer breiten Gleichnisrede erläutert der Fecker dem Jeremias die Unterschiede zwischen Aristokratie und Demokratie: Ehedem war allerdings der Kanton Bern gerade wie ein Lebkuchen, um den apartige Leute saßen und daran gnagten und sich erlabten. [...] Das geschah nun nicht hinter einem Umhang, sondern der Schmaus wurde aufgeführt vor allem Volk am hellen Tage. [...] Es gab aber immer Leute, die dieses ärgerte, und die brachten es endlich dahin, daß erkannt wurde, der Kanton Bern solle kein Lebkuchen mehr sein.72
Damit wird nicht etwa die Sozialkritik im ersten vorrevolutionären Teil des Bauern-Spiegels relativiert, sondern es wird festgestellt, daß auch unter der neuen Verfassung gilt: „Also immer noch Vorurteile gegen ganze Klassen von Menschen, noch immer kein humanes Benehmen, sondern ein brutales, und dieses neben der größten Lässigkeit in der Handhabung der Gesetze."73 Oder im Lebkuchengleichnis: „So ist in diesem Augenblick ein wüstes Stoßen und Drängen um Brocken, Stühle und den eingebildeten Lebkuchen, der gar nicht mehr da ist."74 Jeremias beginnt zu erkennen, daß er in seinem erneuten Unmut einzelne Personen mit der Verfassung verwechselt hat. Den .ämtlihungrigen' Jeremias aber belehrt der Eichmeister: Das ist aber wieder ein Wahn [...], daß man meint, einen Posten haben zu müssen, um dem Vaterlande nützlich zu sein, als ob das nicht jeder Bürger könnte und sollte und gerade die nicht angestellten am besten. Dieser Wahn kömmt von jener Zeit her, wo es allerdings eine An von Verbrechen war, das bald öffentlich, bald geheim gerichtet wurde, wenn einer ohne äußerlich bestimmten Beruf um das Vaterland sich bekümmerte.75
Nicht als Entsagung, als Verzicht auf individuelle Selbstverwirklichung wird in der Demokratie der Dienst an der Gemeinschaft gesehen, sondern als eigentliches Ziel jedes einzelnen. Die Aufgabe, die der Eichmeister Jeremias und damit stellvertretend denen, wie es wörtlich heißt, „welche sich mehr Bildung erworben"76 haben, stellt, ist die Volkserziehung, um das Volk für den neuen Staat, wenn man so sagen will, reif zu machen. Traditionelle Institutionen wie Schule und Kirche kommen dafür nicht in Frage, das hat nicht nur der negative Bildungsweg zur Genüge gezeigt, sondern auch in der nachrevolutionären Zeit erweisen sich Schule und Kirche als ungeeignet: Die Kirche hatte bisher als Dienerin der alten Ordnung nur für den Gehorsam der Untertanen gesorgt, die Schule befindet sich in einer Phase wilden Reformeifers und Theoretisierens. Der Eichmeister macht dem Jeremias deshalb einen Vor-
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S. 277-278. S. 283. S. 279. S. 290. S. 292.
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schlag, den man in der Forschung meist als Schwäche des Erstlingswerkes belächelt hat und den Jeremias selbst als „echt romantisch"77 bezeichnet. Romantisch: das heißt ohne Zweifel „die Wirklichkeit überflügelnd"78, und so greift der Schluß des Romans die Zeitutopie des klassischen Bildungsromans79 auf Schweizer Art auf. Der Rat des Eichmeisters aber lautet so: „Gotthelf, suchet Euch ein Wirtshaus aus, das ziemlich besucht ist von einheimischer Gastig, die Wirtsleute eine Truppe Kinder haben, was nicht schwer zu finden ist; da zieht Euch zu, das ist der schönste Posten, den ich für Euch weiß."80 Das Wirtshaus wäre der rechte Ort, Weisheit zu predigen und die Menschen vernünftig zu machen, dort könne man ohne steife Pedanterie mit „manchem Witzwort Nützliches [...] reden, die Geschichte der Zeit [...] erleuchten, die Tagesfragen" erläutern und die Gesetze erklären, „oder, wenn nichts Neues vorläge, erzählen [...] von ändern Völkern, ändern Zeiten."81 Dieser utopische Vorschlag hat eine durchaus realhistorische Grundlage und ordnet sich der symbolischen Tendenz der realistischen Darstellung ein. Gotthelf selbst stellt einmal das Wirtshaus als „Anker der Welt" der Kirche als „Wegweiser aus der Welt" gegenüber,82 und es ist ja tatsächlich „für die Dorfgemeinschaft wie für die Hofbauern von grosser sozialpsychologischer Bedeutung"83. Denn das Wirtshaus war eine wichtige Stätte, wo sich die Männer des Dorfes außerhalb der Familie trafen, wo Öffentlichkeit statthatte. Die besondere Situation der Wirtshäuser im Kanton Bern mit der Garantie der Gewerbefreiheit durch die Verfassung von 1831 und dem neuen Wirtshausgesetz von 1836 brachte eine sprunghafte Vermehrung der Wirtshäuser, zwischen 1833 und 1834 um 425 auf 1375.84 Später in seiner großen leidenschaftlichen Abrechnung mit dem Fortschritt nach dem schweizerischen Bürgerkrieg und der neuen Bundesverfassung von 1848, in Zeitgeist und Berner Geist (1852), bekämpft Gotthelf die Wirtshäuser als „Missionshäuser oder Stationen des Radikalismus"85. Doch hat er bereits 77
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SW l, S. 297. Muschg: Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 59. Vgl. auch Voßkamp: Utopian Thinking and the Concept of Bildung. SW l, S. 290-291. SW l, S. 293. SW 7, S. 128. Riedhauser: Essen und Trinken bei Jeremias Gotthelf, S. 348; der Abschnitt „Wirtshäuser, Wine, Wirtinnen und Gäste" ist die bislang umfassendste Diskussion dieses Komplexes bei Gotthelf. Riedhauser kann sich dabei auf die Vorarbeiten von Eduard Bähler im Anhang zum Gekstag - SW 8, S. 377-378,386,387 - und von Fritz Huber-Renfer im Anhang zu den Politischen Schriften - EB 13, S. 392-395 - stützen; die Angaben dort nach Baur: Die geschichtliche Entwicklung des konzessionierten und patentierten Gastwirtschaftsgewerbes und der Wirtschaftsgesetzgebung im Kanton Bern. Baur: Die geschichtliche Entwicklung, S. 73. Gotthelf: Zeitgeist und Berner Geist - SW 13, S. 188.
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1845 eine ländliche Gastwirtschaft in den Mittelpunkt eines Romans gestellt: In Der Geltstag, „zwischen den zwei Freischarenzügen geschrieben, als eben dieser Wirtshauslärm am größten war", wird das Wirtshaus zur „Gnepfi" zum „Sinnbild eines politischen und geistigen Zustandes"86, und Gotthelf faßt die politische Funktion „dieser Kloaken" zusammen: Dies Buch zeichnet die traurigste Seite unseres Volkslebens, das Wirtshausleben, hauptsächlich der Winsleute, teilweise auch das der Gäste... In solchen Nestern und von solchen Leuten wird die Aufregung in unserem Vaterlande erzeugt und aufrechterhalten. Hier entstehen die politischen Ansichten und Richtungen, und zwar durch brotlose Agenten, verhudelte Krämer und aller Grundsätze bare Handlungsreisende. Die Zeitungsmacht ist bereits veraltet.87
Die Utopie des Gasthauses als „Pflanzstätte der Volksaufklärung"88 im Bauern-Spiegel steht, trotz mancher positiv geschilderter Wirtshäuser in anderen Romanen, im Werk Gotthelfs einzig da. Die neue Aufgabe des Jeremias ist also ebenso zeittypisch und utopisch wie die Konzeption der Turmgesellschaft oder der „Pädagogischen Provinz" im Wilhelm Meister, weist aber in ihrem Kern als Volkserziehung von unten auf eine generelle Möglichkeit politischen und gesellschaftlichen Wirkens in der Demokratie. Denn hinter dem Vorschlag des Eichmeisters steht die berechtigte Sorge, daß die Gebildeten sich dem Volke entfremden - im Deutschland des 19. Jahrhunderts hat die unrealistische Rigorosität des Humboldtschen idealistischen Ansatzes und der Bildungshochmut des Bürgertums, für das Bildung an Besitz gebunden war, diese Entfremdung immer tiefer werden lassen.89 Weil in den Worten des Feckers, der hier wie immer das Sprachrohr Gotthelfs ist, der volkserzieherische Grundgedanke des Bauern-Spiegels und ein Grundproblem des 19. Jahrhunderts klar ausgesprochen werden, sollen sie hier ausführlich zitiert werden: Mit Schrecken sehe ich auch mehr und mehr im Volke selbst eine Kluft entstehen. Aus dem Volke erheben sich Beamtete, Gewerbsleute etc., es ist der erwecktere Teil des 86 87 88 89
Muschg: Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 123. Brief Nr. 145 an Maurer von Constant, Ende 1845? - EB 6, S. 225. Muschg: Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 122. Zwar konnte im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der .Bildung'", „der 3esitz' von Bildung [...] fehlendes Vermögen ersetzen" (Berg, Hermann: Industriegesellschaft und Kulturkrise, S. 15), doch gehörten im bürgerlichen Selbstverständnis Bildung und Besitz zusammen. Für die erste Jahrhunderthälfte vgl. z. B. Friedrich Theodor Vischer: Herwegh - Vischer: Kritische Gänge, S. 95: „Wahre Dichtung ist nur, wo Besitz ist, der zwar, wie alles Menschliche, der Sehnsucht noch unendlichen Raum läßt, aber doch Besitz und Genüge der Seele." Für die zweite Jahrhunderthälfte z. B. Adolf Damaschke: „Wahrlich, aus Eigennutz brauchte die 3Üdung' sich keine Gedanken zu machen, ob die .Masse' zufrieden wäre oder nicht, solange der Besitz solche Sicherheit genoß. Denn Besitz und Bildung hingen ja aufs engste zusammen." Damaschke: Aus meinem Leben. Bd. 2. Zürich, Leipzig 1925 - zit. nach: Ritter und Kocka (Hrsg.:) Deutsche Sozialgeschichte. Dokumente und Skizzen, S. 390.
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Walter Pape Volkes, und diese fangen an, die Gaststube zu verlassen, ziehen sich in Leisten, Lesezirkeln, und wie die Dinger alle heißen, zusammen und trennen sich von der Masse; in der Gaststube bleiben die Ungebildetem, wo keiner dem ändern etwas Ordentliches bieten kann. Man sieht das nicht für wichtig an und hält es für ganz natürlich, daß solche gebildete Leute sich nicht mehr allen Unannehmlichkeiten einer Gaststube preisgeben und ihr Rams lieber unter sich abmachen. Aber man irrt sich; so, wie in der Gaststube, so macht man sich im Leben, in der Kleidung etc., kurz in allem allmählich vom Volke los, reißt sogar schon die Kinder vom Volke weg und führt sie besondere Wege. So bildet sich eine neue Klasse, und wer will mir wehren, wenn ich diese Klasse auch eine Aristokratie nenne? Die neue Klasse verliert durch diese Absonderung um so eher das Zutrauen des Volkes, je näher sie ihm früher gestanden. Das Volk aber entbehrt ihres Umgangs, wird nicht durch dieselbe gehoben und veredelt, wird ab- und zurückgestoßen, verwildert unter sich und wird die Beute jedes Schreiers, der es zu irgendeinem bösen Zwecke erregen will. [...] Es wird das Volk Volk bleiben, roh, ungebildet, eine Wetterfahne, sobald es alle die verlassen, welche sich mehr Bildung erworben und als der Sauerteig des Volkes mitten unter ihm bleiben sollten. Sie werden sehen, daß das Volk bald gegen sie eine Opposition bildet. Das beim Volke Bleiben hat freilich seine Unannehmlichkeiten.90
Jeremias findet schließlich ein Wirtshaus in einem entfernten Dorfe, wo er volkserzieherisch wirken kann, und damit seinen Platz in der Gemeinschaft, freilich als Fremder und in dienender Stellung. Die restlichen sieben Kapitel des Romans sind Exempel praktischer Volkserziehung, lösen sich auf in Gespräche über politische Tagesfragen vom Straßengesetz bis zum neuen Wirtshausgesetz, in Gespräche über Fragen der weltlichen und christlichen Bildung, vom Sektenwesen bis zu Schulfragen. Da diese Volkserziehung nun beliebig fortsetzbar ist, bricht der Dichter einfach ab: Jeremias erkrankt und erfährt gleichzeitig, daß er nun doch ein Amt bekommen, daß er zum Gemeindeschreiber gewählt werden soll. Mit dieser Andeutung läßt es Gotthelf bewenden, und der Schluß des Romans bleibt in der Schwebe.
5. Auf der Brust ein Heer von Suppen- und Milchtropfen Gottfried Kellers Grünem Heinrich fehlt diese positive Utopie, obwohl sonst im Verständnis von demokratischer Bildung und Mitwirkung in der Demokratie manche Gemeinsamkeit zu finden ist. Die Ursache für den fehlenden positiven (utopischen) Schluß liegt zweifellos in der Schuld des Helden;91 während Jeremias unschuldig an seiner anfänglichen Bildungsmisere ist, benennt Keller klar im letzten Kapitel (das er selbst als „nicht 90 91
SW l, S. 292-293. In deutscher Tradition stehend, sprechen auch neuere Untersuchungen vom „problematischen Schluß" der ersten Fassung, dem „Zuviel an persönlicher Schuld" und den „gesellschaftlichen Verhältnissen", die es Heinrich nicht erlaubten, die „Synthese von Ich und Welt" zu realisieren 0acobs, Krause: Der deutsche [!] Bildungsroman, S. 189 und 191). Mangelndes Verantwortungsbewußtsein durch die Verhältnisse zu entschuldigen ist immer schon Zeichen mangelnden demokratischen Bewußtseins gewesen.
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ausgeführt" bezeichnet92) die Zusammenhänge von Individuum, Künstlerschaft, Gesellschaft und Staat und wertet mit dem Tod des .Helden* dessen Irrweg. Nach der gescheiterten Utopie des Grafenschlosses kommt Heinrich auf dem Heimweg, wie bereits erwähnt, Ende Juni, Anfang Juli 1844, zur Zeit des großen eidgenössischen Schützenfestes und der Basler Vierhundertjahrfeier der Schlacht bei St. Jakob an der Birs ähnlich wie Jeremias mit der vaterländischen Politik in Berührung, und da wandelte ihn die feurige Lust an, sich als der einzelne Mann, als der widerspiegelnde Teil vom Ganzen zu diesem Kampfe zu gesellen und mitten in demselben die letzte Hand an sich zu legen und sich mit regen Kräften zurechtzuschmieden zum tüchtigen und lebendigen Einzelmann, der mitratet und mittatet und rüstig darauf aus ist, das edle Wild der Mehrheit erjagen zu helfen, von der er selbst ein Teil ist, und die ihm deswegen doch nicht teurer ist, als die Minderheit, die er besiegt, weil diese von gleichem Fleisch und Blut ist hinwieder mit der Mehrheit.93
Und seinen Preis der Mehrheit schließt Heinrich Lee: Glücklich aber, wer in seinem Lande ein Spiegel seines Volkes sein kann, der nichts widerspiegelt, als dies Volk, indessen dieses selbst nur ein kleiner heller Spiegel der weiten lebendigen Welt ist!94
Doch der Tod der Mutter, die vergeblich auf den „verschollenen Sohn"95 gewartet hat, macht das letzte und wahre Bildungsziel Heinrichs zunichte: So war nun der schöne Spiegel, welcher sein Volk widerspiegeln wollte, zerschlagen und der einzelne, welcher an der Mehrheit mitwachsen wollte, gebrochen. Denn da er die unmittelbare Lebensquelle, welche ihn mit seinem Volke verband, vernichtet, so hatte er kein Recht und keine Ehre, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte: Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Tür."
Vom Leitbild des Vaters über das patriotische Teufest, das Heinrich für seine Liebschaft mißbraucht, bis zum Schluß steht der verfehlten Erziehung, der phantastischen Subjektivität und der Erkenntnis, „daß seine Künstlerschaft nur ein Irrtum war"97, der Gedanke der individuellen Verantwortung in der familiären und staatlichen Gemeinschaft gegenüber, einer
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Brief Nr. 117 vom 25. Juni 1855 an Hermann Hettner - Keller: Gesammelte Briefe, Bd. l, S. 414. Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung, 4. Bd., 14. Kap. - Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 2, S. 888. Ebenda S. 889. Ebenda S. 892. Ebenda S. 893. Brief Nr. 107 vom 5. Januar 1854 an Hermann Hettner - Keller: Gesammelte Briefe, Bd. l, S. 382.
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Verantwortung, die umso schwerer wiegt, „da er den Gedanken der Unsterblichkeit aufgegeben" hat.98 Konnte Goethes schöne Seele noch emanzipatorisch bekennen, daß sie lieber ihr „Vaterland, Eltern und Freunde verlassen" und ihr „Brot in der Fremde verdienen", als gegen ihre Einsichten handeln wolle," so wäre das in der Schweizer Variante des Bildungsromans unmöglich: Für Heinrich Lee wie für Jeremias ist die Familie die Grundlage und der Dienst am Vaterland nicht Entsagung, sondern eigentliches Ziel des Bildungsweges. Gottfried Kellers „Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Tür" wandelt nur ein Gotthelf-Wort ab: „[...] und wer im Kleinen nicht getreu ist, wie sollte der getreu im Großen sein; und wer es mit dem eigenen Hause nicht gut meint, wie sollte der es gut meinen mit dem Vaterlande; [...]? Im Hause muß beginnen, was leuchten soll im Vaterlande; f...]."100 Und Gotthelf wiederum präzisiert in seinem politischen Manifest Eines Schweizers Wort an den schweizerischen Schützenverein, aus dem hier zitiert wurde, Pestalozzis schwärmerische Idee der Volksbildung in der Abendstunde eines Einsiedlers: „Daher bist du, Vaterhaus, Grundlage aller reinen Naturbildung der Menschheit. Vaterhaus, du Schule der Sitten und des Staats!"101 Aber auch ein weiterer fundamentaler Unterschied zwischen dem klassischromantischen Bildungsroman und dem Grünen Heinrich und eine ebenso fundamentale Gemeinsamkeit zwischen dem Wilhelm Meister und dem BauernSpiegel hinsichtlich Struktur und Charakter der Entwicklung des Helden werden in dieser Gegenüberstellung deutlich. Im Grünen Heinrich erwartet der Held „in einem unberechtigten Vertrauen auf einen Gott, an den man nur halb glaubt, von demselben genialer Weise die Lösung aller Wirren und ein vom Himmel fallendes Glück". Diese leitende Hand fehlt bei Keller, und so heißt es lapidar im Expose zum Grünem Heinrich: „Nach dieser Seite hin ist die Moral des Buches das Sprüchwort: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!"102 Gotthelfs Jeremias erhält zwar auch vom Hauptmann Bonjour den Rat: „sich tauglich zu machen zu allem Nützlichen, damit, wenn er nichts werde, nie er selbst, sondern nur unser Herrgott schuld daran sei."103 Doch ist diese Maxime grundiert durch den unerschütterlichen Glauben,
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Ebenda S. 383. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre 5. Buch, 3. Kapitel - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 9, S. 659. Gotthelf: Eines Schweizers Wort an den schweizerischen Schützenverein. Manifest der schweizerischen Scharfschützen-Eidsgenossenschaft (1842) - SW 15, S. 269-332, hier S. 301. Vgl. dazu auch Fehr: Jeremias Gotthelf, S. 135-138; „,Haus' bei Gotthelf". Pestalozzi: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 10. Kellers Expose des Romans, Brief Nr. 561 an Vieweg vom 3. Mai 1850 - Keller: Gesammelte Briefe, Bd. 3, 2, S. 14-18, hier S. 16-17. SW l, S. 236.
Der „Bauern-Spiegel" - Bildungsroman, Schweizer An
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daß Gott sich nicht von den Menschen abwendet.104 Bei Gotthelf verbindet sich ein „Selbstbewußtsein, das Gefühl des eigenen Wertes", das der .gebildete' Jeremias sich zuletzt erworben hat, mit dem „Vertrauen, von Gott nicht verlassen zu sein",105 verbinden sich in menschheitlicher Perspektive aufklärerischer Geschichtsoptimismus, den er vor allem bei Herder106 gelernt hatte, und christlicher Glaube zu einem Bildungskonzept, das den Einfluß der Klassik nicht verleugnen kann:107 Das Christentum unterscheidet sich von allen ändern Religionen besonders auch dadurch, daß es als einzig vernünftigen Gottesdienst Vervollkommnung anerkennt. Dieses Prinzip der Vervollkommnung ist es, was dem Christentum sein ewiges Leben gibt; durch Vervollkommnung seiner Individualität preiset das Menschenkind seinen Schöpfer allein seiner würdig, durch Vervollkommnung seiner Institutionen allein gibt die Menschheit ihrem Regenten das würdige Lob.10'
Der christliche Grundzug von Gotthelfs Bauern-Spiegel entspricht so der .Theodizee' des deutschen Bildungsromans. Denn über dem Gegensatz zwischen der Weltfrömmigkeit Goethes und Gotthelfs christlicher Restauration darf man die strukturellen und tendenziellen Gemeinsamkeiten nicht übersehen. Noch kurz vor der glücklichen Schlußauflösung zieht Wilhelm eine negative Bilanz: „Vergebens klagen wir Menschen uns selbst, vergebens das Schicksal an! Wir sind elend und zum Elend bestimmt, und ist es nicht völlig einerlei, ob eigene Schuld, höherer Einfluß oder Zufall, Tugend oder Laster, Weisheit oder Wahnsinn uns ins Verderben stürzen."109 Eckermann gegenüber hat Goethe die Folie des gesicherten Sinnes, vor der sich sein Wilhelm Meister bildet, so zu umschreiben versucht: „Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts Anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch, trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höhern Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange."110 Nicht nur Wilhelms Wille zur Ausbildung der eigenen Persönlichkeit, sondern auch Goethes „optimistischer Glaube an die gütige Leitung der menschlichen Existenz"111 liegt der Struktur des Romans zugrunde, die nach wie vor dem Leibnizschen Grundgedanken der Theodizee verpflichtet ist.112 So wurde für Leib 104 105
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SW l, S. 242. SW l, S. 258. Vgl. dazu z. B. Fehr: Jeremias Gotthelf (1954), S. 46-47 und Braungart: Aufklärungskritische Volksaufklänmg, S. 192 und die Hinweise dort in Anm. 28. Vgl. dazu ebenda S. 219. Gotthelf: Christliche Freiheit und Gleichheit in Vergangenheit und Gegenwart (1833) - EB 12, S. 197. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 8. Buch, 10. Kap. - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 9, S. 989-990. Goethe zu Eckermann, 18. Januar 1825 - Goethe: Gespräche. Gesamtausgabe, Bd. 3, S. 157. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 83. Vgl. ausführlich dazu Röder: Glück und glückliches Ende, S. 172-182: „Die erzählerische
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Walter Pape
niz der Romanschreiber zum Imitator Gottes: „Es ist ohnedem eine von der Roman-Macher besten Künsten, alles in Verwirrung fallen zu lassen, und dann unverhofft wieder herauß zu wickeln. Und niemand ahmet unsern Herrn beßer nach als ein Erfinder von einem schönen Roman."113 Und Lessing knüpft direkt an Aristoteles und Leibniz an, wenn er in der Hamburgischen Dramaturgie den Dichter auf den „ewigen unendlichen Zusammenhang aller Dinge" verweist, ihn ermahnt, danach mit seiner Dichtung „ein Ganzes [zu] machen, das sich völlig rundet, wo eines aus dem ändern sich völlig erkläret". Denn „das Ganze dieses sterblichen Schöpfers [des Dichters] sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein; sollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse [...]."1H Die Analogien zwischen Wilhelm Meister, dem Grünem Heinrich und dem Dauern-Spiegel dürfen freilich nicht überstrapaziert werden. Denn in einem unterscheidet sich der Pfarrer von Lützelflüh fundamental: Kunst und Literatur spielen im Bildungsprozeß seiner Helden keinerlei Rolle. Das liegt zum einen sicher an der sozialen Verschiedenheit der Romanhelden und des intendierten Publikums.115 Denn grundsätzlich sah Gotthelf keine prinzipiellen sozialen Unterschiede in der Bildung des Menschen und folgte hierin Pestalozzi: „Allgemeine Emporbildung dieser innern Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit ist allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedersten Menschen."116 Doch ist der bewußte Ausschluß der Kunst aus dem Bildungskonzept nicht Mißachtung „eines Zeloten oder eines frömmelnden Träumers"117, sondern ihm liegt ein tiefes Mißtrauen gegenüber der „konventionellen Verhimmelung [der Kunst] im bürgerlichen Bildungsbetrieb" zugrunde.118 Walter Muschg faßt Gotthelfs Philippika gegen die „Abgötterei mit den Künsten" in der Wassernot im Emmental11* zusammen und wertet sie im Kontext der Erfahrungen mit dem Bankrott des deutschen Bildungsbürgers im 19. Jahrhundert, aber auch im Dritten Reich: „Diese Vergötzung der Kunst um ihrer selbst willen hält er allerdings für eine Form des modernen Aberglaubens, und er ist überzeugt, daß sie den Ausbruch einer neuen Barbarei nicht verhindern werde, sondern im
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Theodizee und die Harmonie des Ganzen". Vgl. auch meinen Aufsatz: Happy Endings in a World of Misery. Leibniz: Briefwechsel mit dem Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, S. 233. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 79. Stück - Werke, Bd. 4, S. 598. Vgl. dazu auch den Abschnitt „Vom Nutzen der Bildung" in Holl: Gotthelf im Zeitgeflecht, S. 18-20. Pestalozzi: Abendstunde eines Einsiedlers - Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 7. SW 15, S. 158-159. Muschg: Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 48. SW 15, S. 157-159.
Der „Bauern-Spiegel" - Bildungsroman, Schweizer An
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Gegenteil ihr Vorspiel sei. Wer darf ihm heute darin widersprechen, nachdem sich herausgestellt hat, daß dem Kunstenthusiasmus des bürgerlichen Zeitalters tatsächlich keine rettende Kraft innewohnte [...]."12° Solche Kritik trifft jedoch nicht den Bildungsroman, denn bereits Wilhelm Meister und Grüner Heinrich zeigen ja beide, jeder auf seine Weise, die Grenzen der Kunst, jener der Kunst als Bildungsziel, dieser der Kunst auch als Bildungsmittel. Der jüngste Versuch, die Gattung zu bestimmen, stellt aber gerade die Frage des Lesens und der Literatur in den Mittelpunkt: Danach thematisieren gerade die klassisch-romantischen Bildungsromane „the rapid transformation of the German literary institution" und sind, eben weil Fiktion und Lektüre fiktionaler Texte extensiv zur Sprache kommen, Metafiktion und für die Postmoderne gerettet.121 Doch könnte der Verzicht auf einen Bildungsbegriff, bei dem die Kunst und nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, auch den Bauern-Spiegel zum von der Disziplin anerkannten Bildungsroman machen. Dem steht ,nur' die gängige Kommunikation über die Gattung entgegen; doch ist zu hoffen, daß die Disziplin auch den Bildungsroman Schweizer Art künftig stärker diskutiert; heißt es doch einmal im Bauern-Spiegel: Am Königshof gehe es akkurat gleich her, und es seien akkurat die gleichen Leute wie im Bauernwesen, „nur mit dem Unterschied, daß sie dort Sterne auf der Brust und Diamanten auf den seidenen Kleidern haben, hier aber auf der Brust ein Heer von Suppen- und Milchtropfen und an den Zwilchhosen Kühdreck."122
Muschg: Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 48. Kontje: Private Lives in the Public Sphere, S. 11. 122 SW l, S. 126. 121
Wolfgang Braungart
Hiobs Bruder: Zur ästhetischen Theodizee der „Uli"-Romane1 1. Als neuer Meisterknecht auf der Glungge hat Uli nicht nur mit einem mißtrauischen, kauzigen Meister Joggeli zu kämpfen und mit hinterhältigen und faulen Knechten, also nicht nur mit ethisch zweifelhaften Gestalten, sondern auch mit ihrer fehlenden Bereitschaft, sich auf notwendige Reformen in der Landwirtschaft einzulassen: mit gänzlich unaufgeklärten Menschen also. Äußere Ökonomie und innere Seelen- und Heilsökonomie gehören bei Gotthelf unauflösbar zusammen. Wer die Prinzipien des rechten Wirtschaftens nicht versteht wie der windige Baumwollhändler oder der Wirt Johannes, der wird von Gotthelf auch als moralisch zwielichtiger Charakter und physiognomisch in der Sprache des grotesken Leibes gezeichnet: Johannes „stieß [...] die Augen aus dem Kopf, daß sie anzusehen waren wie zwei Mailänderäpfel, riß das Maul auf, daß man es füglich für das berühmte Urnerloch hätte ansehen können; aus dem einfach geöffneten Tor flogen abwechselnd ganze Wolken Rauch und ganze Wolken Flüche, und mit den breiten Fäusten schlug er den Takt dazu."2 Uli übernimmt die Herkulesarbeit, den Hof Joggelis zu modernisieren, und es zeigt sich rasch, daß er dafür die höchste Zustimmung hat: Der Herr hatte die Bäume gesegnet, daß man fast nicht wußte, wo mit diesem Segen hin. Es war viel Mist, viel Land bedurfte desselben: es war viel also anzusäen. Wildes, strubes Land kriegte man unter den Pflug, das doppelter Arbeit bedurfte. Nun war man aber in der Glunggen, wie schon gesagt, an ein Hacken gewöhnt, das dem Nidle ab der Milch Nehmen gleicht. Man schürpfte nur das Gras obenab, die zähe Furche, und das darin befindliche Wurzelgeflecht blieb unverhauen, das Samkorn fand keinen mürben, uneingenommenen Boden zum Wurzeln und zur Nahrung, daher mageres, schlechtes Korn trotz allem Misten. Zu gleicher Zeit wurde der Pflug nicht tief geführt, trotzdem daß es in der Glunggen nicht steinichter Boden war. So mußte der Boden unfruchtbar werden. Tiefer gefahren, besser gehackt mußte er werden, wenn es eine gute Ernte geben sollte. Dazu es zu bringen, hatte Uli Mühe; man war der Sache halt nicht gewohnt. Es grusete Joggeli, als er die dichte Reihe der Hacker sah, als Uli sechs Haupt vorspannte, statt sonst nur viere,
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Etwas erweiterter Text meines Vertrags beim Berner Kolloquium. Den Organisatoren des Kolloquiums, Hellmut Thomke, Silvia Serena Tschopp und Walter Pape, danke ich herzlich für die Anregung, wieder einmal auf Gotthelf zurückzukommen, den Teilnehmern für kritische Diskussionsbeiträge. Im folgenden schließe ich an einen älteren Versuch von mir an und führe ihn ein wenig fort. Vgl. Braungart: Aufklärungskritische Volksaufklärung. SW 11, S. 281.
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Wolfgang Braungan als der rohe, wilde Boden an die Sonne gekehrt ward. Das sei ja die dümmste Sache von der Welt, sagte er halblaut vor sich hin, die gute Erde zu verlochen und die böse, magere obenfürzumachen; so mache man ja den Boden expreß wieder mager, wenn man den Mist untern fahre, daß er ganz gegen Amerika hinunterkomme und dort hervorgewässert werde, während man in den schlechten, wilden Boden pflanze.1
Was erfährt man aus dieser Passage, deren ästhetische Eigentümlichkeit und Funktion nicht allein aus der Erzählung der Entwicklungsgeschichte Ulis abgeleitet werden können? Man erfährt zum Beispiel, daß Ackerboden anständig zu düngen ist und daß er viel Mist braucht. Dann, daß er richtig umgepflügt werden muß. Es genügt nicht, nur an der Oberfläche zu schürfen; man muß tief genug pflügen, um den Boden wirklich aufzulockern und dem Korn Platz und Luft zu schaffen. Dafür benötigt man dann auch das richtige Gespann. Das Problem des richtigen, intensiven Düngens und Pflügens, das hier poetische Detailtreue und realistische Genauigkeit begründet, war in der Volks- und Bauernaufklärung des späten 18. und 19. Jahrhunderts tatsächlich ein wichtiger Gegenstand der Diskussion. Der wirtschaftsgeschichtliche Kontext ist die Intensivierung der Landwirtschaft in Europa. Gotthelf bleibt mit seinem poetischen Werk dieser Tradition der Volks- und Bauernaufklärung verpflichtet, die ja tatsächlich bis weit ins 19. Jahrhundert reicht/ Zugleich aber wird ihm die Bauernaufklärung zum produktiven poetischen Prinzip. Darauf kommt es meines Erachtens entscheidend an. Gotthelfs Romane sind nicht bloß Aufklärung mit poetischen Mitteln. Gotthelf will nicht einfach belehren, sondern zeigen: Der Detailreichtum und die Wirklichkeitsnähe seiner Erzählkunst speisen sich auch aus diesem Zusamrrienhang von Aufklärung und Realismus. Das ist konsumtiv für seine poetische Mimesis, für sein Verständnis von .dargestellter Wirklichkeit'.5 Volksaufklärung ist - sozusagen - eine poetische Produktivkraft Gotthelfs, ein ästhetisches Prinzip, das den genauen Blick und den realistischen Detailreichtum begründet und deshalb nicht nur unter dem Stichwort .Gotthelf als Pädagoge' abgelegt werden darf. Die Pädagogik überzeugt nur dank ihrer ästhetischen Qualität. Das hat schon Gottfried Keller in seinem Nachruf (1855) gesehen. Das Weiterwirken der Volksaufklärung im 19. Jahrhundert, z. B. im Bauernroman und in der Dorfgeschichte, ist also nicht nur sozialgeschichtlich interessant, sondern auch literarästhetisch. Mit dieser Verbindung von Volksaufklärung und Realismus führt Gotthelf auch die europäische Lehr- und Landlebendichtung fort, trotz des ästhetischen Paradigmenwechsels im späten 18. Jahrhundert. Seine Romane und Erzählungen sind nicht bloß .unmerklich belehrend', wie Goethe ge3 4
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SW 4, S. 222f. Hingewiesen sei nur auf das im Entstehen begriffene, von Holger Böning und Reinhart Siegert herausgegebene Handbuch Volksaufklärung, dessen erster Band bereits vorliegt. Auerbach: Mimesis.
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fordert hatte.6 Eine genauere Deutung Gotthelfs aus dieser ästhetischen, aus der Antike kommenden Tradition der Lehrdichtung heraus steht, soweit ich sehe, noch aus. Diese Hinweise schließen eine andere Gesamtdeutung, wie sie z. B. jüngst Werner Hahl unter dem leitenden Gesichtspunkt der .christlichen Ökonomik' vorgelegt hat, überhaupt nicht aus.7 Im Gegenteil. Ich möchte dies als eine erste Überlegung festhalten, weil es mir darum geht, an den Uli-Romanen ein wenig deutlich zu machen, was an den Texten Gotthelfs auch ästhetisch faszinieren kann. Aber der zitierten Stelle und den Passagen, die ihr vorausgehen, ist noch mehr abzugewinnen; sie haben auch symbolische und allegorische Aspekte. Angespielt wird auf mythologische und biblisch-christliche Zusammenhänge (vgl. etwa die Sisyphos-Anspielung: „Rasch will einer einen Berg hinauf, er kugelt wieder hinab"8). Das erste, was Uli sich als Meisterknecht vornimmt, ist nämlich, den Augiasstall Joggelis auszumisten.9 Gegenüber dem Bodenbauern klagt er nach seiner ersten Besichtigung des neuen Hofes: O Meister, ich kann nicht sagen, wie es mir ist. Ich bin an vielen Orten gewesen, aber so habe ich es nirgends angetroffen. Da ist, helf mir Gott, nirgends keine Ordnung. Die Bschütte läuft in den Stall, der Mist ist noch nie recht ausgemacht worden, die Rosse stehen hinten höher als vornen, am Stroh ist noch das halbe Korn, auf der Bühne ist es Gsau (schweinische Unordnung), das Werkzeug sieht aus, man darfs nicht ansehen. Sie sehen mich alle an, als ob sie mich fressen wollten. Entweder geben sie mir keinen Bescheid oder messen mir unverschämte Worte zu, daß es mi duecht, ich muß ihnen eine zum Grind geben.10
Die Klage über den Zustand der Landwirtschaft macht Uli wortgewaltig. In einer raschen parataktischen Reihe kippt Uli den ganzen Mist aus, daß sein alter Meister ihn mahnen muß: „So grad afangs dryzschieße, trägt nichts ab".11 Vielleicht kann man im Verb „dryzschieße" auch eine zum Thema ,Mist' passende Doppeldeutigkeit erkennen. Wo freilich der Misthaufen draußen groß und wohlaufgerichtet ist, da herrscht auch drinnen die richtige Ordnung. Uli setzt sich durch, indem er Joggeli dazu bringt, die faulen Knechte, den Karrer und den Melcher, zu entlassen. Der volksaufklärerische Realismus ist bei Gotthelf also durchaus einer symbolischen Vertiefung zugänglich. Vreneli z. B. personifiziert geradezu eine höhere, wahre, weil lebenspraktisch und human gewordene Aufklärung: „Es war in der
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Vgl. Richter: Lehrhafte Dichtung; zuletzt: Liebermann: Lehrdichtung. - Wie man literaturgeschichtlich argumentieren könnte, zeigt die Untersuchung Dedners: Vom Schäferleben zur Agrarwirtschaft. Hahl: Jeremias Gotthelf - der „Dichter des Hauses". SW 4, S. 71. Dazu SW, 4. S. 150, Anfang des 13. Kapitels. SW 4, S. 148f. SW 4, S. 149.
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Aufklärung und Bildung weitergekommen nicht bloß als mancher Schulmeister, sondern«sogar als Professoren."12 Daß Uli dann die Äcker intensiver als zuvor bearbeitet und sie erst wirklich fruchtbar macht, konnotiert auch den ganzen biblisch-allegorischen Motivkomplex des fruchtbaren und unfruchtbaren, steinigen Bodens, des Weizenkorns, das in die gute Erde muß (etwa Johannes 12, 24; vgl. auch den Schluß des Romans: „Der Herr war mit ihm, und alles geriet ihm wohl, seine Familie und seine Saat."13), der Pächter und Knechte, die nichts taugen. Das Bauernleben wird dort, wo es richtig geführt wird und gelingt, sakral überhöht. Das „Stübli" ist das „Heiligtum", „das Allerheiligste des Hauses".14 Unübersehbar oft fällt der Blick des Erzählers auf das gerade wie die Borsten einer Bürste stehende Korn. Die gute Ehe zwischen Bauer und Bäuerin ist wirkliches Sakrament.15 Und über das Kaffeetrinken bei Gotthelf müßte man eine eigene kleine Abhandlung schreiben. In den richtigen Bauernhöfen ist das Kaffeetrinken fast eine sakramentale Handlung,16 bei der man sich selbst und dem ändern etwas gönnt und einander vertraut.17 Sie ist ein kleines, den Alltag durchbrechendes und ihn so auch gliederndes Fest der sozialen Versöhnung, eine wahre communio, ein wirklicher Akt der Säkularisierung, weil christliche Frömmigkeit sich hier tatsächlich realisiert, weltlich wird. Die „Sichelten", der Höhepunkt des bäuerlichen Arbeitsjahres, „ist eine christliche Opfermahlzeit."18 - Eine ähnliche sakramentale Bedeutung hat das gemeinsame Essen und Trinken oder das Rauchen einer Zigarette in der Gegenwartsliteratur bei Heinrich Böll.1' Aber ich kehre noch einmal zu meiner eingangs zitierten Passage zurück: Joggeli merkt sehr wohl, daß Ulis neue Art zu pflügen mehr bedeutet als eben nur, eine lang gewohnte Praxis zu verändern: Uli kehrt nämlich das Unterste nach oben; er stürzt die eingefahrenen Verhältnisse auf dem Glunggenhof von Grund auf um. So kommt auch das .Wilde und Strube', das sich bisher im Finstern verborgen hat, ans Licht. Den Melcher, diesen Milch- und Eierdieb, erwischt man schließlich.20 Ulis Pflügen ist wie das Ausmisten auch eine symbolische Handlung, die von den Knechten und Mägden intuitiv als eine solche verstanden wird. So wird der Hof kultiviert (denn nichts anderes meint ja lat. .cultura': Landbau, Ackerbau): Aus dem 12
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SW 11, S. 222. Vgl. dazu genauer Braungart: Aufklärungskritische Volksaurklärung, bes. IV: .Vernunft und Liebe*. SW 11, S. 444. SW 4, S. 113f. SW 4, S. 380-382. SW 11, S. 208. SW 4, S. 206. SW 4, S. 207. Vgl. Göttlicher: Begriff des Sakramentalen. SW 11, S. 194.
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.wilden, struben Land* entsteht eine Kulturlandschaft, wie aus dem wüsten Knecht Uli der geläuterte Pächter hervorgeht und wie auch der .strube* Hagelhans am Ende sein wahres Wesen hervorkehrt.21 „Bin ich auch ein Struber, will ich doch ein Guter [Vater] sein", reimt Hagelhans charakteristischer Weise etwas ,strub' selbst.22 Für dieses ästhetisch produktive Erzählprinzip noch ein zweiter Beleg aus dem zweiten Band der Ltfz-Romane, in dem die alte Vorstellung von der natura naturans, von der Erde als schaffendem Lebewesen aufgenommen wird: Sie hatten alten Grasboden auffahren, die Furchen gründlich hacken wollen, denn bei schwerem Schweizerlande muß man gründlich bis auf den Boden die Furche hacken, wenn ein zahm Gewächs gesund wachsen soll; sie ist zäh und schwerfällig, eben wahrhaft die Schweizernatur. Sie wird auch krank, tut, als ob sie am Sterben wäre, zu nichts mehr tauglich als zu Schling- und Schmarotzerpflanzen; aber dann kömmt sie ein Winden und Drehen an, wilde Wehen rühren alles durcheinander wie die Köchin eine Krautsuppe, dann kriegt sie ein schrecklich Erbrechen, gibt von sich zum Grauen und Erstaunen ganze Knäuel Ungeziefer von allen Sorten, die wir nicht nennen mögen, kleines, großes, und ist das mal aus dem Leibe und da, wo es hingehört, da stillen sich die Wehen, das Grimmen, Winden, Krümmen hört auf, und frisch und gesund ist wieder die alte Natur, den hohen Alpen gleich, wenn die wilden Stürme verrauscht sind, der holde Frühling, der immer junge Frühling vom Himmel wieder auf die hohen Alpen steigt.23
Aus dem bauernaufklärerischen Hinweis, wie mit einem schweren Boden zu verfahren sei, wird eine zeitkritische Allegorie der politisch-gesellschaftlichen und ökonomischen Umbruchsituation der Schweiz, in der nun „Schling- und Schmarotzerpflanzen" und „ganze Knäuel Ungeziefer" hervorkommen, die der Leser unschwer mit den faulen Knechten, dem Baumwollhändler und dem Wirt Johannes identifizieren kann. Sie sind jetzt für einen historischen Moment obenauf, und sie führen andere, Uli z. B. und den noch labileren Joggeli, in Versuchung. Dies darzustellen, wie sich das herausgeforderte Subjekt entwickelt, an den Herausforderungen abarbeitet oder scheitert bzw. wie es verweigert, sie anzunehmen, setzt Gotthelfs poetische Energie frei. Man muß nur an die auch psychologisch so genaue Schilderung denken, als Vreneli bei ihrer Brautfahrt Uli dreimal verleugnet:24 Hochzyt ha isch no viel ärger äs sterbe. Bim Sterbe weiß me doch no öppis, ob me selig wird, oder ob eim dr Tüfel nimmt, beim Hochzyt ha cha me gar nüt wüsse. We me meint, dr Himmel syg voll Gyge, su sys zletzt luter Donnerwetter. U we me meint, mi heyg dr Freinst, su isch es de zletzt, we me recht luegt, dr wüstisch Hung.2S
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SW 11, S. 440. SW 11, S. 440. SW 11, S. 222. SW 4, S. 312. SW 4, S. 313.
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Wolfgang Braungan
Auch Vreneli muß in ihrer Hybris korrigiert werden, denn was ihr am Ende ihres Lebens einmal bestimmt ist, das kann sie nun wirklich nicht wissen. Die ganze Szene verbindet schwankhafte und märchenhafte Elemente. „Es sei", sagt Vreneli zu ihrer Rechtfertigung gegenüber der Base, ein Lebtag eine arme Waise gewesen und verstoßen von Jugend auf. Es habe nie ein Vater es auf den Schoß genommen, die Mutter es nie geküßt; nie habe es seinen Kopf an irgendeinem Halse verbergen können. Es hätte ihns manchmal gedünkt, gerne wollte es sterben, wenn es nur dabei jemand auf den Knien sitzen, jemand dabei um den Hals nehmen könnte.26
Die drohende Sentimentalität dieser Szene wird durch psychologische Genauigkeit vermieden, so wie die aufklärerische Didaxe aufgefangen wird durch genaueste Situierung im bäuerlichen Leben. Die reine Didaxe, bei der sich dann der erzählerische Realismus zuweilen ganz verlieren kann, wird im ersten Teil des C//i-Romans nur den ErzieherFiguren zugestanden: der Base, dem Bodenbauer vor allem und natürlich dem Pfarrer. Der macht, die Trivialmetapher des Lebenswegs bzw. der zwei Wege nutzend,27 aus dem Leben Ulis und Vrenelis gleich ein Predigtexempel, als die beiden durch den Schneesturm zu ihm kommen, um ihn zu bitten, ihre Hochzeit anzuzeigen und zu verkündigen: „Sieh, ich wünsche von ganzem Herzen, daß dieses der strübste Gang [im Schneesturm zum Pfarrer] ist, den ihr miteinander während eurer Ehe geht."28 „Und wie das äußere Leben ein Bild des geistigen Lebens ist, so ward mir euer Gang daher zum Bilde mancher, mancher Ehe, zum warnenden Worte, vor solcher Ehe und den Ursachen dazu euch zu hüten."29 Und nun folgt eine der Philippiken gegen den Zeitgeist, wie sie bei Gotthelf nicht immer leicht zu ertragen sind. Aber die Predigt taugt nur, weil das Exempel, der Schneesturm, zuvor entsprechend eindringlich geschildert wurde. Dreimal" muß Vreneli „ansetzen, bis es draußen war,"30 so heftig stürmt es, so groß sind aber auch die Widerstände in ihr selbst, die sie überwinden muß. Dreimal waren sie zuvor schon für ein Hochzeitspaar gehalten worden.31 - Die Geschichte der Predigt belegt vielfach, daß die Predigt selbst das gut erzählte Exemplum braucht.32 Ist die Szene beim alten Pfarrer schon nicht unbedingt packend, sondern ziemlich erbaulich formuliert, so kennzeichnet es den doch schwächeren 26
SW 4, S. 335.
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Vgl. auch SW 4, S. 71. SW 4, S. 361. SW 4, S. 363. SW 4, S. 359. SW 4, S. 312. Vgl. etwa: Herzog: Geistliche Wohlredenheit; Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit; Rehermann: Predigtexempel.
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zweiten Teil des Romans, daß sich nun der Erzähler mehr und mehr predigend, schimpfend, belehrend einmischt, und jetzt verschwindet auch das Schweizerische fast völlig (freilich vor allem deshalb, weil Gotthelf nun Leser findet, die mit dem Schweizerischen ihre Mühe haben). Gotthelf stellt jetzt weniger dar, zeigt weniger. Doch vom Darstellen und Zeigen hängt hier alles ab. Darstellen und so verlebendigen zu können, das war es, was Klopstock so wirkungsmächtig der Poesie zugeschrieben hatte und was sie in seinen Augen so einzigartig, ,heilig' macht, d. h. der erhabensten Gegenstände würdig. Ihr wurde damit eine Funktion zugeschrieben, die das repräsentative System der Religion für die kulturelle protestantische Elite im 18. Jahrhundert immer weniger übernehmen konnte.33
2.
Neben der Volks- und Bauernaufklärung ist die Physikotheologie, die ja eine Tendenz zur Allegorie und zur erbaulichen Didaxe, zur literarischen Predigt hat, eine zweite Traditionslinie, in der Gotthelfs ästhetische Produktivität steht und die sich mit seiner auf die soziale Praxis zielenden Theologie verbinden läßt. Die physikotheologische Prägung des Werkes macht nachvollziehbar, warum der pietistisch orientierte Christliche Volkskalender in Basel gegen Uli der Knecht vorbringen konnte, der Roman „sei kein christliches Buch".34 Im Vorwort zu Uli der Pächter bezieht sich Gotthelf auf den Vorwurf, der „erste Teil" sei „zu weltlich".35 Diese physikotheologische Tradition reißt mit dem Ende der Aufklärung nicht völlig ab, wenn sie auch schon im 18. Jahrhundert selbst Spott hervorruft. In der religiösen Literatur besteht sie bis heute fort; für die Predigt ist sie noch immer ein probates Mittel der religiösen Belehrung. Reflexe gibt es aber auch in der Lyrik der Droste, in der Gegenwartslyrik etwa bei Sarah Kirsch, aus deren betrachtender Naturlyrik die Hoffnung spricht, die Zeichen der Natur mögen vielleicht doch etwas zu sagen haben. (Nur was?) Als Vreneli nun endlich dem Plan der Base für eine Hochzeit mit Uli zustimmt und sich alle drei auf den Heimweg machen, da stimmt auch die Natur zu. Gotthelf nimmt ein altes und eigentlich abgegriffenes Bild für ein letztlich doch harmonikales Schöpfungsverständnis auf, dem er aber eine neue Wahrheit abgewinnt, weil er das Bild konkretisiert und so mit der faszinierend gezeichneten Figur Vrenelis in ihrer inneren Zerrissenheit verfugt:
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Vgl. etwa: Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der beiligen Poesie, 1755; Von der Darstellung, 1779 - Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 997-1009 und 1031-1038. Cimaz: Jeremias Gotthelf, S. 454. SW 11, S. 445.
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Wolfgang Braungan Draußen flimmerten die Sterne im dunkelblauen Grunde, weiße Nebelwölkchen schwebten über feuchten Manen, einzelne Streifen hoben neugierig an Talwänden sich auf, laue Winde wiegten das matte Laub, hie und da läutete eine auf der Weide vergessene Kuh ihrem vergeßlichen Meister, hie und da schickte ein übermütig Bürschchen sein Jauchzen weit über Berg und Tal.M
Doch Vreneli ist mit sich noch immer nicht im Reinen. Das zeigt sich, als sie den Sternenhimmel, das Zeichen der großen kosmischen Ordnung (Hiob 31,26), noch einmal gegen den Strich interpretiert; er wird ihr zum unendlich geweiteten, dezentrierten Universum, ähnlich dem Sterntalermärchen der Großmutter in Büchners Woyzeck: Vreneli war alleine in der weiten Welt. Wie weit am fernen Himmel die Sterne schwammen in des unermeßlichen blauen Meeres schrankenlosem Räume, jeder für sich in einsamer Bahn, so fühlte es sich wieder das arme, einsame, verlassene Mädchen im großen Weltenget ümmel.*7
Die kopernikanische Revolution macht vor der Dorfgeschichte nicht halt. Dagegen sind die Romane Gotthelfs auch angeschrieben: daß der Raum tatsächlich unermeßlich und schrankenlos sein könnte. Sie sind keine naiven, sondern moderne, ästhetische Theodizeeversuche. Fülle und Genauigkeit sind schon von der physikotheologischen Tradition her gefordert; von ihnen hängt die Evidenz des physikotheologischen Schlusses ganz ab. Aber das physikotheologische Modell wird prozessualisiert. Durch Fülle und Genauigkeit in der Darstellung der bäuerlichen Welt, die vom Modernisierungsprozeß nicht verschont bleibt und sich im Umbruch befindet, versucht Gotthelf, ästhetisch eine sich entwickelnde, sinnhafte Totalität zu evozieren, die vielleicht nur im Roman noch zu leisten ist: also darzustellen und zu gestalten etwa durch Mythisierung, Symbolisierung, Allegorisierung. Anders als ästhetisch ist die Theodizee nach der aufgeklärten Religionskritik auch nicht mehr möglich, wenn sie denn je möglich war.38 Daß sich Gotthelfs Romane aber nicht immer ästhetisch .runden' (Moritz), wie Keller kritisiert, zeigt nur, daß er sich nicht in die ästhetische Theodizee einer sich autonom verstehenden Kunst zurückgezogen hat.39 In ihrer Entwicklung stellt sich für Vreneli und Uli das Theodizee-Problem immer wieder. Als die Base stirbt, gibt der Erzählerkommentar kaum verborgen zu verstehen, daß das Theodizee-Problem theologisch tatsächlich nicht wirklich lösbar ist, nur praktisch und sozial auszuhalten und erträglich zu gestalten: 36 37
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SW 4, S. 337; meine Hervorhebungen. SW 4, S. 337; meine Hervorhebungen. Vgl. dazu Braungart: Geburt der modernen Ästhetik. - Dort auch weitere Hinweise zur Theodizee-Problematik in der Literatur. Zur Theodizee-Problematik vgl. auch den Kommentar in EB 12, S. 312f.
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Wenn einer geht ins bessere Land, entsteht wohl eine Lücke in der Welt, kleiner und größer, je nach des Menschen Stand und Bedeutung, aber schnell ist die Lücke zugewachsen in der Welt, schneller noch, als das Gras wächst auf dem Grabe. Nur die Lücken in den Herzen wachsen nicht zu; wenn sie aufhören zu bluten, blüht ein freundlicher Gedanke auf, schöner, als je Rosen auf einem Grabe geblüht.40
Da gibt es nichts zu „begreifen", nur „daß wir wandeln müssen im Glauben".41 Das läßt sich als Hinweis auf den Projektions- und Kompensationscharakter von Religion lesen. Deshalb resultiert daraus auch nicht der Verweis auf die institutionalisierte Religion, sondern eine an manchen Figuren Gotthelfs wie z. B. dem alten Pfarrer im Anne Bäbi-Roman faszinierende emphatische Betonung der Freundlichkeit42 und ein Liebesgebot, also eine unhintergehbare Verpflichtung auf das Soziale (und das ist, trotz aller christlichen Ökonomik, ein spezifisch moderner Gedanke, der Gotthelf mit Autoren wie Hölderlin und Mörike verbindet): „Wo die Liebe recht lebendig ist, da verzehrt sie alle Gedanken, nur der Schmerz des Missens, das Sehnen nach Wiedersehen fluten durch die erregte Seele."43 Der Glaube gibt dem einzelnen Leben eine sinnhafte Struktur; für ihr Glück müssen die Menschen aber schon selbst sorgen. Für die Figuren seiner Romane entsteht eine Theodizee deshalb nicht aus einer dogmatischen Theologie, sondern aus der Praxis: Allein war es, einsam und verlassen sollte es durch das Weltgetümmel bis zu seinem einsamen Grabe auf langer Wanderung, vielleicht durch viele, viele einsame Jahre, gebeugter, mut-, kraftloser von Jahr zu Jahr, ein alt, verwittert, verachtet Wesen, dem kaum jemand Herberge mehr gab, wenn auch um Gotteswillen dafür angesprochen. Neues Weh zuckte ihm im Herzen, Klagen wollten aufquellen: warum doch wohl der Vater, der gute, der die Liebe heiße, so arme Kinder leben lasse, die niemand hätten auf der Welt, die in der Kindheit verstoßen würden, in der Jugend verführt, im Alter verachtet?44
Aus dieser metaphysischen Melancholie befreit sich Vreneli durch die richtige Lektüre der Zeichen: „Es begannen ihm aufzutauchen, wie aus dem Nebel die Hügelspitzen und die Kronen der Bäume, die Liebeszeichen, die Gott augenscheinlich über sein Leben ausgestreut; [...]."4S Die Physikotheologie der frühen Aufklärung war ein Versuch, Religiosität undogmatisch und ohne Bindung an die Institution Kirche zu begründen. Sie war zugleich ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Emanzipation der Aisthesis im 18. Jahrhundert. Sie setzte ästhetisch-poetische Energien frei: Der Physikotheologe und der ihr verpflichtete Autor, sie sind 40 41 42 43
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SW 11, S. 285. SW 11, S. 285. SW 11, S. 203. SW 11, S. 285. SW 4, S. 337f.; meine Hervorhebungen. SW 4, S. 338.
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Empiriker; sie müssen genau hinschauen und genau schreiben. Darauf kommt es an. Das alttestamentliche Buch Hiob gibt modellhaft beides vor: Hiob wird die Schönheit, Ordnung und Mannigfaltigkeit der Schöpfung vor Augen gestellt, so daß er schließlich doch sagen kann: „Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; / jetzt aber hat mein Auge dich geschaut, l Darum widerrufe ich und atme auf,/in Staub und Asche" (Hiob 42, Sf.).46 Hiobs Klagen selbst aber sind ein Versuch, das, was sich nicht denkend erfassen und begreifen läßt, wenigstens zu sagen, darzustellen. Im Schimpfen und Wüten entwickelt auch Gotthelf eine besondere Sprachgewalt. Ich kenne keinen Romanautor der neueren Literaturgeschichte, dem eine solche Vielfalt drastischer Schimpfwörter zur Verfügung stünde wie Gotthelf. An einer Stelle wird dieses Sprachbewußtsein besonders deutlich, als er aus seiner Geschichte gleichsam heraustritt: „Wir haben im Berndeutsch gar herrliche Worte, die verschiedenen Sorten und Abarten des Geschwätzes zu bezeichnen: dampen, dämperlen, klapperen, stürmen, schwadronieren, poleten, hässelen, giftlen, schnäderen, ausführen, kiflen, rühmsein usw."47 Das ist wohl auch in Richtung Berlin gesprochen, wo man wenigstens wissen soll, welchen ästhetischen Verlust der Wegfall des Berner Deutsch bringt. Wo so vital und plastisch geredet wird, wird das Sprachkunstwerk selbst .herrlich'. (Herrlichkeit ist, wie Hans Urs von Balthasar gezeigt hat, Kernbegriff einer theologischen Ästhetik.48) Schönheit und Harmonie der Schöpfung einerseits, überwältigendes Leid, Schmerz und Schrecken andererseits sind die theologischen Herausforderungen, die im 18. Jahrhundert ihr Gegenstück in den ästhetischen Kategorien von Schönheit und Erhabenheit finden. Die Spätaufklärung überzieht die Leibnizische Theodizee mit beißendem Spott (Voltaire; Wezel). Zugleich aber wird in der Autonomieästhetik das Kunstwerk in Kategorien bestimmt, die sich entscheidend Leibniz' Philosophie verdanken. Das Kunstwerk ist mannigfaltig in der Einheit; es fasziniert und weist ein begriffliches Verstehen letztlich doch ab; es läßt den Betrachter sprachlos staunend zurück. Resignierend und fasziniert zugleich formuliert Karl Philipp Moritz, der radikalste Theoretiker der Autonomieästhetik: „von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist!"49 Mehr läßt sich letztlich auch vom Göttlichen nicht sagen. So verspricht jede Erfahrung des großen Kunstwerks eine sinnliche, aisthetische Sinnerfahrung schlechthin, die immer zugleich scheitert, weil sie an den
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Zu einer direkten Hiob-Erwähnung vgl. SW 11, S. 210. SW 11, S. 118f. Balthasar: Herrlichkeit. Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen - Werke, Bd. 2, S. 958-991, hier S. 991.
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Moment sinnlicher Erfahrung gebunden ist. Negative Theologie und Ästhetik gehören zusammen. Nun stellt sich aber die Frage, wie dieser emphatische Kunstbegriff literarisch umgesetzt werden soll. Wie soll die Einheit in der Mannigfaltigkeit ästhetisch realisiert werden? Die epische Fülle und Totalität, die bis heute, über Lukacs hinaus, als poetologisches Merkmal für den Roman nicht völlig verschwunden ist - bis heute sollten Romane doch wenigstens eine gewisse Breite und epische Fülle haben -, wird bei Gotthelf mit einem zentralen physikotheologischen Modell verbunden: dem der Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos. Gotthelfs Bauernhöfe sind, da wo die richtige religiöse, soziale und ökonomische Ordnung herrscht, wahre Mikrokosmen und als solche wahre Kunstwerke des richtigen Lebens. Auch dem Hof des Hagelhans ist abzulesen, daß der kein so schlechter Kerl sein kann, als er scheint und scheinen will, aber auch, daß dieses gute Wesen erst noch zur Erscheinung kommen muß. Dafür steht symbolisch die Abgeschiedenheit, in der er lebt. Er muß in die Geschichte (in einem doppelten Sinne: auch in die des Romans!) erst noch eintreten und sich damit der sozialen und gesellschaftlichen Interaktion und der Entwicklung öffnen. Auch dies zeigt der t//i-Roman: Im Blitzloch sah es schön aus, das heißt für eines Landmanns Augen, nicht für Herren- oder eines Dämchens Augen. Die Gebäulichkeiten aller Art waren nicht elegant, aber Uli sagte für sich: »Verdammt kommod.' Was er sah an Äckern und Wiesen, Bäumen und Zäunen, war so, daß er sagte: ,Da könnte man noch was lernen.' Er vergaß endlich seine Rede ganz und gar und schaute sich das Ding da unten an wie ein Künstler eine Gemälde, ein Liebhaber eine Dame. [...] Der Weg, fest und eben, wie man bei Schlössern sieht, führte durch einen prächtigen Baumgarten, wo die Bäume in guter Ordnung sauber und reinlich stunden, schöner als manch Regiment, wenn es zur Musterung zieht. Ungewöhnlich groß war das Haus, und still wie das Grab lag es da, kein Leben schien dasselbe zu bergen, wenn nicht Tauben es rings umflattert hätten. Tauben saßen auf dem Dache an der Sonne, Tauben stunden auf dem Brunnen und nippten den köstlichen, süßen Trank, Tauben beinelten rund ums Haus.50
Der Erzähler versteht diesen Hof in ästhetischen Kategorien. Er sieht genau hin: Die „Tauben beinelten" - was für eine schöne und treffende Beschreibung auch jenseits des Schweizerischen! Gewiß hat dieser Hof etwas Märchenhaftes.51 Aber die insistierende parataktische Nennung des Friedenssymbols der Taube deutet auch an, daß der Hof am Ende doch höhere Zustimmung findet und deshalb auch vorstellbar sein soll. Die Sichelten, von der schon kurz die Rede war, ist auf diesen mikrokosmisch-schönen Bauernhöfen, auf denen die „Ordnung", die „schönen glatten, säubern Bäume, aufgebunden die jungen, der stattliche Misthaufen, 50 51
SW 11, S. 95 u. 97; meine Hervorhebungen; vgl. auch SW 11, S. 393. So Holl: Gotthelf im Zeitgeflecht; Cimaz: Jeremias Gotthelf, S. 467.
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die Aufgeräumtheit allenthalben"52 die lesbaren Zeichen sind, ein Fest der Fülle des Lebens und für den Leser ein Fest epischer Fülle: Da war eine gelbe Safferetsuppe in mehreren Kacheln auf dem Tische, wo das Brot so dick eingeschnitten war, daß man auf eine Kachel hätte knien können, ohne daß das Brot ein Dümpfi (Eindruck) bekommen hätte. Dann kam Rindfleisch, grünes und dürres, Speck, Schnitze, Küchleni von drei Arten, alles hoch aufgebyget, und einige mäßige Flaschen stunden auf dem Tisch, und für alles war kaum Platz, daß die Auftragenden oft in der größten Verlegenheit waren, wo abstellen. [...] Im Stübli war ein besonderer Tisch gedeckt, auf dem war roter Wein, waren Fische an einer Sauce und Zuckererbse und Braten von Kälbern und Tauben, gebackene Fische, Hamme und Kuchen, Zupfen statt Brot und ein Kännchen voll süßen Tees für die Liebhaber und Dessert [...]."
Das ist eine innerweltliche Utopie gelingenden Lebens und bejahter Leiblichkeit, „wirklich ein Tag aus dem tausendjährigen Reich".54 Gotthelfs Beschreibungs-, also Sprachlust läßt diese Utopie wirklich werden. Man möchte dabeisitzen, wenn man das liest.
3.
Die [//»-Romane schildern mit den ökonomischen Schlägen, die Uli z. B. durch den Hagelschlag treffen, und mit seiner schweren Krankheit eine Kette von Prüfungen und Versuchungen, an denen sich Uli entwickelt und in denen er geläutert wird und schließlich zu sich selbst findet. Sie sind eine ganze Geschichte, ein Bildungsroman und vielleicht der einzige in der großen deutschen Romanliteratur, in dem der Bildungsprozeß gelingt. Ob darin auch eine Replik auf Goethes strukturbildenden Roman zu sehen ist, sei dahingestellt. Es scheint mir bei der vielfach belegten Goethe-Lektüre Gotthelfs, mehr aber noch bei dem für die [//t-Romane grundlegenden Motivkomplex von Lehre, „Lehrzeit" und „Meister"55 nicht ausgeschlossen. Die Prüfungen selbst, durch Joggeli, der ,ums Haus steckelt' - wer sagt das in der Romanliteratur der Zeit schon so prägnant, daß mit einem Verb ein ganzer Mensch charakterisiert wird? -, die Heimsuchungen durch Elisi 52 53
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SW 4, S. 211. SW 4, S. 213. SW 4, S. 207. Vgl. dazu etwa Riedhauser: Essen und Trinken. Vgl. auch den Schluß von Uli der Knecht, wo es, fast schon herausfordernd deutlich, heißt: „es stunden wiederum die Sterne am Himmel, als nach recht innigem Abschied [am Tag der Hochzeit von der alten Meisterfamilie], wie er selten von Nichtverwandten genommen wird, der mutige Kohli [das Pferd] ein glückliches Paar rasch davonführte - dem Himmel zu. Ja, lieber Leser, Vreneli und Uli sind im Himmel, das heißt, sie leben in ungetrübter Liebe, mit vier Knaben, zwei Mädchen von Gott gesegnet [...]." (SW 4, S. 387) - Das säkulare Glück ist hier nicht bloß ein ,Vize-Glück' (Odo Marquard)! Zu dieser Stelle auch Cimaz: Gotthelf, S. 456. SW 4, S. 32.
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und den Baumwollhändler, der seine Frau „wie ein Schröpfhörnchen, wenn er Geld nötig hatte", Joggeli „auf den Hals" „setzte",56 durch den Wirt und Sohn Joggelis, Johannes, durch das Gewitter57 und die Krankheit am Ende, Ulis Purgatorium: Sie fordern die ganze erzählerische Kraft Gotthelfs heraus. Mit der schweren Krankheit hat Uli auch den alten Adam abgestreift: „Uli war ein anderer geworden. Den alten heitern Sinn und die emsige Rührigkeit hatte er wieder, verband sie aber mit Ruhe und Besonnenheit. [...] Er hatte in sich die Ergebung gewonnen, welche es nimmt, wie es Gott gibt": Gelassenheit hat Uli also gefunden.58 „Den Geplagten rettet Gott durch seine Plage / und öffnet durch Bedrängnis sein Ohr." (Hiob 36, 15) Wie Hiob nach allen Prüfungen neues Glück findet - „Der Herr aber segnete die spätere Lebenszeit Hiobs mehr als seine frühere. Er besaß vierzehntausend Schafe, sechstausend Kamele, tausend Joch Rinder und tausend Esel" (Hiob 42,12) - , so auch Uli: „Der Herr war mit ihm, und alles geriet ihm wohl, seine Familie und seine Saat. Offen blieben ihm Herz und Hand, und, je offener sie waren, desto mehr segnete ihn Gott. Hagelhans blieb mitten unter ihnen, als Vater geliebt, aber nicht als Vater bekannt."59 Die neutestamentliche Anspielung (Matthäus 18, 20) steht am Schluß einer Fülle von Bibelanspielungen, Bezugnahmen, stilistischen Anleihen, direkten Zitaten, bei denen es hier nur noch auf die Paradieses- und Sündenfallgeschichte ankommen soll, in der Ulis Leben nämlich konsequent ausgelegt wird. Der Roman setzt ein mit Ulis Sündenfall. Der Knecht fällt, als er wieder einmal sehr spät nachts nach Hause kommt, „die Stiege" hinunter.60 Das ist die Voraussetzung dafür, daß es mit Uli nun eine andere Wendung nimmt, nehmen muß. Die Bäuerin fordert ihren Mann auf, endlich mit dem Knecht in aller Deutlichkeit zu reden. Der Sündenfall eröffnet den Bildungs- und Bewußtwerdungsprozeß. Als sich Uli bereits auf dem Weg der moralischen Besserung befindet, heißt es vom Pfarrer, er habe „einmal in einer Predigt gesagt: zu den ersten Menschen im Paradies hätte Gott geredet und die Schlange. [...] Nun sei das sehr wunderbar, daß die beiden Stimmen alle Menschen durchs Leben begleiteten und aus Menschenmund zu ihnen kämen."61 Den SchlangenStimmen erliegt Uli immer wieder, wenn sie ihn rühmen, daß ihnen „schon lange keiner unter die Augen gekommen sei, der ihm [Uli] die Schuhriemen
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SW 11, S. 164. SW 4, S. 194; 11, S. 303ff. SW 11,429f. SW 11, S. 444. SW 4, S. 7. Für den Hinweis auf diese Textstelle danke ich Peter Utz. SW 4, S. 46f.
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auflöse."62 Zu früh glaubt Uli, sich selbst überschätzend, schon „für immer" begriffen zu haben, „wer es gut und wer es bös mit ihm meine",63 also zur Erkenntnis zwischen Gut und Böse gekommen zu sein. Uli wächst freilich dennoch „zugleich an Weisheit und Verstand".64 Dieser Anspruch der imitatio Christi wird aber erst ganz am Schluß einlösbar, als Uli in das Feuer des Fiebers hinabgestiegen ist wie Christus in die Hölle und nun der „geistliche Hunger und Durst" in ihm erwacht, „das wunderbare und unerklärliche Verlangen [...], welches Christus mit den Worten ausdrückte: ,Mich verlanget, das Passahmahl mit euch zu essen.'"65 Tatsächlich sind für Uli seine Sündenfälle auch ein Fall ins Bewußtsein und ist der Roman die Geschichte einer Selbst-Bewußtwerdung, die grundsätzlich positiv gewertet wird. Aber dafür braucht Uli, dieser - wie Hiob „getreue [...] Knecht",66 Zeit und braucht es viele Prüfungen. Bei Kant und Schiller wird der Sündenfall grundsätzlich positiv gewertet, weil er für den Menschen notwendig ist als Schritt in die moralische Freiheit, die voraussetzt, daß der Mensch zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. In der Kulturphilosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird an der Sündenfallgeschichte die „Gewinn- und Verlustrechnung" der eigenen „Austrittserklärung aus der unreflektierten Gottuntertänigkeit" und des „Übertritts von Natur in Kultur" reflektiert.67 Erst durch den - auf diese Weise nobilitierten - Sündenfall wird auch ästhetische Erfahrung als solche möglich. Jetzt entdecken die beiden im Paradies die Augenlust. Die falsche Kultur repräsentieren in den Uli-Romanen Elisi und Trinette, die sich hoffärtig in die Alamode-Kultur des Französischen vergafft haben, der Baumwollhändler, der Wirt Johannes und der mit dem unehrlichen Beruf, der Müller. Sie alle werden sich ihres falschen Weges nicht bewußt. Bei Uli dagegen gehen Bewußtwerdungsprozeß und Kulturalisierungsprozeß seiner selbst und des von ihm in Pacht genommenen Hofes - Hand in Hand. Ihm steht in Vreneli eine Frau bei, die entschieden positiv gewertet wird. Dagegen behauptet der verblendete Uli im inneren Monolog noch, „durch das Weib [sei] die Sünde in die Welt gekommen."68 Aber Vreneli ist als Frau nicht die Versucherin wie die verblendete Elisi69 oder die dumme Großbauerntochter Käthi. Ohne Vreneli würde Ulis Leben mißlingen. Durch den Sündenfall und die Prüfungen kommt Uli erst zu sich selbst und schafft so dem äußeren Kulturalisierungsprozeß, den er vorantreibt, 62 63 64 65 66
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SW 4, S. 48; vgl. Mk 1,7; Job 1,27. SW 4, S. 71. SW 4, S. 91. SW 11, S. 339. SW 4, S. 338. Koch: Der Sündenfall ins Schöne, S. 97-99. SW 11, S. 221. Vgl. etwa SW 4, S. 244 u. 255.
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ein inneres Fundament. Das alttestamentliche Hiob-Modell wird hier konsequent prozessualisiert. Aus dem intuitiven moralischen Gefühl wird nun das sichere moralische Urteil. So ist sein Lebensweg auch lesbar als Allegorie einer humanen Menschheitsentwicklung, in der die metaphysischen Grundsatzprobleme nicht gelöst, aber suspendiert werden in einer verantworteten sozialen und kulturellen Praxis.
Peter Rusterholz
Gotthelfs „Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht": Historischer Anlaß und aktuelle Bedeutung Der historische Anlaß ist klar und bedarf unter Fachleuten kaum der Diskussion, allenfalls knapper Erinnerung. Über aktuelle Bedeutung zu sprechen aber ist unter Philologen immer gefährlich. Der Verdacht liegt nahe, daß die Individualität und Differenziertheit des Werks verblaßt vor „der Herren eigne[m] Geist, in dem die Werke sich bespiegeln." Andererseits ist Philologie als „opus operarum" kein Ideal und führt wohl auch nur zu einer ungeheuren Kluft zwischen der Wissenschaft und dem Volk der Lesenden oder auch der nur Filme und Volkstheater Besuchenden, die sich ihren eigenen aktualisierten Gotthelf bilden. Die Geschichte der Gotthelf-Deutung zeigt im übrigen außerordentlich starke historische Wandlungen des Gotthelf-Bildes, auch wenn wir uns auf die bedeutendsten Vertreter konzentrieren. Gottfried Keller hat zwar nach Gotthelfs Tod bekannt, „daß er ohne alle Ausnahme das größte epische Talent war, welches seit langer Zeit und vielleicht für lange Zeit lebte."1 Er rezensierte seine Werke aber grob simplifizierend durch die Brille seiner eigenen Normen. Gnädig gesteht er Gotthelf zu: „Wahrscheinlich hat Bitzius einst Theologie und mithin auch etwas Griechisch und dergleichen studiert", um aber recht bösartig fortzufahren: „von irgend einer schriftstellerischen Mäßigung und Beherrschung der Schreibart ist aber nichts zu spüren in seinen Werken."2 Über Gotthelfs, wie er meint, „strenges, positives" Christentum urteilt er schroff und vernichtend: „Etwas ist besser als gar nichts [...]. Wo reine Humanität fehlt, da muß die Religiosität das Fehlende ersetzen [...]. Aber die Art und Weise, wie Gotthelf seinen Zweck verfolgt, ist zu verwerfen, nicht nur weil sie pfäffisch und bösartig ist, sondern auch weil sie seine Schriften verdirbt."3 Gotthelfs theologische Position präziser zu bezeichnen ist wohl ebenso problematisch wie seinen literaturgeschichtlichen Ort genauer zu bestimmen. Er ist nicht nur dem Realismus, sondern auch dem Biedermeier, partiell gar der Romantik zugeordnet worden. Aber auch seine theologische Position wurde sehr unterschiedlich eingeschätzt. Betrachtete Keller ihn als streng positiven Christen, so beschrieb ihn Walter Muschg hundert Jahre später als archaischen Priester, in dem magisches Wissen lebendig wurde. Karl Fehr hat in
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Keller, Jeremias Gotthelf - Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 42-117, hier: S. 108. Ebenda S. 74. Ebenda S. 58.
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seinem letzten, 1986 erschienenen Gotthelf-Buch es als sein größtes Anliegen bezeichnet, „das überzeitliche religiöse Phänomen sichtbar zu machen und den großartigen Deuter christlicher Daseinsordnungen und ihrer Gegenkräfte in einer Zeit zu Worte kommen zu lassen, in der das Bewußtsein für religiöse, insbesondere christliche Fragestellungen im Zuge der allgemeinen, noch in keiner Weise abgebremsten Säkularisation noch immer im Schwinden begriffen ist."4 Dieses ehrenwerte Anliegen des hochverdienten Gotthelf-Forschers führt ihn dazu, daß er in seinem „Heiligung des Daseins" überschriebenen Kapitel zu Anne Bäbi Jowäger die Figuren Meyelis und Doktor Rudis idealisiert, zu reinen Identifikationsangeboten im Sinne dieser Heiligung stilisiert, ohne dabei die hochdifferenzierte Perspektivierung des Romans oder die Analogien wie die Differenzen historischer und aktueller Situation zu bedenken.5 Andere Darstellungen feiern den alten Pfarrer als Identifikationsfigur, setzen ihn gar mit dem Autor gleich6 oder ärgern sich über das biedermeierliche Pfarrhausidyll, in dem Frau Pfarrer, das „Mamali", dem Herrn Pfarrer, dem „Papali", die Pfeife und die gewärmten Pantoffeln bringt.7 Diese einfachen Identifikationen aber, meine ich, sind historisch und textanalytisch problematisch. Sie beschränken aber auch Möglichkeiten aktueller Bedeutung. Schon die Entstehungsgeschichte zeigt einen Prozeß zunehmender Perspektivierung und Differenzierung der Problematik und eine ständige Wechselwirkung zwischen der Imagination der Figuren und deren Reflexionen auf verschiedenen Ebenen des Textes. Erinnern wir uns also kurz des historischen Anlasses. Der Regierungsrat des Kantons Bern hatte der Sanitätskommission am 21. Januar 1842 den Auftrag gegeben, zu untersuchen, „ob es nicht zweckmäßig sein möchte in einer populären Schrift das Volk auf die medizinischen Pfuscher im Kanton aufmerksam zu machen und vor den Gefahren, die ihm von daher drohen, mit Nachdruck zu warnen."8 Die Sanitätskommission beauftragte Gotthelf. Dieser wandte sich an seinen Freund, den Medizinprofessor Eduard Fueter, der ihn mit Material versorgte. Dies ist alles zuverlässig verarbeitet in dem vorzüglichen Buch Carl Müllers Jeremias Gotthelf und die Ärzte. Gotthelf hatte vorerst „nicht Lust anzubeißen", wie er am 1. April 1842 an seinen Freund, den Basler Kirchenhistoriker Hagenbach, schrieb: „Du aber machst mir Lust dazu, denn Du machtest mir klar, daß der Hang des Landmanns zu Pfuschern weit tiefer liegt als man meist glaubt, daß er eine religiöse Quelle 4 5 6 7
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Fehr: Jeremias Gotthelf. Poet und Prophet - Erzähler und Erzieher, S. 7. Ebenda S. 171-183. Meili: Gott - Mensch - Mitmensch. So Muschg: Jeremias Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, S. 102: „Er [der Pfarrer von Gutmütigen] ist nach dem Pfarrer von Gytiwil im Schulmeister Gotthelfs zweites großes Selbstbildnis und würde noch größer wirken, wenn er etwas weniger bieder gezeichnet wäre und von seiner Frau nicht immer als .Papali' tituliert würde." Siehe Müller: Jeremias Gotthelf und die Ärzte, S. 9.
Gotthelfs „Anne Bähi Jowäger"
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hat auf der einen Seite und durch frivole Ärzte auf der anderen Seite verschuldet wird."9 Hier ist der prägnante Moment der Motivation Gotthelfs, diesen Stoff in viel weiterem Kontext zu gestalten, als dies ursprünglich geplant war. Den vollen Sinn und Zusammenhang dieser Sätze kann freilich nur verstehen, wer wie Gotthelf Hagenbachs Kirchengeschichtliche Vorlesungen über Wesen und Geschichte der Reformation gelesen hat. Der bescheidene Titel verhüllt, daß Hagenbach Vor- und Wirkungsgeschichte der Reformation einbezieht und eine Kirchengeschichte im kulturgeschichtlichen Kontext von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert vorgelegt hat. Ein für unsere Belange wichtiges Charakteristikum seiner Darstellung ist das psychologische Verständnis für die unterschiedlichen Relationen von Vernunft und Gefühl, die verschiedene kirchengeschichtliche Strömungen prägen und Wechselwirkungen von Kirchen und Sekten bedingen. Vor allem die 14. Vorlesung des dritten, 1837 in Leipzig erschienenen Bandes diskutiert zentrale Probleme, die Gotthelf bei der Niederschrift des Anne Bäht Jowäger bewegen.10 Er begnügt sich nicht mit der theologischen Kritik von Magie und Theosophie, sondern versucht, sie als psychologisch motivierte Reaktionen auf dogmatisch erstarrte Rationalismen der Kirche zu verstehen. Seine positive Darstellung der mittelalterlichen Mystik wie die wohlwollend kritischen Darstellungen der protestantischen Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts sind durch dieses Verständnis geprägt. Seine Mittlerposition findet in der auch von Gotthelf in Anne Bähi Jowäger verwendeten Buchmetapher klaren und bestimmten Ausdruck: Wenn nämlich auch eine klare und gesunde Vernunft in dem äußern Naturleben Sinnbilder des Geistigen und Göttlichen findet, so begnügt sich der Mystiker nicht bei dieser dichterischen, sinnbildlichen Auffassung, sondern durch gewaltsame Sprünge sucht er Erde und Himmel zu vermählen. Auch an dem Buche der Natur deutet er wie an der Offenbarung herum, und wie er sich dort über die Gesetze der Sprache und des Denkens hinwegsetzte, so setzt er sich hier über alle sinnliche Erfahrung und Beobachtung hinweg.11
Hagenbach negiert sowohl Rationalismen, die im äußeren Naturbild keine Sinnbilder des Geistlichen und Göttlichen sehen, als auch Irrationalismen der eben beschriebenen Art. Er sagt aber wörtlich: „Nennen wir Mystizismus alles, was eine Beziehung zu den geheimen, unerklärlichen Trieben der menschlichen Seele, eine Beziehung zum Übersinnlichen und zum Unendlichen hat, [...] so müssen wir allerdings sagen, das Christentum ist Mystizis-
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Brief an Hagenbach. Lützelflüh, den 1. April 1842 - EB 5, S. 204-205. Hagenbach: Vorlesungen über Wesen und Geschichte der Reformation, Bd. 3, 14. Vorlesung: Über das Wesen der Mystik und des Mystizismus, S. 311-335, speziell S. 313-322. Ebenda S. 321.
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mus."12 Er unterscheidet dann allerdings einen engeren und weiteren Begriff. Das Christentum, zu dem er sich bekennt, schließt mystische Bestandteile in sich. Sie sind durch Vernunft und Wissenschaft kontrolliert und in Grenzen gehalten. Der radikale Mystizismus, vorab dessen Extremform, die Magie, enthält nur irrationale Bestandteile. Bei einer ausführlichen Diskussion der Kräfte und Triebe, die sich in den Tiefen des Geistes regen, kommt er zum Schluß: „Wer vermag es im allgemeinen schon, die Gefühle genügend zu erklären? Vielleicht der Dichter eher als der Philosoph."13 Hier bekam Gotthelf die Anregung, die psychischen Prozesse zu verstehen, die Kurpfuscherei, Mystizismus und Magie zum Erfolg verhelfen, und zu überlegen, inwiefern dies auch durch Defizite der Theologie und der Medizin zu verstehen sei. Zwar schreibt Gotthelf bescheiden an Fueter, das erste Bändchen solle „eine Menge einzelner medizinischer Kalbereien enthalten, den Unverstand des Publikums zeigen", im zweiten Band solle dann „das Rechte und Tüchtige kommen, das Überwältigen der Finsternis durch einen alten Pfarrer, deinen Landarzt und Jakobiis Frau."14 Dies verweist zwar auf die didaktische Intention, erfaßt aber in keiner Weise die Bedeutungsfülle des vollendeten Texts. Dies ist Gotthelf auch bewußt. Er schreibt im selben Brief: „Sobald ich eine Arbeit anfange, so kommt ein Geist in die Arbeit, und dieser Geist ist mächtiger als ich [...]. So ist es mir auch in dieser Geschichte gegangen: die Personen machten sich geltend und überwuchsen die eigentliche Tendenz f...]·"15 Er glaubt, sich dafür bei Fueter entschuldigen zu müssen. Uns aber ist heute natürlich bewußt, daß dieser Text nicht trotz, sondern wegen des Überwachsens der Tendenz seine aktuelle Bedeutung behält. Ursprünglich hätte das Buch Wie es Hansli Jowäger mit dem Doktern gebt heißen sollen.14 Ginge es nur um die Kurpfuscherei, so wäre dieser Titel durchaus denkbar gewesen. Da der Text aber eine differenzierte psychologische Analyse des autoritären, narzißtischen Charakters von Anne Bäbi gibt, in dessen Schatten die ganze Familie steht, kann der Roman natürlich nur Anne Bäbi Jowäger heißen. Für das Funktionieren dieses Haushalts ist eindeutig Anne Bäbi und nicht Hansli die Schlüsselfigur. Der Wechsel des Titels verrät aber auch einen Wechsel der Methode. Der Untertitel und der erste Satz zeigen die Methodik des Texts. Der Untertitel „Wie Anne Bäbi haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht" wird im Vorwort näher erläutert. Da heißt es: „Da Haushalten und Doktern genau verbunden sind, eins im ändern sich spiegelt, so ist man erst dann imstande, ein Anne Bäbi in seinem Doktern zu fassen, wenn man es in seinem Haushalt zu ergründen
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Ebenda S. 319. Ebenda S. 317. EB 5, S. 243. Ebenda. Brief Nr. 105 an Johann Rudolf Schneider, Lützelflüh, den 22. April 1842 - ebenda, S. 217
Gotthelfs „Anne Bäbi Jo-wäger"
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vermag."17 An die Doktoren gerichtet, meint der Verfasser: „[...] wird sie des Verfassers Schwäche im Doktern vielfach lächern, so sind sie ihm vielleicht dankbar für das, was sie übers Haushalten von ihm lernen."18 Gemeint sind natürlich nicht die haushaltpraktischen Fähigkeiten, sondern die Interaktionsformen Anne Bäbis, die durch die Extremformen des Herrschens oder Beherrschtwerdens bestimmt sind. Gotthelf demonstriert hier Modellformen des Verhaltens, wie sie erst in unserem Jahrhundert durch die interaktionistische Psychologie und Kommunikationstheorie wissenschaftlich erfaßt wurden.19 Anne Bäbi hat entsprechend ihrem Charakter kein Vertrauen zum Arzt, der nur ein Diener der Natur sei. „Es glaube es, sagte es, der könne ihm nicht helfen, wenn er nur ein Diener vo dem Natur sei. [...] Aber zu einem Diener wolle es nicht mehr; es wolle zu einem, der die Sache selber verstehe und nicht bloß einem ändern der Knecht sei und noch dazu so ein unerkannter."20 So inszeniert sie alles „uf sy Gattig", bereit zu herrschen oder sich irrationalen Mächten, Kurpfuschern und Wahrsagern zu unterwerfen, aber unfähig, auf rationale Argumente einzugehen, nicht einmal auf die dringenden Bitten des Sohnes, der das ihm von der Mutter aufgedrängte Ziberlihoger-Lisi nicht heiraten will. Ihre Verweigerung jeder Kommunikation, ihre jedes Selbstgefühl vernichtende Haltung gegenüber dem Sohn äußert sich drastisch in der Antwort: „Was wollte sich e seilige, wie du bist, darauf verstehen!", worauf der Erzähler kommentiert: „So hatte Jakobli all sein Pulver verschossen und rein umsonst. Wie man Schuß um Schuß auf ein Rhinozeros schießen kann und noch mit groben Kugeln, und es gibt nicht einmal ein Dümpfi in der Haut, so hatte Jakobli alle seine Schüsse abgefeuert und kein einzig Dümpfi gemacht in Anne Bäbis Entschluß."21 Die Folgen sind entsprechend. Jakobli scheint einer Wahnvorstellung zu verfallen, er glaubt, wie er vom Ziberlihoger heimkehrt, in der Dämmerung den Teufel zu sehen, und erkennt schließlich im hellen Schein der Laterne seine Mutter. Darauf flüchtet er in die Krankheit. Alle Symptome verweisen auf eine durch die innere und äußere Situation bedingte Neurose. Da läuft Anne Bäbi wieder zum Kurpfuscher. Der Kurpfuscher heilt auch diesmal nicht, aber Gotthelf zeigt bei dieser Gelegenheit, wie der Kurpfuscher sich inszeniert, wie er Glauben schafft, wie er die Leute lange warten läßt, Kinder schroff abweist oder geduldig aufnimmt, wie er Gerüchte verbreitet, kurz, wie der Schein des Wunderbaren inszeniert und vervielfältigt wird. Gotthelf entwickelt hier eine raffinierte, psychologisch überlegte Leserstrategie. Er erinnert die Lesenden an eine Situation, die alle kennen, bezieht 17 18
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SW 5, S. 415. SW 5, S. 415. Siehe Watzlawick, Beavin, Jackson: Pragmatics of Human Communication. - Watzlawick, Weakland (Hrsg.): The Interactional View. SW 5, S.65. SW 5, S. 218.
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sie sofort ein: „Wie oft ists schon geschehen, daß man in sonderbaren Nächten, wenn in Ungewissem Licht die Welt schwimmt, einen Geist zu sehen glaubte in der Ferne, einen wunderbaren Geist, ob gut oder bös, wußte man nicht, aber daß er etwas Besonderes zu bedeuten hätte, das glaubte man. Man bebte und zitterte, nahete mit klopfendem Herzen sich. Aber der Geist schwieg, und, je mehr er schwieg, desto mehr klopfte das Herz, desto bedeutsamer, wichtiger erschien er."22 Gotthelf inszeniert mit allen Mitteln rhetorischer Kunst die Erscheinung eines Geistes, der sich schließlich als ein vom Mond beschienener Türlistock erweist. Er verwendet hier die Mittel rhetorischer Ritualisierung, die Werner Hahl so eindrücklich in positiv sakralisierender Funktion beschrieben hat; hier aber erscheinen sie in negativer entmythologisierender Funktion.23 Der Erzähler kommentiert abschließend: „Der Wundermann, von dem ich reden will, war aber doch nicht ganz so ein Türlistock, der keine Antwort gibt; der hatte ein Maul, und eben mit dem Maul wars, mit welchem er das Licht selbst machte, in welchem er als ein Wundermann erschien, während der Türlistock auf den Mond warten muß, um in apartigen Augen zum Geist zu werden."24 Solch apartige Augen hat Anne Bäbi, denn sie sieht und spürt nicht, was jede des Mitgefühls fähige Mutter von selbst wahrnehmen würde, daß ihr Sohn nicht die von ihr gewählte Tochter, sondern das arme Meyeli im Sinn hat. Sie muß sich dies von einer Wahrsagerin sagen lassen. Anne Bäbi läßt sich nicht ohne Widerstand und nicht ohne sanftmütige Überanpassung der Schwiegertochter zu halbwegs friedlicher Koexistenz herbei, läßt aber ihren in tödlicher Affenliebe verzärtelten Enkel sterben, da sie auch diesmal nicht den Arzt, sondern eine Mixtur des Pfuschers zuläßt. Der bekehrungssüchtige Vikar trifft Anne Bäbis Lebensnerv mit den Worten: „vielleicht lebte Euer Kind noch, wenn Ihr bekehrt gewesen."25 Darauf verfällt Anne Bäbi in eine schwere Depression, macht schließlich einen Selbstmordversuch, und dies gibt Gotthelf Anlaß zu einer psychologischen Sprachtheorie, die er schon im 1. Band exponiert hat, aber im 2. Band erweitert und vertieft.26 Er beschreibt Menschen, die plötzlich sich auf ein einziges Wort konzentrieren, nennt die, die durch ein einziges eiterndes Wort vergiftet sind, durch Worte, die sich wie mit Widerhaken einhängen, und stellt die Frage nach den Gründen solch reduzierter Fähigkeit sprachlicher Wahrnehmung und sprachlichen Verstehens. Er unterscheidet Wahnsinn, der sich menschlichem Verstand entzieht, Grenzfälle, die nicht wahnsinnig, aber durch Menschen nicht mehr 22
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SW 5, S. 240. Siehe Hahl: Jeremias Gotthelf - der „Dichter des Hauses", speziell den 3. Teil: „Die schwarze Spinne. Ritualisierung der Gottesfurcht beim Erzählen vom Haus für das Haus", S. 155-239. SW 5, S. 241. SW 6, S. 176. SW 5, S. 87-90, SW 6, S. 181-184.
Gottheiß „A nne Bäbi Jowäger "
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ansprechbar sind, und Menschen, die normal scheinen, aber einen beschränkten Horizont haben, konventionell erstarrte Lebensformen pflegen, nur wenige Leute sehen und nur in einem Milieu leben. Diese sind prädestiniert für selektive Wahrnehmung, gefährdet, alles auf sich zu beziehen, mit völlig unkontrollierten Affektausbrüchen zu reagieren, auf vernünftige Fragen nur mit der eigenen fixen Idee zu antworten. Zwar sagt er ausdrücklich: „Wie hoch einer auch begäbet sei und hervorragend in der Reihe der Geister, er bleibet dennoch untenan eines Gedankens Macht".27 Er gesteht aber doch demjenigen, der viel und beweglich denkt, eine gewisse Freiheit über die Gedanken zu. Umgekehrt ist natürlich der Nichtdenkende, in konventionellen Ritualen und begrenztem sozialem Kreis Lebende stärker gefährdet. Er verweist auf Eigenarten dieser Leute: sie begreifen nicht ganze Sätze, sondern konzentrieren sich auf einen Teilaspekt oder ein einzelnes Wort, das dann aber im Gedächtnis behalten und immer wieder repetiert wird. Anne Bäbi ist offensichtlich ein Exemplar dieser Gattung. Sie fühlt sich nicht nur schuldig am Tod des Kindes, sondern dank dem Vikar auch von Gott gerichtet. Mit dem Vikar und dem jungen Arzt Rudi stoßen unvereinbare Gegensätze aufeinander. Der alte Pfarrer wirft dem Vikar vor, nur die Seele, dem Arzt Rudi aber, nur den Leib im Auge zu haben: „Während er Platz haben will, um mit der Seele zu fechten ohne Rücksicht auf den Leib, hast du nur den Leib im Auge und willst dich eigenmächtig in den Alleinbesitz des Krankenbettes setzen."28 Während Vikar und Arzt eindeutige Grenzen ziehen, hält der alte Pfarrer dafür: „Wie man aber von der Seele des Menschen nicht sagen kann: .Siehe, hier ist sie!' oder: .Siehe, da ist sie!', sondern wie sie allenthalben ist in ihrer kleinen Welt, dem Leibe, so verschwimmen geistliche und leibliche Zustände ineinander."29 Man hat in der Sekundärliteratur den alten Pfarrer oft mit Gotthelf gleichgesetzt. Gewiß ist dieser Gotthelfs Position nahe. Die naive Gleichsetzung aber ist nur deshalb schon falsch, weil die Personenrede des Pfarrers und die auktoriale Rede des Textsubjekts nicht immer übereinstimmen. So werden z. B. Auslassungen des Pfarrers über seinen Vikar durch den auktorialen Einschub korrigiert: „Ungerecht war unser Pfarrer doch [...]."3° Hier wird die gegen jede dogmatische Fixierung gerichtete Tendenz des Texts deutlich, die keine der dargestellten Figuren ausnimmt, auch nicht die des Pfarrers. Aber auch der Doktor Rudi ist nicht einfach auf seine Theorie zu reduzieren. Seine konkrete Praxis im Falle Anne Bäbis und noch differenzierter im Falle Meyelis übertrifft seine Theorie. Er versteht es im Gegensatz zum Vikar, nicht nur auf die Sprache Anne Bäbis einzugehen und die Eigenart 27 28 29 30
SW 5, S. 87. SW 6, S. 230. SW 6, S. 254. SW 6, S. 213.
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ihrer Bedeutungskonstitution zu erfassen, sondern er begreift trotz seiner engeren naturwissenschaftlichen Einstellung ihre psychische Mentalität und begründet darauf seine Therapie. In weniger spektakulärer Art, aber mit sublimer Empathie spricht der Doktor mit dem allzu oft allzu sehr idealisierten Meyeli, das vorerst nicht sagen kann, was ihm fehlt. Der Psychiater Roland Kühn hat diese Gespräche eine „vorbildlich geführte Psychoanalyse" genannt.31 Meyeli gewinnt trotz des Wohlstands und aller äußeren Freiheit, die sie nun besitzt, als ursprünglich armes Mädchen nicht die innere Freiheit, sich zu nehmen, was sie braucht. Ihr Jakobli sieht das nicht und findet nicht die Worte, die nötig gewesen wären. Wie sollte er auch. Von seinem Vater wird gesagt, daß er, weil Anne Bäbi „die Kunst besaß, bei übler Laune an jeder Rede und jeder Handlung Anstoß zu nehmen, [...] sich sehr ausgebildet hatte in der Kunst, weder zu reden noch zu handeln".32 Kein Wunder, daß seinem Sohn Jakobli die Worte fehlen. Er wird sich dieses Mangels bewußt, ohne ihn beheben zu können. Schon kurz, nachdem er Meyeli kennengelernt hat und ihm die Worte der Werbung fehlen, wiederholt er still für sich: „Keys Wörtli gseit, keys Zeiche tan."33 Empathisches, einfühlendes Verstehen erfährt Meyeli einzig vom jungen Doktor. Gotthelf zeichnet diese Beziehung mit größter Dezenz und einem vieldeutigen Schluß. Er zeigt das weinende Meyeli am Grabe des Doktors: In trübem Nebel, trübem Sinnen wanderte es der Heimat zu. Es war ihm nicht, als ob ein Mensch ihm gestorben, sondern als ob ein Licht ihm untergegangen, und als ob es jetzt mit Jakobli und Kindern in dunklen Ängsten wandern müßte seinen Lebensweg. So ging es lange fort, achtete sich nicht Steg noch Weg, und niemand störte es in seinem Sinnen, es war, als wanderte es in einer ausgestorbenen Welt.34
Es kommt zum Pfarrhaus, sieht Sophie, die sie zu sich bringt. Sophie trauert um ihren Geliebten. Daß sie diese Liebe mit Meyeli teilt, wird nicht ausgesprochen, aber durch diesen Schluß zum mindesten zwischen den Zeilen deutlich. Dieser Schluß verrät sensible Virtuosität und macht deutlich, daß der Pfarrer von Lützelflüh in seinem Werk und durch sein Werk nicht nur alle dogmatischen, sondern auch moralische Grenzen sprengt und differenziertesten bewußten und unbewußten seelischen Prozessen Ausdruck zu geben versteht. So scheinen sich alle Perspektiven in Darstellung und Reflexion gegenseitig zu relativieren. Dennoch mag man sich fragen, ob nicht doch ein Perspektivpunkt auszumachen sei. Zwei Abschnitte kommen dafür in Frage, 31
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Kühn: Daseinsanalyse im psychotherapeutischen Gespräch, speziell S. 157ff. Vgl. auch die für Ärzte, Psychologen und Literaturwissenschaftler wichtige Studie des Psychiaters Wyrsch: Der Arzt in der Schau von Gotthelf. SW 6, S. 14. SW 5, S. 146. SW 6, S. 430.
Gotthelfs „Anne Bäbijowäger"
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ein auktorialer Verweis auf das Buch der Bibel und das Buch des Lebens und ein Exkurs im Gespräch des Pfarrers mit dem Arzt. Im Kapitel „Ein Vikari tut einen Fehlschuß" ist die Rede von der schon in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie, später bei Hamann, Herder und Jean Paul reichlich bezeugten Tradition der Metaphorik der zwei Bücher, des Buchs des Lebens resp. der Natur und des Buchs der Heiligen Schrift.35 Diese Tradition ist ja von Ernst Robert Curtius, von Erich Rothacker, von Friedrich Ohly, von Hans Blumenberg reichlich dokumentiert und kommentiert worden.36 Fraglich bleibt aber der präzise Stellenwert, den dieser Topos im Text Gotthelfs gewinnt. Das Buch des Lebens hat bei ihm nicht nur theologischen, sondern alle Wissenschaften und jede Praxis umfassenden Sinn. Man wird jedenfalls nicht mit der gleichen Entschiedenheit, wie dies noch für Hamann möglich ist, sagen können, daß die Bibel der Schlüssel für das Buch der Natur sei und erst dann das Buch der Natur auch als Kommentar der biblischen Offenbarung gelesen werden könne.37 Auch das Verständnis des Gotthelf wohlbekannten Herder entspricht Gotthelfs Sicht nicht im vollen Umfang. Herder betrachtet den biblischen Schöpfungsbericht zwar als historische Voraussetzung der Erklärung der Natur. In seiner, Herders, Zeit aber kann die Natur bis zu gewissen Grenzen auch kraft der Vernunft erforscht werden.38 Gotthelfs Position dürfte präzis die Mitte zwischen Hamann und Herder einnehmen, etwa so, wie Hagenbach dies im schon zitierten Text formuliert hat. Die Grenzen des Glaubens liegen in seiner Gefährdung durch einen von Vernunft und Wissenschaft nicht kontrollierten Mystizismus, der zur Magie entartet. Im schon genannten Exkurs aber geht es auch um die Grenzen der Wissenschaft: Immer lebendiger drängt sich als Ergebnis aller Forschung das Bewußtsein auf, daß durch das Sichtbare ein geheimes Unsichtbares sich ziehe, ein wunderbares Band die Menschen unter sich verknüpfe, auf unerklärliche Weise mit der Natur nicht nur sie in Verbindung bringe, sondern auch mit einer höhern Welt, daß zwischen den Gestaltungen der Materie und den Äußerungen aller Kräfte gegenseitige Einflüsse und Wirkungen stattfinden, von denen die Sinne nichts wahrnehmen, die man weder unter das anatomische Messer noch in den Schmelztiegeln der Chemie zersetzen kann."
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SW 6, S. 62-65. Curtius: Schrift- und Buchmetaphorik in der Weltliteratur; Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Kap. 16: Das Buch als Symbol, S. 306-352; Rothacker: Das .Buch der Natur'; Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt; Ohly: Das Buch der Natur bei Jean Paul; Herkommer: Buch der Schrift und Buch der Natur. - Siehe dazu auch im Beitrag von Pape („Ein Wort, das sich in seine Seele hakte") unten S. 137. Siehe zu Hamanns Verständnis von Schrift und Schöpfung Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie, speziell S. 223-224. Zu Herders Bestimmung des Verhältnisses von Schrift und Schöpfung siehe Frenz: Studien zu traditionellen Elementen des Geschichtsdenkens, speziell S. 249ff. SW 6, S. 261.
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Dieser Text könnte durch verschiedene Verfasser angeregt worden sein. Er erinnert an das 5. Buch des ersten Teils von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, besonders an das letzte 6. Kapitel „Der jetzige Zustand der Menschen ist wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweier Welten".40 Im 4. Kapitel des 5. Buches heißt es: „Wenn einst die Semiotik der Seele studirt werden wird, wie die Semiotik des Körpers, wird man in allen Krankheiten derselben ihre so eigne geistige Natur erkennen, daß die Schlüße der Materialisten wie Nebel vor der Sonne verschwinden werden."41 Gotthelf braucht den Terminus Semiotik nicht, ist aber zweifellos im Begriffe, sich diesem Doppelstudium zu nähern. Anregungen zu einer Anthropologie der Wechselwirkungen von Seele und Körper konnte er auch den ihm bekannten Werken des Königsberger Hirnforschers Karl Friedrich Burdach entnehmen. Er hatte 1837 eine Anthropologie für das gebildete Publikum und 1842 eine Comparative Psychologie herausgegeben. Seine Untersuchungen über den Mystizismus entsprechen weitgehend den Überlegungen, die Hagenbach in seinen kirchengeschichtlichen Vorlesungen anstellte.42 Selbstverständlich möchte ich damit nicht Abhängigkeiten behaupten, nur dokumentierte oder wahrscheinliche Anregungen nennen. Klar aber scheint mir, daß Gotthelf sein Anne Bäbi in einem weiteren Horizont philosophischer und theologischer Anthropologie gesehen und mit ihm eine poetische Anthropologie gestaltet hat. Gotthelfs Anne Bäbi wird so zum Medium einer doppelten Kritik, erstens einer Kritik an Kurpfuschereien und Scharlatanerie in Medizin und Seelsorge, die eine Allmacht beanspruchen, die ihnen nicht zukommt, und zweitens einer Kritik an einer partikulären, nur die Seele oder nur den Leib berücksichtigenden Wissenschaft, die sich ihrer Partikularität und Begrenztheit nicht bewußt ist und so die Menschen zu den Surrogaten der Pfuscher treibt. Der historische Anlaß hat Gotthelf nicht nur zur Darstellung von medizinischen Kalbereien und Weisheiten eines alten Pfarrers geführt. Er hat, was ihm bewußt war, die Psychologie eines Typus dargestellt, der aktuell war und weiterhin ist. Von solchen Anne Bäbis wimmelt die Welt, heißt es damals wie heute. Was Gotthelf noch nicht wissen konnte, war die prognostische Qualität seiner Dichtkunst, die psychische Prozesse beschrieb, die die Psychiatrie erst viel später zu diagnostizieren lernte, wie die Neurose 40 41 42
Herder: Sämmtliche Werke, Bd. 13, S. 194. Ebenda S. 187. Burdach: Der Mensch nach den verschiedenen Seiten seiner Natur. Anthropologie für das gebildete Publikum; über das Verhältnis von Vernunft und Gefühl und die Entstehung des Mystizismus und der Theosophie siehe speziell S. 393ff. Die Untersuchung der Anregung Gotthelfs durch Burdach verdiente eine selbständige Untersuchung, die ich in absehbarer Zeit vorzulegen hoffe. - Siehe auch Käser: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachigen Literatur, S. 96-149: „Diener der Natur oder Haushalter Gottes? Jeremias Gotthelfs Fragezeichen zur medizinischen Reform". Über das Verhältnis zu Burdach: S. 129-133. Siehe auch im Beitrag von Pape unten S. 145-146.
Gotthelfs „Anne Bäbi Jowäger"
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Jakobiis oder die Psychose, die Depression Anne Bäbis.43 Lange vor der Wissenschaft hat Gotthelf die Krankheit nicht nur als naturwissenschaftlichmedizinisches Problem gesehen, sondern die Frage nach dem Sinn und dem Ausdruck, nach der tieferen Bedeutung der Krankheit gestellt. Die Erkenntnis der Aufklärung und aller Wissenschaften in einer höheren christlichen Universalwissenschaft aufzuheben steht natürlich in romantisch-biedermeierlicher Tradition. Gewiß aber ist die Dialektik der Aufklärung, die er darstellt, auch in unserer Zeit in wieder anderer Weise aktuell, bei durchgehender Analogie der psychischen Prozesse, die er beschreibt. Seine sprachtheoretischen Reflexionen und die Gestaltung seiner Dialoge zeigen eine tiefe Erkenntnis der Strukturen pathologischer und gelingender Kommunikation. Sie ist durch die Gotthelf-Forschung noch nicht zur Kenntnis genommen worden, aber sie ist durch jeden Leser, jede Leserin mindestens intuitiv und zum Vorteil des eigenen Lebens zu erfahren.44 Keine von Gotthelfs Figuren ist aber mit dem Autor gleichzusetzen, auch wenn der Pfarrer von Gutmütigen Gotthelf näher ist als andere. Aber auch dieser Pfarrer oder gerade dieser Pfarrer ist eine Rollenfigur, von der sich der Schreibende mit Ironie und Humor absetzt. Gerade in Angelegenheiten des Glaubens und des Denkens wußte Gotthelf sehr wohl die Pfarrerrolle von seinen persönlichen Spekulationen zu unterscheiden. Dies wird von der Forschung allzu oft vernachlässigt. Wie Johann Peter Hebel ging Gotthelf als kluger Didaktiker und verantwortungsvoller Theologe auf einfache Gemüter ein. Er darf deshalb aber nicht auf allzu einfache oder gar dogmatische Raster reduziert werden. In aller Offenheit hat er Konflikte, die sich zwischen der Freiheit seines eigenen Denkens und seinen öffentlichen Rollen ergaben, in einem Brief an den Freund Burkhalter ausgesprochen.45 In dem Brief vom 27. Oktober 1840 schrieb er vom einfachen Volk, das nur Himmel und Hölle kenne, und meint, es wäre Sünde, „gegen den Prediger, wenn man von ihm fordern wollte, daß nun alles tot und amen in ihm sei und er dem Glauben und Ahnen andere Fesseln anlegen solle als die der Liebe und der Vernunft." Anderseits meint er aber auch:
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Siehe dazu Jenny: Zum 100. Gebunstag von Gotthelfs Anne Bäbi Jowäger und Wyrsch: Der Arzt in der Schau von Jeremias Gotthelf. Vgl. aber die in Anra. 31 verzeichneten Arbeiten und die sehr differenzierte Gesamtdarstellung von Cimaz: Jeremias Gotthelf (1797-1854): Le romancier et son temps, S. 349-414. Sie liegt nun in deutscher Übersetzung vor: Jeremias Gotthelf (1797-1854). Der Romancier und seine Zeit. Harms Peter Holl hat mir sowohl den Privatdruck von Pierre Cimaz wie sein Manuskript der Übersetzung zur Verfügung gestellt. Ich verdanke ihm und seiner Untersuchung „Gotthelf im Zeitgeflecht" wesentliche Anregungen. Gotthelf hat sich, durch seinen Freund, den Laientheologen und Philosophen Burkhalter, angeregt, mit mystischen Texten beschäftigt. Diese waren ihm auch in für einen protestantischen Theologen selten vorurteilsfreier Weise durch die kirchengeschichtlichen Vorlesungen Hagenbachs vertraut. Zu Burkhalter siehe Strasser: Ein Typus bernischer Frömmigkeit: Joseph Burkhalter.
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Peter Rusterholz Wäre es nun nicht Sünde, wenn ich mein gegenwärtiges Träumen auf die Kanzel brächte, vom Leben auf dem Jupiter spräche und wie wir immer ätherischer uns näherten vielleicht nach Jahrtausenden erst dem unsichtbaren Mittelpunkte, dem unendlichen Magnete, um den das All kreiset, wo Gott thronet, in der Fülle seiner Majestät?4*
Gotthelf hat Hagenbachs Erkenntnis leitende kirchengeschichtliche These, daß Gleichgewichtsstörungen von Vernunft und Gefühl die Wechselwirkungen von Kirchen und Sekten bestimmen, auf das Verhältnis von Medizin und Naturwissenschaft zu Kurpfuschern und Magiern übertragen. Im Frühjahr des Gotthelf-Jahres 1997 hat sich in den Vereinigten Staaten eine Kommune hochintellektueller Computer-Freaks mit Reiseproviant versorgt, zum Sterben niedergelegt, um, wie sie meinten, mit dem Kometen HaleBopp ins ewige Leben zu fahren. Die Gleichgewichtsstörungen von Glauben und Wissen in unserer Gesellschaft zeitigen andere Symptome als zu Gotthelfs Zeiten. Gotthelfs literarische Dialoge und sozialpsychologischen Analysen aber zeigen immer wieder neu ihre Aktualität in wechselndem historischen Kontext.
EB 5, S. 92.
Sven Aage Jergensen
Humor, Komik und Satire in der „Käserei in der Vehfreude" Der Nicht-Schweizer, der mit der Schwarzen Spinne anfängt - womit sonst? - und von da arglos zu Wie fünf Mädchen, die im Branntwein jämmerlich umkommen und Wie Uli der Knecht glücklich wird gelangt, erlebt künstlerische Kontraste, ja Diskrepanzen einer Autorschaft, die ihm nicht unmittelbar auflösbar scheinen. Aufgrund seines Leseerlebnisses wird er sich jedoch gestehen müssen, daß ihm hier ein Erzähler begegnet, der sich, wie schon Keller und andere Zeitgenossen schrieben,1 sehr wohl mit Charles Dickens vergleichen läßt, ihn in mancher Hinsicht übertrifft und thematisch und dichterisch weit interessanter ist als der von Engels, Unseld und Vaßen hochgejubelte Georg Weerth.2 Früher gab es eine Internationale vom Publikum gern gelesener Heimatschriftsteller, über die ein scheinbar müheloser Zugang zu Gotthelfs Werk auch für Ausländer möglich war. Die zahlreichen, mit biederen Intentionen publizierten Übersetzungen der £//i-Romane im 19. und im frühen 20. Jahrhunderts bezeugen es. In der heutigen Agrarwirtschafts- und Industriegesellschaft ist ein solcher Zugang nicht mehr möglich, und ein nostalgischer Zeitgenosse würde - in der Schweiz und im Ausland - durch eine Identifikation mit dem echten und rechten Bauern der Gotthelf-Verfilmungen den Weg zum Dichter zweifellos verfehlen. Wenn man ihn nicht - wie Walter Muschg3 es wollte - zu einem mythischen Dichter stilisieren will, könnte die von Bitzius selbst praktizierte Mischung von Distanz zu und Identifikation mit der damaligen Bauernwelt immer noch ein historisch zu reflektierender Weg sein. Muß er bei einer solchen Rezeption aber nicht immer noch ein Berner Heimatschriftsteller bleiben, oder gibt es einen allgemeineren, dem klassisch gewordenen Volksschriftsteller4 einigermaßen adäquaten Horizont, vor dem
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Keller in seiner Rezension der Erlebnisse eines Schuldenbauen. In Keller: Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 108. Vgl. dazu die umsichtige Erörterung dieser Rezension in Sengles Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 941. Weerth: Fragment eines Romans. Vorgestellt von Siegfried Unseld, S. 14 und 16; Vaßen: Georg Weerth. Ein politischer Dichter, und Jorgensen: Weerth und Gotthelf als Dichter des Proletariats. Muschg: Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers, S. 303. In seiner Besprechung der Uli-Romane erörtert Keller ausführlich, was denn ein Volksschriftsteller sei, für welches Publikum er schreibe usw. Das Verhältnis von dem Schichtenspezifischen und Lokalen zum Allgemeingültigen mußte dem realistischen Romancier poetologisch noch wichtiger sein, als es dem schriftstellernden Pfarrer war. Nach einem Vergleich mit Berthold Auerbach heißt es: „Ewig sich gleich bleibt nur das, was rein menschlich ist,
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Sven Aage Jergensen
er gesehen werden kann? Die Möglichkeit einer Rezeption, die nicht beim Lokalen oder gar Volkskundlichen haften bleibt, gewährleisten ähnliche historische Entwicklungstendenzen in vielen europäischen Ländern - so z. B. auch in Dänemark. Das Land blieb im 19. Jahrhundert ein Agrarland, in welchem die Landwirtschaft auf genossenschaftlicher Basis durch Verarbeitung und Verkauf landwirtschaftlicher Produkte rapide Fortschritte machte - unter anderem wurden viele Molkereien gegründet, die erst in diesen Jahren zugunsten von Aktiengesellschaften verschwinden. Diese Entwicklung wurde von Bauern getragen, die durch die vom Theologen und Volksaufklärer Nikolai Frederik Severin Grundtvig inspirierten Volkshochschulen gegangen waren. Sie hatten eine christlich-nationale, zu Anfang nationalromantische, aber nicht pietistische Erweckung erfahren und waren als politische Opposition gegen gebildetes Stadtbürgertum und Großgrundbesitz sehr aktiv; die liberale, fortschrittliche Bauernpartei konnte jedoch erst 1901 nach langen Kämpfen mit den Konservativen eine Regierung bilden, um die Macht schon nach dem Ersten Weltkrieg an die Arbeiterpartei abgeben zu müssen, die durch die Abwanderung der ärmeren Landbevölkerung in die Städte groß geworden war. Diese Migration ist abgeflaut, aber hat nicht völlig aufgehört. Ähnliche Entwicklungen gab es in den übrigen skandinavischen Ländern. Dies ist sozial-, mentalitäts- und literaturgeschichtlich jedenfalls für eine dänische Rezeption der Bauernromane Gotthelfs von Belang, denn aus diesem Grunde hatten fast alle Stadtbewohner bis nach dem Zweiten Weltkrieg Verwandte auf dem Lande, besuchten sie häufig und schickten ihre Kinder in den Schulferien aufs Land. Das Land konnte - wie eh und je in ganz Europa - Gegenbild zur Stadt werden, aber auf verschiedene Weise. Auf dem Lande erlebte ein Stadtkind einerseits immer noch die jedenfalls teilweise unberührte Natur, andererseits im Dorf auch eine politische Welt. Ihm konnten leicht dänische Bauernromane aus der Kampfzeit im 19. Jahrhundert in die Hände fallen, die das Leben des sich gegen die Unterdrückung durch das konservative Regime in der Hauptstadt wehrenden, freien Bauern priesen. Die Welt sah jedoch im 20. Jahrhundert anders aus. In der Hauptstadt saß keine konservative, sondern eine sozialdemokratische Regierung, und der Preis des freien Lebens auf dem Lande, der Unabhängigkeit auf eigener Scholle, leuchtete dem Stadtkind nicht immer unmittelbar ein.
und dies zur Geltung zu bringen ist bekanntlich die Aufgabe aller Poesie, also auch der Volkspoesie [...] Wenn die Bewohner der Bauernhütten erfahren, daß ihr Herz gerade auf die gleiche Weise schlägt wie das der feinen Leute; wenn sie sehen, daß ihre Liebe und ihr Haß, ihre Lust und ihr Leid so bedeutungsvoll ist wie die Leidenschaft der Prinzen und Grafen; [...] Dann wird es hoffentlich auch dahin kommen, daß es nur noch eine Poesie gibt." (Keller: Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 46-48.) Vgl. auch Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 899 zum Problem: „Was bedeutet .Volksschriftsteller' im Falle Gotthelfs?"
Humor, Komik und Satire in der „Die Käserei in der Vehfreude"
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Da die städtischen Wohnbezirke recht homogen waren, und einem Kinde die Stratifikation in der Arbeitswelt verborgen blieb, entdeckte es erst auf dem Lande das differenzierte Sozialgefuge oder deutlicher: die soziale Hierarchie. Die unterschiedliche Größe der Höfe, die wechselnde Zahl der Kühe, der Pferde und der Knechte waren nicht zu übersehen und erklärten soziale Abstufungen, die unter Verwandten und Bekannten offen und selbstverständlich zutage traten. Auch die Einstufung des Tierarztes, des Schullehrers und des Briefträgers, vor allem der offenbar erhabene Status des Pfarrers, mit dem man sonntags nach dem Gottesdienst ein paar Worte wechselte, gaben Anlaß zu Betrachtungen - ganz zu schweigen von der Beobachtung, daß auf gewissen Höfen der Bauer beim Essen nicht am Tischende saß, sondern in einer anderen Stube speiste. Aus dieser Perspektive konnten die frühen sozialkritischen Romane Gotthelfs5 ein Stadtkind fesseln, weil sie in seinen .fremden' Augen nicht nur in eine schweizerische Bauerngemeinde, sondern in die fest strukturierte bäuerliche Welt überhaupt hineinleuchteten. So grell wie im Bauernspiegel und in den Leiden und Freuden eines Schulmeisters waren die Verhältnisse im 20. Jahrhundert zwar nicht mehr, aber der Aufstieg, der in dem selbstverständlich auch ins Dänische übersetzten Roman Uli der Knecht so eindringlich und pädagogisch geschildert wird, schien dem Kind angesichts der Behausung der dänischen Knechte und ihrer Entlohnung genau so unvorstellbar wie dem fluchenden Hudel Uli. Das Stadtkind konnte das Gefühl der Unabhängigkeit seiner auf guten Höfen sitzenden Verwandten angesichts des vom Staat besoldeten Pfarrers und des von der Gemeinde besoldeten Schulmeisters sowie ihren Bauernstolz auf ihre Kühe und schöne Pferde sehr wohl, aber mit einer gewissen Irritation nachempfinden, denn diesem Bauernstolz war sehr oft ein Gefühl der moralischen Überlegenheit gegenüber der unfreien und zugleich ausbeuterischen Hauptstadt beigemischt, in der die Arbeitslosen vom Fleiß der Bauern zehrten. In ihrer Selbsteinschätzung konnten sich die dänischen Bauern durchaus mit den Emmentalern messen und hätten gegen die Auffassung Gotthelfs, die Keller ihm in die Schuhe schiebt, nicht protestiert, daß der Staat nämlich, wenn alles recht läuft, „aus alten christlichen Bauerndynastien besteht, die solange auf ihren fetten Höfen sitzen dürfen, als sie Christum bekennen. Tun sie dies nicht mehr, so kommen sie um Haus und Hof." Nur das Adjektiv „Berner " hätte sie bewegen, Kellers kritischer Bemerkung zuzustimmen: „Es steht indessen kein Wort im Evangelium davon, daß der rechte Christ ein reicher Berner Bauer sein müsse."6 Auf der Höhe seines Schaffens, aber auch mitten in bitterer politischer Polemik werden die schönen und idyllischen, preisenden, polemischen und
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Vgl. J0rgensen: Gotthelfs sozialkritische Romane. Keller: Sämtliche "Werke, Bd. 22, S. 100 (Besprechung von Zeitgeist und Berner Geist).
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zornig strafenden Schilderungen des Bauernlebens durch ein Werk unterbrochen, das, wie Muschg7 schreibt, in seinem Humor und in seiner Ausgelassenheit an das sechzehnte Jahrhundert erinnert: Die Käserei in der Vehfreude (1849). Der realistische Verklärung verlangende und gelegentlich etwas prüde Keller meint, daß diese zu sehr im Volkston geschriebene Geschichte über Käse und Liebe eigentlich nur für Berner verständlich sei, und fragt außerdem nach dem intendierten Publikum, das sich für die auch deutsche Verhältnisse treffende politische Satire interessiert.8 Die Frage scheint mir auch von Kellers eigener Position ausgehend - schief gestellt. Der Roman schildert zwar die bäuerliche Welt des Kantons Bern, aber von Anfang an unter einer Perspektive, die keineswegs bloß bernerisch, geschweige denn bäuerlich ist. Eine Perspektive von außen, ja eigentlich auch von oben wird sofort etabliert, indem der gebildete Erzähler sich quasi vom Himmelsraum aus dem Ort der Handlung nähert und bald mit von Demagogen besetzten Kometen, bald mit dem lüsternen alten Jupiter operiert, der von oben keine schönen Quellnymphen, sondern lauter breite, ihn weniger ansprechende Bauernrücken entdeckt. An den schwerfälligen Männern, von denen einige an den Hüten lüpften, als ob es zweizentnerige Käse wären, geht der Pfarrer vorbei und aus der Geschichte hinaus - aber seine Perspektive bleibt. Die Geschichte wird ganz eindeutig von einem Erzähler berichtet, der das Dorf genau kennt, aber nicht zu ihm gehört und sich im Kapitel 12' mit dem gebildeten Leser über Autorennöte eingehend und selbstironisch unterhält und so ganz deutlich an einen dem damaligen Publikum wohlbekannten, schriftstellernden Emmentaler Pfarrherrn erinnert. Ausgangspunkt der Geschichte ist, daß die behäbigen Bauern den höchstnötigen, von der Obrigkeit geforderten Bau einer neuen Schule aus Bauernstolz und Starrsinn verweigern, was in den frühen Romanen zu scharfer Kritik an der kurzsichtigen und knauserigen Gemeinde geführt hätte. In der Bauernwelt hat sich überhaupt nichts geändert, und auch der Pfarrherr bleibt seinem Amte treu. Er setzt sich immer noch für die Schule ein, obwohl er weder die radikale Obrigkeit noch den Schulmeister mag. Das neue Schulhaus wird jedoch vom Erzähler bald vergessen. An der Einrichtung einer Käserei und dem Bau einer Käshütte wird allerdings Kri7 8
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Muschg: Gottthelf. Die Geheimnisse des Erzählers, S. 430-432. Keller: Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 74-75: „aber vor allem fehlen auch Schweinestall und Abtritt nicht, und besonders in der .Käserei' ist soviel von dem animalischen Verdauungsund Sekretionsprozeß die Rede, daß der verzärtelte Leser mehr als einmal unwillkürlich das Taschentuch an die Nase führt, insonderlich wenn er hinter der nordischen Teetasse sitzt, deren gern gesehene Zierde Jeremias Gotthelf gegenwärtig zu sein scheint. [...] In .Die Käserei in der Vehfreude', welche nur von Bernern ganz deutlich gelesen werden kann und wo es sich nur um Käs und Liebe handelt, wird wenigstens ein halbes dutzendmal auf das Frankfurter Parlament gestichelt." SW 12, S. 169f.
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tik geübt und grün-konservativ an die schlimmen Folgen für „die Bande zwischen Menschen und Vieh",10 zwischen dem Bauern und seinen nunmehr zu bloßen Wirtschaftsobjekten reduzierten Kühen erinnert. Geradezu katastrophal wirken sich die mit der Käserei notwendig verbundene Intensivhaltung und Produktionsmaximierung im bäuerlichen Haushalt aus; die selbständige Stellung der Bäuerin, die für die Milchwirtschaft zuständig war, ist hin; sie muß am täglichen und festlichen Essen sparen und mit dem milden Abmessen von Milch an arme Leute aufhören. Aber diese Kritik wird sehr bald vergessen, obwohl die Käserei anders als der Schulbau das Hauptthema bleibt. Allerdings spielt der wühlerische Schulmeister am Rande eine Rolle, im letzten Kapitel eine noch erbärmlichere als im ersten Kapitel. Er ist ein sich anbiedernder Außenseiter, der eine Pädagogik ohne moralisches Leitbild vertritt und einen religionsfeindlichen Radikalismus in die Gemeinde hineintragen möchte. Das Ergebnis seiner Erziehungsprinzipien ist ein Giftzwerg und angehender Volksverführer, der mit hinterlistigen Mitteln den Streit in der Gemeinde auf die Spitze treibt. Dieser Schützling des Schullehrers wird schließlich, anders als die boshafte Frau Eisi, der er hilft, isoliert, ja aus der Gemeinde regelrecht weggeprügelt, weil der Schulmeister als moderner und standesbewußter Pädagoge eine von ihm zu vollziehende, einmalige Abstrafung selbstverständlich ablehnt. Der kollektive Handlungsstrang konzentriert sich auf die Käserei, die die Bauern einrichten um zu zeigen, daß sie eine neue Schule sehr wohl hätten zahlen können, wenn sie es nur gewollt hätten. Die Handlung wird von der starrsinnigen bäuerlichen Dorfgemeinschaft getragen, die auf eine moralische Herausforderung von außerhalb der Gemeinde falsch reagiert, jedoch keineswegs wegen ihrer Vernachlässigung der Erziehung der Kinder von scharfer Satire getroffen wird. Erstes Objekt der strafenden Satire und einer heftigen Polemik ist vielmehr die politische Welt außerhalb des Dorfes, die sich vornehmlich in der niederträchtigen Gestalt des Eglihannes in das konservative, ja aristokratisch gelenkte Dorf Eingang verschafft hat. Dieser Schurke ist natürlich ursprünglich auch Pädagoge, ist danach Schreiber geworden und hat sich schließlich ein politisches Amt ergattert. Er ist „in keinem eigentlichen Hause daheim, sondern soviel als, wie man zu sagen pflegt, auf der Gasse auferzogen. Sein Vermögen hatte er erweibet oder sonst erworben",11 heißt es mit vernichtender Schärfe aus der Perspektive der alteingesessenen Bauernaristokratie, mit der sich der Erzähler hier identifiziert. Nach einer Unterbrechung seiner politischen Laufbahn hat er den vom Volkswitz Saubrunnen genannten Hof gekauft und besitzt somit, obwohl kein Bürger, bestimmte Rechte in der Gemeinde. Er ist streitsüchtig, 10
SW 12, S. 68.
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SW12,S.255f.
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Sven Aage Jergensen
betrügerisch, versoffen und vor allem ein Fremder, der bei allen Streitigkeiten kräftig mitwirkt. Durch diesen Vertreter eines boshaften, verdorbenen, aber eben überregionalen Radikalismus entlastet Gotthelf die Dorfgemeinschaft; ernste soziale oder politische Probleme gibt es nicht - der Schuldenbauer auf dem Nägeliboden kommt durch Sparsamkeit hoch, der Dürluftbauer muß für das Schlemmen seiner Frau büßen und in Zukunft kärger leben, aber die echte Bauernexistenz ist nach Gotthelf im Kern apolitisch, weil das rechte Dorfleben von uralten und einfachen hierarchischen Strukturen getragen wird. Und dem Gattungscharakter des Buches entsprechend ist es hier fast areligiös: der Glaube ist kein Thema, nur der Aberglaube. Polemisiert wird natürlich auch gegen die Ungläubigkeit von draußen. Es gibt deshalb im Dorf die ewigen menschlichen Laster: Neid, Mißgunst, Stolz, Streitbarkeit, Klatsch, Schlemmerei, grobe Sinnlichkeit und Eifersucht. Das wirklich Boshafte innerhalb der Gemeinde tritt jedoch nur in der Form des Aberglaubens auf - in der Gestalt der Dürlufteisi. Sie glaubt nicht nur wie die meisten Bauernweiber an Hexerei, sondern will die Nägelibäuerin totbeten, mit magischen Praktiken Gott zwingen, ihre Feindin zu töten. Sie fliegt durch das handfeste Eingreifen des als Teufel verkleideten Nägelibauern in die Mistgrube und hört aus Furcht vor dem Teufel, nicht aus Gottesfurcht mit dem Totbeten auf. Kein Pfarrer, sondern ein Bauer in der Gemeinde tritt gegen den törichten Aberglauben auf, dessen Wurzeln Gotthelf in der überall in der Schweiz um sich greifenden Entchristlichung findet; das Christentum, nicht die Aufklärung hat den naturwüchsigen, krassen Aberglauben zwar unterdrücken, aber nicht ausrotten können. Der Erzähler spottet deshalb über die naiv-aufgeklärten Erklärungen des Hexenglaubens, die ein Volksfremder, „der nach Futter für ein Buch die Welt durchschnürfelt",12 geben wird. Die Handlung schließt sich auch hier gegen die Einmischung von außen und oben ab, und Eisi wird trotz aller boshaften Intrigen von der Dorfgemeinschaft nicht ausgestoßen. Ihr Mann wird als ein wohlgelittener halber Trottel gehänselt, weil er seine Frau nicht zu zähmen weiß; sie wird am Ende gedemütigt, von den Gemeindeältesten „gehetzt, wie man Kaninchen mit jungen Hunden [...] jagt"13, aber auch als immer schmähende weibliche Thersitesgestalt gehört sie zur Gemeinde, besitzt nur in gesteigertem Maße die allgemeinen Fehler des .Weibervolks', die der Erzähler besonders vergnüglich aufs Korn nimmt. In der Forschung ist mehrmals auf charakteristische Züge dieser launigen Satire hingewiesen worden, von denen sich die schärfer zielende politische Satire des Buches unterscheidet. Sie nimmt vor allem die traditionell dem
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SW 12, S. 89. SW 12, S. 486.
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weiblichen Geschlecht als solchem zugeschriebenen unausrottbaren Untugenden aufs Korn. Es dreht sich deshalb, läßt der Erzähler deutlich verstehen, um eine Mohrenwäsche, und er mustert diese Fehler nie mit der juvenalischen saeva indignatio. Das Weibervolk ist ein Kollektiv, das ähnlich wie die Tiere triebhaft handelt: „Es kam die Zeit, wo die Schneegänse wandern und die Meitscheni zMärit laufen, diese angeblich nach warmen Strümpfen, jene nach einem wärmeren Land, jedenfalls beide nach etwas Warmem."14 „[...] kaum aus dem Ei, sind sie bubig", wie die Nägelibäuerin in ihrem Zorn sagt,15 und noch dazu eitel; „Die Weiber samt und sonders, von Stüdi weg bis zur Viktoria, halten sich für makellose Göttinnen, welche unbedingt angebetet sein wollen, von ihren Männern wenigstens. Daher kommt es, daß man unter den Weibern mehr Göttinnen findet als Christinnen. Das kommt eben von der Eva her, welche Gott gleich werden wollte."16 Es gibt Belege genug, um Gotthelf vor ein feministisches Tribunal zu zitieren. Solch verallgemeinernde Züge gehören jedoch zur Gattung der Ständeund Geschlechtersatire. Die Bauern sind nicht Hauptziel der Satire, kommen aber nicht besser weg als die Bäuerinnen. Sie sind sämtlich schwerfällig, fast alle moralisch dickhäutig und bei den Beratungen über den Bau der Käshütte von ihren Frauen abhängig: „Es war jeder Mann eigentlich nur das Mundloch seiner Frau und hatte seine bestimmten Instruktionen, und kam etwas Neues, so durfte er es nichts anders als ad referendum nehmen und seinem Weibe vortragen."17 Es hilft ihnen letzten Endes aber wenig. Die Männer müssen trotz oder gerade wegen ihrer mißtrauischen Bauernschläue beim Käsemachen und Käseverkaufen viele nicht leicht zu verkraftende Niederlagen erleben. Das städtische Publikum des Bauernromans darf jedoch die satirisierten Streitigkeiten und Liebesgeschichten im Dorf keineswegs als komische Varianten ästhetisch vollgültiger Konflikte lesen. Prinzipiell stellt Gotthelf auch in dieser Satire dieselben Ansprüche an den gebildeten Leser wie Keller schon in der Titelgebung seiner Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfs. In dem Vorwort heißt es: In den tiefern Schichten der Gesellschaft und der Geschäfte entsteht und wickelt die Geschichte sich ab [...]· Ich möchte Erkenntnis bringen, daß das Leben der Luft gleicht; oben und unten ist die gleiche Luft, nur oben und unten ein wenig anders, gröber oder feiner gemischt; daß von Natur in sittlicher Beziehung Menschen sich viel näher stehen, als man ihrem Äußern nach glauben sollte. Ich möchte zeigen, daß Schattenseite und
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SW 12, S. 348. SW 12, S. 467. SW 12, S. 41f. SW 12, S. 37.
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Sven Aage Jerrgensen Sonnenseite im menschlichen Leben nicht von äußern Umständen, sondern von etwas Höherem abhängen."
Der Abstand des Erzählers und seiner Leser zu den „tiefern Schichten" wird also sofort thematisiert, zugleich aber die Nähe betont. Es herrscht gegenüber dem „Groben" anders als dem „Feinen" eine meist wohlwollende Ironie, die zum oft besprochenen ,Homerisieren