Erster Alkibiades: Übersetzung und Kommentar 9783666304385, 9783525304389


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Erster Alkibiades: Übersetzung und Kommentar
 9783666304385, 9783525304389

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PLATON Werke Übersetzung und Kommentar

Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz herausgegeben von Ernst Heitsch, Carl Werner Müller und Kurt Sier

IV 1 Erster Alkibiades

Vandenhoeck & Ruprecht

PLATON Erster Alkibiades

Übersetzung und Kommentar von Klaus Döring

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30438-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Gesamtherstellung:

Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gliederung des Textes und der Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Appendizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Sokrates und Alkibiades in den Dialogen der Sokratiker . . . 149 2. Zur Frage der Echtheit des Ersten Alkibiades . . . . . . . . . . . . . 164 3. Zum griechischen Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare . . . . . . . . . . 175 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Corpus Platonicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Andere antike Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Personen-, Götter- und Heroennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3. Wörter und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Vorwort

1809 erklärte Friedrich Schleiermacher den Ersten Alkibiades in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Dialogs für unecht. Sein Verdam­ mungsurteil entfaltete eine beträchtliche Wirkung. Der Dialog galt seit­ dem lange Zeit weithin als unecht und erfreute sich deshalb im Allge­ meinen nur mäßiger Wertschätzung. Daran änderte auch Paul Friedlän­ ders engagierte Fürsprache für die Echtheit des Dialogs wenig.1 Zwar beschäftigte man sich immer wieder mit einigen Einzelproblemen wie den Fragen, ob die Beschreibung der Wirkungsweise des Daimonions des Sokrates im Ersten Alkibiades mit den Beschreibungen in den sicher echten Dialogen Platons vereinbar ist, was mit „dem Selbst selbst“ (αὐτὸ τὸ αὐτό, 129b1 und 130d4) gemeint ist, wie der Hinweis auf Gott in dem Vergleich des Sich-selbst-Erkennens mit dem Sich-selbstSehen zu verstehen ist (133c4–6) und ob die allein in der sekundären Überlieferung erhaltenen Zeilen 133c8–17 zum ursprünglichen Text gehören oder nicht, eine systematische Gesamtinterpretation hat der Dialog jedoch bisher, soweit ich sehe, nie erfahren. Immerhin sind in letzter Zeit zwei Kommentare zum Ersten Alkibiades erschienen.2 Was die Echtheitsfrage betrifft, kommen die Verfasser beider Kommentare zu dem Schluss, dass die Argumente, die für die Unechtheit des Dialogs vorgebracht worden sind, nicht ausreichen, um ihn Platon abzusprechen. Zu der gleichen Auffassung bin auch ich im Laufe meiner Beschäfti­ gung mit dem Dialog gelangt (vgl. Appendix 2). Zur Übersetzung sei Folgendes angemerkt: Für einige für die Beweis­ führung in dem Dialog wichtige griechische Wörter wie die Wörter aretē (ἀρετή), sophos (σοφός) und technē (τέχνη) gibt es im Deut­ schen keine Äquivalente, die ein vergleichbar breites Bedeutungsspek­ trum haben. Um die einzelnen Argumentationen und die Argumentation im Gesamtverlauf des Dialogs, die auf der Konstanz dieser Wörter basieren, adäquat nachzubilden, habe ich diese Wörter stets mit einem 1

Friedländer 1921 und 1923. Johnson 1996 und Denyer 2001. Beide Kommentare habe ich dankbar benutzt. Ganz beson­ ders gilt dies für den so gut wie unbekannten reichhaltigen Kommentar von Johnson. 2

8

Vorwort

und demselben deutschen Wort übersetzt (aretē = Tüchtigkeit, sophos = wissend, technē = Fachwissen) und dabei in Kauf genommen, dass die Übersetzung dadurch bisweilen sprachlich etwas gekünstelt wirkt.3 In zwei Fällen (polis, Plural poleis, und aulos) habe ich griechische Wörter in die Übersetzung und den Kommentar übernommen, weil sie Dinge bezeichnen, die es so nur in der Antike gab.4 Um den Kommentar auch für Benutzer ohne griechische Sprach­ kenntnisse durchgehend lesbar zu machen, habe ich griechische Wörter, wo sie in den Text integriert und nicht nur als verdeutlichende Zutat in Klammern hinzugefügt sind, transkribiert. Dies gilt nicht für die Anmer­ kungen. Hier sind griechische Sprachkenntnisse des Öfteren unverzicht­ bar. Und noch drei praktische Hinweise: 1. Schriftentitel, die ohne den Namen eines Autors zitiert werden, beziehen sich immer auf Schriften des Corpus Platonicum . 2. Die Zeilenangaben beziehen sich auf Bur­ nets Textausgabe des Ersten Alkibiades in der Reihe der „Oxford Classi­ cal Texts“ (Burnet 1901), weil diese die am weitesten verbreitete ist. Da die Zeilen in der maßgeblichen, aber nur wenig verbreiteten Textaus­ gabe von Carlini kürzer sind (Carlini 1964), stimmen sie mit denen bei Burnet nicht genau überein. 3. Die von mir benutzten Abkürzungen für Autorennamen und Schriftentitel lehnen sich an die im „Neuen Pauly“ benutzten Abkürzungen an (DNP 1, XXXIX–XLVII). Gewidmet ist das Buch dem Andenken unseres Sohnes Fritz Christian (1979–2007). Freiburg, Mai 2015

3 4

Vgl. dazu S. 115–116 und Anm. 103. Vgl. Anm. 55 und 52.

ÜBERSETZUNG

ERSTER ALKIBIADES Sokrates und Alkibiades

SO. Sohn des Kleinias, ich glaube, du wunderst dich, dass ich als dein erster Liebhaber mich jetzt, nachdem alle Schluss gemacht haben, als einziger nicht von dir abwende und dass die anderen dir mit ihren Gesprächen zur Last fielen, ich dich dagegen während so vieler Jahre nicht einmal überhaupt nur angesprochen habe. Die Ursache dafür war nicht ein menschliches, sondern ein gewisses dämonisches Hindernis; wie es wirkt, wirst du später erfahren. Nachdem es jetzt keinen Wider­ b stand mehr leistet, bin ich an dich herangetreten, und ich bin zuversicht­ lich, dass es auch künftig keinen Widerstand mehr leisten wird. Wäh­ rend dieser Zeit nun habe ich dich beobachtet und dabei ziemlich genau wahrgenommen, wie du dich deinen Liebhabern gegenüber verhieltest: So zahlreich und stolz sie auch waren, haben sie doch alle ohne Aus­ nahme, von deinem Selbstbewusstsein bezwungen, vor dir die Flucht 104a ergriffen. Den Grund, weswegen du dich so hochmütig gebärdet hast, will ich dir darlegen. Du behauptest, du hättest keinen einzigen Men­ schen für irgendetwas nötig, denn die Vorzüge, über die du verfügst, seien so groß, dass du nichts brauchtest, vom Körper angefangen bis zur Seele. Du glaubst nämlich offenkundig, erstens der Schönste und Statt­ lichste zu sein – und was dies betrifft, kann jedermann sehen, dass du nicht lügst – und zweitens aus dem tatkräftigsten Geschlecht in deiner Polis zu stammen,5 die ihrerseits die größte unter den griechischen b Poleis ist, und hier von der Seite deines Vaters her sehr viele herausra­ gende Freunde und Verwandte zu haben, die dir, falls erforderlich, bei­ stehen würden, und von der Seite deiner Mutter her mindestens ebenso viele und ebenso bedeutende. Als noch stärkere Kraft aber als alle die, von denen ich gerade gesprochen habe, stützt dich, wie du glaubst, Perikles, der Sohn des Xanthippos, den dein Vater testamentarisch als Vormund für dich und deinen Bruder einsetzte. Er hat nicht nur in dieser 103a

5

Alkibiades stammte mütterlicherseits aus dem berühmten Geschlecht der Alkmaioniden.

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c

d

e

105a

Übersetzung

Polis die Macht zu tun, was immer er will, sondern in ganz Griechen­ land und bei vielen großen Stämmen der Barbaren. Ich will noch hinzu­ fügen, dass du auch zu den Reichen gehörst; allerdings scheint mir, dass du dir darauf am wenigsten etwas zugutehältst. Voller Stolz auf alles dies hast du deine Liebhaber unter deine Gewalt gebracht, und sie haben sich, weil dir unterlegen, unter deine Gewalt bringen lassen, und das ist dir nicht entgangen. Daher weiß ich sehr gut, dass du dich verwundert fragst, welche Absicht ich denn wohl damit verfolge, dass ich nicht von meiner Liebe ablasse, und welche Hoffnung ich habe, wenn ich aus­ harre, nachdem die anderen die Flucht ergriffen haben. ALK. So ist es, und vermutlich weißt du nicht, Sokrates, dass du mir nur ein bisschen zuvorgekommen bist. Ich hatte nämlich im Sinn, mei­ nerseits als erster an dich heranzutreten und dich eben danach zu fragen, was du denn wohl beabsichtigst und was für eine Hoffnung du vor Augen hast, wenn du mich nicht in Ruhe lässt, indem du stets mit größtem Eifer ebendort zugegen bist, wo ich mich aufhalte. Denn in der Tat frage ich mich, was du denn da treibst, und sehr gerne würde ich das erfahren. SO. Voraussichtlich wirst du mir also bereitwillig zuhören, wenn du wirklich, wie du sagst, wissen möchtest, was ich beabsichtige, und ich kann, wenn ich mit dir rede, davon ausgehen, dass du zuhören und geduldig ausharren wirst? ALK. Ganz gewiss. Rede nur. SO. Nimm dich also in Acht. Es wäre nämlich nicht verwunderlich, wenn ich, wie ich Schwierigkeiten damit hatte zu beginnen, so auch Schwierigkeiten damit haben sollte aufzuhören. ALK. Rede, mein Guter, ich werde zuhören. SO. Dann muss ich wohl reden. Zwar ist es schwierig für einen Lieb­ haber, mit einem Mann umzugehen, der sich seinen Liebhabern nicht fügt, dennoch muss ich es wagen darzutun, was ich denke. Sähe ich nämlich, Alkibiades, dass du mit den Lebensumständen zufrieden bist, die ich gerade beschrieben habe, und dass du glaubst, du solltest dein Leben in diesem Rahmen verbringen, dann hätte ich von meiner Liebe längst abgelassen, davon bin ich fest überzeugt. Jetzt aber will ich dir deine ganz anderen Absichten ins Gesicht sagen, woran du auch erken­ nen wirst, dass ich dich fortwährend beobachtet habe. Es scheint mir nämlich so zu sein: Angenommen, einer der Götter sagte zu dir: „Alki­ biades, willst du mit dem leben, was du jetzt hast, oder auf der Stelle tot sein, wenn es dir nicht möglich sein wird, noch Größeres zu erwerben?“, dann würdest du es, glaube ich, vorziehen tot zu sein. Ich will aber jetzt dartun, was für eine Hoffnung es ist, die dich am Leben erhält. Du glaubst, du könntest, sobald du vor das Volk der Athener trittst – das

Übersetzung b

c

d

e

106a

13

aber werde in sehr wenigen Tagen der Fall sein –, sobald du also vor sie trittst, den Athenern klarmachen, dass du einen Anspruch darauf hast, geehrt zu werden wie weder Perikles noch irgendein anderer von denen, die jemals gelebt haben, und wenn du ihnen dies klargemacht hättest, würdest du den allergrößten Einfluss in der Polis haben; seiest du aber hier der Mächtigste, seiest du dies auch bei den anderen Griechen und nicht nur bei den Griechen, sondern auch bei den Barbaren, soweit sie in demselben Erdteil wie wir wohnen. Und wenn derselbe Gott wiederum zu dir sagte, deine Macht müsse hier auf Europa beschränkt bleiben und es werde dir nicht erlaubt sein, nach Asien überzusetzen und die Dinge dort anzupacken, dann wärest du, glaube ich, genauso wenig bereit, allein unter dieser Bedingung weiterzuleben, solltest du nicht so gut wie alle Menschen mit dem Ruhm deines Namens und deiner Macht erfüllen können. Und ich glaube, du meinst, außer Kyros und Xerxes6 habe es keinen einzigen namhaften Menschen gegeben. Dass du in der Tat diese Hoffnung hegst, das weiß ich genau und vermute es nicht nur. Vielleicht könntest du nun in dem Wissen, dass ich die Wahrheit sage, entgegnen: „Was hat dies, Sokrates, mit jener Bemerkung zu tun, die du darüber gemacht hast, warum du nicht von mir ablässt?“ Ich will es dir sagen, mein lieber Sohn des Kleinias und der Deinomache: Ohne mich ist es für dich unmöglich, alle diese Absichten zu verwirklichen; eine so große Macht glaube ich über deine Angelegenheiten und dich zu haben. Des­ halb gestattete mir der Gott, glaube ich, auch so lange nicht, Gespräche mit dir zu führen, und ich habe darauf gewartet, wann er es gestatten würde. Denn wie du Hoffnungen hegst, vor unserer Polis klarzumachen, dass du für sie von unschätzbarem Wert bist, und, nachdem du dies klar­ gemacht hast, augenblicklich alles und jedes vollbringen zu können, so hoffe auch ich, bei dir sehr Großes vollbringen zu können, nachdem ich klargemacht habe, dass ich für dich von unschätzbarem Wert bin und dass weder ein Vormund noch ein Verwandter noch irgendein ande­ rer fähig ist, dir die Macht zu vermitteln, nach der du strebst, außer mir, mit Gottes Hilfe selbstverständlich. Solange du nun noch jünger und noch nicht von so großer Hoffnung erfüllt warst, ließ der Gott das Gespräch mit dir, wie mir scheint, nicht zu, damit ich nicht umsonst mit dir spräche. Jetzt aber hat er es gestattet, denn jetzt wirst du mich wohl anhören. ALK. Noch viel sonderbarer erscheinst du mir jetzt, Sokrates, nach­ 6 Kyros „der Große“ (gest. 520), der Begründer des Perserreiches, und Xerxes (gest. 463) wer­ den als absolute Herrscher des größten Reiches der damaligen Zeit genannt. Dass Xerxes bei sei­ nem Versuch, sich Griechenland zu unterwerfen, schmachvoll scheiterte (Niederlagen bei Salamis 480 und Plataiai 479), blendet Sokrates geflissentlich aus.

14

Übersetzung

dem du zu sprechen begonnen hast, als zuvor, als du mir schweigend folgtest, und doch kamst du mir auch damals schon sehr so vor. Ob ich nun diese Dinge tatsächlich beabsichtige oder nicht, das hast du, wie es scheint, schon entschieden, und wenn ich es bestreite, wird mir dies nichts dabei helfen, dich zu überzeugen. Doch sei dem, wie ihm sei. Sollte ich diese Dinge also noch so sehr beabsichtigt haben, wie wird ihre Verwirklichung durch dich zustande kommen und ohne dich wohl nicht? Kannst du mir das sagen? SO. Fragst du, ob ich darüber eine lange Rede von der Art halten kann b wie die, die du zu hören gewohnt bist? Das ist nicht meine Sache. Wie ich glaube, bin ich aber wohl in der Lage dir klarzumachen, dass sich dies tatsächlich so verhält, sofern du mir nur einen kleinen Dienst zu erweisen gewillt bist. ALK. Wenn du mit diesem Dienst nichts Schwieriges meinst, dann bin ich gewillt. SO. Scheint es dir schwierig zu sein, auf Fragen zu antworten? ALK. Nein. SO. So antworte denn. ALK. Frag nur. SO. Soll ich bei meinen Fragen davon ausgehen, dass du tatsächlich c die Absichten hegst, die ich dir zuschreibe? ALK. Wenn du es willst, soll es so sein, damit ich endlich erfahre, was du denn nun sagen wirst. SO. Also gut. Du beabsichtigst, wie ich behaupte, in Kürze öffentlich aufzutreten, um den Athenern deinen Rat zu erteilen. Angenommen nun, ich würde dich, während du im Begriff bist, dich auf die Redner­ bühne zu begeben, anpacken und Folgendes fragen: „Alkibiades, was für Dinge, über die die Athener zu beraten beabsichtigen, sind es, die dich dazu veranlassen aufzustehen, um ihnen deinen Rat zu erteilen? Sind es Dinge, in denen du dich besser auskennst als sie?“ Was würdest du antworten? ALK. Ich würde natürlich antworten, dass es Dinge sind, in denen ich d mich besser auskenne als sie. SO. In den Dingen also, in denen du dich auskennst, bist du ein guter Ratgeber. ALK. Selbstverständlich. SO. Du weißt doch wohl allein das, was du entweder von anderen gelernt oder selbst herausgefunden hast? ALK. Was denn sonst? SO. Ist es nun möglich, dass du jemals etwas gelernt oder herausge­ funden hättest, wenn du nicht gewillt gewesen wärest, es entweder zu lernen oder selbst zu suchen?

Übersetzung

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ALK. Nein. SO. Wie nun? Hättest du etwas suchen oder lernen wollen, was du schon zu wissen glaubtest? ALK. Keinesfalls. SO. Was du jetzt weißt, hast du also früher einmal nicht zu wissen e geglaubt? ALK. Notwendigerweise. SO. Nun denn, was du gelernt hast, weiß auch ich ziemlich gut. Sollte mir aber etwas entgangen sein, dann sag es mir. Nach meiner Erinne­ rung hast du lesen und schreiben, Leier spielen und ringen gelernt; Aulos7 spielen wolltest du offenkundig nicht lernen. Dies sind die Dinge, auf die du dich verstehst, es sei denn, du hast vielleicht etwas gelernt, ohne dass ich es bemerkt habe. Ich glaube aber, das ist weder geschehen, wenn du das Haus in der Nacht, noch, wenn du es tagsüber verlassen hast. ALK. Ich habe keinen anderen Unterricht besucht als diesen. SO. Wirst du nun also, wenn die Athener über Buchstaben beraten, 107a d. h. darüber, wie man Wörter richtig schreibt, aufstehen, um ihnen dei­ nen Rat zu erteilen? ALK. Beim Zeus, ganz gewiss nicht. SO. Aber wenn sie darüber beraten, wie man eine Leier spielt? ALK. Keineswegs. SO. Aber auch über Ringkämpfe pflegen sie in der Volksversamm­ lung nicht zu beraten. ALK. So ist es. SO. Um was für Beratungen handelt es sich also? Doch wohl nicht um Beratungen über Baumaßnahmen? ALK. Gewiss nicht. So. In diesen Dingen ist sicherlich ein Bauingenieur ein besserer Rat­ geber als du. ALK. Ja. b SO. Auch nicht um Beratungen, bei denen es um die Seherkunst geht? ALK. Nein SO. Denn in diesen Dingen ist wiederum ein Seher ein besserer Rat­ geber also du. ALK. Ja. SO. Und zwar ganz gleich, ob er klein oder groß, schön oder hässlich oder auch von vornehmer oder niedriger Herkunft ist. ALK. Natürlich.

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Vgl. Anm. 52.

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c

d

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108a

Übersetzung

SO. Denn Rat zu erteilen ist, wie ich meine, bei jeder Angelegenheit Sache eines solchen, der über das betreffende Wissen verfügt, nicht eines solchen, der reich ist. ALK. Natürlich. SO. Ob der Ratgeber arm oder reich ist, wird den Athenern dagegen gleichgültig sein, wenn sie darüber beraten, unter welchen Bedingungen sie sich in der Polis einer guten Gesundheit erfreuen dürften. Sie werden vielmehr verlangen, dass der Ratgeber ein Arzt ist. ALK. Aus gutem Grund. SO. Um was für einen Gegenstand der Beratung handelt es sich denn nun, wenn du aufstehst, um ihnen Rat zu erteilen, und dies zu Recht tust? ALK. Um ihre eigenen Angelegenheiten, Sokrates. SO. Meinst du die, die mit dem Schiffbau zu tun haben, d. h. die Frage, was für Schiffe sie bauen lassen sollen? ALK. Keineswegs, Sokrates. SO. Denn vom Schiffbau verstehst du, glaube ich, nichts. Ist dies der Grund für deine Antwort oder etwas anderes? ALK. Nein, dies. SO. Aber welche ihrer eigenen Angelegenheiten meinst du dann? ALK. Krieg, Sokrates, oder Frieden oder irgendeine andere von den Angelegenheiten der Polis. SO. Du meinst, wenn sie darüber beraten, mit wem sie Frieden schlie­ ßen und gegen wen sie Krieg führen sollen und auf welche Weise? ALK. Ja. SO. Sollen sie dies nicht gegen die tun, gegen die es besser ist? ALK. Ja. SO. Und dann, wenn es besser ist? ALK. Gewiss. SO. Und so lange, wie es besser ist? ALK. Ja. SO. Angenommen nun, die Athener berieten darüber, mit wem man im Nahkampf und mit wem man auf Distanz ringen soll und auf welche Weise, wärest du da wohl der bessere Ratgeber oder der Sportlehrer? ALK. Natürlich der Sportlehrer. SO. Kannst du nun sagen, worauf der Sportlehrer sein Augenmerk richten würde, wenn er seinen Rat erteilen würde, mit wem man ringen soll und mit wem nicht und wann und auf welche Weise man dies tun soll? Ich meine damit Folgendes: Muss man mit denen ringen, mit denen es für einen besser ist, oder nicht? ALK. Doch. SO. Auch so viel, wie es besser ist?

Übersetzung

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ALK. Ja. SO. Nicht auch dann, wenn es besser ist? ALK. Ganz gewiss. SO. Ein weiteres Beispiel: Beim Singen muss man bisweilen zum Gesang Leier spielen und Tanzschritte machen? ALK. So ist es. SO. Doch wohl dann, wenn es besser ist? ALK. Ja. SO. Und so viel, wie es besser ist? ALK. Ja. SO. Wie nun? Da du in beiden Fällen den Ausdruck ‚besser‘ b gebraucht hast, sowohl beim Leierspielen zum Gesang als auch beim Ringen mit einem Gegner: Wie bezeichnest du das, was beim Leierspie­ len das Bessere ist, so wie ich das, was beim Ringen das Bessere ist, als das Sportgerechte bezeichne? Wie bezeichnest du jenes? ALK. Das verstehe ich nicht. SO. Versuch, es genauso zu machen wie ich. Ich meinte mit dem, was ich antwortete, das durch und durch Sachgerechte, sachgerecht aber ist bekanntlich das, was dem Fachwissen gemäß geschieht, oder nicht? ALK. Doch. SO. Das Fachwissen aber war in meinem Beispiel doch wohl das Fachwissen auf dem Gebiet des Sports? ALK. Klar. SO. Ich sagte aber, dass das, was beim Ringen das Bessere ist, das c Sportgerechte ist. ALK. Das sagtest du. SO. Doch wohl auf schöne Weise?8 ALK. Ich glaube schon. SO. Also los, sag auch du mir – denn auch für dich gebührt es sich, Gespräche auf schöne Weise zu führen – als Erstes, welches Fachwissen es ist, zu dem die Fähigkeiten gehören, in korrekter Weise Leier zu spie­ len, zu singen und zu tanzen? Wie wird es insgesamt genannt? Kannst du es noch nicht sagen?

8

Καλῶς λέγειν, „auf schöne Weise sagen“, wird üblicherweise im Sinn von „zu Recht sagen, recht haben“ gebraucht (so 109e9. 112e1. 126a2). Das würde auch hier besser passen, doch ginge, wenn man hier so übersetzte, verloren, dass Sokrates, wenn er gleich darauf (108c6–7) zu Alkibiades sagt, „denn auch für dich gebührt es sich, Gespräche auf schöne Weise zu führen“ (καλῶς διαλέγεσθαι), mit καλῶς auf die allbekannte Schönheit des Alkibiades (vgl. 104a5. 113b9. 135c13) anspielt. Deshalb wurde καλῶς hier nicht mit „zu Recht“, sondern, zugegebener­ maßen etwas gekünstelt, mit „auf schöne Weise“ übersetzt. Das gleiche Spiel mit καλῶς 135c13/ d4.

18

Übersetzung

ALK. Noch nicht. SO. Versuch es so: Welche Göttinnen sind es, unter deren Obhut die­ ses Fachwissen steht? ALK. Du meinst die Musen, Sokrates? SO. Jawohl. Pass nun auf: Welchen von ihnen hergeleiteten Namen d trägt das Fachwissen? ALK. Du scheinst mir das Fachwissen auf dem Gebiet der Musik9 zu meinen. SO. Das meine ich. Was ist nun das, was diesem Fachwissen gemäß in sachgerechter Weise geschieht? Wie ich dir in meinem Beispiel das nannte, was dem Fachwissen gemäß in richtiger Weise geschieht, näm­ lich dem Fachwissen auf dem Gebiet des Sports, so nenn du mir nun das, was im vorliegenden Fall dem entspricht. Auf welche Weise geschieht dies deiner Meinung nach? ALK. Auf eine der Musik gemäße Weise, wie mir scheint. SO. Völlig richtig. Nun weiter: Mit welchem Ausdruck bezeichnest du das Bessere, wenn man Krieg führt und Frieden hält? Wie du soeben e bei jedem der beiden Beispiele sagtest, was das Bessere ist, bei dem einen, dass es das in höherem Maße der Musik Gemäße, und bei dem anderen, dass es das Sportgerechtere ist, so versuch nun auch in diesem Fall das Bessere zu nennen. ALK. Aber das kann ich nicht so recht. SO. Eine Konstellation wie diese ist aber doch gewiss beschämend: Solltest du in Bezug auf Nahrungsmittel behaupten und raten, dass die­ ses besser ist als jenes und gerade jetzt und in einer solchen Menge, und sollte dich daraufhin jemand fragen: „Was meinst du mit dem Besseren, Alkibiades?“, dann könntest du in Bezug auf diese Dinge sagen, dass du das Gesündere meinst, und dies, obwohl du nicht beanspruchst, ein Arzt zu sein. Wenn du jedoch bei Fragen in Bezug auf das, worin du dich aus­ 109a zukennen beanspruchst, und in Bezug auf das du die Athener in der Volksversammlung beraten willst, weil du glaubst, du verstündest dich darauf, wenn du bei solchen Fragen allem Anschein nach keine Antwort zu geben vermagst, musst du dich da nicht schämen? Oder scheint dir das nicht beschämend zu sein? ALK. Doch, sehr. SO. Überleg also und bemüh dich zu sagen, worauf sich das Bessere bezieht, wenn man Frieden hält und wenn man Krieg führt gegen die, gegen die sich dies als erforderlich erweist? ALK. Ich überlege schon, kann aber nicht darauf kommen.

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Zur „Musik“ gehören nach antikem Verständnis Instrumentalspiel, Gesang und Tanz.

Übersetzung

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SO. Weißt du auch nicht, was für ein erlittenes Übel wir uns, sooft wir Krieg führen, gegenseitig als Beweggrund für das Kriegführen vorwer­ fen und wie wir dieses Übel bezeichnen? ALK. Doch, das weiß ich: Wir tun dies, weil wir betrogen, gewalttätig b behandelt oder beraubt wurden. SO. Halt! In welcher Weise muss uns jedes davon widerfahren sein? Versuch anzugeben, wie sich das ‚So‘ oder ‚So‘ unterscheidet. ALK. Mit dem ‚So‘ meinst du, Sokrates, ob es auf rechtmäßige oder unrechtmäßige Weise geschehen ist? SO. Genau dies. ALK. Das macht in der Tat einen fundamentalen Unterschied. SO. Wie nun? Gegen welche von beiden wirst du den Athenern zum Krieg raten, gegen die, die ihnen Unrecht tun, oder gegen die, die recht­ mäßig handeln? ALK. Das ist eine heikle Frage; denn wenn jemand auch denkt, man c müsse gegen die Krieg führen, die rechtmäßig handeln, würde er dies gewiss nicht zugeben. SO. Weil dies, wie es scheint, nicht gesetzlich ist. ALK. So ist es. SO. Und es scheint auch nicht schön zu sein. ALK. Nein. SO. Wirst auch du dich bei dem, was du sagst, an diese Feststellungen halten? ALK. Das muss ich. SO. Was nun das Bessere betrifft, nach dem ich dich soeben gefragt habe, d. h. das Bessere im Hinblick darauf, ob man Krieg führt oder nicht und mit wem man Krieg führen muss und mit wem nicht und wann man dies tun muss und wann nicht, so ist dieses Bessere doch wohl das Gerechtere, oder nicht? ALK. So scheint es. SO. Wie nun, lieber Alkibiades? Hast du nicht gemerkt, dass du dies d nicht weißt, oder habe ich nicht gemerkt, dass du es gelernt und den Unterricht eines Lehrers besucht hast, der dich zu unterscheiden gelehrt hat, was das Gerechtere und das Ungerechtere ist? Und wer ist dieser Mann? Nenn ihn auch mir, um auch mich als Schüler an ihn zu vermit­ teln. ALK. Du spottest, Sokrates. SO. Keineswegs, bei meinem und deinem Gott der Freundschaft,10

10

Zeus.

20

e

110a

b

c

Übersetzung

bei dem ich wohl am wenigsten einen Meineid schwören dürfte. Doch wenn du es kannst, sag, wer er ist. ALK. Was aber, wenn ich es nicht kann? Hältst du es für ausgeschlos­ sen, dass ich auf eine andere Weise zu einem Wissen davon gelangt sein könnte, was gerecht und was ungerecht ist? SO. Doch, falls du es von selbst gefunden haben solltest. ALK. Aber du glaubst nicht, dass ich es von selbst gefunden haben könnte? SO. Gewiss doch, falls du es gesucht haben solltest. ALK. Dann glaubst du also nicht, dass ich es gesucht haben könnte? SO. Doch, falls du geglaubt haben solltest, es nicht zu besitzen. ALK. Dann hat es also nie eine Zeit gegeben, zu der ich mich in die­ sem Zustand befand? SO. Eine berechtigte Frage. Kannst du nun wohl diese Zeit nennen, zu der du kein Wissen davon zu haben glaubtest, was gerecht und was ungerecht ist? Sag, hast du es voriges Jahr gesucht und glaubtest du damals, es nicht zu wissen? Oder glaubtest du dies damals schon? Und antworte mir wahrheitsgemäß, damit unser Gespräch nicht vergeblich ist. ALK. Nun, ich glaubte damals schon, es zu wissen. SO. Und vor zwei, drei und vier Jahren nicht genauso? ALK. Doch. SO. Davor aber warst du ein Kind, nicht wahr? ALK. Ja. SO. Damals glaubtest du es also schon zu wissen; ich weiß das ganz genau. ALK. Woher weißt du das ganz genau? SO. Häufig habe ich dir, als du noch ein Kind warst, in der Schule und andernorts zugehört und auch, wenn du würfeltest oder ein anderes Spiel spieltest. Dabei hatte ich den Eindruck, dass du keinerlei Unsicherheiten zeigtest in Bezug auf das, was gerecht und ungerecht ist, sondern sehr laut und beherzt von diesem oder jenem Kind behauptetest, dass es böse und ungerecht sei und dass es Unrecht tue. Oder stimmt das etwa nicht? ALK. Aber was sonst hätte ich tun sollen, Sokrates, wenn mir jemand Unrecht tat? SO. Du meinst, was du in den Fällen hättest tun müssen, in denen du dir damals im Unklaren warst, ob dir Unrecht widerfahren war oder nicht? ALK. Nein doch, bei Zeus, ich war mir damals keineswegs im Unkla­ ren, sondern mir war völlig klar, dass mir Unrecht widerfahren war. SO. Wie es scheint, glaubtest du also auch als Kind schon zu wissen, was gerecht und was ungerecht ist.

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ALK. Ja, und ich wusste es auch. SO. Und zu was für einer Zeit hattest du es herausgefunden? Doch wohl nicht zu der, zu der du es zu wissen glaubtest. ALK. Natürlich nicht. SO. Wann also glaubtest du, es nicht zu wissen? Denk nach; du wirst diese Zeit nämlich nicht finden. ALK. Bei Zeus, Sokrates, ich weiß sie jedenfalls nicht anzugeben. SO. Dass du es selbst gefunden hast, kann also nicht die Ursache dafür d sein, dass du es weißt. ALK. Schwerlich, wie es scheint. SO. Du hast aber doch gerade eben gesagt, dass der Grund dafür, dass du es weißt, auch nicht der ist, dass du es gelernt hast. Wenn du es aber weder selbst gefunden noch gelernt hast, wie und woher hast du dein Wissen dann erlangt? ALK. Aber vielleicht war meine Antwort nicht richtig, als ich sagte, ich wüsste es, weil ich es selbst herausgefunden hätte. SO. Wie aber war es in Wirklichkeit? ALK. Ich glaube, ich habe es genauso gelernt wie auch die anderen. SO. Damit kommen wir auf etwas zurück, wovon schon die Rede war: Von wem hast du es gelernt? Lass es auch mich wissen. ALK. Von der breiten Masse der Bevölkerung. e SO. Das ist allerdings kein bedeutender Lehrer, bei dem du deine Zuflucht suchst, wenn du dich auf die breite Masse der Bevölkerung berufst. ALK. Wieso? Sind diese Leute denn nicht imstande zu lehren? SO. Jedenfalls nicht, welche Züge beim Brettspiel gut sind und wel­ che nicht; und diese Dinge sind, wie ich meine, doch unbedeutender als das, was gerecht ist. Wie nun? Bist du etwa nicht dieser Meinung? ALK. Doch. SO. Dann sind sie zwar nicht in der Lage, die unbedeutenderen Dinge zu lehren, wohl aber die bedeutenderen? ALK. Ja, das glaube ich; jedenfalls sind sie in der Lage, viele andere Dinge zu lehren, die bedeutender sind als das Brettspiel. SO. Was für welche sind das? ALK. Von ihnen habe ich zum Beispiel die griechische Sprache 111a gelernt, und ich könnte in diesem Fall keinen speziellen Lehrer nennen, den ich gehabt hätte, sondern ich berufe mich auf die breite Masse der Bevölkerung, von der du sagst, sie sei kein bedeutender Lehrer. SO. Stimmt, mein edler Freund, was dies betrifft, ist sie ein guter Leh­ rer, und mit Recht dürfte man sie im Hinblick auf ihre Lehrtätigkeit loben. ALK. Wieso das?

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b

c

d

e

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SO. Weil die Leute auf diesem Gebiet über das verfügen, worüber die guten Lehrer verfügen müssen. ALK. Was meinst du damit? SO. Weißt du nicht, dass die, die sich anschicken etwas zu lehren, ebendies zunächst einmal selbst wissen müssen? Oder nicht? ALK. Selbstverständlich. SO. Ist es nun nicht so, dass die, die etwas wissen, miteinander über­ einstimmen müssen und nicht uneins sein dürfen? ALK. Ja. SO. Wenn sie aber in Bezug auf bestimmte Dinge uneins sind, wirst du da behaupten, dass sie diese Dinge wüssten? ALK. Keineswegs. SO. Wie sollten sie nun in Bezug auf diese Dinge Lehrer sein können? ALK. Ausgeschlossen. SO. Wie nun? Scheint dir die breite Masse der Bevölkerung darüber uneins sein, was ein Stein oder was Holz ist? Und wenn du irgendjeman­ den fragst, sagen die Leute dann nicht übereinstimmend eines und das­ selbe, und begeben sie sich nicht zu demselben Gegenstand, wenn sie einen Stein oder Holz ergreifen wollen? Ebenso ist es auch bei allem, was es dergleichen gibt. Ich verstehe nämlich ganz gut, dass du mit der Fähigkeit, Griechisch sprechen zu können, ebendies meinst. Oder nicht? ALK. Doch. SO. In Bezug auf diese Dinge stimmen sie also, wie wir sagten, auf der privaten Ebene alle miteinander überein und auch jeder Einzelne mit sich selbst, und auch auf der öffentlichen Ebene streiten die Poleis darü­ ber nicht miteinander, indem die einen dies, die anderen jenes behaup­ ten? ALK. Richtig. SO. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie in diesen Dingen auch gute Lehrer. ALK. Ja. SO. Angenommen, wir wollten jemandem in diesen Dingen zu Wis­ sen verhelfen, dann würden wir ihn doch wohl zu Recht zu diesen Leu­ ten in die Lehre schicken? ALK. Gewiss doch. SO. Wenn wir nun aber nicht nur wissen wollten, was Menschen oder was Pferde sind, sondern auch, welche von den letzteren Rennpferde sind und welche nicht, ist die breite Masse der Bevölkerung da noch geeignet, dies zu lehren? ALK. Keineswegs. SO. Ein hinreichender Beweis dafür, dass die Leute von diesen Din­ gen nichts verstehen und in ihnen keine rechtschaffenen Lehrer sind, ist

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für dich aber doch wohl die Tatsache, dass sie im Hinblick auf diese Dinge nicht miteinander übereinstimmen? ALK. Ja. SO. Wenn wir nun aber nicht nur wissen wollten, was Menschen sind, sondern auch, was für welche von ihnen gesund oder krank sind, wäre die breite Masse der Bevölkerung für uns da noch ein geeigneter Leh­ rer? ALK. Keineswegs. SO. Ein Beweis dafür, dass die Leute in diesen Dingen schlechte Leh­ rer sind, wäre es aber für dich, wenn du sähest, dass sie untereinander uneins sind? ALK. Ja. SO. Wie ist das nun aber in Bezug auf die gerechten und die ungerech­ 112a ten Menschen und Taten? Scheinen dir die Leute da mit sich selbst oder untereinander einer Meinung zu sein? ALK. Bei Zeus, ganz und gar nicht, Sokrates. SO. Sie scheinen dir vielmehr in höchstem Maße uneins zu sein? ALK. Ja, sehr. SO. Du hast aber, glaube ich, gewiss nie gesehen und auch nie davon gehört, dass Menschen in einem solchen Maße uneins waren in Bezug auf das, was gesund ist und was nicht, dass sie deswegen miteinander Krieg führten und sich gegenseitig umbrachten. ALK. Gewiss nicht. SO. Was dagegen die Ansichten in Bezug auf das betrifft, was gerecht und was ungerecht ist, da bin ich mir sicher, dass du es, wenn auch nicht b gesehen, so doch jedenfalls von vielen anderen und besonders von Homer gehört hast; du hast dir doch Rezitationen von Odyssee und Ilias angehört. ALK. Gewiss doch, Sokrates. SO. Das sind doch wohl Dichtungen, die von Uneinigkeit darüber handeln, was gerecht und was ungerecht ist? ALK. Ja. SO. Und die Kämpfe und das Sterben erwuchsen den Achäern und ihren Gegnern, den Troern, und auch den Freiern der Penelope und Odysseus wegen dieser Uneinigkeit. ALK. Du hast recht. c SO. Und dasselbe gilt, wie ich glaube, für die Athener, die Spartaner und die Böotier, die bei Tanagra und später bei Koroneia11 fielen, wo auch dein Vater ums Leben kam. Auch hier ging es bei der Uneinigkeit, 11

Sieg der Spartaner und der Böotier über die Athener bei Tanagra in Böotien 457, Sieg der Böotier über die Athener bei Koroneia in Böotien 447.

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die das Sterben und die Kämpfe über sie brachte, einzig und allein um das, was gerecht und ungerecht ist, stimmt es? ALK. Du hast recht. SO. Sollen wir nun sagen, dass diese Leute über ein Wissen von dem d verfügen, worüber sie in einem solchen Maße uneins sind, dass sie sich im Streit miteinander gegenseitig das Schlimmste antun? ALK. Offenbar nicht. SO. Auf solche Lehrer berufst du dich also, von denen du selbst zugibst, dass sie kein Wissen haben? ALK. Es scheint so. SO. Wie soll es also glaubhaft sein, dass du weißt, was gerecht und was ungerecht ist, wo du doch, was dies betrifft, so sehr im Dunkeln tappst und es offenkundig weder von jemandem gelernt noch selbst gefunden hast? ALK. Nach dem, was du behauptest, ist es nicht glaubhaft. SO. Ist dir klar, dass du damit schon wieder etwas Unzutreffendes e gesagt hast, Alkibiades? ALK. Womit? SO. Damit, dass du sagst, ich sei der, der dies behauptet. ALK. Na und? Bist nicht du es, der behauptet, ich wüsste nicht, was gerecht und was ungerecht ist? SO. Keineswegs. ALK. Sondern ich? SO. Ja. ALK. Wieso das? SO. Auf folgende Weise wird es dir klar werden: Wenn ich dich frage, was von beidem mehr ist, eins oder zwei, wirst du sagen, zwei. ALK. Gewiss. SO. Und um wie viel? ALK. Um eins. SO. Wer von uns beiden ist es also, der behauptet, zwei sei um eins mehr als eins? ALK. Ich. SO. War ich nun nicht der, der fragte, und du der, der antwortete? ALK. Ja. SO. Erweise nun etwa ich als der Fragende mich bei diesen Dingen 113a als der, der etwas behauptet, oder erweist nicht vielmehr du als der Ant­ wortende dich als solcher? ALK. Ich. SO. Und wenn ich dich frage, aus was für Buchstaben der Name So­ krates besteht, und du es sagst, wer von uns beiden ist dann der, der etwas behauptet?

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ALK. Ich. SO. Gut denn, sag es mit einer Formel: Wenn gefragt und geantwortet wird, wer von beiden ist dann der, der etwas behauptet, der, der fragt, oder der, der antwortet? ALK. Der, der antwortet, wie mir scheint, Sokrates. SO. Soeben war doch wohl ich durchweg der, der fragte? b ALK. Ja. SO. Und du der, der antwortete. ALK. Gewiss. SO. Wer von uns beiden hat also die Behauptungen aufgestellt? ALK. Nach dem, worauf wir uns geeinigt haben, offenkundig ich, Sokrates. SO. War nun nicht behauptet worden, Alkibiades, der Schöne, der Sohn des Kleinias, verfüge über kein Wissen davon, was gerecht und ungerecht ist, meine es aber und schicke sich an, in die Volksversamm­ lung zu gehen und den Athenern seinen Rat zu erteilen in Bezug auf Dinge, in denen er sich nicht auskenne? War es nicht dies? ALK. Offenbar. c SO. Hier trifft also das Wort des Euripides zu, Alkibiades: Du scheinst dies von dir selbst, nicht von mir gehört zu haben,12 und nicht ich bin der, der dies behauptet, sondern du bist es, mich aber bezichtigst du grundlos. Und du behauptest dies in der Tat völlig zu Recht. Denn ein wahnwitziges Vorhaben beabsichtigst du in Angriff zu nehmen, mein Bester, nämlich Dinge zu lehren, die du nicht weißt, weil du dich nicht darum bemüht hast, sie zu lernen. d ALK. Ich glaube allerdings, Sokrates, dass die Athener und die ande­ ren Griechen nur selten darüber beraten, welche von zwei Handlungs­ weisen gerechter oder ungerechter ist, denn Derartiges, meinen sie, sei klar. Sie lassen diese Dinge also beiseite und überlegen, welche der bei­ den Handlungsweisen ihnen nützt, wenn sie sie praktizieren. Denn die gerechten und die nützlichen Handlungsweisen sind, wie ich glaube, nicht dieselben, sondern für viele war es bekanntlich von Vorteil, wenn sie große Ungerechtigkeiten begingen, und anderen hat es, wie ich glaube, keinen Nutzen gebracht, wenn sie gerecht handelten. SO. Wie nun? Mögen sich die gerechten und die nützlichen Hand­ 12

Hipp. 352. Phaidra hat ihrer Kinderfrau angedeutet, dass der Mann, in den sie sich verliebt hat, ihr Stiefsohn Hippolytos ist. Als diese daraufhin entsetzt seinen Namen nennt, entgegnet Phaidra: „Von dir hörst du dies, nicht von mir“ (σοῦ τάδ᾿, οὐκ ἐμοῦ κλύεις). Wenn Sokrates hier Euripides’ Hippolytos zitiert, ist dies übrigens ein leichter Anachronismus, da das dramatische Datum des Gesprächs zwischen Sokrates und Alkibiades das Jahr 433/2 ist (vgl. S. 67), der Hip­ polytos aber erst 428 aufgeführt wurde.

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lungsweisen auch noch so sehr voneinander unterscheiden, du meinst doch nicht etwa auch jetzt wieder zu wissen, was den Menschen nützt und warum dies so ist? ALK. Was steht dem entgegen, Sokrates? Es sei denn, du willst mich erneut fragen, von wem ich es gelernt oder wie ich es selbst gefunden habe. SO. Was soll denn das! Wenn du eine falsche Behauptung aufstellst und es möglich ist, dies mit derselben Argumentation aufzuzeigen wie zuvor, da meinst du doch tatsächlich, du müsstest irgendwelche neuen Gesichtspunkte und andere Beweise zu hören bekommen, als ob die frü­ heren wie Kleidungsstücke abgenutzt wären, und du würdest sie nicht mehr anziehen, es sei denn, jemand bringt dir einen reinen und flecken­ 13 114a losen Nachweis. Doch ich will deine Präventivschläge gegen die Argumentation auf sich beruhen lassen und dich nichtsdestoweniger erneut fragen, woher dein Wissen davon, welche Handlungsweisen nützlich sind, stammt und wer dein Lehrer ist, und fasse alles, was ich dich zuvor gefragt habe, in einer Frage zusammen. Aber es ist ja offen­ kundig, dass du an demselben Punkt anlangen und weder aufzeigen kön­ nen wirst, dass du dein Wissen davon, welche Handlungsweisen nütz­ lich sind, selbst gefunden, noch, dass du es durch Lernen erworben hast. Da du jedoch verwöhnt bist und von derselben Argumentation nicht mehr so gerne eine weitere Kostprobe nehmen magst, will ich diese Argumentation auf sich beruhen lassen, magst du nun wissen, was für die Athener nützlich ist, oder nicht. Ob aber dieselben Handlungsweisen b oder verschiedene gerecht und nützlich sind, das hättest du schon längst aufzeigen sollen. Je nachdem, wie es dir beliebt, tu dies entweder in der Weise, dass du mich fragst, so wie ich dich gefragt habe, oder leg es für dich allein in zusammenhängender Rede dar. ALK. Aber ich weiß nicht, Sokrates, ob ich in der Lage sein werde, es dir gegenüber darzulegen. SO. Aber, mein Guter, denk doch einfach, ich sei die Volksversamm­ lung oder das Volk. Auch dort wirst du jeden Einzelnen überzeugen müssen, nicht wahr? ALK. Ja. SO. Ist es nun nicht Sache einer und derselben Person fähig zu sein, c einen Einzelnen für sich allein und viele gemeinsam von dem zu überzeu­ gen, was er weiß, so wie der Elementarlehrer sowohl einen Einzelnen als auch viele auf dem Gebiet des Lesens und Schreibens überzeugt? ALK. Ja. e

13

Die leichte Inkonzinnität in diesem Satz ist aus dem griechischen Text übernommen.

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SO. Auch auf dem Gebiet der Mathematik wird doch wohl einer und derselbe sowohl einen Einzelnen als auch viele überzeugen? ALK. Ja. SO. Das wird aber der sein, der über das entsprechende Wissen ver­ fügt, der Mathematiker? ALK. Gewiss doch. SO. Also ist es doch wohl so, dass auch du von den Dingen, von denen du viele zu überzeugen vermagst, auch einen Einzelnen überzeu­ gen kannst? ALK. Höchstwahrscheinlich. SO. Das aber sind offenkundig die Dinge, die du weißt? ALK. Ja. SO. Von dem Redner in der Volksversammlung unterscheidet sich der d Redner in einer Zusammenkunft wie der unsrigen also nur insoweit, als der eine viele auf einmal von demselben überzeugt, der andere dagegen jeweils nur einen Einzelnen? ALK. So scheint es. SO. Also los! Da es offenkundig Sache einer und derselben Person ist, sowohl viele als auch einen Einzelnen zu überzeugen, so nimm mich als Übungsobjekt und versuch mir zu zeigen, dass das Gerechte manchmal nicht nützt. ALK. Du bist ein übermütiger Spötter, Sokrates! SO. Jetzt jedenfalls schicke ich mich aus Übermut an, dich vom Gegenteil dessen zu überzeugen, von dem du mich nicht überzeugen willst. ALK. Sprich also. SO. Antworte du bloß auf meine Fragen. ALK. Nein, sondern sprich du deinerseits. e SO. Was? Willst du denn nicht so gründlich wie möglich überzeugt werden? ALK. Doch, auf jeden Fall. SO. Ist es nun nicht so, dass du, wenn du behauptest, dass sich dies so oder so verhält, am gründlichsten überzeugt bist? ALK. So scheint es mir. SO. Antworte also; und wenn du nicht aus deinem eigenen Mund hörst, dass die gerechten Handlungsweisen auch nützlich sind, dann glaub es keinem anderen, wenn er es behauptet. ALK. Gewiss nicht, sondern ich muss antworten; und in der Tat glaube ich nicht, dass mir daraus Schaden erwachsen wird. SO. Du hast ein Talent zum Wahrsagen! Sag mir nun: Du behauptest, 115a von den gerechten Handlungsweisen seien manche nützlich und manche nicht?

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ALK. Ja. SO. Und weiter, manche davon seien schön und andere nicht? ALK. Was meinst du mit dieser Frage? SO. Ich meine damit, ob du schon einmal den Eindruck hattest, dass jemand Dinge tat, die zwar hässlich, aber gerecht waren. ALK. Nein, das nicht. SO. Vielmehr sind alle gerechten Handlungsweisen auch schön. ALK. Ja. SO. Wie steht es nun andererseits mit den Handlungsweisen, die schön sind? Sind alle, die schön sind, gut oder nur manche, andere dage­ gen nicht? ALK. Ich für meine Person glaube, Sokrates, dass manche von denen, die schön sind, übel sind. SO. Auch solche, die hässlich sind, gut? ALK. Ja. SO. Meinst du damit Fälle wie beispielsweise den, dass viele im b Krieg einem Kameraden oder einem Angehörigen Hilfe leisteten und dabei verwundet wurden und starben, andere dagegen, obwohl sie es hätten tun sollen, keine Hilfe leisteten und deshalb unversehrt davon­ kamen? ALK. Genau. SO. Eine solche Hilfe bezeichnest du doch wohl als schön im Hin­ blick darauf, dass es sich um den Versuch handelt, die zu retten, die man retten sollte, das aber ist ein Akt der Tapferkeit, oder nicht? ALK. Doch. SO. Übel aber nennst du sie im Hinblick auf den Tod und die Wunden, die sie zur Folge haben kann, nicht wahr? ALK. Ja. SO. Ist nun nicht die Tapferkeit eine Sache und der Tod eine andere? c ALK. Gewiss. SO. Die Hilfe, die man seinen Freunden leistet, ist also nicht in dersel­ ben Hinsicht schön und übel? ALK. So scheint es. SO. Überleg nun also, ob sie, insofern sie schön ist, auch gut ist, wie in unserem Beispiel. Denn du hast doch eingeräumt, dass die Hilfe im Hinblick darauf, dass es sich um einen Akt der Tapferkeit handelt, schön ist. Betrachte nun eben dies, die Tapferkeit: Ist sie gut oder übel? Betrachte es aber auf folgende Weise: Was von beidem möchtest du lie­ ber besitzen, Güter oder Übel? ALK. Güter. SO. Am liebsten doch wohl die größten Güter? d ALK. Ja.

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So. Und am allerwenigsten würdest du Derartiges missen wollen? ALK. Natürlich. SO. Wie urteilst du nun über die Tapferkeit? Um welchen Preis wür­ dest du sie missen wollen? ALK. Ich würde nicht einmal leben wollen, wenn ich ein Feigling wäre. SO. Die Feigheit scheint dir also ein äußerstes Übel zu sein. ALK. Jawohl. SO. Auf einer Stufe mit dem Tod, wie es scheint? ALK. Ja. SO. Leben und Tapferkeit stehen doch wohl in diametralem Gegen­ satz zu Tod und Feigheit? ALK. Ja. SO. Und die beiden ersteren würdest du am meisten besitzen wollen, e die beiden letzteren dagegen am wenigsten? ALK. Ja. SO. Doch wohl, weil du die ersteren für größte Güter, die letzteren dagegen für größte Übel hältst? ALK. Gewiss. SO. Die Tapferkeit rechnest du also zu den größten Gütern und den Tod zu den größten Übeln? ALK. So ist es. SO. Die Hilfe, die man seinen Freunden im Krieg leistet, hast du also, insofern sie schön ist, d. h. im Hinblick darauf, dass es sich um die Voll­ bringung von Gutem, nämlich eines Aktes der Tapferkeit, handelt, als schön bezeichnet? ALK. Offenbar. SO. Im Hinblick darauf aber, dass es sich um die Vollbringung von Üblem, nämlich des Todes, handelt, als übel? ALK. Ja. SO. Es ist also doch wohl recht und billig, jede unserer Vollbringun­ gen folgendermaßen zu bezeichnen: Wenn du sie, insofern sie Übles hervorbringt, übel nennst, dann musst du sie auch, insofern sie Gutes 116a hervorbringt, gut nennen. ALK. So scheint es mir. SO. Insofern sie Gutes hervorbringt, doch auch schön, und insofern sie Übles hervorbringt, hässlich? ALK. Ja. SO. Wenn du von der Hilfe, die man seinen Freunden im Krieg leistet, behauptest, sie sei schön, aber übel, dann sprichst du nicht anders, als wenn du sie als gut, aber übel bezeichnen würdest. ALK. Du scheinst mir recht zu haben, Sokrates.

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SO. Nichts Schönes ist also, insofern es schön ist, übel, und nichts Hässliches, insofern es hässlich ist, gut. ALK. So zeigt es sich. b SO. Betrachte dies aber auch noch so: Wer schön handelt, handelt der nicht auch gut? ALK. Ja. SO. Und sind nicht die, die gut handeln und denen es gut geht,14 glücklich? ALK. Unbestreitbar. SO. Glücklich sind sie, weil sie Güter besitzen, nicht wahr? ALK. Sicher. SO. Sie erwerben diese aber dadurch, dass sie gut und schön handeln? ALK. Ja. SO. Die Tatsache, dass man gut handelt, ist also gut? ALK. Natürlich SO. Das gute Handeln ist doch wohl schön? ALK. Ja. SO. So hat sich uns also erneut eines und dasselbe sowohl als schön c als auch als gut erwiesen. ALK. Offenbar. SO. Was sich uns als schön erwiesen hat, wird sich uns also auch als gut erweisen, jedenfalls aufgrund dieser Argumentation. ALK. Notwendigerweise. SO. Und weiter: Das, was gut ist, nützt, oder nicht? ALK. Es nützt. SO. Erinnerst du dich nun noch, worauf wir uns in Bezug auf das, was gerecht ist, verständigt haben? ALK. Ich glaube darauf, dass die, die das tun, was gerecht ist, mit Notwendigkeit etwas tun, was schön ist. SO. Und auch darauf, dass die, die das tun, was schön ist, etwas tun, was gut ist, nicht wahr? ALK. Ja. SO. Und dass das, was gut ist, nützt? d ALK. Ja. SO. Diejenigen Handlungsweisen, die gerecht sind, Alkibiades, sind also nützlich? ALK. So scheint es. SO. Wie nun? Ist es nicht so, dass du der bist, der dies behauptet, wäh­ rend ich der bin, der fragt?

14

Zur Übersetzung von οἱ εὖ πράττοντες vgl. S. 89.

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ALK. Der bin ich offenbar, wie es scheint. SO. Wenn nun jemand aufsteht, um den Athenern oder den Pepare­ thiern15 seinen Rat zu erteilen, jemand der meint, er wisse, welche Handlungsweisen gerecht und welche ungerecht sind, und wenn der dann sagt, die gerechten Handlungsweisen seien manchmal übel, wirst du ihn da nicht auslachen, da doch auch du behauptest, dass dieselben e Handlungsweisen sowohl gerecht als auch nützlich sind? ALK. Aber bei den Göttern, Sokrates, ich weiß selbst nicht einmal mehr, was ich behaupte, sondern scheine schlechterdings in einer son­ derbaren Verfassung zu sein: Wenn du fragst, meine ich nämlich bald das eine, bald etwas anderes. SO. Dann weißt du wohl nicht, mein Freund, was für ein Gemütszu­ stand das ist? ALK. Ganz und gar nicht. SO. Angenommen jemand fragte dich: „Hast du zwei oder drei Augen?“ und: „Hast du zwei oder vier Hände?“ oder anderes derglei­ chen, meinst du, du würdest dann bald diese und bald jene Antwort geben oder stets dieselbe? ALK. Ich bin zwar schon voller Angst um mich, glaube jedoch, ich 117a würde stets dieselbe geben. SO. Doch wohl, weil du es weißt? Das ist doch der Grund? ALK. Ich glaube schon. SO. Wenn du also in Bezug auf bestimmte Dinge, ohne es zu wollen, entgegengesetzte Antworten gibst, dann verfügst du in diesen Fällen offenkundig über kein Wissen. ALK. Wahrscheinlich. SO. Gestehst du nun nicht zu, dass du hin und her schwankst, wenn du auf Fragen antwortest nach dem, was gerecht und ungerecht, schön und hässlich, übel und gut, nützlich und nicht nützlich ist? Ist es da nicht offenkundig, dass du deswegen schwankst, weil du, was diese Dinge betrifft, über kein Wissen verfügst? ALK. Gewiss doch. b SO. Es verhält sich also doch wohl so: Wenn jemand etwas nicht weiß, dann muss seine Seele, was dies betrifft, notwendigerweise schwanken? ALK. Klar. SO. Wie nun? Weißt du, wie du zum Himmel hinaufsteigen kannst? ALK. Bei Zeus, natürlich nicht.

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Die Bürger der nordöstlich von Euböa gelegenen Insel Peparethos (heute Skopelos); vgl. S. 90–91.

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SO. Schwankt deine Meinung etwa bei dieser Frage? ALK. Gewiss nicht. SO. Weißt du den Grund dafür oder soll ich ihn dir angeben? ALK. Tu dies. SO. Weil du, mein Freund, das, was du nicht weißt, auch nicht zu wis­ sen glaubst. ALK. Wie meinst du das nun wieder? c SO. Überleg auch du gemeinsam mit mir. Wenn du etwas nicht weißt, dir aber im Klaren darüber bist, dass du es nicht weißt, schwankst du in solchen Fällen? Was z. B. die Zubereitung von Speisen betrifft, da weißt du doch wohl, dass du nicht weißt, wie man das macht? ALK. Gewiss doch. SO. Stellst du nun in diesem Fall selbst Vermutungen darüber an, wie man sie zubereiten muss, und schwankst, oder überlässt du es dem, der etwas davon versteht? ALK. Genau so. SO. Oder nimm den Fall, dass du auf einem Schiff fährst: Wirst du da d Vermutungen darüber anstellen, ob man die Pinne des Steuerruders nach innen oder nach außen bewegen muss, und, weil du es nicht weißt, schwanken, oder wirst du dies dem Schiffskommandanten überlassen und dich selbst ruhig verhalten? ALK. Ich werde es dem Schiffskommandanten überlassen. SO. Bei dem, was du nicht weißt, schwankst du also dann nicht, wenn du weißt, dass du es nicht weißt? ALK. So scheint es. SO. Bist du dir nun bewusst, dass auch die Fehler beim Handeln wegen dieser Form von Unwissenheit zustande kommen, die darin besteht, dass man etwas, wiewohl man es nicht weiß, dennoch zu wissen glaubt? ALK. Wie meinst du nun wieder das? SO. Wir machen uns doch wohl nur dann daran, etwas zu tun, wenn wir in Bezug auf das, was wir tun, über Wissen zu verfügen meinen? ALK. Ja. SO. Wenn man aber über kein Wissen zu verfügen meint, dann über­ e lässt man es anderen, tätig zu werden? ALK. Natürlich. SO. Von den Menschen, die etwas nicht wissen, sind doch wohl dieje­ nigen, die in dieser Weise verfahren, in ihrem Leben gegen Fehler gefeit, weil sie die betreffenden Tätigkeiten anderen überlassen? ALK. Ja. SO. Was für Menschen sind es also, die Fehler begehen? Doch gewiss nicht die, die über ein Wissen verfügen?

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ALK. Nein, die gewiss nicht. SO. Wenn es nun aber weder die sind, die über ein Wissen verfügen, noch von denen, die über kein Wissen verfügen, diejenigen, die wissen, 118a dass sie über kein Wissen verfügen, bleiben dann andere übrig als diejeni­ gen, die über kein Wissen verfügen, aber meinen, sie verfügten darüber? ALK. Nein, sondern nur sie. SO. Diese Form von Unwissenheit ist also die Ursache der Übel und der Inbegriff schimpflicher Ignoranz? ALK. Ja. SO. Sie ist aber doch wohl dann am unheilvollsten und schändlichs­ ten, wenn sie die wichtigsten Dinge betrifft? ALK. Bei Weitem. SO. Wie nun? Kannst du etwas nennen, was wichtiger ist als das, was gerecht, was schön, was gut und was nützlich ist? ALK. Keineswegs. SO. Gestehst du nun nicht selbst zu, dass du, was dies betrifft, schwankst? ALK. Ja. SO. Wenn du aber schwankst, ist es dann nicht nach dem, was im Vorangehenden gesagt wurde, offenkundig, dass du im Hinblick auf die b wichtigsten Dinge nicht nur über kein Wissen verfügst, sondern auch, wiewohl du nicht darüber verfügst, dennoch darüber zu verfügen glaubst? ALK. Das ist zu befürchten. SO. Oje, Alkibiades, was für ein Zustand ist das, in dem du dich befin­ dest! Ich zögere, ihn beim Namen zu nennen, dennoch sei es, da wir beide ja allein sind, gesagt: Du bist, mein Bester, mit der schlimmsten Form von Ignoranz verheiratet, wie es dir sowohl der Verlauf unseres Gespräches zur Last legt als auch du selbst. Deshalb stürmst du auch so heftig auf die Politik zu, bevor du eine Ausbildung erhalten hast. So geht es dir aber nicht als Einzigem, sondern auch der Mehrzahl derer, die die c Geschäfte unserer Polis betreiben, mit Ausnahme einiger weniger und vielleicht deines Vormundes Perikles. ALK. Tatsächlich sagt man von ihm, Sokrates, dass er nicht von selbst ein wissender Mann geworden sei, sondern dass er zu vielen wissenden Männern freundschaftliche Beziehungen gepflegt habe, darunter Pytho­ kleides und Anaxagoras. Und auch jetzt, wo er doch schon betagt ist, unterhält er noch eine freundschaftliche Beziehung zu Damon zu eben­ diesem Zweck. SO. Wie nun? Hast du schon einmal gesehen, dass jemand, der auf einem bestimmten Gebiet wissend war, nicht in der Lage war, einen anderen auf dem Gebiet wissend zu machen, auf dem er es selbst war?

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d

e

119a

b

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So wie der, der dich Lesen und Schreiben gelehrt hat, auf diesem Gebiet selbst wissend war und dich und, wen er sonst noch wollte, wissend gemacht hat. Ist es nicht so? ALK. Ja. SO. Wirst nun nicht auch du, der du es von ihm gelernt hast, einen anderen auf diesem Gebiet wissend machen können? ALK. Ja. SO. Und dasselbe gilt für den Leier- und den Sportlehrer? ALK. Sicherlich. SO. Denn dies ist offenkundig ein schöner Beweis dafür, dass diejeni­ gen, die auf einem bestimmten Gebiet über Sachverstand verfügen, die­ sen Sachverstand tatsächlich besitzen, wenn sie auch einen anderen sachverständig zu machen vermögen. ALK. Ich glaube schon. SO. Wie nun? Kannst du mir, beginnend mit seinen Söhnen, sagen, wen Perikles wissend gemacht hat? ALK. Wie das, wenn die beiden Söhne des Perikles sich als Schwach­ köpfe erwiesen haben, Sokrates? SO. Aber doch deinen Bruder Kleinias. ALK. Was soll das denn nun wieder, dass du Kleinias nennst, einen verrückten Menschen? SO. Wenn also Kleinias verrückt ist und die beiden Söhne des Perikles sich als Schwachköpfe erwiesen haben, was sollen wir in deinem Fall als Grund dafür annehmen, weshalb Perikles es geschehen lässt, dass du in dieser Verfassung bist? ALK. Ich glaube, ich selbst bin schuld, weil ich ihm keine Aufmerk­ samkeit schenke. SO. Dann nenn mir doch bitte von den anderen Athenern oder den Fremden einen Sklaven oder einen Freien, von dem man sagt, er sei durch den persönlichen Umgang mit Perikles wissender geworden, so wie ich dir Pythodoros, den Sohn des Isolochos, und Kallias, den Sohn des Kalliades, als solche nennen kann, bei denen dies durch den persön­ lichen Umgang mit Zenon geschah; beide zahlten Zenon 100 Minen und wurden wissend und namhaft. ALK. Bei Zeus, das kann ich nicht. SO. Sei’s drum. Was hast du nun mit dir selbst im Sinn? Es bei dem Zustand zu belassen, in dem du dich jetzt befindest, oder dich in irgend­ einer Weise zu bemühen? ALK. Gemeinsam wollen wir darüber beraten, Sokrates. Ich nehme jedoch zur Kenntnis, was du sagst, und stimme dem zu: Wie mir scheint, haben die Politiker, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinerlei Aus­ bildung.

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c

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SO. Und was willst du damit sagen? ALK. Hätten sie eine Ausbildung, dann dürfte jeder, der sich daran machte, mit ihnen zu konkurrieren, wie gegen Sportler erst dann gegen sie antreten, wenn er sich zuvor Kenntnisse angeeignet und trainiert hat. Da diese nun aber auch ihrerseits als Laien in die Politik eingetreten sind, warum soll man da trainieren und sich damit abmühen, Kenntnisse zu erwerben? Ich weiß nämlich gut, dass ich diesen Leuten aufgrund meiner angeborenen Begabung sehr weit überlegen sein werde. So. Oje, mein Bester, was hast du da nur gesagt; wie unwürdig ist dies deines schönen Aussehens und deiner sonstigen Vorzüge. ALK. Was genau meinst du und worauf beziehst du dich damit, So­ krates? SO. Ich bin bestürzt deinetwegen und wegen meiner Liebe zu dir. ALK. Wieso das? SO. Dass du es für deiner würdig erachtet hast, mit den Leuten hier in Athen zu konkurrieren. ALK. Aber mit wem denn sonst? SO. Diese Frage zu stellen, ist wahrlich eines Mannes würdig, der stolzen Sinnes zu sein meint! ALK. Wie meinst du das? Sind sie es denn nicht, mit denen ich kon­ kurriere? SO. Nimm einmal an, du hättest vor, eine Triere zu kommandieren, die sich an einer Seeschlacht beteiligen soll; würde es dir da genügen, von der Schiffsbesatzung der Beste in den die Führung eines Schiffes betreffenden Fragen zu sein? Oder würdest du das nicht für eine selbst­ verständliche Voraussetzung halten und deinen Blick vielmehr auf deine wahren Gegner richten und nicht wie jetzt auf deine Mitstreiter? Diesen musst du doch wohl so sehr überlegen sein, dass sie sich nicht für wür­ dig erachten, mit dir zu konkurrieren, sondern, selbst gering geschätzt, mit dir zusammen gegen die Feinde kämpfen, vorausgesetzt, du hast wirklich vor, ein schönes Werk zu vollbringen, das deiner selbst und dei­ ner Polis würdig ist. ALK. Das habe ich in der Tat vor. SO. Es ist deiner also in höchstem Maße würdig, zufrieden damit zu sein, wenn du besser bist als die einfachen Soldaten, nicht aber darauf zu blicken, ob du dich irgendwann einmal als besser erwiesen hast als die Anführer unserer Gegner, und deine Überlegungen und dein Trai­ ning auf sie auszurichten! ALK. Wen meinst du damit, Sokrates? SO. Weißt du nicht, dass unsere Polis bei jeder Gelegenheit mit den Spartanern und dem Großkönig Krieg führt? ALK. Du hast recht.

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b

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d

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SO. Wenn du vorhast, der Anführer dieser Polis hier zu sein, dann dürftest du doch wohl nicht fehlgehen, wenn du meinst, du müsstest mit den Königen der Spartaner und der Perser in Wettstreit treten? ALK. Du scheinst recht zu haben. SO. Nein doch, mein Guter, sondern du musst deinen Blick auf Mei­ dias, den Wachtelzüchter, und andere Leute seiner Art richten, Leute, die sich daranmachen, die Angelegenheiten der Polis in die Hand zu nehmen, obwohl sie in ihrer Seele wegen ihrer mangelhaften Bildung, wie die Frauen sagen würden, „die Haartracht der Sklaven haben“16 und sie nicht abgelegt haben, und die, obwohl sie wie Barbaren stammeln, hergekommen sind, um der Polis zu schmeicheln, nicht aber um sie zu regieren. Auf diese Leute, die ich gerade beschrieben habe, musst du bli­ cken und also auf jede Bemühung um dich selbst verzichten, und du musst in einer Situation, in der du dich anschickst, einen so schweren Kampf auszufechten, weder alles das lernen, was in den Bereich des Lernens gehört, noch das einüben, was der Einübung bedarf, und musst dich so dann in jeder Hinsicht optimal vorbereitet den Angelegenheiten der Polis zuwenden. ALK. Schon gut, Sokrates, du scheinst mir ja recht zu haben. Ich meine aber, dass die Heerführer der Spartaner und der König der Perser sich von den anderen in keiner Weise unterscheiden. SO. Aber, mein Bester, denk doch bitte darüber nach, was für eine Meinung du da hast. ALK. Inwiefern? SO. Zunächst einmal: Auf welche Weise meinst du, dich mehr um dich zu bemühen, wenn du diese Männer fürchtest und für gefährlich hältst, oder wenn du dies nicht tust? ALK. Offenkundig, wenn ich sie für gefährlich halte. SO. Glaubst du nun etwa, es würde dir irgendwie schaden, wenn du dich um dich bemühst? ALK. Keineswegs, sondern es würde mir, glaube ich, sogar gewaltig nützen. SO. Das also ist ein erster erheblicher Mangel, der der Meinung, die du geäußert hast, innewohnt. ALK. Du hast recht. SO. Den zweiten Mangel, dass sie auch falsch ist, prüf anhand eines Wahrscheinlichkeitsschlusses. ALK. Wie denn? SO. Ist es wahrscheinlich, dass bessere Naturen aus edlen Geschlech­ tern hervorgehen, oder nicht? 16

Sprichwort; vgl. S. 98.

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ALK. Natürlich, dass sie aus den edlen Geschlechtern hervorgehen. SO. Und dass diejenigen, die über eine gute Natur verfügen, wenn sie auch noch gut aufgezogen werden, auf diese Weise den Gipfel der Tüch­ tigkeit erreichen? ALK. Unbedingt. SO. Stellen wir also die Verhältnisse bei ihnen den Verhältnissen bei uns gegenüber und prüfen als Erstes, ob die Könige der Spartaner und der Perser von geringerer Herkunft zu sein scheinen. Oder wissen wir nicht, dass die einen Nachkommen des Herakles und die anderen Nach­ kommen des Achaimenes sind und dass das Geschlecht des Herakles ebenso wie das des Achaimenes auf Perseus, den Sohn des Zeus, zurückgeführt wird? ALK. Ja, und das meinige, Sokrates, auf Eurysakes und das des Eury­ 121a sakes auf Zeus. SO. Ja, und das meinige, edler Alkibiades, auf Daidalos und Daidalos auf Hephaistos, den Sohn des Zeus. Sie und ihre Familien aber sind, angefangen bei ihnen selbst, durchgehend Könige, die von Königen abstammen, bis hin zu Zeus, die einen Könige von Argos und Sparta, die anderen von Persien in ununterbrochener Abfolge, häufig aber auch, wie auch jetzt, von ganz Asien. Wir dagegen sind selbst ganz gewöhnli­ b che Menschen und ebenso unsere Väter. Müsstest du aber deine Vorfah­ ren und die Heimat des Eurysakes, Salamis, oder die des noch älteren Aiakos, Ägina, dem Artaxerxes,17 dem Sohn des Xerxes, präsentieren, wie lächerlich, glaubst du, würdest du dich da wohl machen? Doch gib acht, dass wir jenen Männern außer an Glanz der Herkunft nicht auch an der Art unserer Aufzucht nachstehen. Oder hast du nicht vernommen, wie groß die Privilegien sind, die die Könige der Spartaner haben, deren Frauen von Staats wegen durch die Ephoren18 überwacht werden, damit, soweit möglich, verhindert wird, dass ihr König unvermerkt von einem anderen abstammt als von Nachkommen des Herakles? Der König der c Perser aber steht so hoch über allen, dass niemand den Verdacht hegt, der künftige König könne von einem anderen abstammen als von ihm; deshalb wird die Frau des Königs auch einzig und allein von der Furcht bewacht. Sobald aber der älteste Sohn, dem die Herrschaft zufällt, gebo­ ren ist, feiern zunächst einmal alle Menschen im Reich, über die der König herrscht, und in der Folgezeit feiert dann ganz Asien an diesem Tag den Geburtstag des Königs mit Opfern und Festlichkeiten. Wenn 17 Artaxerxes, Sohn des Xerxes und der Amestris (vgl. 123c4–5. d1), persischer Großkönig zu der Zeit, zu der das fiktive Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades stattfindet. 18 Die Ephoren hatten eine zentrale Stellung in der spartanischen Staatsverwaltung inne und waren neben vielem anderen für die öffentliche Ordnung zuständig.

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wir dagegen geboren werden, dann bemerken dies, wie der Komödien­ dichter sagt,19 kaum auch nur die Nachbarn, Alkibiades. Danach wird der Knabe aufgezogen nicht etwa von einer unbedeutenden Kinderfrau, sondern von Eunuchen, die im Gefolge des Königs die Besten zu sein scheinen. Sie haben ganz allgemein den Auftrag, sich um das kleine Kind zu kümmern, vor allem aber durch Formung und richtige Ausrich­ tung seiner Glieder darauf hinzuwirken, dass es so schön wie möglich wird; und wegen dieser Tätigkeit stehen sie in hohen Ehren. Wenn die Knaben aber sieben Jahre alt geworden sind, dann begeben sie sich zum Lernen zu den Pferden und zu den Reitlehrern und fangen an, auf die Jagd zu gehen. Ist der Knabe zweimal sieben Jahre alt geworden, dann übernehmen ihn die, die sie die königlichen Knabenaufseher nennen. Es sind dies vier Männer im besten Alter, die aus den Persern ausgewählt wurden, weil sie in dem Ruf stehen, die tüchtigsten zu sein, der wei­ seste, der gerechteste, der besonnenste und der tapferste. Von ihnen lehrt der Erste den Knaben die auf Zoroastres, den Sohn des Horomazes, zurückgehende Weisheit der Mager – es ist dies die Verehrung der Göt­ ter –, er lehrt ihn aber auch die spezifischen Aufgaben eines Königs; der Gerechteste lehrt ihn, sein ganzes Leben lang die Wahrheit zu sagen; der Besonnenste, sich nie auch nur von einer einzigen Lust beherrschen zu lassen, damit er sich daran gewöhnt, frei und ein wahrer König zu sein, indem er zuallererst seine inneren Regungen beherrscht und ihnen nicht wie ein Sklave dient; der Tapferste schließlich erzieht ihn, indem er ihn zu einem Menschen macht, der frei von Furcht und Angst ist, da er, wenn er in Furcht gerate, ein Sklave sei. Bei dir dagegen, Alkibiades, betraute Perikles den wegen seines Alters unbrauchbarsten seiner Skla­ ven, den Thraker Zopyros, mit der Aufgabe des Knabenaufsehers. Ich würde dir auch noch die weitere Aufzucht und Erziehung deiner Gegner schildern, wenn dies nicht zu umständlich wäre und nicht zugleich das bisher Gesagte ausreichte, auch alles Weitere deutlich zu machen, was sich daraus ergibt. Um deine Geburt dagegen, Alkibiades, und um deine Aufzucht und Erziehung oder die jedes beliebigen anderen Atheners kümmert sich so gut wie niemand, es sei denn, jemand ist zufällig dein Liebhaber. Willst du andererseits deinen Blick auf die Reichtümer, den Luxus, die Gewänder und die Schleppen der Mäntel, die kostbaren Sal­ ben, das riesige Gefolge von Dienern und den sonstigen üppigen Lebensstil der Perser richten, dann dürftest du dich wohl über dich schä­ men, wenn du bemerkst, wie weit du hinter ihnen zurückstehst. Willst du andererseits deinen Blick auf die Besonnenheit und den Anstand der

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Plato comicus fr. 227 PCG.

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Spartaner richten und auf ihre Umgänglichkeit, ihre Anspruchslosigkeit, ihren stolzen Sinn, ihre Disziplin, ihre Tapferkeit, ihre Ausdauer, ihren Fleiß, ihren Ehrgeiz und ihr Streben nach Anerkennung, dann dürftest du dich selbst wohl in alledem für ein Kind halten. Richtest du anderer­ seits dein Augenmerk etwa auch auf den Reichtum und glaubst, in dieser Hinsicht etwas Besonderes zu sein, so wollen wir auch dies nicht uner­ wähnt lassen in der Hoffnung, dass du merkst, in welcher Situation du dich befindest. Willst du nämlich auf die Reichtümer der Spartaner bli­ cken, dann wirst du erkennen, dass die hiesigen Verhältnisse hinter den dortigen weit zurückstehen. Einen Grundbesitz, wie sie ihn in ihrem eigenen Land und in Messenien haben, würde hier kein einziger für sich beanspruchen, weder im Hinblick auf Ausdehnung und Bodenqualität noch auch im Hinblick auf den Besitz an Sklaven und besonders an helotischen, gewiss auch nicht an Pferden und allem sonstigen Vieh, das in Messenien weidet. Doch das will ich alles auf sich beruhen lassen. Gold und Silber aber gibt es bei allen Griechen zusammen nicht so viel wie in Sparta in privater Hand. Viele Generationen lang strömt es näm­ lich schon ins Land hinein aus allen Teilen Griechenlands, häufig aber auch aus den Ländern der Barbaren, heraus strömt es aber nirgendwo­ hin. Es ist vielmehr genau das der Fall, was der Fabel Äsops zufolge der Fuchs zum Löwen sagte:20 Auch von dem Geld, das nach Sparta hinein­ geht, sind die dorthin führenden Spuren unübersehbar, von Geld, das herauskommt, kann dagegen nirgendwo jemand Spuren sehen. Deshalb muss man sich völlig klar darüber sein, dass auch an Gold und Silber die Menschen dort die reichsten unter den Griechen sind und unter ihnen selbst ihr König. Von den Einnahmen dieser Art gehören nämlich die größten und meisten Anteile den Königen, und außerdem ist auch die königliche Steuer, die die Spartaner ihren Königen entrichten, nicht gering. Und so ist der Reichtum der Spartaner in Vergleich zu dem der anderen Griechen zwar groß, im Vergleich zu dem der Perser und ihres Königs aber ist er gleich null. Habe ich doch einmal gehört, wie ein glaubwürdiger Mann, der zu denen gehörte, die zum König hinaufgezo­ gen waren, sagte, er habe einen sehr großen fruchtbaren Landstrich durchquert, nahezu einen Tag lang, den die Einheimischen den Gürtel der Gemahlin des Königs nennen würden; und es gebe auch noch einen anderen, der ihr Schleier genannt werde, und sehr viele andere schöne und fruchtbare Gegenden, die ausgewählt worden seien, um den Schmuck der Gemahlin bereitzustellen, und jede dieser Gegenden trage ihren Namen nach dem jeweiligen Schmuckstück. Wenn also, glaube

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Nr. 147 Hausrath.

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ich, jemand zu der Mutter des jetzigen Königs und Gemahlin des Xer­ xes, Amestris, sagen würde: „Der Sohn der Deinomache, deren Schmuck, großzügig gerechnet, 50 Minen wert ist und deren Sohn nicht einmal 300 Plethren21 Land in Erchia22 besitzt, beabsichtigt, sich deinem Sohn entgegenzustellen,“ dann würde diese sich gewiss verwundert fra­ gen, worauf dieser Alkibiades da denn wohl sein Vertrauen setze, wenn er beabsichtigt, sich mit Artaxerxes im Kampf zu messen, und sie würde, glaube ich, gewiss sagen, dass dieser Mann sein Vertrauen bei seinem Vorhaben einzig und allein auf Bemühung und Wissen setze; dies nämlich sei das einzige bei den Griechen, was der Erwähnung wert sei. Wenn sie dann erführe, dass dieser Alkibiades sein Vorhaben jetzt betreibt, obwohl er erstens noch nicht zwanzig Jahre alt und zweitens bar jeder Erziehung ist, und dass er außerdem nicht gewillt ist, auf sei­ nen Liebhaber zu hören, der zu ihm sagt, er müsse zuerst einmal lernen und sich um sich selbst bemühen und üben und erst dann darangehen, sich mit dem König im Kampf zu messen, sondern ihm entgegnet, dafür reiche auch die Verfassung, in der er sich befinde, dann würde Amestris sich wohl wundern, glaube ich, und sagen: „Was ist es denn nun, worauf das Bürschchen sein Vertrauen setzt?“ Wenn wir dann sagten, auf seine Schönheit, seine Körpergröße, seine Herkunft, seinen Reichtum und die Natur seiner Seele, dann würde sie uns, Alkibiades, mit dem Blick auf alle Vorzüge dieser Art bei ihnen in Persien für verrückt halten. Ich glaube aber, auch Lampido, die Tochter des Leotychides, Frau des Archidamos und Mutter des Agis, die allesamt Könige waren, würde sich ihrerseits mit dem Blick auf die Verhältnisse bei ihnen in Sparta wundern, dass du beabsichtigst, dich mit ihrem Sohn im Kampf zu mes­ sen, wo du doch so schlecht erzogen bist. Scheint es dir nun aber nicht beschämend zu sein, wenn die Frauen unserer Feinde im Hinblick auf uns besser darüber nachdenken, welche Qualitäten wir haben müssen, um sie angreifen zu können, als wir im Hinblick auf uns selbst? Darum, mein Bester, hör auf mich und auf den Spruch in Delphi und erkenne dich selbst: Diese sind unsere Gegner und nicht die, die du dafür hältst. Sie aber können wir einzig und allein durch Bemühung und Fachwissen bezwingen. Mangelt es dir daran, dann wird es dir auch an dem Ruhm unter Griechen und Barbaren mangeln, den du, wie mir scheint, so lei­ denschaftlich begehrst wie sonst keiner irgendetwas. ALK. In welcher Weise muss ich mich also bemühen, Sokrates?

21

300 Plethren = 0, 285 km2 = 28, 5 Hektar. Der attische Demos Erchia lag zwischen dem Hymettos und der Ostküste Attikas; vgl. Anm. 165. 22

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Kannst du mir das erläutern? Denn du scheinst mir voll und ganz die Wahrheit gesagt zu haben. SO. Ja, das kann ich. Doch wir wollen gemeinsam darüber beraten, c auf welche Weise wir so tüchtig wie möglich werden. Denn ich behaupte gewiss nicht, dass du erzogen werden musst, ich aber nicht. Ich bin dir nämlich in nichts voraus außer in einem Punkt. ALK. In welchem? SO. Mein Vormund ist besser und wissender als der deine, Perikles. ALK. Wer ist denn das, Sokrates? SO. Der Gott, Alkibiades, der es nicht zuließ, dass ich mich vor dem heutigen Tag mit dir unterhielt. Er ist es auch, auf den ich mein Ver­ trauen setze, wenn ich behaupte, dass dir das glanzvolle Erscheinen in der Öffentlichkeit durch keinen anderen ermöglicht werden wird als durch mich. ALK. Du scherzt, Sokrates. d SO. Vielleicht. Ich sage jedoch die Wahrheit, wenn ich behaupte, dass wir der Bemühung bedürfen, in hohem Maße die Menschen insgesamt, wir beide aber ganz besonders dringend. ALK. Was mich betrifft, täuschst du dich nicht. SO. Aber auch nicht, was mich betrifft. ALK. Was können wir also tun? SO. Wir dürfen nicht ermatten und nicht träge werden, mein Freund. ALK. Das gebührt sich in der Tat nicht, Sokrates. SO. So ist es; wir müssen vielmehr gemeinsam überlegen. Und so sag e mir: Wir behaupten doch, wir wollten so tüchtig wie möglich werden, nicht wahr? ALK. Ja. SO. In welcher Art von Tüchtigkeit? ALK. Natürlich in der, in der es die tüchtigen Männer sind. SO. Tüchtig worin? ALK. Natürlich darin, die Angelegenheiten zu erledigen. SO. Was für Angelegenheiten? Die, die mit Pferden zu tun haben? ALK. Keineswegs. SO. In diesem Fall würden wir selbstverständlich zu den Fachleuten auf dem Gebiet der Pferdezucht gehen? ALK. Ja. SO. Du meinst vielmehr die Angelegenheiten, die mit der Seefahrt zu tun haben? ALK. Nein. SO. Denn in diesem Fall würden wir zu den Fachleuten auf dem Gebiet der Seefahrt gehen? ALK. Ja.

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SO. Doch was für Angelegenheiten meinst du? Welche Menschen sind es, die sie erledigen? ALK. Die Edlen und Tüchtigen unter den Athenern. SO. Nennst du edel und tüchtig die, die über Sachverstand verfügen, 125a oder die, bei denen dies nicht der Fall ist? ALK. Die, die über Sachverstand verfügen. SO. Jeder, der auf einem Gebiet über Sachverstand verfügt, ist auf ihm doch tüchtig? ALK. Ja. SO. Wer auf ihm aber nicht über Sachverstand verfügt, schlecht? ALK. Natürlich. SO. Nun verfügt der Schuster über Sachverstand in Bezug auf die Herstellung von Schuhen? ALK. Gewiss. SO. In Bezug auf diese Dinge ist er also tüchtig? ALK. Ja. SO. In Bezug auf die Herstellung von Kleidungsstücken verfügt der b Schuster dagegen doch wohl nicht über Sachverstand? ALK. So ist es. SO. In Bezug auf dies ist er also schlecht? ALK. Ja. SO. Eine und dieselbe Person ist also, wenigstens nach dieser Argu­ mentation, sowohl schlecht als auch tüchtig? ALK. So scheint es. SO. Meinst du also, die tüchtigen Männer seien auch schlecht? ALK. Gewiss nicht. SO. Aber wen meinst du denn, wenn du von den tüchtigen Männern sprichst? ALK. Ich meine die, die imstande sind, in der Polis die Macht auszu­ üben. SO. Doch wohl nicht über Pferde? ALK. Natürlich nicht. SO. Sondern über Menschen. ALK. Ja. SO. Über solche, die krank sind? ALK. Nein. SO. Oder über solche, die mit einem Schiff fahren? ALK. Nein. SO. Oder über solche, die mähen? ALK. Nein. SO. Über solche, die nichts tun, oder über solche, die etwas tun? c ALK. Über solche, die etwas tun, meine ich.

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SO. Aber was? Versuch, dies auch mir klarzumachen. ALK. Über solche, die Kontakte zueinander unterhalten und geschäft­ lich miteinander verkehren und miteinander zu tun haben, so wie dies in unserem alltäglichen Leben in unseren Poleis der Fall ist. SO. Du meinst, dass sie die Macht ausüben über Menschen, die mit Menschen zu tun haben, nicht wahr? ALK. Ja. SO. Über Kommandogeber, die mit Ruderern zu tun haben? ALK. Gewiss nicht. SO. Weil dies die spezifische Tüchtigkeit der Schiffskommandanten ist. ALK. Ja. SO. Aber meinst du solche, die die Macht ausüben über Aulos spie­ d lende Menschen, die Menschen beim Chorgesang anführen und mit Chorsängern zu tun haben? ALK. Mitnichten. SO. Weil dies wiederum die spezifische Tüchtigkeit der Chorlehrer ist. ALK. Gewiss. SO. Was aber meinst du denn, wenn du von der Fähigkeit sprichst, die Macht über Menschen auszuüben, die mit Menschen zu tun haben? ALK. Ich meine die Fähigkeit, die Macht über diejenigen in der Polis auszuüben, die am Bürgerrecht teilhaben und geschäftlich miteinander verkehren. SO. Was für ein Fachwissen ist dies? Lass mich dich erneut genauso fragen wie soeben schon einmal: Welches Fachwissen versetzt einen in die Lage, die Macht auszuüben über die, die sich an der Seefahrt beteili­ gen? ALK. Das Fachwissen der Schiffskommandanten. SO. Und welches Wissen versetzt einen in die Lage, die Macht auszu­ e üben über die, die sich, worüber wir soeben gesprochen haben, am Chorgesang beteiligen? ALK. Das, welches du gerade genannt hast, das Fachwissen der Chor­ lehrer. SO. Nun weiter: Wie nennst du das Wissen, das einen in die Lage ver­ setzt, über die die Macht auszuüben, die am Bürgerrecht teilhaben? ALK. Ich für meine Person nenne es die Fähigkeit, die Dinge sorgfäl­ tig zu durchdenken, Sokrates. SO. Wie? Scheint dir etwa das Wissen der Schiffskommandanten, was dies betrifft, Unfähigkeit zu sein? ALK. Gewiss nicht. SO. Sondern Fähigkeit?

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ALK. Ja, und zwar die Fähigkeit, die darauf ausgerichtet ist, die Sicherheit von solchen zu gewährleisten, die mit einem Schiff fahren. SO. Richtig. Worauf aber ist die Fähigkeit ausgerichtet, von der du sprichst? ALK. Darauf, die Polis besser zu verwalten und ihre Sicherheit zu gewährleisten. SO. Was aber ist es, was vorhanden sein muss bzw. nicht vorhanden sein darf, wenn die Polis besser verwaltet und ihre Sicherheit gewähr­ leistet werden soll? Würdest du mich zum Beispiel fragen: „Was ist es, was vorhanden sein muss bzw. nicht vorhanden sein darf, wenn ein Kör­ per besser verwaltet und seine Sicherheit gewährleistet werden soll?“, dann würde ich dir antworten: „Wenn Gesundheit vorhanden und Krankheit nicht vorhanden ist.“ Ist dies nicht auch deine Meinung? ALK. Ja. b SO. Und wenn du mich wiederum fragtest: „Was ist es, was vorhan­ den sein muss, wenn Entsprechendes für Augen gewährleistet werden soll?“, dann würde ich in der gleichen Weise antworten: „Wenn Sehkraft vorhanden und Blindheit nicht vorhanden ist.“ Und Ohren werden in einen besseren Zustand versetzt und besser gepflegt, wenn Taubheit nicht vorhanden und Hörfähigkeit vorhanden ist. ALK. Richtig. SO. Wie nun also? Was ist es, was vorhanden sein muss und was nicht vorhanden sein darf, wenn eine Polis in einen besseren Zustand versetzt und besser gepflegt und verwaltet werden soll? ALK. Mir scheint, Sokrates, dass dies dann der Fall ist, wenn unter c den Menschen gegenseitige Freundschaft herrscht, Hass und Partei­ kämpfe aber nicht vorhanden sind. SO. Meinst du mit Freundschaft Einigkeit oder Uneinigkeit? ALK. Einigkeit. SO. Welches Fachwissen ist es nun, das den Poleis dazu verhilft, in Bezug auf Zahlen einig zu sein? ALK. Die Mathematik. SO. Und den einzelnen Menschen in ihr? Nicht dasselbe? ALK. Doch. SO. Und auch jedem Einzelnen verhilft sie dazu, mit sich selbst einig zu sein? ALK. Ja. SO. Und welches Fachwissen ist es, das jedem Einzelnen dazu ver­ hilft, mit sich selbst einig zu sein, wenn es darum geht zu entscheiden, d was von beidem größer ist, eine Spanne oder eine Elle? Doch wohl das Fachwissen auf dem Gebiet des Messens? ALK. Was denn sonst.

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SO. Und auch den einzelnen Menschen und den Poleis verhilft es dazu, miteinander einig zu sein? ALK. Ja. SO. Und entsprechend verhält es sich in Bezug auf das Gewicht? ALK. Ja. SO. Kommen wir nun also zu der Einigkeit, von der du sprichst: Um was für eine Form von Einigkeit handelt es sich und worauf bezieht sie sich und welches Fachwissen bringt sie hervor? Und ist sie dieselbe für die Polis und für den einzelnen Menschen und für ihn sowohl im Ver­ hältnis zu sich selbst als auch im Verhältnis zu einem anderen? ALK. Das ist jedenfalls wahrscheinlich. SO. Um was für eine Form von Einigkeit handelt es sich also? Werd e nicht müde mir zu antworten, sondern fass dir ein Herz und sag es mir. ALK. Ich glaube, ich meine die Freundschaft und die Einigkeit, die einen Vater und eine Mutter, die einen Sohn lieben, mit diesem einig sein lässt und einen Bruder mit einem Bruder und einen Mann mit einer Frau. SO. Meinst du also, Alkibiades, ein Mann könnte mit einer Frau in Bezug auf das Spinnen von Wolle einig sein, er, der nichts davon ver­ steht, mit ihr, die sich darauf versteht? ALK. Gewiss nicht. SO. Das ist auch gar nicht nötig, da dies eine spezifisch weibliche Fachkenntnis ist. ALK. Ja. SO. Und weiter: Könnte eine Frau mit einem Mann in Bezug auf das 127a Fachwissen im Umgang mit Waffen einig sein, wenn sie es doch nicht gelernt hat? ALK. Gewiss nicht. SO. Du würdest das vermutlich wiederum als eine spezifisch männli­ che Fachkenntnis bezeichnen? ALK. Ja. SO. Es gibt also deinen Worten zufolge einerseits spezifisch weibliche und andererseits spezifisch männliche Fachkenntnisse? ALK. Zweifellos. SO. Bei diesen gibt es folglich keine Einigkeit zwischen Frauen und Männern. ALK. Nein. SO. Also auch keine Freundschaft, wenn denn die Freundschaft Einigkeit war. ALK. Offenbar nicht. SO. Insoweit die Frauen also ihre spezifischen Tätigkeiten ausüben, werden sie von den Männern nicht geliebt.

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ALK. So scheint es. SO. Und also auch die Männer nicht von den Frauen, insoweit sie die ihrigen ausüben. ALK. Ja. SO. Und die Poleis werden also auf diese Weise nicht gut verwaltet, wenn die einzelnen Menschen ihre je spezifischen Tätigkeiten ausüben? ALK. Doch, meiner Ansicht nach ist genau dies der Fall, Sokrates. SO. Wie meinst du das? Dass Poleis gut verwaltet werden, wenn keine Freundschaft vorhanden ist, wo wir doch sagten, dass sie nur dann gut verwaltet werden, wenn Freundschaft in ihnen herrscht, anders aber nicht? ALK. Mir scheint jedoch, dass auch deshalb in ihnen Freundschaft herrscht, weil beide, Männer wie Frauen, ihre je spezifischen Tätigkei­ ten ausüben. SO. Eben noch warst du anderer Ansicht. Doch wie meinst du das c jetzt wieder? Obwohl keine Einigkeit herrscht, herrscht Freundschaft? Oder kann es sein, dass Einigkeit herrscht in Bezug auf die Dinge, die die einen verstehen, die anderen aber nicht? ALK. Das ist unmöglich. SO. Handeln die einzelnen Menschen gerecht oder ungerecht, wenn sie ihre spezifischen Tätigkeiten ausüben? ALK. Gerecht natürlich. SO. Wenn nun die Bürger in der Polis gerecht handeln, dann herrscht keine gegenseitige Freundschaft unter ihnen? ALK. Doch, das scheint mir wiederum notwendigerweise so zu sein, Sokrates. SO. Was für eine Freundschaft oder Einigkeit meinst du denn nun, d bezüglich derer wir wissend und zum sorgfältigen Durchdenken der Dinge befähigt sein müssen, um tüchtige Männer zu sein? Ich kann nämlich weder verstehen, was für eine es ist, noch, unter welchen Men­ schen sie sich findet, denn offenkundig ist es so, dass sie sich unter den­ selben Personen bald findet, bald aber auch nicht findet, wenn man dei­ nen Worten folgt. ALK. Bei den Göttern, Sokrates, auch ich selbst weiß nicht mehr, was ich meine, und schon lange scheine ich, ohne es zu merken, in einer äußerst beschämenden Verfassung zu sein. SO. Nur Mut! Hättest du als Fünfzigjähriger gemerkt, wie es um dich e bestellt ist, dann wäre es wohl schwierig für dich, dich um dich selbst zu bemühen. Das Alter jedoch, das du jetzt hast, ist genau das, in dem man es merken muss. ALK. Was muss man also tun, wenn man dies merkt, Sokrates? SO. Auf das antworten, was man gefragt wird, Alkibiades. Und wenn du b

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das tust, dann wird sich, so Gott will und sofern man meiner Prophezeiung ein wenig trauen darf, sowohl deine als auch meine Verfassung bessern. ALK. Das wird geschehen, jedenfalls soweit es auf meine Bereitschaft zu antworten ankommt. SO. Nun denn, was ist dies, das Sich-um-sich-selbst-Bemühen – wir 128a wollen doch verhindern, dass wir uns vielleicht, ohne es zu merken, gar nicht um uns selbst bemühen, sondern uns dies nur einbilden –, und wann also praktiziert der Mensch dies? Bemüht er sich, wenn er sich um die Dinge bemüht, die zu ihm gehören, auch um sich selbst? ALK. Mir jedenfalls scheint dies so zu sein. SO. Wie? Wann bemüht sich der Mensch um seine Füße? Tut er dies, wenn er sich um jene Dinge bemüht, die zu seinen Füßen gehören? ALK. Das verstehe ich nicht. SO. Du sprichst doch von etwas, was zu einer Hand gehört? Würdest du z. B. von einem Fingerring sagen, dass er zu etwas anderem vom Menschen gehört als zu seinem Finger? ALK. Gewiss nicht. SO. Und gehört nun nicht auf die gleiche Weise der Schuh zum Fuß? ALK. Ja. SO. Und Kleidungsstücke und Decken ebenso zum übrigen Körper? ALK. Ja. b SO. Wenn wir uns nun um unsere Schuhe bemühen, bemühen wir uns dann um unsere Füße? ALK. Das verstehe ich nicht so ganz, Sokrates. SO. Wie, Alkibiades? Du sprichst doch davon, dass man sich in der rechten Weise um irgendeine Sache bemüht? ALK. Ja. SO. Von einer richtigen Bemühung sprichst du aber wohl dann, wenn jemand etwas besser macht? ALK. Ja. SO. Welches Fachwissen ist es nun, das Schuhe besser macht? ALK. Das des Schusters. SO. Mit dem Fachwissen des Schusters bemühen wir uns also um Schuhe? ALK. Ja. c SO. Bemühen wir uns mit dem Fachwissen des Schusters auch um den Fuß? Oder nicht vielmehr mit jenem Fachwissen, mit dem wir Füße besser machen? ALK. Mit jenem. SO. Die Füße aber machen wir mit eben jenem Fachwissen besser, mit dem wir auch den übrigen Körper besser machen? ALK. Ich glaube schon.

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SO. Ist dies nicht das Fachwissen auf dem Gebiet des Sports? ALK. Gewiss. SO. Mit dem Fachwissen auf dem Gebiet des Sports bemühen wir uns also um den Fuß, mit dem Fachwissen des Schusters aber um die Dinge, die zum Fuß gehören? ALK. Jawohl. SO. Und mit dem Fachwissen auf dem Gebiet des Sports um die Hände, dem Fachwissen auf dem Gebiet der Steinschneidekunst aber um die Dinge, die zur Hand gehören? ALK. Ja. SO. Und mit dem Fachwissen auf dem Gebiet des Sports um den Kör­ per, dem Fachwissen auf dem Gebiet des Webens aber und den anderen d Formen von Fachwissen um die Dinge, die zum Körper gehören? ALK. Gewiss doch. SO. Mit einem Fachwissen bemühen wir uns also um eine jede Sache selbst, mit einem anderen aber um die Dinge, die zu ihr gehören. ALK. Offenbar. SO. Wenn du dich um die Dinge bemühst, die zu dir gehören, bemühst du dich also nicht um dich selbst. ALK. Durchaus nicht. SO. Es ist also, wie es scheint, nicht dasselbe Fachwissen, mit dem man sich um sich selbst bemüht und um die Dinge, die zu einem gehören. ALK. Offenbar nicht. SO. Nun denn, mit was für einem Fachwissen bemühen wir uns denn wohl um uns selbst? ALK. Das kann ich nicht sagen. SO. So viel aber steht zwischen uns jedenfalls fest, dass es nicht ein e Fachwissen ist, mit dem wir auch nur das Mindeste von dem besser machen, was zu uns gehört, sondern eines, mit dem wir uns selbst besser machen? ALK. Du hast recht. SO. Hätten wir nun jemals erkannt, welches Fachwissen einen Schuh besser macht, wenn wir nicht wüssten, was ein Schuh ist? ALK. Unmöglich. SO. Und auch nicht, welches Fachwissen Fingerringe besser macht, wenn wir nicht wüssten, was ein Fingerring ist. ALK. Richtig. SO. Wie nun: Könnten wir wohl jemals erkennen, welches Fachwis­ sen einen jeden selbst besser macht, wenn wir nicht wissen, was wir selbst denn sind? ALK. Unmöglich. 129a SO. Ist es nun also leicht sich selbst zu erkennen, und war es ein ein­

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fältiger Mensch, der diese Aufforderung am Tempel in Delphi anbringen ließ, oder ist es etwas Schwieriges und nicht jedermanns Sache? ALK. Mir schien es häufig jedermanns Sache zu sein, Sokrates, häu­ fig aber auch außerordentlich schwierig. SO. Doch ganz gleich, Alkibiades, ob dies leicht ist oder nicht, für uns verhält sich die Sache auf jeden Fall so: Haben wir dies erkannt, dann werden wir vielleicht erkennen, worin die Bemühung um uns selbst besteht, erkennen wir es dagegen nicht, dann gewiss niemals. ALK. So ist es. SO. Nun denn, auf welche Weise kann wohl das Selbst selbst ausfin­ b dig gemacht werden? Gelingt uns dies nämlich, werden wir vielleicht ausfindig machen, was wir selbst sind, solange wir dies nicht wissen, werden wir vermutlich nicht dazu in der Lage sein. ALK. Du hast recht. SO. Halt, bei Zeus! Mit wem sprichst du jetzt? Doch wohl mit mir, nicht wahr? ALK. Ja. SO. Und ich mit dir? ALK. Ja. SO. Sokrates ist also der, der zu einem anderen spricht? ALK. Gewiss. SO. Alkibiades aber der, der zuhört? ALK. Ja. SO. Sokrates spricht doch wohl mithilfe von Sprache? ALK. Wie sonst? c SO. Sprechen und sich der Sprache bedienen ist deinen Worten zufolge offenbar ein und dasselbe? ALK. Allerdings. SO. Sind nun nicht derjenige, der sich einer Sache bedient, und die Sache, derer er sich bedient, etwas Verschiedenes? ALK. Wie meinst du das? SO. Der Schuster zum Beispiel schneidet doch wohl mit Messern mit runder und gerader Klinge und anderen Geräten. ALK. Ja SO. Sind nun nicht der, der schneidet und sich der Geräte bedient, und die Geräte, deren er sich beim Schneiden bedient, etwas Verschiedenes? ALK. Natürlich. SO. In der gleichen Weise sind doch auch die Geräte, mit denen der Lei­ erspieler Musik macht,23 und der Leierspieler selbst etwas Verschiedenes? 23

Die Leier und das Plektron, ein Plättchen aus Holz, Horn oder Metall, mit dem die Saiten angerissen wurden.

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ALK. Ja. SO. Eben danach also habe ich soeben gefragt, ob derjenige, der sich einer Sache bedient, und die Sache, derer er sich bedient, stets etwas Verschiedenes zu sein scheinen. ALK. Das scheint so zu sein. SO. Was sollen wir nun im Hinblick auf den Schuster sagen? Dass er nur mit Werkzeugen schneidet oder auch mit seinen Händen? ALK. Auch mit seinen Händen. SO. Auch ihrer bedient er sich also? ALK. Ja. SO. Auch seiner Augen bedient er sich, wenn er sein Schusterhand­ werk ausübt? ALK. Ja. SO. Wir stimmen aber doch darin überein, dass derjenige, der sich bestimmter Dinge bedient, und die Dinge, deren er sich bedient, etwas Verschiedenes sind? ALK. Ja. SO. Der Schuster und der Leierspieler sind also verschieden von den e Händen und den Augen, mit denen sie ihre Tätigkeiten ausüben? ALK. Offenkundig. SO. Bedient sich der Mensch nun nicht auch seines gesamten Kör­ pers? ALK. Sicherlich. SO. Dasjenige, was sich einer Sache bedient, und die Sache, derer es sich bedient, waren doch aber etwas Verschiedenes? ALK. Ja. SO. Der Mensch ist also verschieden von seinem Körper? ALK. So scheint es. SO. Was ist denn nun also der Mensch? ALK. Das kann ich nicht sagen. SO. Doch, das kannst du, nämlich: Er ist das, was sich des Körpers bedient. ALK. Ja. SO. Ist nun, was sich des Körpers bedient, etwas anderes als die 130a Seele? ALK. Nein. SO. Doch wohl, indem sie die Macht über ihn ausübt? ALK. Ja. SO. Und das Folgende wird, glaube ich, gewiss niemand in Zweifel ziehen. ALK. Was? SO. Dass der Mensch eines von dreien ist. d

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ALK. Von welchen? SO. Entweder Seele oder Körper oder beides zusammen, also dieses Ganze. ALK. Was sonst? SO. Wir waren aber doch dahingehend übereingekommen, dass der Mensch ebendas ist, was über den Körper die Macht ausübt? ALK. So war es. b SO. Übt nun der Körper die Macht über sich selbst aus? ALK. Keineswegs. SO. Wir sagten nämlich, dass vielmehr über ihn die Macht ausgeübt wird. ALK. Ja. SO. Er ist also nicht das, was wir suchen. ALK. So scheint es. SO. Übt also die Kombination von beidem die Macht über den Körper aus, und ist der Mensch somit ebendies? ALK. Vielleicht ja. SO. Ausgeschlossen, denn wenn das eine von beidem nicht an der Machtausübung beteiligt ist, ist es unmöglich, dass die Kombination von beidem die Macht ausübt. ALK. Richtig. SO. Da aber weder der Körper noch die Kombination von beidem der c Mensch ist, bleibt meiner Meinung nach nur dies übrig: Entweder ist der Mensch keines von den dreien, oder er ist, wenn er etwas davon ist, nichts anderes als die Seele. ALK. Genau. SO. Soll dir nun noch etwas deutlicher aufgezeigt werden, dass die Seele der Mensch ist? ALK. Nein, bei Zeus, mir scheint dies auszureichen. SO. Wenn es auch nicht in exakter, aber immerhin in angemessener Weise aufgezeigt wurde, genügt es uns; genau werden wir es nämlich erst dann wissen, wenn wir das ausfindig gemacht haben, was wir eben d beiseitegelassen haben, weil es eine sehr umfangreiche Untersuchung erfordert. ALK. Was meinst du damit? SO. Was gerade etwa so formuliert wurde, dass zuerst das Selbst selbst untersucht werden müsse. Jetzt aber haben wir anstatt des Selbst selbst nur untersucht, was ein jeder selbst ist. Und vielleicht wird uns das genügen; denn wir werden wohl nichts Machtvolleres von uns nen­ nen können als unsere Seele. ALK. Gewiss nicht. SO. Es ist also doch wohl richtig, davon überzeugt zu sein, dass, wenn

52

e

131a

b

c

Übersetzung

ich und du miteinander kommunizieren, indem wir uns der Wörter bedienen, die eine Seele mit der anderen kommuniziert? ALK. Ganz gewiss. SO. Das war also das, was wir vor Kurzem gesagt haben: Dass Sokra­ tes, wenn er sich, indem er sich der Sprache bedient, mit Alkibiades unterhält, seine Worte offenbar nicht an dein Gesicht richtet, sondern an Alkibiades; das aber ist seine Seele. ALK. So scheint es mir. SO. Der, der die Weisung erteilt, sich selbst zu erkennen, befiehlt uns also, unsere Seele kennenzulernen. ALK. So scheint es. SO. Wer also einen der Teile, die zu seinem Körper gehören, erkennt, der kennt die Dinge, die zu ihm gehören, aber nicht sich selbst. ALK. So ist es. SO. Keiner der Ärzte erkennt also, insoweit er Arzt ist, sich selbst und auch keiner der Sportlehrer, insoweit er Sportlehrer ist. ALK. Offenbar nicht. SO. Weit sind also die Bauern und die Handwerker davon entfernt, sich selbst zu erkennen. Denn sie erkennen, wie es scheint, noch nicht einmal die Dinge, die zu ihnen gehören, sondern solche, die noch weiter entfernt sind als die Dinge, die zu ihnen gehören, jedenfalls insoweit es um das Fachwissen geht, das sie besitzen; denn sie erkennen die Dinge, die zum Körper gehören, die, mit denen dieser gepflegt wird. ALK. Du hast recht. SO. Wenn also das Sich-selbst-Erkennen Besonnenheit ist, dann ist keiner von ihnen besonnen, soweit es um sein Fachwissen geht. ALK. So scheint es. SO. Deswegen scheinen diese Formen des Fachwissens auch nur geringes Ansehen zu genießen und nicht Fachkenntnisse eines tüchtigen Mannes sein. ALK. Gewiss. SO. Also noch einmal: Wer seinen Körper pflegt, pflegt Dinge, die zu ihm gehören, aber nicht sich selbst? ALK. So sieht es aus. SO. Wer aber seinen Besitz pflegt, der pflegt doch wohl weder sich selbst noch die Dinge, die zu ihm gehören, sondern solche, die noch weiter entfernt sind als die, die zu ihm gehören? ALK. So scheint es mir. SO. Wer danach strebt, seinen Besitz zu mehren, der betreibt also nicht mehr die Dinge, die zu ihm gehören. ALK. Richtig. SO. Wenn also einer ein Liebhaber des Körpers des Alkibiades ist,

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dann hat er sich nicht in Alkibiades verliebt, sondern in etwas von dem, was zu Alkibiades gehört. ALK. Du hast recht. SO. In ihn hat sich vielmehr der verliebt, der deine Seele liebt? ALK. Nach dem, was wir gesagt haben, scheint dies unabweislich so zu sein. SO. Wer deinen Körper liebt, der macht sich doch wohl davon, sobald dessen Blüte dahinschwindet? ALK. Offenbar. SO. Wer aber deine Seele liebt, der geht nicht weg, solange diese auf d dem Weg zum Besseren ist? ALK. Wahrscheinlich. SO. Ich bin also derjenige, der nicht weggeht, sondern ausharrt, obwohl die Blüte deines Körpers dahinschwindet, während die anderen sich davongemacht haben. ALK. Da tust du gut daran, Sokrates; und geh bitte auch nicht weg! SO. Bemüh dich also, so schön wie möglich zu sein. ALK. Das werde ich tun. SO. So nämlich ist es um dich bestellt: Alkibiades, der Sohn des e Kleinias, hat, wie es scheint, weder einen Liebhaber gehabt noch hat er einen, ausgenommen einen einzigen und zwar einen ersehnten:24 Sokra­ tes, den Sohn des Sophroniskos und der Phainarete. ALK. Richtig. SO. Sagtest du nun nicht, dass ich, als ich an dich herantrat, dir um ein weniges zuvorkam, da du sonst deinerseits als erster an mich herangetre­ ten wärest in der Absicht, mich zu fragen, warum ich als einziger nicht von dir fortginge? ALK. Ja, so war es. SO. Der Grund dafür ist also der, dass ich der einzige bin, der dich liebte, die anderen dagegen liebten nur die Dinge, die zu dir gehören; bei diesen Dingen aber endet die Blütezeit, du selbst dagegen beginnst 132a erst zu blühen. Und wenn du dich jetzt nicht vom Volk der Athener ver­ derben lässt und hässlicher wirst, dann werde ich dich gewiss nicht ver­ lassen. Denn dies fürchte ich in der Tat am meisten, dass du uns ein Liebhaber des Volkes und dadurch verdorben wirst; das ist nämlich schon vielen tüchtigen Athenern widerfahren. Denn nach außen hin 24

131e2–3 „einen einzigen und zwar einen ersehnten“ (εἷς μόνος καὶ οὗτος ἀγαπητός). Anspielung auf die Worte, mit denen Eurykleia, die alte Kinderfrau des Odysseus, ihre Besorgnis kundtut, nachdem Telemachos ihr mitgeteilt hat, dass er sich auf die Suche nach seinem Vater machen wolle (Od. 2, 364–365): „Wieso willst du über viel Land hin gehen, der du doch der ein­ zige ersehnte (sc. Sohn) bist (μοῦνος ἐὼν ἀγαπητός)?“

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b

c

d

e

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sieht „das Volk des großherzigen Erechtheus“25 schön aus, doch muss man es betrachten, nachdem man es seiner äußeren Hülle entkleidet hat. Lass also die Vorsicht walten, die ich dir empfehle. ALK. Welche? SO. Üb dich zunächst, mein Bester, und lern das, was man gelernt haben muss, wenn man sich in die Politik begeben will, vorher aber tu dies nicht, damit du dich mit Gegenmitteln ausgestattet in die Politik begibst und dir nichts Furchtbares widerfährt. ALK. Du scheinst mir recht zu haben, Sokrates. Doch versuch mir zu erklären, auf welche Weise wir uns um uns selbst bemühen können. SO. Nun denn, so viel sind wir vorangekommen: Was wir sind, darü­ ber haben wir uns in annehmbarer Weise verständigt. Wir fürchteten aber, wir könnten in diesem Punkt in die Irre gehen und uns deshalb, ohne es zu merken, um etwas anderes statt um uns selbst bemühen. ALK. So ist es. SO. Und danach haben wir uns darüber verständigt, dass man sich um seine Seele bemühen und seinen Blick ebendarauf richten muss. ALK. Klar. SO. Dass man aber die Bemühung um seinen Körper und seinen Besitz anderen überlassen muss. ALK. Gewiss doch. SO. Auf welche Weise können wir diese Dinge nun wohl am klarsten erkennen? Denn wenn wir dies erkannt haben, werden wir, wie es scheint, auch uns selbst erkennen. Bei den Göttern, haben wir die vor­ trefflichen Worte der eben erwähnten Inschrift in Delphi nicht verstan­ den? ALK. Woran denkst du, wenn du dies sagst? SO. Ich will dir erklären, was diese Inschrift meiner Vermutung nach meint und uns rät. Es scheint nämlich kaum irgendwo einen Parallelfall dazu zu geben, sondern allein beim Sehen. ALK. Wie meinst du das? SO. Denk auch du darüber nach. Angenommen, die Inschrift gäbe unserem Auge wie einem Menschen einen Rat und sagte: „Sieh dich selbst!“, wie würden wir ihren Rat verstehen? Nicht so, dass das Auge in das blicken solle, worin es sich selbst sehen könnte? ALK. Klar. SO. Lass uns also überlegen, in was für einen Gegenstand wir blicken müssen, um zugleich ihn und uns selbst zu sehen? ALK. Offenkundig in Spiegel und Gegenstände gleicher Art, Sokrates.

25

Zitat des Verses Ilias 2, 547 (mit veränderter Wortfolge).

Übersetzung

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SO. Richtig. Gibt es nun auch in dem Auge, mit dem wir sehen, etwas Derartiges? ALK. Gewiss doch. SO. Du hast also bemerkt, dass, wenn jemand in das Auge eines ande­ 133a ren blickt, sein Gesicht im Sehloch seines Gegenübers wie in einem Spiegel erscheint, weshalb wir denn auch von einer Pupille (d. h. einem Püppchen) sprechen, da, was erscheint, ein Abbild dessen ist, der hineinblickt. ALK. Richtig. SO. Wenn also ein Auge ein Auge betrachtet und dabei in das blickt, was das Beste von ihm ist und womit es sieht, dann kann es auf diese Weise sich selbst sehen. ALK. Offenbar. SO. Wenn es aber auf etwas anderes vom Menschen blickt oder auf irgendeinen sonstigen Gegenstand mit Ausnahme jenes Gegenstandes, dem ebendies ähnlich ist, dann kann es sich selbst nicht sehen. ALK. Richtig. b SO. Wenn also ein Auge sich selbst sehen will, muss es in ein Auge blicken und zwar in jenen Bereich des Auges, in dem die Tüchtigkeit des Auges angesiedelt ist, das Sehvermögen? ALK. Ja. SO. Muss nun, mein lieber Alkibiades, nicht auch eine Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele blicken und ganz besonders in jenen Bereich von ihr, in dem die Tüchtigkeit der Seele angesiedelt ist, das Wissen, und in anderes, dem dies ähnlich ist? ALK. Ich glaube schon, Sokrates. SO. Können wir nun etwas von der Seele nennen, was göttlicher ist c als dasjenige, wo das Wissen und das Denken ihren Sitz haben? ALK. Nein. SO. Dem Gott also ähnelt dies von ihr, und wenn jemand in dies blickt und alles, was göttlich ist, erkennt, sowohl Gott als auch das Denken, dann wird er auf diese Weise auch sich selbst am besten erkennen. ALK. Offenbar. SO. Wie nun Spiegel klarer sind als die spiegelnde Fläche im Auge und reiner und leuchtender, so ist doch wohl auch der Gott reiner und leuchtender als das Beste in unserer Seele? ALK. So scheint es, Sokrates. SO. Wenn wir also auf den Gott blicken, dürften wir ihn als die beste spiegelnde Fläche benutzen, und wenn wir von den Dingen im mensch­ lichen Bereich auf die Tüchtigkeit einer Seele blicken, und auf diese Weise dürften wir uns selbst am besten sehen und erkennen. ALK. Ja.

56

Übersetzung

SO. Wir stimmten aber doch darin überein, dass das Sich-selbstErkennen Besonnenheit ist? ALK. Gewiss. SO. Wenn wir nun uns selbst nicht erkennen und nicht besonnen sind, können wir dann wohl die Dinge kennen, die zu uns gehören, die schlechten und die guten? ALK. Wie sollte das wohl möglich sein, Sokrates? SO. Denn vermutlich erscheint es dir unmöglich, dass man, wenn d man Alkibiades nicht erkennt, erkennt, dass die Dinge, die zu Alkibia­ des gehören, solche sind, die zu Alkibiades gehören. ALK. In der Tat, bei Zeus. SO. Also können wir auch nicht erkennen, dass die Dinge, die zu uns gehören, solche sind, die zu uns gehören, wenn wir nicht einmal uns selbst erkennen? ALK. Wie sollten wir? SO. Wenn also nicht einmal die Dinge, die zu uns gehören, dann auch nicht diejenigen, die zu den Dingen gehören, die zu uns gehören? ALK. Offenkundig nicht. SO. Es war also schwerlich richtig, wenn wir uns vorhin darauf einig­ ten, dass es Leute gebe, die zwar sich selbst nicht erkennen, wohl aber die Dinge, die zu ihnen gehören, und wiederum andere, die diejenigen Dinge erkennen, die zu den Dingen gehören, die zu ihnen gehören. Es e scheint nämlich Sache einer und derselben Person und eines und dessel­ ben Fachwissens zu sein, alles dies zu erfassen, sich selbst, die Dinge, die zu einem gehören, und die Dinge, die zu den Dingen gehören, die zu einem gehören. ALK. Wahrscheinlich. SO. Wer aber die Dinge nicht kennt, die zu ihm gehören, der wird wohl aus demselben Grund auch die Dinge nicht kennen, die zu den anderen gehören. ALK. So ist es. SO. Wenn er die Dinge nicht kennt, die zu den anderen gehören, wird er auch die nicht kennen, die zu den Poleis gehören. ALK. Notwendigerweise. SO. Ein solcher Mann kann also kein Politiker werden. ALK. Gewiss nicht. SO. Und natürlich auch kein Verwalter eines Hauswesens. ALK. Gewiss nicht. 134a SO. Und er wird auch nicht über Wissen verfügen in Bezug auf das, was er tut. ALK. Ganz und gar nicht. SO. Wer aber das nicht weiß, wird der nicht Fehler begehen?

Übersetzung

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ALK. Bestimmt. SO. Wenn er aber Fehler begeht, wird er dann nicht schlecht handeln sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich? ALK. Natürlich. SO. Wenn er schlecht handelt und es ihm schlecht geht,26 wird er dann nicht unglücklich sein? ALK. Sehr. SO. Wie aber steht es mit denen, für die dieser Mann tätig ist? ALK. Auch sie sind unglücklich. SO. Wenn einer nicht besonnen und tüchtig ist, ist es für ihn also unmöglich, glücklich zu sein. ALK. Ja. b SO. Diejenigen unter den Menschen, die schlecht sind, sind also unglücklich? ALK. Sehr. SO. Also befreit sich auch nicht der, der zu Reichtum gelangt ist, davon, unglücklich zu sein, sondern nur der, der zur Besonnenheit gelangt ist? ALK. So scheint es. SO. Die Poleis brauchen also keine Mauern, Kriegsschiffe und Werf­ ten, Alkibiades, wenn sie glücklich sein sollen, und auch keine umfang­ reiche Bevölkerung und große Ausdehnung, solange ihnen Tüchtigkeit fehlt. ALK. Durchaus nicht. SO. Wenn du also die Geschicke der Polis richtig und schön lenken c willst, musst du den Bürgern zu Tüchtigkeit verhelfen. ALK. Natürlich. SO. Kann man aber anderen zu etwas verhelfen, was man selbst nicht hat? ALK. Ausgeschlossen. SO. Selbst also musst du zunächst Tüchtigkeit erwerben und muss dies jeder andere, der sich anschickt, nicht nur in seinem privaten Bereich sich selbst und die Dinge, die zu ihm gehören, seiner eigenen Macht und Bemühung zu unterstellen, sondern auch die Polis und die Dinge, die zur Polis gehören. ALK. Du hast recht. SO. Nicht also die Befugnis und die Macht zu tun, was du willst, musst du dir verschaffen und auch nicht der Polis, sondern Gerechtigkeit und Besonnenheit.

26

Zur Übersetzung von κακῶς πράττων vgl. S. 143 mit Anm. 246.

58

Übersetzung

ALK. So scheint es. SO. Denn wenn du und die Polis gerecht und besonnen handeln, wer­ det ihr gottgefällig handeln. ALK. Wahrscheinlich. SO. Und ihr werdet, wie wir im Vorangehenden sagten, handeln, indem ihr auf das Göttliche und Leuchtende schaut. ALK. So scheint es. SO. Nun denn, wenn ihr darauf blickt, werdet ihr euch selbst und die Dinge, die für euch gut sind, erfassen und erkennen. ALK. Ja. SO. Und ihr werdet doch wohl richtig und gut handeln? ALK. Ja. SO. Nun denn, handelt ihr so, dann bin ich bereit, mich dafür zu ver­ e bürgen, dass ihr fürwahr glücklich sein werdet. ALK. Du bist ja ein sicherer Bürge. SO. Handelt ihr dagegen ungerecht, weil ihr auf das Gottlose und Finstere blickt, dann wird es euch, wie zu erwarten, dementsprechend gehen, weil ihr euch selbst nicht kennt. ALK. Wahrscheinlich. SO. Wenn nämlich einer zwar die Befugnis hat zu tun, was er will, mein lieber Alkibiades, aber nicht über Verstand verfügt, was wird dem aller Wahrscheinlichkeit nach widerfahren, einem Einzelnen oder auch einer Polis? Wenn zum Beispiel ein Kranker die Befugnis hat zu tun, 135a was er will, er aber nicht über ärztlichen Sachverstand verfügt, sondern sich wie ein Tyrann gebärdet, so dass niemand ihn tadelt, was wird dann die Folge sein? Nicht, wie zu erwarten, dies, dass sein Körper ruiniert wird? ALK. Du hast recht. SO. Und wenn einer auf einem Schiff die Befugnis haben sollte zu tun, was er für gut befindet, jedoch bar jeglichen Sachverstandes und der für einen Schiffskommandanten erforderlichen Tüchtigkeit wäre, ist dir klar, was dann wohl ihm selbst und seinen Mitreisenden widerfahren dürfte? ALK. Durchaus, sie dürften alle zugrunde gehen. SO. Ist es nun nicht in einer Polis und überall sonst, wo Macht und b Befugnisse ausgeübt werden, genauso: Wenn es an Tüchtigkeit gebricht, hat dies Unheil zur Folge? ALK. Notwendigerweise. SO. Nicht also die uneingeschränkte Macht eines Tyrannen musst du dir und der Polis verschaffen, mein bester Alkibiades, wenn ihr glück­ lich sein wollt, sondern Tüchtigkeit. ALK. Du hast recht. d

Übersetzung

59

SO. Bevor man Tüchtigkeit besitzt, ist es aber besser, sich der Macht eines Tüchtigeren unterzuordnen als selbst Macht auszuüben, auch für einen Mann, nicht nur für ein Kind. ALK. Offenbar. SO. Ist nun nicht das, was besser ist, auch schöner? ALK. Ja. SO. Und das, was schöner ist, angemessener? ALK. Natürlich. c SO. Dem, der schlecht ist, ist es also angemessen, sich wie ein Sklave unterzuordnen, denn es ist besser für ihn. ALK. Ja. SO. Schlecht zu sein ist also etwas, was dem Sklaven angemessen ist. ALK. So scheint es. SO. Tüchtigkeit dagegen etwas, was dem Freien angemessen ist. ALK. Ja. SO. Den dem Sklaven angemessenen Zustand muss man aber doch wohl meiden, mein Freund? ALK. Auf jeden Fall, Sokrates. SO. Merkst du jetzt, wie es um dich bestellt ist: So, wie es einem Freien angemessen ist, oder nicht? ALK. Ich glaube, ich merke es nur zu gut. SO. Weißt du nun, wie du dieser Verfassung, in der du dich jetzt befin­ dest, entkommen kannst? Denn wir wollen sie bei einem schönen Mann nicht beim Namen nennen. ALK. Ja, das weiß ich. d SO. Wie? ALK. So du willst, Sokrates. SO. Das sagst du nicht auf schöne Weise,27 Alkibiades. ALK. Aber wie soll ich es sagen? SO. So Gott will. ALK. Dann sage ich es also so. Und zusätzlich sage ich noch dies: Wie es scheint, wird jeder von uns eine andere Rolle übernehmen, So­ krates, ich die deinige und du die meinige. Denn es gibt nichts, was ver­ hindern kann, dass ich dich vom heutigen Tage an begleite und du von mir begleitet wirst. e SO. Mein edler Freund, meine Liebe wird sich also durchaus nicht von der eines Storches unterscheiden, wenn sie, nachdem sie bei dir eine geflügelte Liebe ausgebrütet hat, ihrerseits wiederum von dieser gepflegt wird.

27

Vgl. Anm. 8.

60

Übersetzung

ALK. Ja, so verhält es sich, und von jetzt an werde ich damit begin­ nen, mich um die Gerechtigkeit zu bemühen. SO. Ich wünschte wohl, dass du dabei auch verharrst. Doch fürchte ich, nicht weil ich deiner Natur misstraue, sondern weil ich die Stärke der Polis vor Augen habe, dass diese mich und dich überwältigen wird.

KOMMENTAR

Vorbemerkung

Die antike Literaturtheorie unterschied drei Typen sokratischer Dialoge (Diog. Laert. 3, 50), den „dramatischen“ Dialog, der allein aus einem in direkter Rede wiedergegebenen Gespräch besteht (Beispiel: Platons Euthyphron), den „dihegematischen“ (berichtenden) Dialog, in dem ein Erzähler von einem Gespräch berichtet (Beispiel: Platons Politeia), und den die beiden anderen Typen miteinander verbindenden „gemischten“ Dialog, der mit einem in direkter Rede wiedergegebenen Gespräch beginnt und in dem dann einer der Gesprächsteilnehmer ein Gespräch, bei dem er angeblich zugegen war, referiert (Beispiel: Platons Phai­ don).28 Der Erste Alkibiades (im Folgenden: Alk. 1) ist ein dramatischer Dialog mit zwei Gesprächsteilnehmern, Sokrates und Alkibiades. Die Dialoge Platons sind wie die sokratischen Dialoge insgesamt fik­ tionale Texte.29 Vor dem Hintergrund historischer Gegebenheiten kon­ struierten die Verfasser in ihnen fiktive historische Konstellationen. Dabei verfuhren sie, was den Umgang mit den historischen Fakten betrifft, mit großer Freiheit und erfanden durchaus auch Konstellatio­ nen, die es in vergleichbarer Form in der historischen Wirklichkeit nie gegeben hatte, ja sogar solche, die es nie hätte geben können. Für die im Alk. 1 und in anderen sokratischen Dialogen dargestellte Beziehung zwi­ schen Sokrates und Alkibiades bedeutet dies, dass historische Wirklich­ keit und literarische Fiktion untrennbar miteinander verwoben sind. Was sich über diese Beziehung an historisch gesicherten Fakten ermitteln lässt, ist sehr wenig und geht eigentlich nicht über die schlichte Feststel­ lung hinaus, dass Alkibiades in jungen Jahren eine Zeit lang Kontakte zu Sokrates unterhielt. In den von den sokratischen Dialogen unabhängi­ gen Quellen gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass zwischen den beiden eine besonders enge Beziehung bestanden hätte, geschweige denn eine wie auch immer geartete erotische, wie dies außer im Alk. 1 auch in mehreren anderen sokratischen Dialogen sowie in der wohl durchweg 28

Erler 2007, 71–75. Zum fiktionalen Charakter der Dialoge Platons und der anderen Sokratiker Döring 1998, 180; Erler 2007, 69–71. 29

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Kommentar

von ihnen abhängigen späteren Literatur immer wieder behauptet wird.30 Wir verfügen im Übrigen auch über keinerlei sichere Informationen in Bezug auf Sokrates’ philosophische Anschauungen und sein Wirken in Athen zu der Zeit, zu der das Gespräch zwischen Sokrates und Alkibia­ des, das den Inhalt des Alk. 1 bildet (um 433/2, vgl. S. 67), stattgefunden haben soll. Wenn schon umstritten ist, ob sich überhaupt etwas Verläss­ liches über die philosophische Position des historischen Sokrates ermit­ teln lässt und, wenn ja, was, dann gilt dies für die Zeit um 433/2 noch viel mehr.31 Sicher ist immerhin, dass Sokrates spätestens um 423 in Athen eine jedermann bekannte Persönlichkeit war, denn in diesem Jahr spielte er in zwei der drei Komödien, die beim Dionysienfest aufgeführt wurden, eine zentrale oder zumindest wichtige Rolle, in den Wolken des Aristophanes und im Konnos des Ameipsias.32 Ob er rund 10 Jahre vor­ her schon genauso bekannt war, muss offenbleiben.33

30 31 32

Livingstone 2001, 36–38; A. Patzer 2012a, 305–306. Vgl. Appendix 1. Döring 1998, 154–155. Zur Rolle des Sokrates im Konnos des Ameipsias vgl. A. Patzer 1994, 60–67 = 2012b, 76–

84. 33

Sollte die Geschichte, die Gellius über die heimlichen nächtlichen Besuche des Eukleides aus Megara bei Sokrates zur Zeit des sogenannten megarischen Psephismas erzählt (7, 10, 1–4 = SSR II A 2), einen wahren Kern haben, dann hieße dies, dass Sokrates schon gegen Ende der 430er Jahre so bekannt war, dass er auch auswärts begeisterte Anhänger hatte; die Glaubwürdig­ keit dieses Zeugnisse ist jedoch zweifelhaft (vgl. Döring 1998, 142 und 208–209).

Gliederung des Textes und der Erläuterungen

103a1–106c3

Einleitung Sokrates spricht Alkibiades, der gerade volljährig geworden ist, zum ersten Mal an und erklärt ihm, dass er seine hochfliegenden Pläne nur mit seiner Hilfe werde verwirklichen können.

106c4–124b6 1. Hauptteil Sokrates führt Alkibiades zu der Einsicht, dass er über keinerlei Wissen verfügt, das ihn dazu befä­ higt, sich den Athenern als Ratgeber zu präsentie­ ren, ja, dass er insgesamt über keinerlei belang­ volles Wissen verfügt. 106c4–109c12 Was für Angelegenheiten sind es, bei denen Alki­ biades in der Volksversammlung als alle überrag­ ender Ratgeber auftreten zu können glaubt? 109d1–113c7 Alkibiades weiß nicht, was das Gerechte und das Ungerechte ist. 113d1–116e1 Alles Gerechte ist nützlich. 116e2–119a7 Alkibiades leidet an der schlimmsten Form der Ignoranz: Er meint zu wissen, was gerecht, schön, gut und nützlich ist, weiß es aber in Wirklichkeit gar nicht. 119a8–124b6 Alkibiades’ wahre politische Rivalen sind nicht irgendwelche Athener, sondern die persischen und spartanischen Könige. 124b7–135e8 2. Hauptteil Alkibiades sieht ein, dass er sich um sich selbst, d. h. um sein Besser-Werden, bemühen muss. Wie kann das geschehen? 124b7–127e8 Was für eine Art von Tüchtigkeit ist es, um die sich Alkibiades bemühen muss, und was für ein Fachwissen verhilft zu dieser Tüchtigkeit?

67

73

73 78 83

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97

113

113

66

Kommentar

127e9–132c6

Sich um sich selbst bemühen heißt, sich um seine Seele bemühen. Die Unterscheidung zwischen dem Selbst des Menschen, dem, was zu ihm gehört, und dem, was zu dem gehört, was zu ihm gehört. 132c7–133c17 Erklärung des Vorganges des Sich-selbst-Erken­ nens in Analogie zu dem des Sich-selbst-Sehens. 133c18–135d7 Nur wer sich selbst erkennt, kann die Dinge erkennen, die zu ihm gehören, und die, die zu anderen gehören; nur wer selbst über Tüchtigkeit verfügt, kann anderen zur Tüchtigkeit verhelfen. 135d7–e8

Schluss Sokrates’ Befürchtung, Alkibiades werde dem verderblichen Einfluss der Menge nicht standhal­ ten können.

124 132

140

146

Erläuterungen Einleitung: 103a1–106c3 Sokrates spricht Alkibiades, der gerade volljährig geworden ist, zum ersten Mal an und erklärt ihm, dass er seine hochfliegenden Pläne nur mit seiner Hilfe werde verwirklichen können. Sokrates trifft irgendwo in Athen – ein bestimmter Ort wird nicht genannt – mit Alkibiades, dem Sohn des Kleinias und der Deinomache (103a1. 105d2 u. ö.), zusammen und beginnt mit ihm ein Gespräch. Alkibiades steht an einem Wendepunkt in seinem Leben: Er ist noch nicht 20 Jahre alt (123d6), hat gerade die Grenze von der Jugendzeit zum Erwachsenenalter überschritten und brennt nun darauf, sich in die Politik zu begeben und allen zu zeigen, dass es, wie er glaubt, in Grie­ chenland noch nie einen Politiker gegeben hat, der auch nur annähernd sein Format gehabt hätte, und auch in der restlichen Welt nur ganz wenige. Alkibiades wurde 451/0 geboren, die Begegnung findet also um 433/2 statt, offenkundig noch vor der Schlacht bei Poteidaia im Jahre 432, an der Alkibiades als Ephebe und Sokrates als Schwerbewaffneter teilnahmen,34 und mithin vor Beginn des Peloponnesischen Krieges. Sokrates war zu dieser Zeit knapp 40 Jahre alt. Dem Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades liegt folgende Konstellation zugrunde: Wiewohl sein frühester Liebhaber, spricht So­ krates Alkibiades erst jetzt zum ersten Mal an, nachdem alle anderen Liebhaber sich von ihm zurückgezogen haben, und teilt ihm mit, dass er, obwohl er mitangesehen habe, wie demütigend Alkibiades alle seine anderen Liebhaber behandelt habe, an seiner Liebe zu ihm festhalte. Vorausgesetzt ist die griechische Praxis der Knabenliebe.35 Deutlich wird jedoch schon gleich hier zu Beginn, dass die Liebe des Sokrates zu Alkibiades sich von der seiner anderen früheren Liebhaber fundamental unterscheidet. Inwiefern und warum, wird Sokrates im Verlauf des Dia­ logs aufzeigen. Dass er mit Alkibiades bisher keinen direkten Kontakt aufgenommen hat, begründet Sokrates damit, dass „ein gewisses dämonisches Hinder­ nis“ (103a5–6) Widerstand dagegen geleistet habe. Dieser Widerstand 34

Vgl. dazu S. 156–157. Aus der Fülle der Literatur zu diesem Thema seien genannt H. Patzer 1982; Görgemanns 1997; Bordt 1998, 112–115; Lear 2014. 35

68

Kommentar

habe jetzt aufgehört, und er sei zuversichtlich, dass sich daran auch in Zukunft nichts mehr ändern werde. Deshalb also habe er Alkibiades jetzt angesprochen. Mit dem „gewissen dämonischen Hindernis“ meint Sokrates jenes Phänomen, das gemeinhin als „das Daimonion des So­ krates“ bezeichnet wird.36 In Platons Apologie beschreibt Sokrates es so: Es sei dies „etwas Göttliches und Dämonisches“ (θεῖόν τι καὶ δαιμό­ νιον), das ihm seit seiner Jugend zuteilwerde, eine Stimme, die ihm, sooft sie sich vernehmen lasse, stets rate, das zu unterlassen, was er gerade zu tun vorhabe, ihn aber nie zu etwas ermuntere (31c8–d4).37 Die Begriffe „göttlich“ und „dämonisch“ sind hier offenbar komple­ mentär zu verstehen. Hinweise darauf, inwiefern diese Stimme zugleich göttlich und dämonisch sei, sucht man in der Apologie vergeblich. Auch im weiteren Verlauf der Schrift steht beides nebeneinander, ohne dass eine Abgrenzung vorgenommen oder auch nur angedeutet würde. An einer späteren Stelle spricht Sokrates in einem und demselben Zusam­ menhang zunächst von der „seherischen Fähigkeit des Dämonischen, die mir gewöhnlich zuteilwird“ (ἡ εἰωθυῖά μοι μαντικὴ ἡ τοῦ δαιμο­ νίου, 40a4),38 dann von „dem Zeichen des Gottes“ (τὸ τοῦ θεοῦ σημεῖον, 40b1) und schließlich neutral von „dem gewohnten Zeichen“ (τὸ εἰωθὸς σημεῖον, 40c2–3). Andere Stellen, an denen Sokrates in den unbestritten echten Schriften Platons auf das Daimonion zu spre­ chen kommt, zeigen, dass Platon es offenkundig bewusst vermieden hat, sich differenzierter über den Charakter des Daimonions zu äußern. Das­ selbe gilt auch für den Alk. 1 . In ihm spricht Sokrates zunächst von

36 Die Sekundärliteratur zu diesem Daimonion ist kaum mehr überschaubar und wächst konti­ nuierlich weiter an. Verwiesen sei hier nur auf Destrée/Smith 2005 (zehn Aufsätze zum Thema „Socrates’ divine sign: religion, practice and value“). 37 Ausdrücklich sei hier noch einmal an das erinnert, was in der Vorbemerkung über die Fik­ tionalität der sokratischen Schriften gesagt wurde: dass in ihnen Historisches und Erfundenes in nicht voneinander zu trennender Weise miteinander verbunden sind. Das gilt natürlich auch für das, was in ihnen über das Daimonion zu lesen ist. Als historisch kann wohl gelten, dass dem his­ torischen Sokrates ein solches dämonisches oder göttliches Zeichen dann und wann tatsächlich zuteilwurde. Soweit erkennbar, sah er darin einen nicht weiter erklärbaren und erklärungsbedürf­ tigen Vorgang, bei dem eine dämonische oder göttliche Macht ihm auf direktem Wege eine Wei­ sung zukommen lasse (vgl. Döring 1998, 160). Der in der Anklageschrift gegen ihn erhobene Vorwurf, er führe anstelle der traditionellen Götter „andere neue dämonische Wesen“ ein (ἕτερα καινὰ δαιμόνια) (Euthyphr. 3b5–6; apol. 31d1–2; Xen. mem . 1, 1, 1; Diog. Laert. 2, 40), bezieht sich offenbar, zumindest auch, auf dieses Daimonion. Alles was darüber hinausgeht, kann, muss aber nicht erfunden sein. Bei allem, was im Folgenden über das Daimonion gesagt wird (vgl. auch S. 115), geht es allein darum, in welcher Weise Platon das Daimonion in seinen Schriften beschrieben und für seine literarischen und philosophischen Zwecke instrumentalisiert und in welcher Weise dies der Autor des Alk. 1 getan hat. 38 Manche tilgen ἡ τοῦ δαιμονίου mit Schleiermacher als Interpolation.

Erläuterungen

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einem „gewissen dämonischen Hindernis“ (103a5–6), das ihn davon abgehalten habe, an Alkibiades heranzutreten, im weiteren Verlauf des Dialogs dann aber immer davon, dass „der Gott“ es nicht zugelassen habe, dass er sich mit Alkibiades unterhalte (105d5–6. e7; 124c8–9).39 An der zitierten Stelle der Apologie sagt Sokrates (31d3–4), dass das Daimonion ihm, sooft es sich habe vernehmen lassen, stets geraten habe, das zu unterlassen, was er gerade zu tun vorhatte, ihn aber nie zu etwas ermuntert habe. An einer späteren Stelle (39e1–40c3) präzisiert er dies, indem er hinzufügt, dass das Daimonion Widerstand geleistet habe, sooft er im Begriff gewesen sei, „nicht richtig zu handeln“ (40a6). Und er fügt noch einen weiteren Aspekt hinzu: Aus der Tatsache, dass das Daimonion weder am Morgen, als er das Haus verließ, um sich zum Gericht zu begeben, noch irgendwann im Verlauf seiner Verteidigungs­ rede Widerstand geleistet habe, schließt er, dass der Tod, zu dem er gerade verurteilt worden sei, nichts Schlimmes für ihn sein könne; sei es doch ausgeschlossen, dass das Daimonion keinen Widerstand geleistet hätte, wenn er sich angeschickt hätte etwas zu tun, was „nicht gut“ gewesen wäre (40c3). Es ist also der Apologie zufolge nicht nur so, dass das Daimonion Sokrates durch seine Intervention aktiv daran hindert, etwas zu tun, was, täte er es, „nicht richtig“ wäre, sondern auch so, dass Sokrates in dem Ausbleiben einer Intervention des Daimonions ein Indiz dafür sehen kann, dass das, was er tut, gut und richtig ist. Im Theaitetos stellt Sokrates diese beiden Funktionen in der Weise nebenei­ nander, dass er in Bezug auf die erste von „verhindern“ (ἀποκωλύειν) und in Bezug auf die zweite von „zulassen“ (ἐᾶν) spricht. In dem berühmten „Hebammenexkurs“ des Theaitetos, in dem Sokrates sein Können und Tun mit dem Können und Tun seiner Mutter, der Hebamme Phainarete, vergleicht (149a1–151d3), erwähnt Sokrates folgenden Fall: Wenn junge Leute, die zuvor schon einmal mit ihm zusammengewesen seien, ihn aber zu früh verlassen hätten, erneut mit dem Wunsch zu ihm kämen, sich ihm anzuschließen, verhindere das Daimonion dies bei manchen, bei manchen aber lasse es dies zu, und diese machten dann Fortschritte. Das „Zulassen“, von dem hier die Rede ist, besteht offen­ kundig darin, dass ein verhinderndes Zeichen ausbleibt, und dieses Aus­ bleiben wird hier nicht nur in dem Sinne gedeutet, dass einem Zusam­ mensein nichts im Wege steht, sondern darüber hinausgehend als güns­ tige Prognose, dass das Zusammensein Fortschritte verspricht, was umgekehrt besagt, dass es sich bei denjenigen, bei denen das Daimonion

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Die Formeln „mit Gottes Hilfe“ (μετὰ τοῦ θεοῦ, 105e5) und „so Gott will“ (ἐὰν θεὸς θέλῃ, 127e6; 135d6) sind allgemeiner Art und beziehen sich nicht speziell auf das Daimonion.

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Kommentar

ein erneutes Zusammensein verhindert, um solche handelt, bei denen ein Zusammensein nutzlos wäre, weil keinerlei Fortschritte zu erwarten wären.40 Mit den Worten des Sokrates der Apologie: Im Fall der Letz­ teren würde Sokrates „falsch“ handeln, wenn er sich um sie kümmerte; deshalb hindert ihn das Daimonion daran, dies zu tun. Im Fall der Erste­ ren handelt Sokrates richtig und gut, wenn er sich um sie kümmert, weil die Hoffnung besteht, dass sie im Umgang mit ihm Fortschritte machen; deshalb interveniert das Daimonion nicht und lässt das Zusammensein damit zu. Was Sokrates im Theaitetos über das Wirken des Daimonions in Bezug auf zwei unterschiedliche Gruppen junger Menschen sagt – dass es ein Zusammensein mit ihm bei den einen verhindere und bei den anderen dadurch, dass es ausbleibe, zulasse –, gilt im Alk. 1 in Bezug auf zwei Zeitabschnitte im Leben des Alkibiades. An die Stelle des Ausbleibens einer Intervention des Daimonions tritt dabei das Erlöschen eines Widerstandes: Da sich das Daimonion einem direkten Kontakt des So­ krates mit Alkibiades nicht mehr widersetzt, besteht für Sokrates kein Hindernis mehr, an ihn heranzutreten und ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Nachdem er Alkibiades in einer längeren Rede seine unge­ heure Selbstüberschätzung und seine sich darauf gründenden jedes Maß übersteigenden Ambitionen mit deutlichen Worten vor Augen gestellt hat, führt Sokrates dies folgendermaßen näher aus, wobei er jetzt, wie erwähnt, nicht mehr von „einem gewissen dämonischen Hindernis“, sondern von „dem Gott“ spricht: Um die angestrebten Ziele erreichen zu können, sei Alkibiades auf ihn, Sokrates, angewiesen.41 Solange Alki­ biades noch zu jung gewesen sei und noch nicht so hochfliegende Pläne gehabt habe wie jetzt, habe der Gott das Gespräch zwischen ihnen bei­ den nicht zugelassen,42 weil es nutzlos gewesen wäre. Jetzt habe der Gott es gestattet,43 weil Alkibiades reif genug sei zuzuhören und – so kann man im Sinne der zitierten Stelle aus dem Theaitetos hinzufügen – Hoffnung bestehe, dass er Fortschritte zum Guten hin macht. Was meint Sokrates konkret, wenn er zu Alkibiades sagt, dass dieser, um die von ihm angestrebten Ziele erreichen zu können, auf ihn, Sokra­ tes, angewiesen sei? Alkibiades will in wenigen Tagen zum ersten Mal vor die Volksversammlung treten. Frei von Selbstzweifeln jedweder Art glaubt er, er werde seine Mitbürger sogleich davon überzeugen, dass er alle Politiker, die es bisher in Athen gegeben hat, sogar seinen Vormund 40 41 42 43

Vgl. Döring 2004, 51. Vgl. 124c9–10. 105d5–6 οὐκ ἐᾶν, 105e7 οὐκ εἴα. 106a1 ἐφῆκεν.

Erläuterungen

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Perikles (105b3),44 weit überrage, werde deshalb in kurzer Zeit der mächtigste Mann in Athen sein und seine Macht sodann von dort aus stufenweise auf die ganze Welt ausdehnen. Sokrates als unverzichtbarer Helfer, der es Alkibiades ermöglicht, diese Absichten zu verwirklichen? Das ist natürlich nicht gemeint. Während der langen Zeit, in der er Alki­ biades beobachtet hat, hat Sokrates erkannt, dass Alkibiades drauf und dran ist, sich in eine vollkommen falsche Richtung zu entwickeln. Des­ halb spricht er ihn jetzt an, denn es ist größte Eile geboten. In wenigen Tagen will Alkibiades vor das Volk treten und damit beginnen, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Ungefestigt, wie er ist, besteht die Gefahr, dass er rasch dem verhängnisvollen Sog erliegt, den die Begeisterung der Massen, deren er sich sicher ist, auf ihn ausüben wird, und dass er von der Gunst des Volkes abhängig und dadurch verdorben wird (vgl. 132a3). Davor will Sokrates ihn bewahren. Doch sagt er dies nicht gera­ deheraus, weiß er doch, dass Alkibiades sich sogleich von ihm abwen­ den würde, weil er glaubt, sich selbst besser zu kennen und zu wissen, dass er sich selbst richtiger einschätzt. Indem Sokrates behauptet, Alki­ biades werde seine Absichten ohne ihn nicht verwirklichen können, weckt er in ihm die Neugier, diese für ihn unverständliche Behauptung erklärt zu bekommen, und verschafft sich damit die Möglichkeit, Alki­ biades im Gespräch dazu zu bringen, seine Selbsteinschätzung und seine aus ihr resultierenden Pläne zu hinterfragen. Noch zwei Vorbemerkungen zum Verlauf des sich anschließenden Gespräches: 1. Sokrates hat Alkibiades die Absichten vor Augen gestellt, die er seiner Meinung nach zu verwirklichen trachtet. Alkibiades lässt offen, ob Sokrates seine Absichten richtig dargestellt hat oder nicht; ihn von seiner Meinung abzubringen, werde ihm ohnehin nicht gelingen (106a4–6). Er möchte von Sokrates wissen, wieso er meine, dass er seine Absichten, welcher Art auch immer sie seien, nicht ohne seine Hilfe werde verwirklichen können. Sokrates erklärt sich bereit, ihm dies zu erklären, allerdings nicht mit einer langen Rede von der Art, wie Alkibiades sie zu hören gewohnt sei, dies sei nicht seine Sache sei, son­ dern in der Form von Frage und Antwort (106b1–8). Alkibiades willigt ein. Mit den langen Reden von der Art, wie Alkibiades sie zu hören gewohnt sei, meint Sokrates die Vorträge, die die Sophisten in Privat­ 44

Wie zuvor erwähnt (104b5–6), hatte Alkibiades’ Vater Kleinias für den Fall seines Todes testamentarisch Perikles zum Vormund seiner beiden Söhne Alkibiades und Kleinias (vgl. 118e3) bestimmt. Als der Vater 447 in der Schlacht bei Koroneia fiel (112c3–4), war Alkibiades 3–4 Jahre alt. Er und sein Bruder verbrachten ihre Jugend also weitgehend im Hause des Perikles, der übrigens ein Vetter ihrer Mutter Deinomache, mithin ein Onkel zweiten Grades der beiden war.

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Kommentar

häusern und in Gymnasien und Schulen hielten.45 In Platons Protagoras ist vorausgesetzt, dass Alkibiades als Teenager mit erstem Bartwuchs (309a1–5), also in noch etwas jüngerem Alter als im Alk. 1, im Hause des Kallias zugegen ist, als dort die drei großen Sophisten Protagoras, Prodikos und Hippias zu Gast sind. Mehrfach bittet Sokrates in den Dia­ logen Platons die Sophisten, mit denen er sich unterhält, darum, auf Vor­ träge zu verzichten und das Gespräch mit ihm in der Form von Frage und Antwort zu führen.46 Umgekehrt kann auch Sokrates, wo es von der Sache gefordert oder der Sache gemäß ist, durchaus einmal eine lange Rede halten, etwa wenn er im Protagoras seine ‚Interpretation‘ der Simonides-Verse vorträgt (342a6–347a5), im Gorgias (523a1–527e7), im Phaidon (107c1–115a8) und in der Politeia (10, 614b2–621d3) Mythen erzählt oder im Phaidros der Eros-Rede des Lysias zwei eigene Eros-Reden gegenüberstellt (237a7–241d1 und 243e9–257b8). Auch im Alk. 1 wird er später eine längere Rede, die sog. Königsrede, vortragen (120e6–124b6). 2. Ohne sich darum zu scheren, dass Alkibiades es gerade für nutzlos erklärt hat sich dazu zu äußern, ob Sokrates seine Absichten richtig dar­ gestellt habe oder nicht (106a4–6), fordert Sokrates Alkibiades auf, ihm zu bestätigen, dass dies der Fall sei. Natürlich weiß Alkibiades oder ahnt zumindest, dass Sokrates recht hat. Zugeben mag es dies aber nicht, und so entzieht er sich erneut einer konkreten Antwort und gibt vor, Sokra­ tes’ Frage nur zu bejahen, um ihm einen Gefallen zu tun und auf diese Weise so schnell wie möglich eine Antwort auf seine Frage zu bekom­ men, was Sokrates mit seiner Behauptung meine, Alkibiades sei für die Verwirklichung seiner Absicht auf seine Hilfe angewiesen (106b11–c3). Im weiteren Verlauf des Dialogs wird sich Alkibiades mehrfach in ähnli­ cher Weise einem klaren Ja oder Nein entziehen.

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Privathäuser: Haus des Kallias (Szenerie des Prot .), Haus des Eudikos (Hipp. min. 363a1– 2), Haus des Kallikles (Gorg. 447a5–6; vgl. Dalfen 2004, 122–124), Haus des Euripides oder des Megakleides (Diog. Laert. 9, 54); Gymnasien und Schulen: Schule des Pheidostratos (Hipp. mai . 286b5–6), Lykeion (Eryx . 397c6–d2; Diog. Laert. 9, 54). 46 Prot . 329b1–5; 334e8–335a3; Gorg . 449b4–c8; Hipp. min . 373a2–5, vgl. auch rep . 1, 350d9–e10. Im Protagoras (334c8–d1) begründet Sokrates seine Bitte ironisch damit, dass er ein vergesslicher Mensch sei und deshalb bei langen Reden schließlich gar nicht mehr wisse, worum es eigentlich geht.

Erläuterungen

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106c4–124b6: 1. Hauptteil Sokrates führt Alkibiades zu der Einsicht, dass er über keinerlei Wissen verfügt, das ihn dazu befähigt, sich den Athenern als Ratgeber zu prä­ sentieren, ja, dass er insgesamt über keinerlei belangvolles Wissen ver­ fügt.

106c4–109c12 Was für Angelegenheiten sind es, bei denen Alkibiades in der Volksver­ sammlung als alle überragender Ratgeber auftreten zu können glaubt? Alkibiades beabsichtigt, in Kürze in der Volksversammlung aufzutreten, um die Athener in Angelegenheiten zu beraten, in denen er sich, wie er meint, besser auskennt als sie. Was sind das für Angelegenheiten? Um andere beraten zu können, muss man im Hinblick auf die Dinge, um die es geht, über Wissen verfügen. Wissen kann man entweder dadurch erwerben, dass man bei jemandem, der über das betreffende Wissen verfügt, in die Lehre geht, oder dadurch, dass man es selbst ent­ deckt, d. h. aus sich selbst heraus hervorbringt.47 Was Alkibiades gelernt hat, liegt auf der Hand. Es sind die Dinge, die alle Jungen aus besseren Kreisen in Athen erlernten: schreiben und lesen beim Grammatistēs, Leier spielen beim Kitharistēs und ringen beim Paidotribēs.48 Grammatistēs, wörtlich „Schreiber“, dann „Buchstabenlehrer“, wird gemeinhin mit „Elementarlehrer“ übersetzt (114c1–2). Kitharistēs heißt „Kitharaspieler“ und „-lehrer“, doch war das Instrument, das beim Unterricht benutzt wurde, üblicherweise nicht die Kithara, sondern ein leichter zu spielendes Instrument aus der Gattungen der Leiern, die Lyra;49 außerdem lernten die Jungen beim Kitharistēs auch, sich beim Singen auf der Leier zu begleiten und Tanzschritte zu machen50 (108a5– 6, vgl. 108b1 und c7–8). Dem Kitharistēs oblag also die gesamte Ausbil­ dung auf dem Gebiet der Musik im antiken Sinn.51 Der Paidotribēs, 47

Diese Unterscheidung des Öfteren bei Platon, vgl. Johnson 1996, 114 zu 106d4–5. Vgl. die klassische Darstellung der Jugenderziehung Prot. 325d7–326c3 und dazu Manu­ wald 1999, 217–220. 49 Zu den verschiedenen Formen von Leiern Neubecker 1977, 69–76 und Tafel 1 (am Schluss des Buches) und West 1992, 48–78. 50 βαίνειν 108a6, ἐμβαίνειν 108c8, vgl. leg. 2, 670b10 βαίνειν ἐν ῥυθμῷ, 51 Vgl. Weyer 2011, 277–283. 48

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Kommentar

wörtlich der „Knabentrainer“, war für die körperliche Ausbildung der Jungen zuständig, wobei dem Ringen eine besondere Bedeutung zukam; ich habe Paidotribēs mit „Sportlehrer“ übersetzt. Erläuterungsbedürftig sind zwei Bemerkungen, die Sokrates beiläufig in Bezug auf die Ausbildung des Alkibiades macht: 1. Sokrates merkt an, dass Alkibiades es abgelehnt habe, das Aulos­ spiel52 zu erlernen (106e6–7). Plutarch berichtet (Alc . 2, 5–7), dass er dies deshalb getan habe, weil das Blasen des Aulos das Gesicht in einer eines Freien unwürdigen Weise entstelle. Wie der Text zeigt, wurde die Sache in dieser oder ähnlicher Form schon zur Zeit der Abfassung des Alk. 1 erzählt. Im Gegensatz dazu behauptete übrigens der Historiker Duris (ca. 340–260 v. Chr.), Alkibiades habe das Aulosspiel erlernt und zwar von dem berühmtesten Aulosspieler seiner Zeit, dem Thebaner Pronomos (Athen. 4, 184d = FGrHist 76 F 29).53 2. Nachdem Sokrates konstatiert hat, dass Alkibiades sich auf ebendie Dinge verstehe, die den Inhalt der traditionellen Jugendbildung aus­ machten, fügt er an: „es sei denn, du hast vielleicht etwas gelernt, ohne dass ich es bemerkt habe. Ich glaube aber, das ist weder geschehen, wenn du das Haus in der Nacht, noch, wenn du es tagsüber verlassen hast.“ Darauf Alkibiades: „Ich habe keinen anderen Unterricht besucht als diesen“ (106e8–10). Da nachts natürlich kein Schulunterricht statt­ fand, stellt sich die Frage, was Sokrates damit bezweckt, wenn er in Betracht zieht oder zumindest in Betracht zu beziehen vorgibt, Alkibia­ des könne vielleicht etwas gelernt haben, wenn er das Haus bei Nacht verlassen habe. Was könnte das gewesen sein? Schwerlich etwas Seriö­ ses. Möglicherweise spielt der Autor hier in verkappter Form auf die nächtlichen erotischen Abenteuer des noch nicht volljährigen Alkibia­ des an, von denen man berichtete.54 Über die Dinge, die Alkibiades gelernt hat (schreiben, lesen, Leier spielen, ringen), wird in der Volksversammlung nicht beraten; was sie betrifft, kann Alkibiades in der Volksversammlung also nicht als Ratge­ 52

Der Aulos war ein Blasinstrument mit zwei Röhren (weshalb auch meistens im Plural von Auloi die Rede ist), die gemeinsam jeweils über ein Rohrblatt angeblasen wurden, der Klang war oboenartig. Die übliche Übersetzung von Aulos mit „Flöte“ ist also irreführend. Zum Aulos vgl. Neubecker 1977, 76–82 und West 1994, 81–108, zum Aulosunterricht für Jugendliche Weyer 2011, 283–286 (mit Abbildungen). 53 Zu ihm West 1992, 366–367. 54 Satyros F 20, 22–29 Schorn (= Athen. 12, 534ef; Plut. Alk. 4, 5–6). Wenn Lysias in der ers­ ten seiner Reden gegen Alkibiades d. J., den Sohn des Alkibiades, auf eine skandalöse nächtliche Ausschweifung verweist, bei der dieser in jungen Jahren von vielen beobachtet worden sei, und hinzufügt, dass er damit seinen Vorfahren nachgeeifert habe, dann hat er dabei sicher auch, ver­ mutlich sogar vor allem seinen Vater im Blick (Lys. 14, 25).

Erläuterungen

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ber auftreten. Dies kann er nur, wenn es um Angelegenheiten geht, die dort verhandelt werden, weil sie die Polis55 insgesamt betreffen. Bei die­ sen scheiden allerdings von vornherein gleich wieder alle die aus, bei denen spezifische Fachkompetenzen erforderlich sind, über die Alkibia­ des nicht verfügt, wie etwa Baumaßnahmen oder Fragen, die die Seher­ kunst,56 die allgemeine Gesundheit oder den Bau von Schiffen betref­ fen. Anders ist dies, meint Alkibiades, wenn die Athener in der Volksver­ sammlung „über ihre eigenen Angelegenheiten“57 beraten, d. h. über die Angelegenheiten, die die Polis insgesamt betreffen,58 kurz gesagt: über die politischen Angelegenheiten.59 Hier fallen allerdings gleich wieder Angelegenheiten weg wie die Frage danach, was für Schiffe die Polis bauen soll, weil auch hier natürlich nur solche als Ratgeber in Frage kommen, die etwas vom Schiffbau verstehen. Anders scheint dies bei Fragen wie der zu sein, mit wem die Polis Frieden halten und gegen wen sie Krieg führen soll und wann und wie lange sie dies jeweils tun soll.60 Näher betrachtet wird (wie dann auch 109a6–c12) nur der Fall „Krieg führen“, doch gilt Entsprechendes natürlich auch für die Fälle „Frieden halten“ und „Frieden schließen“. Die Antwort scheint einfach zu sein: Krieg führen sollen die Athener mit denen, mit denen es besser ist, und dann, wenn es, und so lange, wie es besser ist, „besser“ jeweils im Ver­ gleich zum Gegenteil, keinen Krieg zu führen.61 Doch was heißt in die­ sem Fall „besser“? Um die Beantwortung dieser Frage zu erleichtern, nimmt sich Sokrates als Übungsobjekte zwei der Disziplinen vor, in denen Alkibiades als Jugendlicher ausgebildet worden ist, das Ringen und das Leierspielen. Angenommen, die Athener würden in der Volks­ 55

Das griechische Wort πόλις (polis), Plural πόλεις (poleis), habe ich unübersetzt gelassen, weil es einen gesellschaftlichen Organismus bezeichnet, den es so nur im antiken Griechenland gab und der daher weder mit „Stadt“ noch mit „Staat“ oder „Stadtstaat“ adäquat wiedergegeben wird. Die Beibehaltung des griechischen Wortes Polis hat im Übrigen den Vorteil, dass in der Übersetzung eine sprachliche Beziehung zu den πολιτικοί (politikoi) hergestellt ist, den Men­ schen, die sich um die Verwaltung und Lenkung der Polis bemühen, den „Politikern“. Vgl. Wel­ wei 1998. 56 Die Seherkunst (μαντική) galt als ein Fachwissen (τέχνη), nämlich als das Fachwissen auf dem Gebiet der Deutung von Zeichen für Künftiges. Die Seher übten ihren Beruf gegen Bezah­ lung aus. Vgl. Kett 1966, 104–109. 57 περὶ τῶν ἑαυτῶν πραγμάτων, 107c6 und d1. 58 περὶ τῶν τῆς πόλεως πραγμάτων, 107d4. 59 τὰ πολιτικὰ πράγματα, apol. 31d5 und 7–8. 60 Eine ähnliche Unterscheidung, allerdings mit anderer Zielrichtung, Prot. 319b3–d7. 61 Zu diesem Gebrauch des Komparativs vgl. K-G II 306–307 Anm. 7. Für das deutsche „bes­ ser“ steht im Griechischen hier und im Folgenden ohne erkennbaren Unterschied bald βέλτιον, bald ἄμεινον; gewechselt wird offenbar nur aus stilistischen Gründen.

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versammlung über Fragen beraten, die diese beiden Disziplinen betref­ fen – was, wie zuvor festgestellt (107a7–9), in der Praxis natürlich nicht vorkommt –, dann wären die entsprechenden Fachleute, also der Sport­ lehrer und der Kitharistēs, diejenigen, die Auskunft darüber zu geben wüssten, was „besser“ ist: Der Sportlehrer wüsste, was besser ist in Bezug auf die Wahl der Gegner und die Häufigkeit, die Art und Weise und die Dauer der Ringkämpfe – im Blick hat Sokrates offenbar das Training der Jugendlichen62 –, der Kitharistēs wüsste, was besser ist in Bezug auf die Frage, wann und in welchem Maße es besser ist, Gesang und Leierspiel einerseits und Gesang und Tanz andererseits miteinander zu kombinieren. Als das Bessere erweist sich in beiden Fällen das, was den Regeln und Anforderungen der betreffenden Disziplin entspricht, also das Fachgerechte, d. h. im ersten Fall das Sportgerechte (τὸ γυμ­ ναστικόν, 108b3) und im zweiten das der Musik Gemäße (τὸ μουσι­ κόν, 108e2, vgl. μουσικῶς 108d8). Da Alkibiades in beiden Diszipli­ nen zwar eine Grundausbildung erhalten hat, aber kein Fachmann ist, kommt er, wenn es um sie betreffende Probleme geht, als Ratgeber nicht in Frage. Da Alkibiades die Frage, was das Bessere ist, wenn es darum geht zu entscheiden, ob man Frieden hält oder in einen Krieg eintritt, auch nach der Vorübung nicht beantworten kann, baut Sokrates ihm eine Eselsbrü­ cke, indem er ihn zunächst fragt, worauf sich das Bessere beziehe (πρὸς τί τείνει, 109a5), wenn man Krieg führe gegen solche, gegen die es sich als erforderlich erweise, und dies sodann konkretisiert, indem er die weitere Frage nachschiebt, was für ein erlittenes Übel es sei, das uns dazu veranlasse, gegeneinander Krieg zu führen. Diese Frage weiß Alki­ biades zu beantworten: „Wir tun dies, weil wir betrogen, gewalttätig behandelt oder beraubt wurden“ (109b1–2). Sokrates gibt zu bedenken, dass dies auf zwei fundamental verschiedene Weisen geschehen könne, und Alkibiades versteht sofort, was er meint: Betrogen, gewalttätig behandelt und beraubt werden kann man „auf rechtmäßige oder unrecht­ mäßige Weise“ (δικαίως ἢ ἀδίκως, 109b5–6). Dass Alkibiades sogleich weiß, was Sokrates meint, zeigt, dass es um eine Fragestellung geht, die damals jedermann geläufig war. Ausführlich erörtert wird sie im 3. Abschnitt der sog. Dissoi Logoi (3 p. 410–411 DK), einer im Umfeld der Sophistik entstandenen Schrift aus der Zeit um 400 v. Chr., 62

Eine Sammlung der erhaltenen Zeugnisse mit Angaben zu den Trainingsmethoden beim Ringen bei Doblhofer 1998, 421–422; zum Terminus ἀκροχειρίζεσθαι (107e6), der mit „auf Distanz ringen“ übersetzt wurde, ebd. 413: „Die exakte Bedeutung dieses Begriffs, der auch in Zusammenhang mit Boxen und Pankration vorkommt, geht aus den Quellen nicht eindeutig her­ vor. In der Sekundärliteratur wird darunter ein Ringen mit den Händen verstanden, das insbeson­ dere in der ersten Phase des Ringkampfes erfolgte.“

Erläuterungen

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und in Sokrates’ Gespräch mit Euthydemos in Xenophons Memorabi­ lien (4, 2, 14–20).63 Als Beispiel dafür, dass und wann es gerecht ist, Krieg zu führen und dabei andere zu betrügen, gewalttätig zu behandeln und zu berauben, nennt Xenophon den folgenden Fall: Wenn der Ober­ befehlshaber des Heeres einer Polis die Einwohner einer anderen Polis, die seiner Polis Unrecht zugefügt hat, im Verlauf der dadurch verursach­ ten kriegerischen Auseinandersetzung betrügt, ihnen ihren Besitz raubt und sie in die Sklaverei verkauft, gilt dies nach landläufiger Auffassung als gerecht (4, 2, 15). Das heißt: „Auf rechtmäßige Weise“ führt man einen Krieg und „auf rechtmäßige Weise“ betrügt man die Einwohner einer anderen Polis, tut ihnen Gewalt an und beraubt sie, wenn einem von ihnen Unrecht zugefügt worden ist. Die Antwort auf die Frage, gegen welche von beiden Alkibiades den Athenern zum Krieg raten wird, gegen die, die ihnen Unrecht tun, oder gegen die, die rechtmäßig handeln (109b9–11), scheint damit klar zu sein. Alkibiades weicht jedoch aus. Er verweist darauf, dass es Fälle gebe, in denen jemand denke, man müsse gegen die Krieg führen, die rechtmäßig handeln, dies allerdings nicht offen sage, sondern wider besseres Wissen behaupte, die Gegner seien solche, die Unrecht begingen. Sokrates nennt den Grund für ihr Verhalten: Sie tun dies, weil sie wissen, dass Krieg gegen solche zu führen, die rechtmäßig handeln, nicht gesetzlich (νόμιμον) ist (109c4). Die Griechen unterschieden zwei Arten von Gesetzen (νόμοι), schriftlich niedergelegte Gesetze, mit denen die Bürger einer Polis ihr Zusammenleben regeln (νόμοι κείμενοι), und ungeschriebene Gesetze, die, ohne schriftlich fixiert zu sein, als naturgegeben von allen Men­ schen anerkannt werden (ἄγραφοι νόμοι). Aristoteles formuliert die­ sen Unterschied an einer Stelle der Rhetorik so (A 10, 1368b7–9): „Es gibt zwei Arten von Gesetzen, einerseits das spezielle (ἴδιος), anderer­ seits das gemeinsame (κοινός). Als spezielles Gesetz bezeichne ich das niedergeschriebene, nach dem die Bürger ihr Leben in der Polis organi­ sieren, als gemeinsames alles das, was, wiewohl nicht niedergeschrie­ ben, von allen einvernehmlich anerkannt zu werden scheint.“64 Wenn Sokrates hier davon spricht, dass es nicht „dem Gesetz gemäß“ sei, Krieg gegen solche zu führen, die rechtmäßig handeln, dann meint er die zweite Art. Und er fügt hinzu, dies sei auch nicht „schön“ (καλόν, 109c5).65 Das griechische Adjektiv kalos (καλός) bedeutet zunächst 63

Vgl. rep. 1, 331c1–9; ps.-Plat. de iusto 374b4–e2; Xen. mem. 3, 1 ,6; ferner Xen. Kyr. I 6, 31–34. 64 Vgl. rhet. A 10, 1373b4–18a. 65 Ich übernehme den Text in der Form, in der ihn Carlini in seiner Textausgabe hergestellt hat (vgl. S. 172 zu 109c5–8).

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einmal „schön“ im ästhetischen Sinn („schön anzusehen oder anzuhö­ ren“). Übertragen auf den Bereich der Ethik bedeutet es „schön“ im Sinne von edel, ehrenhaft, rühmlich. Wenn Sokrates das Kriegführen gegen sol­ che, die rechtmäßig handeln, als „nicht schön“ bezeichnet, dann bezeich­ net er es damit als etwas, was allgemein als unedel, unehrenhaft, unrühm­ lich angesehen wird und das einem daher, wenn man es tut, Schande ein­ bringt.66 Hier liegt der Grund für den von Alkibiades erwähnten Fall, dass Leute, die meinen, man müsse gegen solche Krieg führen, die rechtmäßig handeln, dies nicht offen sagen, sondern wider besseres Wissen behaup­ ten, der Kriegsgegner handle unrechtmäßig. Sie suchen sich so gegen den Vorwurf zu schützen, unehrenhaft zu handeln.67 Alkibiades stimmt Sokrates zu, dass Krieg gegen solche zu führen, die gerecht handeln, nicht gesetzlich (νόμιμον) und nicht schön (καλόν) ist, dass man also zum Krieg nur dann raten dürfe, wenn der Gegner Unrecht tue. Das Kriterium, nach dem zu entscheiden ist, ob man Krieg führen soll oder nicht und mit wem und mit wem nicht und wann und wann nicht, ist also das Gerechte (109c9–11). Dieses Fazit bildet den Ausgangpunkt für die Erörterung im nächsten Abschnitt.

109d1–113c7 Alkibiades weiß nicht, was gerecht und was ungerecht ist. Wenn Alkibiades in der Volksversammlung auftreten und seinen Mitbür­ gern bei Entscheidungen über Krieg und Frieden seinen Rat erteilen will, muss er wissen, was gerecht und was ungerecht ist. Woher weiß er es? Wie in einem früheren Abschnitt des Gespräches festgestellt worden war (106d4–6), kann man sich Wissen auf zweierlei Weise aneignen, entweder dadurch, dass man es bei einem Lehrer erwirbt, oder dadurch, dass man es selbst findet. Einen Lehrer, der ihn zu unterscheiden gelehrt hätte, was das Gerechtere und das Ungerechtere ist (109d3–4), hat Alki­ biades, soweit bekannt, nicht gehabt. Wenn er ein Wissen davon hat, 66

Zum Gegensatzpaar schön (καλόν) – nicht schön = hässlich (αἰσχρόν) und seinem Ver­ hältnis zum Gegensatzpaar gut (ἀγαθόν) – übel, schlecht (κακόν) vgl. 115a4–116e1 mit den Erläuterungen dazu (S. 85–88) und die Diskussion zwischen Sokrates auf der einen Seite und Polos und Kallikles auf der anderen im Gorgias (474c4–477e6 und 482d7–484b1). 67 In diesem Sinn kritisiert Kallikles Polos dafür (Gorg. 482d7–e2), dass er, wenn er einge­ räumt habe, dass das Unrechttun hässlicher sei als das Unrechtleiden (ebd. 474c7–8), dies nur deshalb getan habe, weil er sich geschämt habe, seine entgegengesetzte wirkliche Meinung kund­ zutun.

Erläuterungen

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was gerecht und was ungerecht ist, muss er es also irgendwann selbst gefunden haben. Gefunden haben kann er es nur, wenn er danach gesucht hat. Danach gesucht haben kann er andererseits nur, wenn er gemeint hat, es nicht zu wissen. Lässt sich der Zeitpunkt ermitteln, zu dem er zu der Einsicht gelangte, dass er nicht wusste, was gerecht und was ungerecht ist, und zu dem er sich deshalb daran machte, dies herauszufinden? Sokrates gibt vor, ein sicheres Indiz dafür zu haben, dass Alkibiades schon als Kind zu wissen glaubte, was gerecht und was ungerecht ist: Im Schulunterricht68 und beim Spielen69 mit anderen Kin­ dern habe er immer wieder mit Nachdruck kundgetan, dass dieses oder jenes andere Kind ihm Unrecht zugefügt habe. Alkibiades bestätigt, dass er tatsächlich schon damals überzeugt gewesen sei zu wissen, was gerecht und was ungerecht ist. Nun ist aber auszuschließen, dass er zu einem noch früheren Zeitpunkt gemeint haben sollte, es nicht zu wissen, und deshalb danach gesucht haben sollte. Damit scheidet auch die Mög­ lichkeit aus, dass er es von sich aus gefunden hat. Alkibiades kommt daher auf die andere Möglichkeit des Wissenser­ werbs zurück: Vielleicht hat er es doch gelernt, allerdings nicht von einem bestimmten Lehrer, sondern wie alle anderen von der „breiten Masse der Bevölkerung“ (110e1), d. h. im alltäglichen Umgang mit den Athenern. Sokrates macht sich zunächst lustig über die Äußerung des Alkibiades: Es sei ja schon merkwürdig, wenn man einfache Dinge wie z. B. gute und schlechte Züge beim Brettspiel70 nicht von der Menge ler­ nen könne (sc. sondern nur von erfahrenen Brettspielern), wohl aber so bedeutende Dinge wie das, was gerecht ist. Alkibiades hält dem entge­ 68

Denyer 2001, 118 merkt zu 110b1 an: „We are to imagine Socrates outside the school, over­ hearing Alcibiades as he shouted inside.“ Er beruft sich dafür auf ein in Aischines’ Rede gegen Timarchos (or. 1, 12) zitiertes Gesetz, in dem es heißt, dass es allen erwachsenen Männern außer denen, die zur Familie des Lehrers gehörten, unter Androhung des Todesstrafe verboten war, den Schulraum zu betreten, solange die Schüler anwesend waren. Dieses Zeugnis ist jedoch unbrauch­ bar, da es sich bei dem Gesetz um eine nachträglich zum Redetext hinzugefügte Erfindung han­ delt (vgl. Fisher 2001, 68. 135). In den Erastai ist vorausgesetzt, dass das Gespräch, das den Inhalt des Dialogs bildet, in der Schule eines Elementarlehrers stattfindet (132a1), und Theo­ phrast spricht char. 7, 4 von der Gewohnheit der Schwätzer, in Schulen und Palästren einzudrin­ gen und dort die Kinder am Weiterlernen zu hindern. Das Gesetz, von dem in dem interpolierten Text die Rede ist, hat es also entweder nie gegeben, oder es war, wenn es es je gegeben hat, zur Zeit der Abfassung des Alk. 1 nicht mehr in Kraft. 69 Zu 110b2 „wenn du würfeltest“ (ὁπότε ἀστραγαλίζοις): Gemeint sind bestimmte Arten von Würfelspielen, bei denen als Würfel die Knöchel (ἀστράγαλοι) von Schafen und Ziegen benutzt wurden, weswegen die Spiele oft auch als Knöchelspiele bezeichnet werden; zu ihnen Schädler 1996. Eine hübsche kleine Geschichte, wie Eros Ganymed bei einem dieser Spiele betrügt, erzählt Apollonios Rhodios in den Argonautica (3, 114–130). 70 Zu den Brettspielen der Griechen Fittà 1998, 154–161.

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Kommentar

gen, dass man von der Menge durchaus auch bedeutende Dinge lernen könne, und nennt als Beispiel die griechische Sprache. Dieses Beispiel zieht auch Protagoras in dem nach ihm benannten Dialog Platons zum Vergleich heran (Prot. 327e3–328a1), um Sokrates klar zu machen, dass die Athener die politikē aretē (πολιτικὴ ἀρετή), das Wissen davon, wie man sich als Bürger zu verhalten hat, und die Bereitschaft und die Fähigkeit, diesem Wissen entsprechend zu handeln, nicht von einzelnen Spezialisten, sondern von den vielen sie umgebenden Menschen lernen. Sokrates gesteht Alkibiades zu, dass die Menge, was die griechische Sprache betrifft, in der Tat ein guter Lehrer zu sein scheine, und fügt an, dass sie dies deshalb sei, weil sie, was diesen Bereich betreffe, die grundlegende Voraussetzung erfülle, die Menschen erfüllen müssen, die sich anschicken, andere etwas zu lehren: Sie müssen auf dem betreffen­ den Gebiet selbst über Wissen verfügen. Ein Indiz dafür, dass eine Vielzahl von Menschen auf einem bestimm­ ten Gebiet über Wissen verfügt, ist, dass alle im Hinblick auf dieses Gebiet miteinander und mit sich selbst übereinstimmen, d. h. dass alle in Bezug auf die Gegenstände dieses Gebietes untereinander keinerlei Meinungsverschiedenheiten haben und auch jeder Einzelne sich seiner Meinung sicher ist – zweifellos eine notwendige, allerdings keine hin­ reichende Bedingung. Nun ist es in der Tat so, dass, wenn es darum geht, die Frage zu beantworten, ob ein bestimmtes Ding ein Stein oder Holz ist, es keinerlei Meinungsverschiedenheiten gibt, sondern alle Bür­ ger einer Polis miteinander und mit sich selbst übereinstimmen und auch die Bürger aller griechischen Poleis untereinander. So gesehen, verfügt die Menge im Hinblick auf die griechische Sprache, wie es scheint, tat­ sächlich über ein Wissen und ist damit ein guter Lehrer. Dies gilt freilich nur so lange, als mit „Wissen“ nicht mehr gemeint ist als die Beherr­ schung der Sprache in dem Sinne, dass man fähig ist, Dinge des alltägli­ chen Lebens in korrekter Weise mit den in der Sprache dafür vorhande­ nen Wörtern zu bezeichnen. Das funktioniert problemlos, solange es um Dinge geht, die jeder auch ohne spezielle Sachkenntnisse unterscheiden und mit den zugehörigen Wörtern benennen kann. In vielen Fällen ist dies jedoch nicht so. Pferde und Menschen können alle voneinander unterscheiden und korrekt als das eine oder das andere benennen. Geht man aber einen Schritt weiter und möchte z. B. wissen, welche Pferde Rennpferde sind und welche nicht oder welche Menschen gesund sind und welche krank, dann erhält man von der Masse der Bevölkerung sehr unterschiedliche Antworten,71 und dies offenkundig deshalb, weil hier

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111e2 ist ἑαυτοῖς = ἀλλήλοις. Vgl. 112d2 σφᾶς αὐτούς.

Erläuterungen

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die zuvor beschriebene Form der Kenntnis von Dingen und zugehörigen Wörtern nicht ausreicht, sondern ein spezifisches Sachwissen erforder­ lich ist. In Fällen wie diesen kommt die Masse daher als Lehrer nicht infrage,72 sondern nur solche, die über das betreffende Sachwissen ver­ fügen, in den genannten Fällen also Pferdezüchter und Ärzte. Noch viel größer sind die Meinungsverschiedenheiten unter den Leuten und die Meinungsverschiedenheit jedes Einzelnen mit sich selbst, wenn es um die Frage geht, welche Menschen und Handlungen gerecht und unge­ recht sind.73 Wie groß und heftig hier die Meinungsverschiedenheiten sind, kann man daran erkennen, dass sie immer wieder blutige Ausei­ nandersetzungen ausgelöst haben. Als Beispiele dafür nennt Sokrates die Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Troern einerseits und Odysseus und den Freiern der Penelope andererseits, von denen Homer in Ilias und Odyssee berichtet, und aus der jüngsten Geschichte die Schlachten bei Tanagra (457) und Koroneia (447), die beide für die Athener mit Niederlagen endeten. Er erweckt damit den Eindruck, als seien diese Auseinandersetzungen besonders gut geeignet zu zeigen, dass Ursache solcher Auseinandersetzungen Meinungsverschiedenhei­ ten im Hinblick darauf sind, was gerecht und ungerecht ist. Das ist aller­ dings nicht der Fall. In der Ilias geht es darum, dass die Griechen gegen Troja zu Felde ziehen und die Stadt schließlich zerstören, um die Troer dafür zu bestrafen, dass der Königssohn Paris das Gastrecht miss­ brauchte, indem er Helena, die Frau seines Gastgebers Menelaos, ent­ führte, und in der Odyssee darum, dass Odysseus die Freier zur Strafe für ihr anmaßendes und rüdes Verhalten allesamt umbringt. Dass die Griechen, wenn sie gegen Troja zogen, und Odysseus, wenn er die Freier ermordete, im Recht waren, steht außer Frage. Die beiden Epen beweisen also nur, dass Menschen, um ihr Recht durchzusetzen, blutige Vergeltung üben. Sokrates nennt sie, obwohl sie als Beispiel eigentlich nicht geeignet sind, vermutlich deshalb, weil sie die zentralen Texte im Schulunterricht und Alkibiades deshalb wohlvertraut waren.74 Ob Mei­ nungsverschiedenheiten der genannten Art im Vorfeld der Schlachten bei Tanagra und Koroneia eine besondere Rolle spielten, wissen wir nicht; überliefert ist nichts Derartiges. Auf die Schlacht bei Tanagra ver­ weist Sokrates möglicherweise deshalb, weil sie besonders blutig verlief (vgl. Thuk. 1, 108, 1), auf die Schlacht bei Koroneia sicher vor allem 72

Zu 111e1 κρήγυοι διδάσκαλοι („rechtschaffene Lehrer“) vgl. S. 169–170. Vgl. Phaidr.263a2–b1 (Übers. Heitsch): „Wenn jemand das Wort ‚Eisen‘ oder ‚Silber‘ gebraucht, so denken wir uns doch alle dasselbe. . . . Was aber, wenn er ‚gerecht‘ oder ‚gut‘ sagt? Da divergieren wir doch und sind uneins untereinander und mit uns selbst?“ 74 Nach Plut. Alk. 7, 12 schätzte er sie sehr. 73

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Kommentar

deshalb, weil sie wegen des Todes seines Vaters Kleinias für Alkibiades von besonderer persönlicher Bedeutung war. Wie dem auch sei, worauf es ankommt, ist dies: Wenn Menschen, weil sie uneins darüber sind, wer von ihnen im Recht und wer im Unrecht ist, dahin gelangen, dass sie gegeneinander Krieg führen und sich gegenseitig umbringen, dann zeigt dies, dass sie nicht wissen, was gerecht und was ungerecht ist.75 Wenn sie dies aber nicht wissen, dann kommen sie, was dies betrifft, als Lehrer nicht in Frage. Fazit: Wenn Alkibiades weder selbst gefunden hat, was gerecht und was ungerecht ist, noch es von jemandem gelernt hat, dann weiß er es offenkundig nicht. Alkibiades bejaht diese Feststellung, allerdings in einer Weise, die durchklingen lässt, dass er dies nur Sokrates zuliebe tut (112d10): „Nach dem, was du behauptest, ist dies unmöglich“. Dieser Versuch, das Ergebnis, zu dem das Gespräch gerade geführt hat, nur halbherzig zu akzeptieren, veranlasst Sokrates zu einer knappen, aber deutlichen Belehrung über ein Prinzip jedes dialektischen Gespräches, das ernsthaft darauf abzielt, der Wahrheit näher zu kommen: Im dialek­ tischen Gespräch gibt es einen, der fragt, und einen, der antwortet. Der Fragende stellt etwas zur Diskussion, er stellt keine Behauptungen auf, dies tut nur der Antwortende. Bejaht oder verneint dieser eine Frage, dann tut er damit eine Meinung kund, zu der er aufgrund der Fragen gelangt ist. Diese Meinung kann sich natürlich im Nachhinein als unzu­ länglich oder falsch erweisen. In dem Augenblick, in dem er eine Ent­ scheidungsfrage bejaht oder verneint, stellt er damit jedoch eine Behauptung auf. Vorausgesetzt ist dabei ein anderes Grundprinzip dia­ lektischer Gespräche, an das Sokrates Alkibiades 110a2–3 erinnert hatte, das Prinzip, dass jede Antwort aufrichtig sein müsse und der Ant­ wortende sich nicht irgendwelche Schlupflöcher offenhalten dürfe. Bezogen auf den Punkt, an dem das Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades gerade angelangt ist, besagt dies: Sokrates war im Vorangeh­ enden immer nur der Fragende, Alkibiades der Antwortende. Die Behauptung, Alkibiades verfüge über kein Wissen davon, was gerecht und was ungerecht ist, meine es aber und schicke sich an, in die Volks­ versammlung zu gehen und den Athenern seinen Rat zu erteilen in Bezug auf Dinge, in denen er sich nicht auskenne (113b8–11), ist also eine Behauptung des Alkibiades, er kann sie nicht Sokrates unterschie­ ben. 75 Der von Alkibiades kurz vorher (109c1–3) vorgebrachte Einwand, dass es, wenn Krieg geführt werde, bisweilen nur dem Scheine nach, nicht aber wirklich um die Frage von Recht und Unrecht gehe, bleibt hier außer Betracht. Er wird, mit veränderter Blickrichtung, im nächsten Abschnitt (113c1 ff.) wieder aufgegriffen.

Erläuterungen

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113d1–116e1 Alles Gerechte ist nützlich. Alkibiades hält ungeachtet des Ergebnisses, zu dem das Gespräch gerade gelangt war, an seiner Absicht fest, in Kürze in der Volksver­ sammlung aufzutreten und dem Volk seinen Rat zu erteilen. Den Konse­ quenzen, die er aus dem Ergebnis des bisherigen Gespräches ziehen müsste, entzieht er sich, indem er erklärt, dass die Frage, welche von zwei Handlungsweisen gerechter oder ungerechter ist,76 in den Volks­ versammlungen der Athener und der anderen Griechen nur von margi­ naler Bedeutung sei, weil alle meinten, dies sei doch klar. Worum es in den Volksversammlungen gehe, sei die Frage, welche von beiden nütze, und das sei keineswegs immer die, die gerecht sei. Ein Blick auf die Realität zeige, dass es vielen genützt habe, wenn sie ungerecht gehan­ delt hätten, und vielen geschadet, wenn sie gerecht gehandelt hätten. Anders ausgedrückt: Die primäre Frage, um die es den Athener geht, wenn sie in der Volksversammlung beraten, ist, wie sie ihre Interessen am erfolgreichsten umsetzen können; die Frage, ob und wieweit sie zu diesem Zweck in Kauf nehmen, anderen Unrecht zuzufügen, ist demge­ genüber zweitrangig. Völlig unverblümt und in radikaler Form argu­ mentieren in diesem Sinn die Athener gegenüber den Meliern im sog. Melierdialog bei Thukydides (5, 85–113).77 Sokrates geht auf die Behauptung des Alkibiades, dass das zentrale Thema in den Volksversammlungen der Athener nicht die Frage nach der Rechtmäßigkeit der zu ergreifenden Maßnahmen, sondern die nach deren Nutzen sei, zunächst nicht weiter ein, sondern weist Alkibiades darauf hin, dass er schon wieder wie selbstverständlich ein Wissen für sich in Anspruch nehme, diesmal ein Wissen davon, was für die Men­ schen nützlich sei und warum es dies sei, und dass nun eigentlich erst einmal nach dem gleichen Muster wie zuvor in Bezug auf das Gerechte geprüft werden müsse, ob er dieses Wissen überhaupt besitze. Alkibia­ 76

113d2–3 πότερα δικαιότερα ἢ ἀδικώτερα: Das jedem Übersetzer griechischer und lateinischer Texte bekannte Problem, wie er griechische Pronomina und substantivierte Adjektive im Neutrum Plural wie ταῦτα, τὰ δίκαια, τὰ συμφέροντα u. a. m. jeweils am Passendsten ins Deutsche überträgt, habe ich in diesem Abschnitt in der Weise gelöst, dass ich, dem Inhalt ent­ sprechend, zumeist „Handlungsweisen“ hinzugefügt habe. 77 Zu Beginn dieses Dialogs fassen die Melier die von den Athenern festgelegte Basis, auf der das Gespräch stattfinden soll, in die Formel, dass statt über das Gerechte über das Nützliche gesprochen werden solle (ὑμεῖς … παρὰ τὸ δίκαιον τὸ ξυμφέρον λέγειν ὑπέθεσθε) (5, 90; vgl. 5, 98).

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Kommentar

des lehnt es ab, sich auf eine solche Prüfung einzulassen. Der Grund dafür liegt auf der Hand, und Sokrates sagt ihn Alkibiades ins Gesicht: Das Ergebnis wäre das gleiche wie zuvor; es würde sich zeigen, dass Alkibiades nicht in der Lage ist zu sagen, auf welche Weise er das Wis­ sen, das er sich zuschreibt, erlangt hat. Mit einem spöttischen Seitenhieb (114a7) erklärt Sokrates sich bereit, Alkibiades entgegenzukommen und diesen Punkt nicht weiter zu verfolgen,78 und erspart ihm so die Pein­ lichkeit, auch in diesem Fall zugeben zu müssen, dass er sich ein Wissen anmaßt, über das er nicht verfügt. Wiewohl also klar ist, dass Alkibiades weder weiß, was gerecht, noch, was nützlich ist, fordert Sokrates ihn nichtsdestoweniger auf darzulegen, „ob dieselben Handlungsweisen oder verschiedene gerecht und nützlich sind“ (114b1–2), tut also so, als ob man diese Frage ernsthaft erörtern könne, ohne dass zuvor geklärt wurde, welche Handlungsweisen gerecht und welche nützlich sind. Die Erörterung der zu beantwortenden Frage spielt sich also ab auf der Ebene der vagen und unausgegorenen landläufigen Vorstellungen des Alkibiades davon, was gerecht, nützlich und, das kommt im Folgenden hinzu, schön und gut ist. Bevor diese Erörterung beginnt, schiebt Sokrates ein kleines metho­ dologisches Intermezzo ein (114b1–115a1). Er stellt Alkibiades vor die Wahl, sich zur Begründung seiner Behauptung entweder derjenigen Form zu bedienen, deren er, Sokrates, sich zuvor bedient habe, also indem er ihn frage, oder in Form einer zusammenhängenden Rede. Da Alkibiades es sich nicht zutraut, Sokrates gegenüber den erbetenen Nachweis so oder so zu erbringen, ergreift dieser erneut selbst die Initia­ tive. Er weist Alkibiades darauf hin, dass es nicht nachvollziehbar sei, wenn er sich zwar befähigt fühle, die Menge der Menschen in der Volks­ versammlung zu überzeugen, nicht aber ihn als Einzelnen, sei die Menge dieser Menschen doch nichts anderes als eine Ansammlung von einzelnen Menschen; von dem, was man wisse, könne man ebenso gut einen Einzelnen wie viele überzeugen. Er fordert ihn daher auf, ihn gleichsam als Übungsobjekt zu benutzen und ihn von dem zu überzeu­ gen, wovon er die Menge in der Volksversammlung überzeugen zu kön­ nen glaubt: dass es bisweilen schade, wenn man das Gerechte tue. Alki­ biades lehnt es erneut ab, dies zu tun, worauf Sokrates ihm entgegnet, dass er ihn dann eben seinerseits von dem Gegenteil überzeugen wolle. Alkibiades’ Wunsch, er möge dies in einer Rede tun, weist Sokrates

78 114a4 „und fasse alles, was ich dich zuvor gefragt habe, in einer Frage (μιᾷ ἐρωτήσει) zusammen.“ Gemeint ist offenbar die knappe Frage „Von wem hast du es gelernt oder wie hast du es selbst gefunden?“

Erläuterungen

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zurück; die Klärung der Frage solle in der Form erfolgen, dass er frage und Alkibiades antworte,79 dies sei für Alkibiades der sicherste Weg, zu wirklicher Einsicht zu gelangen. Nur wenn er sich selbst, indem er eine entsprechende Frage bejahe, sagen höre, dass die gerechten Handlungs­ weisen auch nützlich sind, könne er sich darauf verlassen, dass dies wirklich so sei. Alkibiades erklärt sich bereit, wie zuvor zu antworten; sein Schaden werde das nicht sein. Sokrates pflichtet ihm bei und rühmt mit leichtem Spott Alkibiades’ prophetisches Vermögen. Nach diesem methodologischen Intermezzo beginnt Sokrates mit der Prüfung der Behauptung des Alkibiades. Dieser hatte behauptet (113d5– 8), dass „die gerechten und die nützlichen Handlungsweisen nicht die­ selben“ seien,80 sondern dass es Handlungen gebe, die zwar gerecht, aber nicht nützlich, und solche, die zwar nützlich, aber nicht gerecht seien. 114b1–2 greift Sokrates diese Behauptung des Alkibiades auf. Dabei zitiert er sie in der folgenden Form: Alkibiades solle aufzeigen, „ob dieselben Handlungsweisen oder verschiedene gerecht und nützlich sind.“81 Das ist etwas verschwommen formuliert, lässt sich aber schwer­ lich anders verstehen als in der Weise, dass Alkibiades aufgefordert wird aufzuzeigen, ob alle Handlungsweisen, die gerecht sind, auch nützlich sind oder ob gerechte und nützliche Handlungsweisen immer oder in einzelnen Fällen voneinander verschieden sind. Warum Sokrates die Behauptung des Alkibiades in dieser Weise umformt, wird am Schluss des Abschnitts klar. Dort konstatiert er, die frühere Formulierung auf­ greifend, als Ergebnis (116d10–e1), dass nun auch Alkibiades ebenso wie er behaupte, „dass dieselben Handlungsweisen gerecht und nützlich sind“.82 Sokrates’ Frage, ob alle Handlungsweisen, die gerecht (δίκαια) sind, auch schön (καλά)83 sind, bejaht Alkibiades (115a9–10). Sokrates ver­ zichtet darauf nachzufragen, woher Alkibiades denn wisse, was schön ist. Täte er es, würde sich wie im Falle des Gerechten und des Nützli­ chen nur erneut zeigen, dass Alkibiades dies nicht zu sagen vermag. Den Antworten, die er Sokrates im Folgenden gibt, ist jedoch zu entneh­ men, dass er „schön“ im landläufigen Sinn versteht, in dem derjenige schön handelt, der so handelt, wie man handeln „sollte“ (115b3 δέον,

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Vgl. 113a7–b7. 113a5–6: οὐ ταὐτά ἐστιν τά τε δίκαια καὶ τὰ συμφέροντα. 81 114b1–2: πότερον ταὐτά ἐστι δίκαιά τε καὶ συμφέροντ᾿ ἢ ἕτερα. Im Unterschied zu 113a5–6 fehlt hier (und dann auch 116e1) der Artikel bei δίκαιά τε καὶ συμφέροντα. ταὐτά ist hier also Subjekt und nicht, wie zumeist übersetzt wird, Prädikatsadjunkt. 82 116e1: ταὐτά ἐστι δίκαιά τε καὶ συμφέροντα. 83 Zur Bedeutung von καλός (schön) vgl. S. 77–78. 80

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Kommentar

115b6 οὓς ἔδει), also das tut, wozu er nach allgemeiner Auffassung moralisch verpflichtet ist. Eine ausgedehnte Diskussion entwickelt sich über die Frage, ob alle Handlungsweisen, die schön sind, gut sind (115a11–116c6). Alkibiades bestreitet dies: Er glaube, dass manche von denen, die schön (καλά) sind, übel (κακά) und umgekehrt manche von denen, die hässlich (αἰσχρά) sind,84 gut (ἀγαθά) sind (115a11–16). Als ein möglicher Fall, in dem eine Handlungsweise, die schön ist, übel ist, wird der folgende herangezogen: Wenn man im Krieg einem Kameraden oder einem Angehörigen zu Hilfe kommt und dabei verwundet wird oder gar sein Leben verliert, ist ein solches Handeln zwar schön, insofern man die zu retten versucht, zu deren Rettung man nach allgemeiner Auffassung moralisch verpflichtet ist, und damit einen Akt der Tapferkeit vollbringt; andererseits aber ist es übel, insofern man Verwundung und Tod riskiert. Betrachtet man den Fall genauer, dann stellt man allerdings fest, dass eine solche Hilfeleistung schön und übel nicht in derselben Hinsicht (κατὰ ταὐτόν, 115c3) ist: Schön ist sie, insofern es sich um einen Akt der Tapferkeit handelt, übel, insofern Verwundung und Tod die Folge sein können. Zu klären ist als Nächstes, ob eine derartige Hilfeleistung, „insofern sie schön ist, auch gut ist“ (115c6) oder nicht. Einvernehmen war darü­ ber erzielt worden, dass die Hilfeleistung insofern schön ist, als sie einen Akt der Tapferkeit darstellt. Wie steht es nun mit der Tapferkeit? Ist sie gut oder übel? Gut sind die Dinge, die man gerne besitzen möchte, die größten Güter die, die man am liebsten besitzen und am wenigsten mis­ sen möchte. Der Begriff „gut“ wird hier relational in Sinne von „gut für mich“ verstanden und steht damit in enger Beziehung zu dem des „Nützlichen“. Dementsprechend wird später knapp festgestellt werden, dass „das, was gut ist, nützt“ (116c7–8). In diesem landläufigen Sinn von „gut“ und „übel“ gehören Tapferkeit und Leben für Alkibiades zu den größten Gütern, Feigheit und Tod zu den größten Übeln (115c6–e8). Der sich anschließende Textabschnitt (115e9–116c6) enthält sprach­ lich und inhaltlich allerlei Schwierigkeiten. Er muss daher im Detail betrachtet werden. Geeinigt hatten sich Sokrates und Alkibiades im Vorangehenden auf zweierlei, 1. dass die Hilfe, die man seinen Freunden im Krieg zuteil­ werden lässt, schön ist, insofern sie einen Akt der Tapferkeit darstellt,

84 Das griechische Adjektiv αἰσχρός, hässlich, ist das Antonym zu καλός, schön. Für die Übersetzung von αἰσχρός gilt daher vice versa das Gleiche wie für die Übersetzung von καλός; vgl. S. 77–78.

Erläuterungen

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und übel, insofern man Verwundung und Tod riskiert, und 2. dass die Tapferkeit gut ist. Diese beiden Ergebnisse werden 115e9–14 folgender­ maßen rekapituliert und miteinander verbunden: „SO. Die Hilfe, die man seinen Freunden im Krieg zuteilwerden lässt, hast du also, insofern sie schön ist, d. h. im Hinblick darauf, dass es sich um die Vollbringung von Gutem, nämlich eines Aktes der Tapferkeit,85 handelt (κατ᾿ ἀγαθοῦ πρᾶξιν τὴν τῆς ἀνδρείας), als schön bezeichnet? – ALK. Offenbar. – SO. Im Hinblick darauf aber, dass es sich um die Vollbrin­ gung von Üblem, nämlich des Todes, handelt (κατὰ κακοῦ πρᾶξιν τὴν τοῦ θανάτου), als übel? – ALK. Ja.“ Die Übersetzung des griechi­ schen Textes ist an dieser Stelle zugegebenermaßen ziemlich gekünstelt; der griechische Text ist es allerdings auch. Der Grund dafür ist, dass das griechische Wort praxis (πρᾶξις), das mit „Vollbringung“ übersetzt ist, in den beiden Fragen des Sokrates in ungewöhnlicher und noch dazu unterschiedlicher und in der ersten der beiden Fragen nur schwer zu bestimmender Weise gebraucht wird. Klar ist, was in der zweiten Frage mit „Vollbringung“ gemeint ist: Gemeint ist, dass die Hilfe den Tod her­ beiführt.86 Was aber ist damit im ersten Satz gemeint? Offenbar dies, dass die Hilfe ein Akt ist, bei dem die Person ihre Tapferkeit im konkre­ ten Handeln bewährt. Alkibiades scheint übrigens keinerlei Schwierig­ keiten damit zu haben, Sokrates’ Fragen zu verstehen. Er beschränkt sich beide Male darauf zuzustimmen. Höchst fraglich ist allerdings, ob er versteht, worum es geht. 115e15–116a5 verallgemeinert Sokrates die Ergebnisse, zu denen das Gespräch zuvor in Bezug auf das Beispiel der Hilfe, die man Freunden im Krieg leistet, gelangt war, und leitet aus ihnen vier Folgerungen her: 1. Wenn jede unserer Vollbringungen (ἑκάστη τῶν πράξεων), inso­ fern sie Übles hervorbringt, übel ist,87 dann muss sie auch, insofern sie Gutes hervorbringt, gut sein. 2. Wenn sie, insofern sie Gutes hervorbringt, schön ist,88 dann muss sie umgekehrt auch, insofern sie Übles hervorbringt, hässlich sein. Alki­ biades stimmt dieser Folgerung vorbehaltlos zu. Offenkundig bemerkt er nicht, dass sie keineswegs so selbstverständlich ist, wie sie ihm

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ἀνδρεία bezeichnet im Allgemeinen die Tapferkeit als Charaktereigenschaft, kann aber auch den einzelnen Akt der Tapferkeit bezeichnen. In diesem Sinne kann ἀνδρεία auch im Plural gebraucht werden, so leg. 11, 922a2 ἀνδρείαις, „aufgrund ihrer tapferen Taten“. 86 Vgl. 115e16 ἀπεργάζεται. 87 Verallgemeinerung der Aussage, dass die Hilfe, insofern es sich um die Vollbringung von Üblem, nämlich des Todes, handelt, übel ist (115e13–14). 88 Verallgemeinerung der Aussage, dass die Hilfe, insofern es sich um die Vollbringung von Gutem, nämlich eines Aktes der Tapferkeit handelt, schön ist (115e9–12).

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Kommentar

erscheint. Dass sie dies nicht ist, lässt sich sehr einfach am Beispiel der Hilfe zeigen, die man Freunden im Krieg leistet. Wie soll man es verste­ hen, dass diese Hilfe, insofern sie den Tod hervorbringt, hässlich ist, wenn „hässlich“ der Gegensatz von „schön“ ist und somit besagt, dass etwas nach den in der Gesellschaft gültigen Normen zu missbilligen ist (vgl. S. 85–86)? Bedenkt man allein diesen Fall, dann erweist sich die Folgerung, dass jede unserer Vollbringungen, insofern sie Übles hervor­ bringt, hässlich ist, als unzulässig. Warum Sokrates diese unzulässige Folgerung zieht, liegt auf der Hand: Nur so kann er zu dem abschließen­ den Fazit gelangen, dass nichts Schönes, insofern es schön ist, übel und nichts Hässliches, insofern es hässlich ist, gut ist (116a10–b1). 3. 116a6–8 kommt Sokrates noch einmal auf den speziellen Fall der Hilfe, die man seinen Freunden im Krieg zuteilwerden lässt, zurück. Wenn Alkibiades, so Sokrates, die Behauptung aufstellte, dass diese Hilfe zwar schön, aber übel ist (vgl. 115b5–10), dann hätte er genauso gut die offensichtlich widersinnige Behauptung aufstellen können, sie sei gut, aber übel (116a6–8). Sokrates verschweigt geflissentlich, dass Alkibiades’ Behauptung natürlich nur dann widersinnig ist, wenn man außer Acht lässt, was zuvor klargestellt worden war, dass die Hilfe schön und übel in verschiedener Hinsicht ist und dass sie gut nur ist, insofern sie schön ist. Obwohl Alkibiades dieser Klarstellung zuvor zugestimmt und sie sich damit zu eigen gemacht hatte (113c5), erhebt er keinerlei Einwand, sondern stimmt Sokrates auch jetzt zu, wenn auch in zögerlicher Form (116a9: „Du scheinst mir recht zu haben, Sokrates.“). 4. 116a10–11 zieht Sokrates folgendes Fazit: Nichts Schönes ist also, insofern es schön ist, übel (sc. denn es ist, insofern es Gutes hervor­ bringt, gut), und nichts Hässliches ist, insofern es hässlich ist, gut (sc. denn es ist, insofern es Übles hervorbringt, übel). Das heißt positiv gewendet: Alles Schöne ist, insofern es schön ist, gut und alles Hässli­ che, insofern es hässlich ist, übel. Alkibiades stimmt auch hier wieder vorbehaltlos zu. Die Frage, ob die vorgenommene Verallgemeinerung in der Weise, in der sie vorgenommen wird, zulässig ist, wird nicht gestellt. Dass dies zumindest dann schwerlich der Fall ist, wenn man „schön“ und „hässlich“, „gut“ und „übel“, wie dies hier geschieht, im landläufi­ gen Sinn versteht, ergibt sich schon allein aus dem, was unter 2. gesagt wurde. Halten wir hier kurz inne und werfen einen Blick zurück auf die Art und Weise, in der der Autor des Dialogs das Gespräch zwischen Sokra­ tes und Alkibiades in dem Abschnitt 115e9–116b1 gestaltet. Sokrates stellt seine Fragen so, dass sie Einwendungen oder zumindest Nachfra­ gen geradezu herausfordern. Alkibiades stimmt jedoch immer nur kurz und knapp zu. Wie soll man dies deuten? Ausschließen kann man, dass

Erläuterungen

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der Autor dies unbewusst gemacht hat; dafür ist es zu auffällig. Er muss das Gespräch ganz bewusst so gestaltet haben. Offenbar wollte er auf diese Weise deutlich machen, dass die Diskussion, wie Sokrates sie führt, über Alkibiades’ Horizont hinausgeht. Deshalb lässt er Sokrates mit Alkibiades spielen wie die Katze mit der Maus. 116b2–c6 fügt Sokrates ein ergänzendes Argument an. In ihm treibt er dieses Spiel auf die Spitze. Alkibiades hatte Sokrates zugestanden, dass alles Schöne, insofern es schön ist, auch gut ist. 116b2–3 folgert Sokra­ tes daraus: Wer schön handelt (καλῶς πράττει), handelt auch gut (εὖ πράττει).89 In seiner sich daran anschließenden Argumentation macht sich Sokrates die Tatsache zunutze, dass der griechische Ausdruck eu prattei (εὖ πράττει) nicht nur „er handelt gut“ bzw. mit Objekt „er macht etwas gut“ bedeutet, sondern auch „es geht ihm gut“.90 Bisweilen geht innerhalb eines und desselben Gedankenganges oder Satzgefüges die eine Bedeutung in die andere über, wobei sich beide teilweise über­ lagern.91 So an der vorliegenden Stelle. Da es im Deutschen kein sprach­ liches Äquivalent gibt, das in vergleichbarer Weise in einem doppelten Sinn gebraucht wird, lässt sich dieses Schillern zwischen den beiden Bedeutungen in der Übersetzung nicht in entsprechender Weise wieder­ geben. Die Übersetzung muss daher zu Notlösungen greifen. Die hier gewählte Notlösung ist die, dass eu prattei an der Stelle, an der die eine Bedeutung gleichsam in die andere umkippt (116b5), in doppelter Weise mit „er handelt gut und es geht ihm gut“ übersetzt ist.92 In dem Satz, mit dem Sokrates seine Argumentation einleitet (116b2– 3), hat eu prattei eindeutig die Bedeutung „er handelt gut“: „Wer schön handelt, handelt der nicht auch gut?“ Schon in seinem nächsten Satz überlagern sich die beiden Bedeutungen jedoch. Sokrates kann daher folgern: Diejenigen, „die gut handeln und denen es gut geht“ (οἱ εὖ πράττοντες), sind glücklich (116b5–6).93 Und weiter: Glücklich sind sie, weil sie Güter besitzen (116b7–8), d. h. solche Dinge, die sie gerne 89 90

εὖ fungiert als Adverb zu ἀγαθός.

Entsprechendes gilt für das negative Pendant κακῶς πράττει, „er handelt schlecht“, „er macht etwas schlecht“ bzw. „es geht ihm schlecht“, mit dem Sokrates an einer späteren Stelle des Dialogs (134a6–10) spielt. 91 Vgl. Gorg. 507c3–5; Charm. 171e7–172a3; 173d3–4; Euthyd . 281c1–3; vgl. auch Sokra­ tes’ Interpretation der Simonides-Verse PMG 542, 17–18 im Protagoras (344e7–345b8). Beide Bedeutungen sind miteinander verbunden in der Grußformel εὖ πράττειν am Anfang der plato­ nischen oder pseudoplatonischen Briefe und in der Umformung dieser Formel im Schlusssatz der Politeia (10, 621d2–3). 92 Entsprechend ist 134a9 κακῶς πράττων in doppelter Weise mit „wenn er schlecht handelt und es ihm schlecht geht“ übersetzt. 93 Die gleiche Folgerung an den Anm. 91 zitierten Stellen der Dialoge Gorgias, Charmides und Euthydemos .

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Kommentar

besitzen möchten (vgl. 115c9–d4). Diese aber bringen sie dadurch in ihren Besitz, dass sie gut und schön handeln (τῷ εὖ καὶ καλῶς πράττ­ ειν) (116b9), denn, so war gerade (116b2–4) festgestellt worden, wer schön handelt, handelt auch gut. Gut zu handeln ist also gut (sc. weil man dadurch die Dinge in seinen Besitz bringt, die man gerne besitzen möchte), und es ist zugleich schön (116b11–14). Erneut hat sich also ein und dieselbe Sache, in diesem Fall das gute Handeln,94 als schön und gut erwiesen. Wie zuvor im Fall der Hilfe, die man Freunden im Krieg leistet, verallgemeinert Sokrates das Ergebnis auch hier wieder: Was sich als schön erwiesen hat, wird sich also auch als gut erweisen „jeden­ falls aufgrund dieser Argumentation“, wie Sokrates mit leichtem Vorbe­ halt hinzufügt (116c5). Alkibiades stimmt zu. Ohne weitere Diskussion verständigen sich Sokrates und Alkibiades darauf, dass das, was gut ist, nützt (116c7–8), so wie sie zuvor das, was gut ist, wie selbstverständlich als das bestimmt hatten, was man gerne besitzen möchte (115c9–d4). Abschließend rekapituliert Sokrates das gesamte Argument noch einmal in Kürze (116c9–d2): Es wurde Einver­ nehmen darüber erzielt, 1. dass die, die das tun, was gerecht ist, etwas tun, was schön ist (vgl. 115a1–10), 2. dass die, die das tun, was schön ist, etwas tun, was gut ist (vgl. 115a11–116b1), und 3. dass das, was gut ist, nützt (vgl. 116c7–8). Daraus ergibt sich als Fazit: Diejenigen Hand­ lungsweisen, die gerecht sind, sind nützlich. Alkibiades stimmt mit einem zögerlichen „So scheint es“ zu (116d4). 114d8–9 hatte Sokrates angekündigt, er werde Alkibiades davon über­ zeugen, dass anders, als dieser behaupte, die gerechten Handlungswei­ sen nicht in manchen Fällen nützlich, in anderen aber schädlich, sondern immer nützlich seien. Unter Bezugnahme auf das, worauf er sich in dem methodologischen Intermezzo mit Alkibiades verständigt hatte (114d11–e11), verweist er Alkibiades darauf, dass er seine Ankündi­ gung wahr gemacht habe: Mit seiner Zustimmung zu der Aussage, dass die gerechten Handlungsweisen nützlich sind, habe Alkibiades diese als richtig anerkannt und damit seine frühere Behauptung korrigiert. Alki­ biades stimmt dem mit sichtlichem Unbehagen zu („offenbar, wie es scheint“, 116d6). Sokrates fährt fort: Wenn in Zukunft jemand behaupte, einer von „den Athenern oder den Peparethiern“, dass die gerechten Handlungsweisen manchmal übel seien, dann werde Alkibiades ihn wegen seiner Unwissenheit auslachen, weil jetzt auch er behaupte, „dass dieselben Handlungsweisen gerecht und nützlich sind“ (116e1). Warum werden neben den Athenern gerade die Bewohner der Insel Peparethos

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τὸ εὖ πράττειν (116b11) bzw. ἡ εὐπραγία (116b13).

Erläuterungen

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(heute Skopelos) genannt? Manche haben gemeint, die Peparethier wür­ den hier wegen ihrer Bedeutungslosigkeit als Gegenpol neben die Bür­ ger der „größten unter den griechischen Poleis“ (104a7), Athen, gestellt. Als typische Provinzbürger galten bei den Athenern jedoch üblicher­ weise nicht die Bewohner der Insel Peparethos, sondern die der Insel Seriphos.95 Im Übrigen war Peparethos auch keine ganz unbedeutende Insel; immerhin zahlte sie in die Kasse des attisch-delischen Seebundes alljährlich die erhebliche Summe von drei Talenten ein.96 Genannt sind die Peparethier hier offenbar als Bürger einer mehr oder minder beliebi­ gen dem Seebund angehörenden Insel und Stadt.97

116e2–119a7 Alkibiades leidet an der schlimmsten Form der Ignoranz: Er meint zu wissen, was gerecht, schön, gut und nützlich ist, weiß es aber in Wirk­ lichkeit gar nicht. 116d3–6 hatte Alkibiades die Frage des Sokrates, ob diejenigen Hand­ lungsweisen, die gerecht sind, nützlich sind, bejaht und sich damit die in der Frage liegende Behauptung zu eigen gemacht, hatte dabei allerdings durch die Art, in der er die Frage bejahte („So scheint es“ und „Offen­ bar, wie es scheint“, 116d4 und 6) zu erkennen gegeben, dass ihm dieses Ja Unbehagen bereitet. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Zu sehr widerspricht die Behauptung, dass das Gerechte immer nützlich ist, den Erfahrungen, die der Normalbürger im alltäglichen Leben zu machen glaubt (vgl. 113d5–8). Wirklich überzeugt ist Alkibiades also nicht, immerhin ist er jedoch stark verunsichert: Er weiß nicht, welche seiner beiden gegensätzlichen Behauptungen er für richtig halten soll, seine ursprüngliche, dass die gerechten Handlungsweisen manchmal schäd­ lich sind, oder die, zu der Sokrates ihn hingeführt hat. 95

Vgl. Aristoph. Ach . 542; rep. 1, 329e7–330a3; Cic. nat. deor. 1, 88. Vgl. Meritt [u. a.] 1939–1953, vol. I, 372–373. 97 Vgl. Bruneau 1987, 473–474. – Baynham/Tarrant 2012, 216–219 haben wie vor ihnen schon Pavlu 1905, 66–67 zu bedenken gegeben, ob nicht ein besonderes historisches Ereignis den Anlass dazu gegeben haben müsse, dass Sokrates speziell die Peparethier erwähnt, und gemeint, dass als ein solches Ereignis nach allem, was wir über die Geschichte der Insel wissen, nur die Ereignisse in Frage kämen, an deren Ende die Zerstörung von Peparethos durch Philipp von Makedonien im Jahre 340 stehe. Träfe diese Annahme zu, dann hieße dies, dass der Alk. 1 mit Sicherheit erst nach Platons Tod verfasst wurde. Die Annahme ist jedoch keineswegs erforder­ lich. 96

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Kommentar

Sokrates macht Alkibiades klar, was die Ursache seines Hin-und-herSchwankens zwischen den beiden gegensätzlich Behauptungen ist: Weiß man etwas, z. B. wie viele Augen oder Hände man hat, dann schwankt man nicht, weil man es ja sicher weiß. Schwanken kann man nur, wenn man etwas nicht weiß. Allerdings gibt es auch hier Fälle, in denen man nicht schwankt. Unterschieden werden zwei derartige Fälle: Wenn man etwas nicht weiß, was man gar nicht wissen kann, weil dies von der Sache her unmöglich ist, z. B. wie man zum Himmel hinaufstei­ gen kann, dann schwankt man nicht, weil von vornherein klar ist, dass man es nicht wissen kann, und man deshalb auch gar nicht auf den Gedanken kommt, man wisse es. Man schwankt auch dann nicht, wenn man etwas nicht weiß und weiß, dass man es nicht weiß, weil einem das erforderliche Sachwissen fehlt. In diesem Fall verzichtet man darauf, sich zu dem fraglichen Sachverhalt zu äußern, und überlässt dies denen, die über das notwendige Sachwissen verfügen. Als Beispiele dafür wer­ den die Kenntnisse genannt, die man braucht, wenn es um die Zuberei­ tung von Speisen98 geht oder darum, wie man ein Schiff lenkt.99 Schwan­ ken tut man nur in den Fällen, in denen man kein Wissen hat, es aber zu 98

ὄψου σκευασία, 117c3–4. Die übliche Übersetzung von ὄψον mit „Zukost“ erweckt einen falschen Eindruck. ὄψον bezeichnet alle Kost, die zum Grundnahrungsmittel Brot (σῖτος, ἄρτος) hinzukommt wie Oliven, Käse, Gemüse, Obst, Eier, Fisch und Fleisch, aber auch luxuriösere Bei­ gaben (vgl. Davidson 1999, 42–47). Hier ist ὄψου σκευασία im Sinne von ὀψοποιΐα, Koch­ kunst, gebraucht. 99 κυβερνήτης (117d2) ist hier und im weiteren Verlauf des Dialogs (125e7) nicht wie üblich mit „Steuermann“, sondern mit „Schiffskommandant“ übersetzt, κυβερνᾶν (119d4) dementspre­ chend mit „kommandieren“ und κυβερνητικὴ ἀρετή bzw. τέχνη (125c11. d13) mit „die spezifi­ sche Tüchtigkeit“ bzw. „das Fachwissen der Schiffskommandanten“. „Steuermann“ ist zwar die ursprüngliche Bedeutung von κυβερνήτης, die Funktion des κυβερνήτης war aber mit der Zeit eine andere geworden. Wie 119d4 zeigt, hat Sokrates die Verhältnisse auf einer Triere, einem Kriegsschiff, im Blick. Offizieller Kommandant eines solchen Schiffes war der Trierarchos („Befehlshaber einer Triere“), ein begüterter Bürger, dem als Leistung für die Polis (λειτουργία) die Verpflichtung auferlegt worden war, ein Jahr lang eine Triere zu finanzieren und die Mann­ schaft zu befehligen. Da er diese Funktion nicht aufgrund besonderer seemännischer Kenntnisse, sondern aufgrund ökonomischer und politischer Kriterien erhalten hatte und wohl auch gar nicht immer selbst an Bord war, war der eigentliche Kommandant des Schiffes der κυβερνήτης; er trug in der Praxis die oberste Verantwortung (vgl. rep. 1, 341c9–d3: „Der wahre κυβερνήτης … ist … Kommandant der Seeleute (ναυτῶν ἄρχων), . . . denn κυβερνήτης wird er nicht genannt, weil er zur See fährt, sondern wegen seines Fachwissens (τέχνη) und seiner Kommandogewalt (ἀρχή) über die Seeleute.“). Die Aufgabe des Steuermannes übertrug er im Normalfall anderen, denen er die notwendigen Kommandos gab, selbst wurde er als Steuermann nur in prekären Situa­ tionen aktiv. Vgl. Casson 1971, 300–302; 1991, 86; Jordan 1975, 138–143. – Zu 117d1 „die Pinne (so nennt man den waagerechten Hebelarm, mit dem das Steuerruder bewegt wird) des Steuerruders nach innen oder nach außen bewegen“: Antike Trieren hatten nicht, wie wir es als Normalfall kennen, ein Steuerruder am Heck, sondern zwei an beiden Seiten des Hecks ange­ brachte Steuerruder; vgl. dazu und zur Art ihrer Bedienung Casson 1971, 224–228.

Erläuterungen

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haben glaubt. In diesen Fällen ist man unsicher und behauptet deshalb bald dies, bald jenes. Für das Handeln ergibt sich daraus Folgendes: Solange man nur auf solchen Gebieten tätig wird, auf denen man über ein Wissen verfügt, und alles, wovon man nichts versteht, denen über­ lässt, die im Unterschied zu einem selbst etwas davon verstehen, ist man dagegen gefeit, Fehler zu machen. Fehler macht man dann, wenn man glaubt etwas zu wissen, ohne dass dies in Wirklichkeit der Fall ist. Diese Form des Nichtwissens (ἄγνοια) ist die Ursache allen Unheils und, wie Sokrates sagt, „der Inbegriff schimpflicher Ignoranz“ (ἡ ἐπονείδιστος ἀμαθία, 118a4–5).100 Nahezu gleichlautend bezeichnet Sokrates diese Form des Nichtwissens in der Apologie (29b1–2) als „diese schimpfli­ che Ignoranz (ἀμαθία αὕτη ἡ ἐπονείδιστος), die darin besteht zu glauben, man wisse, was man nicht weiß“.101 Diese Ignoranz ist, so Sok­ rates weiter, umso unheilvoller und schändlicher, je wichtiger die Dinge sind, um die es geht. Das Wichtigste aber, was es gibt, ist das Wissen davon, was schön, was gut und was nützlich ist. Gerade was dies betrifft, schwankt Alkibiades, wie er selbst zugegeben hat (vgl. 117a8– 10). Der Grund dafür ist nach dem Gesagten klar: Alkibiades glaubt, was dies betrifft, ein Wissen zu haben, hat es aber in Wirklichkeit nicht (118a15–b2). Diese schlimmste Form der Ignoranz, die darin besteht, dass man zu wissen glaubt, was schön, was gut und was nützlich ist, es in Wirklich­ keit aber gar nicht weiß, ist nun aber, so Sokrates weiter, die Ursache dafür, dass Alkibiades so ungestüm in die Politik drängt. Sokrates nimmt diese Feststellung zum Anlass, mit den Politikern Athens insge­ samt ins Gericht zu gehen: Wie Alkibiades ergeht es den meisten, wenn nicht allen, die sich in Athen als Politiker betätigen; wie er haben auch sie die für einen Politiker nötige Ausbildung nicht erhalten,102 d. h. nicht gelernt, was schön, was gut und was nützlich ist. Als eine von wenigen möglichen Ausnahmen nennt Sokrates Alkibiades’ Vormund Perikles. Alkibiades greift diesen Hinweis gerne auf: Allgemein werde berichtet, Perikles habe sein Wissen – dass er über ein solches verfügt, setzt Alki­ biades als Faktum voraus – nicht aus sich selbst hervorgebracht, sondern habe es im freundschaftlichen Umgang mit zahlreichen „wissenden Männern“ (σοφοί, 118c4)103 wie dem für uns nur schemenhaft fassba­ 100

Mit „Inbegriff“ übersetze ich den Artikel beim Prädikatsadjunkt; vgl. K-G I 592 Anm. 4. Soph . 231b6 und Phil . 49a2. d11 nennt Platon diese Form des Nichtwissens δοξοσοφία (die irrige Meinung, dass man etwas wisse), Phaidr. 275b2 die betreffenden Personen δοξό­ σοφοι. 102 πρὶν παιδευθῆναι, 118b8. 103 Die Frage, wie er das Adjektiv sophos (σοφός) und das dazugehörige Substantiv sophia (σοφία) übersetzen soll, stellt jeden Übersetzer vor ein mehr oder minder unlösbares Problem. 101

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Kommentar

ren Musiker Pythokleides,104 dem Philosophen Anaxagoras105 und dem von Platon hoch geschätzten Musiktheoretiker Damon106 erworben, mit dem er auch jetzt in hohem Alter noch freundschaftlich verbunden sei.107 Alkibiades spezifiziert das Wissen, das er Perikles zuschreibt, nicht näher. Was ihm vorschwebt, ist offenbar dies, dass Perikles sich im Umgang mit „wissenden Männern“ wie den genannten ein umfassen­ des Wissen aneignete, das über das Wissen normaler Athener und Politi­ ker deutlich hinausging. Sokrates bezweifelt, dass dies der Fall war, und begründet seine Zweifel so: Wenn ein empirisches Indiz dafür, dass jemand über ein Wissen verfügt, die Tatsache ist, dass er es an andere weiterzugeben vermag, dann muss man bezweifeln, dass Perikles über ein besonderes Wissen verfügt hat. Hätte er es gehabt, dann hätte er es zuallererst an seine beiden leiblichen Söhne Xanthippos und Paralos und seine beiden Adoptivsöhne Alkibiades und dessen jüngeren Bruder Kleinias weitergegeben. Das aber ist ihm offenkundig nicht gelungen. Seine beiden leiblichen Söhne sind Schwachköpfe und sein Adoptiv­ sohn Kleinias ist verrückt. Diese Einschätzung der drei entspricht der, die sie auch sonst erfahren. Im Protagoras (319e3–320a3) und im Menon (94a7–b8) werden Xanthippos und Paralos als Beispiele dafür genannt, dass es hervorragenden Politikern nie gelungen sei, ihre spezi­ fische Tüchtigkeit an ihre Söhne weiterzugeben,108 und im Protagoras wird in gleichem Zusammenhang von Kleinias berichtet (320a3–b1), Perikles habe ihn, um ihn vor dem verderblichen Einfluss seines Bruders Alkibiades zu schützen, zur Erziehung zu seinem eigenen Bruder Ari­ phron geschickt. Dieser habe Kleinias jedoch nach sechs Monaten zurückgeschickt, weil er nicht mit ihm fertig geworden sei. Bleibt die Frage, warum Perikles, wie der bisherige Verlauf seines Gespräches mit Sophia bezeichnet, kurz gesagt, jede Form von Wissen, vom handwerklichen Fachwissen etwa eines Schusters bis hin zum umfassenden Wissen eines Philosophen („Weisheit“), sophos ist der, der über ein Wissen, welcher Art auch immer, verfügt. Da es im Deutschen keine Wörter gibt, die ein ähnlich breites Bedeutungsspektrum haben, ist der Übersetzer, wenn er sophos und sophia innerhalb eines Textes immer in gleicher Weise übersetzen will (vgl. dazu S. 7–8), auf Notlösun­ gen angewiesen. Eine solche Notlösung ist es, wenn sophos und sophia hier und im Folgenden immer mit „wissend“ und „Wissen“ übersetzt werden. Vgl. Döring 2004, 82–84. 104 Vgl. zu ihm Manuwald 1999, 145 zu Prot . 316e3; Nails 2002, 259. 105 Vgl. Phaidr. 270a3–8; Isokr. 15, 235; Nails 2002, 23–25. 106 Rep . 3, 400b1–c5. 3; 424c5–6; Lach. 180d1–3; 197d2–4; 200a1–3. b4–6. Zu Damon im Allgemeinen vgl. Kerferd/Flashar 1998, 92–93; Nails 2002, 121–122. 107 Zum wirklichen oder vermeintlichen Einfluss der drei genannten Personen auf Perikles vgl. Podlecki 1998, 17–31. 108 Auch Antisthenes äußerte sich in seinem Dialog Aspasia sehr abschätzig über sie (SSR V A 142). Aristoteles behauptet, sie seien einfältig und stumpfsinnig gewesen (rhet . B 15, 1390b29–31).

Erläuterungen

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Sokrates gezeigt hat, auch bei Alkibiades keinerlei Erziehungserfolg gehabt hat.109 Alkibiades versucht Perikles in Schutz zu nehmen: Dass er nichts gelernt habe, liege wohl daran, dass er zu unaufmerksam gewe­ sen sei (118e8). Sokrates geht darauf nicht näher ein, sondern konstatiert kurz und knapp: Offenkundig gibt es, wohin man auch blickt, nieman­ den, von dem sich sagen lässt, dass er durch den persönlichen Umgang mit Perikles, in welcher Weise auch immer, wissender geworden sei. Die negative Bewertung, die Sokrates hier den Politikern Athens im Allgemeinen und Perikles im Besonderen zuteil werden lässt, erinnert an das Argument, mit dem er im Protagoras die Vermutung begründet, dass die politikē technē (πολιτικὴ τέχνη), das Fachwissen auf dem Gebiet der Politik, nicht lehr- und erlernbar, sondern angeboren sei, sowie an seine Abrechnung mit den einstigen und gegenwärtigen Politi­ kern Athens im Gorgias . Im Protagoras führt Sokrates als Indiz dafür, dass die politikē technē nicht lehr- und erlernbar zu sein scheine, die Tat­ sache an, dass sich niemand finden lasse, dem es gelungen sei, seine all­ gemein anerkannte Kompetenz auf diesem Gebiet an andere weiterzuge­ ben (319a8–320b5). Als Beispiel dafür, dass auch die „Wissendsten und Besten“ (σοφώτατοι καὶ ἄριστοι, 319e1) auf diesem Gebiet dazu nicht in der Lage gewesen seien, nennt er auch hier wie im Alk. 1 Peri­ kles auf der einen Seite und seine beiden leiblichen Söhne und seinen Adoptivsohn Kleinias auf der anderen (319e3–320b1). Im Gorgias ver­ ständigt sich Sokrates im Gespräch mit Kallikles mit diesem darauf, dass der wahre Politiker seine Aufgabe darin sehe, seine Mitbürger so gut wie möglich zu machen, d. h. sie von Übeln wie Ungerechtigkeit, Zügellosigkeit und Unvernunft zu befreien und zu Gerechtigkeit, Beson­ nenheit und den anderen Tugenden hinzuführen (504d9–e5. 513e5–6). Daran anknüpfend argumentiert Sokrates sodann folgendermaßen: Wer in die Politik eintreten wolle, müsse sich also prüfen, ob er dieser Auf­ gabe gerecht zu werden vermöge. Jedermann erkenne als selbstverständ­ lich an, dass, wer als öffentlicher Ratgeber in Bauangelegenheiten oder Gesundheitsfragen auftreten wolle, als Beweis für seine Kompetenz ent­ sprechende Leistungen vorweisen müsse, d. h. auf von ihm errichtete 109

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Gespräch zwischen dem noch nicht 20 Jahre alten Alkibiades (vgl. Alk. 1, 123d6) und Perikles in Xenophons Memorabilien (1, 2, 40–46), in dem Alkibiades von Perikles erklärt haben möchte, was ein Gesetz ist. Das Gespräch endet damit, dass Perikles, von Alkibiades in die Enge gedrängt, darauf verweist, dass er einst, als er so jung war wie Alkibiades jetzt, solche Diskussionen genauso raffiniert habe führen können wie dieser, woraufhin Alkibiades mit einer guten Portion Überheblichkeit sein Bedauern darüber zum Aus­ druck bringt, dass er sich mit Perikles leider nicht damals habe unterhalten können, als dieser im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Vgl. zu diesem Gespräch Chernyakhovskaya 2014, 205– 213.

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Kommentar

qualitätvolle Bauwerke verweisen bzw. Personen benennen müsse, die durch ihn von Krankheiten befreit worden seien (514a5–e10). Analog müsse sich auch Kallikles, wenn er sich in die Politik begeben wolle, die Frage gefallen lassen, ob es Menschen gebe, die er besser gemacht, d. h. von Übeln wie Ungerechtigkeit, Zügellosigkeit und Unvernunft befreit habe. Offenkundig gebe es keine solchen Leute (515a1–b4). Da Kallikles sich aus leicht erkennbaren Gründen weigert, auf die Frage einzugehen, kommt Sokrates auf jene vier Männer Themistokles, Mil­ tiades, Kimon und Perikles zurück, von denen Kallikles zuvor (503b6– c3) in Übereinstimmung mit der communis opinio behauptet hatte, sie seien Politiker gewesen, die die Athener besser gemacht hätten, und stellt die Frage, ob dies wirklich der Fall gewesen sei. Das Ergebnis: Misst man sie an dem Maßstab, dass ein guter Politiker der ist, der seine Mitbürger besser macht, dann fällt die Bilanz bei allen negativ aus: Kei­ ner von ihnen hat jemals einen seiner Mitbürger wirklich besser gemacht, ja Athen hat, an diesem Maßstab gemessen, offenbar über­ haupt noch nie einen guten und damit wahren Politiker hervorgebracht (515b6–517a6). Dieses Ergebnis wird dann später (521d6–8) von Sokra­ tes mit einer überraschenden Pointe korrigiert: Einen wahren und guten Politiker hat Athen doch hervorgebracht, ihn, Sokrates; er ist der ein­ zige, der sich um die Besserung seiner Mitbürger verdient gemacht hat. Einer Erläuterung bedarf die Bemerkung, die Sokrates 119a4–5 über Zenon (sc. aus Elea) und seine Lehrtätigkeit macht. Zenon sei gelungen, was Perikles nicht gelang: dass er andere, nämlich Pythodoros, den Sohn des Isolochos, und Kallias, den Sohn des Kalliades,110 wissender machte. Von Pythodoros wird im Parmenides berichtet, er sei Gastgeber des Parmenides und Zenons gewesen, als diese um 450 Athen besuch­ ten. Ihm wird, so die Fiktion des Dialogs, als einem, der dabei war, der Bericht von dem Streitgespräch zwischen dem damals noch sehr jungen Sokrates und Zenon verdankt, das in dem Dialog referiert wird; 126c1 wird er als Freund (ἑταῖρος) Zenons bezeichnet. Von einem Kontakt des hier genannten Kallias mit Zenon ist sonst nirgends die Rede. Mit der Bemerkung, dass Pythodoros und Kallias Zenon für seine Lehrtätig­ keit jeweils die gewaltige Summe von 100 Minen bezahlt hätten,111 stellt 110

Dieser Kallias, Sohn des Kalliades, darf nicht verwechselt werden mit dem Sophisten­ freund und angeblich reichsten Athener der damaligen Zeit Kallias, Sohn des Hipponikos, dessen Haus Ort des Gespräches in Platons Protagoras (vgl. 311a1–2) und Xenophons Symposion (vgl. I 2. 7) ist und der Gesprächspartner des Sokrates in Aischines’ Dialogen Aspasia und Kallias war (vgl. Döring 1984, 22. 25–26 bzw. 2010, 200–201. 204). 111 Zum Vergleich: In einer Rede des Lysias (32, 28) werden die jährlichen Kosten für zwei Knaben, ein Mädchen, einen Knabenaufseher (παιδαγωγός) und eine Hausgehilfin (θεράπαινα) mit 1. 000 Drachmen (= 10 Minen) angegeben; und Demosthenes beziffert die Kos­

Erläuterungen

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Sokrates Zenon in eine Reihe mit den Sophisten im Allgemeinen und den großen Sophisten wie Protagoras und Gorgias, die gleichfalls Hono­ rare in dieser Höhe genommen haben sollen, im Besonderen.112 Wenn Sokrates das Ergebnis der Lehrtätigkeit Zenons dahingehend beschreibt, dass Pythodoros und Kallias „wissend und namhaft“ geworden seien, dann deutet er durch die Kombination der beiden Prädikate an, wie er die Sache wirklich beurteilt: Durch das Wissen, das Zenon den beiden vermittelte, gelang es ihnen, öffentliche Anerkennung zu erlangen. Ein Wissen, das darauf ausgerichtet ist, zu gesellschaftlicher Anerkennung zu verhelfen, ist nicht das Wissen, um das es Sokrates geht. Was Sokra­ tes hier über die vorgeblich erfolgreiche Lehrtätigkeit Zenons sagt, ist also nicht ernst gemeint; Rückschlüsse auf das Wirken des historischen Zenon lassen sich daraus nicht ziehen.113 In der historischen Realität spielten Pythodoros und Kallias als Politiker und Generäle eine gewisse, aber keine herausragende Rolle.114 Warum Sokrates als Beweis für die vermeintlich erfolgreiche Lehrtä­ tigkeit Zenons neben Pythodoros, der immerhin auch im Parmenides als Freund Zenons genannt wird, gerade Kallias, den Sohn des Kalliades, anführt, entzieht sich unserer Kenntnis. Für die zeitgenössischen Leser dürfte dies aufgrund von Kenntnissen, die wir nicht mehr haben, eher zu erkennen gewesen sein.

119a8–124b6 Alkibiades’ wahre politische Rivalen sind nicht irgendwelche Athener, sondern die persischen und spartanischen Könige. Nachdem sich gezeigt hat, dass Alkibiades die für einen Politiker nöti­ gen Kenntnisse nicht erworben hat, stellt Sokrates ihm die Frage, was er nun zu tun gedenke, ob er es bei dem Zustand, in dem er sich befinde, belassen oder ob er „sich in irgendeiner Weise bemühen“ wolle (119a9). Alkibiades ahnt, worauf Sokrates hinauswill. Noch ist er jedoch nicht bereit einzugestehen, dass er, bevor er sich in die Politik begebe, sich erst einmal bemühen müsse. Er übernimmt Sokrates’ Feststellung, dass ten für den Unterhalt seiner selbst, seiner Schwester und seiner Mutter während der Zeit der Min­ derjährigkeit der Kinder einmal auf jährlich 700 Drachmen (= 7 Minen) (or. 27, 36). Vgl. auch Anm. 163. 112 Protagoras: Diog. Laert. 9, 52; Schol. rep . 10, 600c; Gorgias: Diod. 12, 53, 2. Vgl. Kerferd 1981, 26–29. 113 Vgl. Vlastos 1975, 155–161 = 1995, Bd. 1, 291–298. 114 Näheres zu den beiden bei Nails 2002, 74 (Kallias) und 259–260 (Pythodoros).

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Kommentar

die athenischen Politiker „bis auf wenige Ausnahmen“ (118c1;119b3) – wer auch immer diese Ausnahmen sein mögen, Perikles gehört, wie gezeigt worden war, jedenfalls nicht zu ihnen – keinerlei spezifische Kenntnisse hatten und haben, und macht daraus ein Argument zu seinen Gunsten: Würden die Politiker über spezifische Kenntnisse verfügen, dann müsste man, um mit ihnen in einen Wettstreit einzutreten, sich zuvor die nötigen Kenntnisse angeeignet haben. Da sie nun aber offen­ bar über keine spezifischen Kenntnisse verfügen, brauche er sich um solche auch nicht zu bemühen; er werde ihnen allen dank seiner angebo­ renen Begabung (φύσις) weit überlegen sein. Sokrates spielt den Empörten: Wenn Alkibiades tatsächlich glaube, aufgrund seiner Begabung allen anderen weit überlegen zu sein, dann müsste er es eigentlich als seiner selbst und des Engagements, mit dem er, Sokrates, sich um ihn bemühe, unwürdig erachten, sich an und mit den ihm an Begabung so weit unterlegenen Politikern seiner Polis zu messen. Um Alkibiades klarzumachen, was er damit meine, zieht Sokra­ tes einen analogen Fall heran, den des Kommandanten eines Kriegs­ schiffes:115 Dieser setze seinen Ehrgeiz nicht darein, besser zu sein als die Mitglieder seiner Schiffsmannschaft; dass dies der Fall sei, halte er für eine selbstverständliche Voraussetzung. Sein Ehrgeiz sei es, besser zu sein als seine Kriegsgegner. Dementsprechend müsste Alkibiades seinen Ehrgeiz eigentlich dareinsetzen, besser zu sein als die beiden Erbfeinde der Athener, die Spartaner und die Perser, und deren Könige. Doch statt seinen Blick auf sie zu richten, so fügt Sokrates, den Sarkas­ mus auf die Spitze treibend, hinzu, suche er die Konkurrenz mit solchen, „die sich daranmachen, die Angelegenheiten der Polis in die Hand zu nehmen, obwohl sie in ihrer Seele wegen ihrer mangelhaften Bildung, wie die Frauen sagen würden, ‚die Haartracht der Sklaven haben‘ und sie nicht abgelegt haben, und die, obwohl sie wie Barbaren stammeln, hergekommen sind, um der Polis zu schmeicheln, nicht aber um sie zu regieren“ (120b1–5). „Die Haartracht der Sklaven haben“ (τὴν ἀνδρα­ ποδώδη τρίχα ἔχειν) war ein Sprichwort, mit dem man ungehobelte Menschen charakterisierte. Es spielte offenbar darauf an, dass die zumeist aus barbarischen, d. h. nichtgriechischen, Ländern stammenden Sklaven ihre Haare kurz geschoren tragen mussten. In den uns erhalte­ nen literarischen Texten wird es sonst nirgends zitiert. Spätere Erklärun­ gen und antike Sprichwortsammlungen kennen es nur aus dem Alk. 1 .116 115

Dieselbe Analogie 117c9–d3 und 125c9–126a1. Vgl. dazu Anm. 99. Erklärungen: Scholion ad loc. (p. 97 Greene); Olympiodorus in Alc. 148, 11–150, 2 (p. 96 Westerink); Suda s.v. ἀνδραποδώδη τρίχα (I p. 195 Adler); Sprichwortsammlungen: Diogenia­ nus I 73; Apostolius II 83 (I p. 193 bzw. II p. 283 Leutsch-Schneidewin). 116

Erläuterungen

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Unklar ist, weshalb es gerade die Frauen gewesen sein sollen, die dieses Sprichwort gebrauchten.117 Als eine der verachtenswerten Gestalten, die die Geschicke Athens bestimmen zu können glauben, obwohl sie nicht die mindesten Voraussetzungen dafür erfüllen, nennt Sokrates den Wachtelzüchter Meidias. Wir kennen diesen Meidias vornehmlich als Zielscheibe der Attacke von Komödiendichtern,118 die ihn als einen bekannten üblen Charakter beschreiben und ihm Diebstahl von Staatsei­ gentum und Denunziation vorwerfen. Außerdem wird er als Züchter von Kampfwachteln und Kampfhähnen genannt, der mit seinen Tieren an Wettkämpfen teilnahm. Näheres über die Rolle, die dieser Meidias in der athenischen Politik spielte, wissen wir nicht. Alkibiades ist auch nach dieser ironischen Bemerkung des Sokrates noch nicht bereit einzugestehen, dass er sich auf einem Irrweg befindet. Großspurig erklärt er, dass die Heerführer der Spartaner und der König der Perser119 seiner Meinung nach auch nicht besser seien als „die ande­ ren“ (120c5), d. h. als die athenischen Politiker, denen er allen weit über­ legen zu sein glaubt. Sokrates mahnt ihn zur Vorsicht: Die Einschät­ zung, die er gerade geäußert habe, habe zwei große Mängel. Erstens sei sie gefährlich, weil sie das Risiko in sich berge, den Gegner zu unter­ schätzen und deshalb auf die Auseinandersetzung mit ihm nicht hinrei­ chend vorbereitet zu sein. Zweitens sei sie falsch. Dies werde er erken­ nen, wenn er zwei Annahmen als plausibel akzeptiere, nämlich 1. die, dass Abkömmlinge edler Geschlechter über bessere Anlagen verfügen als andere, und 2. die, dass Menschen mit guten Anlagen, wenn sie gut aufgezogen werden, „den Gipfel der Tüchtigkeit120 erreichen“ (120d12– e5). Sokrates greift mit diesen beiden Annahmen ein Argumentations­ schema auf, das einen festen Platz am Anfang von Lobreden auf Lebende und Verstorbene hatte, die Bedeutung der edlen Herkunft (εὐγένεια) und der guten Aufzucht für die großen Leistungen der jeweils Gerühmten.121 Im Menexenos konstatiert Aspasia zu Beginn 117

Apelt 1937, 221 Anm. 57 meinte, dass „gerade Weiber solche volkstümlichen Gleichnisre­ den ganz besonders lieben.“ Ähnlich Tarrant 2007b, 196 Anm. 435: „It would make good sense that women, always ready to criticize cowardice etc., should have referred to alleged slavish traits of character in males as the equivalent of the short haircut.“ 118 Aristoph. Av. 1297–1299; Metagenes fr. 12 PCG; Phrynichus fr. 4 PCG; Plato comicus fr. 85 und 116 PCG. Vgl. dazu A. Patzer 1985, 49–50 = 2012b, 252–254. 119 Alkibiades bringt seine Geringschätzung dieser Gegner auch in der Art und Weise zum Ausdruck, in der er sie benennt. Sokrates hatte von den „Königen der Spartaner“ (150e6) und dem „Großkönig“ (120a3) gesprochen, Alkibiades spricht von den „Heerführern der Spartaner“ und dem „König der Perser“ (120c4–5). 120 Zur Übersetzung von aretē (ἀρετή) mit „Tüchtigkeit“ vgl. S. 115–116. 121 Vgl. die Beispiele bei Livingstone 2001, 121–122.

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Kommentar

ihrer von Sokrates vorgetragenen Rede auf die Gefallenen des Korinthi­ schen Krieges (237a4–b2): „Es scheint mir der Sache gemäß zu sein, sie in der Reihenfolge, in der sich ihre Tüchtigkeit zeigte, so auch zu loben. Ihre Tüchtigkeit zeigte sich aber, weil sie von Tüchtigen abstammten. Ihre edle Herkunft wollen wir alsο zuerst rühmen, als Zweites ihre Auf­ zucht und Erziehung (τροφήν τε καὶ παιδείαν). Danach wollen wir dann zeigen, wie schön und ihrer Herkunft, Aufzucht und Erziehung würdig die Taten waren, die sie vollbrachten.“ Aristoteles fasst dieses Argumentationsschema an einer Stelle der Rhetorik, an der er unter­ scheidet zwischen dem eigentlichen Gegenstand der Lobrede, dem Ruhm von Taten, und den Begleitumständen wie der edlen Herkunft und der Erziehung (εὐγένεια καὶ παιδεία), deren Erwähnung dazu dient, die Überzeugungskraft zu stärken, stichwortartig in die folgenden Worte, die sich wie eine Kurzfassung dessen lesen, was Sokrates im Alk. 1 sagt (rhet. A 9, 1367b31–32): „Es ist wahrscheinlich, dass von Tüchti­ gen Tüchtige abstammen und dass jemand, der in dieser Weise aufgezo­ gen wurde, dementsprechend ist.“ Alkibiades stimmt den beiden Annahmen des Sokrates mit Entschie­ denheit und ohne Vorbehalt zu. Bezüglich der ersten entspricht dies dem, was man erwartet; schließlich nimmt er für sich selbst in Anspruch, sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits aus altadligen Familien zu stammen (104a6–b3; vgl. 121a1–2). Dass er auch die zweite, dass Menschen mit guten Anlagen, wenn sie gut aufgezogen werden,122 „den Gipfel der Tüchtigkeit erreichen“, ohne zu zögern akzeptiert, verwundert dagegen, da er sein, wie er glaubt, einzigartiges Leistungsvermögen allein seiner singulären Begabung zuschreibt. Dass er sich, wenn er auch der zweiten Annahme zustimmt, gleichsam selbst ein Bein stellt, weil er zuvor doch zugegeben hatte, dass er eine über das Übliche hinausgehende, anspruchsvollere Erziehung nicht erhalten hat, registriert er offenkundig nicht. Wie steht es nun, was Herkunft, Aufzucht und Erziehung betrifft, mit den spartanischen und den persischen Königen einerseits und Alkibia­ des andererseits, und wie steht es mit Alkibiades’ Behauptung, die spar­ tanischen und persischen Könige seien auch nicht anders als die hei­ mischen Politiker und ihm daher ebenso wie diese klar unterlegen? Die Antwort auf diese Frage gibt Sokrates in einer langen nur zu Beginn ein­ mal durch einen Einwurf des Alkibiades unterbrochenen Rede. In ihr 122 „Aufgezogen werden“ (τραφῶσιν, 120e3) ist hier in dem weiten Sinn zu verstehen, in dem es die Aufzucht in körperlicher und geistig-sittlicher Hinsicht umfasst; ebenso τροφή 121b5. 122b3–4 und 6 werden dann τροφή im engeren Sinn (körperliche Aufzucht) und παιδεία (Erziehung) voneinander unterschieden.

Erläuterungen

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führt er Alkibiades vor Augen, dass nicht, wie er meint, die spartani­ schen und persischen Könige ihm, sondern umgekehrt er ihnen unterle­ gen ist, und zwar weit. Um das Gefälle zwischen ihnen und ihm so groß wie möglich erscheinen zu lassen, zeichnet Sokrates von den Gegeben­ heiten in Sparta und im Perserreich ein stark idealisierendes und dadurch zum Teil erheblich verfälschendes Bild. In Bezug auf die spar­ tanischen Könige kann er sich dabei natürlich nur in maßvoller Form über die tatsächlichen Verhältnisse hinwegsetzen, da diese den Lesern des Dialogs im Großen und Ganzen bekannt waren. In Bezug auf die persischen Könige und die Verhältnisse im Perserreich lässt er seiner Fantasie dagegen freien Lauf. Was er darüber berichtet, hat mit der his­ torischen Wirklichkeit, wie sie in der griechischen Literatur sonst darge­ stellt wird – von der historischen Wirklichkeit, wie sie sich aus den erhaltenen Quellen rekonstruieren lässt, ganz zu schweigen – nur wenig gemeinsam. Die Rede des Sokrates lässt sich, grob gesprochen, in vier Abschnitte unterteilen. Dargestellt wird, jeweils mit einem vergleichenden Blick auf Alkibiades, 1. die Abstammung und die Geburt der persischen und spartanischen Könige (120e6–121d2), 2. die Erziehung der persischen Prinzen (mit einem Anhang über den Luxus der Perser) und die Tugen­ den der Spartaner (121d2–122d1) und 3. der Reichtum der Spartaner und der Perser (122d1–123c3). Den Schluss der Rede bilden 4. Überle­ gungen des Sokrates darüber, was wohl die Mütter der zur Zeit des Gespräches im Amt befindlichen Könige der Perser und der Spartaner über Alkibiades’ hochfliegende Pläne denken würden, und ein abschlie­ ßendes Fazit (123c3–124b6).

(1) Abstammung und Geburt der persischen und spartanischen Könige (120e6–121d2) Sokrates konstatiert, dass sich sowohl die spartanischen als auch die per­ sischen Könige123 über Perseus als Sohn des Zeus und der Danaë von Zeus herleiteten, die spartanischen über ihren Ahnherrn Herakles, die persischen über ihren Ahnherrn Achaimenes. Genauer spezifiziert wird dies nicht. Im Fall des Achaimenes ist offenbar an die Tradition gedacht, der zufolge Achaimenes ein Sohn des ältesten Sohnes des Perseus und der Andromeda, Perses, war (Hdt. 7, 61, 3; 7, 150, 2; Apollod. 2, 4, 5, 1). Um die beiden Herkunftsstränge aneinander anzugleichen, lässt So­ 123

Betrachtet wird die persische Geschichte hier und im Folgenden stets aus der Sicht der Griechen.

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Kommentar

krates im Fall des Herakles die Tatsache, dass dieser ein direkter Sohn des Zeus und der Alkmene war, beiseite und greift stattdessen auf die Tradition zurück, die Herakles über seine Mutter Alkmene und deren Vater Elektryon mit dessen Vater Perseus verband (Apollod. 2, 4, 5, 1; 2, 4, 5, 4; 2, 4, 8, 3) und ihn auf diesem längeren Weg zu einem Nachkom­ men des Zeus machte. Alkibiades glaubt, was seine Person betrifft, mit den Ahnenreihen der persischen und spartanischen Könige gleichziehen zu können: Seine Familie leite sich über Eurysakes gleichfalls von Zeus her. Auch dies wird nicht näher spezifiziert. Die mythologische Tradi­ tion besagte, dass Eurysakes über seinen Vater Aias, dessen Vater Tela­ mon und dessen Vater Aiakos von Zeus abstammte.124 Unklar ist, auf welche Weise und mit welchem Recht Alkibiades sich und seine Familie von Eurysakes herleitet. Zeugnisse, die darüber Auskunft geben, gibt es nicht. Man hat aber wohl zu Recht vermutet, dass Alkibiades väterli­ cherseits dem Geschlecht der Salaminioi entstammte, die ihren Namen der Tatsache verdankten, dass Heimat des Eurysakes Salamis war (121b1–2).125 Sokrates macht sich über den Einwurf, mit dem Alkibiades seine Her­ kunft mit der der spartanischen und persischen Könige auf eine Stufe stellt, lustig. Alkibiades’ Worte parodierend konstatiert er, auch sein Geschlecht leite sich über Daidalos und Hephaistos von dessen Vater Zeus her (121a3–4).126 Von Daidalos als seinem Vorfahren spricht So­ krates auch im Euthyphron (11b9–e1). Der Anlass dafür ist dort der, dass Sokrates seinen Gesprächspartner Euthyphron auffordert, einen neuen Versuch zu unternehmen zu bestimmen, was das Fromme und das Unfromme ist, und dieser erklärt, dass er dazu nicht in der Lage sei, weil ihnen jede These, die sie aufstellten, im Kreis herumlaufe und nicht an der Stelle bleiben wolle, an die sie sie gestellt hätten. Sokrates fühlt sich dadurch an seinen „Ahnherrn“ Daidalos erinnert,127 von dem erzählt wurde, dass die Statuen, die er geschaffen hatte, so lebendig gewirkt hät­ ten, dass man geglaubt habe, sie anbinden zu müssen, damit sie nicht wegliefen.128 Als seinen „Ahnherrn“ bezeichnet Sokrates Daidalos des­ halb, weil sein Vater Sophroniskos Steinmetz oder Bildhauer war und 124

Mutter des Aiakos war die Nymphe Aigina. Sokrates wird wenig später (121b1–3) auf die Herkunft des Eurysakes Bezug nehmen. 125 Vgl. Davies 1971, 10–12 und Stemma-Tafel I am Ende des Buches. 126 Nach der auf Homer zurückgehenden Tradition (Il. 1, 578; 14, 338–339; Od. 8, 312) war Hephaistos ein Sohn des Zeus und der Hera, nach der auf Hesiod zurückgehenden Tradition (theog . 927–928) hatte Hera Hephaistos ohne Vater aus sich hervorgebracht 127 Die Einzelheiten des breit ausgeführten Vergleichs lasse ich beiseite. 128 Diodor 4, 76, 2–3; Scholien zu Men. 97d und Euthyphr. 11c (pp. 173 und 418–419 Greene).

Erläuterungen

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auch er selbst dieses Handwerk erlernt haben soll.129 In vergleichbarer Weise bezeichnet der Arzt Eryximachos im Symposion (186e2) Askle­ pios als „unseren Ahnherrn“ und sprach man von den Ärzten insgesamt als den „Söhnen des Asklepios“ (rep. 3, 408b6) oder den „Asklepiaden“ (rep . 3, 405d4). Alkibiades’ Versuch, sich, was seine Herkunft betrifft, mit den sparta­ nischen und persischen Königen auf eine Stufe zu stellen, ist schon durch die Art und Weise, in der Sokrates ihn durch seine Parodie ins Lächerliche zieht, als unangemessen markiert. Damit nicht genug, ent­ larvt Sokrates ihn als grobe Fehleinschätzung, indem er Rang und Macht der spartanischen und persischen Könige und ihrer Vorfahren Rang und Macht des Alkibiades und seiner Vorfahren gegenüberstellt. Alle sparta­ nischen und persischen Könige waren von Beginn an Generation für Generation bis in die Gegenwart stets Könige, die von Königen abstammten, und herrschten über große, ja riesige Länder;130 Alkibia­ des’ Vater und Alkibiades selbst waren bzw. sind dagegen normale Bür­ ger, und Alkibiades’ Ahnherren Aiakos und Eurysakes herrschten über nicht mehr als die kleine Insel Aigina und die noch kleinere Insel Sala­ mis. In breiter Form stellt Sokrates dar, wie die spartanischen und persi­ schen Königsgeschlechter verhinderten, dass die Frauen der Könige Kinder gebaren, deren Väter nicht die Könige waren. Was er in diesem Zusammenhang sagt, ist ersichtlich nicht ganz ernst gemeint. Mit der Bemerkung, dass die Ephoren die Frauen der spartanischen Könige überwachten, um, „soweit möglich“ (121b7–8), zu verhindern, dass sie illegitime Söhne zur Welt brächten, scheint er auf indirekte Weise eben­ darauf aufmerksam zu machen, dass es, was dies betrifft, Zweifel gab. Die Leser zur Zeit der Abfassung des Dialogs mussten bei der Ein­ schränkung, die Sokrates macht, gewiss an das denken, was über die Gattin des spartanischen Königs Agis (König von 427 bis 400), Timaia, erzählt wurde: dass sie sich von Alkibiades habe verführen lassen, nach­ dem dieser 415 zu den Spartanern übergelaufen war, und dass, als 129

SSR I B 41, 1–11; I C 468, 3–4; I D 1, 18–23. Eine am Eingang der Akropolis aufgestellte Gruppe der drei Chariten (Grazien) wurde in späterer Zeit von manchen als ein von ihm geschaf­ fenes Werk angesehen (SSR I C 9, 1–17; I D 1, 19–20). 130 Zu 121a6: Sokrates’ Behauptung, die spartanischen Könige seien durchgehend Könige von Argos und Sparta gewesen, ist, was Argos betrifft, unzutreffend. Argos unterstand nie der Macht der Könige von Sparta. Den Hintergrund für die Behauptung bildet, wie es scheint, die Tat­ sache, dass das Königsgeschlecht von Argos wie die beiden Königsgeschlechter in Sparta für sich in Anspruch nahm, von Herakles abzustammen (über Herakles’ Sohn Hyllos und dessen Urenkel Temenos). Im 5. Jhdt. war das erbliche Königtum in Argos erloschen. Allerdings gab es wie in Athen einen als „König“ bezeichneten Amtsträger. Zu den ihn betreffenden durchweg unsicheren Nachrichten vgl. Wörrle 1964, 76–89.

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Kommentar

Timaia hernach einen Sohn, Leotychides, gebar, das Gerücht umging, nicht Agis, sondern Alkibiades sei der Vater. Und auch was Sokrates über die Frauen der persischen Könige sagt, erscheint etwas zu edel, wurde doch z. B. kolportiert, dass Xerxes’ Tochter Amytis schon vor dem Tod ihres Ehemannes, des Generals Megabyzos, außereheliche Kontakte gehabt habe (Ktesias F 13 § 32; F 14 § 34 Lenfant) und dass sie nach seinem Tod zahlreiche Beziehungen unterhalten habe ebenso wie ihre Mutter, Amestris, nach dem Tod ihres Mannes Xerxes (Ktesias F 14 § 44 Lenfant).131 Was Sokrates über die Thronfolge in Persien und die Feste anlässlich der Geburt eines Thronfolgers und seiner späteren Geburtstage sagt, ist stark vereinfacht und geschönt. Im Prinzip galt wohl die Regel, dass der erstgeborene legitime Sohn des Großkönigs sein Nachfolger auf dem Thron wurde. Es gab jedoch immer wieder blutige Streitereien um die Nachfolge, aus denen ein anderer als er als Thronfolger hervorging. Als Beispiel seien die Vorgänge genannt, an deren Ende 465 Artaxerxes (I) persischer Großkönig und 424 Dareios (II) sein Nachfolger wurde. Bringt man die uns zur Verfügung stehenden zum Teil erheblich diver­ gierenden Nachrichten auf einen Nenner, dann ergibt sich folgendes Bild:132 Nachdem Artaxerxes’ Vater Xerxes (I) 465 bei einer Palastrevo­ lution ums Leben gekommen war, bestieg zunächst der älteste der drei legitimen Söhne des Xerxes namens Dareios den Thron. Erst als dieser nach kurzer Zeit gleichfalls umgebracht worden war und zwar angeblich auf Befehl des jüngsten der drei Brüder, Artaxerxes, wurde dieser Groß­ könig. Artaxerxes seinerseits hatte einen legitimen Sohn, Xerxes (II), und 17 illegitime Söhne von Konkubinen. Nach seinem Tod wurde zunächst Xerxes (II) sein Nachfolger. Dieser wurde jedoch bald darauf von einem der illegitimen Söhne des Artaxerxes, Sogdianos, ermordet. Diesen wiederum räumte ein halbes Jahr später ein anderer illegitimer Sohn, Ochos, aus dem Weg und machte sich selbst zum Großkönig, als welcher er sich den Namen Dareios (II) gab. Was Sokrates über die Feiern anlässlich der Geburt und der Geburts­ tage des erstgeborenen Königssohnes sagt, scheint aus Nachrichten wie den bei Herodot zu lesenden (1, 133, 1; 9, 110, 2) herausgesponnen zu sein, dass die Perser den Tag, an dem sie geboren wurden, in Ehren hiel­ ten und an ihm ein reichlicheres Mahl auftrügen und dass der Großkönig an seinem Geburtstag das Königsmahl ausrichte.

131 132

Vgl. Madreiter 2012, 115. Ausführlich behandelt sind diese Nachrichten bei Briant 2002, 563–567 und 588–591.

Erläuterungen

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(2) Die Erziehung der persischen Prinzen (mit einem Anhang über den Luxus der Perser) und die Tugenden der Spartaner (121d2–122d1) Herodot beschreibt das Grundschema der Erziehung bei den Persern so (1, 136, 2; Übers. Marg): „Ihre Knaben lehren sie, vom fünften bis zum zwanzigsten Jahr, nur drei Dinge, Reiten, Bogenschießen und die Wahr­ heit sagen. Vor seinem fünften Jahr aber kommt ein Knabe seinem Vater nicht vor Augen, sondern hält sich bei den Frauen auf. Das geschieht darum: Stirbt er in frühem Alter, soll den Vater kein Gram überkom­ men.“ Bestätigt und ergänzt wird diese knappe Beschreibung durch andere Quellen. Als zentrale Gegenstände der Unterweisung werden in ihnen Reiten, Bogenschießen, Wurfspießschleudern und Jagen, die Wahrheit sagen, Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung genannt.133 Die eigentliche Erziehungsphase, die nach der mit dem 5. Lebensjahr enden­ den Kleinkindphase134 beginnt, lässt Xenophon mit dem sechzehnten oder siebzehnten Lebensjahr enden,135 Strabon mit dem vierundzwan­ zigsten Lebensjahr.136 Sokrates stülpt der Erziehung der persischen Prin­ zen im Kindes- und Jugendalter die Einteilung in Jahrsiebente über, wie wir sie aus Solons Lebensalter-Elegie kennen (F 19 Diehl, 27 West). Aufziehen lässt er die Prinzen im Kleinkindalter nicht wie Herodot von den Frauen, also im Harem, und nicht, wie in besser situierten griechi­ schen Familien üblich, von einer Kinderfrau,137 sondern von den besten Eunuchen, die es am Hofe gibt. Von Eunuchen als frühkindlichen Erzie­ hern ist sonst allenfalls beiläufig die Rede.138 Wenn Sokrates sie hier als die zentralen Erzieher bezeichnet, tut er dies wohl, um das orientalische Kolorit seiner Darstellung zu stärken. Als ihre wichtigste Aufgabe nennt er die, durch Formung139 und richtige Ausrichtung der Glieder des Kin­ 133

Hdt. 1, 138, 1; Xen. Kyr. 1, 2, 6–8, vgl. 1, 2, 12 und 8, 8, 12–13; an . 1, 9, 5–6; Strab. 15,

3, 18. 134

Vgl. Strab. 15, 3, 8. Xen. Kyr. 1, 2, 8. 136 Strab. 15, 3, 8. 137 Die übliche Übersetzung von trophos (τροφός) mit „Amme“ führt in die Irre, da mit „Amme“ im Deutschen eine Frau bezeichnet wird, die ein Kleinkind, das nicht ihr eigenes ist, nährt und betreut. Eine solche Amme heißt im Griechischen tithēnē (τιθήνη). Als trophos wird die Frau bezeichnet, die das Kind betreut, wenn es nicht mehr gestillt zu werden braucht; dies kann, muss aber nicht dieselbe Frau sein, die das Baby zuvor genährt hat (vgl. Petrikovits 1937, 1491–1492). Im Deutschen scheint mir dem am ehesten das Wort „Kinderfrau“ zu entsprechen. Ammen und Kinderfrauen waren im Allgemeinen, aber nicht immer Sklavinnen (DeissmannMerten 1986, 288). 138 leg . 3, 695a7–b1. 139 Erwähnt wird das „Formen“ (ἀναπλάττειν oder nur πλάττειν) des Kleinkindes auch rep . 2, 377c3–4 und leg. 7, 789e2, jeweils ohne nähere Erläuterung; es handelte sich dabei also um jedermann bekannte Praktiken. 135

106

Kommentar

des darauf hinzuwirken, dass es so schön wie möglich wird (121d6–7). Gemeint sind damit massageartige Praktiken, wie sie der Arzt Soranos aus Ephesos ausführlich beschreibt (Gynaeciorum libri 2, 32–34). Was Sokrates über die Ausbildung der Sieben- bis Dreizehnjährigen im Rei­ ten und Jagen sagt, entspricht dem, was auch sonst über die Erziehung bei den Persern berichtet wird. In der nächsten Lebensphase, vom vier­ zehnten Lebensjahr an, wird der Prinz, so Sokrates, den vier Männern als Knabenaufsehern140 anvertraut, die in dem Ruf stehen, unter den Per­ sern der Weiseste, der Gerechteste, der Besonnenste und der Tapferste zu sein, also jeweils eine der vier Kardinaltugenden, wie sie Sokrates in der Politeia beschreibt (4, 427e6–434a2; 442b11–d6), in sich am Voll­ kommensten zu verwirklichen. Eine herausgehobene Rolle spielt dabei der Erste der Vier. Er lehrt den Knaben „die auf Zoroastres, den Sohn des Horomazes,141 zurückgehende Weisheit der Mager (μαγείαν τὴν Ζωροάστρου) – es ist dies die Verehrung der Götter –, er lehrt ihn aber auch die spezifischen Aufgaben eines Königs (τὰ βασιλικά)“ (122a1– 3). Die persische Priesterkaste der Mager, als deren Begründer Zoroast­ res (Zoroaster, Zarathustra) galt, und die religiösen Anschauungen, die man diesen Magern zuschrieb, übten auf die Griechen ein große Faszi­ nation aus.142 Die Bedeutung, die man ihnen bei der Erziehung der künf­ tigen persischen Könige beimaß, fasst Cicero einmal in folgende knappe Worte (div. 1, 41, 91): „Keiner kann König der Perser sein, der nicht zuvor die Lehre und die Wissenschaft der Mager erlernt hat.“143 Was die anderen drei Erzieher betrifft, genügt der Hinweis, dass dem zweiten von ihnen der Unterrichtsgegenstand zugewiesen wird, der in den Anm. 133 erwähnten Berichten über die Erziehung der Perser im Allge­ meinen als der zentrale genannt wird: den jungen Prinzen zu lehren, stets die Wahrheit zu sagen.

140

Knabenaufseher: So habe ich mit anderen paidagōgos (παιδαγωγός) übersetzt. Es waren dies Sklaven, die in besser gestellten griechischen Familien die Erziehung der Söhne betreuten und diese begleiteten, wenn sie das Haus verließen. Sokrates überträgt diese Funktion hier auf die Verhältnisse am persischen Hof. 141 Diese Stelle im Alk. 1 ist die früheste in der griechischen Literatur, an der Horomazes (= Ahura Mazda) genannt wird. Zu der mit den tatsächlichen Fakten in erheblichem Widerspruch stehenden Behauptung, Horomazes sei der Vater des Zoroastres, vgl. de Jong 1997, 251–253. Horky 2009, 71–72 Anm. 91 meint, Vater/Sohn sei hier nicht im wörtlichen, sondern im übertra­ genen Sinn einer geistigen Beziehung gemeint. Diese schon von Bidez/Cumont 1938, I 24, vgl. II 22 Anm. 2 vorgeschlagene Deutung hat de Jong 1997, 252, wie mir scheint, zu Recht zurückge­ wiesen 142 Vgl. De Jong 1997 und Horky 2009. 143 Ganz ähnlich Philo De specialibus legibus 3, 100. Vgl. auch Nicolaus Damascenus, FGrHist 90 F 67.

Erläuterungen

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Nachdem er Aufzucht und Erziehung der persischen Prinzen in den leuchtendsten Farben geschildert hat, stellt Sokrates Aufzucht und Erziehung des Alkibiades daneben und beschreibt beides in den dunkel­ sten Farben: Knabenaufseher des Alkibiades sei ein thrakischer Sklave namens Zopyros gewesen, der aus Altersgründen für nichts anderes mehr geeignet gewesen sei. Es ist nicht auszuschließen, dass der Sokra­ tes des Dialogs den Namen wie auch die Charakteristik dieses Sklaven ad hoc erfunden hat.144 Der einzige andere antike Autor, der den Namen nennt, Plutarch, verweist ausdrücklich auf den Alk. 1 als seine Quelle.145 Ansonsten, so Sokrates weiter, kümmere sich so gut wie niemand um Alkibiades, es sei denn, jemand sei sein Liebhaber – ein Verweis des Sokrates auf sich selbst.146 Angeregt, wie es scheint, durch die Beschreibung des gewaltigen Gefälles zwischen der Erziehung der persischen Prinzen und der des Alkibiades, stellt Sokrates Alkibiades anhangsweise das nicht weniger gewaltige Gefälle zwischen dem allbekannten ungeheuren Luxus der Perser und seinen eigenen im Vergleich dazu bescheidenen, wenn auch für einen Griechen opulenten, Lebensverhältnissen vor Augen. Dass der Luxus der Perser ambivalent beurteilt wurde und es zur Zeit der Abfas­ sung des Dialogs Stimmen gab, die in der durch ihn verursachten Ver­ weichlichung eine der Ursachen für die militärische Unterlegenheit der Perser gegenüber den Griechen sahen,147 bleibt außer Betracht. Im Übri­ gen soll dem Leser natürlich ins Bewusstsein gerufen werden, dass Alki­ biades selbst später mit dem ungeheuren Luxus, den er trieb, von sich reden machte.148 Statt parallel zur Erziehung der Söhne der persischen Könige die der Söhne der spartanischen Könige zu beschreiben, führt Sokrates, was die

144

Der Name Zopyros und das weibliche Pendant Zopyra kommen als Sklavennamen auch sonst vor (vgl. Lambertz 1908, 16–17). Knabenaufseher dieses Namens werden von Lukian (symp. 26) und Alkiphron (epist. 3, 21, 1 Schepers) erwähnt. 145 Plut. Lyk . 16, 6, vgl. Alc . 1, 3 146 Vgl. 123d7–e2. 147 Vgl. Bernhardt 2003, 128–131. 148 In einem Fragment aus einer Komödie des Archippos mokiert sich ein Akteur darüber, dass Alkibiades und sein gleichnamiger Sohn Gewänder mit Schleppen trügen (fr. 48 PCG), und in einem Fragment aus einer Komödie eines unbekannten Autors, in dem der Sprecher auf Alki­ biades’ wirkliche oder vermeintliche Liaison mit Timaia (vgl. S. 103–104) Bezug nimmt, wird Alkibiades mit dem Attribut „der Üppige“ (ὁ ἁβρός) charakterisiert (Adespota 123 PCG), einem Attribut, das geradezu standardmäßig zur Kennzeichnung des Lebensstils der Perser (und der anderen kleinasiatischen Völker einschließlich der in Ionien lebenden Griechen) diente; auch Sokrates benutzt das dazu gehörige Substantiv ἁβρότης an der vorliegenden Stelle zur Kenn­ zeichnung der Lebensstils der Perser (122c3: „üppiger Lebensstil“). Vgl. Plut. Alk . 16, 1.

108

Kommentar

Spartaner betrifft, nur die wirklichen oder vermeintlichen Ergebnisse der spartanischen Erziehung im Allgemeinen auf (122c4–8). Die Tatsa­ che, dass er sich dabei auf eine einigermaßen undifferenzierte katalogar­ tige Anhäufung von elf Einzeltugenden beschränkt, lässt sich schwerlich anders deuten als so, dass er bewusst übertreibt.

(3) Der Reichtum der Spartaner und der Perser (122d1–123c3) Zu Beginn des Dialogs hatte Sokrates konstatiert, dass zu den Vorzügen, durch die Alkibiades sich vor allen anderen Athenern auszuzeichnen glaube, auch sein Reichtum gehöre, dass er diesem Vorzug allerdings die geringste Bedeutung beimesse (104b8–c1). Diese Bemerkung greift Sokrates 122d1–2 auf und stellt Alkibiades den viel größeren Reichtum der Spartaner und ihrer Könige einerseits und der persischen Könige andererseits vor Augen. Zunächst vergleicht er den Grundbesitz der Spartaner samt ihrem Besitz an helotischen und anderen Sklaven149 und Vieh mit dem ent­ sprechenden Besitz der Athener und konstatiert, dass kein einziger Athener, was dies betreffe, es mit den Spartanern aufnehmen könne. Er lässt dabei anklingen, dass die Spartaner ihren Reichtum auf diesem Gebiet der Tatsache verdankten, dass sie nach der endgültigen Unter­ werfung der Messenier gegen Ende des 7. Jahrhunderts deren von der Natur begünstigtes150 Land annektiert und die Bewohner als „Heloten“ (Εἵλωτες, wörtlich „Gefangengenommene“) versklavt hatten.151 Sokrates’ Behauptung, Gold und Silber – er denkt dabei in erster Linie an Geld in Form von Gold- und Silbermünzen152 – gebe es bei allen Griechen zusammen in privater Hand nicht so viel wie in Sparta,153 steht in krassem Widerspruch zu dem überlieferten Verbot, welches in Sparta den Privatbesitz von Gold und Silber als Zahlungsmittel untersagte.154 149

Außer den „helotischen Sklaven“ scheint es in Sparta nur wenige andere Sklaven gegeben zu haben, vgl. Hodkinson 1997, 47–48. 150 122d6–e1; vgl. Tyrt. fr. 4, 3 Diehl = fr. 5, 3 West; Eur. fr. 727e, 7–11 TrGF. 151 Wenn Thukydides einmal anmerkt (8, 40, 2), dass Sparta mehr Sklaven besessen habe als alle anderen Poleis, dann meint er die Heloten. 152 Vgl. 123a2 νομίσματος. 153 Mit den Wörtern ἐν Λακεδαίμονι ἰδίᾳ 122e3 („in Sparta in privater Hand“) spielt der Autor auf die in der Odyssee fünfmal (3, 326. 4, 313. 4, 702. 5, 20. 13, 440) vorkommende For­ mel ἐς Λακεδαίμονα δῖαν an, vgl. Cobet 1874a, 259. Mit Hopkinson 2008 ἰδίᾳ in δίᾳ zu ändern, besteht kein Grund. 154 Statt Gold- und Silbermünzen gab es in Sparta das berühmte Eisengeld in Form von Eisen­ barren oder -spießen.

Erläuterungen

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Dieses Verbot wird in einigen Zeugnissen schon dem legendären Gesetzgeber Lykurgos zugeschrieben, wahrscheinlich wurde es aber erst nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges (404) beschlossen, als Gold und Silber in großen Mengen nach Sparta einströmten.155 Ebenda­ rauf mag Sokrates hier anspielen mit dem, was er über die Geldströme sagt, die nach Sparta hineingeflossen seien, möglicherweise oder zugleich aber auch auf die relativ häufig an Spartaner gezahlten Beste­ chungsgelder in zum Teil erklecklicher Höhe, von denen berichtet wird.156 Die Fabel, die Sokrates zitiert, lautet in der Sammlung der Aesop-Fabeln so (147 Hausrath; Übers. Irmscher): „Der Löwe war alt geworden und vermochte aus eigner Kraft nicht mehr seine Nahrung zu beschaffen; darum musste er auf eine List sinnen. Schließlich trabte er in eine Höhle, ließ sich darin nieder und spielte den Kranken. Und alle Tiere, die ihn besuchten, packte und verzehrte er. Nachdem er auf diese Weise schon manchem dem Garaus gemacht hatte, kam auch der Fuchs einmal vorüber. Da er die List des Löwen bemerkte, blieb er draußen vor der Höhle stehen und fragte hinein, wie es jenem ginge. ‚Schlecht‘, antwortete der Löwe, ‚doch warum trittst du nicht ein?‘ ‚Ja‘, erwiderte der Fuchs, ‚ich wäre wohl zu dir gekommen, hätte ich nicht bemerkt, dass zwar viele Spuren hineinführen, aber keine wieder zurück.‘“ Die Beschreibung des Reichtums der Spartaner im Allgemeinen ist das Sprungbrett, dessen sich Sokrates bedient, um auf den vermeintlich noch viel größeren Reichtum ihrer Könige, der eigentlichen Konkurren­ ten des Alkibiades, zu sprechen zu kommen. Seine Behauptung, dass die spartanischen Könige von dem nach Sparta einströmenden Gold und Silber den Löwenanteil erhielten, ist in dieser pauschalen Form sicher stark übertrieben. Herodot berichtet (9, 81, 2), dass Pausanias, der in der Schlacht bei Plataiai anstelle des zu der Zeit noch unmündigen Königs Pleistarchos, eines Vetters, Befehlshaber der Spartaner und Oberbefehls­ haber der Griechen insgesamt war, nach dem Sieg ein Zehntel der Kriegsbeute erhielt. Zu vermuten ist, dass die spartanischen Könige als Befehlshaber nach gewonnenen Schlachten allgemein einen nicht uner­ heblichen Teil der Beute zuerkannt bekamen.157 Auch die weitere Behauptung, dass „die königliche Steuer, die die Spartaner ihren Köni­ gen entrichten“ (123a7–b1), eine bedeutende Einnahmequelle darstelle, ist, wenn nicht falsch, so doch irreführend. Man nimmt allgemein an, dass mit der hier erwähnten „königlichen Steuer“ (βασιλικὸς φόρος) 155

Vgl. Thommen 2014, 82–86. Eine detaillierte Beschreibung und Auswertung aller in diesem Zusammenhang relevanten Zeugnisse bei Noethlichs 1987, 136–154. Vgl. auch Thommen 2014, 89–94. 157 Vgl. Pritchett 1991, 398–401. 156

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die Abgaben gemeint sind, die die Periöken, die um Sparta „Herum­ wohnenden“, die im Unterschied zu den Heloten frei waren, aber nur eingeschränkte politische Rechte besaßen, für die von ihnen gepachteten den Königen gehörenden Ländereien zu zahlen hatten.158 Ist diese Annahme richtig, dann hatten nicht „die Spartaner“, wie Sokrates behauptet, den Königen eine Steuer zu entrichten, sondern nur diejeni­ gen unter den Periöken, die königliches Land gepachtet hatten. Mit dem, was Sokrates über den unter den Griechen einzigartigen Reichtum der Spartaner im Allgemeinen und ihrer Könige im Besonde­ ren sagt, übernimmt er eine schon in der 2. Hälfte des 5. Jhdts. in Athen fassbare Tradition, die den Spartanern einen Hang zu Gewinnsucht und Geldgier zuschrieb, und spitzt sie im Ganzen und in den Einzelheiten zu. In Aristophanes’ Frieden (622–623) charakterisiert der Gott Hermes die führende Schicht in Sparta als gewinnsüchtig und daher bestechlich und gibt damit offenbar eine in Athen verbreitete Meinung wieder. Nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges verstärkte sich diese Meinung (Isokr. 8, 96; vgl. 11, 20; 12, 241). Aristoteles sah in der bei den Sparta­ nern verbreiteten Geldgier einen Mangel, der der spartanischen Staats­ ordnung aufgrund bestimmter Geburtsfehler systemimmanent war (pol . II 9, 1269b12–1271b19; vgl. auch fr. 544 Rose3 = fr. 550 Gigon). Auch Platon neigte dieser Einschätzung zu. Im 8. Buch der Politeia beschreibt er als erste Form des Verfalls der „Herrschaft der Besten“ (Aristokratie, 544d7. 545c9), d. h. der Philosophen-Könige, die, die er als Timokratie bezeichnet (545c9). Als Prototyp dieser Form gilt ihm neben der kreti­ schen Staatsordnung die der Spartaner (544c3. 545a3). Diese Form zeichnet sich nach seinen Worten u. a. dadurch aus, dass die Personen, die in ihr die Regierungsgeschäfte wahrnehmen, „begierig nach Geld sind … und im Geheimen leidenschaftlich Gold und Silber verehren“ (548a5–7). Dass der Reichtum der Perser und ihrer Könige den der Spartaner und der Griechen insgesamt so sehr übertraf, dass dieser, verglichen mit ihm, minimal war, wusste jeder. Sokrates beschränkt sich deshalb darauf, den ungeheuren Reichtum der persischen Könige an einem Bei­ spiel zu veranschaulichen (123b3–c3): Er habe einmal gehört, „wie ein glaubwürdiger Mann, der zu denen gehörte, die zum König hinaufgezo­ gen waren, sagte, er habe einen sehr großen fruchtbaren Landstrich durchquert, nahezu einen Tag lang, den die Einheimischen den Gürtel der Gemahlin des Königs nennen würden; und es gebe auch noch einen anderen, der ihr Schleier genannt werde, und sehr viele andere schöne und fruchtbare Gegenden, die ausgewählt worden seien, um den 158

Link 1994, 10. 60; Thommen 2003, 96. 115 und 2014, 108.

Erläuterungen

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Schmuck der Gemahlin bereitzustellen, und jede dieser Gegenden trage ihren Namen nach dem jeweiligen Schmuckstück.“ Olympiodoros merkt in seinem Kommentar zum Alk. 1 zu dieser Stelle an (167, 23– 168, 1 pp. 106–107 Westerink), es werde behauptet, mit dem zitierten „glaubwürdigen Mann“ sei Xenophon gemeint. Der Grund für diese Annahme war offenkundig der, dass Xenophon in seiner Anabasis von Dörfern berichtet, die der Parysatis, der Gattin des Dareios (II), „zum Gürtel gegeben seien“ (1, 4, 9). Xenophon bezog sich mit dieser Bemer­ kung auf die schon von Herodot (2, 98, 1) erwähnte Praxis der persi­ schen Könige, Familienangehörigen oder auch anderen verdienten Per­ sonen wie z. B. Themistokles nach seiner Flucht nach Persien einzelne Städte und Dörfer zu Lehen zu geben und diese dazu zu verpflichten, mit Abgaben Lebensunterhalt und Ausstattung der Belehnten zu finan­ zieren.159 Die Bezeichnung „zum Gürtel gegeben“ scheint der Terminus technicus für diese Praxis gewesen zu sein, wenn die Belehnte die Frau des Königs war.160 Die Behauptung, dass der Sokrates des Dialogs hier Xenophon zitiere, ist übrigens schwerlich richtig. Johnson161 hat die Gründe zusammengestellt, die dagegen sprechen. Die wichtigsten sind, 1. dass Sokrates Details nennt, die bei Xenophon nicht vorkommen, 2. dass nirgendwo sonst in den im Corpus Platonicum überlieferten Dialo­ gen so direkt auf Xenophon Bezug genommen wird, wie dies hier der Fall wäre, und 3. dass viele Athener aus unterschiedlichen Gründen Rei­ sen zum persischen Königshof unternahmen. Johnson nennt als ein Bei­ spiel das des Pyrilampes, den Platons Mutter Periktione nach dem Tod des Ariston, des Vaters Platons, in zweiter Ehe heiratete. Von ihm heißt es im Charmides (158a4–5), er habe als Gesandter mehrfach Reisen zum Großkönig und manchem anderen in Kleinasien unternommen. Wenn Sokrates sich hier tatsächlich auf einen Gewährsmann beruft und dies nicht nur simuliert, dann gab es viele, die dafür in Frage kamen.

(4) Überlegungen des Sokrates darüber, was wohl die Mütter des Arta­ xerxes und des Agis über Alkibiades’ hochfliegende Pläne denken wür­ den, und abschließendes Fazit (123c3–124b6) Im Folgenden stellt Sokrates Überlegungen darüber an, was wohl die Mütter der persischen und spartanischen Könige Artaxerxes und Agis162 159 160 161 162

Thuk. 1, 138, 5; Plut. Themist . 29, 10; Athen. 1, 29f; Cic. Verr. 2, 3, 76. Vgl. Lendle 1995, 39. Als Terminus auch Athen. 1, 33 f. Johnson 1996, 208–209 zu 123b4–5. Der Hinweis auf Lampido und ihren Sohn Agis stellt einen leichten Anachronismus dar,

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denken würden, wenn sie erführen, dass Alkibiades plane, sich mit ihren Söhnen im Kampf zu messen. Er schließt dabei an das an, was er zuvor über die Gebiete gesagt hatte, die den Schmuck der persischen Königin­ nen finanzierten. Wenn jemand, so gibt er Alkibiades zu bedenken, Amestris, der Mutter des Artaxerxes (Regierungszeit 465–424), sagen würde, Alkibiades beabsichtige, sich ihrem Sohn entgegenzustellen, und wenn er in diesem Zusammenhang den für eine Athenerin zwar sehr großen, für eine persische Königin jedoch lächerlich geringen Wert des Schmuckes der Deinomache, der Mutter des Alkibiades,163 und die für athenische Verhältnisse zwar enorme, im Vergleich zu dem riesigen Reich des Artaxerxes aber verschwindend geringe Größe des Grundbe­ sitzes des Alkibiades164 im Demos Erchia165 erwähnen würde, dann würde Amestris gewiss vermuten, dass Alkibiades „sein Vertrauen bei seinem Vorhaben einzig und allein auf Bemühung (ἐπιμέλεια) und Wissen (σοφία) setze; dies nämlich sei das einzige bei den Griechen, was der Erwähnung wert sei“ (123d3–4). Sokrates lässt Amestris hier die Selbsteinschätzung der Griechen übernehmen, die insgesamt über­ zeugt waren, den Barbaren an Gescheitheit und Wissen überlegen zu sein (Hdt. 1, 60, 3), wobei die Athener wiederum für sich in Anspruch nahmen, unter den Griechen die Ersten zu sein.166 Mit dem hier noch all­ gemein gefassten Hinweis auf Bemühung und Wissen kündigt sich das Thema an, das im Folgenden im Mittelpunkt stehen wird: die Bemühung um sich selbst167 und die Selbsterkenntnis als wichtigste Aufgaben für einen jeden Menschen. Erführe Amestris, so Sokrates weiter, dass Alki­ biades sich gerade darum und damit um das, was allein ihn zu einem ernst zu nehmenden Gegner ihres Sohnes machen könnte, überhaupt nicht gekümmert hat, ja, es für überflüssig hielt, sich darum zu küm­ mern, dann würde sie sich wohl wundern und ihn für verrückt halten. da Agis erst mehrere Jahre nach der Zeit des Gespräches, das den Inhalt des Dialogs bildet (433/ 2), König wurde. 163 Anders als für persische Verhältnisse sind 50 Minen = 5000 Drachmen (123c6–7) für grie­ chische Verhältnisse ein sehr großer Betrag. Zum Vergleich: Der Standardlohn eines Handwerkers für einen Arbeitstag betrug zu der Zeit 1 Drachme (Burford 1972, 138–139 = 1985, 166–167); um 50 Minen zu verdienen, musste ein Handwerker also mehr als 13½ Jahre arbeiten. Oder: Der Wert des Vermögens des Alkibiades, das nach dem Hermokopidenprozess konfisziert wurde, betrug 4723 Drachmen und 5 Obolen, also etwas mehr als 47 Minen (Meiggs/Lewis 1969, 241 Nr. 79, 12–25). Vgl. auch Anm. 111. 164 300 Plethren = 0, 285 km2 = 28, 5 Hektar. Die Größe von 300 Plethren scheint die obere Grenze für privaten Landbesitz gewesen zu sein, vgl. Burford 1993, 68–69. 165 Der attische Demos Erchia lag zwischen dem Hymettos und der Ostküste Attikas; vgl. Traill 1975, Map. 3; Lohmann 1997, 237–238. 166 Thuk. 2, 41, 1; apol. 29d8; Prot. 319b3–4; 337d4–6. 167 Vgl. schon 119a9.

Erläuterungen

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Und genauso sehr würde sich Lampido, die Tochter des Leotychides (König von Sparta 491–469), Frau des Archidamos (König 469–427) und Mutter des Agis (König 427–400) über die Absicht des Alkibiades wundern, gegen ihren Sohn zu Felde zu ziehen, obwohl ihm doch kei­ nerlei über das Mindestmaß hinausgehende Erziehung zuteil geworden sei. Sokrates beschließt seine Rede mit einem eindringlichen Appell an Alkibiades: Er möge auf ihn und den delphischen Spruch „Erkenne dich selbst“ hören. Tue er das, werde ihm klar werden, 1. dass seine wahren Gegner die spartanischen Könige und der persische Großkönig sind und 2. dass er diese allein durch Bemühung (ἐπιμέλεια) und Fachwissen (τέχνη) bezwingen könne, also allein durch jene Qualifikationen, von denen Amestris gesagt hatte, dass sie die einzigen seien, die Alkibiades dazu verhelfen könnten, ihrem Sohn gegenüber zu bestehen.

124b7–135e8: 2. Hauptteil Alkibiades sieht ein, dass er sich um sich selbst, d. h. um sein BesserWerden, bemühen muss. Wie kann das geschehen?

124b7–127e8 Was für eine Art von Tüchtigkeit ist es, um die sich Alkibiades bemühen muss, und was für ein Fachwissen verhilft zu dieser Tüchtigkeit? Die bewusst übertreibende und zuspitzende Art und Weise, in der Sokra­ tes die Kluft zwischen Herkunft und Reichtum des Alkibiades einerseits und der persischen und spartanischen Könige andererseits beschrieben hat, und sein nachdrücklicher Hinweis darauf, dass Alkibiades das Ein­ zige, worin er sie übertreffen könnte, eine bessere Erziehung, für über­ flüssig erachtet hat, verfehlen ihren Zweck nicht: Alkibiades, der glaubte, dazu berufen zu sein, über die ganze Welt zu herrschen (vgl. 105b2–c6), erkennt, wie jämmerlich klein er im Vergleich zu denen ist, die er als einzige gleichwertige Antipoden gelten lässt. Er erkennt an, dass seine bisherige Selbsteinschätzung verfehlt war und dass er sich um sich selbst bemühen muss. Bevor die Erörterung der Frage beginnt, wie er dies bewerkstelligen soll, schiebt Sokrates ein kleines Intermezzo ein. Von Alkibiades gebe­

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ten, ihm zu erklären, was für eine Bemühung es sei, die er anstellen müsse, entgegnet Sokrates, dass er dies zwar könne, dass sie aber lieber gemeinsam darüber beraten sollten, „auf welche Weise sie so tüchtig wie möglich würden“, da er selbst genauso wie Alkibiades der Erzie­ hung bedürfe. Er greift damit einen Wortwechsel aus einer früheren Phase des Gespräches auf. Nachdem Sokrates Alkibiades klargemacht hatte, dass sein Vormund Perikles weder ihn noch irgendeinen anderen wissender gemacht habe, und ihn daraufhin gefragt hatte, was er nun zu tun gedenke, ob er es bei dem Zustand belassen wolle, in dem er sich befinde, oder ob er sich in irgendeiner Weise bemühen wolle (ἐπιμέ­ λειάν τινα ποιεῖσθαι, 119a9), hatte dieser den Wunsch geäußert, darü­ ber sollten Sokrates und er gemeinsam beraten (κοινὴ βουλή, 119b1). Inzwischen hat Alkibiades akzeptiert, dass er sich bemühen muss. Er fragt Sokrates, ob er ihm erklären könne, in welcher Weise er sich bemü­ hen müsse (τίνα χρὴ τὴν ἐπιμέλειαν ποιεῖσθαι, 124b7–8). Sokrates bejaht die Frage,168 äußert nun aber seinerseits den Wunsch, darüber sollten Alkibiades und er „gemeinsam beraten“ (κοινὴ βουλή, 124b10). Er begründet seinen Wunsch damit, dass nicht nur Alkibiades, sondern auch er der Erziehung bedürfe; was dies betreffe, gebe es keinen Unter­ schied zwischen ihnen (124c1–2). Und er fügt hinzu: Einen Punkt gebe es allerdings, in dem er sich von Alkibiades unterscheide: sein Vormund sei besser und wissender als Alkibiades’ Vormund Perikles. Auf die ver­ wunderte Frage des Alkibiades, wer denn sein Vormund sei, erwidert Sokrates, es sei dies der Gott, der es zuvor nicht zugelassen habe, dass er sich mit Alkibiades unterhielt, also sein Daimonion (103a1–b2. 105d1–106a1).169 Als Alkibiades ihm daraufhin entgegnet, dass er dies doch wohl nicht ganz ernst meine, weicht Sokrates einer klaren Antwort mit einem vagen „vielleicht“ aus (124d2). Es kann als sicher gelten, dass das Daimonion für den historischen Sokrates ein Phänomen war, das er ernst nahm.170 In den Dialogen Platons ist dies nicht immer so. Wenn Sokrates im Euthydemos berichtet, dass ihn das Daimonion tags zuvor, als er sich im Gymnasion Lykeion befand, davon abgehalten habe, auf­ 168 Manche haben gemeint, dieses „Ja“ (124b10) klinge in Munde des Sokrates gar zu selbst­ sicher, und in ihm ein Indiz dafür gesehen, dass der Dialog nicht von Platon stammen könne; so schon Schleiermacher, der das „Ja“ in einer Anmerkung zu der Stelle (1826, 523) als eine „zudringliche Anmaßung“ des Sokrates bezeichnete. Wie mir scheint, misst man diesem „Ja“ damit ein zu großes Gewicht bei. Offenbar hatte der Verfasser des Dialogs, als er Sokrates „Ja“ sagen ließ, protreptische Appelle wie die im Blick, die ihm Platon apol. 29d7–e3 in rumpfartiger Form (vgl. ebd. 30a7–b4 und 36c5–d1) und der Verfasser des Kleitophon in breiter Form in den Mund legt (407b1–408b5). 169 Vgl. dazu S. 67–70. 170 Vgl. Döring 1998, 160.

Erläuterungen

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zustehen und das Gymnasion zu verlassen, und dass ihn dies vor dem Nachteil bewahrt habe, den Auftritt der beiden Sophisten Euthydemos und Dionysodoros zu verpassen (272e3–4), dann ist dies gewiss nicht ganz ernst gemeint; hier wird mit dem Daimonion vielmehr ein literari­ sches Spiel getrieben.171 Das Gleiche gilt für die vorliegende Stelle des Alk. 1 .172 Nach dieser kleinen Spielerei kommt Sokrates auf seinen zuvor geäußerten Wunsch zurück, Alkibiades und er sollten gemeinsam darüber beraten, „auf welche Weise sie so tüchtig wie möglich würden“, da sie beide der Erziehung bedürften, und spitzt ihn zu (124d2–3): Alki­ biades habe vielleicht recht, wenn er meine, dass er das, was er über sein Daimonion gesagt habe, nicht ganz ernst gemeint habe, „ich sage jedoch die Wahrheit, wenn ich behaupte, dass wir der Bemühung bedürfen, in hohem Maße173 die Menschen insgesamt, wir beide aber ganz besonders dringend.“ Was meint Sokrates, wenn er sagt, dass sie beide ganz beson­ ders dringend der Bemühung bedürften? Wieso dies für Alkibiades gilt, ist klar. Er hat sich bisher keinen Deut darum geschert, hat also in der Tat einen gewaltigen Nachholbedarf. Wieso aber gilt es auch für Sokra­ tes? Für ihn gilt es in sozusagen entgegengesetzter Weise: Er weiß um die absolute Priorität der Bemühung um sich selbst vor allem anderen,174 und er weiß zugleich, dass diese Bemühung keine je abgeschlossene, sondern eine lebenslange ist, weil das Wissen des Menschen davon, was gut und übel ist, wie überhaupt alles sein Wissen immer nur vorläufig und bruchstückhaft ist.175 124d9 kehrt Sokrates zum eigentlichen Thema zurück: Zu klären ist, um was für eine Art von Tüchtigkeit es sich handelt, wenn gesagt wird, dass man sich bemühen müsse, so tüchtig wie möglich zu sein (124b10– c1. e1). Das griechische Wort aretē (ἀρετή), das hier (120e4) und im Dialog insgesamt mit „Tüchtigkeit“ übersetzt worden ist, hat ein breites Bedeu­ tungsspektrum. Es bezeichnet bezogen auf ein Gerät dessen Tauglich­ keit, den spezifischen Zweck, zu dem es angefertigt wurde, zu erfüllen, 171

Sokrates treibt das Spiel sogar noch weiter, indem er außer dem Daimonion auch noch einen Gott mit ins Spiel bringt (272e1–273a2): „Durch die glückliche Fügung eines Gottes saß ich da, … allein, und hatte schon die Absicht aufzustehen. Als ich gerade dabei war aufzustehen, wurde mir das gewohnte göttliche Zeichen zuteil. Ich setzte mich daher wieder hin, und gleich darauf kamen diese beiden Männer herein, Euthydemos und Dionysodoros …“. 172 Auch Phaidr. 242b8–c3 scheint mir der platonische Sokrates mit dem Daimonion zu spie­ len. 173 124d3 μᾶλλον μέν muss korrupt sein. Ich schlage vor, πάνυ μέν oder πολὺ μέν zu schreiben (so ist hier übersetzt); Richards 1901, 300–301 konjizierte πολλῆς μέν, ihm schloss sich Denyer 2001, 63 an. 174 Vgl. apol. 29d4–e3; 30a7–b2; 36c5–d1. 175 Vgl. Döring 1998, 157–160.

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bezogen auf ein Lebewesen als ganzes und jedes seiner Organe die Fähigkeit, die spezifischen Anlagen, mit denen es von der Natur ausge­ stattet wurde, in perfekter Weise zu realisieren. So besteht die aretē eines Winzermessers darin, dass man mit ihm besser als mit jedem ande­ ren Messer die Reben beschneiden kann, die eines Pferdes darin, dass es in besonderem Maße befähigt ist zu laufen, den Reiter zu tragen und den Feinden standzuhalten, oder die der Augen darin, gut zu sehen.176 Spe­ ziell auf den Menschen angewandt bezeichnet aretē in einem engeren Sinn die Tatsache, dass man über die Fachkenntnisse verfügt, die man braucht, um auf einem bestimmten Gebiet sachgerecht urteilen zu kön­ nen, und in einem weiteren Sinn, dass man in der Lage ist, von der spe­ zifischen Fähigkeit, mit der die Natur allein den Menschen ausgestattet hat, dem Denken, Gebrauch zu machen und sich um ein vom Denken gesteuertes, der Erkenntnis und der Wahrheit verpflichtetes sittliches Handeln zu bemühen.177 Im Deutschen gibt es keinen Begriff von ver­ gleichbarer Bedeutungsbreite. Um das jeweils Gemeinte adäquat wie­ derzugeben, müsste aretē daher je nach Kontext mit unterschiedlichen Ausdrücken übersetzt werden. Da die Argumentationen jedoch vielfach, so auch im Alk. 1, auf der Gleichheit des Terminus aretē beruhen und ihre innere Konsequenz einbüßen, wenn der Terminus wechselt, ist der Übersetzer in diesen Fällen gezwungen, auch im Deutschen einen ein­ heitlichen Terminus zu benutzen, der dann freilich bisweilen etwas gekünstelt wirken muss. Wie anderen vor mir178 scheint mir als ein sol­ cher der Terminus „Tüchtigkeit“ am ehesten geeignet zu sein.179 Tüchtig kann man in vielfacher Hinsicht sein. Von Sokrates gefragt, was für eine Art von Tüchtigkeit es sei, die er anstrebe, antwortet Alki­ biades: jene Art, „in der es die tüchtigen Männer (οἱ ἄνδρες οἱ ἀγαθοί, 124e3) sind.“ Wenig später spricht er von diesen Männern als den „Edlen und Tüchtigen unter den Athenern“ (Ἀθηναίων οἱ καλοὶ κἀγαθοί, 124e16). Gemeint sind damit die Angehörigen jener gesell­ schaftlichen Schicht in Athen, die sich von ihrer Herkunft und ihrer Erziehung her als die maßgebliche ansah und sich deshalb befähigt und berufen fühlte, die Geschicke der Polis zu lenken.180 Indem Alkbiades 176

Vgl. dazu rep . 1, 352d8–353d2; Aristot. eth. Nic. I 5, 1106a15–24. Zum Sehvermögen als

ἀρετή des Auges vgl. 133b3–5. 177

Zum Wissen als aretē der menschlichen Seele vgl. 133b8–10. Vgl. Heitsch 2002, 122 Anm. 222. 179 Das zugehörige Adjektiv ἀγαθός und die ihm zugeordneten Komparationsformen ἀμεί­ νων, βελτίων, ἄριστος und βέλτιστος habe ich entsprechend mit „tüchtig, tüchtiger, am tüch­ tigsten“ übersetzt. 180 Zu dem soziologischen Begriff der καλοκἀγαθία vgl. Jüthner 1913 und Meier 1999 (mit Verweisen auf weitere Literatur). 178

Erläuterungen

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es als sein Ziel formuliert, die Tüchtigkeit der Angehörigen dieser Schicht zu erreichen, korrigiert er seine Selbsteinschätzung und seine aus ihr hergeleiteten Ansprüche deutlich nach unten: Soeben glaubte er noch, allen Angehörigen dieser Schicht aufgrund seiner einzigartigen Begabung weit überlegen zu sein; jetzt möchte er sich, erheblich bescheidener, darum bemühen, jene Tüchtigkeit zu erwerben, über die sie seiner Meinung nach verfügen. Auf die Frage, worin die Männer, deren Tüchtigkeit er anstrebe, tüch­ tig seien, antwortet Alkibiades: „Natürlich darin, die Angelegenheiten zu erledigen“ (πράττειν τὰ πράγματα, 124e6). Er denkt dabei offen­ kundig an jene Angelegenheiten, von denen in einem früheren Abschnitt des Gespräches als den Angelegenheiten der Bürger Athens oder den Angelegenheiten der Polis die Rede war (107c6–d4) und die in anderen Dialogen „die die Polis betreffenden (‚politischen‘) Angelegenheiten“ (τὰ πολιτικὰ πράγματα) heißen (apol. 31d5. 7–8. Gorg. 521d7–8). Sokrates nimmt Alkibiades’ Antwort jedoch wörtlich und tut so, als ob er von „Angelegenheiten“ in allgemeiner Weise gesprochen habe. Er kann daher unschwer „Angelegenheiten“ aufführen, deren Erledigung offenkundig nicht zu den Aufgaben der in dem genannten Sinn verstan­ denen „tüchtigen Männer“ gehören. An dieser Stelle erwartet man, dass Sokrates Alkibiades auffordert, genauer zu sagen, was für Angelegenheiten es denn seien, die die tüchti­ gen Männer, von denen er spreche, erledigten. Das tut er in der Tat auch („Was für Angelegenheiten meinst du?“), doch statt eine Antwort auf diese Frage abzuwarten, schiebt er sogleich eine zweite Frage nach: „Welche Menschen sind es, die sie erledigen?“ (124e15). Was bezweckt er damit? Offenkundig will er auf den für ihn zentralen Gesichtspunkt zu sprechen kommen, dass jede Form menschlicher Tüchtigkeit, wel­ cher Art sie auch sei, ein entsprechendes Wissen voraussetzt. Denn als Alkibiades, seine frühere Antwort aufgreifend, entgegnet, dass es „die Edlen und Tüchtigen unter den Athenern“ seien, die die Angelegenhei­ ten erledigten (124e16), lässt er sich von ihm bestätigen, dass er „edel und tüchtig“ diejenigen nenne, die über Sachverstand verfügen (φρόνιμοι, 125a1–3), und allgemeiner, dass, wer auf einem Gebiet über Sachverstand verfüge, auf ihm auch tüchtig sei, wer dagegen nicht darü­ ber verfüge, schlecht.181 Ohne dass Alkibiades dies zu merken scheint, verschiebt sich die Diskussion damit von der Frage, über was für eine Form von Sachverstand die „Edlen und Tüchtigen unter den Athenern“ verfügen – würde sie weiter verfolgt, würde sich wie zuvor schon ein­

181

πονηρός (125a6) bzw. κακός (125b1. 3. 6). Vgl. rep. 1, 349e6; Lach . 194d1–2.

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Kommentar

mal (Perikles usw.) schnell zeigen, dass sie über gar keinen Sachver­ stand verfügen –, zu der, über was für eine Form von Sachverstand die­ jenigen verfügen müssen, die anders als die realen Politiker tatsächlich befähigt sind, die Geschicke der Polis in die Hand zu nehmen. Was immer im weiteren Verlauf dieses Abschnitts über die „tüchtigen Män­ ner“ gesagt wird, schillert in der Weise, dass Alkibiades die „tüchtigen Männer“ im ersten, Sokrates dagegen die „tüchtigen Männer“ im zwei­ ten Sinn im Blick hat. Sokrates eröffnet die Erörterung der Frage, was für eine Art von Sach­ verstand es ist, die jemanden dazu befähigt, die Geschicke der Polis in die Hand zu nehmen, indem er, wie in dem Dialog immer wieder, einen analogen Fall heranzieht: Der Schuster verfügt über Sachverstand in Bezug auf die Herstellung von Schuhen, nicht aber in Bezug auf die Herstellung von Kleidungsstücken. In Bezug auf das erstere ist er daher gut, in Bezug auf das letztere dagegen schlecht. Das erinnert an das, was in einem früheren Abschnitt des Dialogs im Hinblick darauf konstatiert wurde, dass eines und dasselbe zugleich schön und übel (= schlecht, κακός) sein könne, nämlich insofern es schön und übel in verschiedener Hinsicht ist (115b1–c5 und das Folgende; vgl. dazu S. 86). In dem resü­ mierenden Satz „Eine und dieselbe Person ist also, wenigstens nach die­ ser Argumentation, sowohl schlecht als auch tüchtig“ (125b3), lässt Sokrates das einschränkende „in Bezug auf“ allerdings weg, und dies, wie sich sogleich zeigt, ganz bewusst. Nur ohne eine solche Einschrän­ kung kann er Alkibiades pauschalisierend fragen: „Meinst du also, die tüchtigen Männer seien auch schlecht?“ (125b6), was Alkibiades, weil er auch hier wieder nicht durchschaut, was Sokrates mit ihm macht, mit Entschiedenheit verneint. Sokrates verzichtet darauf, Alkibiades daran zu erinnern, dass längst geklärt worden ist, wieso tüchtige Männer durchaus auch schlecht sein können, nämlich in unterschiedlicher Hinsicht, sondern stellt erneut die Frage, wen Alkibiades mit den „tüchtigen Männern“ meine (125b8). Alkibiades’ Antwort: Er meine die, „die imstande sind, in der Polis die Macht auszuüben“ (125b9). Dabei versteht er das Verb archein (ἄρχειν, die Macht ausüben) offenkundig im landläufigen politischen Sinn. Ähn­ lich wie er dies zuvor im Fall des Substantivs pragmata (πράγματα, Angelegenheiten) gemacht hatte, versteht Sokrates archein jedoch bewusst in einem anderen Sinn als dem von Alkibiades intendierten, nämlich in dem, in dem mit ihm bei Platon häufig die Macht bezeichnet wird, die Fachleute dank ihrem Fachwissen über die Objekte ihres Fach­ gebietes ausüben.182 Versteht man „die Macht ausüben“ in diesem Sinn, 182

rep. 1, 342c8–9: „Die Fachkenntnisse haben die Macht und herrschen über das, worauf sie

Erläuterungen

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dann gehören zu den Männern, die imstande sind, in der Polis die Macht auszuüben, auch solche, die Alkibiades offenkundig nicht meint, wie diejenigen, die imstande sind, die Macht auszuüben über Pferde oder über Menschen, die krank sind, die mit einem Schiff fahren oder die mähen, also die Fachleute auf den Gebieten der Pferdekunde, der Heil­ kunde, der Seefahrt und der Landwirtschaft. Es gilt also genauer zu bestimmen, über wen die „tüchtigen Männer“, die Alkibiades im Blick hat, die Macht auszuüben imstande sind. Alki­ biades’ Antwort lautet (125c4–5): „Über solche, die Kontakte zueinan­ der unterhalten183 und geschäftlich miteinander verkehren und miteinan­ der zu tun haben, so wie dies in unserem alltäglichen Leben in unseren Poleis der Fall ist.“ Alkibiades denkt dabei offenkundig an die Bürger Athens im Allgemeinen. Erneut verändert Sokrates den von Alkibiades intendierten Sinn seiner Antwort, indem er nachfragt: (125c6–7): „Du meinst, dass sie die Macht ausüben über Menschen, die mit Menschen zu tun haben, nicht wahr?“ Diese Verallgemeinerung macht es ihm leicht, auch hier wieder Fälle von Machtausübung zu nennen, die Alki­ biades nicht meint: Schiffskommandanten184 üben die Macht aus über Kommandogeber (κελευσταί), die mit Ruderern zu tun haben, indem sie während der Fahrt den Rudertakt bestimmen.185 Oder: Die Chorleh­ rer (χοροδιδάσκαλοι), die mit den Chören Gesang und Tanz einstudie­ ren, üben die Macht aus über Aulosspieler (αὐληταί), die mit den Chor­ sängern und -tänzern (χορευταί) zu tun haben, indem sie sie beim Chorgesang anführen.186 Die Macht ausüben können Schiffskomman­ danten und Chorlehrer dank ihrer auf ihrem Fachwissen beruhenden

sich als Fachkenntnisse beziehen“ (ἄρχουσι … αἱ τέχναι καὶ κρατοῦσιν ἐκείνου οὗπέρ εἰσιν τέχναι). Weitere Stellen bei Dalfen 2009, 113 zu 316e. 183 Denyer (2001, 196 zu 125c4) hat, wie mir scheint, überzeugend dargelegt, dass 125c4 οὐκοῦν τῶν, wiewohl einhellig überliefert, korrupt sein muss, und vorgeschlagen, οὐκοῦν τῶν durch συνόντων zu ersetzen. Passender scheint mir ὁμιλούντων zu sein, da mit συνεῖναι engere persönliche Beziehungen bezeichnet werden, es hier dagegen um soziale Kontakte im Allgemei­ nen geht. 184 Zu ihnen vgl. Anm. 99. 185 Übermittelt wurde der Takt den Ruderern durch einen Aulosspieler (zum Aulos vgl. Anm. 52), der auf seinem Instrument blies. Zusätzlich zu der Tätigkeit, der er seinen Namen ver­ dankte (κελευστής wörtlich: Befehler), beaufsichtigte der Kommandogeber die Ruderer im All­ gemeinen und kümmerte sich um deren Ausrüstung, Versorgung, Training und Disziplin. Vgl. Casson 1971, 300–304. 186 Gedacht ist offenbar an die Einstudierung von Dithyramben, Chorliedern zu Ehren des Dionysos, durch Chorlehrer. Mit „anführen“ (ἡγεῖσθαι, 125d1) ist gemeint, dass die Aulosspie­ ler, die Profis waren, Takt und Rhythmus des Gesanges und des damit einhergehenden Tanzes der Sänger/Tänzer, die Laien waren, stabilisierten. Die Funktion des Aulosspielers war erheblich wichtiger, als dass er den Gesang des Chores nur, wie man üblicherweise liest, „begleitete“.

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spezifischen Tüchtigkeit bzw. ihres spezifischen Fachwissens.187 Aufge­ fordert in analoger Form anzugeben, was für Menschen, die mit Men­ schen zu tun haben, es sind, über die die „tüchtigen Männer“ die Macht auszuüben vermögen, und welches Fachwissen es ist, das sie dazu befä­ higt, antwortet Alkibiades, er meine diejenigen, die „am Bürgerrecht teilhaben und geschäftlich miteinander verkehren“ (125d7–8), und nennt als das Fachwissen derer, die die Macht über sie auszuüben ver­ mögen, die euboulia (εὐβουλία, 125e6). Euboulia ist die Fähigkeit, aufgrund von Sachkenntnis gut mit sich selbst darüber zu beraten (εὖ βουλεύεσθαι), wie angestrebte Ziele am besten zu verwirklichen sind.188 In diesem Sinn nennt Protagoras in dem nach ihm benannten Dialog Platons als das, was ein Schüler bei ihm lerne, „die euboulia im privaten Bereich, wie er seinen Hausstand aufs Beste in Ordnung hält, und im politischen Bereich, wie er im höchsten Maße befähigt ist, die Angelegenheiten der Polis in Wort und Tat zu betreiben“ (Prot. 318e5– 319a2). Isokrates bestimmt die Bedeutung des zugehörigen Adjektivs euboulos (εὔβουλος) einmal so (or. 3, 8): „Für eubouloi halten wir die­ jenigen, die die Dinge mit sich selbst (sc. in einer Art innerem Dialog) aufs Beste erörtern.“ Im Deutschen gibt es kein Wort, das die Bedeutung von euboulia adäquat wiedergibt. Zumeist wird es mit „Wohlberaten­ heit“ übersetzt. Diese Übersetzung hat jedoch den gravierenden Mangel, dass „Wohlberatenheit“ ein Kunstwort ist, das sich nur in Übersetzun­ gen griechischer Texte oder in Texten, die sich auf entsprechende grie­ chische Texte beziehen, vorkommt.189 Meine Übersetzung mit „die Fähigkeit, die Dinge sorgfältig zu durchdenken“ lehnt sich an die Erklä­ rung des Adjektivs euboulos durch Isokrates an. Da Alkibiades nur all­ gemein von euboulia gesprochen hat, fordert Sokrates ihn auf, genauer zu sagen, was für eine Art von euboulia er meine. In Analogie zur euboulia der Schiffskommandanten, die darauf ausgerichtet ist, „die Sicherheit von Menschen zu gewährleisten, die mit einem Schiff fahren“ (126a1), nennt Alkibiades als das Ziel, auf das die euboulia der „tüchti­ gen Männer“ ausgerichtet ist, dies, „die Polis besser zu verwalten und ihre Sicherheit zu gewährleisten“ (126a4). An diesem Punkt gibt Sokrates dem Gespräch eine Wende, indem er die Frage aufwirft, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit 187 Die Begriffe ἀρετή (Tüchtigkeit), τέχνη (Fachwissen) und ἐπιστήμη (Wissen) werden hier und im Folgenden alternativ gebraucht. 188 Zum Gebrauch des Begriffs εὐβουλία im 5. und 4. Jhdt. v. Chr. ausführlich Müller 1975, 74–94 (die Seiten 89–94 wieder abgedruckt in: Müller 1999, 481–491). Vgl. auch Woodruff 2013. 189 Es ist daher auch, soweit ich sehe, in keinem der neueren gedruckten oder digitalen Wör­ terbücher der deutschen Sprache verzeichnet.

Erläuterungen

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die Polis besser verwaltet und ihre Sicherheit gewährleistet wird. Ant­ wort des Alkibiades: Unter den Bürgern muss Freundschaft (φιλία, phi­ lia) herrschen, Hass und Parteikämpfe darf es dagegen nicht geben. Auf die ergänzende Frage des Sokrates, ob er mit Freundschaft Einigkeit (ὁμόνοια, homonoia) oder Uneinigkeit (διχόνοια, dichonoia) meine, antwortet Alkibiades: „Einigkeit“ (126b8–c5). Dass das Wohlergehen und die Stabilität der Polis auf Freundschaft und Einigkeit basieren, war communis opinio .190 Als Drittes kommt häufig, wie auch hier wenig später (127c5–10), die Gerechtigkeit hinzu.191 Mit Einigkeit war dabei die Übereinstimmung der Mitglieder der Polis-Gemeinschaft in den zentralen politischen Fragen gemeint,192 mit Freundschaft das Einver­ nehmen, das die Angehörigen einer Polis miteinander verbindet. Wenn Alkibiades Freundschaft und Einigkeit als das nennt, was vorhanden sein muss, damit die Polis besser verwaltet und ihre Sicherheit gewähr­ leistet wird, dann meint er beides offenkundig in dem gerade beschrie­ benen politischen Sinn. Sokrates missversteht Alkibiades jedoch erneut absichtlich und tut so, als habe Alkibiades „Einigkeit“ im Allgemeinen gemeint. Er fordert ihn deshalb auf genauer anzugeben, was für eine Form von Einigkeit er meine. Als Beispiel für eine bestimmte Form von Einigkeit nennt er die Einigkeit, die problemlos zustande kommt, wenn es um Fragen geht, die sich durch Zählen,193 Messen oder Wiegen ein­ deutig entscheiden lassen. In allen derartigen Fällen sind die verschiede­ nen Poleis ebenso wie alle Einzelpersonen untereinander und auch jeder Einzelne mit sich selbst über das Ergebnis einig, vorausgesetzt natür­ lich, alle verfügen über das entsprechende Sachwissen.194 Um was für eine Form von Einigkeit handelt es sich bei der, die Alki­ biades meint? Überraschenderweise nennt Alkibiades nicht, wie man erwartet, die Einigkeit, die die Menschen in einer Polis in Bezug auf die fundamentalen politischen Angelegenheiten einig sein lässt, sondern „die Freundschaft und die Einigkeit, die einen Vater und eine Mutter, die einen Sohn lieben, mit diesem einig sein lässt und einen Bruder mit 190

Vgl. z. B. Demokrit 68 B 250 und 255 DK; Thrasymachos 85 B 1 (p. 323, 4) DK; polit. 311b9; Xen. mem . 4, 4, 16; Aristot. pol. II 4, 1262b7–9; eth. Nic. VIII 1, 1155a22–26. 191 Z. B. rep . 1, 356d5–6; Kleit. 409d4–e4. 192 Aristot. eth. Nic. IX 6, 1167a26–28 „Man sagt, die Poleis seien dann einig (ὁμονοοῦσι), wenn die Menschen in ihnen in Bezug auf das, was ihnen nützt, einer Meinung sind, sich für das­ selbe entscheiden und das tun, was sie gemeinsam beschlossen haben.“ 193 126c6–7 „in Bezug auf Zahlen“. Das gleiche Beispiel breiter ausgeführt Euthyphr. 7b7–c2. 194 In diesem Sinne spricht ein Anonymus im Kleitophon davon, dass „die Heilkunst eine Art Einigkeit ist und desgleichen alle Formen von Fachwissen“ (ἡ ἰατρικὴ ὁμόνοιά τις ἐστι καὶ ἅπασαι αἱ τέχναι, 410a3), nämlich insofern sich Fachleute in der Beurteilung der in ihr Fachge­ biet fallenden Sachverhalte einig sind.

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einem Bruder und einen Mann mit einer Frau“ (126e2–4), und ver­ schiebt die Blickrichtung damit vom politischen auf den privaten Bereich. Was bezweckt der Autor mit dieser überraschenden Verschie­ bung der Blickrichtung? Der Zweck ist offenkundig der, Sokrates die Mittel in die Hand zu geben, die es ihm ermöglichen, Alkibiades sich in solchem Maße in Widersprüche verstricken zu lassen, dass er schließ­ lich seine totale Rat- und Hilflosigkeit eingesteht. Die Möglichkeit dazu erhält Sokrates dadurch, dass Alkibiades’ Antwort, genauer betrachtet, in zweierlei Hinsicht doppeldeutig ist. In beiden Fällen dokumentiert sich die Doppeldeutigkeit in einem Übersetzungsproblem. 1. Das grie­ chische Wort philia (φιλία) hat ein breiteres Bedeutungsspektrum als das deutsche Wort Freundschaft. Mit ihm wird sowohl das freundschaft­ liche Einvernehmen, das zwischen den Menschen in einer Polis oder auch zwischen verschiedenen Poleis besteht, bezeichnet als auch die gefühlsmäßige Bindung und Zuneigung unter Verwandten; im Deut­ schen sprechen wir im zweiten Fall nicht von „Freundschaft“, sondern von „Liebe“. Das griechische Wort philia in Alkibiades’ Antwort chan­ giert also, vom Deutschen her gesehen, zwischen den Bedeutungen „Freundschaft“ und „Liebe“, was die Übersetzung nicht zu vermitteln vermag. 2. Alkibiades hat bei dem, was er sagt, die Beziehung von Vater, Mutter und Söhnen innerhalb einer Familie im Blick, also die Einigkeit, die zwischen den Eltern und ihrem Sohn, dem Bruder und sei­ nem Bruder und der Frau und ihrem Mann besteht. Zur Bezeichnung dieser Beziehungen wird im Griechischen im Allgemeinen nicht wie im Deutschen das Possessivpronomen, sondern der Artikel benutzt (also nicht: die Einigkeit zwischen den Eltern und ihrem Sohn usw., sondern: die Einigkeit zwischen den Eltern und dem Sohn usw.). Der Artikel fehlt in der Antwort des Alkibiades, und das hat seinen Grund: Wenn Sokra­ tes im Folgenden die Antwort des Alkibiades auf den Prüfstand stellt, wechselt er von der spezifischen Beziehung eines Mannes zu seiner Frau und einer Frau zu ihrem Mann zu der Beziehung zwischen Mann und Frau im Allgemeinen. Um diesen Wechsel zu kaschieren, lässt der Autor Alkibiades in seiner Antwort von Mann, Frau, Sohn und Bruder ohne Artikel sprechen. Zugleich wechselt Sokrates von der Einigkeit innerhalb einer Familie zurück zur Einigkeit, die sich aus gemeinsamer Sachkenntnis ergibt. Er verweist darauf, dass es spezifisch weibliche und spezifisch männliche Fachkenntnisse gibt wie die Wollspinnerei einerseits und den Umgang mit Waffen andererseits, dass in diesen Fäl­ len die Vertreter des jeweils anderen Geschlechts über keine Kenntnisse verfügen und dass es deshalb, was diese Gebiete betrifft, zwischen Frauen und Männern keine Einigkeit und keine Freundschaft geben kann, „wenn denn die Freundschaft Einigkeit war“ (127a12). Mit die­

Erläuterungen

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sem Vorbehalt nimmt Sokrates darauf Bezug, dass Alkibiades seine Frage bejaht hatte, ob er mit der Freundschaft (philia), die unter den Bürgern der Polis vorhanden sein müsse, Einigkeit (homonoia) meine (126c4–5; vgl. auch 126e2–4). Dabei war freilich offengeblieben, in welcher Beziehung Freundschaft und Einigkeit zueinander stehen. Jetzt tut Sokrates so, als habe Alkibiades behauptet, die Begriffe philia (in der doppelten Bedeutung von „Freundschaft“ und „Liebe“) und homo­ noia (Einigkeit) seien umfangsgleich und deshalb wechselseitig aus­ tauschbar. Damit schnappt die Falle, in die Sokrates Alkibiades gelockt hat, zu. Unterscheidet man nämlich nicht 1. zwischen homonoia im Sinne von Einigkeit aufgrund gemeinsamer Sachkenntnis und homonoia im Sinne von Einigkeit aufgrund der Zugehörigkeit zu demselben Fami­ lienverband, 2. zwischen philia im Sinne von Freundschaft und philia im Sinne von Liebe und 3. zwischen dem Nebeneinander von Mann und Frau im Sinne der allgemeinen Geschlechterdifferenz und im Sinne ehe­ licher Zusammengehörigkeit, und nimmt man 4. an, dass die Begriffe philia und homonoia umfangsgleich sind, dann führt dies zu Konse­ quenzen, die absurd sind. Es ergibt sich, dass die Frauen, insoweit sie ihre spezifischen Tätigkeiten ausüben, von den/ihren Männern nicht geliebt werden (οὐ φιλοῦνται, 127a14–15) und umgekehrt bzw. dass zwischen den Männern und den/ihren Frauen und den Frauen und den/ ihren Männern, insoweit sie ihre jeweils spezifischen Tätigkeiten aus­ üben, keine Freundschaft besteht, da ja zwischen ihnen, was ihre Fach­ kenntnisse betrifft, keine Einigkeit herrscht. Wenn die Menschen ihre jeweils spezifischen Tätigkeiten ausüben, wird die Polis also schlecht verwaltet, weil in ihr, zumindest partiell, keine Freundschaft herrscht, ohne die doch, wie Alkibiades behauptet hatte, keine Polis gut verwaltet werden kann (126c1–3). Hier protestiert Alkibiades (127b10–11): Es sei genau umgekehrt; wenn die Menschen ihre je spezifischen Tätigkeiten ausübten, dann herrsche Freundschaft in der Polis. Damit aber widerspricht er seiner früheren Aussage, dass eine Polis dann gut verwaltet werde, wenn in ihr Freundschaft und Einigkeit herrsche (126b8–c5). Einigkeit aber herrscht in ihr in all den Dingen nicht, bei denen die einen sachkundig sind, die anderen aber nicht. Sokrates treibt das Spiel auf die Spitze, indem er fragt, ob die Menschen, wenn sie ihre je spezifischen Tätigkeiten ausüb­ ten, gerecht oder ungerecht handelten. Als Alkibiades in Übereinstim­ mung mit der berühmten Definition der Gerechtigkeit in der Politeia (4, 433a8–c3) antwortet, dass sie natürlich gerecht handelten, folgert Sokra­ tes, dass also zwischen den Menschen, wenn sie gerecht handelten (sc. insofern sie ihre je spezifischen Tätigkeiten ausübten), keine Freund­ schaft herrsche (sc. weil sie ja untereinander nicht einig seien). An die­

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sem Punkt bricht Sokrates das Spiel ab und konstatiert, dass Alkibiades sich in einem unauflösbaren Wirrwarr verfangen habe. Alkibiades gesteht seine totale Ratlosigkeit ein (127d6–8): „Bei den Göttern, Sokra­ tes, auch ich selbst weiß nicht mehr, was ich meine, und schon lange scheine ich, ohne es zu merken, in einer äußerst beschämenden Verfas­ sung zu sein“. Sokrates ermutigt Alkibiades, nicht zu verzagen und damit fortzufahren, seine Fragen zu beantworten. Die beiden miteinander verbundenen Fragen, 1. welche Art von Tüch­ tigkeit es ist, die Alkibiades anstrebt (124e3) und 2. was für ein Fach­ wissen es ist, das „die Edlen und Tüchtigen“ dazu befähigt, „die Macht über diejenigen in der Polis auszuüben, die am Bürgerrecht teilhaben und geschäftlich miteinander verkehren“ (125d7–10), werden im weite­ ren Verlauf des Dialogs nicht wieder aufgegriffen, weil sich eine grund­ legendere Frage davorschiebt. Sie sind ein zentrales Thema vor allem im Protagoras und im Gorgias .

127e9–132c6 Sich um sich selbst bemühen heißt, sich um seine Seele bemühen. Die Unterscheidung zwischen dem Selbst des Menschen, dem, was zu ihm gehört, und dem, was zu dem gehört, was zu ihm gehört. Alkibiades hatte eingesehen, dass er sich um sich selbst bemühen muss, d. h. darum, so tüchtig wie möglich zu werden (124b7–8). Die sich daran anschließende Erörterung der Frage, was für eine Art von Tüchtigkeit es sei, die Alkibiades anstreben müsse (124e3), und was für eine Art von Sachwissen zu dieser Tüchtigkeit verhelfe, war ohne Ergebnis geblie­ ben. Statt sie weiterzuführen, geht Sokrates einen Schritt zurück und stellt die Frage, was dieses „Sich-um-sich-selbst-Bemühen“ denn über­ haupt sei (127e9). Das Schwergewicht liegt dabei auf „selbst“: Was ist das „Selbst“, um das und um dessen Besser-Werden man sich bemühen muss? Sokrates eröffnet die Erörterung dieser Frage, indem er unterscheidet zwischen dem Körper des Menschen und dessen einzelnen Teilen wie z. B. den Füßen, Händen und Fingern einerseits und dem, was zum Kör­ per und dessen Teilen gehört wie Schuhe, Fingerringe und Kleidung und Decken195 andererseits. Sich in der rechten Weise um etwas bemühen 195

Decken sind genannt, insofern sie dazu dienen, sich mit ihnen zuzudecken oder auf ihnen zu liegen.

Erläuterungen

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heißt, es besser machen (128b5–9). „Besser machen“ ist dabei in einem weiten Sinn verstanden, in dem damit nicht nur gemeint ist, etwas Vor­ handenes in einen besseren Zustand zu versetzen, sondern auch, etwas Neues sachgerecht zu verfertigen. Versteht man „besser machen“ in die­ sem Sinne, dann sind die verschiedenen Formen von Fachwissen, mit denen man Schuhe, Fingerringe, Kleider und Decken besser macht, das Fachwissen des Schusters, des Steinschneiders, der die Verzierungen in die Steine der Siegelringe graviert, und des Webers, der den Stoff für Kleider und Decken herstellt,196 das Fachwissen dagegen, mit dem man den Körper insgesamt und seine einzelnen Teile besser macht, das Fach­ wissen auf dem Gebiet des Sports, das Auskunft darüber gibt, wie man einen Körper und dessen Teile stärkt und leistungsfähiger macht. Verall­ gemeinert besagt dies: Es sind unterschiedliche Formen von Fachwis­ sen, mit denen man sich einerseits um eine Sache selbst bemüht und andererseits um das, was zu ihr gehört (128d3–4). Demgemäß müssen es auch unterschiedliche Formen von Fachwissen sein, mit denen sich jemand einerseits um sich selbst (αὑτοῦ) bemüht und anderseits um die Dinge, die zu ihm gehören (τῶν αὑτοῦ) (128d8–9). Um erkennen zu können, was für ein Fachwissen eine Sache besser macht, muss man wissen, was die betreffende Sache ist (128e4–9). Um erkennen zu können, was für ein Fachwissen einen jeden selbst197 besser macht, müssen wir demgemäß wissen, was wir selbst sind, müssen also, wie es der Spruch in Delphi fordert, uns selbst erkennen (128e10–11).198 Nur wenn wir erkannt haben, was wir selbst sind,199 können wir hoffen zu erkennen, was Bemühung um uns selbst ist (129a7–9). 196

Den Beruf des Schneiders gab es im antiken Griechenland nicht, da das Zuschneiden und Nähen von Stoffen nur eine geringe Rolle spielte und, wo erforderlich, in den Werkstätten, in denen die Stoffe hergestellt wurden, oder privat vorgenommen wurde; vgl. Blümner 1912, 206– 207. 197 128e10 ist in allen Handschriften αὐτόν überliefert (bei Stobaios, der den Text III 21, 23 zitiert, davon abweichend αὑτὸν [BT] und αὐτῶν [S]). Will man den überlieferten Text retten, muss man annehmen, dass αὐτός hier in einer Weise gebraucht wird („welches Fachwissen einen selbst besser macht“), für die sich kein wirklich vergleichbarer Fall beibringen lässt (vgl. Bos 1970, 21; Johnson 1996, 236 zu 128e10). Wie Denyer nehme ich an, dass der Text fehlerhaft überliefert ist. Denyer (1992 und 2001, 210–211 zu 128e10–11) ersetzt αὐτόν durch ἄνθρωπον. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass nach αὐτὸν ἕκαστον ausgefallen und mithin zu ergänzen ist (vgl. 128d3 αὐτοῦ ἑκάστου und 130d4 αὐτὸν ἕκαστον). 198 Der Legende zufolge (Prot. 343a8–b3) hatten die Sieben Weisen die beiden allseits bekannten Sprüche „Erkenne dich selbst“ (Γνῶθι σαυτόν) und „Nichts im Übermaß“ (Μηδὲν ἄγαν) – Charm. 165a3–4 wird als dritter Spruch „Bürgschaft, schon ist Unglück da“ (Ἐγγύη, πάρα δ᾿ ἄτη) hinzugefügt – bei einer Versammlung im Tempel des Apollon anbringen lassen und zwar (so Paus. 10, 24, 1) in der Vorhalle des Tempels. 199 αὐτό 129a8 = τί ποτ᾿ ἐσμὲν αὐτοί (128e11 und 129b2).

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An diesem Punkt der Erörterung erwartet man folgende Frage: „Auf welche Weise kann ausfindig gemacht werden, was wir selbst sind?“ oder allgemeiner: „Auf welche Weise kann ausfindig gemacht werden, was das Selbst des Menschen ist?“ Sokrates stellt jedoch nicht diese, sondern die folgende Frage: „Auf welche Weise kann wohl das Selbst selbst (αὐτὸ τὸ αὐτό)200 ausfindig gemacht werden?“, und fügt an: „Gelingt uns dies nämlich, werden wir vielleicht ausfindig machen, was wir selbst sind, solange wir dies nicht wissen, werden wir vermutlich (που) nicht dazu in der Lage sein“ (129b1–3). Alkibiades stimmt, ohne zu zögern, zu, so als sei ihm völlig klar, was Sokrates meint, wenn er von dem Selbst selbst spricht, das sie ausfindig machen müssten, bevor sie sich mit der Hoffnung auf Erfolg daranmachen könnten herauszufin­ den, was sie selbst seien. Doch dies ist natürlich nicht der Fall. In Wirk­ lichkeit stimmt er aus Hilfslosigkeit zu, weil das, was Sokrates sagt, wie so oft im Verlauf des Gespräches über seinen Horizont hinausgeht. Wäre dies anders, würde er, statt spontan zuzustimmen, jene Frage stellen, die sich geradezu aufdrängt, die Frage, was Sokrates mit dem Selbst selbst meint. Da Alkibiades diese Frage nicht stellt, fährt Sokrates fort mit der Erörterung der Frage, was wir selbst sind. Schon bald (130c9–d5) wird sich allerdings zeigen, dass er die Frage, was das Selbst selbst ist, kei­ neswegs aus dem Blick verloren, sondern nur vorerst zur Seite gescho­ ben hat. Sokrates eröffnet die Erörterung der Frage, was der Mensch selbst ist, damit, dass er unterscheidet zwischen einer Person, die etwas tut, und den Mitteln, deren sie sich dabei bedient. Beides ist voneinander zu tren­ nen. Beispiele: Wenn eine Person mit einer anderen spricht, bedient sie sich dabei der Sprache.201 Ein Schuster bedient sich bei seiner Arbeit seiner Werkzeuge,202 er bedient sich darüber hinaus aber auch seiner Hände und seiner Augen. Verallgemeinert besagt dies, dass der Mensch sich, wenn er etwas tut, bestimmter Instrumente bedient, zu denen auch sein Körper gehört. Der Mensch und sein Körper sind mithin verschie­ dene Dinge. Was sich des Körpers und aller seiner Teile bedient, indem es über ihn und sie die Macht ausübt, ist nun aber die Seele. Es ergibt

200

Zu τὸ αὐτό vgl. Anm. 205. Die Art und Weise, in der Sokrates 129b10–13 das Beispiel des Gesprächs zweier Perso­ nen miteinander näher ausführt, verengt dessen zuvor beschriebenen alternierenden Charakter vorübergehend dadurch, dass er im Anschluss an die Feststellung, dass er mit Alkibiades spreche, die Unterscheidung trifft, dass er der Sprechende und Alkibiades der Zuhörende sei. Für die Argumentation ist diese momentane Verengung ohne Bedeutung. 202 Zu 129c7: Der Unterschied zwischen τομεύς und σμίλη scheint der zu sein, dass τομεύς ein Messer mit runder, σμίλη ein Messer mit gerader Schneide ist; vgl. Blümner 1912, 278. 201

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Erläuterungen

sich also, dass „der Mensch nichts anderes ist als die Seele“ (130c3).203 An dieser Stelle fragt Sokrates Alkibiades, ob ihm noch etwas deutlicher aufgezeigt werden solle, „dass die Seele der Mensch ist“ (130c5–6). Alkibiades erklärt das Gesagte für ausreichend. Daraufhin Sokrates (130c8–d6): „Wenn es auch nicht in exakter, aber immerhin in angemes­ sener Weise aufgezeigt wurde, genügt es uns; genau werden wir es näm­ lich erst dann wissen, wenn wir das ausfindig gemacht haben, was wir eben beiseitegelassen haben, weil es eine sehr umfangreiche Untersu­ chung erfordert,“ nämlich das, „was gerade etwa so formuliert wurde, dass zuerst das Selbst selbst untersucht werden müsse (vgl. 129b1–4). Jetzt aber haben wir anstatt des Selbst selbst nur untersucht, was ein jeder selbst ist.204 Und vielleicht wird uns das genügen; denn wir werden wohl nichts Machtvolleres von uns nennen können als unsere Seele.“ Worin besteht die mangelnde Exaktheit der Untersuchung? Sie besteht, so Sokrates, darin, dass nur gezeigt wurde, was ein jeder Mensch selbst im Unterschied zu dem ist, was nur zu ihm gehört. Nicht gezeigt worden ist, was das Selbst eines jeden Menschen, d. h. seine Seele, selbst ist.205 Dass dies nicht untersucht wurde, erklärt Sokrates damit, dass eine solche Untersuchung den Rahmen des Gespräches sprengen würde. Hinweise dieser Art, dass ein bestimmtes Problem nicht mit der an sich gebotenen Exaktheit untersucht worden sei, weil 203 Zum Text: 130c2 ist in allen Handschriften (und auch bei Stobaios) αὔτ᾿ (= αὐτό) überlie­ fert, was in allen neueren Textausgaben kommentarlos übernommen ist (Burnet, Croiset, Carlini, Denyer). Schon Schleiermacher hat jedoch darauf hingewiesen, dass dies nicht richtig sein kann (Schleiermacher 1826, 526 zu S. 359 Z. 27): „Schwer ist hier zu ertragen μηδὲν αὐτό, aber zu übersetzen gar nicht. Der vollständige Satz müsste doch heißen, entweder keines von den dreien ist der Mensch, oder die Seele ist der Mensch.“ Ähnlich die Diagnose von K. F. Hermann (1877, XXII), der deshalb ἢ μηδὲν αὔτ᾿ εἶναι ἤ, εἴπερ τί ἐστι als spätere Zutat zum Text tilgt. In allen von mir herangezogenen Übersetzungen wird der Text so übersetzt, als sei nicht αὐτό, sondern αὐτόν (= τὸν ἄνθρωπον) überliefert (z. B. Carlini 1964, 220: „… resta, suppongo, che l’uomo non sia nulla …“; Marbœuf/Pradeau 1999, 173: „… je crois qu’il reste que l’homme n’est rien …“; Johnson 2003, 48: „…then what remains, I think, is either that man is nothing …“). Die in diesem Fall angenommene theoretische Möglichkeit, dass der Mensch nichts sei, ist jedoch, wie schon Schleiermacher und Hermann angemerkt haben, sinnlos, und zwar sowohl im Allgemeinen als auch besonders im Rahmen des Kontextes. Ich halte αὔτ᾿ für eine Korruptel, die bisher nicht überzeugend geheilt wurde. Übersetzt habe ich, als ob der Text lautete ἢ μηδὲν τῶν τριῶν (vgl. 130a7 τριῶν) αὐτ ὸν εἶναι. Das scheint mir jedenfalls das zu sein, was Sokrates meint. 204 130d3–5: ὃ ἄρτι οὕτω πως ἐρρήθη, ὅτι πρῶτον σκεπτέον εἴη αὐτὸ τὸ αὐτό· νῦν δὲ ἀντὶ αὐτοῦ [add. Schleiermacher] τοῦ αὐτοῦ αὐτὸν ἕκαστον ἐσκέμμεθα ὅτι ἐστί. 205 Tὸ αὐτό zur Bezeichnung dessen, was wir das Selbst des Menschen nennen, ist ohne Parallele im Corpus Platonicum . Aus dem Kontext ergibt sich jedoch, dass nur dies mit τὸ αὐτό gemeint sein kann. Sprachlich gesehen handelt es sich bei dem Ausdruck um eine Substantivie­ rung des αὐτο- in (γνῶναι) ἑαυτόν (129a2), (τὴν ἐπιμέλειαν) ἡμῶν αὐτῶν (129a9) und (τί ποτ᾿ ἐσμὲν) αὐτοί.

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eine gründliche Untersuchung zu zeitraubend oder zu schwierig sei, und dass man sich deshalb mit den vorläufigen, für den gegenwärtigen Zweck aber ausreichend erscheinenden Ergebnissen, zu denen man gelangt sei, zufrieden gebe, finden sich häufiger in Platons Dialogen.206 An allen diesen Stellen geht es um grundlegende Elemente der Philoso­ phie Platons, die in den Dialogen immer nur andeutungsweise und bruchstückhaft dargestellt werden, so etwa wie auch hier um Platons Vorstellungen vom Wesen der Seele.207 Sokrates und Alkibiades verständigen sich also darauf, die Frage, was das Selbst selbst ist, auf sich beruhen zu lassen, und sich damit zu begnügen herausgefunden zu haben, was ein jeder von uns selbst ist. Dabei lässt Sokrates allerdings ein gewisses Unbehagen erkennen (130d5–6): „Vielleicht wird uns das genügen; denn wir werden wohl nichts Machtvolleres (κυριώτερον) von uns nennen können als unsere Seele.“ Was er im Blick hat, wenn er seine Zustimmung nur mit Vorbe­ halt gibt, wird im weiteren Verlauf des Gespräches deutlich werden. Es wird sich zeigen, dass die Einsicht, dass das Selbst des Menschen seine Seele ist, nicht ausreicht, sondern dass man ein genaueres Wissen vom Wesen der Seele braucht, um sich selbst erkennen zu können. 130d8 ff. leitet Sokrates sechs Folgerungen aus den zuvor gewonne­ nen Ergebnissen her:208 1. Wenn er und Alkibiades mithilfe von Wörtern miteinander kommu­ nizieren, kommuniziert die Seele des einen mit der Seele des anderen (130d8–e7). 2. Die delphische Weisung, sich selbst zu erkennen, heißt seine Seele zu erkennen (130e8–131a1). 3. Wer wie die Ärzte und Sportlehrer den menschlichen Körper und damit auch seinen eigenen Körper kennt, der kennt, insofern er Arzt oder Sportlehrer ist, nicht sich selbst, sondern nur Dinge, die zu ihm gehören (131a2–8).209 4. Und noch weiter davon entfernt, sich selbst zu erkennen, sind die Bauern und die Handwerker (wie z. B. die zuvor erwähnten Schuster, Steinschneider und Weber). Sie erkennen, insoweit es um ihr jeweiliges

206

Vgl. die Stellensammlung bei Krämer 1959, 389–392. Vgl. Szlezák 1993, 92–105. 208 ἄρα 130e8;131a2; 5; 9; b4; c5. 209 Anders als 128d1 und 131b1, wo mit der Formel τὰ τοῦ σώματος die Dinge bezeichnet werden, die zum Körper gehören (wie Kleidung und Nahrung), werden 131a2 mit ihr die Teile des Körpers bezeichnet. Diese Divergenz scheint mir aber nicht so gravierend zu sein, dass man mit Hutchinson 1997, 589 Anm. 22 und Denyer 2001, 221–222 zu 131a2 annehmen müsste, dass der Text korrupt ist. 207

Erläuterungen

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Fachwissen geht, weder sich selbst noch wie die Ärzte und Sportlehrer ihren Körper und dessen Teile, also die Dinge, die zu ihnen gehören, sondern nur die Dinge, mit denen ihr Körper unterhalten und gepflegt wird, also Dinge, die zu den Dingen gehören, die zu ihnen gehören (131a9–b3).210 5. Die nächste Folgerung (131b4–5) bedarf einer ausführlicheren Erläuterung. Sokrates konstatiert, dass, wenn das Sich-selbst-Erkennen Besonnenheit (σωφροσύνη, sōphrosynē) ist, die Bauern und Handwer­ ker, insoweit es um ihr jeweiliges Fachwissen geht, nicht besonnen sind. Da Alkibiades diese Feststellung anstandslos akzeptiert, kann Sokrates später, wenn er auf sie zurückkommt, behaupten, er und Alkibiades seien sich zuvor in diesem Punkt einig gewesen (133c18–19). Selbster­ kenntnis und Besonnenheit werden auch sonst eng miteinander verbun­ den. Heraklit stellt beides in einem Fragment nebeneinander (22 B 116 DK):211 „Allen Menschen ist es gemeinsam, sich selbst zu erkennen und besonnen zu sein (γινώσκειν ἑωυτοὺς καὶ σωφρονεῖν).“ Im Charmi­ des (164d3–165b4) vertritt Kritias die These, dass Besonnenheit und Selbsterkenntnis dasselbe seien. In den Erastai (138a5–8) konstatiert Sokrates mit Zustimmung seines Gegenübers wie an der vorliegenden Stelle des Alk. 1, dass Selbsterkenntnis Besonnenheit sei. Und an einer Stelle des Timaios (72a4–6) werden Selbsterkenntnis und Besonnenheit in folgender Weise miteinander verbunden: „Vortrefflich und seit alter Zeit wird behauptet, dass das Seine zu tun und sich selbst zu erkennen allein dem Besonnenen zukommt.“ Das griechische Wort sōphrosynē gehört zu den Wörtern, für die es in keiner anderen Sprache ein in seinem Bedeutungsspektrum entsprechen­ des Äquivalent gibt und die deshalb unterschiedlich übersetzt werden.212 An der vorliegenden Stelle ist es wie im Deutschen zumeist mit „Beson­ nenheit“ übersetzt. Die ursprüngliche Bedeutung von sōphrosynē ist „gesunder Verstand“, „gesund“ insofern, als der, der über einen solchen „gesunden Verstand“ verfügt, eine richtige Vorstellung von sich selbst und den ihn umgebenden Dingen hat und dementsprechend handelt. An der frühesten Stelle, an der zwar nicht das Substantiv sōphrosynē, wohl aber das zugehörige Adjektiv sōphrōn (σώφρων) 213 in der erhaltenen

210 Die gleiche dreifache Stufung in rudimentärer Form apol. 36c7–d1 in Kombination mit 29d8–e2. 211 Dieses Fragment wird allerdings von manchen als unecht angesehen. 212 Bei Guthrie 1962–1981, IV 157 Anm. 2 findet man eine kleine, keineswegs erschöpfende Zusammenstellung von Übersetzungen des Wortes bei Cicero und im Englischen, Französischen und Deutschen. 213 Bei Homer unkontrahiert σαόφρων.

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griechischen Literatur vorkommt, in der Beschreibung der Götter­ schlacht im 21. Gesang der Ilias, sagt Apollon zu Poseidon, der ihn zum Kampf herausgefordert hat (462–464): „Erderschütterer, du würdest nicht sagen, dass ich gesunden Verstandes bin, wenn ich mit dir der Ster­ blichen wegen kämpfte, der elenden.“ Das heißt: Poseidon müsste ihm den „gesunden Verstand“ absprechen, weil er unbeachtet ließe, dass er ein Gott ist, und weil es deshalb unangemessen wäre, wenn er sich der armseligen Sterblichen wegen mit einem anderen Gott, der noch dazu der Bruder seines Vaters ist, auf einen Kampf einließe (vgl. V. 468– 469). Gegensatz zu sōphrosynē in dieser Bedeutung ist aphrosynē (ἀφροσύνη), „Fehlen von Verstand“, „Unverstand“. Im 23. Gesang der Odyssee sagt Penelope zu der alten Kinderfrau Eurykleia, nachdem diese sie geweckt und ihr die für sie absolut unglaubwürdige Mitteilung gemacht hat, dass Odysseus heimgekehrt sei und sich im Hause befinde (11–13): „Liebes Mütterchen, die Götter haben dich töricht gemacht, die auch den unverständig (ἄφρων, aphrōn) machen können, der noch so verständig ist, und auch manchen mit schlaffem Verstand zu gesundem Verstand (σαοφροσύνη, saophrosynē) haben gelangen lassen.“ In der Folgezeit wurde das Wort sōphrosynē überwiegend in einem engeren Sinn in der Bedeutung „Maßhalten im Hinblick auf die Begierden“, „Selbstbeherrschung“, „Selbstkontrolle“ gebraucht (z. B. symp. 196c4– 5. rep. 4, 430e6–8). Gegensatz zu sōphrosynē in dieser Bedeutung ist akolasia (ἀκολασία), „Zügellosigkeit“.214 Wenn Sokrates 131b4 kon­ statiert, dass das Sich-selbst-Erkennen Besonnenheit sei, hat er sōphro­ synē in der allgemeineren Bedeutung im Blick: Sich selbst erkennen heißt, über einen „gesunden Verstand“ verfügen, der einen dazu befä­ higt, sich selbst richtig einzuschätzen und deshalb vernünftig zu han­ deln.215 Von der Voraussetzung ausgehend, dass das Sich-selbst-Erkennen Besonnenheit ist, folgert Sokrates 131b5 aus dem zuvor Gesagten, dass kein Bauer und kein Handwerker, insoweit es um sein Fachwissen gehe, besonnen sei, weil keiner von ihnen sich selbst erkenne, sondern alle, insoweit es um ihr Fachwissen gehe, nur die Dinge erkennen würden, mit denen ihr Körper unterhalten und gepflegt wird, also Dinge, die zu den Dingen gehören, die zu ihnen gehören. Da, wie zuvor festgestellt, auch die Ärzte und Sportlehrer, insoweit es um ihr Fachwissen geht, 214

Gorg. 507a6–7 stellt Sokrates ἄφρων und ἀκόλαστος als Gegensätze zu σώφρων in sei­ nen beiden unterschiedlichen Bedeutungen nebeneinander. 215 In dem, was Sokrates 121d2–122d1 über die Erziehung der persischen Prinzen und die Tugenden der Spartaner sagt, ist σώφρων und σωφροσύνη dagegen, wie 122a4–5 (vgl. 121e7 und 122c5) zeigt, im Sinn von Selbstbeherrschung zu verstehen.

Erläuterungen

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nicht sich selbst erkennen, sondern nur etwas, was zu ihnen gehört, hätte Sokrates schon im Hinblick auf sie konstatieren können, dass keiner von ihnen besonnen sei. Warum tut er dies nicht schon in Bezug auf sie, son­ dern erst jetzt in Bezug auf die Bauern und Handwerker? Er tut dies des­ halb, weil er Alkibiades so krass wie möglich vor Augen führen will, welche Folgen es für ihn haben wird, wenn er sich nicht vor allem ande­ ren darum bemüht, sich selbst zu erkennen. Dass dies der Grund ist, ergibt sich aus dem nächsten Satz des Sokrates (131b7–8): „Deswegen scheinen diese Formen des Fachwissens auch nur geringes Ansehen zu genießen und nicht Fachkenntnisse eines tüchtigen Mannes sein.“ Was Sokrates hier über das Fachwissen der Bauern und Handwerker sagt, spiegelt die soziale Einschätzung wider, die man in Athen, aber nicht nur dort, den handwerklichen Tätigkeiten entgegenbrachte. Solche „banausischen“ (βάναυσοι, 131b7) Tätigkeiten galten, vor allem natür­ lich in den Kreisen derer, die es nicht nötig hatten, ihren Lebensunterhalt mit solchen Tätigkeiten zu verdienen, als eines „tüchtigen“ Mannes unwürdig, weil der Zwang zu ständiger körperlicher Arbeit den Geist verkümmern lasse, den Menschen damit seinen Trieben ausliefere und ihn daran hindere, das zu tun, was allein eines tüchtigen Mannes würdig sei, sich geistig und politisch zu betätigen.216 Nach der knappen Bemerkung zum Verhältnis von Selbsterkenntnis, Besonnenheit und den gering geachteten „banausischen“ Formen des Fachwissens fasst Sokrates die Folgerungen 3, 4 und 5 noch einmal in Kurzform zusammen: Wer seinen Körper pflegt, pflegt nicht sich selbst, sondern Dinge, die zu ihm gehören; und wer seinen Besitz pflegt, pflegt weder sich selbst noch Dinge, die zu ihm gehören, sondern Dinge, die noch weiter entfernt sind als die, die zu ihm gehören (131b10–c4). 6. Die letzte Folgerung, die Sokrates zieht, ist eine Folgerung ganz anderer Art; sie betrifft die persönliche Beziehung zwischen ihm und Alkibiades: Alle anderen Liebhaber haben nicht Alkibiades selbst geliebt, sondern nur etwas, was zu ihm gehört, nämlich seinen Körper. Sie haben sich daher von Alkibiades abgewandt, nachdem die Blütezeit seines Körpers zu Ende gegangen ist. Sokrates war und ist der einzige, der Alkibiades selbst, nämlich seine Seele, geliebt hat und liebt. Das erklärt, warum er sich ihm erst jetzt zugewandt hat; erst jetzt beginnt Alkibiades’ Seele aufzublühen (131c5–e11).217 216

Vgl. Hdt. 2, 167; rep. 6, 495c8–e2; 9, 590b6–c6; leg. 1, 643e6–644a5; 5, 741e1–6; Xen. oik. 4, 2–3. 6, 5; Aristot. pol. VII 9, 1328b39–1329a2. 19–26; VII 12, 1331a32–35; VIII 2, 1337b4–15. Vgl. die ausführliche Erörterung bei Christes 1975, 71–129. 217 Zu 131d7: Mit der Bemerkung „Bemüh dich also, so schön wie möglich zu sein“ bezieht sich Sokrates oberflächlich gesehen auf die in dem Dialog mehrfach erwähnte außergewöhnliche

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Kommentar

An diese letzte Folgerung schließt Sokrates die Warnung an Alkibia­ des an, er möge sich davor hüten, „ein Liebhaber des Volkes“218 zu wer­ den, d. h. um die Gunst der Volksmenge zu buhlen, und dadurch, wie dies schon vielen widerfahren sei, verdorben zu werden,219 und die ein­ dringliche Mahnung, sich dagegen zu wappnen. Der Abschnitt schließt damit, dass Sokrates ein Fazit der in ihm erzielten Ergebnisse zieht: Er und Alkibiades haben sich darauf verständigt, 1. dass der Mensch die Seele ist und 2. dass deshalb, wer sich um sich selbst bemühen will, sich um seine Seele bemühen, die Bemühung um seinen Körper und seinen Besitz aber anderen, nämlich den entsprechenden Fachleuten wie Ärz­ ten, Sportlehrern, Handwerkern u. a. m., überlassen muss (132b6–c6). Die zu Beginn des Abschnitts geäußerte Befürchtung (127e9–128a2), die Untersuchung der Frage, was das Sich-um-sich-selbst-Bemühen sei, könne vielleicht in die Irre gehen, weil nicht geklärt sei, was der Mensch ist, hat sich also erledigt (132a1–c4).

132c7–133c17 Erklärung des Vorganges des Sich-selbst-Erkennens in Analogie zu dem des Sich-selbst-Sehens. Sokrates leitet den Abschnitt mit folgenden Worten ein (132c7–9): „Auf welche Weise können wir diese Dinge nun wohl am klarsten erkennen? Denn wenn wir dies erkannt haben, werden wir, wie es scheint, auch uns selbst erkennen.“ Mit „diese Dinge“ (αὐτά) meint Sokrates alles das, was im vorangehenden Abschnitt im Einzelnen über das Sich-um-sichselbst-Bemühen gesagt worden war, und in Sonderheit natürlich den Nachweis, dass das Selbst des Menschen seine Seele ist, mit „dies“ (τοῦτο) fasst er dann das, was er zuvor „diese Dinge“ genannt hatte, als Gesamtkomplex zusammen.220 129b1–130c4 hatte Sokrates aufge­ körperliche Schönheit des Alkibiades, meint aber natürlich die Schönheit seiner Seele. Entspre­ chendes gilt für 132a2 „hässlicher“. 218 Das Wort „Liebhaber des Volkes“ (δημεραστής, 132a3) ist ad hoc in Analogie zu „Lieb­ haber von Knaben“ (παιδεραστής) gebildet. Vgl. Gorg. 513c7 ὁ δήμου ἔρως. 219 Was geschieht, wenn man ein solcher Liebhaber wird, beschreibt Sokrates im Gorgias (481d1–482a2): Man wird unfähig etwas zu sagen, was dem Volk nicht gefällt, und sagt folglich immer nur das, was es hören möchte. 220 Die einst von Schleiermacher vorgeschlagene und danach von vielen übernommene Ände­ rung von αὐτὰ (132c7) in αὐτό scheint mir nicht nötig. Vgl. Stallbaum 1834, 289 zu 132c7 αὐτὰ und c8 τοῦτο: „Loquitur in universum, αὐτά intelligens ista, quae pertinent ad animi curam. … Pergens vero de eadem re explicare iam distinctius et magis definite dicit τοῦτο.“

Erläuterungen

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zeigt,221 dass das Selbst des Menschen seine Seele ist (130c5–6), hatte allerdings sogleich darauf hingewiesen, dass die Argumentation, mit der dies aufgezeigt worden sei, zwar vorerst „vielleicht“ (130d5) ausreiche, die Frage danach, was das Selbst des Menschen sei, jedoch keineswegs exakt beantworte, da nur gezeigt worden sei, was das Selbst jedes ein­ zelnen Menschen ist, nicht aber, was dieses Selbst selbst ist (vgl. S. 126– 127). Diesen Vorbehalt greift Sokrates hier auf, wenn er darauf verweist, dass er und Alkibiades erst dann hoffen könnten, sich selbst zu erken­ nen, wenn sie völlige Klarheit in Bezug auf die Dinge gewonnen hätten, die zuvor erörtert worden seien. Um es vorwegzunehmen: Völlige Klar­ heit wird auch im Folgenden nicht gewonnen, immerhin aber wird ein erster Schritt in diese Richtung getan. Sokrates gibt vor, einen spontanen Einfall zu haben. Kann es sein, fragt er (132c9–10), dass „wir die vortrefflichen Worte der eben222 erwähnten Inschrift in Delphi nicht verstanden haben?“ Um deutlich zu machen, was die Inschrift seiner Vermutung nach „sagt und rät“ (132d1–2), zieht er ein paradeigma heran. Das griechische Wort para­ deigma (παράδειγμα) hat vielerlei Bedeutungen (Beispiel, Modell, Vorbild u. a. m.). Hier ist damit ein gleichartiger oder analoger Sachver­ halt oder Vorgang, also, wie übersetzt wurde, ein „Parallelfall“ gemeint. Die methodische Funktion, die ein solches paradeigma hat, ist die fol­ gende: Um einen komplizierten und deshalb schwer zu durchschauen­ den Sachverhalt zu erhellen, zieht man einen jedermann bekannten weniger komplizierten Sachverhalt heran, von dem man annimmt, er sei analog strukturiert, analysiert ihn, überträgt die Ergebnisse der Analyse in jeweils entsprechender Form auf den zu klärenden Sachverhalt und versucht so, diesen zu verstehen.223 Um den Vorgang des Sich-selbstErkennens zu erhellen, zieht Sokrates als paradeigma den Vorgang des Sich-selbst-Sehens heran, wobei er hinzufügt, dass dieser Vorgang das einzige paradeigma sei, das es in diesem Fall gebe. Er beschreibt diesen Vorgang so: Will ein Auge sich selbst sehen, muss es in Spiegel oder andere reflektierende Flächen blicken. Ein besonderer Fall einer solchen reflektierenden Fläche ist das Auge des einem gegenüber stehenden Menschen, genauer, „das, was das Beste vom Auge ist und womit es sieht“, das Sehloch (ὄψις) bzw. die Pupille (κόρη) (132e7–133a3).224 221

Vgl. 130c5 ἀποδειχθῆναι. 129a2–4; vgl. 124a8–b1. 223 Platon beschreibt diese Funktion des παράδειγμα im Politikos in einem längeren Exkurs (277d9–278e11). Im weiteren Verlauf des Dialogs sucht er dann das Wesen der Staatskunst in Analogie zur Kunst des Webens zu verdeutlichen (279a1–311c10). Vgl. zu diesem Exkurs Gu­ thrie 1962–1981, V 173–175. Kato 1995. 224 Vgl. Rufus Ephesius, De corporis humani partium appellationibus 23 (S. 136 Daremberg222

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Kommentar

„Wenn es (das Auge) aber auf anderes vom Menschen blickt oder auf irgendeinen sonstigen Gegenstand mit Ausnahme jenes Gegenstandes, dem ebendies ähnlich ist, dann kann es sich selbst nicht sehen“ (133a9– 11). Weshalb Sokrates in diesen Satz die seltsam verklausulierte Bemer­ kung einfügt „mit Ausnahme jenes Gegenstandes, dem ebendies ähnlich ist“, d. h. mit Ausnahme von Spiegeln oder anderen reflektierenden Flä­ chen, denen die Pupille ähnlich ist, wird deutlich werden, wenn er im Folgenden den Vorgang des Sich-selbst-Erkennens beschreibt. Den Vor­ gang des Sich-selbst-Sehens rekapituliert er abschließend mit folgenden Worten (133b2–4): „Wenn also ein Auge sich selbst sehen will, muss es in ein Auge blicken und zwar in jenen Bereich des Auges, in dem die Tüchtigkeit225 des Auges angesiedelt ist, das Sehvermögen.“ Parallel zum Vorgang des Sich-selbst-Sehens beschreibt Sokrates sodann den Vorgang des Sich-selbst-Erkennens (133b7–10):226 „Muss nun . . . nicht auch eine Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele blicken und ganz besonders in jenen Bereich von ihr, in dem die Tüchtigkeit der Seele angesiedelt ist, das Wissen (σοφία), und in ande­ res, dem dies (d. h. dieser Bereich der Seele) ähnlich ist?“ Wie zuvor in Bezug auf das Auge unterscheidet Sokrates auch in Bezug auf die Seele verschiedene Bereiche (τόποι). Genauer ausgeführt wird dies nicht. Da für die weitere Argumentation allein jener Bereich der Seele von Belang ist, in dem das Wissen angesiedelt ist, kann der Rest der Seele ebenso außer Betracht bleiben, wie zuvor in Bezug auf das Auge, weil allein die Pupille von Belang gewesen war, der Rest des Auges außer Betracht geblieben war. An mehr als eine Zweiteilung der Seele in einen vernünf­ tigen und einen vernunftlosen Bereich braucht man hier nicht zu denken. Der Einfachheit halber wird der Bereich der Seele, in dem das Wissen angesiedelt ist, im Folgenden als der „vernünftige Bereich der Seele“ bezeichnet. Was aber meint Sokrates, wenn er davon spricht, dass eine Ruelle): „Das, was man in der Mitte des Auges erblickt, wird ὄψις und κόρη genannt“. 132d3 und 133b5 ist mit ὄψις wie üblich das Sehen bzw. der Sehvorgang gemeint. Die ursprüngliche Bedeutung von κόρη ist (kleines) Mädchen, in übertragener Bedeutung wird κόρη aber auch zur Bezeichnung von Statuetten und Puppen benutzt und schließlich wegen der Eigenschaft, das Gegenüber in verkleinerter Form widerzuspiegeln, zur Bezeichnung des Sehloches. Die deutsche Bezeichnung Pupille leitet sich von dem lateinischen Pendant zu κόρη, pupilla (kleines Mäd­ chen), her. 225 Zur Übersetzung von ἀρετή mit „Tüchtigkeit“ vgl. S. 115–116. 226 Der Textabschnitt, der hier beginnt (133b7–c17), enthält mehrere sprachliche, inhaltliche und überlieferungsgeschichtliche Probleme und ist deshalb immer wieder kontrovers diskutiert worden. Von den diesbezüglichen Abhandlungen seien hier nur einige wichtige aus jüngerer und jüngster Zeit genannt: Brunschwig 1996; Johnson 1996, 264–274 und 1999, 10–14; Marbœuf/ Pradeau 2000, 214–216 (Anm. 149–153) und 221–228; Denyer 2001, 233–237; Tarrant 2007a; Gill 2007, 104–111; Belfiore 2012, 56–65; Joosse 2014, 4–5. 16–19.

Erläuterungen

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Seele, wolle sie sich selbst erkennen, in den vernünftigen Bereich einer Seele blicken müsse (die ergänzende Bemerkung „und in anderes, dem dies ähnlich ist,“ lasse sich zunächst beiseite)? Sokrates erläutert dies nicht, und so ist der Interpret darauf angewiesen, von sich aus eine Ant­ wort auf diese Frage zu finden. Legt man die angenommene Analogie zugrunde, dann kann der Grund dafür, dass eine Seele sich selbst erkennt, wenn sie in den vernünftigen Bereich einer Seele, d. h. der Seele eines anderen, blickt, nur der sein, dass, wie das Auge in der Pupille des Auges eines anderen sein Spiegelbild sieht, so die Seele in dem vernünftigen Bereich der Seele eines anderen ihr Spiegelbild sieht. Doch was ist damit gemeint? Offenkundig hat Sokrates das philosophi­ sche Gespräch von der Art im Blick, wie er es gerade mit Alkibiades führt. 130d8–e7 hatte er als eines von mehreren Ergebnissen der voraus­ gehenden Erörterung konstatiert, dass, wenn er und Alkibiades mitei­ nander kommunizierten, dies eine Kommunikation ihrer beider Seelen miteinander sei. Bei dieser Kommunikation „spiegelt“ sich die Seele227 des einen insofern in der des anderen,228 als sie durch deren kritische Reaktionen gezwungen wird, ihre Meinungen genauer zu betrachten und zu überprüfen und, wo nötig, zu korrigieren. Auf diese Weise gewinnt die Seele Klarheit darüber, was sie weiß und was sie nur zu wis­ sen meint, in Wahrheit aber nicht weiß, befreit sich auf diese Weise von irrigen Meinungen, ersetzt diese, so gut es geht, durch richtigere und gelangt so Schritt für Schritt zu einer besseren Kenntnis dessen, was sie weiß und was sie nicht weiß, und damit ihrer selbst. Im nächsten Schritt seiner Argumentation konstatiert Sokrates, dass es keinen Bereich oder Teil der Seele gebe, der göttlicher sei als derjenige, in dem das Wissen und das Denken ihren Sitz hätten (133c1–2),229 d. h. als der vernünftige Bereich der Seele. Und er folgert daraus (133c4–6): „Dem Gott also ähnelt dies (der vernünftige Bereich) von ihr, und wenn jemand in dies (den vernünftigen Bereich einer Seele) blickt und alles, was göttlich ist, erkennt (πᾶν τὸ θεῖον γνούς), sowohl Gott als auch das Denken, dann wird er auf diese Weise auch sich selbst am besten erkennen.“ 133b7–10 hatte Sokrates gesagt, dass eine Seele, wolle sie sich selbst erkennen, in denjenigen Bereich einer Seele blicken müsse, in dem das Wissen angesiedelt sei, „und in anderes, dem dies (sc. dieser Bereich der Seele) ähnlich ist“. Was Sokrates 133c4–6 sagt, macht klar, was er 133b10 mit dem „anderen“ gemeint hatte: Gott. Will eine Seele 227 Genauer müsste es hier und im Folgenden statt „Seele“ natürlich immer heißen „derjenige Bereich der Seele, in dem das Wissen angesiedelt ist“ bzw. „der vernünftige Bereich der Seele“. 228 Bzw. wenn es sich um mehr als zwei Gesprächspartner handelt, in denen der anderen. 229 περί (133c2) ist wohl räumlich zu verstehen, vgl. K-G I 494, III, 1.

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sich selbst erkennen, reicht der Blick in den vernünftigen Teil der Seele eines anderen nicht aus; hinzukommen muss der Blick auf Gott. Was aber meint Sokrates, wenn er sagt, dass man sich selbst am besten erken­ nen werde, „wenn man in dies (sc. in den vernünftigen Bereich einer Seele) blickt und alles, was göttlich ist, erkennt, sowohl Gott als auch das Denken“? Nicht wenige von denen, die sich darum bemüht haben, diese Worte des Sokrates zu verstehen, sind zu dem Ergebnis gekom­ men, dass sie unverständlich seien, und haben deshalb angenommen, dass der sowohl in den Handschriften als auch in allen Zitaten bei späte­ ren Autoren in der gleichen Form überlieferte Wortlaut des Textes an dieser Stelle fehlerhaft sei und durch Konjektur geheilt werden müsse.230 Geht man davon aus, dass, wie im Vorangehenden ausgeführt, mit dem Blick in die Seele eines anderen das der Selbsterkenntnis dienende philosophische Gespräch gemeint ist, dann bietet sich folgende Erklä­ rung an: Sokrates bezieht sich mit seinen Worten auf die fundamentale Differenz zwischen menschlichem und göttlichem Wissen, wie er sie in exemplarischer Weise in der Apologie in dem Bericht beschreibt, in dem er darstellt, was er getan habe, um zu verstehen, was der Gott in Delphi mit der ihm unsinnig erscheinenden Auskunft gemeint habe, er sei der wissendste (σοφώτατος) aller Menschen (20d6–23c1): Als den wis­ sendsten habe ihn der Gott deshalb bezeichnet, weil er der Einzige sei, der wisse, dass in Wahrheit allein der Gott wissend (σοφός), alles menschliche Wissen (σοφία) dagegen nur wenig oder nichts wert sei (23a5–7, vgl. 3–4). Ohne den Blick auf Gott und sein Wissen ist es unmöglich, die grundsätzliche Beschränktheit alles menschlichen Wis­ sens und damit sich selbst zu erkennen. Die sich anschließenden Zeilen des Textes (133c8–17) sind in keiner der Handschriften enthalten, in denen der Alk. 1 überliefert ist, sondern allein als Teile von Zitaten bei Eusebios und Stobaios.231 In ihnen erklärt

230 Stallbaum nahm an, θεόν τε καὶ φρόνησιν sei als in den Text eingedrungene Randnotiz aus dem Text zu streichen, andere ersetzten θεόν durch σοφίαν (Heusde), νοῦν (Ast, Carlini) oder θέαν (Havet). Madvig und, ihm folgend, Apelt haben das Komma nicht wie alle anderen Interpreten nach, sondern vor γνούς gesetzt. 231 Zum Text: 133c8 ist der Satzanfang bei Eusebios in der Form ἆρ᾿ οὖν ὅθ᾿ ὥσπερ, bei Sto­ baios in der Form ἆρ᾿ ὥσπερ überliefert. Übernimmt man die bei Eusebios überlieferte Form, wie dies in den neueren Ausgaben des Dialogs durchweg geschieht, dann muss man, da das ι in ὅτι nicht elidiert werden kann, entweder mit Croiset und Carlini ὅθ᾿ in ὅτι ändern oder anneh­ men, dass ὅθ᾿ elidiertes ὅτε ist und ὅτε hier, wie dies bisweilen vorkommt, kausal gebraucht wird (vgl. Johnson 1996, 272 zu 133c8–19). In beiden Fällen wird der Satz 133c8–11 als Begründung für das zuvor Gesagte verstanden („Doch wohl deshalb, weil, wie Spiegel klarer sind als die spie­ gelnde Fläche im Auge und reiner und leuchtender, so auch der Gott reiner und leuchtender ist als das Beste von unserer Seele?“). Das aber ergibt keinen Sinn. Der Satz konstatiert vielmehr in Fra­

Erläuterungen

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Sokrates, warum wahre Selbsterkenntnis nur mit dem Blick auf Gott möglich ist: Wie Spiegel klarer, reiner und leuchtender sind als die spie­ gelnde Fläche im Auge, die Pupille, so ist der Gott reiner und leuchten­ der als der vernünftige Bereich der Seele. Und er zieht das Fazit: Wenn wir einerseits auf den Gott blicken und ihn als die schönste spiegelnde Fläche benutzen und wenn wir andererseits auf den vernünftigen Bereich der Seele eines anderen Menschen blicken und uns in ihm spie­ geln, dann dürften wir uns selbst am besten sehen und erkennen. Gehören die Zeilen 133c8–17 zum originalen Text des Dialogs oder sind sie eine spätere Zutat?232 Folgt man der Interpretation der Zeilen 132d1–133c7, wie sie im Vorangehenden vorgetragen wurde, dann scheinen die Zeilen 133c8–17 unentbehrlich. Wenn Sokrates 133c4–6 sagt: „Wenn jemand auf dies (den vernünftigen Bereich der Seele) blickt und alles, was göttlich ist, erkennt, sowohl Gott als auch das Denken, dann wird er auf diese Weise auch sich selbst am besten erkennen“, dann ist mit Denken das menschliche Denken im Unterschied zum göttlichen gemeint. Will der Mensch sich selbst erkennen, dann darf er sich nicht darauf beschränken, auf das Göttliche im Menschen, sein Denken, zu blicken, er muss, darüber hinausgehend, auf Gott blicken, weil er das Wesen alles menschlichen Denkens nur dann erkennen kann, wenn er erkennt, wie kläglich es im Vergleich zum göttlichen ist. Dass die Zeilen 133c8–17 zum originalen Text gehören, wird dadurch bestätigt, dass Sokrates 134d4–5 („Und ihr werdet, wie wir im Vorangehenden sagten, handeln, indem ihr auf das Göttliche und Leuchtende schaut.“) offen­ kundig auf ebendiese Zeilen Bezug nimmt. Alle Versuche, dies zu bestreiten, waren und sind zum Scheitern verurteilt.233 geform dies: Wie Spiegel klarer sind als die spiegelnde Fläche im Auge und reiner und leuchten­ der, so ist auch der Gott reiner und leuchtender ist als das Beste von unserer Seele. Daraus wird anschließend gefolgert, dass der Gott, wenn wir uns selbst erkennen wollen, die beste spiegelnde Fläche ist, im menschlichen Bereich aber die Tüchtigkeit, d. h. der vernünftige Bereich, der Seele eines anderen. ὅθ᾿ ist also als eine wie auch immer in den Text eingedrungene spätere Zutat zu til­ gen, oder der Text ist so zu lesen, wie er bei Stobaios überliefert ist. Eine Vermutung zum Zustan­ dekommen der Korruptel bei Tarrant 2007a, 26 Anm. 54. 232 Diese Frage wurde und wird seit Schleiermacher, der die Zeilen nicht übersetzt, es in einer Anmerkung (1826, 529–530 zu S. 364 Z. 23) aber für nicht ausgeschlossen erklärt, dass sie zum Text gehören, überwiegend negativ beantwortet (so in letzter Zeit z. B. von Reis 1999, Marbœuf/ Pradeau 1999, 216 Anm. 153 und 221–228, Denyer 2001, 236–237 und Belfiore 2012, 47 Anm. 37), immer wieder aber auch positiv (so zuletzt z. B. von Johnson 1999, 11–14 und Pietsch 2008, 355 Anm. 23). Tarrant 2007a sucht zu zeigen, dass 1. der in den Handschriften überlieferte Text unvollständig ist, dass 2. Olympiodoros, als er den Alk. 1 kommentierte, einen Text vor sich hatte, der umfangreicher war als der der Handschriften, und dass 3. dieser zusätzliche Text ein anderer (von ihm ebd. 13–15 versuchsweise rekonstruierter) gewesen sein muss als der, den wir bei Euse­ bios und Stobaios lesen. 233 Für Carlini stellt der Rückverweis von 134d4–5 auf 133c8–17 kein Problem dar, weil er es

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Kommentar

Erwähnt sei an dieser Stelle, dass es im Alk. 1 außer dem gerade besprochenen Abschnitt 133c8–17 zwei weitere, allerdings weniger gra­ vierende Fälle gibt, in denen Exzerpte bei Stobaios einen umfangreiche­ ren Text bieten als den, der im Corpus Platonicum überliefert ist, 115e5–7 (ALK. Gewiss. – SO. Die Tapferkeit rechnest du also zu den größten Gütern und den Tod zu den größten Übeln?) und 128a13–b1 (SO. Und Kleidungsstücke und Decken ebenso zum übrigen Körper? – ALK. Ja.).234 In beiden Fällen gibt es gute, wenn auch nicht zwingende, Gründe, die zusätzlichen Zeilen als zum ursprünglichen Text gehörig anzusehen,235 und so haben die meisten Herausgeber und Übersetzer des Dialogs sie denn auch in ihre Texte und Übersetzungen aufgenom­ men.236 Tut man dies, dann besteht kein Grund, im Falle der Zeilen 133c8–17 anders zu verfahren, es sei denn, sprachliche oder inhaltliche Gründe zwängen dazu, diese Zeilen als mit dem Kontext oder der Zeit, in der der Dialog verfasst wurde, nicht vereinbar zu verwerfen. Solche Gründe gibt es m. E. nicht. Der Fall, dass an einzelnen Stellen eines Dialogs in Zitaten bei ande­ ren Autoren ein umfangreicherer Text überliefert ist als in der hand­ schriftlichen Überlieferung, kommt außer im Alk. 1 (und hier gleich dreimal) in keinem der im Corpus Platonicum enthaltenen Dialoge vor.237 Nimmt man an, dass der umfangreichere Text im Alk. 1 an allen

aus inhaltlichen Gründen für sicher hält, dass der Abschnitt 134d1–e7 ebenso wie der Abschnitt 133c8–17 eine neuplatonische Zutat darstellt und deshalb nicht zum ursprünglichen Text gehört (Carlini 1962, 169–174; in seiner Textausgabe setzt er 134d1–e7 daher in eckige Klammern). Außer Hutchinson 1997, 594 hat, soweit ich sehe, niemand Carlinis Annahme übernommen. Brunschwig 1996, 71–72 Anm. 11 hat die Argumente zusammengestellt, die gegen Carlinis Annahme sprechen; vgl. auch Marbœuf/Pradeau 2000, 222 Anm. 2. Sollte Carlini recht haben, dann müssten erstens die Abschnitte 133c8–17 und 134d1–e7 beide schon vor Iamblichos (ca. 240 – ca. 325 n. Chr.) in den Text eingedrungen sein, da dieser die Worte εἰς τὸ ἄθεον καὶ σκό­ τεινον βλέποντες (134e4–5) in einem bei Stobaios III 11, 35 erhaltenen Fragment aus einem Brief an Sopatros als Worte Platons zitiert, und müsste zweitens 133c8–17 danach wieder aus dem Text verschwunden sein, während 134d1–e7 erhalten blieb. Denyer, der 133c8–17 als spä­ tere Zutat aus dem Text ausscheidet, belässt 134d1–e7 im Text und kommentiert den Rückver­ weis „wie wir im Vorangehenden sagten“ (134d4) mit der resignierenden Bemerkung (Denyer 2001, 241 zu 134d4 ἐν τοῖς πρόσθεν): „at whatever is authentic of 133c1–17.“ 234 Stob. III 1, 192 und III 21, 23. 235 Vgl. Carlini 1964, 55–56 und Johnson 1996, 166 und 234. 236 So Burnet 1901, Croiset 1920, Lamb 1927, Carlini 1964, Hutchinson 1997, Denyer 2001, Johnson 2003; Schanz 1882, Apelt 1937 und Marbœuf/Pradeau 2000 sehen die Zeilen als nach­ trägliche Zutaten an. 237 Als einziger zwar nicht gleicher, aber immerhin ähnlicher Fall ließe sich Krat. 437d10– 438a2 nennen, wo in den Handschriften zwei voneinander abweichende Textfassungen miteinan­ der konkurrieren. Vgl. dazu Ademollo 2011, 489–495.

Erläuterungen

139

drei Stellen der originale ist, dann muss der Text schon in der hand­ schriftlichen Quelle, von der sich alle Handschriften letztlich herleiten, an allen drei Stellen verstümmelt gewesen sein. Wie lässt sich erklären, dass der originale Text an diesen Stellen nur in der Nebenüberlieferung erhalten geblieben ist? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage muss, wie mir scheint, von der Tatsache ausgehen, dass die Zeilen 133c8–17 sowohl bei Eusebios als auch bei Stobaios überliefert sind. Beide verdanken ihren Text also einer von der Tradition der Handschrif­ ten unabhängigen eigenständigen Überlieferungstradition. Stobaios ent­ nahm die von ihm in sein Florilegium aufgenommenen Platontexte wie alle anderen Texte weitgehend, wenn nicht zur Gänze, älteren Text­ sammlungen. Eusebios scheint die von ihm zitierten Platontexte in den meisten Fällen selbst exzerpiert, in einzelnen Fällen aber gleichfalls Textsammlungen entnommen zu haben.238 Einer dieser Fälle scheint das Exzerpt zu sein, dessen zweiten Teil die Zeilen 133c8–17 bilden. Die Annahme, dass dem so ist, wird durch die Tatsache nahegelegt, dass die Zeilen 133c8–17 außer in seiner Praeparatio evangelica (XI 27, 5) auch und nur noch bei Stobaios (III 21, 24) überliefert sind. Ich vermute daher, dass Eusebios und Stobaios ihre Alkibiades-Exzerpte, wenn nicht dem­ selben Florilegium, so doch derselben Florilegientradition verdankten. Abschließend noch eine Bemerkung zu der Art und Weise, in der Alkibiades in dem gerade besprochenen Abschnitt auf die Worte des Sokrates reagiert. Alkibiades stimmt den mehrfach durchaus nicht unmittelbar verständlichen, ja in einigen Fällen geradezu kryptischen Worten des Sokrates stets ohne irgendwelche Einwendungen und Nach­ fragen immer sogleich zu, weshalb sich Sokrates denn auch an keiner Stelle veranlasst fühlt, das, was er gerade gesagt hat, zu erläutern. Wie soll man sich das erklären? Bedenkt man, wie sehr die Erörterung schon seit Längerem über den Horizont des Alkibiades hinausgeht, dann kann man ausschließen, dass Alkibiades die Tragweite seiner jeweiligen Zustimmung überblickt, oder anders ausgedrückt, dass er versteht, was Sokrates jeweils meint, wenn er den Vorgang des Sich-selbst-Erkennens analysiert. Wenn Alkibiades Sokrates stets nur in knapper Form zustimmt, tut er dies, um seine Hilflosigkeit zu kaschieren.

238

Carriker 2003, 98–108.

140

Kommentar

133c18–135d7 Nur wer sich selbst erkennt, kann die Dinge erkennen, die zu ihm gehö­ ren, und die, die zu anderen gehören; nur wer selbst über Tüchtigkeit verfügt, kann anderen zur Tüchtigkeit verhelfen. 131b4–5 hatten sich Sokrates und Alkibiades darauf verständigt, dass das Sich-selbst-Erkennen Besonnenheit sei und dass daher nur der besonnen sei, der sich selbst erkenne. Das ruft Sokrates 133c18–19 in Erinnerung und knüpft daran die Frage (133c21–23): „Wenn wir nun uns selbst nicht erkennen und nicht besonnen sind, können wir dann wohl die Dinge kennen, die zu uns gehören, die schlechten und die guten?“ Die Argumentation, mit der Sokrates im Folgenden nachweist, dass die Antwort auf diese Frage nur ein klares Nein sein kann, ist am Anfang nicht ganz leicht zu durchschauen. Der Grund dafür ist der, dass Sokrates die Formel ta hēmetera autōn kaka te kai agatha (τὰ ἡμέτερα αὐτῶν κακά τε καὶ ἀγαθά), die mit „die Dinge, die zu uns gehören, die schlechten und die guten“ übersetzt wurde, in zweierlei Sinn gebraucht. 128a2–3 hatte Sokrates zum ersten Mal unterschieden zwi­ schen dem Selbst des Menschen und dem, was zu ihm gehört. Im Fol­ genden hatte er den Unterschied zwischen dem Selbst einer Sache und dem, was zu ihr gehört, an Beispielen wie dem Fuß und dem Schuh und dem Finger und dem Fingerring verdeutlicht, hatte aufgezeigt, dass das Selbst des Menschen allein seine Seele ist und der Körper nur etwas, was zu ihm gehört, und 131a2–3 abschließend konstatiert, dass, wer einen der Teile erkenne, die zu seinem Körper gehören (τῶν τοῦ σώμα­ τός τι), die Dinge erkenne, die zu ihm gehörten (τὰ αὑτοῦ), nicht aber sich selbst (αὑτόν). Daran knüpft er hier an, wenn er die Frage stellt, ob wir, wenn wir uns selbst nicht erkennen, die schlechten und die guten Dinge kennen können, die zu uns gehören. Durch die Hinzufügung der Attribute „schlecht“ und „gut“ bekommt die Formel „die Dinge, die zu uns gehören“ allerdings einen anderen Sinn. Gemeint sind mit ihr nun nicht unser Körper und seine Teile im Unterschied zu unserer Seele, sondern, wie man die Formel ta hēmetera autōn kaka te kai agatha auch übersetzen kann, „die Dinge, die für uns selbst schlecht und gut sind“.239 Im Folgenden lässt Sokrates die beiden Attribute „schlecht“ und „gut“ zunächst beiseite und diskutiert die Frage, um die es geht, in der allge­

239

Vgl. 134d8 τὰ ὑμέτερα ἀγαθά, „die Dinge, die für euch gut sind“.

Erläuterungen

141

meineren Form, ob wir, wenn wir uns selbst nicht erkennen, die Dinge kennen können, die zu uns gehören. Um zu zeigen, dass dies unmöglich ist, zieht er ein Beispiel heran: Wir können die Dinge, die zu einer bestimmten Person wie z. B. Alkibiades gehören, nicht als solche erken­ nen, die zu ihr gehören, wenn wir die betreffende Person nicht kennen, wir können also, um einen simplen Fall zu nennen, wenn wir Alkibiades nicht kennen, nicht erkennen, dass der Arm, den eine uns unbekannte Person ausstreckt, und der Ring, den sie an einem ihrer Finger trägt, Arm und Ring des Alkibiades sind. Die Formel „die Dinge, die zu jemandem gehören“ ist hier in dem landläufigen Sinn gebraucht, in dem der Arm einer Person und der Ring an einem ihrer Finger zu dieser aus Körper und Seele bestehenden Person gehören. Wenn Sokrates anschlie­ ßend (133d5–6) folgert, dass wir also „die Dinge, die zu uns gehören, nicht als solche erkennen können, die zu uns gehören, wenn wir nicht einmal240 uns selbst erkennen,“ dann ist sie dagegen in einem ganz ande­ ren Sinn gebraucht, nämlich in dem, in dem durch sie die Dinge, die nur zu uns gehören, von unserem Selbst geschieden worden waren. Was unser Körper und seine Teile sind, können wir, so betrachtet, nur erken­ nen, wenn wir erkennen, dass unser Körper nicht ein Teil von uns ist, sondern etwas von unserem Selbst Verschiedenes, das in dem Sinn zu uns gehört, dass es ein Instrument ist, dessen sich unser Selbst, unsere Seele, bedient, um das, was zu tun sie sich entschlossen hat, in die Tat umzusetzen. Und Entsprechendes gilt in Bezug auf die Dinge, die zu unserem Körper und seinen Teilen gehören, also von unserem Selbst noch weiter entfernt sind als unser Körper (vgl. 131a11. c1). Sokrates kann daher folgern (133d10–e2): „Es war also schwerlich richtig, wenn wir uns vorhin darauf einigten, dass es Leute gebe, die zwar sich selbst nicht erkennen, wohl aber die Dinge, die zu ihnen gehören, und wiede­ rum andere, die diejenigen Dinge erkennen, die zu den Dingen gehören, die zu ihnen gehören. Es scheint nämlich Sache einer und derselben Per­ son und eines und desselben Fachwissens zu sein, alles dies zu erfassen, sich selbst, die Dinge, die zu einem gehören, und die Dinge, die zu den Dingen gehören, die zu einem gehören.“ Sokrates bezieht sich hier auf das, worauf er und Alkibiades sich 131a2–b3 geeinigt hatten: dass Ärzte und Sportlehrer, insoweit sie Ärzte und Sportlehrer sind,241 nicht sich selbst erkennen, sondern nur ihren Körper und dessen Teile, also nur Dinge, die zu ihnen gehören, und dass 240 „Nicht einmal“ (μηδέ 133d5) insofern, als die Selbsterkenntnis die unverzichtbare Voraus­ setzung dafür ist, dass wir „die Dinge, die zu uns gehören, als solche erkennen, die zu uns gehö­ ren.“ Vgl. „nicht einmal“ (οὐδέ) 131a10. 241 καθ᾿ ὅσον ἰατρός bzw. παιδοτρίβης, 131a5–7.

142

Kommentar

Bauern und Handwerker noch weiter davon entfernt sind, sich selbst zu erkennen, da sie, insoweit es um ihr jeweiliges Fachwissen geht,242 nur solche Dinge erkennen, durch die ihr Körper gepflegt wird, also Dinge, die zu den Dingen gehören, die zu ihnen gehören. Worauf die beiden sich geeinigt hatten, war dies, dass es Leute gebe, die zwar nicht sich selbst erkennen, wohl aber dank spezieller Fachkenntnisse die Dinge, die zu ihnen gehören, bzw. die Dinge, die zu den Dingen gehören, die zu ihnen gehören. Dieses Ergebnis erklärt Sokrates jetzt für falsch, weil sich inzwischen gezeigt hat, dass Selbsterkenntnis die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass wir die Dinge erkennen, die zu uns gehö­ ren, und die, die zu den Dingen gehören, die zu uns gehören. Es sei, so Sokrates, mithin Sache eines und desselben Fachmannes und eines und desselben Fachwissens, „sich selbst, die Dinge, die zu einem gehören, und die Dinge, die zu den Dingen gehören, die zu einem gehören, zu erfassen“ (133e1–2). Das heißt natürlich nicht, dass dieser eine Fach­ mann zugleich auch über das spezielle Fachwissen der Ärzte, Sportleh­ rer, Bauern und Handwerker verfügt; was es heißt, ist dies: Wie der Schuster, um einen Schuh sachgerecht anfertigen oder reparieren zu können, wissen muss, was und wie beschaffen ein Fuß ist (vgl. 128e4– 5), so müssen Ärzte und Sportlehrer, um ihre Berufe fachmännisch aus­ üben zu können, wissen, was der Mensch ist, denn nur so können sie wissen, was für die Menschen von Fall zu Fall das Beste ist. Damit ist die 133c21–23 gestellte Frage beantwortet: Wenn wir uns selbst nicht erkennen, können wir „die schlechten und die guten Dinge, die zu uns gehören,“ nicht kennen bzw. „die Dinge, die für uns selbst schlecht und gut sind“.243 „Wahrscheinlich“ (κινδυνεύει), stimmt Alkibiades zu (133e3) und gibt damit zu erkennen, dass ihm die Sache nicht ganz geheuer ist. 133e4 ff. beschreibt Sokrates zwei Konsequenzen, die sich aus dem im Vorangehenden gewonnenen Ergebnis für den, der sich selbst nicht kennt, in Bezug auf sich selbst und die anderen ergeben. 1. Wer die Dinge, die zu ihm gehören, nicht kennt, der wird aus demselben Grund, d. h. weil er ebenso wie sein eigenes Selbst auch das ihrige nicht kennt, auch die Dinge nicht kennen, die zu den anderen gehören, und auch nicht die Dinge, die zu den Poleis gehören (das letztere fügt Sokrates im Hinblick darauf hinzu, dass Alkibiades in die Politik drängt). Er wird also, wie er nicht weiß, was für ihn selbst gut und schlecht ist, auch nicht wissen, was für seine Mitbürger gut und schlecht ist. Daher kann er

242

κατὰ τὰς τέχνας ἃς ἔχουσιν, 131a11–b1.

243

Vgl. S. 140.

Erläuterungen

143

weder Verwalter eines Hauswesens (οἰκονομικός)244 werden noch Poli­ tiker (πολιτικός), d. h. einer, der die Geschicke einer Polis lenkt. 2. Und er wird auch nicht über ein Wissen verfügen in Bezug auf das, was er tut, und deshalb Fehler begehen. 117d7–118a3 hatte Sokrates aufge­ zeigt, dass die Menschen dann Fehler begehen, wenn sie in Bezug auf das, was sie tun, über Wissen zu verfügen meinen, in Wirklichkeit aber gar nicht darüber verfügen. Ebendies ist unvermeidlich, solange sie nicht wissen, was sie sind. Sie werden daher bei ihrer Einschätzung der Dinge im Allgemeinen und im Besonderen bei ihren Ansichten darüber, was für sie gut und schlecht ist, notwendigerweise ständig schwan­ ken.245 Die Folge wird sein, dass sie, wenn sie handeln, Fehler begehen und im privaten wie im öffentlichen Bereich schlecht handeln. Wie eu prattei (εὖ πράττει) die doppelte Bedeutung „er handelt gut“ und „es geht ihm gut“ hat (vgl. S. 89), so hat kakōs prattei (κακῶς πράττει) hier die doppelte Bedeutung „er handelt schlecht“ und „es geht ihm schlecht“. Wie Sokrates 116b7 folgerte, dass „die, die gut handeln und denen es gut geht“ (hoi eu prattontes in doppelter Bedeutung), glücklich sind (εὐδαίμονες), so folgert er jetzt, dass jemand, „wenn er schlecht handelt und es ihm schlecht geht“ (kakōs prattōn gleichfalls in doppelter Bedeutung),246 unglücklich ist (ἄθλιος). Und er folgert weiter (134a13– 14): „Wenn einer nicht besonnen und tüchtig ist, ist es für ihn also unmöglich, glücklich zu sein.“ 131b4 hatte Sokrates völlig unvermittelt und ohne Erläuterung oder Begründung die Annahme eingeführt, dass das Sich-selbst-Erkennen Besonnenheit sei. 133c18–19 hatte er diese Gleichsetzung wiederholt. An beiden Stellen blieb dunkel, was er damit bezweckte. Hier jetzt lichtet sich das Dunkel: Die Gleichsetzung von Selbsterkenntnis und Besonnenheit an den beiden Stellen bereitete die Änderung der Blickrichtung vor, die Sokrates vollzieht, wenn er 134a13 besonnen (σώφρων) und tüchtig (ἀγαθός) miteinander verbindet. An die Stelle der Selbsterkenntnis, um die es bisher in erster Linie gegangen war, tritt von hier an zunächst die mit ihr gleichgesetzte Besonnenheit und dann die Tüchtigkeit, verstanden im Sinne der sittlichen Tüchtigkeit 244 Gemeint ist der Hausherr, der die Aufsicht führt über die Frauen, Kinder und Sklaven des Hauses und die Verantwortung trägt für die Erhaltung und, wenn möglich, Mehrung des Besitzes. 245 Vgl. 117a10–11; 118a15–b3. 246 Zur Lösung des Übersetzungsproblems, das sich aus dieser doppelten Bedeutung ergibt, bedient sich die Übersetzung hier der gleichen Notlösung wie dort: Wie εὖ πράττει dort an der Stelle, an der die eine Bedeutung gleichsam in die andere umkippt (116b5), in doppelter Weise mit „er handelt gut und es geht ihm gut“ übersetzt wurde, so ist κακῶς πράττει hier an der ent­ sprechenden Stelle (134a9) gleichfalls in doppelter Weise mit „er handelt schlecht und es geht ihm schlecht“ übersetzt. 134d10–e1 operiert Sokrates noch einmal mit der doppelten Bedeutung von εὖ πράττει.

144

Kommentar

(‚Tugend‘) insgesamt (134b9). An deren Stelle treten dann wiederum wenig später jene beiden Formen der sittlichen Tüchtigkeit, die für das Leben in der Polisgemeinschaft besonders wichtig sind, die Besonnen­ heit und die Gerechtigkeit (134c10–11).247 Im Rest des Abschnitts beschreibt Sokrates, was die im Vorangehen­ den gewonnenen Einsichten für das Vorhaben des Alkibiades bedeuten, ins politische Leben Athens einzutreten und dort alsbald alle anderen in den Schatten stellen zu wollen. Wenn, wie sich gezeigt hat, glücklich nur der sein kann, der besonnen und tüchtig ist (134a13–14), dann muss Alkibiades, wenn er „die Geschicke der Polis richtig und schön lenken will“, seinen Mitbürgern dazu verhelfen, an der Tüchtigkeit teilzuhaben; das aber vermag er nur, wenn er selbst an der Tüchtigkeit teilhat. Er muss also sich selbst und der Polis zu Gerechtigkeit und Besonnenheit verhelfen, denn, so Sokra­ tes 134d1–2 zu Alkibiades, „wenn du und die Polis gerecht und beson­ nen handeln, werdet ihr . . .“ – man erwartet: „glücklich sein.“ Sokrates folgert jedoch nicht dies, sondern: „werdet ihr gottgefällig handeln (θεοφιλῶς πράξετε).“ Mit diesem Schwenk verschafft er sich die Möglichkeit, das Ergebnis in die Argumentation einzubeziehen, zu dem das Gespräch 133c8–17 gelangt war: dass es keinen reineren und leuch­ tenderen Spiegel gebe, in dem wir uns selbst erblicken könnten, als Gott und dass wir deshalb, wenn wir auf ihn blickten, „uns selbst am besten sehen und erkennen dürften“ (133c15–16). Dieses Ergebnis greift er hier auf, verbindet es mit der Feststellung, mit der er den ganzen Abschnitt eröffnet hatte, dass wir die schlechten und die guten Dinge, die zu uns gehören, nur dann erkennen können, wenn wir uns selbst erkennen (133c21–23), und zieht daraus folgendes Fazit (134d7–e2): „Wenn ihr (du und die Polis) darauf (auf das Göttliche und Leuchtende) schaut, . . . werdet ihr euch selbst und die Dinge, die für euch gut sind,248 erfassen und erkennen. . . . Und ihr werdet richtig und gut handeln (ὀρθῶς τε καὶ εὖ πράξετε)“ und daher „wahrlich glücklich sein (ἦ μὴν εὐδαιμονή­ σειν).“ Im Anschluss daran (134e4–135b10) zeichnet Sokrates das Gegen­ bild: „Handelt ihr dagegen ungerecht, weil ihr auf das Gottlose und Finstere schaut, dann wird es euch, wie zu erwarten, dementsprechend gehen, weil ihr euch selbst nicht kennt“ (134e4–135b10). Wo immer jemand eine Machtposition innehat, aber nicht über den nötigen Sach­ verstand (νοῦς, 134e9; 135a1. 5) und die nötige fachliche Tüchtigkeit

247 248

Vgl. Prot. 322e2–323a2; Phaid . 82a11–b2. Vgl. S. 140 mit Anm. 239.

Erläuterungen

145

(ἀρετή, 135a6) verfügt, hat dies katastrophale Folgen.249 Das gilt auch für den politischen Bereich. Solange einer nicht selbst über die Tüchtig­ keit verfügt, ohne die keiner glücklich sein kann, soll er nicht Macht ausüben, sondern sich lieber der Macht eines Tüchtigeren unterordnen (134e4–135b10). Sokrates fährt fort (135b11–d7): Was besser ist, ist auch schöner,250 und was schöner ist, ist auch angemessener, angemessener (πρεπωδέσ­ τερον) in dem Sinn, dass eine Person oder Sache und die Art und Weise, in der sie sich präsentiert, zusammenpassen. Dem, der schlecht ist, d. h. über keine Tüchtigkeit verfügt, ist es angemessen, sich wie ein Sklave unterzuordnen, weil es für ihn besser ist so. Wie ein Freier aufzutreten und zu agieren, ist dagegen dem angemessen, der tüchtig ist. Das Gespräch hat ergeben, dass Alkibiades über keine Tüchtigkeit verfügt, seine Verfassung also die einem Sklaven angemessene ist. Von Sokrates gefragt, wie er dieser Verfassung entkommen könne, antwortet Alkibia­ des (135d3): „Wenn du es willst, Sokrates.“ Sokrates korrigiert ihn. Hei­ ßen müsse es (135d7): „Wenn Gott es will.“ Das greift das auf, wovon am Anfang des Dialogs die Rede gewesen war: dass Sokrates ohne die Einwilligung des Gottes, die im Falle des Alkibiades darin bestand, dass das Daimonion seinen Widerstand aufgab, sich nicht um das Wohl jun­ ger Menschen bemühen kann. Eine vergleichbare Konstellation findet sich im Theages .251 Hier ist die Situation die, dass der junge Theages sich Sokrates als Schüler anschließen und durch das Zusammensein mit ihm besser werden möchte, aber den Eindruck hat, Sokrates verweigere sich dem; denn, so Theages, dass Sokrates in der Lage sei, junge Leute besser zu machen, das wisse er, da er unter seinen Altersgenossen einige kenne, die im Umgang mit Sokrates in kurzer Zeit gewaltige Fortschritte gemacht hätten. Darauf Sokrates: „Weißt du, was es damit auf sich hat . . .?“ Antwort des Theages: „Ja, bei Zeus, ich weiß, dass, wenn du nur willst, auch ich in der Lage sein werde, genauso zu werden wie sie“ (128c6–8). Daraufhin belehrt Sokrates ihn in einem langen Exkurs über sein Daimonion und dessen Wirksamkeit und schließt mit den Worten (130e5–7): „Wenn es dem Gott lieb ist, wirst du sehr große und rasche Fortschritte machen; ist dies nicht der Fall, dann nicht.“

249 135a1–2 ὡς … αὐτῷ ist der Text in drei Varianten überliefert, die allesamt korrupt sein müssen. Zur Überlieferung und den Heilungsvorschlägen vgl. den Apparat in der Ausgabe von Carlini. Ich schlage versuchsweise vor ὡς μηδέν᾿ ἐπιπλήττειν αὐτῷ. ὡς = ὥστε kommt bei Platon zwar nur selten vor, aber es kommt vor, vgl. Bluck 1964, 208 zu 71a5. 250 Mit der Gleichsetzung von gut und schön hatte Sokrates schon 115a11–116c6 argumentiert (vgl. S. 86–90). 251 Vgl. dazu Döring 2004, 57–67.

146

Kommentar

Schluss: 135d7–e8 Sokrates’ Befürchtung, Alkibiades werde dem verderblichen Einfluss der Menge nicht standhalten können. Der Dialog endet mit einer ‚Liebeserklärung‘ des Alkibiades an Sokra­ tes: Von nun an würden ihre Rollen vertauscht sein, er werde Sokrates wie der Knabenaufseher seinen Schützling begleiten und Sokrates werde von ihm wie der Schützling von seinem Knabenaufseher begleitet werden. Sokrates greift den Gedanken des Rollentausches auf und spinnt ihn weiter. Auf eine in der Antike verbreitete Vorstellung252 anspielend entgegnet er: Seine Liebe253 sei offenbar von gleicher Art wie die der Störche, bei denen zunächst die Eltern ihre Jungen und spä­ ter die Jungen ihre alt gewordenen Eltern pflegten. Alkibiades kündigt an, er werde alsbald damit beginnen, sich um die Gerechtigkeit zu bemühen. Darauf Sokrates (135e6–8): „Ich wünschte wohl, dass du auch dabei verharrst; doch fürchte ich, nicht weil ich deiner Natur miss­ traue, sondern weil ich die Stärke der Polis vor Augen habe, dass diese mich und dich überwältigt.“ Das ist ein doppeltes vaticinium ex eventu . Jeder Leser wusste, wie es mit Sokrates und Alkibiades weitergegangen war: Dass Alkibiades, wie Sokrates es an einer früheren Stelle (132a2– 3) formuliert hatte, sehr bald ein „Liebhaber des Volkes“ und dadurch „verdorben“ wurde und dass die Athener Sokrates 399 mit der Begrün­ dung, er verderbe die Jugend, zum Tod verurteilten und hinrichteten.

252 Aristoph. Av. 1353–1357; Aristot. hist. an. VIII (IX) 13, 615b23–24; Ail. nat. 3, 23 u. ö.; vgl. Keller 1913, 193. 253 Als „geflügelt“ (ὑπόπτερος) wird die Liebe (ἔρως) 135e2 deshalb bezeichnet, weil der Liebesgott Eros als geflügelter Jüngling oder später Knabe gedacht und dargestellt wurde.

APPENDIZES

1. Sokrates und Alkibiades in den Dialogen der Sokratiker „Sokrates und Alkibiades“ ist ein häufig behandelter Gegenstand in den Dialogen der Sokratiker. Keine andere Gestalt ist Titelfigur so vieler sokratischer Dialoge wie Alkibiades. Erhalten sind von diesen Dialogen allerdings nur zwei, die beiden im Corpus Platonicum erhaltenen Alki­ biades-Dialoge. Von den sonstigen Alkibiades-Dialogen kennen wir nur den Alkibiades des Aischines aus Sphettos genauer; aufgrund der relativ zahlreichen und zum Teil umfangreichen erhaltenen Zeugnisse lässt er sich in seinen Grundzügen rekonstruieren (SSR VI A 41–54; vgl. S. 153– 154). Vom Alkibiades des Eukleides aus Megara kennen wir nicht mehr als den Titel (SSR II A 10). Auch Antisthenes wird in dem bei Diogenes Laertios erhaltenen Verzeichnis seiner Schriften ein Alkibiades zuge­ schrieben (SSR V A 41, 73). Allerdings gab es in der Antike Zweifel an der Echtheit dieser Schrift. Der Stoiker Persaios (Diog. Laert. 2, 61 = SSR V A 43, 4–5 = FGrHist 1004 T 4)254 und möglicherweise auch der ursprüngliche Verfasser des bei Diogenes Laertios (6, 15–18) überliefer­ ten, in vieler Hinsicht problematischen Verzeichnisses der Schriften des Antisthenes waren der Meinung, der Alkibiades stamme nicht von Anti­ sthenes.255 Eine Begründung dafür wird nicht genannt, und so lässt sich schwer einschätzen, was von dieser Athetese zu halten ist. Wie wenig man sich auf derartige antike Athetesen verlassen kann, zeigen Nach­ richten wie die, dass Persaios auch die meisten Dialoge des Aischines für unecht erklärt (SSR VI A 22, 6–7)256 oder dass der Biograph Satyros behauptet habe, die Tragödien des Diogenes aus Sinope stammten in Wirklichkeit von Diogenes’ Freund Philiskos aus Aigina (Satyros F 1 Schorn = SSR V B 128, 1–3. 7–8),257 oder auch die schon wenige Jahr­ zehnte nach dem Tod des Aischines kursierende absurde Behauptung, Aischines’ Dialoge stammten in Wirklichkeit von Sokrates und Aischi­ nes habe sie, nachdem er sie nach dem Tod des Sokrates von Xanthippe geschenkt bekommen habe, als seine eigenen ausgegeben.258 Die in der Suda, einer im 10. Jhdt. n. Chr. zusammengestellten byzantinischen Enzyklopädie, zu findende Behauptung, Phaidon aus Elis habe einen 254

Zur Deutung des korrupt überlieferten Textes A. Patzer 1970, 102–105. Vgl. dazu A. Patzer 1970, 131–133 und zuletzt Neuhausen 2010, 220–221. 256 Zum Text auch hier wieder A. Patzer 1970, 102–105. Wie den Alkibiades und einige andere Schriften des Antisthenes (Diog. Laert. 2, 61 = SSR V A 43) schrieb Persaios diese Dia­ loge einem so gut wie unbekannten Mann namens Pasiphon zu (zu ihm Döring 2000). 257 Favorin hielt den Anm. 256 erwähnten Pasiphon für den wahren Verfasser (SSR V B 128, 3–7). 258 Vgl. dazu Döring 1998, 203. 255

150

Appendizes

Alkibiades verfasst (SSR III A 8, 6), scheint eine Fehlinformation zu sein.259 Außer in den nach Alkibiades benannten Dialogen wurde das Verhältnis zwischen Alkibiades und Sokrates auch in einigen anderen Dialogen von Sokratikern teils mehr, teils weniger ausführlich themati­ siert, so in Platons Dialogen Protagoras (309a1–b9. 316a3–5. 336b7– e4) und Gorgias (481d1–5. 519a7–8) und vor allem in seinem Sympo­ sion (212d3–223a9) und, zumindest sehr wahrscheinlich, in Phaidons Zopyros (vgl. S. 158). Wie Eukleides Alkibiades und seine Beziehung zu Sokrates darstellte, wissen wir nicht, da wir von seinem Alkibiades, wie erwähnt, nicht mehr als den Titel kennen. Was Antisthenes betrifft, ist die Situation nur geringfügig besser.260 Unter den die Schriften des Antisthenes betreffen­ den Zeugnissen findet sich nur ein einziges, in dem es um die Beziehung zwischen Sokrates und Alkibiades geht (SSR V A 200 = FGrHist 1004 F 4). Es ist dies ein kurzes im Originalwortlaut erhaltenes Fragment aus einer Schrift des Antisthenes, in dem Sokrates mit einem Nichtathener (ξένος) über den Tapferkeitspreis spricht, der ihm nach der Schlacht beim Delion zuerkannt wurde (mehr zu diesem Fragment S. 157). Dane­ ben gibt es einige wenige Zeugnisse, die Angaben darüber enthalten, wie Antisthenes Alkibiades in seinen Schriften darstellte. Wir erfahren aus diesen Zeugnissen, dass er ihn als stark, männlich, bar jeder Erzie­ hung, tollkühn und schön beschrieben habe (SSR V A 198 und 199 = FGrHist 1004 F 1 und F 3ab) und dass seine Amme eine Spartanerin namens Amykla gewesen sei (SSR V A 201 = FGrHist 1004 F 2). Als Quelle wird in diesen Zeugnissen immer nur Antisthenes, nie eine bestimmte Schrift genannt. Anders ist dies im Falle eines weiteren Zeugnisses. Dort heißt es, Antisthenes habe in einer seiner Schriften mit dem Titel Kyros261 über Alkibiades gesagt, er habe sich, was seinen Umgang mit Frauen und seine ganze Lebensweise betraf, über alle gän­ gigen Normen hinweggesetzt und „mit Mutter, Tochter und Schwester verkehrt wie die Perser“ (SSR V A 141 = FGrHist 1004 F 5ab). Den wenigen weiteren mit Sicherheit den Kyros-Schriften des Antisthenes zuzuordnenden Zeugnissen, die Angaben darüber enthalten, wie Anti­ 259

Döring 1998, 239. Die zahlreichen Probleme, denen sich jeder konfrontiert sieht, der sich darum bemüht herauszufinden, wie Antisthenes die Beziehung zwischen Sokrates und Alkibiades dargestellt hat, können hier nur in groben Zügen abgehandelt werden. Unter der Überschrift „Der ‚Alkibiades‘Dialog des Antisthenes“ sind sie von Neuhausen (2010, 220–238) eingehend erörtert worden. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass sich meine Deutung der relevanten Zeugnisse in mehreren Punkten von derjenigen Neuhausens unterscheidet. 261 Wie viele es waren und wie die Titel im Einzelnen lauteten, ist ungewiss; vgl. dazu zuletzt Neuhausen 2010, 222–225. 260

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sthenes Kyros (gemeint ist Kyros d. Gr., der Gründer des Perserreiches) in diesen Schriften beschrieb, ist zu entnehmen, dass Antisthenes am Beispiel des Kyros zeigte, dass das Sich-Abmühen (πόνος) entgegen landläufiger Auffassung etwas Gutes sei, dass eine namentlich nicht genannte Person zu Kyros gesagt habe, dass es das Los von Königen sei, Gutes zu tun und doch einen schlechten Ruf zu haben, und dass Kyros auf die Frage, was man am dringlichsten lernen müsse, geantwor­ tet habe, „die üblen Dinge zu verlernen“ (SSR V A 85–87).262 Soweit erkennbar, stellte Antisthenes Kyros in seinen Kyros-Schriften als Mus­ terbild eines Königs dar, der in seinem Denken und Handeln die Prinzi­ pien der antisthenischen Philosophie verwirklichte. Bedenkt man nun das zitierte vernichtende Urteil, das Antisthenes in einer seiner KyrosSchriften über Alkibiades fällte, dann liegt die Annahme nahe, Antisthe­ nes habe in dieser Schrift dem idealisierten Kyros Alkibiades als negati­ ves Gegenbild gegenübergestellt. Ist diese Annahme richtig, dann erklärt sich, wieso Antisthenes behaupten konnte, Alkibiades habe „wie die Perser“ mit Mutter, Tochter und Schwester verkehrt. Die Vorstel­ lung, dass Derartiges bei den Persern vorkomme, ja üblich sei, war bei den Griechen verbreitet. In den sog. Dissoi Logoi, einem um 400 v. Chr., also etwa zur gleichen Zeit wie die Schriften des Antisthenes verfassten, anonym überlieferten Traktat, heißt es lapidar (2, 15, II p. 408, 22–24 DK): „Die Perser halten es für schön, mit ihrer Tochter, ihrer Mutter und ihrer Schwester zu verkehren, die Griechen dagegen für hässlich und gesetzwidrig.“263 Natürlich behauptete Antisthenes in seinem Kyros nicht, dass Kyros derartige Dinge getrieben habe;264 was er behauptet zu haben scheint, war, dass der Grieche Alkibiades Dinge getrieben habe, die man bei den Griechen mit Abscheu den Persern zuschrieb. Das war gewiss übertrieben, aber nicht völlig erfunden. Immerhin gab es Gerüchte wie das folgende, von dem Lysias in einer seiner Reden berichtete (fr. 8 Carey): Alkibiades und sein Onkel Axiochos hätten in 262

Zu weiteren Zeugnissen, aus denen sich möglicherweise Rückschlüsse auf die Darstellung des Kyros in den Schriften des Antisthenes ziehen lassen, vgl. Mueller-Goldingen 1995, 36–44. 263 Vgl. Xanthos, FGrHist 765 F 31; Ktesias F 44 Lenfant; Sotion fr. 36 Wehrli; Catull 90, 3– 4; Strab. 15, 3, 20; Philo De specialibus legibus 3, 13. Zur Frage nach dem realen Hintergrund für die Behauptung, der Verkehr mit Müttern, Töchtern und Schwestern sei bei den Persern üblich gewesen, vgl. Macuch 1991. 264 In diesen Zusammenhang passt gut die folgende im Gnomologium Vaticanum (Nr. 376) und mit kleinen Erweiterungen auch in Arsenius’ Violetum (p. 507, 12–15 Walz) überlieferte Anekdote, von der mehrfach vermutet wurde, sie könne auf eine der Kyros-Schriften des Anti­ sthenes zurückgehen (vgl. Neuhausen 2010, 231 Anm. 45): „Als der König Kyros einmal eine wohlgestaltete Frau sah und einer sagte: ‚Da du ein König bist, ist es dir, wenn du willst, erlaubt, über sie zu verfügen‘, sagte er: ‚Einem König ist es nicht erlaubt, nicht besonnen zu sein.‘“

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Abydos beide mit der Hetäre Medontis verkehrt. Als Medontis eine Tochter geboren habe, sei daher unklar gewesen, wer ihr Vater sei. Nachdem diese Tochter dann herangewachsen gewesen sei, hätten beide auch mit ihr verkehrt, wobei jeder der beiden zu seiner Rechtfertigung vorgebracht habe, Medontis sei ja die Tochter des anderen.265 Das äußerst negative Urteil, das Antisthenes in der Kyros-Schrift über Alki­ biades fällte, unterscheidet sich deutlich von der Art, in der er Alkibia­ des sonst beschrieb. Dieser Unterschied erklärt sich am einfachsten in der Weise, dass die anderen Zeugnisse, in denen immer nur Antisthenes, nie aber eine bestimmte Schrift als Quelle genannt wird (SSR V A 198– 201), aus einer anderen Schrift hergeleitet sind, in der Alkibiades zwar auch durchaus kritisch betrachtet, aber nicht so negativ beurteilt wurde. Diese Schrift war aller Wahrscheinlichkeit nach der Dialog Alkibiades.266 Über den Ablauf dieses Dialogs auch nur Vermutungen anzustellen, ist unmöglich. Deutlich ist aber dies, dass alles, was Antisthenes in ihm über Alkibiades schrieb, problemlos mit dem vereinbar ist, was bei Aischines und Platon in ihren Dialogen, den Alk. 1 eingeschlossen, über ihn und seine Beziehung zu Sokrates zu lesen war. In den erhaltenen oder wie im Fall des Alkibiades des Aischines zumindest in groben Zügen rekonstruierbaren sokratischen Dialogen wird die Beziehung zwischen Sokrates und Alkibiades immer als eine erotische Beziehung dargestellt,267 freilich als eine erotische Beziehung höchst ungewöhnlicher, für landläufige Vorstellungen geradezu parado­ xer Art. Einerseits wird sie nach dem Muster üblicher homoerotischer Beziehungen beschrieben, anderseits wird jedoch immer aufs Deut­ lichste zum Ausdruck gebracht, dass es sich, zumindest vonseiten des Sokrates, um eine rein geistige Beziehung handelte. Was Antisthenes betrifft, gibt es zwar kein Zeugnis, das Rückschlüsse darauf ermöglicht, ob auch er die Beziehung zwischen Sokrates und Alkibiades als eine erotische beschrieb. Bedenkt man jedoch, welche Rolle dieses Thema in 265

Auf dieses Gerücht scheint Lysias an einer Stelle der ersten seiner zwei Reden gegen den Sohn des Alkibiades, der gleichfalls den Namen Alkibiades trug, anzuspielen (Lys. 14, 41; vgl. Gribble 1999, 76 Anm. 207. 94). Diesem Sohn selbst warf man eine sexuelle Beziehung zu seiner Schwester vor (Lys. 14, 28). Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang darauf, dass der Sokrati­ ker Aischines in seinem nach dem Onkel des Alkibiades benannten Dialog Axiochos, in dem die­ ser Onkel also eine Rolle gespielt haben muss, Alkibiades aufs Schärfste tadelte, weil er trunk­ süchtig und hinter fremden Frauen her sei (SSR VI A 56). 266 Mag dieser, was ich für das Wahrscheinlichste halte, von Antisthenes selbst verfasst oder ihm, wie Persaios meinte, fälschlicherweise zugeschrieben worden sein. Das Zeugnis SSR V A 202 ist nicht, wie Giannantoni meint, aus dem Alkibiades des Antisthenes, sondern aus dem Alk. 1 hergeleitet (vgl. A. Patzer 1999, 5–7 = 1012b, 207–209). 267 Im Zweiten Alkibiades allerdings nur in sehr verhaltener Form; vgl. S. 158–159.

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den sokratischen Dialogen insgesamt spielte, dann muss man es für sehr wahrscheinlich halten, dass dies der Fall war. Sicher ist, dass dieses Motiv den Lesern sokratischer Dialoge in der ersten Hälfte der 380er Jahre wohlvertraut war. Das ergibt sich aus dem Gebrauch, den Platon in den Dialogen Protagoras und Gorgias, die wohl in diese Zeit zu datieren sind,268 von ihm macht. Der Protagoras beginnt damit, dass ein namentlich nicht genannter Freund mit Sokrates zusammentrifft und ihn mit folgenden Worten anredet (Prot. 309a1–2): „Woher kommst du, Sokrates? Doch wohl offenkundig von der Jagd nach der jugendlichen Schönheit des Alkibiades?“, worauf sich dann ein kurzer Dialog zwi­ schen Sokrates und dem Freund zu dem angesprochenen Punkt entwi­ ckelt. Und im Gorgias stellt Sokrates einmal die folgende Parallele zwi­ schen sich und Kallikles fest (481d1–5): „Uns beiden geht es gleich, jeder von uns beiden ist zweifach verliebt, ich in Alkibiades, den Sohn des Kleinias, und die Philosophie, du in das Volk (dēmos) der Athener und in den Sohn des Pyrilampes“ (der, das ist die Pointe, den Namen Dēmos trug). In großem Stil wird im Schlussteil des Symposions mit dem Motiv gespielt. Dazu später (S. 155–158). Ein zentrales Thema war das Thema Eros im Alkibiades des Aischines aus Sphettos. In diesem Dialog269 berichtete Sokrates einem oder mehre­ ren uns unbekannten Gesprächspartnern von einer Begegnung mit dem jungen Alkibiades. Dieser wurde in dem Dialog beschrieben als ein jun­ ger Bursche, der sich in seinem schier grenzenlosen Selbstbewusstsein nicht nur allen Zeitgenossen überlegen fühlt, sondern auch den großen athenischen Politikern der Vergangenheit. An diesem Punkt setzte So­ krates an. Ausgehend von der Person des Themistokles öffnete er Alki­ biades die Augen dafür, wie es wirklich um ihn und seine Fähigkeiten bestellt sei. Zunächst nötigte er ihn anzuerkennen, dass Themistokles sich nicht etwa von Anfang an durch besondere Klugheit auszeichnete, diese also nicht einer angeborenen Begabung verdankte, sondern dass er sie sich erst im Laufe der Zeit aneignete. Danach hielt er ihm zwei der überragenden Leistungen vor Augen, die Themistokles dank seiner überlegenen Einsicht vollbrachte, wies ihn darauf hin, dass diese überle­ gene Einsicht Themistokles nicht davor bewahrt habe, von seinen Mit­ bürgern schließlich geächtet und in die Verbannung geschickt zu wer­ den, und fügte, an Alkibiades gewandt, hinzu (SSR VI A 50, 41–43): „Wie, meinst du, steht es nun wohl mit gewöhnlichen Menschen, die 268

Vgl. Erler 2007, 185 und 132–133. Dieser und der folgende Absatz sind übernommen aus Döring 1998, 204–205. Zum Alki­ biades des Aischines und den Dialogen des Aischines insgesamt vgl. Döring 1984, 16–30 = 2010, 195–208 sowie Kahn 1994 (gekürzte Fassung in: Kahn 1996, 18–29) und Giannantoni 1997. 269

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keine Sorgfalt auf sich verwenden? Ist es nicht schon erstaunlich, wenn sie auch nur ihre kleinen Angelegenheiten in Ordnung halten können?“ Die Worte des Sokrates verfehlten ihre Wirkung nicht: Alkibiades, der bis dahin geglaubt hatte, allein dank der einzigartigen Begabung, mit der er ausgestattet zu sein meinte, ohne irgendwelche Bemühung um sich selbst alles besser machen zu können als die anderen, war zutiefst erschüttert, legte seinen Kopf auf die Knie des Sokrates und brach in Tränen aus, voller Verzweiflung darüber, dass er nicht im Entferntesten an einen Mann wie Themistokles heranreiche, ja dass er, der Aristokrat, sich von dem geringsten seiner Mitbürger in nichts unterscheide. Er bat Sokrates, ihm zur Tüchtigkeit zu verhelfen und die Schmach der Jäm­ merlichkeit von ihm zu nehmen. Am Schluss des Dialogs resümierte Sokrates, dass er Alkibiades offenbar genützt habe, allerdings nicht auf­ grund irgendeines Fachwissens (τέχνη), das er beherrsche, sondern auf­ grund göttlicher Fügung (θεία μοῖρα). Bei den Kranken gebe es neben Heilungsprozessen, die durch ärztliches Fachwissen bewirkt würden, auch solche, die durch göttliche Fügung zustande kämen. Entsprechen­ des gelte für den Bereich der sittlichen Besserung (SSR VI A 53, 26– 27): „So glaubte auch ich, ich könnte Alkibiades, obwohl ich nicht im Besitz eines Wissens bin, durch dessen Vermittlung an einen anderen Menschen ich diesem nützen könnte, dennoch durch meinen Umgang mit ihm aufgrund meiner Liebe besser machen.“ Mit diesen Worten endete der Dialog. Wir wissen nicht, wie Sokrates den Bericht von sei­ nem Zusammentreffen mit Alkibiades begann. Bedenkt man, was er am Schluss über seine Liebe sagt, die es ihm ermöglicht habe, Alkibiades zum Besser-Werden zu verhelfen, dann kann man sich gut vorstellen, dass auch am Anfang des Dialogs von dieser Liebe die Rede war. In Anlehnung an den 1972 durch einen Papyrusfund bekannt gewordenen Anfang des Miltiades des Aischines (SSR VI A 76) könnte man sich den Anfang des Dialogs z. B. so vorstellen: Sokrates berichtete, dass, als er zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort mit einem oder meh­ reren anderen zusammengesessen habe, der junge Alkibiades vorbeige­ kommen sei. Dieser habe sogleich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und sein Gesprächspartner bzw., falls es mehrere waren, einer seiner Gesprächspartner habe ihn gefragt, wie es denn um seine Liebe zu Alki­ biades bestellt sei (vgl. Prot. 309a1–b9). Er habe Alkibiades daraufhin zu sich gerufen und mit ihm das Gespräch geführt, das den Hauptteil des Dialogs bildete.270

270

SSR VI A 43, 4–5 zeigt, dass mindestens ein weiterer Dialog des Aischines ähnlich wie der Miltiades begann. Dies kann, muss aber nicht, der Alkibiades gewesen sein.

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Das Kurzreferat des Inhalts des Alkibiades lässt erkennen, dass zwi­ schen dem Alkibiades des Aischines und dem Alk. 1, was den Gesprächs­ verlauf betrifft, in mehrfacher Hinsicht Übereinstimmungen bestehen. Genannt seien nur die auffälligsten: 1. Die ungeheure Selbstüberschät­ zung des Alkibiades, der meint, allein aufgrund seiner einzigartigen Begabung allen anderen überlegen zu sein. 2. Alkibiades’ Überzeugung, auch den bedeutendsten Gestalten auf dem Gebiet der Politik wie The­ mistokles (bei Aischines) und Perikles und den Königen der Spartaner und der Perser (im Alk. 1) überlegen zu sein. 3. Sokrates’ Nachweis, dass dies keineswegs der Fall ist. 4. Alkibiades’ Eingeständnis, sich selbst völlig falsch eingeschätzt zu haben, seine Bereitschaft, sich von nun an um sich zu bemühen, und seine Bitte an Sokrates, ihm dabei behilflich zu sein. 5. Sokrates’ Liebe zu Alkibiades und seine sich daraus herlei­ tende Bereitschaft, ihm bei seiner Bemühung um sich selbst zu helfen. Der Schlussteil des platonischen Symposions, in dem beschrieben wird, wie der betrunkene Alkibiades bei dem Gastmahl anlässlich des Tragödiensieges des Agathon im Jahre 416 erscheint und eine Lobrede auf Sokrates hält, wird hier nur insoweit betrachtet, als es in ihm expres­ sis verbis um die Beziehung Sokrates/Alkibiades geht. Sobald Alkibiades eingelassen worden ist und entdeckt hat, dass man ihm einen Platz zwischen Agathon und Sokrates zugewiesen hat, hält er Sokrates mit gespielter Empörung vor, dass dieser es mit seinen Tricks wieder einmal erreicht habe, den Platz neben dem Schönsten unter den Anwesenden, Agathon, zu erhalten, woraufhin Sokrates sich mit ebenso großer gespielter Empörung darüber erregt, dass Alkibiades ihn in uner­ träglicher Weise mit seiner Eifersucht verfolge (symp. 213b6–d8). Wenig später greifen die beiden diese gespielte Auseinandersetzung noch einmal auf (214d2–e5). Zu Beginn seiner Lobrede vergleicht Alkibiades Sokrates mit dem Satyrn Marsyas. Dieser habe die Menschen durch sein Aulosspiel bezaubern und völlig in seine Gewalt bringen können. Sokrates besitze die Fähigkeit, das Gleiche zu bewirken ohne irgendein Instrument, allein durch seine Worte. Wer immer ihm zuhöre, werde erschüttert und gerate in seinen Bann. Er, Alkibiades, habe dies immer wieder am eige­ nen Leib erfahren, erfahre es noch jetzt – er ist zu der Zeit, zu der das Gastmahl stattfindet, ca. 35 Jahre alt – und werde es auch in Zukunft immer wieder erfahren: Sobald er mit Sokrates zusammen sei, zwinge ihn dieser zuzugeben, dass er, obwohl er doch noch so viele Schwächen habe, sich nicht um sich selbst kümmere, sondern die Angelegenheiten der Athener betreibe. Solange er mit ihm zusammen sei, könne er nicht bestreiten, dass man so handeln müsse, wie er es vorschreibe. Sobald er sich dann aber von ihm getrennt habe, lasse er sich vom Beifall der

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Menge überwältigen. So sei er in einem ständigen Dilemma. Das gehe so weit, dass er manchmal wünschte, Sokrates würde nicht mehr unter den Lebenden weilen. Er wisse jedoch genau, dass er dies, wenn es denn geschähe, noch viel schwerer ertragen könnte (215a4–216c3). Alkibiades fährt fort: Jedermann habe den Eindruck, dass Sokrates in die schönen jungen Männer verliebt sei, sich ständig mit ihnen abgebe und von ihnen verzückt sei. Dies sei jedoch nur Verstellung und Spiel. In Wirklichkeit seien ihm äußere Schönheit und Dinge wie Reichtum, öffentliches Ansehen u. ä. völlig gleichgültig und hätten keinerlei Ein­ fluss auf ihn. Er selbst habe dies aufs Schmerzlichste erfahren müssen. Im Vertrauen auf seine Schönheit habe er als junger Bursche271 geglaubt, Sokrates als Liebhaber an sich fesseln zu können. Um dieses Ziel zu errei­ chen, habe er es einzurichten verstanden, dass er mit ihm ohne den Skla­ ven, der ihn zu begleiten pflegte, zusammengekommen sei, dass er mit ihm Ringkämpfe ausgetragen habe (was in unbekleidetem Zustand geschah), dass er ihn zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen und ihn im Anschluss daran dazu gebracht habe, bei ihm zu bleiben und schließlich sogar in einem Bett und unter einer und derselben Decke mit ihm zu schlafen – alles ohne auch nur die leiseste erotische Erregung bei ihm hervorrufen zu können. Die Situation, in der er sich danach befunden habe, sei die folgende gewesen: Einerseits habe er sich gedemütigt gefühlt, andererseits aber Sokrates’ Natur und seine Besonnenheit (σωφροσύνη) und Mannhaftigkeit (ἀνδρεία) bewundert und bei ihm ein Maß von Einsicht (φρόνησις) und Selbstbeherrschung (καρτερία) kennengelernt, wie er es bei einem Menschen nie für möglich gehalten hätte. Er habe Sokrates daher weder zürnen und sich von ihm trennen kön­ nen, noch habe er gewusst, wie er ihn für sich gewinnen könne. Wie einen Sklaven habe Sokrates ihn völlig in seiner Gewalt gehabt (216c4–219e5). Im Folgenden rühmt Alkibiades eine ganz andere Seite des Sokrates, seine überragenden Leistungen als Soldat. In diesem Zusammenhang kommt er auf zwei militärische Aktionen zu sprechen, an denen er und Sokrates gemeinsam teilgenommen hätten. Als er, Alkibiades, in der Schlacht bei Poteidaia (einer Stadt auf der Chalkidike) verletzt worden sei, habe Sokrates ihn nicht allein lassen wollen, sondern ihn selbst und seine Rüstung gerettet (432). Er habe deshalb von den Generälen gefor­ dert, Sokrates den Tapferkeitspreis zuzuerkennen. Als die Generäle die­ sen Preis mit Rücksicht auf seinen gesellschaftlichen Rang jedoch lieber ihm hätten verleihen wollen, habe Sokrates dies mit größtem Eifer befürwortet, und so habe er den Preis erhalten und nicht Sokrates, der 271

Die im Folgenden beschriebene Episode muss man sich als in einer Zeit spielend denken, zu der Alkibiades noch nicht volljährig war.

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ihn eigentlich verdient gehabt hätte. Höchst eindrucksvoll sei auch So­ krates’ Verhalten gewesen, als sich die Athener nach der Niederlage gegen die Böotier beim Delion (einem dem Delischen Apollon geweih­ ten Tempel am Golf von Euböa wenige Kilometer nördlich von Oropos) auf dem ungeordneten Rückzug befunden hätten (424). Selbst zu Pferd und deshalb weniger gefährdet als Sokrates als Fußsoldat sei er damals inmitten des Durcheinanders auf Sokrates gestoßen. Sogleich habe er ihm zugerufen, guten Mutes zu sein, und ihm versprochen, ihn nicht allein zu lassen. Das sei jedoch gar nicht nötig gewesen. Den Blick ruhig musternd auf Freund und Feind gerichtet, habe Sokrates bei jedermann den sicheren Eindruck erweckt, dass er sich sehr kräftig wehren würde, sollte ihm jemand zu nahe kommen. Und so sei er unbeeinträchtigt davongekommen (219e5–221c1). Wie weiter oben erwähnt, war von den Geschehnissen bei Poteidaia und beim Delion, von denen Alkibiades hier berichtet, auch in einer der Schriften des Antisthenes, wahrscheinlich seinem Alkibiades, die Rede. Interessanterweise wich Antisthenes’ Darstellung von derjenigen Pla­ tons in zweifacher Hinsicht ab. Von einem Gespräch, in dem sich einige Nichtathener mit Sokrates über Dinge unterhielten, die ihnen im Hin­ blick auf seine Kriegstaten bei Poteidaia und beim Delion zu Ohren gekommen waren, ist ein Bruchstück erhalten, das so lautet (SSR V A 200, 5–8 = FGrHist 1004 F 4): „Wir hören, dass du (Sokrates) auch in der Schlacht gegen die Böotier (= beim Delion) den Tapferkeitspreis erhalten hast. – Gottbewahre, Fremder! Alkibiades gehört die Auszeich­ nung, nicht mir. – Weil du sie ihm überlassen hast, wie wir hören.“ Die Fremden haben gehört, dass Sokrates sowohl bei Poteidaia als auch beim Delion den Tapferkeitspreis zugesprochen bekommen habe. So­ krates dementiert dies im Hinblick auf das Delion; dort habe Alkibiades den Preis erhalten. Den Fremden ist dies bekannt. Sie wissen aber auch, dass Alkibiades den Preis nur erhielt, weil Sokrates ihn an ihn abtrat. Was die historischen Fakten betrifft, kann als sicher gelten, dass Sokra­ tes an den Kämpfen bei Poteidaia und beim Delion beteiligt war (apol. 28d10–e4) und dass Alkibiades auf dem Feldzug gegen Poteidaia mit dem Tapferkeitspreis ausgezeichnet wurde (Isokr. 16, 29–30). Dafür, dass Alkibiades auch an dem Feldzug gegen die Böotier teilnahm, bei dem die Athener beim Delion eine schwere Niederlage hinnehmen mussten, gibt es zwar kein von den Schriften der Sokratiker unabhängi­ ges ausdrückliches Zeugnis, es lässt sich jedoch mit großer Wahrschein­ lichkeit erschließen, dass dies der Fall war.272 A. Patzer hat gezeigt,273 272 273

Von der Mühll 1966, 235–236 = 1975, 352–354. A. Patzer 1999, 28–35 = 2012b, 238–247.

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dass alles, was in den Darstellungen Platons und des Antisthenes über die genannten Fakten hinausgeht, wahrscheinlich erfunden ist. Spekula­ tionen darüber, warum Antisthenes und Platon die Dinge verschieden dargestellt haben, verbieten sich, da wir den Kontext nicht kennen, in dem Antisthenes auf sie zu sprechen kam. In der späteren Literatur wurde übrigens eine weitere Sokrates-Geschichte im Zusammenhang mit der Niederlage beim Delion erzählt. Ihr zufolge soll Sokrates auf der Flucht dadurch gerettet worden sein, dass das Daimonion ihm an einer Weggabelung riet, einen anderen Weg als die Übrigen einzuschlagen. Auch diese Geschichte scheint auf eine Schrift eines Sokratikers zurück­ zugehen.274 Am Schluss seiner Lobrede greift Alkibiades das erotische Geplänkel vom Anfang noch einmal auf. Er beschließt sie mit einer scherzhaften Warnung an die Adresse Agathons, sich vor Sokrates in Acht zu nehmen (222a7–b7). Als allgemein bekanntes Faktum erschien die Liebesbeziehung zwi­ schen Sokrates und Alkibiades, wie es scheint, auch in dem Dialog Zopyros des Sokratesschülers Phaidon. Man nimmt wohl zu Recht allge­ mein an, dass die Geschichte von dem Zusammentreffen des Sokrates mit dem Physiognomen Zopyros, die bei Cicero275 und anderen Autoren überliefert ist, auf den Dialog Zopyros des Sokratesschülers Phaidon aus Elis zurückgeht. Berichtet wurde, dass Zopyros einst nach Athen gekommen sei und sich anheischig gemacht habe, jedermanns Veranla­ gung aus seiner äußeren Erscheinung abzulesen. Als er Sokrates begeg­ net sei, habe er bei ihm Stumpfsinn und Einfalt diagnostiziert und hinzu­ gefügt, dass Sokrates einen starke Drang nach sexuellen Kontakten mit Frauen habe, eine Bemerkung, bei der Alkibiades, wie es heißt, laut auf­ gelacht habe. Die übrigen Anwesenden hätten sich über die ihrer Mei­ nung nach völlig abwegigen Worte des Zopyros lustig gemacht, Sokra­ tes aber habe Zopyros in Schutz genommen, indem er bemerkt habe, dass dieser seine Anlage durchaus richtig beschrieben habe, dass er diese Anlage jedoch durch Einsicht und Disziplin bezwungen habe. Im zweiten der beiden im Corpus Platonicum überlieferten Alkibia­ des-Dialoge, dem nach allgemeiner Auffassung sicher nicht von Platon stammenden Zweiten oder auch Kleinen Alkibiades, klingt das Thema Eros nur einmal schwach an. Es ist dies einer von zwei Punkten, in denen sich der Zweite Alkibiades, was die Darstellung der Person des Alkibiades und seiner Beziehung zu Sokrates betrifft, von den im Voran­

274 275

A. Patzer 1999, 14–15 = 2012b, 220–222. Cic. fat. 10 und Tusc. 4, 80.

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gehenden betrachteten Dialogen in markanter Weise unterscheidet. Thema des Dialogs ist die Frage, wie man richtig betet. Den Anlass zur Erörterung dieser Frage gibt die Tatsache, dass sich der junge Alkibia­ des, als er mit Sokrates zusammentrifft, gerade auf dem Weg zu einem Tempel befindet, um dem Gott ein Opfer darzubringen und zu ihm zu beten; bei sich hat er Opfergaben und einen Kranz. Sokrates macht Alki­ biades klar, wie wichtig es ist zu wissen, wie man in der rechten Weise betet, weil, wenn man dies nicht weiß, die Gefahr groß ist, dass man die Götter um etwas bittet, von dem man meint, es sei für einen gut, das aber in Wirklichkeit schlecht oder gar todbringend für einen ist. Am Schluss des Dialogs konstatiert Sokrates, dass es für Alkibiades das Beste sei, wenn er mit seinem Gebet warte, bis er gelernt habe, wie man sich Göt­ tern und Menschen gegenüber verhalten soll. Alkibiades fragt, wer ihm dies wohl beibringen könne. In verklausulierter Form deutet Sokrates an, dass der, den er suche, ihm gegenüber stehe. Alkibiades erkennt, dass Sokrates sich selbst meint. Zum Dank für die Hilfe, die er ihm schon jetzt geleistet habe, setzt Alkibiades Sokrates den Kranz auf, den er ursprünglich dem Gott darbringen wollte.276 Sokrates nimmt das Geschenk an und beschließt das Gespräch mit dem Wunsch, im Wett­ streit mit den Liebhabern des Alkibiades den Siegeskranz zu erringen (150c3–151c2). Mehr zum Thema Eros als diese verhaltene Andeutung findet sich im Zweiten Alkibiades nicht. Der zweite Punkt, in dem sich der Zweite Alkibiades von den im Vorangehenden betrachteten Dialogen unterscheidet, ist der folgende: Hervorstechendste Eigenschaft des jun­ gen Alkibiades ist im Alkibiades des Aischines und im Alk. 1 seine maß­ lose Selbstüberschätzung, in der er glaubt, dank seiner einzigartigen Begabung alle anderen Menschen, auch die größten Gestalten der Geschichte, weit zu überragen. Dieses Motiv kommt im Zweiten Alki­ biades nur in Form eines Gedankenexperimentes277 vor. Als ein Beispiel dafür, dass die meisten Menschen, weil ihnen die Vernunft fehlt, häufig, ohne sich dessen bewusst zu sein, Dinge sagen und tun, die sie nicht sagen und tun sollten, nennt Sokrates folgenden fiktiven Fall: Angenom­ men, der Gott erschiene Alkibiades, sobald er den Tempel betreten hätte, und verspräche ihm die Alleinherrschaft über Athen, ja über ganz Grie­ chenland und ganz Europa, dann wäre Alkibiades sicher hocherfreut, weil er glaubte, ihm sei das größte Glück zuteil geworden. Sogleich aber 276

Der Autor des Dialogs mag hier die Szene in Platons Symposion im Blick gehabt haben, in der Alkibiades Agathon bittet, ihm einige von den Binden zu geben, mit denen er ihn zuvor (212e6–213a6) als Sieger im Tragödien-Agon bekränzt hatte, und mit ihnen Sokrates bekränzt, „der mit seinen Worten alle Menschen besiegt“ (213d8–e6); vgl. Neuhausen 2005, 175. 277 So Neuhausen 2005, 180.

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folgt eine Einschränkung: Für wertvoller als sein Leben würde er die gewaltige ihm versprochene Macht allerdings nicht halten, da er ja, wenn er dieses verlöre, von ihr überhaupt keinen Gebrauch machen könnte. Und er würde sie auch nicht haben wollen, wenn voraussehbar wäre, dass er einen schlechten und schädlichen Gebrauch von ihr machen würde (141a5–c8). Der Verfasser des Dialogs hatte, als er dies schrieb, allem Anschein nach die Passage im Alk. 1 vor Augen, in der Sokrates Alkibiades seine alles Maß sprengenden politischen Ambitio­ nen ins Gesicht sagt: Wenn ein Gott ihm stufenweise zunächst alle Macht in Athen, dann in ganz Griechenland und schließlich in ganz Europa zuspräche, wäre er immer noch nicht zufrieden; für lebenswert würde er sein Leben erst dann halten, wenn ihm auch die Macht über ganz Asien zuteilgeworden wäre (Alk. 1 105a3–c6). Alkibiades wider­ spricht dem nicht, erkennt also an, dass Sokrates recht hat. Im Zweiten Alkibiades kommt Sokrates später noch einmal auf den zuvor fingierten Fall zurück und fragt Alkibiades, wie er sich angesichts dessen, was inzwischen gesagt wurde, in dem genannten Fall verhalten würde. Alki­ biades erklärt seine Ratlosigkeit und schließt sich der von Sokrates zuvor (142e1–143a5) empfohlenen Auffassung an, dass es, solange man nicht wisse, was man sagen und tun soll, das Klügste sei, sich darauf zu beschränken, den Gott darum zu bitten, das Schlechte, auch wenn man darum bitte, von einem fernzuhalten (148a1–b8). Von der ungeheuren Selbstüberschätzung und den darauf basierenden maßlosen politischen Ambitionen, die den Alkibiades des aischineischen Alkibiades und des Alk. 1 kennzeichnen, ist der Alkibiades des Zweiten Alkibiades also weit entfernt. Demgemäß braucht Alkibiades hier auch nicht von Sokrates zu der für ihn äußerst schmerzlichen Einsicht in seine völlig verfehlte Selbsteinschätzung hingeführt zu werden. Verglichen mit dem Alkibia­ des der anderen Dialoge, in denen das Verhältnis Alkibiades/Sokrates thematisiert wird, ist der Alkibiades des Zweiten Alkibiades eine farb­ lose Gestalt; als Gesprächspartner des Sokrates hätte an seine Stelle auch eine andere Person treten können.278 Ein Grund dafür ist, dass der Zweite Alkibiades erheblich später verfasst wurde als die Dialoge, von denen im Vorangehenden die Rede war. Neuhausen datiert ihn in das Ende des 4. oder wahrscheinlicher das 1. Drittel des 3. Jahrhunderts.279 Zu dieser Zeit war Alkibiades seit rund 100 Jahren tot und die Erinne­

278 So auch Neuhausen 2005, 180: „Würde der Gesprächspartner des Sokrates nicht als Alki­ biades bezeichnet (138a1), er hätte (nach seinem Auftreten im Dialog zu urteilen) jeden beliebi­ gen anderen Namen tragen können.“ 279 Neuhausen 2012, 239–242.

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rung an ihn verblasst. Für den Verfasser des Zweiten Alkibiades war er in erster Linie eine literarische Gestalt. In der Vorbemerkung wurde darauf verwiesen (S. 63–64), dass, was sich über die Beziehung zwischen Sokrates und Alkibiades an historisch gesicherten Fakten ermitteln lasse, nicht über die schlichte Feststellung hinausgehe, dass Alkibiades in jungen Jahren eine Zeit lang Kontakte zu Sokrates unterhielt. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, was die Sokratiker veranlasste, diese Beziehung in der Weise auszuspin­ nen, wie sie es in ihren Dialogen getan haben. Um diese Frage beant­ worten zu können, ist es nötig, etwas weiter auszuholen. Wohl in der 2. Hälfte der 380er Jahre280 verfasste der attische Rhetor Polykrates eine Anklagerede gegen Sokrates . Die Rede ist nicht erhalten, und es gibt nur wenige Zeugnisse, die verlässliche Rückschlüsse auf ihren Inhalt und ihren Charakter ermöglichen.281 Wahrscheinlich han­ delte es sich um eine Deklamation, die sich den Anschein gab, die origi­ nale Anklagerede zu sein.282 Wie wir der 11. Rede des Isokrates entneh­ men können, war einer der Vorwürfe, die Polykrates in der Anklagerede gegen Sokrates erhob, der, dass Alkibiades sein Schüler gewesen sei. Iso­ krates hält dies für einen gravierenden handwerklichen Fehler des Poly­ krates. Er begründete dies so (11, 4–6): Wenn Sokrates für die Entwick­ lung eines nach allgemeiner Auffassung so überragenden Mannes wie Alkibiades als Lehrer prägend gewesen wäre, dann wäre dies nichts, was man ihm zum Vorwurf machen könnte, es wäre ganz im Gegenteil ein Ruhmestitel für ihn. Isokrates wörtlich, an Polykrates gerichtet: „Bei dei­ nem Versuch, Sokrates anzuklagen, hast du ihm, so als ob du ihn rühmen wolltest, Alkibiades zum Schüler gegeben, wo doch niemand bemerkt hat, dass dieser von ihm erzogen wurde, aber alle zugestehen dürften, dass er unter den Griechen weit herausragte.“ Das ist aus der Perspektive des Isokrates und seines Bildungsprogramms gesagt, dessen Ziel es war, den Schülern die Fähigkeiten zu vermitteln, die man braucht, um im poli­ tischen Leben erfolgreich zu sein. Isokrates bestreitet nicht, dass es Kon­ takte zwischen Sokrates und Alkibiades gegeben hat; er bestreitet nur, dass Alkibiades von Sokrates erzogen wurde. Was er meint, ist dies: Alkibiades mag zwar in dem Sinn Schüler des Sokrates gewesen sein, dass dieser in der ihm eigenen Weise auf ihn Einfluss zu nehmen ver­ 280

Vgl. Funke 2005, 262. Vgl. zu dieser Rede Hansen 1995, 8–11 und 2002, 154–155; Gribble 1999, 227–230; Livingstone 2001, 32–39; Funke 2005; A. Patzer 2012a, 304–308. 282 Wofür sie, nebenbei bemerkt, möglicherweise schon der Biograph Hermippos aus Smyrna im 3. Jhdt. v. Chr. tatsächlich hielt (Diog. Laert. 2, 38 = Hermippos fr. 32 Wehrli = FGrHist 1026 F 67); vgl. Bollansée 1999, 479–480. 281

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Appendizes

suchte, eine Erziehung in dem Sinne, dass Alkibiades dadurch für seine spätere Karriere als Politiker profitiert hätte, war dies nicht; von einer Erziehung durch Sokrates kann daher nicht die Rede sein. Auf den gegen Sokrates erhobenen Vorwurf, dass er Lehrer des Alki­ biades gewesen sei, kommt auch Xenophon in der sog. „Schutzschrift“ am Anfang der Memorabilien (1, 1–2) zu sprechen. Diese „Schutz­ schrift“ unterscheidet sich vom gesamten etwa sechseinhalbmal so umfangreichen Rest der Memorabilien in grundlegender Weise: Wäh­ rend der Rest aus fiktiven Gesprächen des Sokrates mit verschiedenen Partnern besteht und deshalb von den Freiheiten des sokratischen Dia­ logs Gebrauch machen kann, sucht Xenophon in der „Schutzschrift“ in darstellender Form die Vorwürfe zu entkräften, die gegen Sokrates erho­ ben worden seien. In einer umfangreichen Partie (1, 2, 9–64) setzt er sich dabei mit einem namentlich nicht genannten „Ankläger“ und des­ sen Vorwürfen gegen Sokrates auseinander. Einer der Vorwürfe, die die­ ser Ankläger erhoben hatte, war Xenophons Worten zufolge der, dass Alkibiades, der der Polis größten Schaden zugefügt habe, mit Sokrates Umgang gepflegt habe (1, 2, 12). In seiner Entgegnung bestreitet Xeno­ phon ebenso wie Isokrates, dass Alkibiades Schüler des Sokrates gewe­ sen sei, aber von einem ganz anderen Standpunkt aus und deshalb mit einer ganz anderen Bewertung. Alkibiades habe zwar, so Xenophon, eine Zeit lang den Kontakt mit Sokrates gesucht, weil er gemeint habe, aus dem Zusammensein mit ihm für seine politische Karriere Nutzen ziehen zu können, und während der Zeit des Zusammenseins mit Sokra­ tes habe er mit dessen Hilfe seine verhängnisvollen Triebe zu beherr­ schen vermocht; für das, worauf es Sokrates allein ankam, für wahre sittliche Bildung, habe er sich aber nie interessiert. Als er dann gemeint habe, für seine politischen Ambitionen genug von Sokrates profitiert zu haben, habe er sich von ihm getrennt, und alsbald habe sich seine wahre Natur gezeigt (1, 2, 13–47). Umstritten ist, wen Xenophon mit dem anonymen Ankläger meint, auf den er sich bezieht. Bis vor Kurzem übernahm man zumeist die Erklärung, die Cobet einst vorgetragen und begründet hatte,283 dass mit diesem Ankläger Polykrates gemeint sei bzw. der Ankläger, dem Poly­ krates die von ihm verfasste Rede in den Mund legte, Xenophon sich also auf ihn und nicht auf den Ankläger in dem realen Prozess beziehe. Diese Erklärung ist in letzter Zeit, wie mir scheint, zu Recht infrage gestellt worden.284 Die Argumente, die für und gegen Cobets Erklärung

283 284

Cobet 1858, 662–682. Hansen 1995 und 2002; vgl. auch Livingstone 2001, 32–38. Beide greifen die zwischen­

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vorgebracht worden sind, können hier nicht im Einzelnen referiert und bewertet werden. Es muss genügen, Zweierlei zu konstatieren: 1. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Polykrates den Vorwurf, um den es hier geht, frei erfunden hat; er muss Vorwürfe aufgegriffen haben, die schon früher gegen Sokrates erhoben worden waren. 2. Ganz gleich, ob Xeno­ phon sich mit dem, was er zu diesem Punkt schreibt, auf den Ankläger in der Rede des Polykrates bezieht oder auf eine andere Person, auf jeden Fall muss er überzeugt gewesen sein, dass dieser Punkt im realen Prozess eine Rolle gespielt hatte. Einer der beiden Anklagepunkte, die im Prozess gegen Sokrates vorgebracht wurden, war der Vorwurf, er verderbe die Jugend (Xen. mem . 1, 1, 1; Diog. Laert. 2, 40). Wir wissen nicht, wie der Ankläger und seine Mitkläger diesen Anklagepunkt vor Gericht in ihren Reden begründeten. Nichts spricht dagegen, dass sie in ihnen, um den verderblichen Einfluss des Sokrates auf die Jugend zu illustrieren, auf Alkibiades verwiesen,285 dass Polykrates dies übernahm und dass Xenophon Sokrates gegen diesen Vorwurf, von dem er gehört oder gelesen hatte, verteidigte.286 Eine andere Möglichkeit wäre die, dass Alkibiades im Prozess zwar nicht ausdrücklich genannt wurde, der Vorwurf, Sokrates trage eine Mitschuld an dem, was Alkibiades getan habe, zur Zeit des Prozesses und hernach aber in der Öffentlichkeit ver­ breitet war,287 dass Polykrates diesen Vorwurf aufgriff und in seine Anklagerede aufnahm und dass Xenophon Sokrates, möglicherweise durch Polykrates’ Anklagerede dazu angeregt, gegen ihn verteidigte. Mag dies so oder so sein, sicher scheint mir, dass der Vorwurf, um den es hier geht, zur Zeit des Prozesses gegen Sokrates erhoben wurde. Daher liegt die Vermutung nahe, dass derjenige Sokratiker, der die Beziehung zwischen Sokrates und Alkibiades als erster in einem seiner Dialoge thematisierte, eine apologetische Absicht verfolgte. Offenbar verselbständigte sich das Thema dann sehr bald. Schon in den 380er Jahren war es so bekannt, dass Platon mit ihm spielen konnte (vgl. S. 153). Xenophon kommt, nebenbei bemerkt, auf Alkibiades’ Beziehung zu zeitlich in Vergessenheit geratene fundamentale Kritik auf, die Breitenbach 1869 schon sehr bald an Cobets These geübt hatte. 285 So Hansen 1995 (vgl. 2002, 152), der auch zeigt (ebd. 10–12), dass die Amnestie dem nicht entgegenstand, die 403 beschlossen worden war, um nach den heftigen innenpolitischen Erschütterungen, von denen Athen im Anschluss an die katastrophale Niederlage gegen die Spar­ taner im Peloponnesischen Krieg heimgesucht wurde, eine allgemeine Versöhnung herbeizufüh­ ren, und die besagte, dass es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht erlaubt sein solle, straf­ rechtlich gegen Mitbürger wegen Dingen vorzugehen, die in der Zeit zuvor geschehen waren. 286 Er selbst war zu der Zeit, zu der der Prozess stattfand, ja nicht in Athen. 287 Vgl. Livingstone 2001, 33–34.

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Sokrates nur in der „Schutzschrift“ zu sprechen, um den gegen Sokrates erhobenen Vorwurf zu entkräften, er trage als Lehrer des Alkibiades eine Mitschuld an dessen späteren Taten. Im Dialogteil der Memorabilien (1, 3 ff.) und im Symposion findet sich nicht die geringste Bemerkung zum Thema „Sokrates und Alkibiades“. Bedenkt man, wie viel Raum dieses Thema in den Dialogen der anderen Sokratiker einnahm, dann stellt sich die Frage, wie dies zu erklären ist. Die nächstliegende Antwort ist die, dass die Darstellung der Beziehung Sokrates/Alkibiades in der Weise, in der dies in der sonstigen sokratischen Literatur geschah, nicht zum So­ kratesbild Xenophons passte.288

2. Zur Frage der Echtheit des Ersten Alkibiades Bei den antiken Platonikern genoss der Alk. 1 hohes Ansehen. Iambli­ chos und, ihm folgend, Proklos empfahlen, die Beschäftigung mit der platonischen Philosophie mit dem Studium des Alk. 1 beginnen zu las­ sen, weil es in ihm um die Selbsterkenntnis gehe, die den Anfang aller Philosophie bilde, und in ihm wie in einem Samen die gesamte platoni­ sche Philosophie enthalten sei.289 Angesichts der Bedeutung, die die Platoniker dem Alk. 1 zumaßen, ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Dialog von ihnen häufig kommentiert wurde. Erhalten sind von die­ sen Kommentaren allein der Anfang des Kommentars des Proklos (bis 116b1) sowie der Kommentar des Olympiodoros (in der Vorlesungsmit­ schrift eines Schülers). Andere Platoniker, die den Alk. 1, sei es in eige­ nen Schriften, sei es im Rahmen umfassenderer Schriften, kommentier­ ten, waren Harpokration aus Argos, Demokritos, Damaskios und mögli­ cherweise Syrianos.290 Im Mittelalter war der Alk. 1 wie alle Dialoge Platons, soweit sie nicht schon in der Antike ins Lateinische übersetzt worden waren (wie Teile des Timaios durch Cicero und Calcidius) oder im Mittelalter übersetzt 288

Angemerkt sei, dass die Sokrates/Alkibiades-Thematik immerhin die Folie für das Gespräch des Sokrates mit Euthydemos in den Memorabilien (4, 2) zu bilden scheint. Die auffäl­ ligen Parallelen, die es, was Gesprächsverlauf und Argumentationen betrifft, zwischen diesem Gespräch und dem Alkibiades des Aischines und dem Alk. 1 gibt, lassen sich so jedenfalls am ein­ fachsten erklären. Vgl. dazu zuletzt Bandini/Dorion 2011, 66 und 231–235. 289 Iamblichos fr. 1 Dillon; Proklos in Alcibiadem 11 p. 5 Westerink, p. 9 Segonds. Vgl. Albi­ nos, Prologos 5 p. 149, 35–37 Hermann, p. 314 Reis; Diog. Laert. 3, 62; Olympiodoros in Alcibia­ dem 10, 18–11, 6 p. 10 Westerink; Prolegomena in Platonis philosophiam 10, 18–20 p. 49 Weste­ rink. 290 Ausführlich zu allen diesen Kommentaren Segonds 1985, XV–CIV; zu den Kommentaren des Proklos und des Olympiodoros Griffin 2015, 27–43.

Zur Frage der Echtheit

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wurden (wie der Menon und der Phaidon durch Henricus Aristippus und ein Teil des Parmenides durch Wilhelm von Moerbeke), im lateinisch­ sprachigen Westen unbekannt. Erst nachdem seit dem 15. Jahrhundert die Originaltexte der Dialoge Platons nach Italien gelangten, konnte man den Alk. 1 hier lesen, und zwar zunächst in der lateinischen Über­ setzung der Dialoge Platons von Marsilio Ficino (Erstausgabe 1484 in Florenz; danach zahlreiche weitere Ausgaben). Der Originaltext wurde erst 30 Jahre später erstmalig gedruckt (1513 bei Aldo Manuzio in Vene­ dig). Ficino schickte seiner Übersetzung der einzelnen Dialoge jeweils eine Inhaltsangabe (argumentum) voraus. Zu Beginn der Inhaltsangabe zum Alk. 1 rühmt er den Dialog als „äußerst glanzvolle Schrift“, die „anmutiger ist als Alkibiades selbst291 und wertvoller als alles Gold.“292 Wie Ficino waren seine Schüler Angelo Poliziano und Pico della Miran­ dola mit dem Dialog vertraut. Poliziano referiert in einem Brief an Bar­ tolomeo Scala das Argument, mit dem Sokrates im Alk. 1 (129c7– 132c6) beweist, dass der Menschen nichts anderes als seine Seele ist,293 Pico beruft sich in seiner Schrift De hominis dignitate zweimal auf den Alk. 1 .294 In der Folgezeit wurde der Alk. 1 in Gesamt- und Teilausgaben und -übersetzungen der Dialoge Platons immer wieder gedruckt, ohne dass je Zweifel an der Autorschaft Platons geäußert wurden.295 Das änderte sich schlagartig, nachdem Schleiermacher 1809 in der Einlei­ tung zu seiner Übersetzung des Dialogs296 und in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung297 nur wenig Gutes an ihm gelassen und ihn Platon mit Entschiedenheit abgesprochen hatte. Was er bemängelte, waren, kurz gesagt, mangelnde Qualität im Allgemeinen und unplatonische Elemente in Dialoggestaltung und Sprache im Einzelnen. Immerhin glaubte er, „sparsam zerstreut in einer schlechten Masse schwimmend,“ doch auch „einzelne sehr schöne und echt platonische Stellen“ in dem Dialog finden zu können.298 Für das von ihm konstatierte Nebeneinan­ der von minderwertiger Qualität im Allgemeinen und einzelnen Stellen, die „in der Tat von solcher Beschaffenheit sind, dass man sich nicht sehr weigern würde anzunehmen, sie wären eben so aus Platons Griffel 291

Eine Anspielung auf die notorische, auch im Dialog selbst mehrfach thematisierte Schön­ heit des Alkibiades. 292 Ficino 1959, vol. II 121 (= p. 1133 der Originalausgabe Basel 1576): „Candidissimus … liber … Alcibiade ipso venustior, et omni carior auro …“. 293 Der Text bei Garin 1952, 914. 294 Pico 1990, 26 (Alk. 1 132c7–133c7) und 52–54 (Alk. 1 122a1–3). 295 Vgl. Ebert 1830, 431–434. 296 Schleiermacher 1809, 290–299; 1826, 295–305 = 1996, 319–326. Im Folgenden zitiere ich durchgehend die 2. Auflage der Übersetzung Schleiermachers aus dem Jahr 1826. 297 Schleiermacher 1826, 513–531. 298 Schleiermacher 1826, 297 = 1996, 321.

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gekommen,“299 bot er als eine mögliche Erklärung die an, dass „ein unmittelbarer Schüler des Platon irgendwie … einen wahrscheinlich aus früheren Zeiten herrührenden Entwurf seines Lehrers zu einem Gespräch“ an sich gebracht habe, „welchen dieser … nicht ausgeführt sondern verworfen“ hatte,300 und dass dieser Schüler dann unter Ver­ wendung der von seinem Lehrer übernommenen Bruchstücke den erhal­ tenen Dialog verfasst habe. Schleiermachers Athetese des Dialogs stieß in den sich anschließen­ den Jahrzehnten teils auf Zustimmung, teils auf Ablehnung. Platonfor­ scher wie Ast, Buttman, Zeller und Susemihl schlossen sich Schleierma­ chers Auffassung an,301 andere wie Socher, Stallbaum, Hermann und Steinhart wiesen sie zurück.302 Im 20. Jahrhundert dominierte, zumin­ dest in Deutschland, die Auffassung, dass der Alk. 1 nicht von Platon stamme, wobei die Sammlung von Argumenten gegen die Echtheit des Dialogs nicht selten die unvoreingenommene systematische Beschäfti­ gung mit dem Dialog als solchem beiseite drängte. Immer wieder gab es aber auch Verfechter der Echtheit.303 Am stärksten engagierte sich in diesem Sinne Paul Friedländer in den beiden Teilen seiner Monographie zum Alk. 1 und in dem dem Alk. 1 gewidmeten Kapitel seines PlatonWerkes.304 Zustimmung fand er allerdings zunächst nur in geringem Maße.305 Inzwischen scheinen sich die Lager der Verfechter der Echtheit und der Verfechter der Unechtheit in etwa die Waage zu halten.306 299

Schleiermacher 1826, 304 = 1996, 325. Schleiermacher 1826, 304 = 1996, 326. 301 Ast 1816, 436–441, Buttmann 1830, 112–113, Zeller 1851, 259–261, Susemihl 1864, 347–360. 302 Socher 1820, 116–122, Stallbaum 1834, 169–188, Hermann 1839, 439–443 und 605–608 (Anm. 274–285), Steinhart 1850, 147–152 303 z. B. Adam 1901 und Apelt 1937, 131–142. 304 Friedländer 1921, 1923 und 1930, 233–245 (~ 1957, 213–225. 317–320 und 1964, 214– 226. 331–335). 305 Interessant ist in diesem Zusammenhang der im November 1917 beginnende Briefwechsel zur Frage der Echtheit des Alk. 1 zwischen Friedländer und seinem Lehrer Wilamowitz (Calder/ Huss 1999, 116. 118–122. 145–147. 150–151. 168–173. 175), in dem Friedländer Wilamowitz für die Echtheit des Alk. 1 zu gewinnen sucht, zunächst allerdings ohne Erfolg. In seinem PlatonBuch von 1919 äußerte sich Wilamowitz sehr abwertend über den Alk. 1 (Wilamowitz 1920, Bd. 1, 378 Anm. 1 = 1959, 296 Anm. 1: „… der talentlose Verfasser hat so viel hier und da her aufgenommen, daß alles verschwimmt.“). Nachdem ihm Friedländer 1923 den zweiten Teil seiner Monographie zum Alk. 1 zugesandt hatte (Friedländer 1923), scheint Wilamowitz schließlich aber, wenn auch etwas widerstrebend, umgeschwenkt zu sein. Wilamowitz an Friedländer am 31. 03.1924 (Calder/Huss 1999, 175): „Mit dem Platon (gemeint ist Friedländers ‚Der Große Alkibiades. Zweiter Teil‘ von 1923), der es nun wirklich zu sein scheint, haben Sie mir eine große Freude gemacht …“. Vgl. auch S. 169–170 zu κρήγυος. 306 Vgl. die Zusammenstellungen der Gegner und der Befürworter der Echtheit aus den letzten 300

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Die Argumente, die gegen die Echtheit des Dialogs vorgebracht wor­ den sind, können hier nur in einer, wie ich hoffe, repräsentativen Aus­ wahl referiert und bewertet werden.307 Sie laufen, grob gesprochen, alle­ samt darauf hinaus, dass sich in dem Dialog Elemente a) inhaltlicher und/oder b) sprachlicher und stilistischer Art finden, die aus dem Rah­ men dessen fallen, was nach Ausweis der allgemein als echt angesehe­ nen Dialoge als platonisch gelten kann. Von den Argumenten des ersten Typs betrifft das am häufigsten genannte und als am beweiskräftigsten betrachtete die Darstellung des Daimonions des Sokrates. Immer wieder ist behauptet worden, dass die Art und Weise, in der das Daimonion im Alk. 1 beschrieben wird, sich nicht mit dem vereinbaren lasse, was darüber in den unbestritten echten Dialogen Platons zu lesen ist.308 In den Erläuterungen habe ich zu zeigen versucht (S. 67–70 und 114–115), dass und in welcher Weise dies m. E. durchaus möglich ist.309 Ein Indiz für die Unechtheit des Alk. 1 hat man immer wieder auch darin gesehen, dass sich die Beschreibung der Beziehung zwischen So­ krates und Alkibiades in ihm von der Beschreibung dieser Beziehung im Protagoras und im Symposion deutlich unterscheidet.310 Im Protagoras ist vorausgesetzt, dass die Beziehung zwischen Sokrates und Alkibia­ des, den man sich hier als noch etwas jünger als im Alk. 1 vorzustellen hat (vgl. S. 72), ein jedermann bekanntes Faktum ist, zwischen beiden also schon seit Längerem ein engerer Kontakt besteht (Prot . 309a1–c4). Und auch der gescheiterte Versuch, Sokrates zu verführen, von dem Alkibiades im Symposion berichtet (217a2–219d2; vgl. S. 156), setzt voraus, dass beide schon seit Längerem enger miteinander verbunden sind. Die Ausgangssituation im Alk. 1 ist dagegen die, dass Sokrates, wiewohl der erste Liebhaber des Alkibiades, diesen die vielen Jahre hin­ durch zwar nie aus dem Auge gelassen, ihn aber bis zum Tag des Gespräches, das den Inhalt des Dialogs bildet, nie angesprochen hat. Jahrzehnten bei Marbœuf/Pradeau 2000, 219–220; Smith 2004, 94–95 Anm. 6; Horky 2009, 70– 71 Anm. 88; Belfiore 2012, 31 Anm. 1. 307 Die umfangreichste und detaillierteste Darstellung der Argumente, die seit Schleiermacher zum Erweis der Unechtheit des Alk. 1 vorgebracht worden sind, und der Gegenargumente, mit denen man sie zu entkräften versucht hat, findet sich bei Johnson 1996, 64–83 und 286–331. Vgl. auch Denyer 2001, 14–26 und Jirsa 2009. 308 So zuletzt Joyal 2003, 4; Smith 2004, 100–101; Heitsch 2012, 241–242. 309 Den m. E. unechten Theages habe ich beiseitegelassen. Zur Beschreibung des Wirkens des Daimonions in ihm vgl. Johnson 1996, 332–340; Joyal 2000, 72–97; Döring 2004, 49–67. 310 Schleiermacher 1826, 303 = 1996, 324–325; Gribble 1999, 261 (der allerdings einschrän­ kend anmerkt: „It should, however, be emphasized that this inconsistency, though puzzling, is not in itself a reason for rejecting the first Alcibiades as a work of Plato.“); Smith 2004, 100 und andere.

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Hinzu kommt, dass Alkibiades, was die Beschreibung seiner Person betrifft, im Alk. 1 ein anderer ist als im Protagoras und in der besagten Episode im Symposion . Im Protagoras greift Alkibiades dreimal selbst­ sicher als von allen ernst genommener Gesprächsteilnehmer zugunsten des Sokrates in die Diskussion ein (336b7–d5; 347b2–7; 348b2–8). Und die Kühnheit, mit der er, wie er im Symposion berichtet, als noch nicht volljähriger Bursche Sokrates gegenüber die Initiative ergriff und das Verhältnis von Liebhaber und Geliebtem umkehrte, zeigt einen Alkibia­ des mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein und starkem Durchsetzungs­ willen. Dagegen wirkt der Alkibiades des Alk. 1 ziemlich unreif und unsicher. Statt sich den Fragen des Sokrates ernsthaft zu stellen, sucht er sich einer konsequenten Diskussion immer wieder zu entziehen. Beson­ deren Anstoß hat man an der Begriffsstutzigkeit genommen, die Alki­ biades mehrfach an den Tag legt. Als Beispiel seien die Schwierigkeiten genannt, die Alkibiades damit hat, auf den Begriff des „der Musik Gemäßen“ (μουσικόν) zu kommen (108a12–d9).311 Wer in den aufgezeigten Unterschieden ein Indiz für die Unechtheit des Alk. 1 sieht, setzt voraus, dass die Darstellungen einer und derselben Person in verschiedenen Dialogen Platons sich nicht voneinander unter­ scheiden dürfen. Diese Voraussetzung scheint die Freiheit, die die Gat­ tung des sokratischen Dialogs gewährte, zu gering einzuschätzen. In den allgemein als echt anerkannten Dialogen Platons gibt es zumindest einen Fall, der mit dem des Alkibiades im Alk. 1 vergleichbar ist. Im Phaidros begibt sich Sokrates mit Phaidros zum Gespräch in die Natur und lässt sich dort alsbald von dem Ambiente in hohem Maße faszinie­ ren (230b2–c5). Platon macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass dies mit dem üblichen Verhalten des Sokrates – und das heißt: mit des­ sen Darstellung in seinen Dialogen – im Widerspruch steht, indem er Sokrates darauf hinweisen lässt, dass er die Stadt normalerweise nie ver­ lasse, weil er glaube, seinen unstillbaren Wissensdurst nur hier im Gespräch mit anderen Menschen befriedigen zu können, nicht aber in der stummen Natur, die ihm nichts zu sagen habe (230d3–5). Mag der schwärmerische Ton, mit dem Sokrates seine Faszination über den Reiz des Ortes zum Ausdruck bringt, nicht frei von Ironie sein, ein deutlicher 311

Schleiermacher in einer Anmerkung zu der Stelle (1826, 515): „Dass Alkibiades nicht gleich das Musikalische findet zu dem Gymnastischen, ja auch, nachdem ihm Singen, Tanzen und Spielen vorgehalten wird, die Kunst noch nicht zu nennen weiß, ist so abgeschmackt, dass diese Stelle allein eigentlich schon hinreicht, um zu beweisen, dass Platon nicht der Verfasser unseres Gespräches sein kann. Die kinderleichte Sache ist ganz in derselben Form behandelt, wie Platon schwierige Begriffe zu behandeln pflegt, und man sollte sich wenigstens einbilden, wenn man dies liest, er habe diesen Gebrauch von μουσικόν erst erfunden. Und nun bedenke man noch, dass es ein ganz müßiges Beispiel ist, was so ekelhaft in die Länge gezerrt wird.“

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Unterschied zur Darstellung des Sokrates in den anderen Dialogen Pla­ tons bleibt. Die Freiheit, über die Platon als Autor sokratischer Dialoge verfügte, implizierte also die Freiheit, eine und dieselbe Person in ver­ schiedenen Dialogen in einzelnen Punkten gegensätzlich darzustellen. Die Unterschiede in der Darstellung des Alkibiades und der Beziehung zwischen ihm und Sokrates im Protagoras und Symposion einerseits und im Alk. I andererseits können daher kein zwingender Grund sein, den Alk. 1 für unecht zu erklären. Philosophische Fragestellungen, Thesen und Argumente, die mit denen, die sich in den unbestritten echten Dialogen Platons finden, unvereinbar sind, gibt es im Alk. 1 nicht. Zu der Frage, ob die nur bei Eusebios und Stobaios erhaltenen Zeilen 133c8–17, wenn sie denn zum originalen Text gehören, von Platon stammen können oder nicht, vgl. S. 136–137. Die gegen die Echtheit des Dialogs vorgebrachten Argumente sprach­ licher und stilistischer Art können hier nicht in extenso besprochen wer­ den. Ich beschränke mich darauf, einige wenige von ihnen stellvertre­ tend zu referieren und auf ihre Beweiskraft hin zu überprüfen. 111e1 lässt der Autor Sokrates das Wort krēgyos (κρήγυος, in der Übersetzung wiedergegeben mit „rechtschaffen“) benutzen. Es ist dies ein auf Homer (Il. 1, 106) zurückgehendes ionisches Wort, das in atti­ schen Texten sonst nirgends und in nichtattischen Texten überwiegend in poetischen vorkommt, in den uns erhaltenen Texten aus der Zeit nach Homer zuerst in einem Gedicht des Archilochos (fr. 24, 5 West). Wila­ mowitz hat nachdrücklich darauf bestanden, dass Platon dieses Wort nicht benutzt haben könne. In einem Brief an Paul Friedländer konsta­ tierte er (Calder/Huss 1999, 169): „κρήγυος ist … ein ionisches Wort, das kein Athener in den Mund genommen hat.“312 Er vernachlässigte dabei merkwürdigerweise die Tatsache, dass der Dialog durchweg in reinem Attisch verfasst ist,313 und das Problem daher bleibt, wenn der Autor des Dialogs nicht Platon, sondern eine andere gleichfalls ein rei­ nes Attisch schreibende Person war. In Texten aus der Zeit nach Archi­ lochos findet sich krēgyos auffallend oft in Gedichten in Hinkjamben.314 312

Vgl. Wilamowitz 1920, Bd. 2, 325 Anm. 1 = 1962, 326 Anm. 1: „Eine Vokabel wie κρή­

γυος … ist ein unverkennbares Stigma.“ 313 Vgl. Cobet 1874b, 371g: „Dicendi genus, quo imitator utitur, Atticum est, purum, tersum, elegans …“. Dass der Dialog trotzdem nicht von Platon stammen kann, begründet Cobet im wei­ teren Verlauf des Satzes so: „… sed ut omnes tum loquebantur sine illis verborum et sententiarum luminibus, quibus Platonis dictio splendet.“ 314 Kall. fr. 193, 30 Pfeiffer; Phoinix aus Kolophon fr. 6, 4 Powell; Theokr. epigr. 19, 3; Hero­ das 4, 46 und 6, 39; vgl. auch Kerkidas fr. 7, 10 Powell = fr. 3, 10 Lomiento aus einem Meliam­ bus.

170

Appendizes

Daraus hat man geschlossen, dass der ‚Erfinder‘ des Hinkjambus, Hip­ ponax, das Wort in seinen Gedichten benutzt haben muss315 und dass der Verfasser des Alk. 1, wenn er das Wort krēgyos gebraucht, es von Hipponax übernommen hat.316 Eine weitere Beobachtung bestätigt die­ sen Befund. In seinem in Hinkjamben verfassten 3. Jambus sagt Kalli­ machos über sich: „Ich wurde auf rechtschaffene Weise (krēgyōs) erzo­ gen.“317 Zu dieser Bemerkung des Kallimachos notiert Pfeiffer im Apparat seiner Kallimachos-Ausgabe als Parallelstelle Alk. 1, 111e. Was beide Stellen miteinander verbindet, ist, dass das Wort krēgyos in Bezug auf den Bereich der Erziehung gebraucht wird. Diese Übereinstimmung legt die Vermutung nahe, dass auch Hipponax das Wort krēgyos in einem derartigen Zusammenhang gebraucht hat und dass es von dort als Prädikat zur Bezeichnung von Lehrern in die Literatur eingedrungen ist. Spätere Reflexe des von Hipponax begründeten Gebrauchs von krēgyos im Zusammenhang mit dem Thema Erziehung sind es, wenn das Wort in der pseudo-herodoteischen Vita Homeri318 und in dem pseudepigra­ phen Brief des Pythagoreers Lysis an Hipparchos319 in solchen Kontex­ ten gebraucht wird. Ein Fall besonderer Art ist das Wort ἔνοπτρον („spiegelnde Fläche“) in den nur bei Eusebios und Stobaios erhaltenen Zeilen 133c8–17. Da in den Schriften des Corpus Platonicum und auch im Alk.I im vorausge­ henden Text immer nur κάτοπτρον vorkommt (132e2 und 133a2), hat Friedländer, der den Alk. 1 ja für echt, 133c8–17 aber für eine spätere Zutat hält, zu erwägen gegeben, ob der Gebrauch von ἔνοπτρον nicht vielleicht ein Indiz für die nichtplatonische Herkunft der Zeilen 133c8– 17 sein könne.320 Dagegen spricht, dass auch in dem fraglichen Text­ stück zunächst κάτοπτρον steht (133c8), der Autor in ihm also von κάτοπτρον zu ἔνοπτρον wechselt. Am einfachsten erklärt sich das in der Weise, dass der Verfasser des Abschnitts die spiegelnde Fläche im Auge (ἔνοπτρον, 133c9) von spiegelnden Flächen im Allgemeinen (κάτοπτρα, 133c8) sprachlich abheben wollte und den Begriff dann bei der weiteren Ausführung des Vergleichs beibehielt (133c14).321 315

So neben anderen Knox bei Headlam 1922, 298 Anm. 1 und Leumann 1950, 34 Anm. 24. Vgl. Leumann 1950, 34 Anm. 24, der lapidar konstatiert: „Der zwingende Schluss lautet: dieser Gebrauch (sc. von κρήγυος ≈ ἐσθλός) geht auch bei Platon auf Hipponax zurück.“ 317 Fr. 193, 30 Pfeiffer: κρηγύως ἐπαιδεύθην. 318 15 p. 9, 24 Wilamowitz, p. 124 Vasiloudi: … Θεστορίδης τις ἦν γράμματα διδάσκων τοὺς παῖδας, ἀνὴρ οὐκ κρήγυος. 319 3 p. 112 Thesleff: … πάγας ταῖς τοὶ πολλοὶ τῶν σοφιστᾶν τὼς νέως ἐμπλέκοντι ποτ᾿ οὐδὲν κράγυον σχολάζοντες . . . 320 Friedländer 1957, 319 Anm. 11. In die gleiche Richtung tendiert Denyer 2001, 236–237. 321 Zu dem vermeintlich unplatonischen Gebrauch der Partikelkombination ἀλλὰ γάρ im 316

Zur Frage der Echtheit

171

Um Klarheit darüber zu gewinnen, ob der Alk. 1 von Platon oder einem anderen Autor verfasst wurde, hat man auch das Instrument der Sprachstatistik herangezogen. Ihm liegt, kurz gesagt, die Beobachtung zugrunde, dass Autoren in den verschiedenen Phasen ihres Lebens beim Schreiben ihrer Texte bestimmte sich im Laufe der Zeit verändernde Eigenarten im Gebrauch der Sprache an den Tag legen. Da sich in Pla­ tons Schriften nur verschwindend wenige Anhaltspunkte finden, die Rückschlüsse darauf zulassen, wann die einzelnen Schriften verfasst wurden, muss dieses Verfahren in seinem Fall gleichsam in umgekehrter Richtung angewandt werden: Es muss untersucht werden, ob sich bestimmte Schriften aufgrund von Gemeinsamkeiten im Gebrauch der Sprache bündeln und damit als derselben Schaffensperiode zugehörig erweisen lassen. Die inzwischen rund 150 Jahre alte Geschichte der sprachstatistischen Untersuchungen zu den Dialogen Platons322 hat, kombiniert mit Kriterien, die den Inhalt der Schriften betreffen, zu der heutzutage allgemein anerkannten Zuordnung der Dialoge Platons zu drei zeitlich aufeinander folgenden Gruppen geführt (frühe, mittlere, späte Dialoge).323 Den Alk. 1 ließ man bei diesen Untersuchungen zumeist beiseite, weil eine Einbeziehung dieses Dialogs angesichts sei­ ner umstrittenen Echtheit ein Präjudiz zugunsten seiner Echtheit darge­ stellt hätte. Will man die Sprachstatistik zur Klärung der Frage der Echt­ heit des Alk. 1 nutzen, muss man von den sprachlichen Eigenarten aus­ gehen, die als kennzeichnend für jede der drei Gruppen der sicher echten Dialoge ermittelt worden sind, und prüfen, ob sich der Alk. 1 sprachlich in eine von ihnen einordnen lässt oder ob er in keine von ihnen passt, sich also in Sprache und Stil gravierend von allen sicher echten Dialo­ gen Platons unterscheidet. Dass dies der Fall ist, konnte bisher nicht überzeugend gezeigt werden.324 Was im Vorangehenden über die vor mehr als 200 Jahren von Schleiermacher ausgelöste Debatte über Echtheit des Alk. 1 gesagt wurde, beschränkte sich darauf, die hauptsächlichen Argumente vorzu­ stellen und in knapper Form zu bewerten. Als Fazit lässt sich Folgendes

Alk. 1 werde ich in einem Aufsatz Stellung nehmen, der demnächst erscheinen soll (Döring 2015/16). 322 Die Geschichte der Untersuchungen vom Beginn bis zum Jahre 1970 hat Brandwood 1990 nachgezeichnet. 323 Vgl. Erler 2007, 23–26. 324 Vgl. den detaillierten Überblick über die diesbezüglichen Untersuchungen bis 1996 bei Johnson 1996, 286–331. Die vorerst letzte Untersuchung (Tarrant/Roberts 2012) kommt zu dem Ergebnis, dass der Alk. 1 eher unecht als echt ist, erkennt jedoch an, dass andere Untersuchungen durchaus zu dem entgegengesetzten Ergebnis kommen können.

172

Appendizes

festhalten: Es gilt das methodische Gebot, dass nicht die Echtheit, son­ dern die Unechtheit einer Schrift bewiesen werden muss. Die Beweislast liegt nicht auf der Seite derer, die den Dialog für echt halten, sondern auf der Seite derer, die ihn für unecht halten. Solange sie den Beweis nicht in einer allgemein anerkannten Form erbracht haben, muss der Dialog als echt gelten. Es bleibt die Frage nach der Datierung des Alk. 1 . Sprachlich ordnet er sich, wenn er denn echt ist, den frühen Dialogen zu, wäre also ins erste Drittel des 4. Jahrhunderts zu datieren. Eine solche Einordnung wird auch durch den Inhalt des Dialogs nahegelegt.

3. Zum griechischen Text Die beste Textausgabe ist die von Carlini (1964), die am häufigsten benutzte die von Burnet (1901). Im Folgenden habe ich die Stellen zusammengestellt, an denen entweder die Texte Burnets und Carlinis voneinander abweichen oder ich weder Burnets noch Carlinis Textkons­ titution gefolgt bin. An erster Stelle ist der Text jeweils in der Form auf­ geführt, die ich für die richtige oder zumindest eher richtige halte. Für detaillierte Angaben zur Textüberlieferung und zur Textkritik sei auf den textkritischen Apparat in der Ausgabe von Carlini verwiesen.

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105c8–d1: Τί δὴ οὖν . . . τοῦτ᾿ ἐστί σοι πρὸς τὸν λόγον, ὃν ἔφησθα ἐρεῖν, διὸ ἐμοῦ οὐκ ἀπαλλάττῃ; mit Carlini / … πρὸς λόγον; [ὃν ἔφησθα ἐρεῖν, διὸ ἐμοῦ οὐκ ἀπαλλάττῃ;] Burnet. 105d7–e2 ὥσπερ γὰρ σὺ ἐλπίδας ἔχεις ἐν τῇ πόλει ἐνδείξασθαι ὅτι αὐτῇ παντὸς ἄξιος εἶ, ἐνδειξάμενος δὲ [ὅτι] οὐδὲν ὅτι οὐ παραυτίκα δυνήσεσθαι, οὕτω . . . mit Burnet / ὥσπερ γὰρ σὺ ἐλπί­ δας ἔχεις ἐν τῇ πόλει [ἐνδείξασθαι ὅτι αὐτῇ παντὸς ἄξιος εἶ, ἐνδειξάμενος δὲ ὅτι οὐδὲν ὅτι οὐ παραυτίκα δυνήσεσθαι], οὕτω . . . Carlini.

108a5: ᾄδοντα mit Burnet / τὸ ν ᾄδοντα Carlini. 109a3: φαίνεται mit Carlini / φανεῖται Burnet.




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3. Zum griechischen Text

δοκεῖ εἶναι. – ΣΩ. Πρὸς ταῦτ᾿ ἄρα καὶ σὺ [τὸ δίκαιον] τοὺς λόγους ποιήσῃ; – ΑΛ. Ἀνάγκη. Burnet.

109d7: μὰ mit Carlini / οὐ μὰ Burnet. 110b10: τί σ᾿ ἐχρῆν mit Carlini / τί σε χρή Burnet. 111a6–9: ΣΩ. . . . καὶ δικαίως ἐπαινοῖντ᾿ ἂν [αὐτῶν] εἰς διδασκα­ λίαν. – ΑΛ. Τί δή; – ΣΩ. Ὅτι ἔχουσι περὶ αὐτὸ ἃ χρὴ τοὺς ἀγαθοὺς διδασκάλους ἔχειν mit Carlini / ΣΩ. . . . καὶ δικαίως ἐπαι­ νοῖντ᾿ ἂν αὐτῶν εἰς διδασκαλίαν. – ΑΛ. Τί δή; – ΣΩ. Ὅτι ἔχουσι περὶ αὐτὰ ἃ χρὴ τοὺς ἀγαθοὺς διδασκάλους ἔχειν Burnet. 111b9: πῶς mit Burnet / πως Carlini. 112c4: Κλεινίας / Burnet und Carlini tilgen den Namen als spätere Zutat. 112d5: αὐτός mit Burnet / αὐτούς Carlini. 112e4–5: οὐκ ἐπίσταμαι mit Carlini / οὐδὲν ἐπίσταμαι Burnet.




115d1–3: ΣΩ. Οὐκοῦν τὰ μέγιστα μάλιστα. ΑΛ. Ναί. ΣΩ. Καὶ ἥκιστα … mit Burnet / ΣΩ. Οὐκοῦν τὰ μέγιστα; ΑΛ. Μάλιστα. ΣΩ. Καὶ ἥκιστα … Carlini.

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115e5–7: Wie Burnet und Carlini glaube ich, dass diese nur bei Stobaios überlieferten Zeilen zum ursprünglichen Text gehören. Vgl. S. 138. 119d4: Ἆρα κἂν . . . mit Carlini / Ἀλλὰ κἂν . . . Burnet. 120a9–b1: ὀρθυγοτρόφον mit Carlini; ὀρτυγοκόπον Burnet. 123a1: ὃ ἡ ἀλώπηξ … mit Carlini / ὃν ἡ ἀλώπηξ … Burnet. 124d3: πάνυ oder πολὺ μὲν / μᾶλλον μὲν Burnet und Carlini. Vgl. Anm. 173. 125c4: ὁμιλούντων καὶ συμβ. / οὐκοῦν τῶν καὶ συμβ. Burnet und Carlini. Vgl. Anm. 183.

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Appendizes

127c3: περὶ τούτων ὧν οἱ μὲν ἴσασιν mit Carlini / [περὶ τούτων] ὧν οἱ μὲν ἴσασιν περὶ τούτων Burnet. 128a13–b1 Wie Burnet und Carlini glaube ich, dass diese nur bei Sto­ baios überlieferten Zeilen zum ursprünglichen Text gehören. Vgl. S. 138. 128d6: τῶν ἑαυτοῦ mit Carlini / τῶν σαυτοῦ Burnet.




128e10: αὐτόν ἕκαστον / αὐτόν Burnet und Carlini. Vgl. Anm. 197. 129b1: αὐτὸ τὸ αὐτό mit Carlini / αὐτὸ ταὐτό Burnet.




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130c2: ἢ μηδὲν τῶν τριῶν αὐτ ὸν εἶναι (oder ἢ μηδὲν † αὔτ᾿† εἶναι) / ἢ μηδὲν αὔτ᾿ εἶναι Burnet und Carlini. Vgl. Anm. 203.




130d4: ἀντὶ αὐτοῦ τοῦ αὐτοῦ αὐτὸν ἕκαστον / ἀντὶ τοῦ αὐτοῦ αὐτὸ ἕκαστον Burnet, ἀντὶ τοῦ αὐτοῦ αὐτὸν ἕκαστον Carlini. Vgl. Anm. 204. 132c7: αὐτὰ / Burnet und Carlini αὐτὸ. Vgl. Anm. 220.

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133a10: τυγχάνει ὅμοιον mit Burnet / τυγχάνει ὅμοιον ὄν Carlini. 133c4: τῷ θεῷ mit Burnet / τῷ θείῳ Carlini. 133c5: θεόν τε καὶ φρόνησιν mit Burnet / νοῦν τε καὶ φρόνησιν Car­ lini. Vgl. Anm. 230. 133c8–17: Wie Burnet glaube ich, dass diese nur bei Eusebios und Sto­ baios überlieferten Zeilen zum ursprünglichen Text gehören. Carlini hält sie für eine spätere Ergänzung. Vgl. S. 136–137. 133c8: ἆρ᾿ οὖν † ὅθ᾿ † ὥσπερ / ἆρ᾿ οὖν ὅθ᾿ ὥσπερ Burnet; ἆρ᾿ οὖν ὅτι ὥσπερ Carlini. Vgl. Anm. 231. 134d1–e7 Δικαίως . . . Ἔοικεν von Carlini als spätere Zutat aus dem Text ausgeschieden. Vgl. Anm. 233. 135a1–2: ὡς μηδέν᾿ ἐπιπλήττειν αὐτῷ (versuchsweise) / ὡς μηδὲν ἐπιπλήττοι τις αὐτῷ Burnet und Carlini. Vgl. Anm. 249.

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Register1 1. Stellen2

a) Corpus Platonicum Alkibiades 1 (Alk. 1)3 103a1–106c3 104a6–b3 104b5–6 105a3–c6 105b2–c6 105c8–d1 105d7–e2 105e5 106c4–109c12 108a5 108a12–d9 109a3 109c5–8 109d1–113c7 109d7 110b10 111a6–9 111b9 112c4 112d5 112e4–5 113d1–116e1 111e1 115a4–116e1 115d1–3 115e5–7 116e2–119a7 117d7–118a3 119a8–124b6 119d4 120a9–b1

1

67–72 100 44 160 113 172 172 39 73–78 172 168 172 172 78–82 173 173 173 173 173 173 173 83–91 169 66 173 138. 173 91–97 143 98–113 173 173

120e6–124b6 (‚Königsrede‘) 120e6–121d2 121d2–122d1 122d1–123c3 122e3 123a1 123c3–124b6 124b7–127e8 124c8–9 124c9–10 127e6 124d3 125c4 127c3 127e9–132c6 128a13–b1 128d6 128e10 129b1 130c2 130d4 132a2–3 132a3 132c7–133c17 132c7 132e2 133a2 133a10 133b7–c17 133b3–5 133c2 133c4 133c5 133c8 133c8–17

72. 101–113 101–104 105–108 108–111 153 173 111–113 113–124 69 41 39 173 173 174 124–132 138. 174 174 174 174 174 174 146. 218 71 132–139 174 170 170 174 226 176 229 174 174 170. 174. 231 136–139.

Kursive Zahlen beziehen sich auf die Anmerkungen. Reine Verweisstellen sind nur in Ausnahmen aufgeführt. 3 Die fett gedruckten Zahlen geben die Seiten an, auf denen die betreffenden Abschnitte des Alk. 1 fortlaufend erläutert werden (vgl. die Gliederung S. 65–66). 2

185

Register

133c14 133c18–135d7 134d1–e7 135a1–2 134d4–5 135d6 135d7–e8

144. 169. 170. 174. 233 170 139–145 174. 233 174. 249 137. 233 39 146

Alkibiades 2 (Alk. 2) 141a5–c8 142e1–143a5 148a1–b8 150c3–151c4

158–161 160 160 160 159

Apologie (apol.) 20d6–23c1 23a3–7 28d10–e4 29b1–2 29d4–e3 29d7–e3 29d8–e2 29d8 30a7–b2 30a7–b4 31c8–d4 31d1–2 36c5–d1 36c7–d1 39e1–40c3 40a4 40b1 40c2–3

136 136 157 93 174 168 210 166 174 168 68 f. 37 168. 174 210 69 68 68 68

Charmides (Charm .) 158a4–5 164d3–165b4 165a3–4 171e7–172a3 173d3–4

111 129 198 91 91

Erastai (erast.) 132a1 138a55–6

68 129

Euthydemos (Euthyd .) 272e1–273a2 272e3–4 281c1–3

171 115 91

Euthyphron (Euthyphr.) 3b5–6 7b7–c2 11b9–e1

37 193 102

Gesetze (leg .) 11, 922a2

85

Gorgias (Gorg.) 474c4–477e6 474c7–8 481d1–5 481d1–482a2 482d7–484b1 482d7–e2 503b6–c3 504d9–e5 513c7 513e5–6 514a5–e10 515a1–b4 507c3–5 519a7–8 523a1–527e5

66 67 150. 153 219 66 67 96 95 218 95 96 96 91 150 72

Kleitophon (Kleit.) 407b1–408b5 410a3

168 194

Kratylos (Krat .) 437d10–438a2

237

Menon (Men .) 94a7–b8

94

Menexenos (Mx .) 237a4–b2

100

Parmenides (Parm .) 126c1

96

Phaidon (Phaid .) 107c1–115a8

72

Phaidros (Phaidr.) 230b2–c5 230d3–5 237a7–241d1 242b8–c3 243e9–257b8 263a2–b1 275b2

168 168 72 172 72 73 101

186

Register

Philebos (Phil .) 49a2. d11

101

Politeia (rep.) 1, 341c9–d3 1, 342c8–9 1, 352d8–353d2 4, 427e6–434a2 4, 430e6–8 4, 433a8–c3 4, 442b11–d6 3, 408b6 8, 544c3 8, 544d7 8, 545a3 8, 545c9 8, 548a5–7 10, 614b2–621d3 10, 621d2–3

99 182 176 106 130 123 106 103 110 110 110 110 110 72 91

Politikos (polit .) 277d9–278e11 279a1–311c10

223 223

Protagoras (Prot .) 309a1–2 309a1–c4 309a1–5 309a1–b9 316a3–5 318e5–319a2 319b3–4 319b3–d7 319a8–320b5 319e3–320b1 325d7–326c3 336b7–e2 327e3–328a1 336b7–d5 337d4–6 342a6–347a5 343a8–b3 344e7–345b8 347b2–7 348b2–8

153 167 72 150. 154 150 120 166 60 95 94 f. 73 150 80 168 166 72 198 91 168 168

Sophistes (soph .) 231b6

101

Symposion (symp.) 186e2 196c4–5 212d3–223a9

103 130 150

212e6–213a6 213d8–e6 214d2–e5 215a4–216c 216c4–219e5 217a2–219d2 219e5–221c1 222a7–b7

276 276 155 155 f. 156 167 156–158 158

Theages (Thg .) 128c6–8 130e5–7

145 145

Theaitetos (Tht.) 149a1–151d3

69 f.

Timaios (Tim.) 72a4–6

129

b) Andere antike Autoren Aischines (Redner) Tim. 12

68

Aischines (Sokratiker) (SSR) Alkibiades VI A 41–54 149. 152–155 Axiochos VI A 56 265 Miltiades VI A 76 154 Fragmentum incertae sedis VI A 43, 4–5 270 Aisopos Nr. 147 Hausrath

109

Ameipsias Konnos

64

Antisthenes Alkibiades Kyros–Schriften V A 142 V A 200 V A 202

149–153 150–152 108 150. 157–158 266

Apollonios Rhodios 3, 114–130

69

187

Register Archilochos fr. 24, 5 West

169

Archippos fr. 48 PCG

148

Aristophanes Nubes Pax 622–623

64 110

Aristoteles eth. Nic. I 5, 1106a15–24 IX 6, 1167a26–28 pol. II 9, 1269b12–1271b19 rhet. A 9, 1367b31–32 A 10, 1368b7–9 B 15, 1390b29–31 Arsenius Violetum p. 507, 12–15 Walz Cicero div. 1, 41, 91

Hermippos fr. 32 Wehrli

282

Herodot 1, 60, 3 1, 133, 1 1, 136, 2 1, 138, 1 2, 98, 1 9, 81, 2 9, 110, 2

112 104 105 133 111 109 104

110

Homer Ilias 1, 106 21, 462–469

169 130

100 77 108

Odyssee 23, 11–13

130

176 192

264

106

Iamblichos fr. 1 Dillon ep. ad Sopatrum ap. Stob. III 11, 35

233

Isokrates or. 3, 8 or. 8, 96 or. 11, 4–6 or. 16, 29–30

120 110 161 157

Kallimachos fr. 193, 30 Pfeiffer

170

Lysias 14, 25 14, 28 14, 41 32, 28 fr. 8 Carey

54 265 265 111 151 f.

289

Demosthenes or. 27, 36

111

Diogenes Laertios 2, 40 2, 60–61

163. 37 149

Dissoi Logoi (90 DK) 2, 15 p. 408, 22–24 3 p. 410–411

151 76

Duris (FGrHist 76) F 29

74

Eukleides aus Megara Alkibiades

149

Olympiodoros in Alc. 167, 13–168, 1

111

Eusebios Pr. Ev. XI 27, 5

139

Pausanias 10, 24, 1

198

Phaidon aus Elis Alkibiades SSR III A 8, 6 Zopyros

149 150. 158

Gellius 7, 10, 1–4

33

Gnomologium Vaticanum Nr. 376

264

188

Register

Philo De specialibus legibus 3, 100 Plutarch Vit. Alc. 1, 3 2, 5–7 7, 12 Vit. Lyc. 16, 6

143

145 74 74

Stobaios III 1, 192 III 21, 23 III 21, 24

234 234 139

Strabon 15, 3, 18

133

Theophrast char. 7, 4

68

Thukydides 1, 108, 1 2, 41, 1 5, 85–113 (Melierdialog) 5, 90

81 166 83 77

145

Polykrates Anklagerede gegen Sokrates 161–163 Proklos in Alcibiadem 11

289

Rufus Ephesius De corporis humani partium appella­ tionibus 23 224 Satyros (ed. Schorn) F 20, 22–29

54

Solon F 19 Diehl, 27 West

105

Xenophon an. 1, 4, 9 1, 9, 5–6 Kyr. 1, 2, 6–8 8, 8, 12–13 mem. 1, 1, 1 1, 2, 9–64 1, 2, 40–46 4, 2, 14–20

111 133 133 133 163. 37 162–164 109 77

2. Personen-, Götter- und Heroennamen4 Achaimenes 101 Agathon 155. 158. 276 Agis 103 f. 111 f. 162 Aiakos 102 Aias 102 Aischines aus Sphettos 149. 152–155 Alkibiades (Sohn des Alkibiades) 265 Alkmene 102 Amestris 104. 112 f. Amykla 150 Amytis 104 Anaxagoras 94 Andromeda 101 Antisthenes 149–153. 157

Apollon 130. 157. 198 Archidamos 113 Ariphron 94 Ariston 111 Artaxerxes (I) 104. 111 f. Asklepios 103 Aspasia 99 f. Axiochos 151 f. 265 Daidalos 102 Damaskios 164 Damon 94 Danaë 101 Dareios (Sohn des Xerxes)

104

4 Nicht aufgenommen sind in das Register die Namen Sokrates, Platon und Alkibiades (unter diesem Namen ist allein der gleichnamige Sohn des Alkibiades berücksichtigt) sowie die Namen antiker Autoren, aus deren Schriften zitiert wird (vgl. hierzu das Stellenregister).

189

Register Dareios (II) 104. 111 Deinomache 67. 112. 44 Demokritos (Platoniker) 164 Demos 153 Diogenes aus Sinope 149 Elektryon 102 Eros 253 Eudikos 45 Eukleides aus Megara Euripides 45 Eurykleia 130 Eurysakes 102 Ficino Gorgias

149 f. 33

165 97

Harpokration aus Argos 164 Helena 81 Henricus Aristippus 165 Hephaistos 102. 126 Hera 126 Herakles 101 f. Hippias 72 Hipponax 170 Horomazes (Ahura Mazda) 106. 141 Iamblichos

164

Kallias (Sohn des Hipponikos) 45. 110 Kallias (Sohn des Kalliades) 96 f. Kallikles 95 f. 153. 45. 66. 67 Kimon 96 Kleinias (Vater des Alkibiades) 7. 82. 153. 44 Kleinias (Bruder des Alkibiades) 94 f. 44 Kyros (d. Gr.) 151

Ochos (= Dareios [II]) Odysseus 81. 130 Olympiodoros 164

104

Paralos 94 Paris 81 Parysatis 111 Pasiphon 256. 257 Pausanias (Sieger bei Plataiai) 109 Penelope 130 Perikles 71. 93–96. 98. 114. 155. 44 Periktione 111 Persaios 149. 256. 266 Perses 101 Perseus 101 f. Phaidon aus Elis 149 f. 158 Pheidostratos 45 Philiskos aus Aigina 149 Pico della Mirandola 165 Poliziano 165 Polos 66. 67 Polykrates 161–163 Poseidon 130 Prodikos 72 Pronomos 74 Protagoras 72. 80. 97. 120 Proklos 164 Pyrilampes 111. 153 Pythodoros 96 f. Pythokleides 94 Schleiermacher 7. 165 f. 171 Sogdianos 104 Sophroniskos 102 Syrianos 164 Telamon 102 Themistokles 96. 111. 153–155 Timaia 103 f. 148 Wilhelm von Moerbeke

165

Lampido 113. 162 Leotychides (Vater der Lampido) 113 Leotychides (Sohn der Timaia) 104 Lykurgos 109

Xanthippe Xanthippos Xenophon Xerxes (I) Xerxes (II)

149 94 162–164 104 104

Marsyas 155 Medontis 152 Megakleides 45 Megabyzos (II) 104 Meidias 99 Menelaos 81 Miltiades 96

Zenon (aus Elea) 96 f. Zeus 101 f. 126 Zopyros (Knabenaufseher des Alkibiades) 107 Zopyros (Physiognom) 158 Zoroastres (Zoroaster, Zarathustra) 106. 141

190

Register

3. Wörter und Sachen5 ἀκροχειρίζεσθαι 62 Amme (τιθήνη) 150. 137

Amnestie des Jahres 403 285 archein 118 f. aretē 7 f. 115 f. 144 f. Arzt 81. 103. 128. 130. 132. 141 f. Aulos 74. 52 Aulosspieler 119. 185. 186 αὐτὸ τὸ αὐτό: s. das Selbst selbst Bemühung um sich selbst (epimeleia heautou) 113–115. 124 f. 132 f. besonnen, Besonnenheit (sōphrōn, sō­ phrosynē) 129–131. 143 f. 215 Chorlehrer 119. 186 chorodidaskalos: s. Chorlehrer Daimonion des Sokrates 67–70. 114 f. 145. 167. 171. 172 Delion, Schlacht beim D. 150. 157 f. Delphi, Inschrift in D.: s. Selbsterkenntnis dēmerastēs: s. Liebhaber des Volkes die Edlen und Tüchtigen (οἱ καλοὶ κἀγαθοί) 116–120. 124 Einigkeit (homonoia) 121–123. 194 Elementarlehrer: s. Grammatistēs ἔνοπτρον, κάτοπτρον 170 epimeleia heautou: s. Bemühung um sich selbst Erchia (attischer Demos) 112. 165 Erkenne dich selbst: s. Selbsterkenntnis euboulos, euboulia 120 eu prattein, kakōs prattein 89 f. 143. 90– 92. 246 Eunuchen 105 Fachwissen (technē) 7 f. 113. 125 – das Fachwissen der Ärzte und Sport­ lehrer 125. 128. 130 f. 132. 141 f. – das Fachwissen der Handwerker und Bauern 118. 125. 128 f. 130–132. 141 f. Freundschaft: s. philia Gerechtigkeit Gespräch 5

121. 123. 144

– das philosophische Gespräch als Weg zur Selbsterkenntnis 135 – Gespräch versus zusammenhängende Rede 71 f. 84 f. 46 – Regeln des philosophischen Gesprä­ ches 82. 84 f. 90 Grammatistēs 73 ‚Hebammenexkurs‘ des Theaitetos homonoia: s. Einigkeit

69 f.

kakōs prattein: s. eu prattein οἱ καλοὶ κἀγαθοί: s. die Edlen und Tüch­

tigen kalos 77 f. 85 f. keleustēs 185 Kinderfrau (trophos) 105. 137 Kitharistēs 73. 76 Kithara: s. Leier Knabenaufseher (Paidagōgos) 106 f. 146. 140. 144 Knabenliebe 67. 152 κόρη 133. 224 Koroneia, Schlacht bei K. 81. 44 krēgyos 169 f. kybernētēs: s. Schiffskommandant Leier 73. 49 Liebe: s. philia Liebhaber des Volkes (dēmerastēs) 146. 218 Lyra: s. Leier Mager

132.

106

nachträgliche Texterweiterungen im Alc. 1? 137–139 Nichtwissen – Formen des Nichtwissens; vgl. ver­ meintliches Wissen 91–93 nomimon 77 f. ὄψις 133. 224 ὄψον 98

Paidagōgos: s. Knabenaufseher Paidotribēs: s. Sportlehrer paradeigma: s. Parallelfall

Verwiesen sei auch auf die Gliederung S. 65–66.

191

Register Parallelfall (paradeigma) 133. 223 Peparethos, Peparethier 90 f. 97 Perser, Persien – Abstammung und Geburt der Könige der Perser 101–104 – Erziehung der Prinzen der Perser 105 f. – Luxus der Perser 107 – Reichtum der Könige der Perser 110 f. – Inzest bei den Persern 150 f. philia 121–123 polis 8. 55 Politiker, die vermeintlich großen P. Athens 93–99 Poteidaia, Schlacht bei P. 67. 156 f. praxis 87 Schiffskommandant (kybernētēs) 98. 119. 120. 99 schön: s. kalos Seele; vgl. das Selbst des Menschen – der vernünftige Bereich der Seele 134–137 – Gottähnlichkeit des vernünftigen Bereichs der Seele 135 f. selbst – das Selbst des Menschen: seine Seele 125–129. 132 f. 140 f. – das Selbst selbst (αὐτὸ τὸ αὐτό) 7. 126–129 – das Selbst einer Sache und die Dinge, die zu ihr gehören 125 – das Selbst des Menschen, die Dinge, die zu ihm gehören, und die Dinge, die zu den Dingen gehören, die zu ihm gehören 125. 140–144 Selbsterkenntnis 113. 125. 128–137. 140 f. 143. 198 – sich selbst sehen und sich selbst erkennen 132–137 – Selbsterkenntnis durch Spiegelung der eigenen Seele in der Seele eines anderen und in Gott 134–137. 144 Seriphos 91 sokratischer Dialog

– Fiktionalität des sokrat. Dialogs 63 f. 168 f. 37 – das Verhältnis Sokrates/Alkibiades in den sokrat. Dialogen 150–160. 167 f. – Typen des sokrat. Dialogs 63 sophos, sophia 7 f. 134. 136. 103 Sophisten – Vorträge der Sophisten in Privathäu­ sern, Gymnasien und Schulen 71 f. 45 – Honorare der Sophisten 96 f. sōphrōn, sōphrosynē: s. besonnen, Beson­ nenheit Spartaner, Sparta – Abstammung und Geburt der Könige der Spartaner 101–104 – Bestechlichkeit der Spartaner 109 – Reichtum der Spartaner und ihrer Könige 108–110 – die Tugenden der Spartaner 107 f. Spiegel, Spiegelbilder 133–137. 144 Spiele – Brettspiele 79. 70 – Würfelspiele (Knöchelspiele) 69 Sportlehrer (Paidotribēs) 73 f. 76. 125. 129. 130 f. 132. 141 f. Sprachstatistik 171 Steuermann 99 Storch 146 Tanagra, Schlacht bei T. technē: s. Fachwissen τιθήνη: s. Amme Trierarchos 99 trophos: s. Kinderfrau Tüchtigkeit: s. aretē

81

vermeintliches Wissen 93. 142 f. 101 – die Folgen vermeintlichen Wissens 93. 141–144 ‚Verschweigungsstellen‘ in den Dialogen Platons 127 f. Wissenserwerb durch Lernen oder Selbst– Finden 73. 78–82. 83 f. Wohlberatenheit: s. euboulos, euboulia