Erschöpfte Utopien: Dahrendorf, Habermas und das Ende der ›trente glorieuses‹ 9783110711615, 9783110711417

Dahrendorf and Habermas are two of the most influential intellectuals in the history of the Federal Republic of Germany.

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German Pages 366 [368] Year 2021

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Einleitung: Erschöpfungstendenzen im Denken zweier ungleicher Weggefährten
1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik
2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom
Schluss: Zwei Liberale zwischen Rechtsstaat und Demokratie
Literaturverzeichnis
Register
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Erschöpfte Utopien: Dahrendorf, Habermas und das Ende der ›trente glorieuses‹
 9783110711615, 9783110711417

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Matthias Hansl Erschöpfte Utopien

Ordnungssysteme

Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Florian Meinel und Lutz Raphael

Band 58

Matthias Hansl

Erschöpfte Utopien Dahrendorf, Habermas und das Ende der trente glorieuses

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort

ISBN 978-3-11-071141-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071161-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071173-8 ISSN 2190-1813 Library of Congress Control Number: 2020949811 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Juni 2019 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht und im November 2019 verteidigt wurde. Zuallererst habe ich mich bei meinem Betreuer und Erstgutachter Karsten Fischer zu bedanken, der mir bei der Entstehung dieser Arbeit jeden erdenklichen Freiraum gegeben hat. Die Zusammenarbeit mit ihm am Geschwister-Scholl-Institut hat mir viel Freude bereitet, gerade weil sie keine Zuarbeit war. Christian Schwaabe danke ich für seine Bereitschaft, als Zweitgutachter zu fungieren, und für den einen oder anderen geistreichen Plausch in seinem Büro. Daniel Felleiter, Timm Graßmann, Sebastian Huhnholz und Astrid Séville haben Teile des Manuskripts gelesen und wertvolle Hinweise gegeben. Ihre intellektuelle Spritzigkeit hat mich in den letzten Jahren immer wieder inspiriert. Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Florian Meinel und Lutz Raphael möchte ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Ordnungssysteme danken. Jana Fritsche, Antonia Mittelbach und Rabea Rittgerodt von De Gruyter Oldenbourg haben für eine problemlose Drucklegung gesorgt. München, im Dezember 2020

Inhalt Einleitung: Erschöpfungstendenzen im Denken zweier ungleicher Weggefährten 1  . .. .. . .. ... ..

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Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik 16 Mit Marx gegen Marx: Lehren aus dem Klassenkompromiss der 16 Nachkriegszeit Flucht aus dem „Café Max“ – aus unterschiedlichen Motiven 16 42 Im Schatten der Lehrer Denken von der Gesellschaft her: Herrschaftskritik im ersten Zeitalter der Christdemokratie 84 Varianten der „skeptischen Generation“: Bundesrepublikaner 84 zwischen Erlösung, Integration und Wettbewerb Habermas’ Suche nach der demokratischen Öffentlichkeit in 95 Adenauers Kanzlerdemokratie Dahrendorfs Suche nach Konflikt in Erhards formierter Gesellschaft 133 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom 159 Die Rückkehr der Ökonomie: Eintritt ins lange Krisenjahrzehnt 159 Am Ende aller Ziele? Von der Großen Koalition zum sozialliberalen 159 Machtwechsel Schleichende Ernüchterung: Die Grenzen des Wachstums und das Ende der Planungseuphorie 202 Die Rache des Konservatismus: Szenen eines Rückzugsgefechts 228 Rechts vor links: Politischer Klimawandel in der Krise 228 Denker ohne Ort 283

Schluss: Zwei Liberale zwischen Rechtsstaat und Demokratie Literaturverzeichnis Register

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Einleitung: Erschöpfungstendenzen im Denken zweier ungleicher Weggefährten Am Anfang eines ideengeschichtlichen Doppelporträts von Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas steht die Frage: Weshalb sollte es sich lohnen, den Liberalen und späten deutsch-britischen Lord mit dem Großreformator der Kritischen Theorie und akribischen Wissenschaftler zu vergleichen? Dahrendorf hat seine akademische Karriere als Soziologe mit dem Eintritt in die Berufspolitik aufseiten der FDP Ende der 60er faktisch beendet und sich nach seinem genauso rasanten Aufstieg wie ikarusartigen Absturz in der Bonner Bundes- und Brüsseler Europapolitik schließlich in England auf die Tätigkeitsfelder des Wissenschaftsmanagements und der politischen Publizistik verlegt. Im gleichen Zeitraum baute Habermas nach seinem Wechsel von der Frankfurter Goethe-Universität an das Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt an einer Großtheorie des kommunikativen Handelns. Wenn man es auf einen werkgeschichtlichen Vergleich der beiden Denker abgesehen hätte, stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines solchen Unterfangens.¹ Es müsste angesichts der Kluft, die sich zwischen Dahrendorfs und Habermas’ akademischer Produktivität und Wirkung auftut, wohl nicht nur konstruiert, sondern lächerlich wirken: Habermas hat nicht nur einen sozialwissenschaftlichen Klassiker vorgelegt, sondern seine Kommunikationstheorie sowie seine politik- und rechtsphilosophisch untermalte deliberative Demokratietheorie strahlen bis heute in hohem Maße auf fachinterne und interdisziplinäre Debatten in der internationalen Soziologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Philosophie, während Dahrendorfs konfliktsoziologischer Ansatz weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Dennoch lässt sich ein Vergleich zwischen beiden Denkern im Hinblick auf generationengeschichtliche Aspekte plausibilisieren: Demzufolge konnten die gleichaltrigen 29er (d. h. im Jahr 1929 Geborenen) Dahrendorf und Habermas die politische Zäsur nach der deutschen Kriegsniederlage entschiedener als andere nutzen, um an der Demokratisierung der politischen Kultur ihres kompromittierten Heimatlandes mitzuwirken. Gemeinhin gilt die Bundesrepublik in der

 Vgl. etwa unter dem spezifischen Aspekt der Leit- bzw. Zivilkultur vorgenommenen Vergleich von Leipertz, Das ‚Prinzip‘ der Gerechtigkeit in den gesellschaftswissenschaftlichen Ansätzen Dahrendorfs und Habermas’. https://doi.org/10.1515/9783110711615-001

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Einleitung: Erschöpfungstendenzen im Denken zweier ungleicher Weggefährten

Zeitgeschichtsschreibung zu Recht als „geglückte Demokratie“², weil sie sich vom antiliberalen und antidemokratischen Erbe der deutschen Geschichte seit der Reichsgründung von 1871 lösen und eine pluralistische politische Kultur ausbilden konnte.³ Der Möglichkeitsraum, den ambitionierte junge Intellektuelle in der historischen Konstellation der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft vorfanden, war groß genug, dieses Demokratisierungsmotiv durchaus karriereförderlich mit Leben zu erfüllen.⁴ Die auch journalistisch begabten Schreiber Dahrendorf und Habermas betätigten sich dementsprechend früh intellektuell über die engen Grenzen des akademischen Betriebs hinaus und suchten die öffentliche Bühne. Dass Habermas dabei ein weitaus beachtlicheres wissenschaftliches Oeuvre als Dahrendorf hinterlassen hat, muss nicht weiter stören, wenn man den Vergleich mit Dahrendorf als eine parallel verlaufende Zeitgeschichte des politischen Denkens zweier ungleicher Weggefährten versteht. Mehr als im Falle des etwa gleichaltrigen Niklas Luhmann, der sich schon in Abgrenzung zu seinem akademischen Lehrer, dem konservativen Publizisten Helmut Schelsky, vornehmlich auf die Konstruktion einer großen Systemtheoriekathedrale verlegte, sind bei Dahrendorf und Habermas sozialwissenschaftliche Theoriebildung und politischer Interventionismus im zeitgeschichtlichen Kontext von Anbeginn geradezu symbiotisch miteinander verschmolzen. Dass Dahrendorf eine solche Symbiose vollzog, mag nicht überraschen, zielte er in seinen Essays doch generell eher darauf ab, „ein gebildetes Laienpublikum zu erreichen als Forschungsdesigns für sozialwissenschaftliche Projektanträge zu entwerfen“⁵. Luhmann sah sich deshalb zu der Bemerkung veranlasst, Dahrendorf müsse man als „soziologische[n] Schriftsteller, nicht [als] soziologische[n] Theoretiker“⁶ behandeln. Es ist wenig aussichtsreich, seine Konflikttheorie sozialen Wandels im Nachhinein zu einem sozialwissenschaftlichen Klassiker zu stilisieren. Dahrendorf war kein penibler Theoriearbeiter. Ein denkwürdiges sozialwissenschaftliches Vermächtnis zu hinterlassen, entsprach nicht seinen Am-

 Wolfrum, Die geglückte Demokratie; vgl. auch Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte II.  Vgl. dazu auch Schwaabe, Die deutsche Modernitätskrise, S. 403 ff.  Jens Hacke attestiert intellektuellen Diskursen nur einen „repräsentativen Charakter“: „sie spiegeln“ – so sein Verdikt – „das wider, was in der Gesellschaft ohnehin passiert“, Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 14. Wenn auch eher unterschwellig, wird in der vorliegenden Arbeit hingegen die These vertreten, dass sich bestimmte Ideen zwar stets in Abhängigkeit vom historischen Kontext entwickeln, aber in bestimmten Zeiten sehr wohl eine gewisse Schrittmacherfunktion für den sozialen Wandel übernehmen können – in anderen Zeiten freilich sehr viel weniger.  Neckel, „Ungesellige Geselligkeit“, S. 247.  Zit. nach Dammann (Hrsg.), Wie halten Sie’s mit Außerirdischen, Herr Luhmann, S. 136.

Einleitung: Erschöpfungstendenzen im Denken zweier ungleicher Weggefährten

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bitionen. Habermas zufolge zeichnete ihn jedoch früh das „avantgardistische Selbstbewusstsein“ aus, „mit alten Hüten aufzuräumen“⁷. Dieses rückblickende Lob ist aus ideengeschichtlicher Perspektive jedoch verschenkt, wenn man Dahrendorf gleichzeitig in dem „klassische[n] Rang eines konstitutiven Vordenkers und Demokratielehrers“⁸ musealisiert. Vielmehr ist sein Werk auch heute noch aufschlussreich, wenn es als Zeitzeugnis eines liberalen Missionars und Teil einer Vorgeschichte der Gegenwart ernstgenommen wird, in der sich die Versprechen eines sozialen Liberalismus seit den 70ern rasant erschöpften. Bei Habermas stellt sich das Problem von der anderen Seite. Nach dem Ende der sozialliberalen Ära setzte er sich in der Bundesrepublik vermehrt gegen eine neokonservative Tendenzwende in Politik und Gesellschaft⁹ zur Wehr und achtete deshalb schon publikationsstrategisch darauf, seine „Aufsätze und Reden, mit denen“ er sich, „in einem etwas bürgerlichen Sinne, politisch-publizistisch betätigt“¹⁰ habe, von seinen im engeren Sinne wissenschaftlichen Arbeiten abzugrenzen. Sein wissenschaftliches Werk reiht sich mittlerweile längst in einen disziplinübergreifenden klassischen Kanon ein und muss in Teilen als derart überforscht gelten, dass der interessierte Beobachter sprichwörtlich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Deshalb kann und soll der Fokus im Folgenden auch nicht auf dem ingeniösen Architekten der Kommunikationstheorie und hyperpräzisen Diskursphilosophen liegen. Der wissenschaftlichen Tiefenschärfe seines Werks kann hier nicht im Detail Rechnung getragen werden. Das häufig bemühte Bild vom „Hegel der Bundesrepublik“ (so Jan Ross anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Habermas im Jahr 2001 in der ZEIT) soll vielmehr um die Skizze eines bruchreichen politischen Denkers ergänzt werden, dessen – gemäß der hiesigen These: zeitgeschichtlich bedingte – Wendungen in einer Biografie „ohne gravierende Einschnitte und Diskontinuitäten“¹¹ zu kurz kommen. In der vorliegenden Arbeit wird folglich der Weg einer zeitgeschichtlichen Fundierung politischen Denkens eingeschlagen, um Kontinuitäten, aber auch Brüche im Denken zweier ungleicher Weggefährten in den Blick zu bekommen. Es handelt sich weder um eine klassische biographische Arbeit, die Dahrendorf und

 Habermas, Im Sog der Technokratie, S. 162.  Hacke, „Das Scheitern eines politischen Hoffnungsträgers“, S. 137.  Vgl. dazu die anschauliche Rekonstruktion von Wehrs, Protest der Professoren, S. 431 ff.  Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 9.  Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 19.

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Einleitung: Erschöpfungstendenzen im Denken zweier ungleicher Weggefährten

Habermas über alle Lebensstationen hinweg begleiten will¹², noch soll, wie bereits bemerkt, im strikten Sinne ein Theorie- oder Werkvergleich erfolgen. Vielmehr soll es darum gehen, Dahrendorf und Habermas als zwei ungleiche Exponenten einer theoriegeleiteten, utopischen Herrschaftskritik vorzustellen, die auf ihrem Höhepunkt Mitte der 60er von den günstigen Voraussetzungen der trente glorieuses zehrte und auf einen entgegenkommenden Zeitgeist traf, bevor sie unter den Bedingungen einer veränderten politikökonomischen Großwetterlage in den 70ern zunehmend verpuffte.¹³ In dieser – für Dahrendorf und Habermas gewissermaßen tragischen Phase – wurden auch die Konzepte der politischen Planung und gesellschaftlichen Demokratisierung zugunsten eines reaktiven politischen Pragmatismus aufgegeben, der sich über die politischen Lager hinweg auszubreiten begann: der Übergang vom Idealisten Willy Brandt zum Realisten Helmut Schmidt in der SPD, aber auch die programmatische Entkernung der Union unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls können als Beispiele angeführt werden. Der Siegeszug einer Politik im bloßen Verwaltungs- bzw. Dauerkrisenbewältigungsmodus, eines politischen muddling through – das seine treffendste Formel in der Äußerung Schmidts fand, dass, wer Visionen habe, zum Arzt gehen solle –, offenbarte sich nicht zuletzt in der Ort-, Rat- und Ziellosigkeit, die Dahrendorfs und Habermas’ Denken fortan kennzeichneten. Die vorliegende Arbeit erstreckt sich folglich in der Hauptsache über den begrenzten Untersuchungszeitraum zwischen dem ersten bundesrepublikanischen Zeitalter der Christdemokratie seit den späten 50ern und der (neo‐)konservativen Wende in westlichen politischen Ökonomien in den späten 70ern und den frühen 80ern. Dabei erscheint es weder nötig noch hilfreich, in der Manier eines geschichtswissenschaftlichen Positivismus der Tatsachen allen biografischen, politik- und sozialgeschichtlichen Aspekten im Untersuchungszeitraum gerecht zu werden. Wichtiger ist dagegen die Plausibilisierung eines politikökonomisch und zeitgeschichtlich fundierten Bruchs in den Schriften zweier Denker, die sich explizit in der Tradition der angelsächsischen bzw. französischen Aufklärung verorteten – und in dieser Rolle als exemplarisch gelten dürfen. Der erste Teil der Arbeit (1. Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik) widmet sich der Frage, wie die Schriften zweier demokratietheoretischer Antipoden unter den Bedingungen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu einem gemeinsamen theoriepolitischen Projekt verschmelzen konnten. Stellt man

 Sowohl für Habermas als auch für Dahrendorf liegen mittlerweile einschlägige Biografien vor, denen die vorliegende Arbeit viele Einsichten verdankt, vgl. Meifort, Ralf Dahrendorf und MüllerDoohm, Jürgen Habermas.  Ein erster Versuch, diese These darzulegen, findet sich in Hansl, „Ungleiche Weggefährten“.

Einleitung: Erschöpfungstendenzen im Denken zweier ungleicher Weggefährten

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Dahrendorfs und Habermas’ Wirken in der frühen Bundesrepublik in einen systematischen Zusammenhang, so haben sie, wie Jens Hacke anmerkt, „die intellektuelle Szene […] entscheidend geprägt und zeitweise sogar beherrscht“¹⁴. Versetzen wir uns an den Ausgangspunkt ihrer intellektuellen Karrieren in die 50er zurück, als beide Assistenten am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) waren, fällt ihre synchrone Auseinandersetzung mit Marx ins Auge (1.1. Mit Marx gegen Marx: Lehren aus dem erfolgreichen Klassenkompromiss der Nachkriegszeit). Das IfS war auf der intellektuellen Landkarte der frühen Bundesrepublik die erste Adresse, wenn man es darauf anlegte, gegen den Konservatismus in einer von antikommunistischen Ressentiments geprägten, vielfach als restaurativ wahrgenommenen Adenauer-Republik anzuschreiben. Allerdings machten Dahrendorf und Habermas schnell die Erfahrung, dass ihr starker gesellschaftspolitischer Reformfuror nach der pessimistischen Wende der Kritischen Theorie hier nur auf wenig Gegenliebe stieß. Vor allem zwischen Max Horkheimer, dem Direktor des IfS, und den beiden selbstbewussten Nachwuchswissenschaftlern des Instituts waren Konflikte an der Tagesordnung. Aus Dahrendorfs und Habermas’ Frühschriften war ein in die Zukunft gerichteter, politisch-reformerischer Gestus herauszulesen, dem der Zeitgeist zunehmend entgegenkam. Dahrendorfs Überzeugung, Klassenkonflikte seien die Antriebskräfte sozialen Wandels, korrespondierte mit Habermas’ explizit in der Sprache der Kritischen Theorie vorgetragene Forderung nach einer geschichtsphilosophischen Entfesselung der politischen Öffentlichkeit. Diese jeweilige theoriepolitische Offensivstellung gründete letztlich auf einem allseits grassierenden Glauben an die Berechenbarkeit, Machbarkeit und Planbarkeit der Geschichte – und auf der Vorstellung, dass ökonomische Krisen im Kapitalismus politisch beherrschbar seien. Sieht man einmal von Horkheimers und Adornos „Grand Hotel Abgrund“ (Georg Lukács) ab, waren grundsätzliche Zweifel an der Reformierbarkeit moderner Gesellschaften während der trente glorieuses kaum anzutreffen. Nach der Großen Depression und den Verwerfungen im Europa der 30er und 40er schien im bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderland ein krisenfreier Weg in die Zukunft garantiert. Die politikökonomische Stabilität unter dem US-amerikanisch dominierten internationalen Finanzregime von Bretton Woods führte manchen Beobachter sogar dazu, den Begriff des Kapitalismus zu verabschieden, weil dieser den entscheidenden Transformationen innerhalb moderner westlicher Industriegesellschaften in seinem krisenhaften Beiklang nicht länger gerecht zu werden schien. Die beiden jungen Institutsmitarbeiter Dahrendorf und Habermas trugen in dieser Zeit – wenn auch aus unterschiedli-

 Hacke, „‚Mehr Demokratie wagen‘“, S. 8.

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chen Motiven – jedenfalls ein gesellschaftspolitisches Pathos vor sich her, das den desillusionierten Horkheimer befremden musste. Dass Dahrendorf und Habermas im ersten bundesrepublikanischen Zeitalter der Christdemokratie schließlich auf je eigene Weise zu intellektuellen Wegbereitern des sozialliberalen Machtwechsels avancierten, ist rückblickend umso erstaunlicher, als sie sich unterschiedlichen, wenn nicht auf den ersten Blick sogar unversöhnlichen politischen Lagern zugehörig fühlten: Dahrendorf dem angelsächsisch inspirierten Liberalismus in der Tradition Karl Poppers und Friedrich A. Hayeks, Habermas einem ungewöhnlichen Mix aus Kritischer Theorie und demokratischem Sozialismus. Dennoch agierten die beiden ungleichen Weggefährten in dieser Zeit weniger als Verfechter zweier gegnerischer ideologischer Lager denn als Agenten einer grundlegenden Demokratisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft (1.2. Denken von der Gesellschaft her: Herrschaftskritik im ersten Zeitalter der Christdemokratie). Unter den günstigen ökonomischen Bedingungen der Nachkriegsjahrzehnte kam es zwischen Dahrendorf und Habermas folglich zu einer unwahrscheinlichen intellektuellen Koalition. Ihre Motivation, das Demokratieprinzip über das repräsentativdemokratische Institutionensetting hinaus in der ganzen Gesellschaft, in den Mentalitäten der Deutschen zu verankern, konnte in den 50ern und 60ern zwar auch vor dem Hintergrund einer internationalen Debatte über die unvermeidlichen Nivellierungsprozesse in modernen Industriegesellschaften verstanden werden. Doch galt für die frühe Bundesrepublik exklusiv, dass sie sich unter dem Druck der Besatzungsmächte zwar für Einflüsse aus dem angelsächsischen Liberalismus und französischen Republikanismus hatte öffnen müssen, mit dem bis ins Kaiserreich zurückreichenden, obrigkeitszentrierten Etatismus andererseits aber auch äußerst stabile intellektuelle Dämme gegen ein westliches Denken von der Gesellschaft her errichtet hatte, die mit der vermeintlichen „Stunde Null“ keineswegs weggespült worden waren. Das Ziel der Alliierten, die westdeutsche Bevölkerung durch Reeducation auf den Weg der „normativen Verwestlichung“ (Alfons Söllner) zu führen, wurde dabei „als Anmaßung der Sieger angesehen, deren Anspruch auf moralische oder auch gar kulturelle Suprematie selbst von jenen belächelt wurde, welche die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Umgestaltung Deutschlands nicht bestritten“¹⁵. Unter diesen Bedingungen verfolgten der soziale Liberale Dahrendorf und der demokratische Sozialist Habermas gleichermaßen das Ziel, die neuerlichen republikanischen Gehversuche der „verspäteten Nation“¹⁶ vor deren kontami-

 Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 578.  Plessner, Die verspätete Nation.

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nierter geistesgeschichtlicher Tradition zu bewahren, in der seit jeher die Macht und Autorität eines vermeintlich neutralen und gemeinwohlorientierten Staates ins Zentrum der politischen Reflexion gestellt worden waren. Sowohl bei Dahrendorf als auch bei Habermas war der dezidierte Bruch mit dieser normativ in Misskredit geratenen deutschen Tradition nur möglich, indem andere, einigermaßen unbelastete Ideenreservate systematisch angezapft und auf vormals vermintem Terrain zum Leben erweckt wurden. Dahrendorf kleidete sich dabei in das Gewand eines angelsächsischen liberalen Missionars bzw. liberalen Wettbewerbsrepublikaners, der die pathologische deutsche Sehnsucht nach Harmonie sowie die damit zusammenhängende etatistische Tradition rechts wie links rundheraus ablehnte, während Habermas zum kontinentalen Erlösungsrepublikaner avancierte, der eine vergessene gute gegen eine schlechte – und bis dato wirkmächtigere – deutsche Tradition zu rehabilitieren versuchte. Dass beide den dynamischen, konfliktbehafteten und pluralistischen Charakter moderner Gesellschaften betonten, brachte sie folgerichtig in Konfrontation zu einer Riege etablierter Verfechter ordnungs- und stabilitätspolitischer Mantras wie Carl Schmitt und Helmut Schelsky. Die demokratietheoretische Distanz zwischen Dahrendorf und Habermas blieb unterdessen virulent. Dahrendorf nannte sich noch Ende der 80er einen „Radikalliberalen, für den soziale Anrechte des Staatsbürgers eine ebenso wichtige Voraussetzung des Fortschritts“ seien „wie die Wahlchancen, die sich aus Innovationsgeist und Unternehmerinitiative ergeben“¹⁷. Sein Beitrag zur Demokratisierung bundesrepublikanischer Mentalitäten zielte bis Mitte der 60er auf eine Eingewöhnung des angelsächsischen Markt- bzw. Wettbewerbsprinzips. Er setzte aus elitentheoretischer Perspektive weiter auf das Konzept einer reformorientierten politischen Führung aus einer überschaubaren Aktivbürgerschaft heraus. Rousseaus Fundmentaldemokratie lehnte er genauso ab wie die hegelmarxistische Geschichtsphilosophie, wohingegen er den Zwang zu sozialem Konformismus – das „Ärgernis der Gesellschaft“¹⁸ – mittels der Hobbes’schen Herrschaftsvertragstheorie zu unterlaufen versuchte. Demgegenüber trat Habermas von Anbeginn als selbstbewusster Erneuerer der Kritischen Theorie der Gesellschaft auf den Plan, der sich von der konservativen bzw. resignativen Wende seiner Stichwortgeber Horkheimer und Adorno nicht abschrecken lassen wollte. Er legte seine Skepsis gegenüber der kapitalistischen Wirtschaftsweise auch in seinem Spätwerk nie ab, hielt die ideengeschichtliche Tradition eines ideenge-

 Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, S. 41.  Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 91.

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schichtlich vor allem mit John Locke einsetzenden „Besitzindividualismus“¹⁹ bis zuletzt auf Distanz und verfocht bereits in seinen frühen sozialphilosophischen Studien ein radikaldemokratisches Konzept von Öffentlichkeit mit sozialistischer Stoßrichtung. Doch so plausibel die Abgrenzung des liberalen Konflikttheoretikers vom radikaldemokratischen Kritischen Theoretiker auch sein mag, verfällt sie letztlich doch einer unbefriedigenden Statik. Wer einen Vergleich von Dahrendorf und Habermas allein auf solche ideengeschichtlichen Schablonen reduziert, unterschätzt die historische Dynamik ihrer Schriften. Auch Dahrendorf und Habermas mussten die epochale Zäsur, die in der Zeitgeschichtsschreibung mit Begriffen wie dem „Ende der Zuversicht“, der „großen Ernüchterung“ oder dem „age of fracture“ belegt ist²⁰, intellektuell verarbeiten. Beider Werk muss also viel stärker als bisher mit dem politikökonomischen Kontext in Zusammenhang gesetzt werden, vor dessen Hintergrund beide in den 70ern und 80ern agierten. Dabei gilt auch für Dahrendorf und Habermas, dass sie in diese „Krisen- und Umbruchphase […] mit Erwartungen hinein[gerieten], die aus der Erfahrung von Stabilität und Wachstum in den Jahren des Booms stammten“²¹. Nach ihrer ideengeschichtlichen Selbstverortung in den 50ern und 60ern – einerseits dem sendungsbewussten Bekenntnis zum angelsächsischen Westminster-Liberalismus, andererseits zum demokratischen Sozialismus – unterlag Dahrendorfs und Habermas’ Denken gewissen Kontinuitäten, die sich freilich auch in ihren späteren Interventionen bemerkbar machten. Allerdings waren die Veränderungen, die sich im Übergang vom westlichen Nachkriegs- zum neoliberalen Kapitalismus an dieser entscheidenden zeitlichen Wegmarke durchzusetzen begannen, schlichtweg zu tiefgreifend, als dass ein bald von den Grenzen individueller Mobilität, politischen Elitenhandelns und wissenschaftlicher Politikberatung desillusionierter Dahrendorf und ein von der gänzlich unerwarteten Transformation des Spätkapitalismus enttäuschter Habermas sich davon hätten unbeeindruckt zeigen können. Nach der Rekonstruktion ihrer distanzierten Nähe in der frühen Bundesrepublik soll im zweiten Teil der Arbeit deshalb gezeigt werden, wie sie ihre enttäuschten Hoffnungen nach dem Ende der trente glorieuses zum Anlass nahmen, ihr utopisches Denken einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen, um es der trostloseren Wirklichkeit anzupassen (2. Gemeinsame Skepsis nach dem Boom). Pointiert formuliert: Die „skeptische  Die einschlägige Kritik liefert Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus.  Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht?, Schanetzky, Die große Ernüchterung, Rogers, Age of Fracture.  Doering-Manteuffel/Raphael, „Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche“, S. 32.

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Generation“, die Schelsky bereits in den 50ern erkannt haben mochte, wurde jetzt erst skeptisch. Allgemein lassen sich drei maßgebliche Entwicklungen identifizieren, die seit Mitte der 70er für die Genese des Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart entscheidend waren: erstens die „Ausbreitung des Mikrochip als neuem Grundstoff der industriellen Welt“, also die „Digitalisierung der Produktion, des Alltagslebens und der Information, der Medien und der Kommunikation“ in der Dritten Industriellen Revolution; zweitens der „Paradigmenwechsel der makroökonomischen Leitprinzipien“ von einer „nachfrageorientierte[n], auf soziale Sicherheit und den Ausgleich von materiellen Disparitäten gerichtete[n] Keynesianismus“ zu einer „angebotsorientierte[n] Theorie des Monetarismus, die in den Wirtschaftswissenschaften von der Chicago School um Milton Friedman vertreten wurde“; drittens schließlich die Herausbildung eines „Gesellschaftsmodell[s] und Menschenbild[s], das auf die Entfaltung des Individuums, die schöpferische Kraft seiner Kreativität setzt und in paradoxer Form Authentizität und Flexibilität aufs engste miteinander verbindet“²². Dieser „Strukturbruch“ bzw. „soziale Wandel von revolutionärer Qualität“²³ nimmt in der Darstellung der beiden Zeithistoriker Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael bereits die Züge einer Verfallsgeschichte an.²⁴ Am Ausgangspunkt dieser Entwicklung, nach der ersten Ölkrise im Herbst 1973, kam auch der Begriff der Krise wieder in Mode. Der von der ökonomischen Zugkraft der USA abhängige „eingebettete Liberalismus“²⁵ der Nachkriegszeit war bereits ab Mitte der 60er an seine Grenzen gelangt, als das ehemals wie selbstverständlich vorausgesetzte „magische Viereck“ aus kontinuierlich hohem Wirt-

 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 9.  Ebd. S. 12 f.  Dazu folgende Passage: „In den 1970er Jahren erodierte die Infrastruktur des Industriesystems der Boom-Ära. Der Keynesianismus als wirtschaftsideologisches Ordnungsmodell eines liberalen kapitalistischen Konsenses und staatlicher Globalsteuerung wirkte politisch überholt, doktrinär und beengend. Neue Parolen kündigten den Durchbruch einer anderen Wirtschaftsideologie an, die mit dem makroökonomischen Konzept des Monetarismus die Überzeugung propagierte, daß das größte Glück der größten Zahl dann zu erreichen sein würde, wenn das Interesse des Individuums im Wirtschaftsgeschehen dominierte und nicht das Interesse eines politisch oder ideologisch postulierten Ganzen. Unter der Parole der ‚Freiheit‘ setzte eine Welle von Privatisierungen öffentlichen Eigentums ein, deren ökonomische Ineffizienz zu Lasten des Steuerzahlers inzwischen empirisch nachgewiesen wurde. Doch in dem Maß, in dem sich der Staat aus seinen öffentlichen Pflichten durch wirtschaftlich nutzlose und kostspielige, allein ideologisch induzierte und vom privaten Gewinninteresse vorangetriebene Privatisierungen herauszog, verminderte sich auch seine Akzeptanz in der Gesellschaft.“, ebd. S. 20.  Ruggie, „International Regimes, Transactions, and Change“.

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schaftswachstum, Preisstabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht selbst in der ökonomisch robusten Bundesrepublik in sich zusammenfiel und das Zeitalter der „großen Inflation“²⁶ anbrach.²⁷ Je offensichtlicher die Wachstums- und Beschäftigungsmaschine ins Stocken geriet, desto pessimistischere Züge nahm das allgemeine Stimmungsbild im Westen an, bis das wichtigste aller Ziele, das der Vollbeschäftigung, aufgrund der schwindenden Profitabilitätsaussichten nahezu aufgegeben wurde. Allerorts offenbarten sich dabei die Grenzen der politischen Mach- und Planbarkeit eines umfassenden Wohlstandskapitalismus, nachdem vor allem auch dessen ökologische Wachstumsgrenzen deutlich geworden waren, und jäh endete das Zeitalter einer wissenschaftlich unterfütterten Globalsteuerung von Wirtschaft und Gesellschaft, das sich Ende der 60er auf dem Höhepunkt befunden hatte (2.1. Die Rückkehr der Ökonomie: Eintritt ins lange Krisenjahrzehnt). Mehr als anderswo brach die Krise des westlichen Kapitalismus zunächst in Großbritannien durch, das in den 70ern als sick man of Europe galt. Weder die konservativen Tories noch die Labour-Partei fanden hier einen Weg aus der Strukturkrise der heimischen Industrie, die in der zweiten Hälfte der Dekade zur „Stagflation“ – einem Teufelskreis aus stagnierendem bzw. sinkendem Wirtschaftswachstum, rapidem Geldverfall und hoher Arbeitslosigkeit – führte. Zur gleichen Zeit wurde Großbritannien auch von besonders schweren Arbeits-

 Eich/Tooze, „The Great Inflation“.  Die Krise des keynesianischen Nachkriegskapitalismus bzw. Konsensliberalismus hatte sich bereits Ende der 60er immer deutlicher abgezeichnet, als die fordistische Produktionsweise westlicher Industriegesellschaften – die auf der Herstellung von Massenkonsumgütern und der kontinuierlichen Steigerung der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage beruht hatte und seit Ende des Zweiten Weltkriegs durch den systematischen Ausbau des Wohlfahrtsstaats flankiert worden war – an seine Grenzen stieß, weil mit der über Zeit zunehmenden Arbeitsproduktivität auch die Unternehmensprofite und damit letztlich auch die Wirtschaftswachstumsraten der betreffenden Länder schrumpften. Diese Entwicklung wurde durch die wachsende Konkurrenz auf den internationalen Märkten für Konsumgüter zusätzlich verschärft. Unter den Bedingungen eines sich drastisch verschärfenden internationalen Konkurrenzkapitalismus konnten die USA ihre exorbitanten Ausgaben für den Vietnamkrieg und den heimischen Ausbau sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Programme im Rahmen der Great Society von Präsident Lyndon B. Johnson nicht mehr schultern, ohne einen bedeutenden Anteil der Kosten über die Dollar-Flutung der internationalen Devisen- und Kapitalmärkte in ihre Partnerländer zu exportieren. Dadurch verlor die Goldbindung des US-Dollar gleichzeitig aber drastisch an Glaubwürdigkeit. Mit der folgerichtigen Aufkündigung der Konvertibilität des US-Dollar in Gold läutete US-Präsident Richard Nixon 1971 schließlich das Ende des langen Booms der Nachkriegszeit ein. Vgl. zu diesen Entwicklungen in der globalen politischen Ökonomie die luziden Ausführungen von Glyn, Capitalism Unleashed; Brenner, The Economics of Global Turbulence; und Helleiner, „The Evolution of the International Monetary and Financial System“.

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kämpfen erschüttert, die zeitweise, vor allem im Winter of Discontent von 1978/79, große Teile der öffentlichen Infrastruktur lahmlegten. Der Konflikt konnte am Ursprungsort des Liberalismus folglich nicht länger als Katalysator, sondern musste als Hemmschuh des sozialen Wandels betrachtet werden. Diese Erkenntnis irritierte den liberalen Konflikttheoretiker Dahrendorf zutiefst, nachdem er nach seinem erfolglosen Intermezzo zunächst in der baden-württembergischen Landes-, danach in die Bonner Bundes- und schließlich in der Funktion eines EGKommissars in die Brüsseler Europapolitik kurz nach dem Ausbruch der Ölkrise nach London umgezogen war, um das Rektorat der renommierten, aber ebenfalls von schweren internen Konflikten geplagten London School of Economics and Political Science (LSE) zu übernehmen. In England rückte er schließlich von seiner einstigen Apotheose des Westminster-Liberalismus ab, relativierte seinen Fortschritts- und Konfliktbegriff und wurde zu einem verunsicherten, defensiven Liberalen. Gleichzeitig hatte sich Habermas auf dem Höhepunkt der sozialliberalen Reformära unter Willy Brandt in den frühen 70ern noch optimistisch gegeben, was die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus betraf. Als sich die politikökonomischen Bedingungen für gesellschaftspolitische Reformen in der Krise jedoch rapide verschlechterten, bereitete die allgemeine Krisenstimmung spätestens ab der zweiten Hälfte der 70er den Nährboden für eine konservative Tendenzwende in westlichen Industriegesellschaften, die in die Wahlsiege Thatchers in Großbritannien, Reagans in den USA und Kohls in der Bundesrepublik mündete (2.2. Die Rache des Konservatismus: Rückzugsgefechte). Der Kritische Theoretiker Habermas wurde von seinen konservativen Antipoden dabei sogar für das Abdriften der irrlichternden Teile der Studentenbewegung in den Linksterrorismus mitverantwortlich gemacht. Auch wenn er sich mit allen rhetorischen Mitteln gegen diese Diffamierungsstrategie zur Wehr setzte, wurde er immer pessimistischer, bis er seine viel zu optimistisch angesetzte Krisentheorie des Spätkapitalismus Ende der 70er schließlich unter den genauso formalistischen wie aporetischen Bestimmungen seiner Theorie des kommunikativen Handelns begrub. Aus Enttäuschung über die vielfältigen „Dissonanzen und Fehlschläge“, die im Krisenjahrzehnt in Starnberg über ihn hereingebrochen waren, erwog Habermas sogar, „die Zelte hinter sich abzubrechen und die Bundesrepublik zu verlassen, um einen Ruf an die University of Berkeley anzunehmen“²⁸. Währenddessen hatte Dahrendorf im Politikbetrieb die Grenzen eines Rollenwechsels „vom intellektuellen Politikberater zum aktiven Politiker mit Par-

 Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 276.

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teibindung“²⁹ erkannt. Seine Zeit als parlamentarischer Staatssekretär unter Walter Scheel im Auswärtigen Amt und anschließend als EG-Kommissar für Außenhandelsbeziehungen in der Brüsseler Kommission entpuppte sich als Desaster. Danach schien es, als könne Dahrendorf in seiner beinahe zehnjährigen Amtszeit als Rektor der renommierten LSE, wo er im Verlauf der 70er er mit allen wichtigen Persönlichkeiten der britischen Gesellschaft in Kontakt kam, an seine Zeit als wissenschaftlicher Politikberater in der Bundesrepublik der 60er erfolgreich anknüpfen. Allerdings scheiterte er mit seinem wichtigsten Anliegen, die LSE zu einem einflussreichen Think Tank, einem „British Brookings“, auszubauen und damit einen Beitrag zur Überwindung der „englischen Krankheit“³⁰ zu leisten. Noch vor dem Wahlsieg Thatchers musste sich Dahrendorf damit abfinden, dass sein Ziel, Strukturen für eine „politikzugewandte Forschung“ zu schaffen, „die nicht, wie in der akademischen Welt üblich, nur in langen Zeiträumen dachte, sondern die sich an den Geschwindigkeiten der Entscheider orientierte“³¹, im langen Krisenjahrzehnt in Großbritannien nicht zu verwirklichen war. Die Grenzen seiner liberalen Elitentheorie erfuhr er nach dem Ende der trente glorieuses folglich gleich zweimal im Selbstversuch, bevor er sich nach der Erschöpfung des „sozialdemokratischen Konsensus“ zunehmend auf eine im Hinblick auf die Einschätzung des Neoliberalismus widersprüchliche politische Publizistik verlegte: „Mit seinem Eintreten für subsidiäre statt Makrostrukturen lag er im Trend einer Zeit, die aus denselben Gründen neben einem neuen Pragmatismus in der Politik auch neoliberalen Konzeptionen von Ökonomie und Staatlichkeit zum Durchbruch verholfen hat.“³² Dahrendorfs Biografin Franziska Meifort vertritt deshalb die These, dass Dahrendorfs Denken „in seiner Zeit in Großbritannien im Wortsinne konservativer[e]“ Züge annahm: „Statt nach Erneuerungen zu streben, ging es ihm darum, Erreichtes zu sichern.“³³ Diese konservative Wende müsse vor allem auf die Wahl

 Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 156.  Johnson, Die englische Krankheit.  Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 210.  Hertfelder, „Neoliberalismus oder neuer Liberalismus?“, S. 292. Auf der anderen Seite heißt es in dem instruktiven Text Hertfelders aber auch zu Dahrendorfs Ehrenrettung: „So ist der starke Akzent, den Dahrendorf auf die Bürgergesellschaft legte, sowohl auf die Krise des Wohlfahrtsstaates als auch auf die Erosion traditionaler Ressourcen von Sinn zu interpretieren, während die zunehmende Betonung unverhandelbarer Anrechte eines jeden Einzelnen immerhin eine liberale Antwort auf die autoritären Züge in den Sozialpolitiken Thatchers und später auch Blairs und Schröders bedeutete. […] Insofern kann man am Beispiel des liberalen Intellektuellen Dahrendorf Wandlungen des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert aufzeigen, die nicht im Neoliberalismus aufgehen, sondern kritisch über ihn hinausweisen.“, ebd. S. 294.  Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 216.

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Thatchers zurückgeführt werden, die „zwar Premierministerin einer konservativen Partei“ gewesen sei, „aber zur Bewältigung der Wirtschaftskrise in ihrer Regierungszeit alles daran“ gesetzt habe, „die Traditionen der britischen Wirtschafts- und Sozialordnung zu sprengen“³⁴. Meifort folgt der richtigen Intuition, wenn sie Dahrendorfs intellektuelle Ernüchterung mit dem politischen Siegeszug der Eisernen Lady verknüpft. Dennoch verfolgte Thatcher sehr wohl ein genuin neokonservatives Anliegen, als sie die seit Ende des Zweiten Weltkriegs notorisch bedrohten progressiven Elemente der britischen Wirtschafts- und Sozialordnung auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen versuchte, um Sekundärtugenden aus einem längst überwunden geglaubten stahlharten Gehäuse des liberalen Kapitalismus in Verbindung mit der politischen Entfesselung des Marktprinzips wieder salonfähig zu machen.³⁵ Gleichzeitig machte sich Dahrendorf unter dem Eindruck des langen Krisenjahrzehnts auch selbst die Position zu eigen, dass sich die Institutionen, Politiken und zugrundeliegenden Wertvorstellungen des keynesianischen Nachkriegsliberalismus erschöpft hatten und durch neue Lösungen ersetzt werden mussten. Statt in Dahrendorfs Denken der 70er und 80er also etwa Anleihen beim klassischen Republikanismus zu suchen³⁶, verrät seine Suche nach

 Ebd.  Vgl. dazu vor allem Gamble, The Free Economy and the Strong State. Der konservative Historiker Dominik Geppert erkennt in der neoliberalen amerikanischen und britischen Politikgeschichte der 80er auch eine „zentrale Paradoxie“: „Thatchers Appell an viktorianische Werte und Reagans Loblieder auf ein älteres, einfacheres und idealistischeres Amerika mit stärkerem Gemeinsinn trugen dazu bei, zutiefst individualistische, manchmal selbstsüchtige Gesellschaften zu erzeugen. Thatcher und Reagan selbst haben dieses Spannungsverhältnis zwischen Markt und Moral nicht wahrgenommen oder jedenfalls behauptet, es nicht zu sehen. Stattdessen gingen sie davon aus, dass der unkontrollierte Markt wie in den angeblich guten, alten Zeiten (etwa in dem von Thatcher hochgelobten viktorianischen Zeitalter) die Marktakteure zu Verantwortungsbereitschaft und Selbstdisziplin zwingen würde. Im Rückblick betrachtet, unterschätzten sie mit dieser optimistischen Grundannahme die Erosion der bürgerlichen Tugenden, auch der Religion als Stützpfeiler der kapitalistischen Ethik, wie sie sich im Verlauf der ersten drei Viertel des 20. Jahrhunderts vollzogen hatte. Insofern war die Revolution, um die es ihnen ging, eine Revolution im vorneuzeitlichen Sinne des ‚revolvere‘ – also des Zurückdrehens der Zeit zu einem früheren, idealisiert gesehenen Zustand.“, Geppert, Konservative Revolutionen?, S. 284.  Münkler, Sozial-moralische Grundlagen liberaler Gemeinwesen. Gegen Münklers Vorschlag, „von dem republikanischen Liberalen, dem liberalen Republikaner Ralf Dahrendorf zu sprechen“ (ebd. S. 35), der sich „den Vorstellungen des klassischen Republikanismus angenähert“ habe, d. h. „der Nutzung des Konflikts als Jungbrunnen bürgerschaftlicher Tugend und der Angewiesenheit einer freiheitlichen Ordnung auf sozio-moralische Grundlagen“ (ebd. S. 37), ließe sich bereits einwenden, dass Dahrendorf eine solche, wenn man sie denn überhaupt so nennen will, „republikanische“ Position von Anbeginn verfochten hat. An seiner demokratietheoretischen Präferenz für einen „konfliktiven Liberalismus“ (vgl. zu diesem Begriff Rzepka/Straßenberger, „Für einen konfliktiven Liberalismus“) hat sich im Verlauf seiner intellektuellen Biografie folglich

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neuen Bindungen bzw. „Ligaturen“, nach einem neuen sozialen Kitt in einer sich globalisierenden Moderne jenseits aller im Strudel des sozialen Wandels untergegangenen Traditionen, letztlich nur das defensive Rückzugsgefecht eines skeptischen Liberalen, der mit seinen universalistischen Grundüberzeugungen verzweifelt nach neuen Wegen und Institutionen liberaler Politik suchte, nachdem das begriffliche Doppelgespann aus Wachstum und Fortschritt in der Zweckehe zwischen neoklassischer Wirtschaftstheorie mit dem politischen Neokonservatismus seine Unschuld verloren hatte. Als Dahrendorf seinen Fortschrittsbegriff mit der sozialmoralisch imprägnierten Formel der „Lebenschancen“³⁷ qualifizierte, arbeitete Habermas begrifflich mit den kommunikativen Selbstverständlichkeiten einer der phänomenologischen Denktradition entlehnten „Lebenswelt“³⁸. In den letzten Starnberger Jahren begrub er seine Hoffnungen auf die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus und entwickelte sich zum Verfechter einer abstrakten prozeduralen Vernunft, die sich in „formal zu charakterisierende[n] Teilnahmebedingungen“³⁹ erschöpfte. Habermas, der Anfang der 80er angab, „überhaupt zu nichts ein unambivalentes Verhältnis“⁴⁰ zu haben, hatte seinen ideengeschichtlichen Bestimmungsort ebenfalls verloren.Während er sich zunehmend gegen die postmoderne Vernunftkritik französischer Meisterdenker stemmte⁴¹, der „eine Erinnerung und eine Antriebskraft“ fehle, „von denen die Kritik selber zehren“⁴² müsse, war er in theoriepolitischer Hinsicht selbst ortlos geworden. Wie dem ernüchterten sozialen Liberalen Dahrendorf ging es dem ernüchterten demokratischen Sozialisten Habermas nach der Erschöpfung seiner gesellschaftskritischen Impulse letztlich um die Abwendung eines drohenden gesellschaftspolitischen Regresses, während an weitere große Zivilisationssprünge vorerst nicht mehr zu denken war. Im Unterschied zur intellektuellen Offensive, in die sie als Demokratisierungs- bzw. Liberalisierungsagenten in der frühen Bundesrepublik noch übergegangen waren, fanden sie sich nun in der Defensive wieder. Diese veränderte Rolle wird auch in Habermas’ Fall plausibel, wenn wir mit dem Historiker

nur wenig geändert. Der Republikanismus scheint hier insofern doch eine schiefe ideengeschichtliche Vergleichsfolie zu sein, als Dahrendorf allzu euphorischen Bezugnahmen auf sozialmoralische Traditionsbestände argumentativ stets einen Riegel vorschob.  Dahrendorf, Lebenschancen.  Der aktuelleste Versuch einer Schärfung dieses Konzepts findet sich in Habermas, Nachmetaphysisches Denken II, S. 19 ff.  Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1, S. 386.  Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 203.  Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 248 ff.  Habermas, Die nachholende Revolution, S. 32.

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Ulrich Herbert annehmen, dass es nach der Erschöpfung der sozialliberalen Reformära in der Bundesrepublik erneut die Konservativen waren, „die, nicht ganz widerspruchsfrei, Wachstum und moderne Technik am stärksten bejahten und sich dabei, wie ihre Vorbilder in den USA und Großbritannien, auf einen sehr materialistischen Fortschrittsbegriff einließen, der in manchen Bereichen ihre eigenen weltanschaulichen Grundlagen auszuhöhlen drohte“⁴³. Die vorliegende Arbeit endet aus guten Gründen in den 80ern – in einer Zeit, in der sich der parteipolitische Konservatismus in Großbritannien und in der Bundesrepublik wieder an der Macht etabliert hatte. Freilich hatten sich in Westdeutschland mit den Neuen Sozialen Bewegungen und den Grünen gleichsam neue Epizentren der Herrschaftskritik gebildet, die den lange vernachlässigten Umweltschutz an die oberste Stelle ihres politischen Forderungskatalogs setzten. Aber der gesellschaftliche Nährboden, von dem ab Mitte der 60er der Sozialliberalismus (mit seiner Hoffnung auf Chancengleichheit und maximale individuelle Mobilität) und der demokratische Sozialismus (mit seiner Hoffnung auf eine breit angelegte demokratische Kontrolle von Staat und Wirtschaft) gezehrt hatten, war am Ende der „sozialen Moderne“⁴⁴ vertrocknet. Damit war aber auch das Ende der utopischen Gesellschaftsentwürfe der ungleichen Weggefährten Dahrendorf und Habermas besiegelt. Folgerichtig diagnostizierte Habermas Mitte der 80er auch eine Erschöpfung der mit der wohlfahrtsstaatlichen Moderne einhergehenden Utopien, bevor Dahrendorf kurz darauf mit einem gehörigen Schuss Nostalgie das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts verkündete. Im Schlusskapitel (Zwei Liberale zwischen Rechtsstaat und Demokratie) wird kursorisch gezeigt, wie Dahrendorf und Habermas nach dem erneuten Epochenbruch von 1989/90 mit unterschiedlichen Schwerpunkten einen statisch wirkenden Liberalismus vertraten, der trotz der „vertagten Krise des demokratischen Kapitalismus“⁴⁵ kaum verhehlen konnte, dass er viel von dem herrschaftskritischen Furor der beiden ungleichen Weggefährten aus vergangenen Tagen verloren hatte.

 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 959. Zu der These, dass der Konservatismus mit dieser Bejahung der Moderne selbst in einen Erschöpfungsprozess eingetreten ist, vgl. Biebricher, Geistig-moralische Wende.  Zu diesem Begriff vgl. Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 17 ff.  So der Untertitel der Studie von Streeck, Gekaufte Zeit.

1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik Das Volk war nicht so artig wie das Volk im Schullesebuch. Es faßte den Abschnitt Staatsbürgerkunde anders als die Verfasser auf. […] Würde des Parlaments? Gelächter in den Schenken, Gelächter auf den Gassen. Die Lautsprecher hatten das Parlament in den Stuben des Volkes entwürdigt, zu lange, zu willig war die Volksvertretung ein Gesangverein gewesen, ein einfältiger Chor zum Solo des Diktators. Das Ansehen der Demokratie war gering. Sie begeisterte nicht. Und das Ansehen der Diktatur? Das Volk schwieg. Schwieg es in weiterwirkender Furcht? Schwieg es in anhänglicher Liebe? Wolfgang Koeppen, Das Treibhaus

1.1 Mit Marx gegen Marx: Lehren aus dem Klassenkompromiss der Nachkriegszeit 1.1.1 Flucht aus dem „Café Max“ – aus unterschiedlichen Motiven Die pessimistische Wende der Kritischen Theorie Dahrendorf und Habermas bissen mit ihren Habilitationsabsichten im „Grand Hotel Abgrund“ (Georg Lukács) in den 50ern auf Granit und sahen sich dazu gezwungen, das Mekka der Kritischen Theorie zu verlassen und in der westdeutschen Provinz – Dahrendorf in Saarbrücken, Habermas in Marburg – zu höheren akademischen Weihen zu gelangen. Diese karrierebiografische Parallele entsprang jedoch entgegengesetzten Motiven: Hielt Dahrendorf den dialektischen Ansatz der Kritischen Theorie, die laut Adorno geradeheraus zu benennen hatte, „was insgeheim das Getriebe zusammenhält“¹, von Anbeginn für ein Hirngespinst der Linken, versuchte Habermas das geschichtsphilosophische Erbe des Horkheimer-Kreises aus den frühen 30ern – aus einer Zeit, in der das IfS noch „Café Marx“ genannt wurde – mit Aplomb zu reaktivieren. Während Dahrendorf unter Berufung auf den Mainstream der internationalen Soziologie eine liberale, herrschaftssoziologische Wendung der Marx’schen Klassentheorie vornehmen wollte, ging es Habermas um eine Wiederauflage der (kapitalismus‐)kritischen Theorie der Gesellschaft auf neuestem Stand. Der Unterschied zwischen beiden Positionen bestand vor allem in der Form der politischen Rationalität, die sich als Konsequenz aus einem mehr oder minder gleichlautenden Einwand gegen Marx’ vermeintlich überholte Kritik der politischen Ökonomie ergab: Empfahl Dahren-

 Adorno, „Soziologie und empirische Forschung“, S. 81. https://doi.org/10.1515/9783110711615-002

1.1 Mit Marx gegen Marx

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dorf eine energische Ausweitung des Prinzips der Marktrationalität, setzte Habermas auf die Segnungen demokratischer Planung. Demgegenüber hatten Horkheimer und Adorno im amerikanischen Exil in den 40ern bereits eine pessimistische Wende der Kritischen Theorie vollzogen und waren infolgedessen auch von der Überzeugung abgerückt, ein beherzter politischer Reformismus könne die Gesellschaft im Stadium des Monopol-, Staatsoder Spätkapitalismus noch zum Besseren verändern. Mochten die Produktivkräfte auch einen derart hohen Stand erreicht haben, dass die Menschen hypothetisch dazu befähigt gewesen wären, einen Schlussstrich unter kapitalistische Ausbeutung und politische Zwangsherrschaft zu ziehen, war im „Zeitalter der Extreme“² doch letztlich das Gegenteil einer emanzipatorischen Indienstnahme des wissenschaftlichen-technischen Fortschritts Wirklichkeit geworden: Statt sich zum revolutionären Subjekt aufzuschwingen, war die Arbeiterklasse in der Endphase der Weimarer Republik zusammen mit ihrem parlamentarischen Arm, der Sozialdemokratie, nicht nur gewaltsam besiegt worden; vielmehr hatten viele der von der Weltwirtschaftskrise am stärksten Gebeutelten den Boden für den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch in demokratischen Wahlen sogar mitbereitet. Zudem war im Russischen Bürgerkrieg zuvor bereits der Marxismus-Leninismus zur plumpen Rechtfertigungsideologie eines Ein-Parteien-Terrors verkommen, der jeden Restglauben an die emanzipatorische Kraft der Oktoberrevolution ad absurdum geführt hatte. Das Denken der Gralshüter der Kritischen Theorie, zweier Nachkommen aus dem großstädtischen jüdischen Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts, konnte sich diesem ernüchternden Gang der Geschichte letztlich nicht entziehen. Um Horkheimers Konflikt mit den jungen Institutsassistenten in den 50ern besser nachvollziehen zu können, soll zunächst ein kurzer Blick auf die pessimistische Wende der Kritischen Theorie in den 40ern geworfen werden. Horkheimer und Adorno schlugen in der Dialektik der Aufklärung gemeinsam den Pfad einer kompromisslosen Kritik der instrumentellen Vernunft ein, von dem allein Adorno in der Bundesrepublik später phasenweise wieder auf materialistischere Wege abbog.³ Hatte Horkheimer einst das Ziel ausgegeben, „die Adäquanz des orthodoxen Marxismus“ zu hinterfragen, ohne „sein anspruchsvolles Ziel“ zu verwerfen: „die schließliche Einheit von kritischer Theorie und revolutionärer Praxis“⁴, stellten sich Adorno und er durch ihren „kritische[n] Schwenk“⁵ im  Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme.  Diese Schriften bedeuteten letztlich „eine so radikale und fundamentale Kritik an der westlichen Gesellschaft und an westlichem Denken, daß alles, was danach kam, nur noch den Charakter einer Klärung haben konnte“, Jay, Dialektische Phantasie, S. 300.  Ebd. S. 297.

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Verlauf der 40er „in eine lange Reihe von Denkern, deren utopische Visionen weniger Handlungsanleitungen waren als Quellen kritischer Distanz gegenüber der Anziehungskraft, welche die herrschende Rationalität ausübte“⁶. Durch diese intellektuelle Schwerpunktverlagerung „vom Klassenkampf auf den Kampf zwischen Mensch und Natur“ als Antriebskraft eines düsteren dialektischen Geschichtsprozesses verwarfen sie „die Möglichkeit eines historischen Subjekts“⁷. Der Kollektivbiograf der Frankfurter Schule Martin Jay kommt daher zu dem treffenden Schluss: „Der Ruf nach Praxis, so lange Zeit Bestandteil dessen, was manche als die heroische Phase des Instituts bezeichneten, war nun kein integraler Bestandteil ihres Denkens mehr.“⁸ Als der britische Marxist Perry Anderson die Kritische Theorie der Frankfurter Schule in den späten 70ern der Strömung des „westlichen Marxismus“ zuordnete, erkannte er rückblickend vor allem bei Adorno eine „immer tiefer werdende[ ] Spaltung zwischen der sozialistischen Theorie und der Praxis der Arbeiterklasse“⁹. Die Folge sei eine „Isolierung der Theoretiker in den Universitäten fernab vom Leben des Proletariats ihrer jeweiligen Länder und ein Rückzug der Theorie von Ökonomie und Politik hin zur Philosophie“¹⁰ gewesen: „Methode aus Ohnmacht, Kunst als Trost, Pessimismus und Regungslosigkeit – es fällt nicht schwer, all diese Elemente in der Physiognomie des westlichen Marxismus wahrzunehmen.“¹¹

 Ebd. S. 299.  Ebd. S. 325.  Ebd.  Ebd. Folgt man Moishe Postone, wurde die Saat für diese pessimistische Wende der Kritischen Theorie bereits in den frühen 30ern gelegt: mit Friedrich Pollocks Begriff des „Staatskapitalismus“, den dieser als zugleich widerspruchsfrei und unfrei gekennzeichnet hatte, vgl. Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 161. Der postliberale Staatskapitalismus habe laut Pollock keine innere Dynamik besessen, weil es dem Staat gelungen sei, die Widersprüche und damit die Krisen stillzustellen. Die postliberale sei eine „vollständig verwaltete, integrierte und eindimensionale Gesellschaft“ (ebd. S. 142), der folglich auch jedes revolutionäre Potential abgehe. Pollocks Begriff des Staatskapitalismus war, wie Postone rekonstruiert, die theorieimmanente Voraussetzung für Horkheimers pessimistische Wende (ebd. S. 144): Wo man keine Widersprüche mehr sehen kann, hat man auch keinen Anlass, in der Wirklichkeit Potential für Veränderung zu identifizieren.  Anderson, Über den westlichen Marxismus, S. 135.  Ebd. S. 136.  Ebd. S. 137. Statt diese Entwicklung aber als Loslösung einer elitären Reflexionsavantgarde vom unschuldigen Demos in Form der Arbeiterklasse zu beklagen, soll an dieser Stelle wenigstens darauf hingewiesen werden, dass der Segen der pessimistischen Wende der Kritischen Theorie doch vor allem darin bestand, eine von essentialistischen bzw. völkischen Ressentiments durchsetzte Ideologie des kleinen Mannes aus radikal-aufklärerischer Perspektive freilegen zu können.

1.1 Mit Marx gegen Marx

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Noch in der zweiten Hälfte der 30er hatte Horkheimer zu einem letzten marxistischen Sprung nach vorne angesetzt. Zwar warnte er in seinem programmatischen Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie 1937 längst vor jenem orthodoxen Typus des „Intellektuelle[n], der nur in aufblickender Verehrung die Schöpferkraft des Proletariats verkündigt und sein Genüge darin findet, sich ihm anzupassen und es zu verklären“; vor allem der sozialistische Intellektuelle müsse einsehen, „daß jedes Ausweichen vor theoretischer Anstrengung […] sowie vor einem zeitweiligen Gegensatz zu den Massen, in den eigenes Denken ihn bringen könnte, diese Massen blinder und schwächer macht, als sie sein müssen“¹². Folglich stehe der wahre „oppositionelle Theoretiker“ immer vor der Herkulesaufgabe, „aggressiv nicht nur gegenüber den bewußten Apologeten des Bestehenden“ aufzutreten, „sondern ebensosehr gegenüber ablenkenden, konformistischen oder utopistischen Tendenzen in den eigenen Reihen“¹³, wenn er „die Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist“¹⁴, auch verwirklichen wolle. Dennoch hatte Horkheimer den Kommunismus zu diesem Zeitpunkt noch nicht verabschiedet. Vielmehr betonte er weiterhin in dezidiert sozialistisch-fortschrittsoptimistischer Stoßrichtung: „Von abstrakter Utopie unterscheidet sich diese Idee durch den Nachweis ihrer realen Möglichkeit beim heutigen Stand der menschlichen Produktivkräfte.“¹⁵ Mit Kritischer Theorie verband Horkheimer in dieser Phase also noch explizit ein theoriepolitisches Programm zur Anleitung einer über die bloße Reflexion hinausgehenden revolutionären Praxis, das „den vom blinden Zusammenwirken der Einzeltätigkeiten bedingten Rahmen, das heißt die gegebene Arbeitsteilung und die Klassenunterschiede, als eine Funktion“ begreife, „die, menschlichem Handeln entspringend, möglicherweise auch planmäßiger Entscheidung, vernünftiger Zielsetzung unterstehen kann“¹⁶. Die im schlechten Sinne anarchistische kapitalistische Produktionsweise galt es demnach zu überwinden, die vernünftige, d. h. sozialistische Planung der materiellen Reproduktion war das Ziel. Wenn man sie konsequent betrieb, musste die Kritische Theorie – wie Horkheimer Marx’ These von der revolutionären Zuspitzung des Klassenantagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat aktualisierte – folglich „zur Transformation des gesellschaftlichen Ganzen“ führen und habe daher idealerweise

    

Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S. 231. Ebd. S. 233. Ebd. S. 234. Ebd. S. 236. Ebd. S. 223.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

den Effekt, „daß sich der Kampf verschärft, mit dem sie verknüpft ist“¹⁷. Die positivistischen Apologeten eines zahnlosen politischen Reformismus, der die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse unangetastet ließ, neigten laut Horkheimer demgegenüber zu dem gedanklichen Trugschluss, ein „zerspaltene[s] Gesellschaftsganze[s], in dem die materielle und ideologische Macht zur Aufrechterhaltung von Privilegien funktioniert“, mit „der Assoziation freier Menschen, bei der jeder die gleiche Möglichkeit hat, sich zu entfalten“¹⁸, zu verwechseln. Zweifellos gehört es zu den geistigen Kontinuitäten des IfS, diese Kritik des politischen Reformismus bei allen Zugeständnissen an die konservativen politischen Entscheidungsträger in der frühen Bundesrepublik fortgesetzt zu haben. Horkheimer leitete sein „Existentialurteil“ über den Gang der Geschichte in den späten 30er jedoch noch direkt aus Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ab: Es besagt, grob formuliert, daß die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter Form stets aufs neue zeitigt und nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt.¹⁹

Aus dem „Urteil über die Notwendigkeit des bisherigen Geschehens“ deduzierte Horkheimer wiederum offensiv „den Kampf um ihre Verwandlung aus einer blinden in eine sinnvolle Notwendigkeit“²⁰. Als Hindernis der Selbsterhebung des Proletariats und „einer bewußten Neukonstruktion der ökonomischen Verhältnisse“²¹ identifizierte er eine „Feindschaft gegen das Theoretische überhaupt“²². Ein Verhalten, das aufseiten der „Nutznießer“ der herrschenden Verhältnisse selbsterklärend sei, begründete Horkheimer im Hinblick auf die beherrschten Massen unter Rückgriff auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds mit der „unbewußte[n] Furcht, theoretisches Denken könne die mühsam vollzogene Anpassung an die Realität als verkehrt und überflüssig erscheinen lassen“²³. Diese Realität erschien ihm angesichts der im europäischen Faschismus vollzogenen Transfor-

      

Ebd. S. 244. Ebd. Ebd. Ebd. S. 246. Ebd. S. 250. Ebd. S. 249. Ebd.

1.1 Mit Marx gegen Marx

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mation vom liberalen Kapitalismus zum autoritären Staatsmonopolkapitalismus bedrohlicher denn je.²⁴ Demzufolge sei „die Wahrheit“ angesichts „der Ohnmacht der Arbeiter gegenüber den Unterdrückungsapparaten zu bewunderungswürdigen kleinen Gruppen geflüchtet, die, unter dem Terror dezimiert, wenig Zeit haben, die Theorie zu schärfen. Die Scharlatane profitieren davon, und der allgemeine intellektuelle Zustand der großen Massen geht rapide zurück.“²⁵ Zwar machte sich hier bereits eine Desillusionierung über die Chancen der Emanzipation der Arbeiterklasse bemerkbar. Doch darf hinter dieser für die Kritische Theorie von Anbeginn sicher charakteristischen Warnung, den Reflexionsprozess vorschnell zugunsten einer aktionistischen Praxis abzubrechen, keineswegs vergessen werden, dass sich Horkheimer in der zweiten Hälfte der 30er in seinen politischen Zielen noch ostentativ klassenkämpferisch gab. Gegen das in der traditionellen Theorie angelegte Prinzip der Wertfreiheit, oder anders: gegen den von Max Weber vor sich her getragenen Gestus des unpolitischen Wissenschaftlers wandte er ein: Die kritische Theorie hat bei aller Einsichtigkeit der einzelnen Schritte und der Übereinstimmung ihrer Elemente mit den fortgeschrittensten traditionellen Theorien keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung der Klassenherrschaft. Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf die Humanität schon verzichtet.²⁶

Unter dem Eindruck der faschistischen Schreckensherrschaft in Europa war ein in die Zukunft gerichteter, aktivistischer Theoriegestus für Horkheimer und Adorno jedoch unvorstellbar geworden. Oder wie Martin Jay treffend vermerkt: „Paradoxerweise sah sich das Institut um so weniger in der Lage, eine Verbindung zur radikalen Praxis herzustellen, je radikaler seine Theorie wurde.“²⁷ Während in Europa Krieg und Zerstörung wüteten, stellten sich Horkheimer und Adorno die Frage, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand

 Vgl. ebd. S. 251 ff.  Ebd. S. 254.  Ebd. S. 259. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Horkheimers Abhandlung über den Autoritären Staat, in der „sich die Kritik seiner Totalitarismusanalyse von der traditionellen marxistischen Kritik des Monopolkapitalismus als letzter Stufe des Kapitalismus zu einer allgemeinen Kritik der Technik und der Vernunft [verschob], die neue Gesichtspunkte ermöglichte, welche in der Kritischen Theorie früher nicht vorhanden waren“, Rosen, Max Horkheimer, S. 217.  Jay, Dialektische Phantasie, S. 300.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

einzutreten, in eine neue Art von Barbarei“²⁸ versunken war. Allein die Aufgabe der revolutionär-praktischen Illusion zugunsten radikalaufklärerischer Reflexion könne hier Abhilfe schaffen. Folglich stellte das ernüchterte Tandem der Kritischen Theorie Horkheimers früheres marxistisches „Existentialurteil“ – wonach der Kapitalismus systemimmanent seine eigene ultimative Krise herbeiführen musste, aus der mit den Mitteln rationaler demokratischer Planung wiederum ein kollektiver Ausweg anzugeben sei – dauerhaft zur Disposition. So heißt es in der Dialektik der Aufklärung, die Aufklärung habe zwar von Anbeginn „im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen“, doch nur mit dem Effekt, dass die „vollends aufgeklärte Erde“ nun „im Zeichen triumphalen Unheils“²⁹ erstrahle. Horkheimer und Adorno vertraten in der Folge die These, dass das Unheil der Menschheit im Grundprinzip der Aufklärung selbst, in der instrumentell-rationalen Beherrschung der inneren und äußeren Natur des Menschen, angelegt war. Damit verschoben sich die Gewichte innerhalb der Kritischen Theorie zwangsläufig vom Kapitalismuskritiker Marx auf die dunklen bürgerlichen Zivilisationskritiker Nietzsche, Weber und Freud.³⁰ Die Verbreitung eines „Zustand[s] irrationale[r] Rationalität“³¹ in der westlichen Welt zeugte demnach von der Tatsache, dass die „trockene Weisheit nichts Neues unter der Sonne gelten läßt, weil die Steine des sinnlosen Spiels ausgespielt, die großen Gedanken alle schon gedacht, die möglichen Entdeckungen vorweg konstruierbar, die Menschen auf Selbsterhaltung durch Anpassung festgelegt“: die Aufklärung fraß nach Horkheimer und Adorno ihre Kinder, indem sie „mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie“³² verstrickte. Marx’ Erzählung von der Ursünde der ursprünglichen Akkumulation am Beginn des kapitalistischen Zeitalters im England des 15. Jahrhunderts reichte aus ihrer Sicht schlichtweg nicht mehr aus, um der Entgrenzung der Gewalt im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts Rechnung zu tragen, wenngleich den systemimmanenten Krisentendenzen des Kapitalismus weiterhin eine tragende Rolle im weltlichen Unheilsgeschehen attestiert werden müsse. Die Menschheit habe die „Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus“, ja eine totalitär gewordene Aufklärung, „mit der gehorsamen Unterord-

 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 1.  Ebd. S. 9.  Zu diesem Gedankengang ausführlich Fischer, ‚Verwilderte Selbsterhaltung‘; vgl. dazu auch Münkler, „Die kritische Theorie der Frankfurter Schule“.  Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 107.  Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 18.

1.1 Mit Marx gegen Marx

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nung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindliche“³³ erkauft. Analog zum totalen Aufklärungsgedanken habe bereits der Mythos „die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurückgespiegelt und der Hoffnung entsagt“³⁴. Die fortschrittsoptimistische Kapitalismuskritik des Horkheimer-Kreises, die in der Zeitschrift für Sozialforschung in den Jahren zwischen 1932–41 wiederzufinden ist, wich hier folglich einer geschichtspessimistischen Verfallserzählung, wonach „der Fluch des Fortschritts“ die „unaufhaltsame Regression“³⁵ sei und das Erfahrungsvermögen der Menschen sich im fortgeschrittenen Kapitalismus „tendenziell wieder der der Lurche“³⁶ annähere.

Das große Missverständnis Diese zivilisationskritischen Kaskaden standen in krassem Gegensatz zur Reformbegeisterung, mit der sich der junge Soziologe Dahrendorf nach seinem zwischenzeitlichen Abstecher an die London School of Economics and Political Science (LSE) ins sozialwissenschaftliche Feld der frühen Bundesrepublik stürzte. Dass sein Engagement als Assistent Horkheimers in Frankfurt in den 50ern zum Scheitern verurteilt war, leuchtet bereits bei der Lektüre seiner philosophischen Dissertation, die 1952 unter dem Titel Marx in Perspektive. Die Idee des Gerechten im Denken von Karl Marx erschien, ein. Denn hier hatte sich Dahrendorf bereits auf die Rolle eines liberalen Gegenspielers der hegelmarxistischen Geschichtsphilosophie festgelegt, in deren Tradition Horkheimer und Adorno nach wie vor fest verankert waren. Rückblickend urteilte Dahrendorf über seine Hamburger Dissertationsschrift daher auch: „I was a Popperian before reading Popper.“³⁷ Noch bevor er sein Büro im IfS bezogen hatte, reifte die in seiner Dissertation bereits ausbuchstabierte Kritik der Geschichtsphilosophie im Rahmen eines daran anschließenden PhD-Studiums der Soziologie an der LSE zu einem „Nachdenken über Sozialphilosophie und sozialistische Theorie mit den Mitteln sozialwissenschaftlicher und soziologischer Methode“³⁸ heran, das mit dem dialektischen Ansatz der Kritischen Theorie inkompatibel war.³⁹ Die Frankfurter hatten sich mit

 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 33.  Ebd.  Ebd. S. 42.  Ebd. S. 43.  Zit. nach Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 49.  Peisert, „Wanderungen zwischen Wissenschaft und Politik“, S. 5.  Dazu die Dahrendorf-Biografin Meifort: „Das Studium an der LSE war für Dahrendorf aus mehreren Gründen wichtig: Erstens lernte er in diesen zwei Jahren fließend Englisch, eignete sich die englische Kultur an und lernte dort seine erste Frau kennen. Die damit verbundene Orien-

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Dahrendorf gewissermaßen einen Popper in Miniaturform ins Haus geholt, der sich denkbar schlecht dazu eignete, das kritisch-theoretische Erbe zu konservieren.⁴⁰ So versuchte Dahrendorf in seiner philosophisch-philologischen Dissertation mit den Mitteln der klassischen Hermeneutik, anhand eines im empirischen Alltagssprachgebrauch vorfindlichen Gerechtigkeitsbegriffs zu prüfen, ob die Marx’schen Schriften nicht mindestens implizit eine substantielle Gerechtigkeitsidee entfalteten, obwohl Marx den bürgerlichen Begriff der Gerechtigkeit bekanntlich außer in der Absicht von „Ironisierungen und Polemiken“⁴¹ nirgends verwendet hatte. In einer aufschlussreichen Fußnote merkte Dahrendorf an, dass ihn weniger die materiellen Produktionsverhältnisse als vielmehr weit verzweigte, über Sprache vermittelte Interaktionsmuster interessierten und seine Betrachtungen „ihren Ausgangspunkt“ folglich immer „in der Rede von ‚Gerechtem‘“ nähmen: „Sie beabsichtigen nichts als eine Analyse dieser Rede.“⁴² Ihm schwebte also keine Freilegung des wahren gesellschaftlichen Wesens hinter der bloßen Erscheinung, sondern zunächst einfach nur „eine rein formale Untersuchung dessen“ vor, „was wir mit ‚gerecht‘ usw. meinen“⁴³. Aus solchen Sätzen sprach auch der Sohn eines überzeugten Sozialdemokraten, der jeden Anschein vermeiden wollte, sich über die Denkweisen und Bedürfnisse der Normalbürger zu erheben – eine Haltung, die mit dem bildungsbürgerlichen Habitus der Frankfurter wenig gemein hatte. Als Essenz einer alltagssprachlich fundierten Gerechtigkeitsidee ermittelte Dahrendorf am Ende die Rechtsansprüche, die alle Mitglieder einer bestimmten tierung nach England und die Verankerung im Westen wurden in seinem Leben zum bestimmenden Faktor. Zweitens richtete er seine Karriere nach seinen philologisch-philosophischen Marx-Studien in Hamburg mit seinem zweiten, englischen Doktortitel auf die Soziologie aus und erarbeitete sich so das kulturelle Kapital, das er für den Weg zum Hochschulprofessor benötigte. Darüber hinaus erlernte er die Methoden der empirischen Soziologie und machte die Bekanntschaft seines wichtigsten Lehrers, Karl Popper. Drittens baute er sein britisches Netzwerk weiter aus und ergänzte es um Kontakte und Freundschaften zu der aufstrebenden britischen Soziologengeneration.“, Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 57.  Dahrendorfs Hamburger Doktorvater Josef König war Vertreter einer hermeneutischen Bedeutungstheorie (vgl. Soboleva, Leben und Sein, S. 73 ff.), deren Spuren sich auch in der Dissertation seines Zöglings wiederfanden.Vom immanent-kritischen Verfahren der Frankfurter (vgl. Antonio, „Immanent Critique as the Core of Critical Theory“) war dieses Vorgehen weit entfernt. Der methodische Ansatz in Marx in Perspektive kann noch vielleicht am ehesten mit Habermas’ rekonstruktiver Sozialwissenschaft nach dessen kommunikationstheoretischer Kehre verglichen werden, vgl. dazu Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S. 29 ff.  Dahrendorf, Marx in Perspektive, S. 14.  Ebd. S. 36, Fn. 19.  Ebd. S. 36.

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Gesellschaft implizit an ihre politische Ordnung stellten. Zum einen verwies er mit dieser durchaus „mißverständlich[en]“ Losung vom „Rechtsanspruch“ auf die Notwendigkeit, die im Gerechtigkeitsbegriff verbürgten, menschlichen Ansprüche stets auf einen intersubjektiven Sprachzusammenhang zurückzuführen und damit strikt von willkürlichen idealistischen Setzungen zu unterscheiden. Zum anderen skizzierte er hier bereits in Ansätzen die Dynamik eines immer schon über den Status quo hinausweisenden Normzusammenhangs. Wenn sich Dahrendorf also zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass der „Anspruch, von dem wir im Reden von einem ‚Gerechten‘ sagen, daß ihm entsprochen wird, […] unabhängig davon“ bestehe, „ob er ausgesprochen, gesagt ist“⁴⁴, klang ein republikanisches Freiheitsverständnis durch, das er zeitlebens hochhielt. Sein hermeneutisches Vorgehen verstand er in den frühen 50ern auch als Angriff auf die „Philosophen unserer Tage“, die „ohne die ‚landläufige Vorstellung‘, wie sie in der alltäglichen Sprache lebt, auskommen [zu können]“ glaubten. Unbestritten spielte Dahrendorf dabei selbst noch mit Heidegger’schen Motiven, indem er etwa „weder das etymologische Wörterbuch noch die eigene Phantasie und Assoziationsgabe, sondern de[n] Entschluß zum uns […] praktisch gegebenen, zum täglich Vorhandenen“ zur „Grundlage der Erkenntnis“⁴⁵ erhob. Noch aussagekräftiger aber war sein Entschluss, zumindest in der publizierten Form seiner Dissertation gänzlich auf die Verwendung marxistischer Termini zu verzichten. Dahrendorfs Ankündigung, „einer neuen Sozialphilosophie, einer neuen sozialistischen Theorie“⁴⁶ auf die Sprünge helfen zu wollen, entpuppte sich bei genauer Lektüre folglich als rhetorischer Bluff. Um einen neuen Sozialismus anzuregen, hätte er sich viel stärker auf die marxistischen Debatten der Zeit beziehen müssen. Dass er darauf verzichtete, indiziert rückblickend bereits eine Selbstabgrenzung vom westlichen Marxismus, obwohl Dahrendorf in der Einleitung zunächst noch den Eindruck vermittelte, sich – und das wäre ja durchaus im Sinne der Kritischen Theorie gewesen – an den philosophischen Kerngedanken der Marx’schen Frühschriften abarbeiten zu wollen. Hier kündigte er nämlich noch an, „nicht mich von vornherein Marx gegenüber zu stellen, um ihn zu beund verurteilen, sondern ihn zunächst selbst sprechen zu lassen“, um auf dem „Weg der strengen Interpretation aus dem Werk von Marx selbst die Ansatzpunkte der Kritik, der Scheidung von Richtig und Falsch hervorzubringen“.⁴⁷ Es klang geradezu nach Adorno, als Dahrendorf die „Fruchtbarkeit“ der Marx’schen Utopie von der kommunistischen Gesellschaft in dem „Gedanke[n] einer menschlichen    

Ebd. S. 35. Ebd. S. 16 f. Ebd. S. 20. Ebd. S. 19 f.

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Freiheit“ erkannte, „die mehr heißt als eine Freiheit der Rede, der Religion und des Zusammenschlusses, die die Freiheit des Menschen meint, seine Tätigkeit selber zu wählen, selbst ihr die Zwecke vorzuschreiben“ – oder wenn er darüber hinaus Marx’ wenn auch „im letzten vergeblich[en]“ Versuch der Prognose einer besseren Zukunft „aus der eigenen Gegenwart“ lobte, der doch immerhin davor bewahre, sich nicht „in die leere Vielzahl des Einzelnen“⁴⁸ zu verlieren. Wahrscheinlich lag es an dieser adornitischen Diktion, dass Habermas noch vor seinem eigenen Dienstantritt am IfS Dahrendorfs Dissertation Mitte der 50er in einer Sammelrezension für den Merkur wohlwollend besprach. Sicher wäre sein Urteil über Marx in Perspektive schon weniger positiv ausgefallen, wenn er dabei nicht einfach die Ideen aus seiner eigenen Dissertation über Das Absolute und die Geschichte ⁴⁹ in Dahrendorfs Studie förmlich hineinprojiziert hätte, um Marx auf der Suche nach Verbündeten vor einem in der frühen Bundesrepublik grassierenden antikommunistischen Generalverdacht in Schutz zu nehmen. Dementsprechend wertete Habermas Dahrendorfs Buch in seiner Rezension vor allem als „dankenswerte[s] Gegenstück“ etwa zu Leopold Schwarzschilds antikommunistischem Pamphlet Der Rote Preuße ⁵⁰. Schwarzschild habe „einen biographische[n] Roman in die Form einer wissenschaftlichen Biographie“⁵¹ gekleidet und damit den „grundsätzliche[n] Fehler“ begangen, die Marx’schen Schriften „als quantité négligeable“⁵² zu betrachten. Ganz anders glaubte Habermas in Dahrendorfs Dissertation nun lesen zu können, wie Marx mit der Idee des Gerechten einen „zentralen Topos jüdischer Überlieferung rangiert“ und „die relative Gerechtigkeit, das Epiphänomen einer geschichtlich sich wandelnden Basis, schließlich im Zusammenhang mit der ‚absoluten‘ Produktionsweise der kommunistischen Gesellschaft doch noch aus ihrer Relativität ‚rettet‘“⁵³. Damit habe Dahrendorf „einen Ausschnitt aus jener Dialektik“ beschrieben, „die der von ihm nicht berührte Georg Lukács in den 20er Jahren (‚Geschichte und Klassenbewußtsein‘) für das proletarische Klassenbewußtsein im ganzen bereits vorbildlich entwickelt hatte“: „das geschichtlich gewordene Absolute des Gerechten ist in der gerechten Gesellschaft verwirklicht“⁵⁴. Diese Interpretation legt jedoch den Schluss nahe, dass Habermas Dahrendorfs Dissertation nur sehr selektiv gelesen hatte, denn er unterschlug in seiner

      

Ebd. S. 20. Habermas, Das Absolute und die Geschichte. Schwarzschild, Der Rote Preusse. Habermas, „Marx in Perspektive“, S. 1180. Ebd. S. 1181. Ebd. S. 1182 f. Ebd. S. 1183.

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Rezension schlechterdings deren Pointe: die offene Kritik an der spekulativen Geschichtsphilosophie. Dahrendorf war im Verlauf seiner philosophischen Doktorstudien bereits zu der Überzeugung gelangt, dass die Hegelschen Spuren im Marx’schen Denken der Empirie geopfert werden mussten, Marx also nur in reduzierter Form weiterverwendet werden konnte.⁵⁵ Für Marx, den Kritiker von Entfremdungs- und Verdinglichungsprozessen in der kapitalistischen Gesellschaft, war in Dahrendorfs Denken fortan kein Platz mehr. Eine erneute Rückbindung des Marx’schen Denkens an Hegel’sche Topoi, wie sie etwa von Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein vorgenommen worden war,⁵⁶ lag ihm von Anbeginn fern – wie letztlich überhaupt der Marxismus. An Habermas’ Rezension war folglich vor allem die Suggestion problematisch, Dahrendorf habe Marx’ Ursprungsversion des Historischen Materialismus affirmiert, obwohl doch das genaue Gegenteil zutraf. Habermas wies dabei ja selbst – wenn auch nur beiläufig – auf das entscheidende Problem hin: den ausgesparten Lukács. Marx in Perspektive mangelte es nicht etwa zufällig an solchen intellektuellen Bezügen. Im Gegenteil: Dahrendorf meinte in der philosophischen Nähe von Hegel und Marx den Schlüssel für die Verfallsgeschichte des Historischen Materialismus gefunden zu haben. Seine Marx-Exegese glich folglich an keiner Stelle einem Rettungsversuch des Historischen Materialismus; vielmehr handelte es sich bei Marx in Perspektive – anders als etwa bei Heinrich Popitz’ Studie Der entfremdete Mensch ⁵⁷ – um die Pflichtübung eines Noch-Philosophen, der mit seiner Dissertation bereits den ersten Schritt einer kompromisslosen Absetzbewegung von der vermeintlich spekulativen Philosophie vollzog, um in akademischer Lichtgeschwindigkeit ins Lager des angloamerikanisch dominierten sozialwissenschaftlichen Mainstreams überzuwechseln. Dahrendorfs früher Angriff auf die hegelmarxistische Geschichtsphilosophie nahm in gewisser Weise seinen liberalen Missionarismus vorweg, sprich: das Ansinnen, Pfade aus Utopia ⁵⁸ aufzuzeigen – dies dann allerdings selbst in utopischer Manier. Folgt man also bereits dem Argument des Hamburger Doktoranden, stellte Marx durch die Früh- und Spätschriften hindurch in fataler Weise die Erfüllung „aller möglichen Rechtsansprüche des Menschen an die Gesellschaft“⁵⁹ in Aussicht: ein Szenario der Klassenlosigkeit, in dem sich das kollektive Eigentum an den Produktionsmitteln mit politischer und sozialer Herrschaftslosigkeit verbinde. Diese Zukunftsvision war laut Dahrendorf     

Vgl. dazu auch Hansl, „Dahrendorfs Spuren“, S. 108 ff. Vgl. Lukács, „Geschichte und Klassenbewußtsein“. Popitz, Der entfremdete Mensch. Dahrendorf, Pfade aus Utopia. Dahrendorf, Marx in Perspektive, S. 106.

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mit einer „wissenschaftlichen Konzeption im Sinne des sogenannten modernen Wissenschaftsbegriffs“⁶⁰ unvereinbar. Hier geriet Marx, der immanente Kritiker der liberalen politischen Ökonomie, selbst ins Kreuzfeuer einer liberalen Kritik der Metaphysik. Demnach verstehe Marx „die absolut gerechte kommunistische Gesellschaft als notwendig aufgrund von Behauptungen, die nicht begründbar sind und nur begründen, wenn man sie ganz und gar akzeptiert, wenn man sie glaubt“⁶¹. Dahrendorf warf Marx also vor, seine Kritik des nur relativen bürgerlichen Gerechtigkeitsbegriffs auf einer bedenklichen philosophischen Letztbegründung mit naturrechtlichen Zügen errichtet zu haben, obwohl Marx das Naturrecht aus seinem Denken doch eigentlich habe ausschließen wollen, „weil es die Konfrontation einer unabhängig von den materiellen Bedingungen des Lebens gegebenen menschlichen Natur mit diesen materiellen Bedingungen voraussetzt, während Marx allein diese materiellen Bedingungen als bestimmungskräftig anerkennt“⁶². Deshalb bezeichnete sich Dahrendorf in den 80ern rückblickend auch augenzwinkernd als „Autor einer Dissertation über hellenistische (Natur‐) Philosophie“⁶³. Er setzte Marx’ dialektische Geschichtskonzeption, die in die absolute und totale Gerechtigkeit der kommunistischen Gesellschaft münde, am Ende sogar mit einem Brandbeschleuniger gleich, der die problematischen Anteile der Hegel’schen Geschichtsphilosophie potenziere. Folglich habe Marx eine schon bei Hegel fragwürdige – weil „vor, vielmehr unabhängig von jeder subjektiven […] Pflicht“⁶⁴ bestehende – Gerechtigkeitsidee durch deren Projektion in eine perfekte Zukunft gleichzeitig von allen überlieferten moralischen Prinzipien abgelöst. Habe Hegel sein spekulatives Ende der Geschichte noch „post festum“⁶⁵ diagnostiziert und damit wenigstens ein gewisses ethisches Potenzial innerhalb der bestehenden politischen Ordnung des preußischen Staates (als Verwirklichung der sittlichen Idee) gerechtfertigt, müsse Marx’ Vision eines „vom Sein selbst hervorgebracht[en]“⁶⁶, absolut und total gerechten Kommunismus am Ende noch schlimmere politische Konsequenzen zeitigen als Hegels Glorifizierung des Status quo. In einer notwendigerweise dem Untergang geweihten bürgerlich-ka-

 Ebd. S. 113.  Ebd. S. 153.  Ebd. S. 120 f.  Dahrendorf, „Soziale Klassen und Klassenkonflikt: Zur Entwicklung und Wirkung eines Theoriestücks“, S. 236.  Dahrendorf, Marx in Perspektive, S. 130.  Ebd. S. 133.  Ebd. S. 143.

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pitalistischen Epoche sei der Marx’schen Geschichtsphilosophie zufolge allein „die Übereinstimmung mit ihrer Tendenz, die ‚revolutionäre‘ Haltung“⁶⁷, als subjektiv sittlich anzuerkennen. Deshalb könne von einer Entstellung des Marx’schen Denkens im Zuge der gewaltsamen Exzesse der Oktoberrevolution überhaupt keine Rede sein; vielmehr hat „kaum ein anderer Interpret“, lautete Dahrendorfs unmissverständliches Verdikt, „die eigentlichen Intentionen von Marx, Ursprung und Charakter seines Denkens, so klar gesehen wie Lenin“⁶⁸. Den Kern allen Übels erkannte Dahrendorf in einem der Hegel’schen Logik entlehnten Begriff der dialektischen Notwendigkeit, den Marx auf verheerende Weise übernommen habe.⁶⁹ Anders als die Suggestion von Engels, Marx habe Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, sei Marx’ Denken folglich im schlechtesten Sinne „noch eingebunden in die durch Hegel […] gesetzten Schranken“⁷⁰. Sympathien brachte Dahrendorf hingegen bereits für seinen künftigen politikphilosophischen Gewährsmann Kant auf,⁷¹ dessen Gerechtigkeitskonzeption vor jeder Handlung und „[u]nabhängig von dem wirklichen Gang der Dinge […]“ allein aus „reinen Rechtsprinzipien“⁷² bestimmte ethische Pflichten impliziere. Dieser transzendentalphilosophische Gerechtigkeitsbegriff schien ihm schon damals weniger riskant als Hegels und Marx’ dialektische Geschichtsphilosophie, in der das Gerechte „nicht ein moralisches Postulat, nicht ein ethischer Wert, sondern eine ontologische Bestimmung“⁷³ sei. Am Ende argumentierte Dahrendorf im Gestus des Empirikers mit Marx, dem Soziologen, gegen Marx, den Philosophen. Die Schlussthesen seiner Arbeit enthielten einerseits noch einmal eine deutliche Absage an die „spekulative Geschichtskonzeption“⁷⁴. Andererseits vertrat Dahrendorf hier bereits die Position, man könne „sozialwissenschaftliche Begriffe, Hypothesen und Vorhersagen von Marx anerkennen, ohne seine spekulative Geschichtskonzeption zu akzeptieren; und der Versuch ist sinnvoll, sie durch experimentelle Sozialwissenschaft zu unterstützen“⁷⁵. Darauf aufbauend, skizzierte er gleich ein ganzes sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm: „Letztlich gibt es nur eine Instanz zur Wi-

 Ebd. S. 135.  Ebd. S. 145.  Ebd. S. 127. Vgl. zu Dahrendorfs Kritik an Hegels Begriff des „Notwendigen“ Hansl, „Dahrendorfs Spuren“, S. 109.  Dahrendorf, Marx in Perspektive, S. 75.  Vgl. zu Dahrendorfs kantischem Liberalismus Neckel, „Ungesellige Geselligkeit“.  Dahrendorf, Marx in Perspektive, S. 129.  Ebd. S. 141.  Ebd. S. 166.  Ebd. S. 166.

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derlegung von Marx’ sozialwissenschaftlichen Hypothesen und Vorhersagen: empirische Tatbestände, deren Urteil diese Hypothesen wie alle Annahmen der Sozialwissenschaften unterliegen.“⁷⁶ Damit hatte Dahrendorf – wie er viel später rückblickend noch einmal verdeutlichte – „Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft schon säuberlich getrennt, die erstere einem gründlichen Erkenntnisverdacht unterworfen und für die letztere etwas berufen, was noch nicht Soziologie, aber immerhin Sozialwissenschaft hieß“⁷⁷. Doch mit dem IfS hatte sich Dahrendorf zweifellos den falschen Ort zur Umsetzung seines philosophiebefreiten Theoriedarwinismus ausgesucht. Zu dieser Einsicht gelangte er selbst in weniger als einem Monat. Adorno übermittelte Dahrendorfs überraschende Kündigung nach nur vier Wochen der Zusammenarbeit im Spätsommer 1954 postwendend an den im Ausland weilenden Institutsdirektor Horkheimer. Der Inhalt des Briefes ist für die Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik über seine anekdotische Qualität hinaus auch von systematischer Relevanz. Adorno schrieb: „Dahrendorf hat zum 1. September gekündigt, mir völlig unerwartet. Er hat ein glänzendes Stellenangebot von der Universität in Saarbrücken, 1000. – DM im Monat, dazu freies Auto, rasche Habilitation und alle möglichen anderen Dinge. Er erklärte sogleich, sein Entschluß sei unwiderruflich, und sagte dann im Gespräch, er fühle sich theoretisch nicht zu uns gehörig, weil wir ihm zu ‚historisch‘ dächten, er wolle jedoch im Sinne der formalen und der Wissenssoziologie arbeiten und passe überhaupt nicht in ein Institut, sondern ziele auf die ganz selbständige Universitätslaufbahn ab. Da war halt nichts zu machen. Er ist ein sehr begabter Mensch, aber verzehrt sich geradezu vor Ehrgeiz, und vor allem: er haßt im Grunde das, wofür wir einstehen. Mir ist es eine ziemliche Enttäuschung, denn er hatte sich in der Arbeit wirklich gut angelassen – aber er ist wohl der stärkste Beweis für unsere These, dass in einem strengen Sinne nach uns nichts kommt.⁷⁸

Dahrendorf fand von Anbeginn keinen Zugang zur dialektischen Methode der Kritischen Theorie. Sein Hauptproblem war u. a. deren fortschrittspessimistischer Grundtenor seit der Dialektik der Aufklärung. Für ihn war die Dialektik – wie er in einer auf Englisch verfassten Notiz späteren Datums ausführte – „a temptation: the temptation to produce elegant nonsense. […] sometimes it is a deceptive and clever play with the inevitable alienation of life, the pathos of which is produced into the evitable alienations of particular societies: language. power. one has to

 Ebd.  Dahrendorf, „Motive, Erfahrungen, Einsichten“, S. 295.  Adorno/Horkheimer, Briefwechsel, S. 277. Horkheimer quittierte die Kündigung seines Assistenten im Antwortbrief an Adorno mit dem hinsichtlich der Weiterführung des kritisch-theoretischen Denkprojekts ganz sicher zutreffenden Satz: „Wenn er wegen eines besseren Angebots davonläuft, so werden wir nicht allzu viel verloren haben.“, ebd. S. 281.

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dust it, scratch the lacquer off to get at substance. but there remains substance. in adorno/horks case: the weakness is the prison of dialectical thought.“⁷⁹ Einmal abgesehen von der Frage, ob Dahrendorf die Schriften Horkheimers und Adornos überhaupt jemals systematisch gelesen hat, konnte er jedenfalls bereits in seiner Dissertation keinen Wert mehr darin erkennen, im Frankfurter Sinne „historisch“, also in hegelmarxistischen Kategorien zu denken und die Probleme der Gegenwart auf Vermittlungsprozesse durch eine gesellschaftliche Totalität (ob nun die spätkapitalistische oder die okzidental-rationalistische) zurückzuführen. Seine Teilnahme am „Donnerstagabend-Seminar“ an der LSE, das er mit anderen empirisch orientierten Sozialwissenschaftlern wie David Lockwood organisierte und nachgerade in den Legendenstatus erhob, führten ihn endgültig zu einem Verständnis von „Theorie als Erklärung bestimmter Sachverhalte, nicht als eine Begriffssprache, die man sprechen kann oder auch nicht“⁸⁰. Gleichzeitig drängte Dahrendorf auch aus karrierestrategischen Gründen in den sozialwissenschaftlichen Mainstream, was ja bereits sein Bekenntnis gegenüber Adorno, er wolle sich keinem institutseigenen ‚Korpsgeist‘ unterwerfen, verriet. Auf der anderen Seite herrschte am IfS in den 50ern auch ein starker Geist des Konservatismus, den der Chronist der Frankfurter Schule Rolf Wiggershaus herausgestellt und insbesondere auf den Einfluss Horkheimers zurückgeführt hat. Einerseits gilt es dabei in Rechnung zu stellen, dass die aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Kritischen Theoretiker in der frühen Bundesrepublik im Vergleich zur Weimarer Zeit veränderte Rahmenbedingungen vorfanden. Weder war das IfS weiterhin finanziell unabhängig – der Unternehmer Felix Weil war mit seiner Familie nach Kriegsende in den USA geblieben und kam als Privatmäzen des Instituts fortan nicht mehr infrage –, noch wehte im CDU-regierten Frankfurt der 50er Jahre noch der linksintellektuelle Wind der 20er und frühen 30er. Hinzu kam die Tatsache, dass das IfS seine vormalige Vorreiterrolle im sozialwissenschaftlichen Feld der Bundesrepublik eingebüßt hatte: „[N]un stand es neben anderen sozialwissenschaftlichen Instituten, die je spezifische wissenschaftliche, politische und inhaltliche Schwerpunkte ausbildeten.“⁸¹ Zur wichtigsten Konkurrenzeinrichtung avancierte in dieser Zeit die Sozialforschungsstelle Dortmund an der Universität Münster, die zwischen Mitte und Ende der 50er nicht weniger als die doppelte Anzahl an Forschern beschäftigte⁸² und mit der Übernahme des

   

Zit. nach Hansl, „Dahrendorfs Spuren“, S. 106. Dahrendorf, „Motive, Erfahrungen, Einsichten“, S. 297. Weischer, Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘, S. 82. Vgl. ebd. S. 61.

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Direktorats durch den konservativen Soziologen Helmut Schelsky im Jahr 1960 und dessen „exzessive Habilitationspraxis“⁸³ bald weit über Münster hinaus akademisch ausstrahlte. Horkheimer und Adorno mussten sich daher auch als gewiefte Professionspolitiker beweisen, um eine herausgehobene Stellung des IfS in der bundesrepublikanischen Forschungslandschaft durch die kontinuierliche Akquise staatlicher Mittel überhaupt sicherstellen zu können. Der grassierende Antikommunismus und gesellschaftspolitische Quietismus zwangen in den 50ern zu einer gewissen Vorsicht bei der Wahl von Forschungsthemen und der offenen Proklamation marxistisch-revolutionärer Termini. Dies erforderte ein taktisches Geschick, das die beiden Institutspaten im amerikanischen Exil perfektioniert hatten. Gerade in einem gallischen Dorf der Gesellschaftskritik wie dem IfS musste während des ersten bundesrepublikanischen Zeitalters der Christdemokratie auf politische Befindlichkeiten mehr Rücksicht genommen werden, als es manch intellektuellem Emporkömmling vielleicht einleuchten mochte. Wiggershaus merkt dazu an: „Schon wer sich offen zum Nicht-Antikommunismus bekannte, hatte mit Diffamierung und Diskriminierung zu rechnen.“⁸⁴ Horkheimer und Adorno entschieden sich – „[a]nders als Wolfgang Abendroth, einer der wenigen sich öffentlich zum Sozialismus bekennenden Professoren“ – unter diesen Umständen für die Strategie, „Rückhalt nicht bei Organisationen der Arbeiterbewegung oder oppositionellen Gruppen [zu suchen], sondern bei der herrschenden Macht selbst“⁸⁵. Horkheimer beherrschte dieses machiavellistische Spiel aus dem Effeff, ob nun bei der erfolgreichen Einwerbung finanzieller Mittel für den Institutsneubau, als er die vornehmlich amerikanischen Sponsoren von der empirischen Mission eines sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts in Frankfurt und von dessen Nutzen für die kapitalistische Wirtschaft überzeugte, oder durch die Pflege persönlicher Beziehungen in seiner Funktion als Rektor der Goethe-Universität zum Frankfurter CDU-Oberbürgermeister Walter Kolb oder zu Bundespräsident Theodor Heuss. Trotz dieser bürgerlichen Anbiederung an die herrschenden Klassen ist jedoch nicht zu leugnen, dass Horkheimers Rede anlässlich der feierlichen Eröffnung des Institutsneubaus auf der Frankfurter Senckenberg-Anlage am 14. November 1951 auch die hoffnungsvolle Botschaft an eine nachkommende Generation von kritischen Sozialwissenschaftlern enthielt, „daß in allen Fragestellungen, ja in der soziologischen Haltung überhaupt, immer eine Intention steckt, die die Gesellschaft, wie sie ist, transzendiert“:

 Ebd. S. 69.  Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 493.  Ebd. S. 479.

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Ohne diese Intention, so wenig man sie im einzelnen darlegen kann, gibt es weder die richtige Fragestellung noch soziologisches Denken überhaupt. Man verfällt der Überfülle von Material oder bloßer Konstruktion. Eine gewisse kritische Haltung zu dem, was ist, gehört sozusagen zum Beruf des Theoretikers der Gesellschaft, und eben dieses Kritische, das aus dem Positivsten, was es gibt, der Hoffnung, fließt, macht den Soziologen unpopulär. Die Studenten dazu zu erziehen, diese Spannung zum Bestehenden, die zum Wesen unserer Wissenschaft gehört, zu ertragen, ihn im echten Sinn sozial zu machen – was einschließt, daß er auch ertragen können muß, allein zu stehen – ist vielleicht das wichtigste und letzte Ziel der Bildung, wie wir sie auffassen.⁸⁶

Im Nachhinein mag es so wirken, als habe Horkheimer mit seiner Ermutigung des wissenschaftlichen Nachwuchses zur kritischen Haltung ein bloßes Lippenbekenntnis abgegeben. Stuart Jeffries bringt den entsprechenden Mentalitätswandel am IfS von der kritischen Hochphase in den frühen 30ern zum konservativen Interregnum in den 50ern in diesem Sinne auch auf die prägnante Formel: „Café Marx war tot. Lang lebe Café Max.“⁸⁷ Wiggershaus schreibt im Hinblick auf Horkheimers späten Konservatismus sogar von einer „in immer mehr Dingen reaktionäre[n] Haltung“, die der Entwicklung eines selbstbewussten Nachwuchses am IfS im Weg gestanden habe. Bei der Einordnung von Horkheimers paternalistischem Führungsstil könne man rückblickend schwer einschätzen, „was bei [ihm] größer war: das Zurückschrecken vor der aktualisierten Diagnose einer Selbstzerstörung der Aufklärung, der er keinen positiven Begriff von Aufklärung folgen zu lassen vermochte, oder das Zurückschrecken vor den anstößigen Konsequenzen einer gesellschaftskritischen Analyse, die nicht melancholisch abgeklärt, sondern rücksichtslos war“⁸⁸. Gleichzeitig vergisst Wiggershaus aber auch nicht zu betonen, dass Horkheimer und Adorno „für viele Studenten“ in der damaligen Zeit „einen Lichtblick [darstellten], und sei es auch nur deswegen, weil sie etwas anderes machten als das Übliche, weil für sie das gleiche galt, was Horkheimer bei der Wiedereröffnung in seinem Dank an die Architekten von dem funktionalen Neubau gesagt hatte: man sehe es ihm schon von außen an, daß es nicht muffig in ihm aussehe“⁸⁹.

 Zit. nach ebd. S. 495 f.  Jeffries, Grand Hotel Abyss, S. 299. An anderer Stelle heißt es dazu: „Striking […] was that what had, before 1933, been known as Café Marx, in 1951 became known as Café Max, after Horkheimer. Marx, the philosopher whose name the Institute astutely airbrushed from their papers during their American exile so as not to offend their hosts, was now sidelined in the Frankfurt School’s second European incarnation too.“, ebd., S. 269.  Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 526.  Ebd. S. 499.

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Magnus Klaue nähert sich diesem institutseigenen Widerspruch zwischen dem Zwang zu professions- und institutspolitischem Taktieren einerseits und dem kritisch-theoretischen Anspruch auf die Überwindung der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse andererseits über eine Formulierung Horkheimers aus dessen Notizen kurz nach der Remigration. Unter dem Eindruck eines konsequenten Beschweigens der nationalsozialistischen Vergangenheit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft verwendete Horkheimer im „private[n] Modus beharrlicher Befragung der Bedingungen des eigenen Arbeitens und Denkens“⁹⁰ die Losung vom „lizensierten Geist“, für den „[d]as Urteil der bürgerlichen Welt“ am Ende „doch das einzige“ sei, „an das man sich irgendwie halten kann, selbst wenn man gegen sie kämpft“⁹¹. Wie Klaue präzisiert, betrachtete Horkheimer „sein Leben und seine Arbeit nach der Rückkehr nach Deutschland“ vor allem aufgrund der Erfahrung des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs folglich als vorübergehend „lizensiert und daher jederzeit durch die äußeren Umstände widerrufbar“⁹². Eingedenk der pessimistischen Wende der Kritischen Theorie und der damit verbundenen Preisgabe eines optimistischen Blicks auf die Zukunft verwundert es nicht, dass Horkheimer in seiner Funktion als Institutsdirektor am IfS jeden Anflug einer Infragestellung der vermeintlich bloß formalen repräsentativdemokratischen Institutionen der frühen Bundesrepublik im Keim zu ersticken wünschte. Gerade auf den späten Horkheimer trifft also am wenigsten zu, was Habermas in den frühen 80ern im Zuge seiner kommunikationstheoretischen Wende als kollektives Charakteristikum der alten Frankfurter anführte: dass diese die parlamentarische Demokratie „nie so recht ernst genommen“⁹³ hätten. Mit seiner Äußerung, eine an sich bereits kritikwürdige Kategorie wie bürgerliche Wissenschaft habe es für ihn „nie gegeben“⁹⁴, unterschlug der arrivierte Habermas eigentlich nur, dass er die bürgerliche Demokratie als junger Assistent Adornos in den späten 50ern selbst nicht so recht ernst genommen und genau aus diesem Grund Horkheimers Unmut auf sich gezogen hatte.

Der verlorene Sohn In seiner Autobiographie Über Grenzen berichtete Dahrendorf von einer „‚Gruppe 47‘ der Nachkriegssoziologen, die sich“ in der zweiten Hälfte der 50er „unter dem     

Klaue, „Mit doppeltem Blick“, S. 439. Zit. nach ebd. Ebd. S. 441. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 172. Ebd.

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Banner der Industriesoziologen und paradoxerweise zumeist in der Bibliothek des Frankfurter Instituts“ zusammengefunden habe: „Dort trafen sich die Dortmunder (H. Popitz, H. P. Bahrdt, E. A. Jüres, H. Kesting), die Gewerkschaftler (Pirker, Lutz, Braun), die Frankfurter selbst (Ludwig von Friedeburg, auch J. Habermas) und ein paar Verstreute wie Rainer Lepsius und ich.“⁹⁵ Hier ergab sich für Dahrendorf trotz seiner entschiedenen Absage an die Kritische Theorie früh der Kontakt zu Habermas, wenngleich der inhaltliche Graben zwischen den beiden ungleichen Weggefährten zum damaligen Zeitpunkt – wie sich später vor allem im Kontext des Positivismusstreits herausstellen sollte – noch unüberwindbar schien. Nachdem Friedeburg am IfS Dahrendorfs Platz als Empiriker eingenommen hatte, existierte dort zusätzlicher Bedarf für einen philosophisch versierten Sozialtheoretiker an der Seite Adornos. Der in Bonn mit einer Arbeit über Schellings Geschichtsphilosophie promovierte und journalistisch bereits profilierte Habermas entsprach den Suchkriterien wie kein zweiter und wurde Mitte Februar 1956 „offiziell Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung und der erste persönliche Assistent von Theodor W. Adorno“⁹⁶. Horkheimer vermutete hinter Habermas’ ersten sozialphilosophischen und demokratietheoretischen Gehversuchen am IfS jedoch einen Rückschritt hinter die Einsichten, die er und Adorno in der Dialektik der Aufklärung gewonnen hatten. Zu Beginn der 80er beschrieb Habermas, nunmehr in der Rolle eines in ideengeschichtlicher Hinsicht gewissermaßen ortlos gewordenen Theoretikers des kommunikativen Handelns, die Optionen am Ausgangspunkt seiner akademischen Karriere mit der Alternative, sich entweder „weiterhin in dem illuminierenden Exerzitium einer negativen Philosophie“ zu bewegen, „um einzusehen und vor dieser Einsicht auszuhalten, daß es, wenn überhaupt, einen Vernunftfunken nur noch in der esoterischen Kunst gibt“, oder aber „wieder hinter die Dialektik der Aufklärung“ zurückzugehen, „weil man mit den Aporien einer sich selbst verneinenden Philosophie als Wissenschaftler nicht leben kann“⁹⁷. Dem „wahren Konservativen“⁹⁸ Horkheimer, dessen vorderstes Ziel nunmehr darin bestand, die Überreste bürgerlicher Tradition und Zivilisation in der total verwalteten spätkapitalistischen Welt so lange wie möglich zu bewahren, erschien Habermas’ Anknüpfung an das marxistische Erbe der Kritischen Theorie der 30er aber nicht nur naiv, sondern in ihrer vermeintlichen Geschichtslosigkeit und antibürgerlichen Stoßrichtung auch gefährlich. Er wertete es als Affront, dass sich Habermas ungeniert als marxistischer Gesellschaftskritiker gerierte und die Dia   

Dahrendorf, „Motive, Erfahrungen, Einsichten“, S. 297. Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 103. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 172. Klaue, „‚Der wahre Konservative‘“.

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lektik als „das schlechte Gewissen der Herrschaft“⁹⁹ und sogar „logische Spur“¹⁰⁰ in der Geschichte bezeichnete. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war der Literaturbericht Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, den Habermas für die von Hans Georg Gadamer herausgegebene Philosophische Rundschau verfasst hatte. Hier führte Habermas aus, „daß der Marxismus spätestens mit Engels’ ‚Anti-Dühring‘ aus einer Revolutionstheorie zu einer sogenannten realistischen Ontologie umgebildet worden“ sei. Deshalb wolle er „den Historischen Materialismus in wesentlichen Zügen selber zur Sprache zu bringen“ und „sich, gemäß den Grundsätzen immanenter Kritik, zu seinem Anwalt“ machen, „solange es irgend die aus sich schlüssigen Gedanken erlauben“¹⁰¹. Diese Zeilen waren im Unterschied zu Dahrendorfs irreführender Koketterie aus den einleitenden Passagen seiner Hamburger Marx-Dissertation nun aber tatsächlich ernst gemeint. Hatte Dahrendorf im Historischen Materialismus ein strukturelles, auf die Hegel’sche Spekulation zurückgehendes Übel angelegt gesehen, wertete Habermas die Abkehr von der philosophischen Ursprungsgestalt der Marx’schen Theorie demgegenüber als Sündenfall des orthodoxen Marxismus: Der Historische Materialismus in seiner ursprünglichen Gestalt ist weder ‚materialistisch‘ im Sinne des Naturalismus der Enzyklopädisten im 18. oder gar der Monisten im 19. Jahrhundert; noch beansprucht er Welterklärung schlechthin. Er ist vielmehr als Geschichtsphilosophie und Revolutionstheorie in einem zu begreifen, ein revolutionärer Humanismus, der seinen Ausgang nimmt von der Analyse der Entfremdung und in der praktischen Revolutionierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sein Ziel hat, um mit ihnen zugleich Entfremdung überhaupt aufzulösen.¹⁰²

Mit der Losung vom „revolutionären Humanismus“ – der Verbindung eines notwendigerweise spekulativen geschichtsphilosophischen Elements mit der wissenschaftlich-empirischen Prüfung der Möglichkeitsbedingungen, ob eine revolutionäre Situation überhaupt gegeben sei – wendete sich Habermas in Anlehnung an die früheren Aufsätze Horkheimers aus der ZfS gegen die organisatorische Trennung von Philosophie und Wissenschaft. Dabei attackierte er gleichsam einen geschichtsphilosophischen Reduktionismus, der die „von Marx intendierte[ ] Dialektik mit der Hegels“¹⁰³ gleichsetzte: „Daß Marx Hegel nur unzureichend verstanden, und Hegel alles schon vorgedacht habe, was Marx spä Habermas, Theorie und Praxis, S. 318.  Ebd. S. 319.  Ebd. S. 268.  Ebd. S. 269.  Ebd. S. 290.

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terhin in Auseinandersetzung mit ihm zu entdecken glaubte, ist die Tabuformel, die vor der spezifischen Problematik einer auf empirische Sicherung bedachten revolutionären Geschichtsphilosophie bewahrt.“¹⁰⁴ Anders als Horkheimer meinte, hielt Habermas folglich schon damals fest, der Historische Materialismus müsse sich „Kontingenz gefallen lassen“, und forderte im Zeichen der modernen Wissenschaft, die Dialektik der Geschichte „nicht als Logik eines Subjekts transzendental abzuleiten, das als Subjekt der Geschichte zugleich vor und über dieser ist – sei’s ein Weltgeist oder sei’s der Geist der jeweils zur Herrschaft gelangenden Klassen“¹⁰⁵. Statt wie Lukács dem Glauben an ein durch sein Klassenbewusstsein erleuchtetes, proletarisches Subjekt-Objekt der Geschichte anheimzufallen, plädierte er durchaus im Sinne von Horkheimers programmatischen Aufsätzen aus den späten 30ern für eine auf dem gegebenen Stand bürgerlicher Wissenschaft – in den Worten Horkheimers: „traditioneller Theorie“ – argumentierende Dialektik, die der Offenheit des Geschichtsprozesses Rechnung tragen sollte, indem sie „in der Erkenntnis, daß sie weder ihres Ursprungs noch der Verwirklichung ihrer eigenen Idee mächtig ist“, aufhöre, „prima philosophia zu sein“¹⁰⁶. Eine solchermaßen kontingenzbewusste materialistische Dialektik musste sich nach Habermas „alles, was sie wissen will, empirisch, und das heißt mit Hilfe der Verfahren objektivierender Wissenschaft geben lassen“¹⁰⁷, konnte also nicht einfach an der Realität vorbei einen Sinn der Geschichte bloß unterstellen.¹⁰⁸ Anders als Dahrendorf, der Hegels Begriff der Notwendigkeit kategorisch verworfen hatte, knüpfte der selbstbewusste junge Kritische Theoretiker Habermas vielmehr an die Unterscheidung zwischen praktischer und theoretischer Notwendigkeit der Revolution an, die Marx in seinen Frühschriften zwar expliziert habe, die „im Vorwort zum ersten Band des Kapitals und in dessen Schlußparagraphen“ aber schlechterdings „verwischt worden“¹⁰⁹ sei: „Die wissenschaftlich feststellbaren Bedingungen der Möglichkeit einer Revolution einmal gesetzt – die Revolution selber verlangte darüber hinaus das entschlossene Ergreifen dieser

 Ebd. S. 277.  Ebd. S. 287.  Ebd. S. 311.  Ebd. S. 321.  Im Hinblick auf die Losung vom Sinn der Geschichte gab Habermas den Kontingenzdenkern Kant und Marx den Vorzug gegenüber einem in geschichtsphilosophischer Hinsicht starrköpfigen Hegel, vgl. dazu ebd. S. 310.  Ebd. S. 289, Fn. 1.

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Möglichkeit, eben die von der Einsicht in die praktische Notwendigkeit der Revolution stimulierte, nicht determinierte Praxis.“¹¹⁰ Für Horkheimer, der in Habermas’ Assistentenzeit „zu einem überzeugten Verfechter der CDU-Parole ‚Keine Experimente‘“¹¹¹ geworden war und in resignativer Pose wieder verstärkt Nietzsche, Schopenhauer und Freud las, klang diese Wortwahl jedoch bedrohlich. Zwischenzeitlich hatte er die mit Marx’ sozialistischem Revolutionsbegriff angereicherten alten Ausgaben der ZfS sogar in der „Frankfurter Kiste“ im Institutskeller vor dem Nachwuchs versteckt und verschlossen.¹¹² In seiner instituts- und professionspolitischen Paranoia spiegelte sich sicher auch der verbreitete Antikommunismus der Adenauer-Jahre wieder, der Habermas Ende der 50er kurzzeitig zum Verhängnis werden sollte. Horkheimer sah sich durch Habermas’ vermeintlich zur Revolution anstachelndes Vokabular nämlich dazu veranlasst, ihm die Habilitation in Frankfurt aus fadenscheinigen Gründen zu verwehren.¹¹³ Dass Adornos Assistent einem „als Staatsideologie ausgehaltene[n], grundsätzlicher Diskussion längst entzogene[n] und im Innersten leblose[n] Kanon“¹¹⁴ des orthodoxen Marxismus abgeschworen hatte, reichte dem Wirt im „Café Max“ nicht aus. An Adorno schrieb Horkheimer in der Causa Habermas einen regelrechten Brandbrief und forderte ihn „unmissverständlich auf, den 29-Jährigen zu bitten, das Institut zu verlassen“¹¹⁵. Denn „Revolution bildet bei [Habermas]“ – so das Verdikt Horkheimers – eine Art affirmativer Idee, ein verendlichtes Absolutum, einen Götzen […], der Kritik und kritische Theorie, wie wir sie meinen, gründlich verfälscht. […] Was es heute zu verteidigen gilt, scheint mir ganz und gar nicht die Aufhebung der Philosophie in Revolution, sondern der Rest der bürgerlichen Civilisation zu sein. […] Lassen Sie uns zur Aufhebung der bestehenden Lage schreiten, und ihn in Güte dazu bewegen, seine Philosophie irgendwo anders aufzuheben und zu verwirklichen.¹¹⁶

 Ebd. S. 289.  Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 616.  Vgl. dazu Schlak, Wilhelm Hennis, S. 45 ff.  Vgl. dazu Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 616.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 266.  Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 119.  Adorno/Horkheimer, Briefwechsel, S. 516 ff. Adorno setzte seinen Assistenten, den er persönlich und fachlich sehr schätzte, allerdings nicht vor die Tür, obwohl er Horkheimers Wünsche ansonsten beinahe vorauseilend erfüllte. Müller-Doohm begründet Adornos Standfestigkeit in diesem Fall damit, dass er gespürt habe, „wie sehr Habermas’ Interpretation des materialistischen Geschichts- und Philosophieverständnisses dem ähnelt[e], was Horkheimer in seinen frühen Texten in den ersten programmatischen Heften der Zeitschrift für Sozialforschung vertreten hat[te]: Das ist zwar die von geschichtsphilosophischer Skepsis gebrochene, aber doch sozialistisch inspirierte Überzeugung einer Transzendierung des antagonistischen Zustandes der bürgerlich-

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Habermas rang sich schließlich selbst zu der in finanzieller und karrierebiografischer Hinsicht „waghalsige[n] Entscheidung“¹¹⁷ durch, mit Hilfe eines DFG-Stipendiums bei dem Sozialisten und akademischen Außenseiter Wolfgang Abendroth in Marburg zu habilitieren, weil es für ihn „überhaupt nicht infrage [kam]“, sein akademisches Fortkommen „über mehrere Jahre auf Eis zu legen“¹¹⁸. In puncto Ehrgeiz und Zielstrebigkeit stand er Dahrendorf folglich in nichts nach. Allerdings war sein Abschied aus Frankfurt nur von kurzer Dauer. Der verlorene Sohn kehrte mit seiner programmatischen Antrittsvorlesung über Erkenntnis und Interesse Mitte der 60er genauso folgerichtig an die Heimstätte der Kritischen Theorie zurück, wie der liberale Sozialwissenschaftler Dahrendorf die Brücken ans IfS zuvor hinter sich abgebrochen hatte. Bei Habermas’ Berufung auf Horkheimers vakant gewordenen Lehrstuhl für Sozialphilosophie spielte der Gründer der Kritischen Theorie nun selbst eine tragende Rolle. Für den abrupten Sinneswandel dürfte ausschlaggebend gewesen sein, dass Habermas das revolutionäre Pathos in seiner Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit im Vergleich zu seinem vorherigen demokratietheoretischen Schlüsseltext Zum Begriff politischer Beteiligung noch einmal merklich abgeschwächt hatte. Die Arbeit gab nun einen bekennenden Verfechter der Aufklärung zu erkennen, der einer verlorengegangenen bürgerlichen Öffentlichkeit hinterher zu trauern schien. Freilich war Habermas weiterhin ein – wenn auch auf dem Höhepunkt der Adenauer-Ära pessimistischer – demokratischer Sozialist. Horkheimer musste nach der Lektüre des Strukturwandels jedoch zu dem Schluss gelangt sein, in Habermas nun doch einen würdigen Erben der Kritischen Theorie gefunden zu haben, der seine spätjuvenile Apotheose der Revolution mittlerweile ad acta gelegt hatte. Bei allen Unterschieden weist Dahrendorfs und Habermas’ Flucht aus dem „Café Max“ in den 50ern auch eine entscheidende Gemeinsamkeit auf: Beide hatten in Marx’ Schriften den Schlüssel für ihre intellektuelle Profilierung in der frühen Bundesrepublik gefunden; an ihrem Interesse an der Dynamik und den strukturellen Antagonismen moderner Gesellschaften offenbarte sich der Wille, den politischen Konservatismus, der sich in westlichen Industriegesellschaften

kapitalistischen Gesellschaft. […] Viel spricht für die von Adorno offenbar gehegte Vermutung, dass Horkheimers Zorn sich auch daraus speiste, dass er von Habermas an seine eigene sozialrevolutionäre Vergangenheit erinnert wurde, von der er freilich im Nachkriegsdeutschland nichts mehr oder nicht mehr viel wissen wollte. Hinzu [kamen] tief sitzende Ängste, mit politisch motivierten Aktivitäten eines opponierenden Intellektuellen in Verbindung gebracht zu werden.“, Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 120.  Ebd. S. 123.  Ebd. S. 124.

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während der Verschärfung des Kalten Kriegs in den späten 50ern und frühen 60ern ausgebreitet hatte, schon innerhalb des sozialwissenschaftlichen Felds zu unterlaufen. Gleichzeitig waren Dahrendorf und Habermas aber auch zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sich Marx’ krisentheoretische Prognosen zum Entwicklungsgang fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften mittlerweile erübrigt hatten. Hier standen sie, wie viele ihrer Zeitgenossen, unter dem Eindruck der günstigen ökonomischen Bedingungen der trente glorieuses, in denen die Debatten über Grenzen des Wachstums und die Unregierbarkeit westlicher Demokratien genauso in der Zukunft lagen wie die Dauerkrisenhaftigkeit einer globalisierten politischen Ökonomie.¹¹⁹ In diesem Sinne hatte Habermas bereits in seinem Parforceritt durch die philosophische Marx-Literatur angemerkt, „die eigentümliche theoretische Nachgiebigkeit des ‚ökonomischen‘ Marx […] gegenüber dem ‚metaphysischen‘ Engels“ bzw. „der Einfluß der Engelsschen ‚Weltanschauung‘ auf Marx, der an einigen Stellen des ‚Kapitals‘ deutlich nachweisbar“ sei, bedürfe „noch der Aufklärung“: „Die Rede vom jungen Marx und vom alten verdeckt nur eine Verlegenheit.“¹²⁰ Eine systematische Reformulierung des interdisziplinären Materialismus aus den späten 30ern und frühen 40ern erschien ihm nur dann vielversprechend, wenn man die vermeintlichen Irrtümer Marx’ auch konsequent beim Namen nannte. Um politische und intellektuelle Ebene miteinander zu verbinden: Wer angesichts des grassierenden Antikommunismus in der Adenauerrepublik überhaupt mit Marx argumentieren wollte, musste gleichzeitig gegen ihn argumentieren. Die von Marx prognostizierte systemimmanente Verschärfung des Klassenkonflikts zwischen Arbeit und Kapital wirkte in den goldenen 50ern regelrecht aus der Zeit gefallen. Auch die Kritische Theorie blieb von dieser Entwicklung nicht unberührt. Vor allem nach der Rückkehr der Kritischen Theoretiker nach Frankfurt gehörte es zunächst zum guten Ton, von einer allzu offenen Kapitalismuskritik die Finger zu lassen; die Marx’sche Krisentheorie hatte man sowieso längst einer immanenten Kritik unterzogen. Die Zeichen der Zeit schienen mehr denn je dafür zu sprechen. Horkheimer hatte jedoch übersehen, dass auch Habermas davon ausging, dass Marx’ aus der Zeit des liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts stammende Prognosen über den Entwicklungsgang kapitalistischer Gesellschaften  Folglich ist es auch kein Zufall, dass Niklas Luhmanns Theorie operativ geschlossener und selbstreferentieller sozialer Systeme erst in einer Zeit Blüten schlagen konnte, in der in Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Wissenschaft bereits ein zynisch angehauchter Skeptizismus regierte.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 272.

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unter den veränderten Vorzeichen des organisierten Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts revidiert werden mussten.¹²¹ Die Parallelen zu Dahrendorfs zeitgleich unternommenem Überwindungsversuch der Marx’schen Klassentheorie stechen in dieser Hinsicht ins Auge. Man könnte es auch so formulieren: Liberale waren in der Hochphase des „eingebetteten Liberalismus“¹²² genauso wie viele Linke davon überzeugt, dass der Klassenkonflikt zwischen Bourgeoisie und Proletariat keine revolutionäre Sprengkraft mehr entfalten würde. In einer Zeit, in der „eine an Verwaltungszwecken orientierte Ökonomie höchst differenzierte Methoden der Krisenbehandlung und -vorbeugung“, d. h. vor allem keynesianistische Techniken der Geldpolitik und Nachfragestimulierung entwickelt hatte, „die wirtschaftspolitisch wirksam eingesetzt werden“, lag das Grundproblem der Marx’schen Krisentheorie nach Habermas dementsprechend auf der Hand: nämlich dass sie erst gar nicht die Möglichkeit [berücksichtigt], daß ihre Prognosen nicht nur die Proletarier in ihrer Entschlossenheit zur Revolution, sondern auch die Kapitalisten in ihrer Entschlossenheit zur Verhütung der Revolution bestimmen könnten, nämlich den ökonomischen Prozeß immer mehr mit Willen und Bewußtsein zu lenken und damit in den Kapitalismus selbst, zu Zwecken seiner Erhaltung, Elemente einer Rationalisierung einzuführen, die Marx der sozialistischen Verfassung der Gesellschaft vorbehalten glaubte¹²³.

An dieser Stelle wird deutlich, dass Habermas in der frühen Bundesrepublik noch von der Möglichkeit einer großangelegten Steuerung des Wirtschaftsprozesses durch den bürokratischen Staat „mit Willen und Bewußtsein“ überzeugt war. Dieser optimistische Planungsbegriff kam letztlich jedoch erst in seiner Studie über die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus aus den frühen 70er Jahren zum Durchbruch, als die Konservativen an der Regierung von einer reformfreudigen sozialliberalen Koalition abgelöst worden waren.¹²⁴

 Seine Kritik am Marx’schen Produktionsparadigma setzte er noch bis in die Theorie des kommunikativen Handelns hinein fort. In den frühen 80ern zog Habermas jedoch längst nicht mehr die optimistischen demokratisch-sozialistischen Schlüsse, die seinem Überwindungsversuch der Marx’schen Krisentheorie in den frühen 70ern folgten, vgl. dazu vor allem den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit.  Vgl. zu dem Begriff, der auf das politikökonomische Regime der Nachkriegszeit von Bretton Woods gemünzt ist, „Ruggie, International Regimes, Transactions, and Change“.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 330 f.  Habermas fiel es zwar zu keinem Zeitpunkt ein, das Proletariat zu romantisieren. Allerdings hielt er das Wachstum der Produktivkräfte lange Zeit für völlig selbstverständlich. Deshalb vertraute er in Anlehnung an Marcuse schon früh auf eine „Dialektik des falschen Überflusses“ im Wirtschaftswunderdeutschland, die „eher zur Reflexion irrationaler Herrschaft“ führe „als eine Dialektik der richtigen Armut“. Diese Überzeugung begründete er aus psychoanalytischer Per-

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1.1.2 Im Schatten der Lehrer Adornos Methode Nach dem Rückzug Horkheimers kristallisierte sich unter Adornos Einfluss ab Ende der 50er ein immer klareres inhaltliches Profil der Kritischen Theorie heraus, auf das der verkappte Popper-Schüler Dahrendorf in seiner kurzen Zeit am IfS ja bereits einen Vorgeschmack bekommen hatte.¹²⁵ Dass die Kritische Theorie in diesem Sinne nach außen Konturen annahm, darf aber nicht zu dem voreiligen

spektive mit der Unwahrscheinlichkeit, dass verelendete und infolgedessen ichschwache Subjekte zur emanzipatorischen Praxis überhaupt fähig sind: „Die Vollendung des Selbstbewußtseins der Menschheit in den Köpfen der erniedrigtsten, ausgehungertsten und dumpfesten Individuen ist fragwürdig: läßt sich die Vernunft in Parolen umsetzen und durch Parolen verwirklichen? Sollte sich nicht das Selbstbewußtsein der Gattung als eine Reaktion gegen die Unwahrheit des Reichtums innerhalb einer ohnehin auf hohes Bewußtsein gespannten Gesellschaft eher herstellen, denn als eine Reaktion gegen die Unwahrheit eines Elends innerhalb einer Klasse, deren körperliche Ausbeutung alle Anstrengungen des Bewußtseins von vornherein zu einer gesellschaftlich fälligen macht? Sollte der Pauperismus inmitten des Wohlstandes nicht eher als der Pauperismus inmitten des Elends die Bedingungen der Möglichkeiten liefern, um die Masse der Bevölkerung dazu zu bewegen, das, was ist, an dem, was möglich ist, zu messen?“, ebd. S. 333 f. Ganz ähnlich wandte auch Dahrendorf in der frühen Bundesrepublik gegen Marx ein, „daß Revolutionen tatsächlich nicht am Punkt der äußeren Unterdrückung oder Armut eintreten (die im Gegenteil gewöhnlich in Lethargie resultiert)“. Die Marx’sche Prognose einer linearen Zuspitzung des Klassenkonflikts zwischen Arbeit und Kapital mache es vielmehr unmöglich, „jene Fluktuationen in der Intensität des Konfliktes, jene Anpassungen herrschender Gruppen und Strukturen, die sie vertreten, zu erklären, die die Substanz der Geschichte sind“, Dahrendorf, Konflikt und Freiheit, S. 292. Offensichtlich verdankten beide Positionen die Einsicht in die objektiven Bedingungen einer Revolution eher Tocquevilles Revolutions- als der Marx’schen Krisentheorie. Tocqueville hatte in seiner historischen Analyse der Ursachen der Französischen Revolution in Der Alte Staat und die Revolution die These aufgestellt, ein politisches Gemeinwesen werde gerade nicht zum Zeitpunkt der extremen Unterdrückung und Ausbeutung des Volks durch die Herrschenden von revolutionären Unruhen heimgesucht; vielmehr sei ein Umsturz dann wahrscheinlicher, wenn die Herrschenden bereits wirksame Reformen eingeleitet hätten und infolgedessen aufseiten des Volkes der Eindruck eines erweiterten politischen Möglichkeitshorizonts entstanden sei.  Dazu Müller-Doohm in seiner Adorno-Biografie: „Adorno stand für die Zusammenführung unterschiedlicher, durchaus gegensätzlicher Denktraditionen wie der Kapitalismus- und Verdinglichungstheorie von Karl Marx mit der Trieb- und Subjekttheorie von Sigmund Freud, der Theorie des Zwangscharakters sozialer Tatbestände von Emile Durkheim mit der Theorie fortschreitender Rationalisierung und Bürokratisierung von Max Weber, der kategorialen Erkenntnistheorie Kants mit der dialektischen Geschichtsphilosophie Hegels. Er wurde seit dieser Zeit (neben Horkheimer, später neben Herbert Marcuse und Jürgen Habermas) als der herausragende spekulative Kopf der Kritischen Theorie wahrgenommen, der wie kaum ein anderer die Tendenzen der Verdinglichung in der integralen Gesellschaft aufspürte.“, Müller-Doohm, Adorno, S. 575 f.

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Schluss verleiten, Adorno habe im Verlauf der 50er eine „Kehrtwende“¹²⁶ vollzogen, was seine Haltung zur empirischen Sozialforschung betrifft. Vergegenwärtigt man sich ein weiteres Mal Horkheimers Frankfurter Festrede anlässlich der Eröffnung des Institutsneubaus aus den frühen 50ern, dann erklärte dieser darin auch die „Synthese von Gesellschaftstheorie und Sozialforschung“ zum Ziel der künftigen empirischen Forschungsarbeit am IfS und stellte damit „ein interpretativ ausgerichtetes Forschungskonzept“ in Aussicht, „das geeignet sei, die Tiefendimensionen sozialstruktureller Bedingungszusammenhänge zu erfassen“¹²⁷. An dieser Stelle schimmerte in einem ansonsten defensiv gehaltenen Vortrag vor einer weitgehend konservativen Audienz wieder die kritisch-theoretische Emphase von Horkheimers Antrittsrede am IfS aus den frühen 30ern durch, als er das ambitionierte Programm eines „interdisziplinären Materialismus“¹²⁸ ausgegeben hatte. Freilich kam es in der frühen Bundesrepublik dann allein auf Adorno an, mit diesem Programm Ernst zu machen, weil Horkheimer neben seiner zeitraubenden Gastprofessur in Chicago für das Institut ansonsten nur noch repräsentativen Pflichten nachkam. Der mit dem Forschungsalltag vertraute Adorno übernahm dabei in Anlehnung an Horkheimers Bemerkungen über Wissenschaft und Krise aus den frühen 30ern die Rolle eines „skeptische[n] Befürworter[s]“¹²⁹ der empirischen Sozialforschung, um sich in Äquidistanz „zur geisteswissenschaftlichen Soziologietradition wie zu einem pragmatisch oder positivistisch fundierten Empirismus“¹³⁰ abzugrenzen. Es verstand sich zunächst von selbst, dass er auch im engeren sozialwissenschaftlichen Feld der Bundesrepublik – wie im Falle seiner späteren philosophischen Kritik an Heideggers Jargon der Eigentlichkeit ¹³¹– mit einer kontaminierten deutschen Tradition ins Gericht ging, deren Begriffe, „wie der des Geistes“ selbst, ganz unmarxistisch „aus ihrem Zusammenhang und aus der Beziehung zum Material herausgesprengt waren“¹³². Der fatalen deutschen „Neigung, Phänomene, die der grob-materiellen Praxis angehören, mit prätentiösen und pompösen Kategorien zu verkleiden“¹³³, begegnete man laut Adorno etwa noch in der frühbundesrepublikanischen Agrarsoziologie, wo weiterhin „Ausdrücke wie Bo-

 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 265.  Müller-Doohm, Adorno, S. 509.  Vgl. Bonß/Schindler, „Kritische Theorie als interdisziplinärer Materialismus“.  Weischer, Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung’, S. 5.  Ebd. S. 7.  Adorno, Negative Dialektik/Jargon der Eigentlichkeit, S. 413 ff.  Adorno, „Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland“, S. 480.  Ebd. S. 484.

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denverbundenheit, de[r] bäuerliche[ ] Mensch[ ] und ähnliche Clichés herabgesunkener Romantik“ herumspukten, „die einzig dazu taugen, den Menschen die bestimmte Tendenz der Technifizierung und Rationalisierung sei’s zu verschleiern, sei’s zu versüßen“¹³⁴. Gegen diese irrationalen „Überreste der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition“¹³⁵ müsse kompromisslos der methodische Empirismus westlicher Provenienz ins Feld geführt werden. Es darf bereits bezweifelt werden, dass Adorno in seiner frühen Positionsbestimmung Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland auf der Weinheimer Grundsatztagung über Empirische Sozialforschung im Dezember 1951 überhaupt „in erster Linie das Ziel“ verfolgte, „die provinzielle deutsche Nachkriegssoziologie an den internationalen Stand dieser Disziplin, den sie aufgrund ihrer Isolierung während der Jahre des Nazi-Regimes verloren hatte, heranzuführen“¹³⁶. Ganz und gar unhaltbar ist aber die These, er habe „die Funktion empirischer Sozialforschung“ hier „durchweg positiv gesehen“¹³⁷. Denn Adorno leitete seinen Weinheimer Vortrag bereits unmissverständlich in der positivismuskritischen Tradition Horkheimers ein, indem er die Forderung stellte, das „demokratische Potential“ der empirischen Sozialforschung gegen deren Instrumentalisierung „für partielle Zwecke“¹³⁸ auszuschöpfen. Er warnte davor, „die Menschen, mit denen wir uns befassen, als bloße Quanten zu sehen, deren Denken und Verhalten blinden Gesetzen unterliegt“¹³⁹. Es sei zwar möglich, innerhalb des weithin determinierten Mechanismus der heutigen Gesellschaft begründete Voraussagen über das Wahrscheinliche zu machen, aber nicht etwa politische Ereignisse zu

 Ebd. S. 481.  Ebd.  Müller-Doohm, Adorno, S. 511.  Dahms, Positivismusstreit, S. 285. Obwohl Adorno seine Kritik eines „doppelten Positivismus“ – „eines Positivismus also, der ‚das Gegebene‘ (im Sinne des jeweiligen gesellschaftlichen Status quo wohlgemerkt, nicht als das sinnlich Gegebene) sowohl in dem Sinne ‚akzeptiert‘, daß er es registriert und beschreibt, als auch in dem Sinne, daß er es gutheißt und legitimiert“ (ebd. S. 303) – im Verlauf der 50er- und 60er-Jahre im Ton verschärfte, gilt: „In der Nachkriegsentwicklung des Instituts markierten die fünfziger und sechziger Jahre einen vergleichsweise konsistenten personellen und theoretisch konzeptionellen Zusammenhang. Nach 1969 [nach dem Tod Adornos und dem Wechsel Habermas’ nach Starnberg; MH] trat das Institut unter neuer Institutsleitung, mit einer veränderten theoretischen Konzeption und in weitgehend veränderter personeller Besetzung in eine neue Entwicklungsphase ein.“, Weischer, Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung’, S. 83.  Adorno, „Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland“, S. 479.  Ebd.

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prophezeien wie Sonnenfinsternisse. Wer das von uns erwartet, verfälscht unsere Intention und macht uns zu Agenten der Unfreiheit, während unsere Frage nach dem, was die Menschen denken und wollen, einzig ihrer Freiheit dienen soll. Wir sind keine Verbündeten des sogenannten Trends; wir können und sollen nicht so sprechen, als wären wir die Stimme des Schicksals.¹⁴⁰

Adorno knüpfte damit an die radikale Kritik instrumenteller Vernunft aus der Dialektik der Aufklärung an. Einen „echte[n] Sinn“ der empirischen Sozialforschung konnte er folglich schon in seinem Vortrag allenfalls im „kritische[n] Impuls“¹⁴¹ des Wissenschaftlers erkennen. Aufgrund seiner Erfahrungen als auftragsabhängiger Sozialforscher im amerikanischen Exil und seiner ernüchternden Zusammenarbeit mit Paul Lazarsfeld im Zusammenhang mit dem Radio Research Project in Princeton hatte er sich längst zu einem entschiedenen Gegner einer Verwaltungs- und Marktzwecken dienlichen empirischen Sozialforschung („administrative social research“) entwickelt. Folgerichtig plädierte er für eine dialektische Version empirischer Sozialforschung in ideologiekritischer Absicht („critical social research“), mit deren Hilfe „die Härte dessen, was ist, zum Bewußtsein“¹⁴² erhoben werden könne: „Die empirische Sozialforschung in Deutschland hat die dem Einzelmenschen und selbst dem kollektiven Bewußtsein weithin entzogene Objektivität dessen, was gesellschaftlich der Fall ist, streng und ohne Verklärung herauszustellen.“¹⁴³ Wenn Adorno dabei einräumte, die „objektive, in der Sache gelegene Beziehung zur Aufklärung, zur Auflösung blinder, dogmatischer und willkürlicher Thesen“ verbinde ihn „als Philosophen der empirischen Sozialforschung“¹⁴⁴, mochte das vielleicht wie ein Zugeständnis wirken. Im Gestus des Gelehrten – oder mit Karl Mannheim gesprochen: der „freischwebenden Intelligenz“ – hinter die wissenschaftlichen Errungenschaften der bürgerlichen Aufklärung zurückzufallen, galt nach seiner Vorstellung von Kritischer Theorie aber seit jeher als Kardinalfehler. Deshalb ließ sich der Dialektiker Adorno – dessen Geist in der frühen Bundesrepublik übrigens nur auf der Grundlage einer außerordentlichen Wiedergutmachungsprofessor lizensiert wurde – noch lange nicht davon abhalten, zeitgleich mit seinem Verweis auf das aufklärerische Potenzial der empirischen Sozialforschung auch die mythologische „Verwandlung der Sozialwissenschaft in eine bloße Hilfsdisziplin von Wirtschaft und Verwaltung“ ins Visier zu nehmen und damit eine „Karikatur“

    

Ebd. S. 479 f. Ebd. S. 481. Ebd. Ebd. S. 482. Ebd. S. 482 f.

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empirischer Sozialforschung anzuprangern, „die vielerorten an ihrer Stelle unterschoben“¹⁴⁵ werde. Am Ende hätten die Menschen trotz einer unglaublichen Anhäufung empirischen Wissens „bis heute ihre eigenen Angelegenheiten nicht mit der gleichen Rationalität ordnen können, mit der sie Produktions-, Konsum- und Vernichtungsgüter herstellen“¹⁴⁶; stattdessen drohe – so die einschlägige Losung der remigrierten Kritischen Theorie – der „Rückfall in die Barbarei“¹⁴⁷. Dagegen verwies Adorno auf die freilich nur noch auf den Forschungsprozess bezogene „Einheit von Theorie und Praxis“, „die weder an den freischwebenden Gedanken sich verliert, noch in die befangene Betriebsamkeit abgleitet“¹⁴⁸. Empirische Forschungsprojekte erschienen ihm nur dann lohnenswert, wenn sie schlussendlich auch dazu beitrugen, „von der Erscheinung zum Wesen fortzuschreiten“, und wenn dieser „Schritt zum Wesen nicht in Willkür und auf Grund fixierter, von außen an die Phänomene herangetragener Vorstellungen“ vollzogen wurde, sondern „aus den Phänomenen selbst heraus“: So, wie ohne Theorie nichts sich feststellen läßt, so terminiert alles Feststellen in Theorie. Untersuchungen, in denen der Forscher an die Realität glaubt herangehen zu dürfen, als hätte er weder eine Vorstellung von ihr, noch wäre er überhaupt an spezifischen Antworten interessiert, sondern wünsche schlechterdings alles zu erfahren, was in seinem Sektor der Fall ist, sind ebenso subaltern wie solche, die beim bloßen Befund sich bescheiden.¹⁴⁹

Adorno rückte den Begriff einer durch das abstrakte Tauschprinzip vermittelten, gesellschaftlichen Totalität ins Zentrum seines Konzepts kritischer Sozialforschung, um damit die „Einheit von Theorie und Praxis“ präziser zu fassen: „Die Totalität, die alles Einzelne prägt, läßt sich an jedem Einzelnen diagnostizieren, aber aus keinem beweisen.“¹⁵⁰ Damit rekurrierte Adorno auf die Voraussetzung der Kritischen Theorie, empirische Forschungsprojekte stets auf die Freilegung des unwahren Ganzen auszulegen. Ohne diese kritische Einbeziehung der gesellschaftlichen Totalität stelle die empirische Sozialforschung als Markt- oder Meinungsforschung– wie Adorno in Anlehnung an ein begriffliches Gegensatzpaar Max Schelers ausführte – „Herrschaftswissen, nicht Bildungswissen“¹⁵¹ bereit. „Wo aber die spezifische Beschaffenheit der Individuen wirklich involviert

      

Ebd. S. 484. Ebd. S. 491. Ebd. S. 492. Ebd. S. 493. Ebd. S. 485. Ebd. S. 487. Ebd. S. 491.

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ist,“ lautete seine Schlussfolgerung, „reichen die ‚Poll‘-Techniken nicht aus.“¹⁵² Demgegenüber bewarb Adorno einen auf die immanente Kritik falschen Bewusstseins zielenden Methodenmix, den er von den älteren auf die neuen empirischen Forschungsarbeiten am IfS übertragen wollte.¹⁵³

Der liberale Missionar Dieser kleine Exkurs zu Adornos Methode ist notwendig, um davon nun den Ansatz des liberalen Theoriedarwinisten Dahrendorf abzugrenzen. Als Horkheimer in den frühen 50ern Dahrendorf ans IfS lotste, verband er damit auch die Hoffnung, dass dieser sich im Rahmen der Frankfurter Forschungsprojekte mit empirischer Kärrnerarbeit hervortun würde. Adorno konfrontierte Horkheimers neuen Assistenten gleich „mit einem Steinbruch empirischer Erhebungsmaterialien zur Situation der deutschen Universität […], der intelligenter Aufbereitung harrte“¹⁵⁴ und innerhalb von drei Wochen zu einem Zwischenbericht für die anstehende Hochschulrektorenkonferenz – Horkheimer war zu dieser Zeit Rektor der Goethe-Universität – verdichtet werden sollte. Während Dahrendorf diesen Stresstest mit Bravour bestand, verschaffte er sich gleichzeitig einen Überblick über die Protokolle des von Adorno durchgeführten Gruppenexperiments. In seiner Autobiographie Über Grenzen brach er in diesem Zusammenhang rückbli-

 Ebd. S. 488.  Dazu genauer: „Man hat gelernt, sei’s durch indirekte Befragung, sei’s durch Tests, sei’s durch ergänzende detaillierte Tiefeninterviews, die quantitativen Ergebnisse zu eben jenen Momenten in Beziehung zu setzen, die handfesten Alternativfragen und Ähnlichem sich entziehen. Man verwendet weiterhin Techniken wie Gruppendiskussionen und Gruppeninterviews, die es erlauben, Meinungsbildung und Verhaltensweisen unter experimentellen Bedingungen zu studieren, die denen in der Realität nahekommen, und die Reaktionen der Versuchspersonen in der Gruppensituation mit denen in der individuellen Situation zu vergleichen. Man hat auch Mittel und Wege gefunden, qualitative und theoretisch präformierte Befunde ihrerseits zu quantifizieren. Während die empirische Sozialforschung fortschreitend sich differenzierte, hat es sich ihr zugleich bestätigt, daß in der Welt, in der wir leben, die Menschen keineswegs so differenziert sind, wie der individualistische Glaube es sich wünscht.“, ebd. Mit dem Hinweis auf eine „differenzierte“ empirische Sozialforschung, die einen „keineswegs so differenziert[en]“ Menschen zu entzaubern versuchte, rief Adorno die bedenklichen Befunde aus den Studien zum autoritären Charakter, die in den 40ern unter dem Eindruck des Faschismus im amerikanischen Exil entstanden waren und für die empirischen Forschungsprojekte am IfS in der frühen Bundesrepublik Vorbildcharakter hatten, in Erinnerung. Unter Adornos Leitung wurde zwischen 1950–1955 in Frankfurt sodann das Gruppenexperiment durchgeführt und ausgewertet, das bei all seinen methodischen Nachteilen „die erste und in den 50er Jahren eindringlichste Analyse der nachhitlerischen deutschen Unfähigkeit zu trauern [darstellte]“,Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 53.  Peisert, „Wanderungen zwischen Wissenschaft und Politik“, S. 5.

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ckend den Stab über das Wissenschaftsverständnis an seiner vorübergehenden Frankfurter Arbeitsstätte: Das sagenumwobene Frankfurter Institut betrieb ganz normale Umfrageforschung. Wo Neues versucht wurde, erwies es sich als untauglich; was tauglich war, brachte nicht viel Neues. Doch war das nur die Oberfläche einer tieferen Tendenz zur Anpassung an den Zeitgeist. Nun, 1954, wurden die Adenauerjahre zunehmend stimmungsprägend für alles im Land. Adorno und vor allem Horkheimer suchten Anerkennung in dem durch Marktwirtschaft und Westorientierung geprägten Umfeld. Das hiess, dass sie sich mit möglichst unauffälligen Schritten vom Ruf einer linken, gar marxistischen Haltung entfernten.¹⁵⁵

Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass zwischen dem normativem Anspruch der Kritischen Theorie und „der arbeitsteilig organisierten, von Aufträgen abhängigen und pragmatischen Zwecken verpflichteten Institution, deren Existenz das Vorhaben einer Kritischen Theorie ökonomisch und infrastrukturell allein zu garantieren“ vermochte, „ein beständiger Widerspruch“¹⁵⁶ bestand. Die späte Aussage Dahrendorfs, dass das Frankfurter Gruppenexperiment „weder methodisch noch inhaltlich ergiebig“¹⁵⁷ gewesen sei, erinnerte sogar ein wenig an den kurz nach der Veröffentlichung von deren Ergebnissen seinerzeit von dem erzkonservativen Sozialpsychologen Peter Hofstätter in einer Rezension unternommenen Versuch, die durch die Untersuchungsergebnisse gestützte „These restaurativer Tendenzen im Bewußtsein der Westdeutschen durch methodische Überforderungen als ungesichert erscheinen zu lassen und dadurch bagatellisieren zu wollen“¹⁵⁸, um damit „den vielen neuen Ansichten auszuweichen, die die Studie sicherlich auch dann erbracht hat, wenn man gelegentlich einige Abstriche machen muß“¹⁵⁹. Dass Dahrendorf der früheren Institutsleitung in seinen

 Dahrendorf, Über Grenzen, S. 170 f.  Klaue, „Mit doppeltem Blick“, S. 452.  Dahrendorf, Über Grenzen, S. 170.  Dahms Positivismusstreit, S. 300.  Ebd. S. 302. Da Dahrendorf im Verlauf der 60er selbst zu einem der profiliertesten Liberalisierungs- bzw. Demokratisierungsagenten in der Bundesrepublik wurde und in diesem Punkt mit den Frankfurtern gemeinsam an einem Strang zog, kann er mit seiner überdies nicht weiter begründeten inhaltlichen wie methodischen Kritik am Gruppenexperiment gut sechzig Jahre später aber nicht ernsthaft Motive wie einst Hofstätter verfolgt haben. Es liegt vielmehr nahe, dass seine beiläufige Abqualifizierung, am „sagenumwobene[n] Frankfurter Institut“ habe man „ganz normale Umfrageforschung“ betrieben – tatsächlich handelte sich um genauso neuartige wie anspruchsvolle Verfahren der Gruppendiskussion auf der Grundlage eines ausgeklügelten Schlüsselreizes –, der von Dahrendorf zeitlebens aufrechterhaltenen Selbststilisierung zum professionellen Empiriker geschuldet war, obwohl Adorno – wenn man es realistisch betrachtet – in der empirischen Forschungspraxis definitiv der erfahrenere Empiriker von beiden gewesen ist.

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späten Lebenserinnerungen noch einmal vorwarf, den „Ruf einer linken, gar marxistischen Haltung“ gezielt vermieden zu haben, ist aber vor allem deshalb grotesk, weil er das IfS Mitte der 50er ja selbst fluchtartig verlassen hatte, weil es ihm wie eine hermetische Brutstätte des Hegelmarxismus in der Bundesrepublik erschien. Für seinen unvermittelten Abgang an die beschaulichere Saarbrücker Universität spielte das in Frankfurt erreichte Niveau empirischer Forschung jedenfalls keine größere Rolle. Seinen Weggang begründete Dahrendorf später folglich auch hauptsächlich mit Horkheimers und Adornos „Usurpierung des Begriffes der Kritik für eine eigentümlich geschlossene Gesellschaft“¹⁶⁰. Die Institutspaten hätten sein Habilitationsvorhaben systematisch verschleppt und ihm stiefmütterlich erklärt, „daß dafür noch viel, viel Zeit“, ja dass „es doch nicht nötig sei, die Leute (in Adenauers Bundesrepublik der 50er Jahre) mit so etwas wie ‚sozialen Klassen‘ zu schockieren“¹⁶¹. Diese scharfe nachträgliche Abrechnung mit dem institutsinternen Paternalismus – Dahrendorf bezeichnete Horkheimer und Adorno in Anlehnung an Marx’ und Engels’ Kritik der Junghegelianer spöttisch als „eine ganz einnehmende, noch zukünftige Generationen mit Beschlag belegende [Heilige] Familie“¹⁶² – verdeutlicht einerseits die enormen Schwierigkeiten, auf die ein selbstbewusster Nachwuchswissenschaftler im „Café Max“ der 50er stieß. Dahrendorfs Entscheidung, schließlich „das Unerhörte“¹⁶³ zu tun und in Frankfurt nach nur vier Wochen zu kündigen, muss andererseits aber hauptsächlich auf unüberbrückbare inhaltliche Differenzen zwischen ihm, einem an Poppers Erkenntnistheorie orientierten Theoriedarwinisten, und dem kritisch-theoretischen Meisterdialektiker Adorno zurückgeführt werden. Wenn man sich vor Augen führt, dass Dahrendorf von Anbeginn jeder kritisch-theoretische Korpsgeist abging, lässt einen im Nachhinein erstaunen, dass er 1954 die Stelle am IfS überhaupt angenommen hatte, um für die Gralshüter der Kritischen Theorie empirische Sozialforschung zu betreiben. Umgekehrt konnte nur ein angesichts seines Pessimismus mittlerweile ein Stück weit indifferent gewordener Horkheimer auf die Idee gekommen sein,

Zwar regte Dahrendorf in den 60ern auf dem Feld der Eliten- und Bildungsforschung eine Menge an, ohne aber selbst jemals als praktischer Empiriker in Erscheinung zu treten.  Dahrendorf, Über Grenzen, S. 172.  Dahrendorf, „Soziale Klassen und Klassenkonflikt: Zur Entwicklung und Wirkung eines Theoriestücks“, S. 237.  Den späten Freund Habermas nahm er an gleicher Stelle interessanterweise von seiner Kritik aus: „Nur einer hat sich ganz und gar aus der sektenhaften Abhängigkeit befreit, ohne zum Renegaten zu werden, das ist Jürgen Habermas.“, Dahrendorf, Über Grenzen, S. 172.  Ebd. S. 173.

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ausgerechnet Dahrendorf ans IfS zu holen. Es handelte sich um ein großes Missverständnis, was sich im Verlauf der 60er immer deutlicher zeigte. Anders als für den linken Kapitalismuskritiker Habermas, der Adornos methodische Überlegungen zu diesem Zeitpunkt zudem teilte, bedeutete die Ausdifferenzierung marktwirtschaftlich organisierter Industriegesellschaften für den liberalen Reformdenker Dahrendorf letztlich ein großes Freiheitsversprechen. Seine rasche Flucht aus Frankfurt war somit in erster Linie auch der „Ausdruck einer politischen Differenz“¹⁶⁴. Dahrendorfs Selbstverständnis als liberaler Missionar war dabei aber keineswegs nur auf seine Begegnung mit Popper an der LSE in den frühen 50ern zurückzuführen. Nach dem Abschluss seines Saarbrücker Habilitationsverfahrens verbrachte er ein Jahr an der Universität Stanford, wo er die Bekanntschaft mit den neoliberalen Ökonomen Milton Friedman, George Stigler und Kenneth Arrow machte: „einer Gruppe von Volkswirtschaftlern, die mein Denken“ – wie Dahrendorf nachträglich versicherte – „nicht nur auf Fragen der Ökonomie ausrichteten, sondern auch die letzten Spuren des althergebrachten europäischen Sozialismus aus meinem politischen Denken beseitigten“¹⁶⁵. Die ökonomische Neuausrichtung des Werks ließ noch bis zum Eintritt ins Krisenzeitalter der 70er auf sich warten – und sozialistische Spuren gab es in Dahrendorfs Denken schon gar nicht mehr zu beseitigen. Dennoch müssen Dahrendorfs frühe Schriften tatsächlich bereits in den Kontext einer sich in dieser Zeit zunehmend aus der Deckung wagenden, transnationalen neoliberalen Erweckungsbewegung gerückt werden. Deren verstärkte Orientierung am freien Markt ging zum damaligen Zeitpunkt auch noch mit dem Bürgerrechts- und Sozialliberalismus von Dahrendorfs Londoner Doktorvater T. H. Marshall konform. Die Neoliberalen der ersten Stunde einte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs das politische Anliegen, durch eine Wiederbelebung der Grundmotive des klassischen Liberalismus – des empirischen Skeptizismus, der freien Marktwirtschaft und der Repräsentativdemokratie – den politischen Totalitarismus im Besonderen sowie die egalitaristischen und konformistischen Tendenzen in der modernen Massendemokratie im Allgemeinen ins Visier zu nehmen. Ihre Argumentation überschnitt sich in einer bestimmten Frage paradoxerweise mit den Grundannahmen der Kritischen Theorie: Nationalsozialismus und Stalinismus waren nur die extremen Ausprägungen eines freiheitsvernichtenden kollektivistischen Grundübels, das für radikale Vertreter der neoliberalen Urgemeinde schon hinter vermeintlich freiheitlichen Varianten der massendemokratischen Moderne wie

 Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 64.  Zit. nach ebd. S. 82.

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Roosevelts New Deal oder der britischen Sozialdemokratie hervorlugte.¹⁶⁶ Das intellektuelle Zentrum des Neoliberalismus bildete nach Kriegsende zunächst vor allem die LSE – Dahrendorfs zwischenzeitlicher Studienort –, an der auch Hayek und Popper lehrten, bevor es sich später über den Atlantik nach Chicago zu Ökonomen wie Friedman und Stigler verschob. Im sozialwissenschaftlichen Feld der frühen Bundesrepublik verfolgte Dahrendorf in erster Linie das Ziel, den kritischen Rationalismus Poppers zu importieren. Eigene Ambitionen in der Theoriebildung stellte er – sofern sie denn überhaupt vorhanden waren – dahinter zurück. Seine Botschaften wirkten denn auch manchmal wie eine bemühte Überdehnung der Grundannahmen seines akademischen Lehrers Popper, so als müsste eine aus historischer Perspektive chronisch irrationale deutsche Wissenschaftskultur nun mit einer Überdosis angelsächsischem Rationalismus kuriert werden. Positiv formuliert: „Mit dieser bewussten Entscheidung für eine Soziologie westlicher, das heißt angloamerikanischer Prägung kam ihm in der frühen Bundesrepublik eine Vorreiterrolle zu.“¹⁶⁷ In dieser Rolle des liberalen Mustersoziologen erhob Dahrendorf in seiner Saarbrücker Habilitationsschrift über Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft den radikalen Eklektizismus in den Rang einer wissenschaftlichen Grundtugend. Dabei fällte er das genauso provokative wie selbstentlarvende Verdikt, dass „[e]in Wissenschaftler, der nicht als solcher Eklektiker ist, […] kein Wissenschaftler oder zumindest ein schlechter“ sei: „Die einschränkungslose Übernahme einer ‚Lehre‘, der Dogmatismus ist die Kardinalsünde der Wissenschaft.“¹⁶⁸ Dogmatismus, Irrationalismus, Utopismus – dies waren die liberalen Keulen, mit denen Dahrendorf seinen Gegnern künftig zu Leibe rückte. In seiner eigenen, selbsterklärtermaßen undogmatischen Habilitationsschrift versprach er im Hinblick auf die Marx’sche Klassentheorie nicht viel weniger als „die Formulierung einer allgemeineren Theorie, die sowohl die empirischen Inhalte der alten Theorie als auch die neuen Befunde in sich“¹⁶⁹ umgreife: „Die Widerlegung alter Theorien ist nur dann sinnvoll, wenn sie zum Ausgangspunkt neuer Theorien wird. Das ist es, was hier mit der Überwindung einer Theorie gemeint ist.“¹⁷⁰

 Vgl. Stedman Jones, Masters of the Universe, S. 21–84.  Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 68 f.  Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 122. Dahrendorfs Vorgesetzter in Saarbrücken, der Soziologe Georges Goriely, kritisierte Dahrendorf in seinem Habilitationsgutachten für dessen „fatale Tendenz zum Eklektizismus“, Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 75.  Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 119.  Ebd. S. 79.

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Kurzum: Dahrendorf verschrieb sich einer an Poppers Falsifikationismus orientierten, theoriegestützten Erfahrungswissenschaft mit normativem Problembezug und vertrat ein sektoral begrenztes Theorieverständnis in der Tradition Robert K. Mertons. Im Vorwort seiner Habilitationsschrift pries er die forschungspragmatische Entwicklung von „‚Theorien des mittleren Bereichs‘, d. h. von empirischen Problemen ausgehenden oder doch an diesen orientierten Verallgemeinerungen“¹⁷¹, als Königsweg der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. In seinen Memoiren hatte Alexis de Tocqueville, einer der Vordenker des modernen Liberalismus, bereits im 19. Jahrhundert „diese absoluten Systeme, die den gesamten Gang der Geschichte von großen, schicksalhaft miteinander verketteten Grundursachen abhängig machen und die Menschen mehr oder weniger aus der Geschichte des Menschengeschlechts streichen“, verurteilt und „sie eng in ihrer angeblichen Größe und falsch unter ihrem Anschein mathematischer Größe“¹⁷² gefunden. Ein Jahrhundert später zeigte sich auch der liberale Missionar Dahrendorf in der frühen Bundesrepublik „grundsätzlich skeptisch gegenüber einer geschlossenen Gesellschaftstheorie mit universalistischem Anspruch, welche vor allem auf die Stabilität von Systemen abzielte“¹⁷³. Anders als im Falle der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, der Systemtheorie Niklas Luhmanns und des französischen Poststrukturalismus eignete sich der liberale Eklektiker Dahrendorf also denkbar schlecht, einen „langen Sommer der Theorie“¹⁷⁴ in der Bundesrepublik einzuleiten.¹⁷⁵ Luhmann kündigte etwa nach seinem Ruf auf den ersten Lehrstuhl für Soziologie der neugegründeten Reformuniversität Bielefeld Ende der 60er ohne Ironie an, sich in den kommenden drei Jahrzehnten bis zu seiner Emeritierung ausschließlich an den Bau einer Theoriekathedrale machen zu wollen, für die er, abgesehen von seinen Beamtenbezügen, keine weiteren Kosten veranschlagte. Auch die strengsten Kritiker seiner Systemtheorie müssen im Nachhinein eingestehen, dass ihm dieses Vorhaben auf beeindruckende Weise gelungen ist. Dahrendorf machte hingegen nie einen Hehl daraus, sich aus dem Potpourri des sozialwissenschaftlichen Theorieangebots gewissermaßen parasitär zu bedienen, statt sich durch die Anfertigung aufwendiger Zettelkästen bis ins Krähennest des Beobachters zweiter Ordnung emporzuarbeiten.

 Ebd. S. IX f.  Tocqueville, Erinnerungen, S. 108.  Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 83 f.  Felsch, Der lange Sommer der Theorie.  Auffällig ist zudem, dass sich Dahrendorfs wichtigste Schüler der 60er wie Wolfgang Zapf und Hansgert Peisert auch nicht innerhalb abstrakter Theoriediskurse hervortaten, sondern auf den Feldern der empirisch ausgerichteten Eliten- und Bildungssoziologie reüssierten, vgl. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 101.

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Doch nur weil er als Kritiker eines theoriegeleiteten Utopismus auftrat, waren Dahrendorfs frühe Schriften selbst noch lange nicht von fragwürdigen utopischen Setzungen befreit. Sein Konfliktmodell der Gesellschaft muss im Nachhinein hingegen als die besondere Form eines utopisch überhöhten Fortschrittsoptimismus gelten: Hier galt der Wandel als sakrosankt, hier war idealerweise alles im Fluss, hier herrschte ein Höchstmaß an sozialer Mobilität, hier waren die Verlierer von heute die Gewinner von morgen. Die historische Verhaftung dieses Denkens im krisenfreien Nachkriegskapitalismus der 50er und ersten Hälfte der 60er liegt auf der Hand. Allerdings legte Dahrendorf tatsächlich mehr als viele seiner Kollegen Wert darauf, seine sozialwissenschaftlichen Arbeiten mit akuten gesellschaftlichen und politischen Problemlagen in Verbindung zu bringen. Genauso hielt er die aufkommende Datensammelwut in der bundesrepublikanischen Soziologie für nutzlos, wenn sie nicht auch auf gehaltvollen theoretischen Modellen fußte. Dieses enge Wechselverhältnis von Theorie und Empirie, das laut Dahrendorf nie in einer dogmatischen Totalanalyse der Gesellschaft aufgelöst werden durfte, brachte er in seinen Betrachtungen zu einigen Aspekten der deutschen Soziologie auf der Jubiläumstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) von 1959 gegen die gängige Praxis im sozialwissenschaftlichen Feld der frühen Bundesrepublik vor. Demnach seien „überprüfbare Modelle der Erklärung bestimmter Probleme“ für den wissenschaftlichen Fortschritt wichtiger „als verbindliche Kategoriensysteme“¹⁷⁶. Doch fehle es der deutschen Soziologie im Moment „an jedem Ansatz zu theoretischer Bewältigung ihres Gegenstandes“ – mit der Soziologie Max Webers, Robert Michels’ und Karl Mannheims habe man in Deutschland einst zumindest über „Modellvorstellungen“ verfügt, „an Hand derer die in Zeit und Raum vielfältige Wirklichkeit sich erklären ließ“¹⁷⁷. In der zeitgenössischen Soziologie der Bundesrepublik gebe es dagegen eine immer weiter anwachsende Zahl an Informationen, mit denen man, ohne die entsprechenden theoretischen Erklärungsmodelle, jedoch nichts anzufangen wisse: Interessanter als die Feststellung, daß x% aller Arbeiter nichts von der Mitbestimmung wissen, daß die Freizeit einen wachsenden Raum im Leben des Einzelnen einnimmt, daß soziale Mobilität in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, sind die Fragen, warum dies so ist und was es bedeutet. Diese Fragen werden nun in der vorhandenen Literatur zwar nicht umgangen, aber ihre Lösung wird in den seltensten Fällen auf jener Allgemeinheitsstufe gesucht, auf der allein bündige wissenschaftliche Erklärung möglich ist. Es mag sein, daß die Gesetze der Soziologie anders aussehen als die der Physik; hierin liegt indes kein

 Dahrendorf, „Betrachtungen zu einigen Aspekten der deutschen Soziologie“, S. 142.  Ebd.

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ersichtlicher Grund, der Aufgabe, allgemeine Gesetze und Modelle zu formulieren, auszuweichen.¹⁷⁸

Gemessen am letzten Satz, der die Soziologie zumindest in die Nähe der Naturwissenschaften rückte, war Dahrendorf in seiner Saarbrücker Habilitationsschrift zwei Jahre zuvor noch einen Schritt weiter gegangen. In deren Vorwort hatte er in der Manier eines Musterpositivisten angekündigt, dem Ideal einer an naturwissenschaftlicher Exaktheit orientierten Einheitswissenschaft auch in der Soziologie folgen zu wollen: „Logisch zumindest gehorchen die Physik, die Physiologie und die Soziologie denselben Gesetzen – was immer empirisch der einen oder anderen dieser Disziplinen den Vorzug größerer Exaktheit geben mag oder bisher gegeben hat.“¹⁷⁹ Folglich konnte Dahrendorf „nicht einsehen, warum es nicht zumindest wünschbar sein sollte, die Soziologie aus den doppelten Fesseln einer idiographischen historischen und einer meta-empirischen philosophischen Orientierung zu befreien und zu einer exakten Sozialwissenschaft mit präzise – im Idealfall mathematisch – formulierten Postulaten, theoretischen Modellen und empirisch widerlegbaren Gesetzen zu entwickeln“¹⁸⁰. Hätte er seine Soziologie tatsächlich auf eine derart szientistische Weise betrieben, wäre er im Prinzip meilenweit hinter die Einsichten seines wissenschaftstheoretischen Gewährsmanns Popper zurückgefallen. In seinem Referat über Die Logik der Sozialwissenschaften warnte Popper in der ersten Runde des Positivismusstreits in Tübingen Anfang der 60er ja gerade vor einer Verwechslung seines deduktiven Falsifikationismus mit einem „verfehlte[n] und mißverständliche[n] methodologische[n] Naturalismus oder Szientismus, der verlangt, daß die Sozialwissenschaften endlich von den Naturwissenschaften lernen, was wissenschaftliche Methode ist“¹⁸¹. Doch verbarg sich hinter Dahrendorfs Gleichsetzung der Sozialwissenschaften mit den Naturwissenschaften von Anbeginn nur eine strategische theoriepolitische Provokation: die „entschlossene Geste eines Jungtürken, der sich durch Opposition zum methodischen Konsens der deutschen Soziologie profiliert“¹⁸². Aber gegen was rebellierte der „Jungtürke“ Dahrendorf konkret? Der ökonomische Aufschwung spiegelte sich in den 50ern auch in der Soziologie der Bundesrepublik wider. Eine gewisse Bräsigkeit breitete sich innerhalb der Disziplin aus; voreilig wurde die Dynamik westlicher Industriegesellschaften unterschätzt. Im     

Dahrendorf, „Betrachtungen zu einigen Aspekten der deutschen Soziologie“, S. 143. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. IX. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. IX. Popper, „Die Logik der Sozialwissenschaften“, S. 107; vgl. dazu auch ders., Albrecht, „Reflexionsdefizit der Sozialstrukturanalyse?“, S. 89.

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Windschatten des Wirtschaftswunders verdrängte der vermeintlich neutrale Schichtungsbegriff den negativ konnotierten Klassenbegriff aus der Weimarer Zeit.¹⁸³ Dahrendorf merkte dazu kritisch an, das Schichtungsmodell der Gesellschaft sei „eher eine kraß verallgemeinernde Hilfskonstruktion als eine Realität“¹⁸⁴. In den 80ern machte er rückblickend noch einmal deutlich, dass ihm die in seiner Zunft in den 50ern vorherrschende harmonistische Vorstellung vom Ende der Klassengesellschaft besonders suspekt gewesen sei: „Helmut Schelsky, der sich vieler junger Soziologen fürsorglich annahm, veröffentlichte in diesen Jahren seine Analysen der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘, die mir gar nicht überzeugend schienen. Sein Hamburger Kollege Siegfried Landshut trieb die These noch weiter und behauptete, die klassenlose Gesellschaft sei zumindest im Westen bereits da.“¹⁸⁵ Allerdings hatte Dahrendorf selbst kaum Zweifel an der gefühlten und tatsächlichen Zunahme sozialer Mobilität in westlichen Industriegesellschaften. Oliver Nachtwey beschreibt den Zeitraum zwischen 1950 und 1973 als „soziale Moderne“, in der das stetige Wirtschaftswachstum noch „eine rasante gesellschaftliche Modernisierung [ermöglichte], die Arbeit, Leben, Kultur und Politik erfasste und neu strukturierte“¹⁸⁶. Kurzum: Auch Dahrendorf war ein Kind seiner Zeit, das sich in der Theoriebildung von den Wohlstandszuwächsen im „eingebetteten Liberalismus“¹⁸⁷ des keynesianischen Nachkriegskapitalismus beeindrucken ließ. Sein konflikttheoretischer Paradigmenwechsel lief folglich gerade nicht auf die Kritik der kapitalistischen Klassengesellschaft der frühen Bundesrepublik hinaus,¹⁸⁸ sondern implizierte im politischen Maßstab letztlich nur, dass die „funktionalen Eliten“ in den unterschiedlichen funktionalen Herrschaftssphären – in „Wirtschaft und Politik, Erziehung und Religion, Kultur, Militär und Recht“¹⁸⁹ – unter den günstigen Bedingungen der trente glorieuses enorme Handlungsspielräume vorfanden, die sie nahezu befreit von ökonomischen Zwängen für einen reformpolitischen Wettbewerb im Modus britischer adversary politics nutzen sollten.

 Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 318 ff.  Dahrendorf, „Betrachtungen zu einigen Aspekten der gegenwärtigen deutschen Soziologie“, S. 132.  Dahrendorf, „Soziale Klassen und Klassenkonflikt: Zur Entwicklung und Wirkung eines Theoriestücks“, S. 237.  Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 17.  Vgl. Ruggie, „International Regimes, Transactions and Change“.  Vgl. dazu Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft.  Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 179.

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Dass sich das liberale „enfant terrible der bundesrepublikanischen Soziologenschaft“¹⁹⁰ dabei innerhalb seiner Zunft auf seinen älteren Kollegen und Förderer Schelsky, der Dahrendorf mit einem positiven externen Gutachten in Saarbrücken letztlich zur Habilitation verholfen und ihn darin als „die wahrscheinlich stärkste theoretische Begabung unter dem wissenschaftlichen Nachwuchs meiner Disziplin“¹⁹¹ bezeichnet hatte, einschoss, war seiner Weigerung geschuldet, in das technokratisch-konservative Lied vom Posthistoire ¹⁹² einzustimmen. Schelskys These der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ stammte aus seiner Mitte der 50er erschienenen programmatischen Aufsatzsammlung Auf der Suche nach Wirklichkeit, in der er – wie in seinen anderen Schriften etwa über Die skeptische Generation oder den Wandel der deutschen Familie in der Gegenwart – ostentativ in die Rolle eines bekehrten Antiideologen und Verkünders eines Endes der Geschichte avant la lettre schlüpfte. Dabei gelang es ihm „von allen ‚Dabeigewesenen‘ am schnellsten, sich auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse einzustellen, die noch nicht weit zurückliegende faschistische Phase ebenso auszublenden wie die historische Möglichkeit und Gefahr der Wiederkehr der Barbarei“¹⁹³. Laut Schelsky hatte die noch junge Bundesrepublik schon in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens einen Entwicklungsschub durchlaufen, der auf die Formel gebracht werden könne, dass „an Stelle des Klassenstatus“ nunmehr „die Verbraucherposition zur zentralen Determinante aller Verhaltensformen“ geworden sei: „sei es in der Kindererziehung, in der Politik oder in den kulturellen Bereichen, so daß der negative Prozeß der Nivellierung der Klassengesellschaft positiv als die Herausbildung der hochindustriellen Freizeit- und Verbrauchergesellschaft zu bestimmen wäre“¹⁹⁴. Diese These bündelte „das subjektive Gefühlsgemisch aus Facharbeiterstolz, sozialer Mittellage und Aufstiegshoffnungen in der Gesellschaft des Wideraufbaus“, während sie „die sozialen Differenzierungen zwischen Kassiererin und Betonfacharbeiter auf der einen Seite, Filialleiterin und Unternehmer auf der anderen Seite“ verschleierte: „von der Ausstattung mit Möbeln bis zur Ferienreise, vom Fernsehapparat oder Kühlschrank bis zum Auto“¹⁹⁵. Folglich trieben die

 Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 277  Zit. nach Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 77.  Zur Entwicklungsgeschichte dieses seit den frühen 50ern in der Bundesrepublik vor allem von Arnold Gehlen verwendeten Begriffs vgl. Esposito, „Von no future bis Posthistoire“, S. 397 ff.  Schäfer, „Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit“, S. 122.  Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, S. 337.  Schäfer, „Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit“, S. 149.

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„enormen Steigerungsraten des Sozialprodukts in den 1950ern“ Schelsky zu der Annahme, „dass die kapitalistische Marktwirtschaft sich krisenfrei entwickelt und die individuellen Wünsche stets progressiv nach oben gerichtet sind“¹⁹⁶. Mit dieser Diagnose ging Dahrendorf im Prinzip ja auch konform. Doch waren unpolitische Konsumenten, die sich ins Private zurückzogen, für ihn noch keine autonomen politischen Subjekte – und stellten auf dem langen Wege der Demokratisierung der Bundesrepublik folglich ein Hindernis dar. Schelskys vermeintlich anti-ideologische Sozialstrukturanalyse enthielt nach Dahrendorf also einen entschieden ideologischen Kern, weil damit der aus einem innergesellschaftlichen Herrschaftsgefälle notwendigerweise hervorgehende soziale Konflikt als schöpferische Kraft demokratischer Erneuerung analytisch kaltgestellt wurde. Deshalb legte sich Dahrendorf in seiner Habilitationsschrift darauf fest, den Klassenbegriff weiterhin als „eine Kategorie zur Analyse der Dynamik sozialen Konflikts und ihrer strukturellen Wurzeln“ zu begreifen und „vom Begriff der Schicht als Kategorie der Deskription als statisch vorgestellter hierarchischer Gefüge“¹⁹⁷ strengstens zu unterscheiden. Dahrendorf fand Schelskys Nivellierungsthese zwar insofern plausibel, als mit ihr – wie später in der Zwiebel-Metapher Karl Martin Boltes – die tendenzielle Einebnung sozioökonomischer Unterschiede in fortgeschrittenen Industriegesellschaften nach Ende des Zweiten Weltkriegs beschrieben werden konnte. Nicht ohne Grund schrieb er im Vorwort der englischen Neuauflage seiner Habilitationsschrift Social Class and Class Conflict ja selbst von der „post-capitalist society“¹⁹⁸. Doch hielt sich Dahrendorf damals bereits eine Hintertür offen, indem er Schelskys Nivellierungsthese nur als empirische Momentaufnahme gelten ließ, die womöglich zur Widerlegung einer überholten Marx’schen Krisentheorie herangezogen, der selbst aber kein genuiner Theoriestatus zuerkannt werden könne. Seine Gegenposition zu Schelsky unter Bezugnahme auf den soziologischen Marx lautete: Wenn man den Problembereich der Herrschaft aus der Sozialanalyse ausklammert, begibt man sich der Möglichkeit, soziale Konflikte auf strukturelle Bedingungen zurückzuführen. Sie werden dann wesentlich zufällige Phänomene, getragen von zufälligen, nicht vorhersagbaren Gruppierungen und bezogen auf prinzipiell unbestimmte Gegenstände. Gerade das aber hatte Marx’ Theorie geleistet: die strukturelle Bestimmtheit sozialer Konflikte aufzuweisen.¹⁹⁹

   

Ebd. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 82. Dahrendorf, Class and Class Conflict in Industrial Society, S. xii. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 110 ff.

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Den weiterverwendbaren Rest eines von der philosophischen Spekulation geläuterten und über seine prognostischen Irrtümer belehrten Marx (seine „Absicht“ und „formale Leistung“) identifizierte Dahrendorf letztlich in der Einsicht, dass „Gegensätze und Auseinandersetzungen […] ein Strukturprinzip der Gesellschaft“ seien: „Bei aller Kritik an Marx’ Klassentheorie darf diese ihre Implikation daher als sinnvolles Erkenntnisprinzip festgehalten werden.“²⁰⁰ Der Vater dieses formalistischen Zugriffs auf den Marx’schen Theoriebaukasten war Joseph A. Schumpeter, der in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie Mitte der 40er bereits den „Propheten“ Marx vom gleichnamigen „Soziologen“, „Nationalökonom“ und „Lehrer“ unterschieden und folgenreich postuliert hatte, man müsse „etwas tun, was den Gläubigen sehr zuwider ist“: „Marxens Werk in Stücke [zu zerlegen] und sie der Reihe nach [zu diskutieren]“. Auch wenn dieses Vorgehen in marxistischen Kreisen als „die Unfähigkeit des Bourgeois“ ausgelegt werde, „das prachtvolle Ganze zu begreifen“, bleibe dem an Erkenntnisfortschritt interessierten Sozialwissenschaftler „indessen keine andere Wahl“²⁰¹. Nahezu wortgleich hielt es später auch Dahrendorf für unerlässlich, „die subtile Mischung von Philosophie, Ökonomie, Soziologie und politischer Taktik in [Marx’] Werk aufzulösen und die Ingredienzien einzeln zu untersuchen“²⁰². Dieses Vorhaben erschien ihm umso aussichtsreicher, je weniger er dabei „in marxologische Auseinandersetzungen“²⁰³ intervenieren musste. Schumpeter hatte Marx noch das Zeugnis ausgestellt, „die positive Wissenschaft [nirgends] an die Metaphysik verraten“ und seine Argumentation „überall auf sozialen Tatsachen“²⁰⁴ aufgebaut zu haben. Angesichts des zunehmenden Planungscharakters der europäischen und amerikanischen Volkswirtschaften gegen Ende des Zweiten Weltkriegs prognostizierte er noch den finalen Sieg des Sozialismus, begründete die von ihm bedauerten Selbstzerstörungstendenzen des Kapitalismus jedoch nicht – wie Marx – krisentheoretisch, sondern argumentierte rein wissenssoziologisch. Unter dem Eindruck des Wirtschaftswunders in der frühen Bundesrepublik schätzte Dahrendorf die Erfolgsaussichten des Kapitalismus logischerweise wieder deutlich optimistischer ein. Der Einfluss seines Londoner Doktorvaters T.H. Marshall, bei dem Dahrendorf Mitte der 50er mit einer Arbeit über Unskilled Labour in Britisch Industry promoviert worden war, darf dabei nicht unterschätzt werden. Marshall vertrat in seinem

    

Ebd. S. 25. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 24. Dahrendorf, Pfade aus Utopia, S. 290. Ebd. S. 280. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 25.

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Hauptwerk Citizenship and Social Class ²⁰⁵ die These, dass der Siegeszug der staatsbürgerlichen – in der richtigen chronologischen Reihenfolge: erst der rechtlichen, dann der politischen und schließlich der sozialen – Gleichheit im Wohlfahrtsstaat westlicher Industriegesellschaften zu einer dauerhaften Einhegung und Demokratisierung des Klassenkampfes geführt hatte. Dementsprechend wies auch Dahrendorf in seiner Habilitationsschrift „auf die allmähliche Entschärfung des ursprünglich sich zunehmend verhärtenden industriellen Klassenkonfliktes durch die Entfaltung der ‚industriellen Demokratie‘ oder der ‚Institutionalisierung des Klassengegensatzes‘“²⁰⁶ hin. Neben Marshalls Erkenntnissen führte er zudem noch eine Reihe weiterer Strukturveränderungen in fortgeschrittenen westlichen Industriegesellschaften ins Feld, mit denen er die Marx’sche Krisentheorie²⁰⁷ falsifizieren zu können glaubte. Dabei stellte Dahrendorf vor allem auf die von Marx im dritten Band des Kapital selbst angedeutete, dort jedoch als Vorbote der klassenlosen Gesellschaft vermeintlich fehlinterpretierte Trennung von Eigentum und Kontrolle im industriellen Betrieb bzw. in der Aktiengesellschaft ab, die von Soziologen wie James Burnham oder Theodor Geiger aufgenommen worden war.²⁰⁸ Dahrendorf fasste die damit einhergehende Revolution in der Unternehmensstruktur fortgeschrittener Industriegesellschaften wie folgt zusammen: „Wenn wir unter Eigentum ein Sozialverhältnis ausschließlicher Kontrolle verstehen, dann sind die [neuen] Manager in der paradoxen Situation, nahezu unbeschränktes Eigentum an ihnen nicht gehörenden Unternehmen zu haben.“²⁰⁹ Demnach sei im Verlauf der Entwicklung des westlichen Kapitalismus eine nach Leistungs- und Eignungskriterien rekrutierte und im strengen Marx’schen Sinn letztlich eigentumslose Gruppe „tatsächliche[r] Dirigenten oder Unternehmer“ hervorgetreten, die „zur Ausübung legitimer Kontrolle über die Lebenschancen der Angestellten und Arbeiter der Unternehmen befugt“²¹⁰ sei. Durch diese Trennung von Eigentum und Kontrolle im Unternehmen sei aber gleichsam das von Marx bestimmte Kriterium der Klassenbildung, der Besitz bzw. Nichtbesitz von fungierendem Privateigentum,

 Vgl. dazu auch die deutsche Übersetzung Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen.  Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 224.  Zu Marx’ Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, wonach der antagonistische Charakter kapitalistischer Gesellschaften in die Polarisierung der Klassen, die Extremisierung der Klassenlagen und einer klasseninternen Homogenisierung münde, vgl. Marx, Das Kapital. Erster Band, S. 640–677. Vgl. zusammenfassend auch Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 30–33.  Vgl. Burnham, Das Regime der Manager; Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel.  Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 42.  Ebd. S. 42 f.

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entfallen. Weder in Aktiengesellschaften noch in Staatsbetrieben verfügten, lautete Dahrendorfs Schlussfolgerung, die „Planenden“ und „Anordnenden“²¹¹ als Angehörige der herrschenden Klasse noch über das Eigentum an den Produktionsmitteln. Gleichzeitig werde die neue Klasse der Manager im Vergleich zu den Unternehmer-Kapitalisten alten Schlags längst „aus anderen Schichten“ rekrutiert, die sich auch durch „andere Orientierungen“ auszeichneten und ihr Tun vor der beherrschten Belegschaft legitimieren müssten.²¹² Auch die grundlegende Transformation des Proletariats in der modernen Industriegesellschaft sprach laut Dahrendorf langfristig gegen Marx’ These von der revolutionären Zuspitzung des Klassenkonflikts. Angesichts der internen Differenzierung der Arbeiterklasse in Gelernte, Angelernte und Ungelernte könne von einer zunehmenden klasseninternen Homogenisierung als Basis für ein gemeinsames Klassenbewusstsein keine Rede sein. Diese interne Fragmentierung des Proletariats sei zudem von der enormen Zunahme der Angestellten und Beamten in Industrie, Handel, Transportwesen, im Banken- und Versicherungssektor und in der allgegenwärtigen staatlichen Verwaltung flankiert worden. Schließlich habe sich auch dieser „neue Mittelstand“ wiederum in reine Bürokraten, bloße Angestellte und Experten ausdifferenziert.²¹³ Doch trotz der enormen Zunahme sozialer Mobilität „in den letzten Jahrzehnten“²¹⁴ sprach Dahrendorf letztlich auch „eine Warnung“ aus: „Die innere Differenzierung der industriellen Arbeiterschicht in den letzten Jahrzehnten widerlegt zwar eine sozialwissenschaftliche Hypothese, die auch Marx sich zunutze gemacht hat. Sie ist aber nicht an sich schon ein Beweis dafür, daß die Arbeiterschaft keine Klasse mehr ist.“²¹⁵ Marx habe am Ende jedoch selbst dem Irrglauben aufgesessen, „Autorität und Macht seien Faktoren, die sich auf den Anteil an fungierendem Privateigentum zurückführen lassen“, obwohl es sich faktisch „genau umgekehrt“ verhalte: „Macht und Herrschaft sind irreduzible Faktoren, von denen die mit rechtlichem Privateigentum, aber auch mit Gemeineigentum bezeichneten Sozialbeziehungen sich ableiten lassen“²¹⁶. Die erste Hälfte seiner liberalen Wendung der Marx’schen Klassentheorie lautete also anhand des Weber’schen Herrschaftsbegriffs: „Wo immer es Herrschaft gibt, gibt es […] auch Klassen und

     

Ebd. S. 45. Ebd. S. 44. Ebd. S. 49 ff. Ebd. S. 61. Ebd. S. 48. Ebd. S. 138 f.

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Klassenkonflikte.“²¹⁷ Dieses Diktum ergänzte Dahrendorf in seiner Tübinger Antrittsvorlesung Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen um das formalsoziologische „Dreigespann Norm-Sanktion-Herrschaft“, aus dem nicht nur „alle übrigen Kategorien der soziologischen Analyse“²¹⁸ abgeleitet werden könnten, sondern auch die herrschaftskritische Pointe folge, „daß jedes System sozialer Schichtung den Keim zu seiner Überwindung in sich trägt“²¹⁹. Die konfligierenden Klasseninteressen, die den gesellschaftlichen Wandel vorantrieben, definierte Dahrendorf als „Interessen zur Beibehaltung oder Überwindung bzw. Modifizierung des status quo“²²⁰. An anderer Stelle präzisierte er: „Wo Herrschaftsverhältnisse bestehen – und Gesellschaften ohne Herrschaft sind uns bisher nur in der Phantasie utopischer und ethnologischer Autoren bekannt –, gibt es auch aus diesen hervorwachsende Konflikte, deren allgemeinster Gegenstand in der Veränderung der je bestehenden Herrschaftsverhältnisse gesehen werden kann.“²²¹ Dahrendorf bezeichnete „Klassenlosigkeit kraft […] Mobilität“ in seiner Habilitationsschrift als „Grenzwert der soziologischen Analyse, der stets zu seiner Aufhebung“ tendiere „und insofern vernachlässigt werden“ müsse. Auf dem Boden der klassischen Elitentheorie argumentierend, hielt er den „ständige[n] Wechsel des Personals von Herrschaftspositionen […] als Strukturprinzip funktionierender Gesellschaften“ für „keine sinnvolle Annahme“²²². Damit setzte er sich von allen Formen eines an Rousseaus volonté générale orientierten, „harmonisierende[n] hierarchische[n] Gesellschaftsbild[s]“ ab und gab Hobbes’ „Zwangs-Theorie“ vor der „Consensus-Theorie der sozialen Integration“²²³ den Vorzug. Bei der Propagierung seines herrschafts- und konflikttheoretischen Ansatzes schreckte Dahrendorf auch nicht davor zurück, vor einem stets latenten Hobbesschen Naturzustand zu warnen: So richtig es ist, daß in vielen westlichen Gesellschaften heute viele Bedingungen in Richtung auf die Verminderung der Intensität und Gewaltsamkeit der sozialen Konflikte wirken, so leichtsinnig wäre es anzunehmen, daß diese Bedingungen sich nicht ändern können – und zwar nicht nur in Frankreich, Italien und Belgien, sondern ebenso in Deutschland, Großbritannien und den USA. Solange es wirtschaftliche Betriebe gibt, gibt es auch wirtschaftliche Konflikte, die an Intensität und Gewaltsamkeit wieder zunehmen können; so-

      

Ebd. S. 145. Dahrendorf, Pfade aus Utopia, S. 375. Ebd. S. 379. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 167. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 215 f. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 184. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 209 ff.

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lange menschliche Gesellschaften in ihrem politischen Aspekt Herrschaftsverbände sind, bleibt der Bürgerkrieg die latente Drohung hinter allen Spielregeln der Auseinandersetzung.²²⁴

Dieser Hinweis auf einen möglichen Rückfall in den Bürgerkrieg schien auf den ersten Blick – ähnlich wie Dahrendorfs Kritik der Geschichtsphilosophie in seiner Marx-Dissertation – Parallelen zu konservativen Denkmustern in der frühen Bundesrepublik aufzuweisen. Gewiss bestand der Hauptunterschied zu den Kritischen Theoretiker Habermas und Adorno auch darin, dass Dahrendorf die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft ablehnte, weil sie nach seinem Dafürhalten nur die politischen Sinne trübte.²²⁵ Allerdings lautete seine Botschaft in klarer Abgrenzung zum Konservatismus: Wenn die Herrschaft schon nicht aus der Welt zu schaffen war, musste sie wenigstens in liberaler Absicht gegen die Herrschenden gewendet, also von liberalen Kräften zu gesellschaftspolitischen Zwecken gekapert werden. Was Dahrendorf wieder mit den Frankfurtern verband, war folglich sein Selbstverständnis als öffentlicher Intellektueller mit gesellschaftspolitischem Auftrag. So hielt er es in seinem Saarbrücker Habilitationsvortrag über Sozialwissenschaft und Werturteil für geboten, lieber „vor der radikalen Trennung als vor der Vermischung von Wissenschaft und Werturteil zu warnen“²²⁶. Dass er Konflikt und sozialen Wandel zu den Eckpfeilern seiner Theorie und damit für sakrosankt erklärte, war im Jahr, als Adenauers Union bei der Bundestagswahl mit dem Slogan „Keine Experimente“ die absolute Mehrheit errang, kein Zufall und somit auch als konkrete politische Botschaft gegen die scheinbare Verstetigung des konservativen Status quo zu verstehen. Um die konservativen Elemente wenigstens im sozialwissenschaftlichen Feld der frühen Bundesrepublik zurückzudrängen, intervenierte er in „die Geographie eines höchst vulkanischen Geländes“²²⁷, auf dem sich konservative Technokraten,  Ebd. S. 233.  Interessanterweise rückte der liberale Eklektiker mit Marx und Hobbes aber zwei Klassiker der Ideengeschichte ins Zentrum seines konfliktsoziologischen Programms, die nicht gerade als Urväter des Liberalismus bekannt sind.  Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 48.  Dahrendorf, „Die drei Soziologien“, S. 125. Gerhard Schäfer erläutert, worauf Dahrendorf mit dieser Formulierung anspielte: „Damit ist gemeint, dass König und Schelsky sich bis 1960 persönlich gut verstanden, als empirische Bundesgenossen gegen die ‚Frankfurter‘ zusammenwirkten, in der Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit und ihren politischen Auffassungen aber häufig divergierten. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer waren sich mit König und Plessner in ihrem Antifaschismus einig, teilten sie doch alle vier ihre spezifischen Erfahrungen des Exils, und unterschieden sich dennoch grundlegend in ihren philosophisch-soziologischen Ausgangspositionen. Die Frankfurter, insbesondere Adorno, vertraten eine dialektische Soziologie, Plessner eine schon seit 1928 vorliegende, eigenständige Variante der Philosophischen An-

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reine Soziologen und kritische Theoretiker tummelten. Auf diesem unübersichtlichen Terrain schlüpfte Dahrendorf gewissermaßen als Solitär in die Rolle eines liberalen Missionars im Geiste Poppers. Ihn beunruhigte Ende der 50er nichts so sehr wie „das offenbare Fehlen kritischer Auseinandersetzung in der gegenwärtigen deutschen Soziologie“²²⁸. Eine von jeder Kritik befreite Wissenschaftspraxis sei aber „ein höchst unergiebiges, ja ärgerliches Geschäft; denn ein solcher Zustand verrät entweder die totale Gleichgültigkeit dessen, was man selbst tut und was andere tun, oder aber die totale Heuchelei des Verzichtes auf offene Kritik und Auseinandersetzung zugunsten persönlicher Flüsterpolemik“²²⁹. Deshalb sprach Dahrendorf „die recht milde[ ] Mahnung“ aus, „trotz persönlicher Bekanntschaft auf sachliche Kritik nicht zu verzichten“²³⁰. Es ist rückblickend dann aber doch einigermaßen überraschend, dass ausgerechnet er die Vertreter der Frankfurter Schule darüber belehrte, von der „immanenten Kritik zur ideologischen Kritik eines Werkes, von dieser mit Hilfe biographischer Kenntnis zur persönlichen Kritik des Autors“ sei es immer „nur ein Schritt“²³¹. Auf einmal plädierte der Apostel des Konflikts „[i]m Interesse einer Belebung der kritischen Auseinandersetzung“ in der aus vergangenheitspolitisch verminten deutschen Soziologie für gegenseitige Rücksichtnahme und sprach sich genauso für „die Trennung der Person von der Rolle des Wissenschaftlers“ aus, wie er „die Rollen des Wissenschaftlers und des Staatsbürgers“²³² auf der anderen Seite normativ zusammendachte. Damit formulierte Dahrendorf aber einen Anspruch, dem er selbst nur selten gerecht wurde. Im Grunde zeigte sich diese Schwierigkeit, in der frühen Bundesrepublik im Modus einer rein fachlichen soziologischen Kritik dem wissenschaftlichen Fortschritt auf die Sprünge zu helfen, bereits an Dahrendorfs Besprechung von Schelskys Ortsbestimmung der deutschen Soziologie von 1959, die er für die vom „reinen Soziologen“ König herausgegebene Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) unter dem Titel Die drei Soziologien schrieb. Dahrendorf

thropologie, die ihn wiederum mit Gehlen und Schelsky verband, und König repräsentierte im Anschluss an Émile Durkheim eine fast existentialistisch anmutende Soziologie (Soziologie heute, Zürich 1949), die ‚nichts als Soziologie‘ sein wollte, empirisch fundiert mit sektoralem Theorieanspruch (à la Robert K. Merton), jedoch gegen jede Form gesamtgesellschaftlicher Theorie gerichtet, in diesem Punkte mit Schelsky einig.“, Schäfer, „Helmut Schelsky und die Soziologie am Ende der 1950er Jahre“, S. 185.  Dahrendorf, „Betrachtungen zu einigen Aspekten der deutschen Soziologie“, S. 147.  Ebd.  Ebd. S. 148.  Ebd.  Ebd.

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vermutete hinter Schelskys „dritte[r] Soziologie“²³³, die vorgeblich zur Überwindung des Dualismus zwischen einer erfahrungswissenschaftlichen „Soziologie als Planungswissenschaft“²³⁴ einerseits und einer „sozialphilosophischen Deutungswissenschaft“²³⁵ mit den Zielen der „Kulturanalyse und Zeitkritik“²³⁶ andererseits beitragen sollte, zu Recht antidemokratische Restbestände. Im Prinzip warf er Schelsky vor, dass dieser überhaupt nicht die Absicht hatte, zwischen administrativer und kritischer Sozialforschung zu vermitteln. Vielmehr gewann Dahrendorf bei der Lektüre den Eindruck, Schelsky suche einen faulen Kompromiss zwischen der amerikanischen Theoriemode des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus und der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition der Hermeneutik – ein Mix, den er in letzter Konsequenz als ideologische Überhöhung einer konservativen Modernisierung von oben wertete. Wenn man sich Schelskys Hauptthese rückblickend vergegenwärtigt, glaubte er die „wichtigste Leistung der soziologischen Analyse für das soziale Handeln“ in seiner Ortsbestimmung nicht länger „in der Angabe dessen“ zu erkennen, „was zu tun und wie zu entscheiden ist, sondern vielmehr darin, sichtbar zu machen, was sowieso geschieht und was gar nicht zu ändern ist“²³⁷. Interessanterweise traf er sich in seinem technokratischen Konservatismus mit dem ernüchterten Kritischen Theoretiker Adorno, indem er gegen fortschrittsoptimistische Theoriedarwinisten à la Dahrendorf einwandte, das „Widerspiel von Hypothese und Empirie, das von den Empirikern so gern als ein Beweis dafür angesehen wird, daß sie ja auch bereits ‚theoretisch‘ denken“, sei immer schon in eine „Gegenbewegung von Vorgriffen der verwissenschaftlichten Primärerfahrung und methodischer Einzelfallforschung und -verifikation eingebettet“: „Hypothesen der empirischen Forschung, die aus echten Theorien stammen, sind weitaus seltener, als die Empiriker annehmen.“²³⁸

 Ebd. S. 122.  Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, S. 119.  Ebd. S. 18.  Ebd. S. 21.  Ebd. S. 125 f. Für den Nachgeborenen klingt diese These geradezu nach einer formelhaften Vorwegnahme von Luhmanns Systemtheorie. Allerdings besteht der entscheidende Unterschied zwischen dem Lehrer Schelsky und dem Schüler Luhmann in normativer Hinsicht in der simplen historischen Tatsache, dass der eine zu einem ideologischen Sprachrohr des technokratischen Konservatismus avancierte, als die gesellschaftspolitische Liberalisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik noch in den Kinderschuhen steckte, während der andere später mit einigem Recht eine liberale Rückbesinnung auf die sozialtheoretische Reflexion forderte, als der Begriff der Demokratisierung im Zuge der emanzipatorischen Erschöpfung der 68er-Bewegung längst zu einer existenzialistischen Formel verkommen war.  Ebd. S. 83.

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Doch während Adorno mit seinem Modell kritischer Sozialforschung stets das Ziel verfolgte, zumindest punktuell eine Aufklärung des Bewusstseins über den totalen gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang zu bewirken, bestritt Schelsky grundheraus, dass es „in der modernen Industriegesellschaft“²³⁹ überhaupt noch etwas anderes geben könne als eine soziologisch denaturierte Wirklichkeit. Deshalb bezeichnete Dahrendorf Schelskys „Wissenschaftstheorie der empirischen Sozialforschung“ bzw. dessen Rede von der „wissenschaftliche[n] Denaturierung der primären Welterkenntnis als Gesamthabitus des Denkens“²⁴⁰ auch als eine „präsumptive unio mystica des Sozialforschers (insofern er ‚wissenschaftliches Niveau‘ hat)“, die „weniger ein dialektisches Verhältnis von Subjekt und Objekt“ – wie es immerhin die Frankfurter noch zu skizzieren verstünden – als in schlechtester Hegel’scher Manier „eines der Identität“ anzeigte: „[Schelskys] ‚Wissenstheorie der empirischen Sozialforschung‘ begründet mit ihrer Identifizierung von Subjekt und Objekt einen totalen Soziologieverdacht […]. Jeder totale Verdacht aber ruft die hoffnungsvolle Kritik oder kritische Hoffnung nach Einschränkung wach.“²⁴¹ Auch wenn Schelsky noch heute als einer der wichtigsten Modernisierer der westdeutschen Nachkriegssoziologie gilt,²⁴² versuchte er in seinen Schriften, etwa mit der Losung von der „verwissenschaftlichten Primärerfahrung“ des Forschers, in der frühen Bundesrepublik konservative Positionen – hier z. B. die Wiederherstellung der traditionellen Gelehrtenuniversität – zu propagieren. Damit zielte er in gewisser Weise von Anbeginn auf eine elitäre „Freiheit des individuellen Wissenschaftlers von der Gesellschaft und […] Freiheit des ‚Gebildeten‘ von der Soziologie“²⁴³. Als Vordenker des technokratischen Konservatismus ging es ihm, so Gerhard Schäfer, „mithin nicht um die Freiheit des Einzelnen in der Gesell-

 Ebd. S. 72.  Ebd. S. 81.  Dahrendorf, „Betrachtungen zu einigen Aspekten der deutschen Soziologie“, S. 124. Laut Dahrendorf zeichnete sich diese Haltung zudem durch „zwei paradoxale Grundelemente“ aus: „durch einen geschichtlichen Historismus des Heute und durch eine moralische Haltung der totalen Wertfreiheit“, die auch in „Schelskys Arbeiten über Familie, soziale Schichtung, Sexualität, Schule, Jugend und Kirche“ wiederzufinden seien: „Immer ist das ‚grundsätzlich anders‘Sein des Heute Schelskys Ausgangspunkt und zentrale These. Zwischen dem Heute und der Vergangenheit liegt eine unüberbrückbare Kluft, ja die Vergangenheit gewinnt ihr Gesicht erst aus dem Kontrast zu einem Heute, das sich wie das An-und-für-sich-Sein des absoluten Geistes oder die kommunistische Gesellschaft qualitativ von allem Vorhergegangenen unterscheidet: Heute ist alles anders.“, Dahrendorf, „Die drei Soziologien“, S. 129 f.  Vgl. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 330 ff.  Schäfer, „Helmut Schelsky und die Soziologie am Ende der 1950er Jahre“, S. 204.

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schaft, allenfalls um Freiheit im Rahmen und auf der Basis von Institutionen“²⁴⁴. In einer konservativ verzerrten Vorwegnahme der späteren These seines Schülers Luhmann, der wie im Falle anderer gesellschaftlicher Teilsysteme auch von der operativen Geschlossenheit des Wissenschaftssystems ausging,²⁴⁵ kam Schelsky 1959 zu dem provokativen Schluss: „Die Impulse des Gelehrten, die ihn zur Forschung führen, sind relativ belanglos gegenüber seinen Ergebnissen, jedenfalls lassen sich diese von jenen ablösen, und es bestehen keine in der Wissenschaft oder in der Person des Forschers liegenden Möglichkeiten, die moralischen Verpflichtungen des forschenden Erkennens auf die Impulse des Handelnden zu übertragen, der die Ergebnisse einer analytischen Wissenschaft aufnimmt.“²⁴⁶ Weder konnte Dahrendorf diese partielle Entbindung des Sozialwissenschaftlers von den moralischen Folgewirkungen seiner Forschung mittragen – wir werden sehen, dass Habermas diesen Vorwurf zunächst trotzdem gegen Dahrendorf erhob –, noch hatte er als liberaler Reformdenker ein Interesse daran, die althumanistische Bildungs- und Universitätsidee bzw. den Mythos Humboldt zu reaktivieren.²⁴⁷ Dass sein liberaler Forschungsansatz aber über das verminte sozialwissenschaftliche Feld in der Bundesrepublik Geltung beanspruchen sollte, zeigte sich allein an der Tatsache, dass er sein konfliktsoziologisches Programm

 Ebd. Vgl. zu dieser Lesart allein schon im Hinblick auf den Titel Schelsky, Einsamkeit und Freiheit.  Vgl. dazu Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft.  Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, S. 65.  Hier kamen auch ein Generationenkonflikt und eine Gemengelage im intellektuellen Feld zum Vorschein, wie sie nur die frühe Bundesrepublik hervorbringen konnte. Dabei stellte sich Schelsky nach 1945 „einer fast übermenschlichen Aufgabe, nämlich der Vermittlung zwischen den Fronten. Auf der einen Seite standen die Soziologen, die sich in der deutschen Sektion des IIS um Hans Freyer und Karl Valentin Müller zusammengeschlossen hatten und mit dem italienischen Präsidenten Corrado Gini, einem Statistiker und Bevölkerungswissenschaftler, der mit dem italienischen Faschismus Mussolinis eng verknüpft war, kooperierten. Ohne Mitglied zu werden, fühlte sich Schelsky dieser Gruppe menschlich und wissenschaftlich verbunden, zumal mit Freyer, Müller und Ipsen (als ‚Scharfmacher‘ im Hintergrund) drei ehemalige Leipziger die Führung übernommen hatten. Auf der anderen Seite arbeitete die jüngere, von Schelsky als ‚skeptische Generation‘ titulierte Kohorte gemeinsam mit den Exilierten und den Nicht-Nazis am Aufbau einer professionalisierten Fachgesellschaft – der DGS – mit klarem demokratischem und antifaschistischem Profil.“, Schäfer, „Helmut Schelsky und die Soziologie am Ende der 1950er Jahre“, S. 186 f. Dahrendorf verfolgte innerhalb seiner Zunft das Ziel, „die moderne Soziologie gegenüber den nationalsozialistischen Verfehlungen während der Jahre 1933 bis 1945 abzugrenzen, um so die neue Disziplin vom geisteswissenschaftlichen Ballast zu befreien und an die international führende amerikanische Soziologie anschlußfähig zu machen“, Müller-Doohm, Adorno, S. 643. Dabei wusste er den Kölner René König, der im Sinne Durkheims dem Ideal einer empirisch unterfütterten reinen Soziologie anhing, und die Frankfurter letztlich auf seiner Seite.

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Ende der 50er ursprünglich gegen Talcott Parsons, den Doyen der amerikanischen Soziologie, zündete, um die „Sklerosis des Strukturfunktionalismus, die sich in den soziologischen Debatten am Ende der fünfziger Jahre abzuzeichnen begann“²⁴⁸, aufzubrechen.²⁴⁹ Die entscheidende Absetzbewegung von Parsons erfolgte bereits in der Habilitationsschrift, in der Dahrendorf vorschlug, bei der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung „den Begriff des Systems zu vermeiden“²⁵⁰ und die strukturfunktionalistische Systemtheorie aufgrund ihrer notorischen Unterschätzung endogenen sozialen Strukturwandels kurzerhand zu verwerfen.²⁵¹

 Neckel, „Ungesellige Geselligkeit“, S. 248.  Deshalb ist es auch nur die halbe Wahrheit, Dahrendorf rückblickend zum „theoretisch Agilste[n]“ (Bude, „Die Soziologen der Bundesrepublik“, S. 575) einer neuen Generation von Soziologen zu küren, die anhand des Imports vornehmlich amerikanischer Soziologie in das wissenschaftliche Feld der Bundesrepublik die „Auflösung von ideologisch besetzten Summenbegriffen wie Klassenkampf, Landflucht oder Familienverfall in funktional genauer bestimmte Phänomene“ vorangetrieben hätten, „um so aus den großen Dichotomien von Fortschritt oder Zerfall, von Gemeinschaft oder Gesellschaft, von Subjekt oder Objekt herauszukommen“, ebd. S. 574. Zwar haben solche Erzählungen einer erfolgreichen Westernisierung der zweiten deutschen Demokratie ihre Berechtigung, verleiten aber dazu, längerfristige sozialwissenschaftliche Debatten über den Entwicklungsgang moderner Gesellschaften aus dem Blick zu verlieren. Zwischen den „Soziologen der Bundesrepublik“ und ihren Perspektiven auf die massendemokratische Moderne bestanden ja nicht zuletzt auch erhebliche Differenzen. Das zeigt sich allein an dem Dreigespann Dahrendorf, Habermas und Luhmann.  Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 124, Fn. 2.  Diesbezüglich hieß es an der entscheidenden Stelle: „Der folgenschwere Fehler [in der theoriestrategischen Vermittlung von System und Struktur durch den Begriff der Funktion – M.H.] liegt schon in der Absicht, die dynamisch variablen Elemente ‚im System‘ zu finden. In der Tat ist die Kategorie der Funktion der der Struktur untergeordnet. Teile einer Struktur haben eine Funktion in bezug auf diese Struktur als ganze. Insofern ist die Kategorie allerdings wichtig. Sie ist aber nicht ‚allwichtig‘; vielmehr ist die Grundbedingung dynamischer Strukturanalyse die, Variable zu finden, die der Kategorie der Struktur nicht untergeordnet (insofern nicht ‚innerhalb des Systems’) sind, sondern auf diese als ‚Kräfte’ oder Faktoren umgestaltend einwirken. Daß Parsons und mit ihm die meisten neueren Theoretiker diesen Tatbestand übersehen haben, hat vielleicht seinen Grund in einer mehr oder minder bewußten Identifizierung sozialer und organischer Strukturen (oder ‚Systeme‘). Denn hier liegt das schwierigste Problem der Analyse sozialen Strukturwandels: Die ‚dynamisch variablen Elemente‘, die auf die Konstruktion sozialer Strukturen einwirken, müssen – im Gegensatz zu organischen Strukturen – nicht von außerhalb des ‚Systems’ kommen, sondern können aus der Struktur selbst erzeugt werden. Es gibt mit anderen Worten in sozialen Strukturen Elemente oder Kräfte, die zugleich deren Bestandteile sind (insofern in ihnen ‚funktionieren‘) und auf ihre Überwindung, ihren Wandel hinwirken. Dazu gehören […] zum Beispiel soziale Klassen. […] Die strukturell-funktionale Analyse versagt in ihrer bisherigen Form vor Problemen des Wandels, weil sie dem eigentümlichen Charakter sozialer zum Unterschied von organischen Strukturen nicht zureichend Rechnung trägt und es daher ver-

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In einem Aufsatz, den Dahrendorf während seines einjährigen StanfordAufenthalts für das American Journal of Sociology schrieb, grenzte er sein Konfliktmodell der Gesellschaft sodann denkbar polemisch von Parsons’ strukturfunktionalistischem Gleichgewichtsmodell ab. Demnach sei Parsons’ soziales System „nicht aus der bekannten Wirklichkeit hervorgegangen“, sondern stelle „einen riesigen und vorgeblich allumfassenden Überbau von Begriffen, die nicht beschreiben, Annahmen, die nicht erklären, und Modellen, aus denen nichts folgt, dar“²⁵². Dahrendorf ließ es sich auch nicht nehmen, mit Parsons einen renommierten Weber-Experten schulmeisterlich mit den Worten zu belehren: „Welch dramatisches Mißverständnis von Max Webers Versuch, Politik als Beruf und Wissenschaft als Beruf zu trennen!“²⁵³ Einige Jahre später stellte er in seinem Buch über Die angewandte Aufklärung, das in Anlehnung an Tocqueville den Untertitel Gesellschaft und Soziologie in Amerika führte, die Vermutung an, das Problem amerikanischen Denkens über die Gesellschaft habe historisch schon immer darin bestanden, „den Stoffwechsel an die Stelle der Geschichte“²⁵⁴ zu setzen und gleich ganz ohne Marx auskommen zu wollen. Parsons qualifizierte er vor diesem Hintergrund sogar als „Dogmatiker“ ab, der sich „stets nur für relativ wenige äußere Einflüsse“ geöffnet habe, „schon früh seinen eigenen systematischen Überlegungen unbeirrt um die Eigenart anderer Autoren“²⁵⁵ nachgehangen und zu einem „über den Status quo hinausgreifenden Gedanken“ unfähig sei. Seinen eigenen Ansatz präsentierte Dahrendorf hingegen als tentativen Beitrag zu einer „Loseblatt-Sammlung“, deren Begriffe sich im Gegensatz zu den „taxonomischen Phantasien der Systematiker“²⁵⁶ immer erst an der sozialen Wirklichkeit bewähren müssten. Im Hinblick auf das soziologische Denken der Bundesrepublik glaubte er noch Mitte der 80er die geringe Wirkung seines Klassenbuchs polemisch auf eine typisch „deutsche[ ] Harmoniesehnsucht“ zurückführen zu müssen, „die ja nicht etwa nur die politische Rechte (‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft‘), sondern auch die politische Linke (‚herrschaftsfreie Kommunikation’)“ kennzeichne.²⁵⁷

säumt, die dynamischen Variablen zwar auch innerhalb von Strukturen, aber prinzipiell unabhängig von deren (konstruierter) funktionaler Integration zu suchen.“, ebd. S. 127.  Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 94.  Ebd. S. 105.  Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung, S. 141 f.  Ebd. S. 155.  Dahrendorf, Pfade aus Utopia, S. 62.  Dahrendorf, „Soziale Klassen und Klassenkonflikt: Zur Entwicklung und Wirkung eines Theoriestücks“, S. 238.

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Die politische Essenz des Positivismusstreits: Habermas vs. Dahrendorf Mit der harmoniesüchtigen Linken spielte Dahrendorf freilich auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und insbesondere den in der frühen Bundesrepublik nach Marburg verbannten Theoretiker der „herrschaftsfreien Kommunikation“ Habermas an. Dessen dialektischer Forschungsansatz speiste sich nach wie vor aus den klassischen Grundannahmen der Kritischen Theorie: einer Verschränkung von Staat und Gesellschaft im organisierten Kapitalismus, der damit einhergehenden Umstellung der manifesten persönlichen Herrschaft auf anonymere Herrschaftsverhältnisse, der Ernüchterung über das Proletariat als potenzieller Träger eines emanzipatorischen Geschichtssinns und der Erstarrung marxistischen Denkens zu einer repressiven Herrschaftsideologie im Sowjetkommunismus.²⁵⁸ Unbestritten entnahm Habermas das Grundmotiv seiner bei Wolfgang Abendroth verfassten Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit der Dialektik der Aufklärung. Doch nahm das Szenario, dass „Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie“²⁵⁹ verstricke, bei Habermas erkennbare sozial-, politik- sowie medien- und kulturgeschichtliche Konturen an. Im Gegensatz zu den transhistorischen zivilisationskritischen Kaskaden seiner intellektuellen Stichwortgeber stützte er sich in seiner historischen Darstellung des Zerfalls der bürgerlichen Öffentlichkeit folglich auf eine materialreiche Zusammenführung des interdisziplinären Forschungsstands zum Thema. Die dialektische Pointe in Habermas’ Habilitationsschrift war: Nach der Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit und sukzessiven Überwindung der politischen Willkürherrschaft des Spätabsolutismus im Medium der öffentlichen Meinung hatte ein gegenläufiger Prozess eingesetzt, in dessen Verlauf die Integration der Massen in die politische Willensbildung eine qualitative Verkümmerung der politischen Kultur zur Folge gehabt hatte. In der sozialstaatlichen Massendemokratie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand folglich nur mehr ein exklusiver Wettkampf um die Zustimmung manipulierbarer Konsumenten statt, während das bürgerliche politische Räsonnement als Mittel der Herrschaftsrationalisierung auf Dauer brachzulegen schien. Habermas bezeichnete diese folgenreiche Transformation, die im ausgehenden 19. Jahrhundert begonnen und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Fahrt aufgenommen hatte, als „Dialektik einer mit fortschreitender Verstaatlichung der Gesellschaft sich gleichzeitig durchsetzenden Vergesellschaftung des Staates“, die durch das Aufkommen einer „repolitisierte[n] Sozialsphäre“²⁶⁰ gekennzeichnet sei. Noch plastischer nahm

 Habermas, Theorie und Praxis, S. 163 ff.  Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 18.  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 226.

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sich in dieser Hinsicht seine These von der „‚Refeudalisierung‘ der Gesellschaft“ aus, „als mit der Verschränkung von öffentlichem und privatem Bereich nicht nur politische Instanzen gewisse Funktionen in der Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit, sondern auch umgekehrt gesellschaftliche Mächte politische Funktionen“²⁶¹ übernähmen. Anfang der 60er verzichtete er bereits auf den Begriff der Revolution und gab sich damit zufrieden, im Sinne Adornos den ideologischen Schleier der Zeit lüften zu wollen. Im Geiste einer materialistisch informierten Ideologiekritik führte Habermas die historische Umstellung des Reflexionsmodus von der „klassischen Lehre von der Politik“ auf die neuzeitliche bzw. moderne „Sozialphilosophie“ deshalb auf die „Zentralisierung und […] Bürokratisierung der Herrschaft im modernen Staatsapparat“ und der „Expansion des kapitalistischen Warenverkehrs“ zurück. Obwohl er die antike politische Philosophie – den „theoretisch begründete[n] Ausgangspunkt der Alten: wie die Menschen praktisch einer natürlichen Ordnung entsprechen können“ – aufgrund seines neomarxistischen Blicks für obsolet erklärte, konnte er sich mit der positivistischen Wissenschaft – dem „praktisch vorgegebene[n] Ausgangspunkt der Modernen: wie die Menschen drohende Naturübel technisch bewältigen können“²⁶² – erst recht nicht anfreunden. Seine normative Leitfrage blieb im Kern deshalb aristotelischen Motiven verhaftet: [W]ie kann das Versprechen der klassischen Politik, nämlich praktische Orientierung über das, was in gegebener Lage richtiger- oder gerechterweise zu tun ist, eingelöst werden, ohne andererseits auf die wissenschaftliche Stringenz der Erkenntnis, welche die moderne Sozialphilosophie im Gegensatz zur praktischen Philosophie der Klassiker beansprucht, zu verzichten? Und wie kann umgekehrt das Versprechen der Sozialphilosophie, nämlich eine theoretische Analyse des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, eingelöst werden, ohne andererseits auf die praktische Einstellung der klassischen Politik zu verzichten?²⁶³

Habermas glaubte in der mit Hobbes – dem „eigentliche[n] Begründer des Liberalismus“²⁶⁴ – einsetzenden, „in der Einstellung des Technikers entworfenen Sozialphilosophie“²⁶⁵ alle praktischen Fragen nach dem guten Leben zu vermissen. Der Fehler in dessen proto-positivistischer Denkweise bestehe in der Gleichsetzung der „Verfügung über Naturprozesse“ mit der „Verfügung über gesellschaftliche Prozesse“, obwohl zwischen beiden doch ein beträchtlicher Un    

Ebd. S. 337. Habermas, Theorie und Praxis, S. 57. Ebd. S. 51. Ebd. S. 72. Ebd. S. 78.

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terschied vorhanden sei: „[S]elbst wenn diese am Ende in der gleichen Weise wie jene ausgeführt würde (so verlangen es die sozialtechnischen Planungen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften heute), bedarf sie doch einer vorgängigen Vermittlung durch das Bewußtsein verhandelnder und handelnder Bürger.“²⁶⁶ Folgerichtig plädierte Habermas im Hinblick auf die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis für eine „methodische Anleitung“ des Erkenntnisprozesses, „die einerseits der Klärung des praktischen Bewußtseins“ entspreche, „ohne andererseits auf methodische Strenge als solche – die unverlierbare Errungenschaft der modernen Wissenschaft – zu verzichten“²⁶⁷. An dieser Stelle offenbarte sich auch die begriffliche Abrüstung des frisch gebackenen Professors: Die besonnene „Klärung des praktischen Bewußtseins“ trat an die Stelle der vormals propagierten „praktischen Revolutionierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse“. Angesichts dieses strategischen Wechsels in der Begriffswahl war es dann auch nicht verwunderlich, dass in der ersten Hälfte der 60er eine „atmosphärischen Verbesserung“ im Verhältnis zwischen Habermas und Horkheimer einsetzte, bis Habermas wenig später an den Ursprungsort als Horkheimer-Nachfolger an den Ursprungsort der Kritischen Theorie zurückkehrte.²⁶⁸ Noch vom Geiste seines hegelmarxistischen Programms beseelt, grenzte sich Habermas im Positivismusstreit auch explizit vom „leeren Skeptizismus“²⁶⁹ seines

 Ebd. S. 79. Habermas sollte später hinzufügen: „Ein durch Normen gesteuertes Handeln ist nicht dasselbe wie ein durch Naturgesetze determiniertes und entsprechend vorhersagbares Verhalten. Eine Norm kann durchbrochen werden, ein Naturgesetz prinzipiell nicht.“, Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 252 f.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 82.  Interessanterweise nahm Habermas in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung über Erkenntnis und Interesse sogar „unwissentlich“ (Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 128) eine sprachphilosophische Fährte auf, die Horkheimer in einem Brief an Adorno aus den frühen 40ern gelegt hatte: „‚Die Rede an einen richten, heißt im Grunde, ihn als mögliches Mitglied des zukünftigen Vereins freier Menschen anerkennen. Rede setzt eine gemeinsame Beziehung zur Wahrheit, daher die innerste Bejahung der fremden Existenz die angeredet wird, ja eigentlich aller Existenzen ihren Möglichkeiten nach.‘“, zit. nach Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 127 f.  Folglich beschritt Habermas noch in Erkenntnis und Interesse den in Hegels Phänomenologie des Geistes angelegten „Weg der bestimmten Negation, die vor dem leeren Skeptizismus“ liberaler Prägung bewahre: „Diese Figur der bestimmten Negation trifft keinen immanenten logischen Zusammenhang, sondern den Mechanismus des Fortschritts einer Reflexion, in der theoretische Vernunft und praktische eins sind. Das affirmative Moment, das gerade in der Verneinung einer existierenden Verfassung des Bewußtseins steckt, wird plausibel, wenn wir bedenken, daß in diesem Bewußtsein Kategorien der Weltauffassung und Normen des Handelns verschränkt sind. Eine Lebensform, die zur Abstraktion geworden ist, kann nicht spurlos negiert, nicht ohne praktische Folgen umgewälzt werden. Im revolutionierten ist der überwundene Zustand festge-

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ungleichen Weggefährten Dahrendorf ab und plädierte für ein Konzept der „dialektische[n] Aufklärung“, das „vom Mythos in der Tat eine durch den Positivismus preisgegebene Einsicht“ festhalte: „daß der von Subjekten veranstaltete Forschungsprozeß dem objektiven Zusammenhang, der erkannt werden soll, durch die Akte des Erkennens hindurch selber zugehört“ – dass Gesellschaft in der kapitalistischen Moderne eben nur „als Totalität“²⁷⁰ begriffen werden konnte, sofern man denn überhaupt einen gesellschafts- und herrschaftskritischen Anspruch geltend machen wollte. Dahrendorfs theoriepolitischen Angriff auf Parsons hielt Habermas dementsprechend für Schattenboxen innerhalb des positivistischen Lagers. Dahrendorf habe seiner Soziologie den kritischen Stachel gezogen, indem er „auch das soziologische Kernstück des Marxismus, die Klassentheorie, […] zur Lehre von den sozialen Klassen formalisiert“ und „der heute maßgebenden strukturell-funktionalen Theorie eingefügt“²⁷¹ habe. Den Lehrmeister dieser normativ entkernten Marx-Rezeption erkannte Habermas korrekterweise in Schumpeter, der „bei Gelegenheit seiner eigenen und sehr eigenwilligen Rezeptionen der Theorie der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus“ für eine „sozialwissenschaftliche[ ] Arbeitsteilung“²⁷² im schlechtesten Sinne geworben habe. Diese habe Schumpeter letztlich gar nicht anders als mit dem Hinweis auf den Status quo – „auf den nun einmal institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb“²⁷³ – begründen können. Hatte Habermas Dahrendorfs philosophische Marx-Dissertation in der Rezension für den Merkur Mitte der 50er noch fälschlicherweise zur Ehrenrettung des Historischen Materialismus herangezogen, hielt die Habilitationsschrift dem kritisch-theoretischen Blick nun nicht mehr stand. Noch im Erscheinungsjahr von Soziale Klassen und Klassenkonflikt fällte Habermas das vernichtende Verdikt, dass Dahrendorfs liberale Wendung der Klassentheorie „weit über die immer noch historische Betrachtung Schumpeters hinaus, zur formalen Konstruktion von Modellen auf genau jener Ebene vergegenständlichender Abstraktion“²⁷⁴ beitrage, die Marx immer als ideologische Verdopplung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse bezeichnet hatte. Die von Dahrendorf favorisierte experimentelle Prüfung isolierter „‚Bestandteile‘ des Marxismus nach Gesichtspunkten sozialwissenschaftlicher Arbeitsteilung“ behielt Habermas zufolge am Ende

halten, weil die Einsicht des neuen gerade in der Erfahrung der revolutionären Ablösung vom alten Bewußtsein besteht.“, Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 28.  Habermas, „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“, S. 156.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 171.  Ebd.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 172  Ebd. S. 292.

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„nur die disjecta membra“ zurück, „die aus dem dialektischen Sinnverständnis einer auf Praxis bezogenen Theorie der Gesellschaft als Totalität herausgebrochen sind“²⁷⁵. Habermas gab sich auch nicht damit zufrieden, dass Dahrendorf im Homo Sociologicus ein auf die Emanzipation des Individuums abzielendes, kritisches Rollenverständnis in die Waagschale geworfen hatte, um die konservativen Rollenklischees der restaurativen Adenauerjahre zu unterlaufen. Dahrendorf hatte in diesem Sinne gefordert, „daß [der Wissenschaftler] seine Probleme unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für das Individuum und seine Freiheit auswählt“²⁷⁶ und dafür „mindestens jenes Rudiment eines Menschenbildes“ benötige, „das in einer nicht logischen, sondern anthropologischen Stellungnahme zum hypostasierten Rollenträger“²⁷⁷ stehe. Demgegenüber warnte Habermas gerade davor, die Rollenkategorie „in der Anwendung auf gesellschaftliche Verhältnisse schlechthin zu einer universalhistorischen Kategorie“²⁷⁸ zu verallgemeinern. Indem die Rollen „in ihrer Konstellation zu den Rollenträgern konstant gesetzt“ würden – „als sei der gesellschaftliche Lebenszusammenhang dem Leben der Menschen selbst auf immer die gleiche Weise so äußerlich, wie es Kant im Verhältnis des empirischen zum intelligiblen Charakter hingestellt hat“ – reduziere man „geschichtliche Entwicklung auf die gesellschaftliche Abwandlung immer gleicher Grundverhältnisse“²⁷⁹. Habermas argumentierte, Dahrendorf bleibe aufgrund seines „wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses“ nur der sehr begrenzte „Spielraum seiner Doppelrolle als Wissenschaftler und

 Ebd. S. 172. Den hegelmarxistischen Totalitätsbegriff übernahm er von Adorno, der in seinem Tübinger Referat Zur Logik der Sozialwissenschaften erläutert hatte, dass es sich „in den demokratisch verwalteten Ländern der industriellen Gesellschaft“ dabei um „eine Kategorie der Vermittlung, keine unmittelbarer Herrschaft und Unterwerfung“ (Adorno, „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, S. 127) handele. Mit Dahrendorf gerieten – wie bereits Habermas’ Kritik an Schumpeter zeigte – auch dessen totalitätsblinde Stichwortgeber ins Visier. Adorno, der dem sozialwissenschaftlichen Forschungsbetrieb in den Vereinigten Staaten seit seiner Arbeit für das emigrierte Frankfurter Institut in New York zunehmend mit Ablehnung gegenüberstand, nahm nach seiner Rückkehr nach Deutschland folglich auch Merton ins Visier. Dessen Forderung nach Theorien mittlerer Reichweite – die „heute beliebteste[ ] soziologische[ ] Konzeption“ – verwies Adorno kurzerhand in den Bereich „einer Soziologie, die des Begriffs der Gesellschaft gleichwie eines allzu spektakulären Philosophems sich entledigen möchte“ und dabei nicht einsehen könne, dass sich selbst die von ihr diagnostizierten „ungleichzeitigen Sozialgebilde“ in der spätkapitalistischen Welt „erst in der Relation zur herrschenden Totale“ herausbildeten, „von der sie abweichen“, ebd. S. 127 f.  Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 90.  Ebd. S. 104.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 174.  Ebd.

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Staatsbürger“. Dieser könne zwar „die Aufgaben, die er soziologisch bearbeiten möchte, nach Gesichtspunkten politischer Relevanz auswählen“, ohne damit aber „auf die wissenschaftliche Arbeit selbst“²⁸⁰ Einfluss zu nehmen. Folglich witterte der Kritische Theoretiker hinter Dahrendorfs liberaler Selbstverpflichtung auf eine normativ angeleitete sozialwissenschaftliche Forschungspraxis noch einen potentiell verhängnisvollen, auf Max Webers Wertfreiheitspostulat beruhenden „Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen“, der – vermittelt über Popper – „zu einer Reduktion zulässiger Erkenntnis auf strikte Erfahrungswissenschaften und […] einer Eliminierung von Fragen der Lebenspraxis aus dem Horizont der Wissenschaften überhaupt“²⁸¹ nötige.²⁸² Auch

 Ebd. S. 215.  Habermas, „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“, S. 171.  Auf dem Heidelberger Soziologentag von 1964 nahm Habermas im Tandem mit Horkheimer das Weber’sche Wertfreiheitspostulat als Signum eines politisch verhängnisvollen sozialwissenschaftlichen Positivismus ins Visier. Horkheimer lieferte mit seinen Einwänden gegen Parsons, der zuvor eine Lobeshymne auf Weber – „einen der wenigen echten Begründer der wissenschaftlichen Soziologie“ (Parsons, „Wertgebundenheit und Objektivität in den Sozialwissenschaften“, S. 64) – angestimmt hatte, eine Steilvorlage, die Habermas nur noch verwandeln musste. Weber würde „heute nach der durchs Charisma und vielem anderen gekennzeichneten Zeit“ – so Horkheimer in seiner Eröffnung der Diskussion des Parsons-Vortrags – wohl einsehen müssen, „daß Soziologie so ganz von philosophischer Verpflichtung nicht“ getrennt werden könne und „Werturteile den Soziologen auch dann noch zu bestimmen haben, wenn das Thema schon gestellt ist“, Horkheimer et al., „Diskussion zum Thema: Wertfreiheit und Objektivität“, S. 67. Dieses Diktum verschärfte Habermas in seinem Diskussionsbeitrag mit dem Hinweis, dass das Wertfreiheitspostulat zwar „wissenschaftstheoretisch eine Selbstverständlichkeit“ sein möge, „die wissenschaftspolitische Absicht, die Max Weber mit dem Postulat verband“, aber umso problematischere Züge trage, weil dieser sein forschungsstrategisches Mantra letztlich doch dazu gebraucht habe, „die Sozialwissenschaften auf ein Erkenntnissinteresse einzuschränken, das sich mit der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens bescheidet“. Sodann forcierte Habermas seine Kritik, als er postulierte, dass sich Weber durch seine wissenschaftspolitische Grundsatzentscheidung nur Raum verschafft habe, um seinem antidemokratischen politischen Denken am Ende umso ungenierter frönen zu können: „Weber nahm die umsichgreifende rationale Durchorganisation der Lebensverhältnisse zum Leitfaden seiner Analyse: kapitalistische Wirtschaftsordnung, formalisierter Rechtsverkehr und bürokratische Herrschaftsordnung bilden die Strukturen einer Gesellschaft, deren institutionell verselbständigte Bereiche das soziale Handeln gleichförmig erfassen. Sie wissen, wie Weber das stählerne Gehäuse dieser rationalisierten Lebenswelt beurteilt hat. Gerade die Organisationsform, die Zweckrationalität des Handelns sichern, nämlich eine optimale Mittelverwendung für autonom gesetzte Zwecke gestatten soll, nimmt noch die Autonomie dieser individuellen Zwecksetzung selbst in Beschlag. […] Webers philosophische Antwort heißt: dezisionistische Selbstbehauptung inmitten einer rationalisierten Welt; seine politische Antwort: Spielraum für den willensintensiven und machtinstinktiven Führer – für den starken Politiker, der sich der Fachbeamten, und für den privaten Unternehmer,

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in seiner liberalen Variante könne dieser Positivismus nicht verhindern, dass „des abgeschiedenen Bereichs der Werte, Normen und Entscheidungen […] sich nun die philosophischen Deutungen eben auf der Basis einer mit der reduzierten Wissenschaft geteilten Arbeit von neuem“²⁸³ bemächtigten: dass Aufklärung in Mythologie umschlug. Habermas warb in offener Abgrenzung von Dahrendorfs „strikte[r] Trennung der wissenschaftlichen Konstruktion des Rollenträgers von der Dimension moralischer Entscheidung angesichts des wirklichen Menschen, wie sie in Analogie zu Kants Unterscheidung des phänomenalen vom nuomenalen Bereich eingehalten“²⁸⁴ werde, folglich für eine „explizit in politischer Absicht entworfene[ ], dabei wissenschaftlich falsifizierbare[ ] Geschichtsphilosophie“, mit deren Hilfe Marx besser verstanden werden könne, als dieser „sich selbst verstanden hat“²⁸⁵. Für Dahrendorf war es gewiss nur ein schwacher Trost, zusammen mit Popper den „[r]edliche[n] Positivisten“ zugerechnet zu werden, denen die „Ergänzung des Positivismus durch Mythologie“ immerhin „das Lachen verschlagen“²⁸⁶ habe. Dahrendorf hatte im Zusammenhang mit Webers Wertfreiheitspostulat von dem „Vorzimmer“ der Themenwahl gesprochen, in dem „der Soziologe noch frei“ sei „von den Gesetzen des Vorgehens, die seine eigentlichen Forschungen bestimmen“²⁸⁷. Gegen den gesellschaftspolitischen Quietismus in den 50ern empfahl er, „sich sozialen Tabus über gewisse ‚anstößige‘ Themen nicht zu unterwerfen“, und gelangte dabei zu dem für Habermas wohl einigermaßen missverständlichen Postulat, „daß die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten in der Regel in dem Maße wächst, in dem die Wahl ihres Gegenstandes eine engagierte Entscheidung des Forschers verrät“²⁸⁸. Auf diesen leisen Dezisionismus antwortete Habermas mit einem Präventivschlag gegen Dahrendorfs Konflikttheorie.

der sich seines Betriebes zugleich autoritär und rational bedient.“, Habermas et al., „Diskussion zum Thema: Wertfreiheit und Objektivität“, S. 78 f.  Habermas, „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“, S. 171.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 175.  Ebd. S. 179. Demnach hat Habermas in den frühen 60ern eine von Adorno inspirierte hegelmarxistische Kritik der am Neukantianismus orientierten, transhistorischen Formalsoziologie formuliert, vgl. dazu allgemein das Buch von Rose, Hegel Contra Sociology. Erhellend ist in diesem Zusammenhang bereits Horkheimers frühe Kritik der formalen Logik, die Adornos und Habermas’ spätere Attacke auf die Formalsoziologie vorwegnahm, vgl. Jay, Dialektische Phantasie, S. 78 f.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 173.  Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 34.  Ebd. S. 35.

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Dabei wurde Dahrendorf darüber belehrt, dass die Alternative zwischen seiner „galileische[n] Wende des Denkens“²⁸⁹ und Parsons’ strukturfunktionalistischem Konservatismus letztlich der Wahl zwischen Pest und Cholera glich. Denn auch in Dahrendorfs Konfliktmodell der Gesellschaft schieße „ein aus interessierter Erfahrung stammendes Vorverständnis der gesellschaftlichen Totalität“ und folglich ein Maß an konservativer Herrschaftsstabilisierung ein, das ihn mit seinem vermeintlichen Gegenspieler, dem Integrationstheoretiker Parsons, auf eine Stufe stelle: Gleichviel, ob etwa die Integrationstheorie (aus der Erfahrung der Unsicherheit gesellschaftlicher Krisen) das soziale System als ein Gefüge ausgeglichener und dauerhafter Ordnung, oder ob die Konflikttheorie (aus Erfahrungen einer täuschenden Sicherheit politischer Zwangsintegration) dasselbe System als einen durch innere Gegensätze stets offen und in Fluß gehaltenen Herrschaftsverband versteht – immer geht in die Wahl der fundamentalen Kategorien eine vorgreifende Deutung der Gesellschaft im ganzen ein. Bezeichnenderweise ist dies ein Vorverständnis davon, wie Gesellschaft als Totalität zugleich ist und sein soll – die interessierte Erfahrung in gelebter Situation trennt nämlich ‚Sein‘ so wenig von ‚Sollen‘, wie sie das ihr Begegnende in Fakten auf der einen und Normen auf der anderen Seite zerlegt. Diese Trennung führt die Wissenschaft erst ein, und sie hebt die dialektische Interpretation wieder auf.²⁹⁰

Habermas‘ Gleichsetzung des konservativen Strukturfunktionalismus mit der liberalen Konflikttheorie Dahrendorfs erschließt sich mit dem Hinweis auf eine als Methodenstreit camouflierte politische Auseinandersetzung, an deren Beginn Dahrendorf Anfang der 60er zu einer folgenreichen Arbeitstagung der DGS nach Tübingen eingeladen hatte, die zusammen mit ihrem kontroversen Nachspiel als „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“²⁹¹ in die Annalen der Wissenschaftsgeschichte eingehen sollte. Nur auf den ersten Blick wurden hier die wissenschaftslogischen Voraussetzungen sozialwissenschaftlicher Erkenntnis geklärt. Dahrendorf trat nämlich schon bei der Tagungsorganisation als liberaler Missionar auf den Plan. Die Einladung der beiden Hauptreferenten war nicht zuletzt auf der Grundlage politischer Erwägungen erfolgt: Adorno und Popper standen für einen glaubhaften moralischen Neubeginn im sozialwissenschaftlichen Feld der frühen Bundesrepublik, in dem sich weiterhin eine Reihe belasteter Figuren tummelte. Als bekennender Popper-Schüler hegte Dahrendorf bekanntlich den Wunsch, seinen Londoner Lehrer und dessen liberale Erkenntnistheorie im bundesrepublikani-

 Ebd. S. 108.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 177.  Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie.

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schen Kontext zu Prominenz zu verhelfen. Deshalb verzichtete er auch darauf, einen profilierten deutschen Fachkollegen wie Schelsky oder René König als Kontrahenten Adornos auszuwählen. Später rang er sich immerhin zu dem lakonischen Bekenntnis durch: „Popper war mein Lehrer an der LSE; nur er kam in Frage.“²⁹² Mit seiner Abneigung gegen die dialektische Methode der Kritischen Theorie hielt Dahrendorf Anfang der 60er zumindest öffentlich noch hinter dem Berg, um das übergeordnete Ziel – eine allmählich in Gang kommende Demokratisierung der politischen Kultur in der Bundesrepublik – nicht durch die Eröffnung von Nebenkriegsschauplätzen zu gefährden. Nur so lässt es sich verstehen, dass der selbsternannte Fackelträger einer Erfahrungswissenschaft im Geiste Poppers „das kritische und spekulative Bedenken gesellschaftlicher Dinge wie das philosophische Bemühen um Einsicht in die Totalität von Gesellschaft und Geschichte“ in einem Vortrag am IfS unter Vorbehalt aus taktischen Gründen in den Rang „wesentliche[r] und legitime[r] Anliegen der Erkenntnis und, wenn man so will, der Wissenschaft“²⁹³ erhoben hatte.²⁹⁴ So sehr sich Popper und Adorno in ihrer Abneigung gegen die deutsche geisteswissenschaftliche Tradition auch ähneln mochten, registrierte Dahrendorf in seinen Anmerkungen zur Diskussion der beiden Tübinger Referate schon einen „fundamentale[n] Unterschied in den Erkenntnishoffnungen und Erkenntnisansprüchen“²⁹⁵, obwohl den Kritischen Rationalismus und die Kritische Theorie vordergründig das „Primat der Theorie in der Wissenschaft“ und die bloß untergeordnete Stellung der Empirie „als Korrektiv“ und „Instrument der Überprüfung“²⁹⁶ geeint habe. Sei Adorno „aus der Enttäuschung über das Scheitern allzu weit gespannter utopischer oder revolutionärer Hoffnungen notwendig“²⁹⁷ einem auf das Ganze abzielenden Geschichtspessimismus erlegen, habe Popper für ein abgespecktes kantisches Aufklärungsideal gefochten, das „sich mit kleinen Fortschritten, mit einem Fußgänger-Vorgehen“²⁹⁸ begnüge. Dahrendorfs Urteil war im Kern zutreffend. Ganz anders als Popper, der in der liberalen Repräsentativdemokratie angelsächsischer Prägung die beste aller Welten erkannte, war Adorno überzeugt, jeder noch so gut gemeinte politische Interventionismus und

 Zit. nach Dahms, Positivismusstreit, S. 324, Fn. 154.  Im gleichen Atemzug merkte er jedoch an, „mit aller Schärfe jeden Versuch“ zurückweisen zu wollen, „mit spekulativen Behauptungen der soziologischen Erfahrungswissenschaft das Recht zu eigener Entfaltung zu bestreiten“, Dahrendorf, Pfade aus Utopia, S. 40.  Im Stillen dachte er seit langem ganz anders, vgl. Hansl, „Dahrendorfs Spuren“, S. 105 ff.  Dahrendorf, „Anmerkungen zur Diskussion“, S. 147.  Ebd. S. 148.  Ebd. S. 151 f.  Ebd. S. 152.

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Reformismus müsse unter den Bedingungen der spätkapitalistischen Massendemokratie letztlich ins Leere laufen. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt könne aufgrund der immer engmaschigeren Dominanz des abstrakten Tauschprinzips und der konformistischen Sogwirkungen der Kulturindustrie²⁹⁹ nicht in die Befreiung der Massen von überflüssiger Herrschaft münden, sondern müsse – wie der Rüstungswettlauf zwischen den beiden atomaren Supermächten zu indizieren schien – mehr denn je in potentiell destruktive Bahnen geleitet werden. Jürgen Ritsert hat in einem instruktiven Aufsatz über den Positivismusstreit herausgestellt, dass Poppers hypothetisch-deduktive Wissenschaftstheorie in politischer Hinsicht folglich vor allem darauf ausgelegt gewesen sei, „einzelne gesellschaftliche Institutionen kritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie die Funktionen erfüllen, die ihnen zugedacht sind. Wenn das nicht der Fall ist, müssen sie“ – Dahrendorfs bildungspolitische Interventionen wiesen Mitte der 60er in diese Richtung – „schrittweise umgebaut oder – wie eine falsifizierte Hypothese – durch funktionstüchtigere ersetzt werden.“ Dagegen habe Adorno mit seiner hegelianischen Totalitätsphilosophie – der bis Ende der 60er auch Habermas anhing – „eine politische Praxis vor Augen“ gehabt, „die unter anderem auf die Abschaffung gesamtgesellschaftlicher Strukturen und Prozesse zielt, welche den freien Willen des einzelnen Subjekts als ‚stummer Zwang der Verhältnisse‘ (Marx) oder im Interesse bestehender Herrschaftsverhältnisse unterdrücken“³⁰⁰. Dahrendorf machte keinen Hehl daraus, dem kritisch-rationalistischen „Fußgänger-Vorgehen“ Poppers – „ein bedeutender Mann, vielleicht der bedeutendste, den ich gekannt habe“³⁰¹ – den klaren Vorzug vor der kapitalismus- bis zivilisationskritischen Reflexion der gesellschaftlichen Totale à la Adorno zu geben. Eine rückblickende Einschätzung aus seiner Autobiographie spricht in dieser Hinsicht Bände: „Beim Tübinger ‚Positivismusstreit‘ zwischen Popper und Adorno 1961 hielt ich mich als Gastgeber naturgemäss zurück. Doch der Frieden herrschte zwischen Karl Popper und mir – vielmehr, da Frieden dann doch wieder nach einer Heiligen Familie klingt, blieben Popper und ich vor allem Verfechter der offenen Gesellschaft.“³⁰² Zwei Jahre nach dem Tübinger Aufeinandertreffen

 Vgl. dazu Adorno, „Résumé über Kulturindustrie“.  Ritsert, „Der Positivismusstreit“, S. 116.  Dahrendorf, Über Grenzen, S. 165.  Ebd. S. 174. Folglich habe Adorno, wie Dahrendorf bereits in den 70er präzisiert hatte, „gegen die empirisch orientierten Sozialwissenschaften“ gekämpft, „wo immer sich ihm eine Gelegenheit dazu bot, und er stellte tatsächlich die Behauptung auf, daß empirische Sozialforschung gar nicht möglich sei. Ich war der Meinung, daß das ein Konflikt sei, den man erörtern müsse, anstatt ihn

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kritisierte Dahrendorf die Kritische Theorie Adornos in seiner Hommage an die Die angewandte Aufklärung der USA schon als die eine – wenn auch „progressive“ – Hälfte einer „doppelte[n] Kritik der Modernität“: In ihrem konservativen Aspekt mündet diese Kritik in die Klage um die verlorenen Traditionen und Privilegien, um zerrissene Bindungen, die ‚Nivellierung nach unten‘, die Ausbreitung der ‚Zivilisation‘ auf Kosten der ‚Kultur‘. In ihrem progressiven Aspekt enthält die Kritik an der Modernität vor allem die Trauer um die unmöglich gewordene Utopie, darum also, daß die Gesellschaft der angewandten Aufklärung keinen Platz mehr hat für umfassende Entwürfe einer radikal anderen Welt. So werden Konservative und Progressive gleich reaktionär; denn sie sind sich einig in der Sehnsucht nach der geschlossenen Gesellschaft der Vergangenheit, das heißt in der Angst vor der Mündigkeit.³⁰³

vor sich her zu schieben und damit zur Gründung von Cliquen Gleichgesinnter beizutragen.“, Dahrendorf et al., Gespräche mit Herbert Marcuse, S. 129 f. Im gleichen Gespräch offenbarte auch eine Einschätzung Poppers, dass sich der inhaltliche Graben zwischen ihm und der Frankfurter Schule im Verlauf der Jahre vergrößert hatte: „Meine Einstellung gegenüber der Frankfurter Schule, es tut mir leid, ist völlig negativ. Ich konnte die Frankfurter Schule noch nie ernstnehmen. […] Vor einigen Jahren freilich geriet ich in eine Debatte mit Adorno. 1961 fand ein Kongreß in Tübingen statt, zu dem ich eingeladen worden war. Man hatte mich gebeten, die Diskussion zu eröffnen; und man hatte mir gesagt, daß Adorno der zweite Redner sein und auf meinen Diskussionsbeitrag antworten würde. Aus diesem Grund machte ich einen erneuten Anlauf, die Publikationen der Frankfurter Schule, speziell die Bücher Adornos, zu lesen. Ich kam zu dem Ergebnis, daß sie gänzlich abstrakt sind. Diese Sorte von Schrift hatte ich während meiner Wiener Zeit kennengelernt und entschieden abgelehnt. Ich halte sie für kulturellen Snobismus, vorgeführt von einer Gruppe, die sich selbst zur Kulturelite aufwirft und deren Gedanken durch gesellschaftliche Irrelevanz gekennzeichnet sind.“, Popper et al., Gespräche mit Herbert Marcuse, S. 130 f.  Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung, S. 225. Doch war ja schließlich auch Adorno an den von Dahrendorf so emphatisch gesuchten „kritische[n] Tatsachen“ (Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 134) interessiert, die sich nur aus der Ansehung der Empirie erschlossen, einen staunen machten und deshalb erklärungsbedürftig waren. Gleichzeitig trat er aber als entschiedener Gegner einer „[g]esellschaftliche[n] Theorienbildung nach dem Muster klassifikatorischer Systeme“ auf, die letztlich nur „den dünnsten begrifflichen Abhub für das“ substituiere, „was der Gesellschaft ihr Gesetz vorschreibt: Empirie und Theorie lassen sich nicht in ein Kontinuum eintragen.“, Adorno, „Soziologie und empirische Forschung“, S. 83. Adorno hielt es schlichtweg für ein unmöglich, auf der Grundlage formalsoziologischer Kategorien und „abstrakt an die Gesellschaft herangebrachte[r] Vorstellungen“ kritische Soziologie zu betreiben. In seinen späten Soziologie-Vorlesungen bezeichnete er es Ende der 60er aber noch einmal als „ein völliges Mißverständnis dessen […], […] was wir ‚Frankfurter‘ also hier wollen, wenn man uns gerade zur Last legt, daß wir die konkreten Details gegenüber der abstrakten Idee zurückdrängen möchten. Es ist gerade umgekehrt: Sowohl unsere Sympathie wie in gewisser Weise auch unser stoffliches Interesse gehen gerade auf diese konkreten Momente, aber nur freilich in einem ganz anderen Sinn als in dem der üblichen, aufbereitenden, klassifikatorischen Wissenschaft.“, Adorno, Einleitung in die Soziologie, S. 35.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

In Abgrenzung zu Habermas’ Selbstverpflichtung auf die dialektische Methode plädierte Dahrendorf in seinem Festschriftbeitrag für seinen Hamburger Doktorvater Josef König über Ungewißheit, Wissenschaft und Demokratie für ein höheres Maß an wissenschaftlicher Unbekümmertheit und einen in theoretischen wie praktischen Fragen tentativen Umgang mit der „menschliche[n] Lage […] der Ungewißheit“³⁰⁴. Indem er die „Widerlegung bisher für richtig gehaltener Theorien und Gesetze“ und die „dadurch begründete[ ] Chance der Formulierung besserer Theorien und Gesetze“ in Anlehnung an Poppers falsifikationistische Wissenschaftstheorie zum „Triumph der Wissenschaft“³⁰⁵ erklärte, pries er genau jenen Theoriedarwinismus, den er bereits in seiner Habilitationsschrift ausbuchstabiert hatte. Habermas hat den kritischen Rationalismus Poppers hingegen „von vornherein als etwas aufgeklärtere Positivismusversion angesehen“³⁰⁶. Dementsprechend fand er Adornos Tübinger Referat noch viel zu konziliant gegenüber dem Gegner, „was ihn nach eigenem Bekunden dazu veranlasst hat“ – etwa zur gleichen Zeit, in der Dahrendorf auch sein bei aller impliziten Kritik letztlich emphatisches Buch über die angewandte amerikanische Aufklärung vorlegte – „die nächste Runde des Positivismusstreits zu eröffnen“ und in seinem Festschriftbeitrag zum 60. Geburtstag Adornos über Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik „die Tonlage deutlich zu verschärfen“³⁰⁷. In seinem darauffolgenden Schlagabtausch mit dem Popper-Schüler Hans Albert stellte er sich dann „voll und ganz hinter die Position Adornos“³⁰⁸ und rief zu einem dialektischen Denken auf, das „nicht wie der Positivismus in schlichter Negation“ verharre, sondern „die analytisch-empirischen Verfahrensweisen an deren eigenem Anspruch immanent“³⁰⁹ kritisiere. Er mahnte folglich an, dass „dialektisches Denken, solange es sich ernstnimmt, verpflichtet“ sei, „die Auseinandersetzung in der von der Gegenpartei bestimmten Dimension aufzunehmen: von deren eigenen Positionen ausgehend muß es immerhin den erfahrungswissenschaftlichen Rationalismus nach den anerkannten Maßstäben der partiellen Vernunft zu der Einsicht nötigen können, daß die verbindliche Reflexion über ihn selbst als eine Form unvollständiger Rationalisierung hinausdrängt“³¹⁰.

 Dahrendorf, „Ungewißheit, Wissenschaft und Demokratie“, S. 51.  Ebd. S. 53.  Dahms, Positivismusstreit, S. 361.  Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 155.  Ebd.  Habermas, „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“, S. 169.  Ebd. S. 169 f. Zwar steht außer Frage, dass sich Habermas im Verlauf der 60er bis hin zur Publikation von Erkenntnis und Interesse nicht damit begnügte, „lediglich die Diskussion zwi-

1.1 Mit Marx gegen Marx

81

Nicht die Kritische Theorie, sondern der vom Weber’schen Wertfreiheitspostulat dominierte sozialwissenschaftliche Mainstream ging laut Habermas der gesellschaftlichen Totalität – dem „stummen Zwang der Verhältnisse“ – auf den Leim. Deshalb grenzte er von der positivistischen Sozialwissenschaft sein eigenes Ideal einer „kritischen Soziologie“ ab, die „den prätendierten Sinn der bestehenden Einrichtungen beim Wort“³¹¹ nehme: Wenn die kritische Soziologie ohne Anklage und ohne Rechtfertigung zeigt, daß Sekurität um den Preis eines gewachsenen Risikos nicht Sicherheit; Emanzipation um den Preis steigender Reglementierung nicht Freiheit; Prosperität um den Preis der Verdinglichung des Genusses nicht Überfluß ist; dann ist diese wie immer bittere Erfolgskontrolle ihr Beitrag, um die Gesellschaft entgegen dem Huxleyschen Alptraum, entgegen dem Orwellschen Grauen, offenzuhalten. Diese Erfolgskontrolle hätte das dezidiert politische Ziel, unsere Gesellschaft davor zu bewahren, sich unter einem autoritären Regime in eine geschlossene Anstalt zu verwandeln – sogar dann noch, wenn es außer dem schon erreichten gar keinen anderen Erfolg geben sollte.³¹²

Demzufolge war Habermas’ Vorbehalt gegenüber liberalen Popper-Schülern wie Dahrendorf Anfang der 60er noch starken Zweifeln am demokratischen Selbstverständnis der politischen Eliten in der Adenauerrepublik geschuldet, die sich der positivistischen Sozialwissenschaft aus seiner Sicht instrumentalistisch zu bedienen drohten. Nach dieser Lesart gehörte es zu den „vorrangige[n] Aufgabe[n]“ in der bundesrepublikanischen Demokratie, „daß sich überhaupt erst eine politische Öffentlichkeit konstituierte und eine offene Staatsbürgergesellschaft entstand, in welcher sich dann der schwierige Prozeß der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik, der gegenseitigen sprachlichen Vermittlung

schen Popper und Adorno weiterzuführen“; doch geht die Deutung letztlich zu weit, dass er „diese Debatte statt dessen auch als Experimentierfeld“ habe nutzen wollen, „um gleichzeitig mit einer Positivismuskritik seine aus einer ganz anderen philosophischen Tradition als der Kritischen Theorie stammende Lehre von den erkenntnisleitenden Interessen zu erproben und in Ansätzen in die Öffentlichkeit zu tragen“, Dahms, Positivismusstreit, S. 269. Hans-Joachim Dahms’ These, dass Habermas habe mit seiner Theorie von den erkenntnisleitenden Interessen hauptsächlich ein altes Programm seines Bonner Doktorvaters Erich Rothacker wiederaufgelegt, ja dass seine Schriften aus den sechziger Jahren nur „Übergangscharakter“ (ebd. S. 274) auf dem Weg zu seiner kommunikationstheoretischen Wende gehabt hätten, unterschlägt eine simple Tatsache: Habermas hat sich bis Ende der 60er darauf beschränkt, Kritische Theorie als immanente Kritik der bürgerlichen Wissenschaft zu betreiben, ohne damit eigene formalistische Theoriebildungsversuche zu verbinden. Die Abkehr von diesem Paradigma erfolgte letztlich erst nach Adornos Tod, vgl. dazu Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 229  Ebd. S. 230.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

vollziehen müsse“³¹³. Horkheimer hatte bereits Ende der 30er gegen die „traditionelle Theorie“ eingewandt, die Zweckmäßigkeit wissenschaftlicher Forschung hänge „in Wahrheit nicht bloß von der Einfachheit und Folgerichtigkeit des Systems, sondern unter anderem auch von Richtung und Zielen der Forschung ab, die aus ihr selbst weder zu erklären noch gar letztlich einsichtig zu machen sind“³¹⁴. Sein frühbundesrepublikanischer Schüler Habermas erneuerte dieses Diktum, indem er auch Dahrendorf mit dem Vorwurf konfrontierte, sich mit einem „richtungsneutralen Begriff des sozialen Wandels“³¹⁵ zu begnügen. Konkret hielt er noch dessen „geglaubte[m] Rationalismus“ vor, „die Gesellschaft durch das aufgeklärte Bewußtsein ihrer Bürger hindurch auf ein sozialtechnisch korrektes Verhalten“³¹⁶ zu verpflichten. In dieser Zeit stellte Habermas aus ideologiekritischen Motiven aus Prinzip alle Formen einer sozialwissenschaftlichen „Kooperation mit den Planungsbürokratien, die in der Soziologie folgenreicher denn je wirksam werden“³¹⁷ könne, unter Vorbehalt. Zu gefährlich erschien ihm der „modernitätsoffene Konservatismus“³¹⁸ in der frühen Bundesrepublik und das von Schelsky, einem Vorreiter des technokratischen Konservatismus, entwickelte Drohszenario einer „ausschließlich technischen Zivilisation“³¹⁹. Einer solchen Gesellschaft drohte nach Habermas nämlich „die Spaltung des Bewußtseins und die Aufspaltung der Menschen in zwei Klassen – in Sozialingenieure und Insassen geschlossener Anstalten“³²⁰. Einen Ausweg sah Habermas unter diesen Bedingungen allein in einer zwar utopisch angeleiteten, aber mehr denn je auf dem Boden der neuesten Erkenntnisse bürgerlicher Wissenschaft argumentierenden dialektischen Wissenschaftstheorie, die im Gegensatz zu Poppers analytischer Wissenschaftstheorie „auf die Diskrepanz hinweisen“ könne, „die zwischen praktischen Fragen und der Bewältigung technischer Aufgaben klafft, ganz zu schweigen von der Realisierung eines Sinnes, der, weit über die Naturbeherrschung einer noch so gekonnten Manipulation verdinglichter Beziehungen hinaus, die Struktur eines gesellschaftlichen Lebenszusammenhanges im ganzen beträfe, nämlich dessen

       

Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 204. Horkheimer, „Traditionelle und kritische Theorie“, S. 212. Habermas, Theorie und Praxis, S. 223. Ebd. S. 252. Ebd. S. 226. Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 237. Habermas, Theorie und Praxis, S. 257. Ebd.

1.1 Mit Marx gegen Marx

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Emanzipation forderte“³²¹. Dabei meinte sich Habermas von einem falschen Marx distanzieren zu müssen, der „in der Reduktion des Selbsterzeugungsaktes der Menschengattung auf Arbeit“³²² die „Idee der Wissenschaft vom Menschen […] durch die Gleichsetzung der Kritik mit Naturwissenschaft […] desavouiert“ und damit dem „materialistische[n] Szientismus“³²³ Vorschub geleistet habe.³²⁴ Stattdessen glaubte er noch bis in die späten 60er, „daß […] die Theorie der Gesellschaft, unter dem Gesichtspunkt einer Selbstkonstituierung der Gattung im Medium der gesellschaftlichen Arbeit und des Klassenkampfes, nur als Selbstreflexion des erkennenden Bewußtseins möglich“³²⁵ sei. Für seine hegelmarxistische „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“, die „das Mißverständnis einer ontologischen Auslegung des Marxismus“³²⁶ durchschaut habe, gab Habermas folglich die utopische Zielbestimmung einer „Organisation der Gesellschaft auf der ausschließlichen Grundlage herrschaftsfreier Diskussion“³²⁷ vor. Dabei schlug er „zwischen Adornos dialektischem Negativismus, Horkheimers geschichtsphilosophischem Pessimismus und Herbert Marcuses revolutionärem Utopismus“³²⁸ einen für historischen Wandel flexiblen Weg ein. Nach der Erschöpfung des Zeitalters der Christdemokratie sollte er Anfang der 70er schließlich die Chance zur Verwirklichung des demokratischen Sozialismus gekommen sehen, die ihren Ausgangspunkt nicht zuletzt bei einer

 Habermas, „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“, S. 168. Habermas’ Forderung, die Erkenntnisse des gegebenen sozialwissenschaftlichen und -philosophischen Forschungsstands müssten in jedes Programm kritischer Theorie ernsthaft einbezogen werden, zeigte sich insbesondere am Beispiel seiner bildungs- und universitätspolitischen Interventionen, in denen er für einen Typus der „akademischen Bildung“ eintrat, der „nicht länger auf die ethische Dimension der persönlichen Haltung“ eingeschränkt werden könne, sondern „in der politischen Dimension, um die es geht“, nunmehr impliziere, dass „die theoretische Anleitung zum Handeln aus einem wissenschaftlich explizierten Weltverständnis [folgt]“, Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 109.  Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 58.  Ebd. S. 86.  Den Begriff des „Szientismus“ führte Habermas dabei wie folgt ein: „[D]ie Wissenschaftstheorie, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Erbe der Erkenntnistheorie antritt, ist eine im szientistischen Selbstverständnis der Wissenschaften betriebene Methodologie. ‚Szientismus‘ meint den Glauben der Wissenschaft an sich selbst, nämlich die Überzeugung, daß wir Wissenschaft nicht länger als eine Form möglicher Erkenntnis verstehen können, sondern Erkenntnis mit Wissenschaft identifizieren müssen.“, ebd. S. 13.  Ebd. S. 6.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 234.  Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 76.  Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 127.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

grundlegenden „Demokratisierung der Hochschule“³²⁹ nehmen sollte. Dahrendorf gelangte durch seine Rezeption der liberalen politischen Philosophie Karl Poppers, des state of the art des sozialwissenschaftliche Mainstreams und der Hobbes’schen Gesellschaftsvertragstheorie hingegen früh zu der Überzeugung, dass man sich zum Wohle der Freiheit nie über eine Tatsache hinwegtäuschen durfte: Politik würde „immer eine Sache aktiver Minderheiten bleiben“³³⁰. Sein Denken propagierte folglich einen gesellschaftlichen Zustand, in dem zumindest alle Bürger über gleiche Startchancen verfügten, um in den institutionalisierten Wettbewerb um aussichtsreiche Herrschaftspositionen einzutreten.

1.2 Denken von der Gesellschaft her: Herrschaftskritik im ersten Zeitalter der Christdemokratie 1.2.1 Varianten der „skeptischen Generation“: Bundesrepublikaner zwischen Erlösung, Integration und Wettbewerb Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt den Konformismus seiner Eltern im unterfränkischen Würzburg der Nachkriegsjahre als symptomatische Rückkehr der westdeutschen Bevölkerung in eine Welt, „in der Einvernehmen darüber herrschte, dass der eigene bürgerliche Lebensstil durch hohe Mauern vor allem geschützt werden musste, was nach Exzentrik aussah“³³¹. Gumbrecht ist 1948 geboren, gehört also selbst der Protestgeneration der 68er an. Nach deren Urteil war der Eintritt der SPD in eine Große Koalition mit den Unionsparteien in der zweiten Hälfte der 60er nur der letzte Beweis für die politische Versteinerung des Provisoriums Bundesrepublik zu einem „CDU-Staat“³³²: Demzufolge klafften die oppositionsbereinigte Verfassungswirklichkeit und der liberaldemokratische Verfassungsanspruch im latenten westdeutschen Klassenstaat weit auseinander. Die Mehrheit des Wahlvolks vertraute in der frühen Bundesrepublik lange Zeit tatsächlich nahezu blind auf den paternalistischen Politikstil des christdemokratischen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der im Windschatten des westdeutschen Wirtschaftswunders „keine Experimente“ wagte, bevor Ludwig Erhard, sein glückloser Nachfolger im Kanzleramt, Mitte der 60er gar von einer alle Partikularinteressen überwindenden „formierten Gesellschaft“ träumte. Die 68er  Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 146.  Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 81.  Gumbrecht, Nach 1945, S. 30.  Vgl. zu dieser anklagenden Formel die Beiträge in Schäfer/Nedelmann (Hrsg.), Der CDUStaat.

1.2 Denken von der Gesellschaft her

85

haben ihre berechtigte Kritik, wie Peter Graf Kielmansegg formuliert, schließlich jedoch zu einem „Bild einer Republik“ dramatisiert, „die sich in ihrer politischen Praxis immer noch in einem braunen Halbschatten bewegt; einer Republik, die ihre eigene Verfassung nicht ernst nimmt; einer Republik, in der die ‚Herrschenden‘ amoralische und lächerliche Figuren sind“³³³. Die Bundesrepublik hatte jedoch bereits eine beeindruckende Phase gesellschaftlicher Liberalisierung durchlaufen, als die studentische Protestwelle über die USA, Westeuropa und in Teilen auch über den kommunistischen Osten hereinbrach. Als Nachzügler der 45er-Generation gelten die beiden 29er Dahrendorf und Habermas rückblickend als zwei Vorreiter dieser Entwicklung, die bereits in den späten 50ern einsetzte und Mitte der 60er auf ihren Höhepunkt zusteuerte: Beide stellten die Frage nach der Demokratie in Deutschland und gaben sich nicht damit zufrieden, dass nach der formalen Geltung des Grundgesetzes die parlamentarische Demokratie einigermaßen stabil funktionierte. Stattdessen problematisierten sie deren gesellschaftliche und kulturelle Voraussetzungen mit der Absicht, dem Übergang von einer etablierten Regierungsform zu einer gelebten gesellschaftlichen Praxis vorzuarbeiten.³³⁴

Im Zentrum von Dahrendorfs und Habermas’ Interesse standen laut Jens Hacke folglich „das Problem der Entfremdung des Einzelnen in der modernen Gesellschaft und die damit verbundene Distanz zur Politik“³³⁵. Als nach der gelungenen wirtschaftlichen Konsolidierung der Bundesrepublik vermehrt „die Zukunft ins Blickfeld politischen Denkens und Handelns geriet“³³⁶, profitierten sie dabei auch von einer ausdifferenzierten politischen Magazinkultur und Tages- und Wochenpresse. Im Medium des geschriebenen Wortes eröffneten sich den beiden ungleichen Weggefährten zahlreiche Gelegenheiten für genauso beherzte wie polemische Absetzbewegungen von ihren zumeist konservativen Gegenspielern. Bereits Anfang der 50er sicherte die denkwürdige Abrechnung mit Martin Heidegger dem jungen journalistischen Berufsschreiber Habermas die Aufmerksamkeit der linken Professoren Adorno und Abendroth. Die gekonnte Selbstinszenierung des liberalen Paradeintellektuellen und politischen Quereinsteigers Dahrendorf bei einer Diskussion mit dem Studentenführer Rudi Dutschke auf einem Autodach erbrachte schließlich sogar den Fernsehbeweis, dass sein „Wunsch nach Wirkung“³³⁷ in Erfüllung gegangen war. Dahrendorf und Habermas

    

Kielmansegg, Das geteilte Land, S. 646. Hacke, „‚Mehr Demokratie wagen‘“, S. 9. Ebd. Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 45. Meifort, Der Wunsch nach Wirkung.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

ritten in den 50ern und 60ern, den beiden goldenen Nachkriegsjahrzehnten, demnach auf einer historisch einmaligen publizistischen Welle zum Erfolg. Eine der wichtigsten intellektuellengeschichtlichen Voraussetzungen für die gelungene Demokratisierung der frühen Bundesrepublik war unbestritten die merkliche Abschwächung der alten Weimarer Frontstellung zwischen Rechts und Links: „[S]o wie […] die konservative Kulturkritik die Kategorien von Volk und Geschichtlichkeit [verlor], konnten sich […] die Linken nicht mehr ohne Vorbehalt auf die Vernunft und Zukunft bzw. den Fortschritt berufen. Zum Subjekt der Geschichte wurde nun, da weder das Volk noch das Proletariat diese Rolle weiter spielen konnten, die Industriegesellschaft.“³³⁸ Statt einer existentialistischen Konfrontation zwischen einander feindlich gesinnten Lagern bildete sich in Westdeutschland demzufolge bereits in den 50ern ein „ideeller Grundkonsens“ heraus: Industrielle Gesellschaft, kapitalistische Wirtschaftsordnung, hoher Stand der Technik mit weiteren anzustrebenden Innovationen – also das, was man als ‚technischen Fortschritt‘ begriff –, gleichzeitig Sicherheit, individuelle Freiheit und Ausgleich unerwünschter sozialer Folgen des fortschreitenden Individualisierungs-, des Modernisierungsprozesses durch einen stetig weiter zu entwickelnden Sozialstaat: Das waren die Pfeiler, auf denen dieser Konsens beruhte.³³⁹

Doch es käme einem quasi-geschichtsphilosophischen Irrtum gleich, diesen Konsens, der in der Godesberger Wende der SPD seine Entsprechung fand, auch auf der intellektuellen Reflexionsebene anzusiedeln. Entgegen der Diagnose des US-amerikanischen Soziologen Daniel Bell, der bereits 1960 das „Ende der Ideologien“ und eine „Erschöpfung der politischen Ideen“³⁴⁰ ausrief, bestimmten die politischen Trennlinien des 19. Jahrhunderts zwischen Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus unterschwellig weiterhin das intellektuelle Klima auch der frühen Bundesrepublik.³⁴¹ Zwar fügten sich die sozialwissenschaftlichen

 Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 69.  Ebd.  Bell, The End of Ideology.  Um der wiederkehrenden These von der Obsolenz des Links-Rechts-Schemas etwas entgegenzusetzen, wäre es durchaus lohnenswert, einmal die These zu untersuchen, ob die etablierte Triade der politischen Selbst- und Fremdbeschreibung (Liberalismus – Konservatismus – Sozialismus) seit Französischen Revolution nicht mehr oder weniger durchgehend den europäischen politischen Diskurs bis in die Gegenwart beherrscht, ja vielleicht immer nur phasenweise in die Latenz verschoben werden konnte, um in Abhängigkeit von intellektuellen Konjunkturen oder handfesten politischen Krisen dann umso manifester wieder hervorzutreten. Dagegen hat Gabriele Metzler ein wenig vorschnell geschrieben: „[V]on Ideologien konnte in der westdeutschen Politik seit dem Bestehen der Bundesrepublik keine Rede mehr sein – wenn man allein die tra-

1.2 Denken von der Gesellschaft her

87

Debatten hier immer stärker auch in transnationale Kontexte ein.³⁴² Dennoch bewegten sich ein liberaler Demokrat wie Dahrendorf und ein demokratischer Sozialist wie Habermas in den 50ern und 60ern zuvörderst auf einem spezifisch deutschen Kampfplatz der Ideen, wo sich konservative Antidemokraten aus den Reihen der Schmitt-Schule und des technokratischen Konservatismus zu den vermeintlichen Bewahrern einer traditionellen bürgerlichen Sittlichkeit und zu den Erneuerern einer staatszentrierten deutschen Ideologie gewandelt hatten.³⁴³ Gegen deren „Orientierung an Nation, Volk und starkem Staat, an Autorität und patriarchalischer Struktur“, die sich „besonders ausgeprägt in der Altersgruppe der zwischen Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg Geborenen [fand]“, brachten sich in der Spätphase der Adenauer-Ära zunehmend „die um 1930 Geborenen“, allen voran Dahrendorf und Habermas, in Stellung, die den Nationalsozialismus noch unmittelbar erfahren hatten, aber bei Kriegsende jung genug waren, um sich politisch neu orientieren zu können. Seit den frühen sechziger Jahren rückten sie in oftmals sehr jungem Alter in Führungsfunktionen ein, welche die prosperierende Bundesrepublik in so reichem Maße bot und die sie über Jahrzehnte, zum Teil bis zum Ende des 20. Jahrhunderts beibehielten. Die in den Jahren um 1960 aufkommende Kritik an den demokratischen Defiziten, an überkommenen Normen und Werthaltungen ging vor allem von ihnen aus und war verbunden mit einer betont nüchternen und praktischen Orientierung. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung sowohl der politischen wie intellektuellen Erbschaft des NS-Regimes als auch der Frontreihen des Kalten Krieges sowie eine im

ditionellen ‚Großideologien‘, also die geistigen Grundströmungen des Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus in den Blick nimmt. Die (angestrebte) Transformation der überkommenen Weltanschauungs- und Milieuparteien in Volksparteien, in der Terminologie Kirchheimers ‚Allerweltsparteien‘, die nach dem Krieg einsetzte und bis Ende der fünfziger Jahre zum Durchbruch gelangt war, ließ für die ‚klassischen Ideologien keinen Raum mehr‘.“, Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 219.  Dafür dürfte der theoriepolitische Angriff unserer unwahrscheinlichen Weggefährten Dahrendorf und Habermas auf den sozialwissenschaftlichen Funktionalismus beispielhaft gewesen sein.  Ulrich Herbert dazu erhellend: „Solche Beschwörungen traditioneller Bürgerlichkeit, die mit autoritären Staatsvorstellungen und Visionen der Bändigung und Organisation der ‚Massen‘ einhergingen und deren Bezug auf das ‚konkrete Ordnungsdenken‘ der Jahrzehnte zuvor unübersehbar ist, blieben bis in die sechziger und frühen siebziger Jahre virulent und bildeten die Ansatzpunkte konservativer Gesellschaftskritik. Sie deuteten den Nationalsozialismus wie den Kommunismus als Varianten der Massengesellschaft und somit als Betätigung der kulturpessimistischen Befürchtungen in Deutschland seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Politisch bildeten sie die argumentative Grundlage für die Befürwortung eines autoritären Modells von Gesellschaft und Staat und gegen Versuche der Ausweitung der institutionalisierten Demokratie zu einer breiteren gesellschaftlichen Partizipation. Kulturell richtete sich diese Denkfigur vor allem gegen die Durchsetzung liberaler Konzepte im Bereich von Familie, Erziehung und privater Lebensführung.“, Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 693 f.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

Grundsatz positive, aber keineswegs unkritische Grundhaltung gegenüber der westdeutschen Demokratie.³⁴⁴

Die Auseinandersetzung zwischen den jüngeren Demokratisierungsagenten und ihren oftmals älteren konservativen Antipoden wurde maßgeblich durch zwei ineinander verschlungene historische Kontextbedingungen geprägt, die im Nachhinein als Schattenseiten der rasanten wirtschaftlichen Konsolidierung der Bundesrepublik gelten müssen: einerseits die gezielte Verschleppung der vergangenheitspolitischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen, insbesondere mit dem Massenmord an den europäischen Juden, die nach Adenauers Amnestiegesetzen von 1949 und 1954 schließlich erst Anfang der 60er im Zuge des Eichmann-Prozesses in Jerusalem und durch die Frankfurter Auschwitzprozesse Fahrt aufnahm; andererseits den sich zuspitzenden Kalten Krieg zwischen den beiden Supermächten und den damit einhergehenden innenpolitischen Antikommunismus, in dessen Windschatten eine Reihe von konservativen Intellektuellen überhaupt erst zu Hochform auflaufen konnte. Die Dahrendorf-Biografin Franziska Meifort betont etwa zu Recht, der liberale Missionar Dahrendorf habe sich innerhalb der bundesrepublikanischen Soziologenzunft gezielt „die Generation der älteren Soziologen“ – mit Blick auf den bundesrepublikanischen Debattenkontext sei hinzugefügt: vor allem Helmut Schelsky – ausgesucht, „gegen die er sich abzugrenzen versuchte“³⁴⁵. Autoren wie Schelsky oder Carl Schmitt waren aber nicht nur die perfekten Zielscheiben, sondern fungierten wegen ihrer unbestreitbaren intellektuellen Brillanz auch als intellektuelle Stichwortgeber ihrer jungen Kritiker. Während der Linke Habermas vor allem den dezisionistischen Etatismus Schmitts, der in den Schriften seiner bundesrepublikanischen Schüler als rechtsstaatliche Abwehrhaltung gegen den Ausbau des Sozialstaats und diskursive Eindämmung der demokratischen Öffentlichkeit wiederaufflackerte, ins Visier nahm, hatte es der Liberale Dahrendorf vor allem auf einen bis zu Hegel und ins Kaiserreich zurückreichenden, typisch deutschen Staatsaberglauben und eine damit einhergehende Harmonie- und Wahrheitssehnsucht der Deutschen abgesehen, die in den soziologischen Zeitdiagnosen Schelskys symptomatisch zum Ausdruck kam. Damit zogen die beiden ungleichen Weggefährten gemeinsam gegen ein Denken zu Felde, das einen vermeintlich über allen Partikularinteressen stehenden Staat als pouvoir neutre gegen jeden legitimen demokratischen Einspruch aus der Gesellschaft zu immunisieren versuchte. Um eine Formel Frieder Günthers

 Ebd. S. 763 f.  Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 72.

1.2 Denken von der Gesellschaft her

89

zu wenden: Dachte der frühbundesrepublikanische Konservatismus weiterhin „vom Staat her“³⁴⁶, um auf diese Weise – ob gewollt oder ungewollt – letztlich Adenauers autoritäres Institutionenverständnis zu flankieren, dachten Dahrendorf und Habermas dezidiert von der Gesellschaft her.³⁴⁷ Obwohl die jungen Gesellschaftsdenker die Auseinandersetzung in einem politischen Klima aufnahmen, das Ende der 50er von absoluten Mehrheiten für die Unionsparteien geprägt war, gerieten die Konservativen im Feld der intellektuellen Deutungskämpfe jedoch bald in die Defensive. Folglich bekamen die Gesellschaftsdenker bis Mitte der 60er Oberwasser, indem das gerade in Deutschland nachhaltig wirkungsmächtige Pathos der Entscheidung, wie es bei Ernst Jünger im Begriff des ‚Kampfes‘, bei Carl Schmitt als ‚Entscheidung‘ und bei Martin Heidegger als ‚Entschlossenheit‘ zum Ausdruck gebracht worden war, erkennbar abgelöst wurde durch den Vorrang der Diskussion. Da sich solcher Dezisionismus nicht primär gegen die Romantik gerichtet hatte, wie Schmitt selbst behauptet hatte, sondern vielmehr gegen den Parlamentarismus und das angelsächsische Demokratieverständnis, kam dem diskursiven Umschwung als geistes- und ideengeschichtlichem Phänomen enorme politische Bedeutung zu; in ihm fand der Prozeß der Verwestlichung der Bundesrepublik einen weiteren Ausdruck.³⁴⁸

Vor diesem Hintergrund konnten Dahrendorf und Habermas „mögliche Alternativen zur Kanzlerdemokratie Adenauerscher Prägung formulieren, ohne daß man damit dem Vorwurf Nahrung gab, man würde den Bestand der Bundesrepublik in Frage stellen“³⁴⁹. Der Graben zwischen dem angelsächsisch inspirierten Liberalen und dem kontinental geprägten demokratischen Sozialisten erwies sich vor allem angesichts des konservativen, auf Staat und Autorität fokussierten Gegners als überwindbar: „Daran mitzuwirken, die Demokratie in einem neu zu schaffenden Deutschland zu stabilisieren, war das Motiv, bei Habermas ebenso wie […] bei […] Dahrendorf. Dahinter stand die Furcht vor einem möglichen Rückfall in faschistische Mentalitäten […].“³⁵⁰ Mit dieser Angst verband sich früh der Wille, die politische Öffentlichkeit als Sphäre scharfer politischer Auseinandersetzungen zu nutzen, um einem dynamischen Demokratie- und Gesellschaftsverständnis Geltung zu verschaffen. Über  Günther, Denken vom Staat her.  Dazu Metzler: „Fokussierten die einen ihr Politikverständnis vornehmlich auf die Gesellschaft, so waren die anderen auf den Staat fixiert, der obendrein als eine von der Gesellschaft getrennte und abgehobene Sphäre verstanden wurde.“, Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 224.  Ebd. S. 203.  Ebd. S. 225.  Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 48.

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politische Alternativen musste nach Dahrendorf und Habermas einschränkungslos gestritten werden können.³⁵¹ Eine paradoxe Formel für diese Haltung könnte lauten: In der liberalen Demokratie muss es rauchen, damit es nicht zu brennen anfängt! Eine „unpolitische Demokratie“³⁵² hatte demzufolge ihren Namen nicht verdient. Ob sich das, was man als Öffentlichkeit verstand, dabei auf einige wenige Aktive beschränkte (Dahrendorf) oder gleich radikaldemokratische Ausmaße annehmen sollte (Habermas), war letztlich nicht entscheidend. Dass sich das Staatsbürgerpublikum damit begnügte, nur alle paar Jahre brav an die Wahlurnen zu pilgern und das Kreuz an der ewiggleichen Stelle zu machen, um das politische Geschäft den konservativen Berufspolitikern zu überlassen, widersprach jedenfalls sowohl Dahrendorfs als auch Habermas’ demokratietheoretischer Grundüberzeugung. Die Haltung, mit der Stefan Müller-Doohm Habermas’ politischen Interventionismus umschrieben hat, trifft deshalb auch auf Dahrendorf zu: „dass Politik keine Sonderzone der Gesellschaft ist, von der sich der Wissenschaftler am besten fernhält, um sich nicht die Finger schmutzig zu machen. Anstatt ihr mit Spott, Verachtung oder Abscheu zu begegnen“, sollten Habermas und Dahrendorf „die Politik und ihre demokratisch legitimierten Gestaltungsräume ernst nehmen, sich ihrer via ‚Einmischung‘ bedienen, um auf diese Weise Einstellungen zu beeinflussen und Veränderungen zu bewirken. Das ist nicht die Haltung eines Revolutionärs, sondern die eines – Reformers“³⁵³. Wenngleich die Differenzen zwischen dem liberalen Marktwirtschaftler und dem linken Kapitalismuskritiker dabei nicht aus der Welt zu schaffen waren, verfolgten beide am Ende doch ein gemeinsames Demokratisierungsprojekt: Während Dahrendorf den Umgang mit Konflikten in den Mittelpunkt rückte, stand für Habermas die politische Beteiligung im Zentrum.Während Dahrendorf das Haupthindernis auf dem Weg der Demokratisierung in autoritären und traditionalen Verhaltensmustern sah, argumentierte Habermas gegen die verschleierten Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft. Während Dahrendorf in seiner Analyse einzelne Felder der bundesrepublikanischen Gesellschaft genauer ins Auge faßte und der sozialen Pluralität durch differenzierte Antworten für mehr Mitsprache und Mitbestimmung Rechnung tragen wollte, setzte Habermas auf das einheitliche Prinzip von Öffentlichkeit und demokratischer Kontrolle in allen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen. Entscheidender als diese Unterschiede ist

 Insofern müssen Dahrendorf und Habermas als zwei exemplarische Antipoden einer politischen Rhetorik der Alternativlosigkeit gelten, vgl. zu diesem Politikmodus auch Séville, ‚There is no alternative‘; dies., Der Sound der Macht.  Zu diesem demokratietheoretischen Schreckensszenario vgl. zuletzt wieder Michelsen/ Walter, Unpolitische Demokratie.  Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 163.

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aber, daß ihre Positionen in deutlichem Kontrast zur zeitgenössischen Mehrheitsmeinung standen, nach der die Demokratie eng auf die staatlichen Institutionen und Verfahren beschränkt blieb. Insofern bildeten die unterschiedlichen, aber doch gleichgerichteten Positionen von Dahrendorf und Habermas zwei Eckpunkte im nun an Breite gewinnenden Demokratiediskurs.³⁵⁴

Allein der Vergleich zwischen den beiden unwahrscheinlichen Weggefährten Dahrendorf und Habermas legt jedoch bereits den Schluss nahe, dass durch die von Schelsky vorschnell als solche vereinheitlichte „skeptische Generation“³⁵⁵ ein Riss ging, der liberalkonservative, radikalliberal gesinnte und sozialistische Bundesrepublikaner voneinander trennte. Christina von Hodenberg kommt diesem Phänomen bereits recht nahe, wenn sie schreibt: Während die […] Reformer [wie Dahrendorf und Habermas] für einen radikalen Neubeginn votierten, für eine öffentliche Sphäre der direkten Partizipation, traten die Gemäßigten für allmähliche Veränderung und eine mit repräsentativen Elementen durchsetzte Öffentlichkeit ein. Beide Lager distanzierten sich von der apolitischen Haltung der ‚Wilhelminer‘, aber auch vom utopisch-revolutionären Zugang der ‚68er‘ zur Politik. Damit verglichen, war das Anliegen der ‚45er‘ nüchtern: die Neubewertung deutscher Kulturmuster zugunsten der Stabilisierung der Demokratie in Westdeutschland.³⁵⁶

Diese Binnendifferenzierung zwischen „Reformern“ und „Gemäßigten“ ist letztlich eine Antwort auf die – wie von Hodenberg an anderer Stelle präzisiert – unübersichtliche Forschungslage. Hier taucht die Generation „unter verschiedenen Namen“ und mit verschiedenen gesellschaftspolitischen Intentionen auf: als ‚Flakhelfergeneration‘, ‚HJ-Generation‘, ‚skeptische‘ oder ‚45er‘-Generation. […] In Kindheit und Jugend noch vom Nationalsozialismus beeinflußt, erfuhren die Betroffenen Niederlage und Neuanfang 1945 als Desillusionierung und tiefgreifenden Umbruch. Die Geister scheiden sich jedoch an der Frage, welche politische Grundhaltung und damit welcher Beitrag für die Entwicklung Westdeutschlands dieser Altersgruppe zuzuschreiben sei. Als Helmut Schelsky 1957 die ‚skeptische Generation‘ erstmals zu ergründen suchte, hob er als Charakteristika das Unpolitische und die Anpassungsbereitschaft, die Suche nach Sicherheit und die Abkehr von revolutionären Ideologien hervor. Im Gegensatz dazu taucht dieselbe Generation in neueren Untersuchungen als Vorreiter der Verwestlichung und gesellschaftlichen Demokratisierung auf.³⁵⁷

   

Scheibe, „Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft“, S. 258. Schelsky, Die skeptische Generation. Hodenberg, Konsens und Krise, S. 85 f. Ebd. S. 42.

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Stephan Schlak unterscheidet in seiner Biografie über Wilhelm Hennis deshalb präziser zwischen den „Neunundzwanziger[n], die den Krieg an der Heimatfront und an der Flak überlebten und später mit Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf und Hans Magnus Enzensberger die eigentlichen Stichwortgeber und intellektuellen Repräsentanten der Bundesrepublik stellen sollten“³⁵⁸, und den durch Fronterfahrung und Kriegsgefangenschaft gezeichneten älteren „Dreiundzwanzigern“³⁵⁹ wie Hennis oder Reinhart Koselleck. Folgt man darüber hinaus der luziden Typologie von A. Dirk Moses, vertrat der 29er Habermas in der frühen Bundesrepublik einen utopisch aufgeladenen „Erlösungsrepublikanismus“ („redemptive republicanism“), „to rescue the universalistic dimension embodied in the German Enligthenment in order to purge the country’s traditions of its fascist dimensions“³⁶⁰. Mit diesem intellektuellen Projekt habe er sich etwa klar vom „integrativen Republikanismus“ („integrative republicanism“) des sechs Jahre älteren Hennis abgesetzt, dessen „liberal-conservative illusion“ laut Moses darin bestand, „to base the new republic on German continuities that others regarded as polluted and stigmatized“³⁶¹. Um das Bild zu komplettieren, müsste man im Hinblick auf den 29er Dahrendorf vom Vertreter eines im Vergleich zur Habermas’schen Position nicht minder utopischen angelsächsischen Wettbewerbsrepublikanismus sprechen, der die Deutschen auf das Marktprinzip verpflichten und ihnen ihre traditionelle Konfliktunfähigkeit austreiben wollte. Gegen Kriegsende war Habermas zwar noch „als Sanitäter ausgebildet worden“, hatte zuvor aber – anders als Hennis und Koselleck – „nicht direkt an Kampfhandlungen teilnehmen“³⁶² müssen. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches zeigte er sich über das tatsächliche Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen derart schockiert, dass er kurzerhand die Haltung eines „nichtdeutschen Deutschen“ („Non German German“) annahm. Damit bekannte sich Habermas schon sehr früh zu einem über die formalen Institutionen des liberalen Rechtsstaats hinausweisenden kantischen Erlösungsrepublikanismus, dessen egalitaristische Konsequenzen er im Zuge seiner späteren liberalen Wende

 Schlak, Wilhelm Hennis, S. 23. Mit einem erweiterten sozialstrukturellen Zuschnitt hat sich Heinz Bude in einem ganzen Buch mit den „Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation“ beschäftigt und damit Pionierarbeit auf dem Feld der Generationenforschung geleistet, vgl. Bude, Deutsche Karrieren; vgl. ebenso für die Generation der 68er Bude, Das Altern einer Generation.  Ebd. S. 22 f.  Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, S. 124.  Ebd. S. 104.  Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 44.

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paradoxerweise desto mehr relativierte, je penibler er ihn diskursphilosophisch ausbuchstabierte. Ein zentraler Aspekt seines intellektuellen Selbstverständnisses bestand dabei von Anbeginn in der Verpflichtung auf eine „utopisch-gesellschaftskritische Tradition deutschen Denkens“³⁶³, die ihm vor seiner Frankfurter Zeit zunächst noch unbekannt gewesen war. Diese „deutschjüdische Tradition“ müssten „wir heute um unseretwillen“ finden, bemerkte Habermas Anfang der 60er, wenn es sie nicht bereits gäbe: „[W]eil wir aber deren leibhafte Träger getötet oder gebrochen haben; und weil wir soeben dabei sind, im Klima einer unverbindlichen Versöhnlichkeit alles vergeben und auch vergessen sein zu lassen (um so zu erreichen, was Antisemitismus nicht besser erreichen könnte); nötigt uns nun geschichtliche Ironie, die Judenfrage ohne Juden doch wiederaufzunehmen.“³⁶⁴ Für den ehemaligen Wehrmachtsgefreiten an der Ostfront und „deutschen Deutschen“ („German German“) Koselleck gestaltete sich ein solch abrupter Rollenwechsel hingegen schon bei seinem Besuch des Konzentrationslagers in Ausschwitz, den er als sowjetischer Kriegsgefangener obligatorisch hatte absolvieren müssen, sehr viel schwieriger.³⁶⁵ Anders als der 29er Habermas erwarteten die 23er Koselleck und Hennis vom neuen westdeutschen Staat folglich in allererster Linie Ruhe, Ordnung und Stabilität, ganz sicher aber keine Erlösung. Ein „doppelt gebranntes Kind des Totalitarismus“³⁶⁶ wie Dahrendorf hatte demgegenüber weder für überbordendes Stabilitäts- noch für sozialistisches Erlösungsdenken allzu viel übrig. Als Schüler hatte er wegen der Verteilung regimekritischer Flugblätter gegen Kriegsende noch zehn Tage in Berliner GestapoHaft verbringen müssen. Im Unterschied zu seinem Altersgenossen Habermas sah er sich gar nicht erst dazu verpflichtet, eine von den Nazis verfolgte Tradition deutsch-jüdischen Denkens wieder in ihr Recht zu setzen, betrachtete er sich doch selbst als Widerstandskämpfer. Dieses Eigenbild erhielt dadurch Nahrung, dass sich schon Dahrendorfs Vater Gustav, bis 1933 sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, im Dunstkreis der Widerstandsgruppe des 20. Juli aufgehalten hatte und deshalb im Dritten Reich zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.

 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 605.  Habermas, „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“, S. 64.  Dazu Moses: „He did not attribute the Holocaust to overreaching German ambition, nor did he identify or empathize with the victims to the exclusion of his own suffering and that of his comrades. He certainly recognized the enormities that Germans had inflicted, but they did not disturb his national loyalty, and he was able to repress the news of the massacre of Babi Yar in order to carry out his duties in good conscience, as he admitted in retrospect.“, Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, S. 109.  Hierbei handelt es sich um eine Selbstbezeichnung, zit. nach Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 40.

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Mit anderen Worten: Der Sohn glaubte vor seinem Gewissen nichts wiedergutmachen zu müssen, sondern hielt es nach 1945 vielmehr für selbstverständlich, die familiäre Widerstandstradition auf intellektueller Ebene fortzuschreiben und sich zum entschiedenen Gegner einer durch die nationalsozialistischen Schreckensherrschaft endgültig kompromittierten deutschkonservativen Tradition aufzuschwingen. Wenn man dieses anti-totalitäre biografische Begründungsmuster noch weiterspannen möchte, lässt sich daraus auch Dahrendorfs Unwillen zur Selbstverortung auf der Linken ableiten. Denn durch die Weigerung seines Vaters, nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zu akzeptieren, war die Familie ins Fadenkreuz der Sowjets geraten.³⁶⁷ Nachdem den Dahrendorfs durch die Unterstützung von „britischen und amerikanischen Freunde[n] unter den Besatzungsoffizieren“³⁶⁸ schließlich die Flucht in die britische Besatzungszone nach Hamburg gelungen war, wurde der Jugendliche Ralf bald auf eine erste Abenteuer- und intellektuelle Formierungsreise nach England geschickt.³⁶⁹ Diese Erfahrung sollte sein späteres Wirken als öffentlicher Intellektueller in der Bundesrepublik vielleicht mehr als alles andere nachhaltig prägen – mehr jedenfalls als sein kurzes Intermezzo im SDS während seiner Hamburger Studienzeit, als ihm bereits das autoritäre Auftreten des damaligen Vorsitzenden und ehemaligen Wehrmachtsoffiziers Helmut Schmidt aufstieß. Habermas sah sich selbst hingegen sehr viel stärker in den deutschen Schuldzusammenhang verstrickt. Als intellektuelle Haltung kam für ihn nach Auschwitz nur noch die „Distanziertheit eines ursprünglich fremden Blicks“ infrage, mit dem die einseitige Erfolgsgeschichte des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders kritisch hinterfragt werden müsse: „Wie dem Emigranten, der nach langer Zeit heimkehrt, das einst Vertraute nackter vor Augen steht; so ist auch dem Assimilierten eine besondere Scharfsichtigkeit eigen: ihm fehlt die

 Über diese Zeit schrieb Dahrendorf rückblickend: „Ich stand damals kurz vor dem Abitur. Eines Tages Ende 1945 erwarteten mich zwei verdächtig unverdächtige Gestalten vor der Schule. Auf dem Weg nach Hause suchten sie mich zu überreden, für sie Spitzeldienste zu leisten, in der Schule, dann aber vor allem zu Hause, gegen meinen Vater. Ich war erst sechzehn, aber schon gebranntes Kind. Fast identisch war das erste Gespräch mit den Gestapoleuten gewesen, die mich ein Jahr zuvor in Waldsieversdorf in der Märkischen Schweiz von der Schule abgeholt hatten. Nur ein Jahr! Beim zweiten Mal fiel es mir noch leichter als beim ersten, das Ansinnen abzuweisen. Aber Kommunisten sind für mich seitdem mit dem Bösen verbunden.“, Dahrendorf, Europäisches Tagebuch, S. 109.  Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 40.  Im Alter von achtzehn Jahren durfte er dort wie auch in der Heimat, wo er mit britischen Mentoren wie dem lebenslangen Freund Noel Annan Umgang pflegte, früh Bekanntschaft mit der angelsächsischen Debattenkultur machen, vgl. dazu auch ebd. S. 43.

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Intimität mit jenen kulturellen Selbstverständlichkeiten, die, zum Material seiner Aneignung erkaltet, ihre Strukturen um so unverhohlener preisgeben.“³⁷⁰ Für dieses intellektuelle Selbstverständnis standen seine Frankfurter Mentoren Horkheimer und Adorno, vor allem aber der Anfang der 40er auf seiner Flucht vor der SS in Port Bou in Südfrankreich tragisch ums Leben gekommene Walter Benjamin Pate, der in seinen Schriften wie kein zweiter daran erinnert habe, „daß sich die Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Anbeginn hat, dem Ausdruck des Symbols und der Harmonie der klassischen Gestalt verschließt“: dass „Weltgeschichte“ letztlich „Leidensgeschichte“³⁷¹ ist. Auf dass sich die Geschichte nicht wiederholen mochte, grenzte sich Habermas in aller Konsequenz von jenen konservativen Antidemokraten ab, die es sich in der frühen Bundesrepublik wieder bequem zu machen schienen. In ihren Schriften habe „sich die tiefe Zwiespältigkeit“ enthüllt, „die, als Gefahr der Barbarei für alle, den dunklen Grund des deutschen Geistes so unheimlich färbte – Ernst Jünger, Martin Heidegger, Carl Schmitt sind Repräsentanten dieses Geistes in seiner Größe, aber eben auch seiner Gefährlichkeit: daß sie 1930, 1933 und 1936 so gesprochen haben, ist kein Zufall“³⁷².

1.2.2. Habermas’ Suche nach der demokratischen Öffentlichkeit in Adenauers Kanzlerdemokratie Das Plettenberger Gespenst als idealer Gegner Gegen Ende seines Bonner Philosophiestudiums, in dem er Heidegger lange Zeit bewundert hatte, opponierte Habermas in der FAZ in scharfem Ton gegen die unkommentierte Veröffentlichung der Freiburger Vorlesung Heideggers über Die Einführung in die Metaphysik aus dem Jahr 1935.Wo Heidegger „heute von Hut, von Andenken, von Wächterschaft, von Huld, von Liebe, von Vernehmen, von Ergeben“ schreibe, sei „1935 die Gewalttat gefordert“ worden, „während Heidegger noch acht Jahre vorher die quasi-religiöse Entscheidung der privaten, auf sich vereinzelten Existenz […] als die endliche Autonomie inmitten des Nichts der entgötterten Welt“³⁷³ gepriesen habe. Demnach habe sich Heideggers Appell „mindestens zweimal, entsprechend der politischen Situation, verfärbt, während die Denkfigur des Ausrufs zur Eigentlichkeit und der Polemik gegen die Verfal-

   

Habermas, „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“, S. 46. Ebd. S. 54. Ebd. S. 63. Habermas, „Mit Heidegger gegen Heidegger denken“, S. 70.

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lenheit stabil“ geblieben sei; der unkommentiert wiederveröffentlichte Text seiner Vorlesung von 1935 desmaskiere einerseits „schonungslos die faschistische Färbung jener Zeit“, sei andererseits aber nicht nur den historischen Bedingungen geschuldet gewesen, sondern ergebe sich „aus dem Zusammenhang der Sache“³⁷⁴ – dem später von Adorno so eindrucksvoll kritisierten Jargon der Eigentlichkeit Heideggers. Heideggers Interpretation der abendländischen Geschichte als „Degenerationsprozess“ und „fortschreitende[ ] Seinsvergessenheit“ musste laut Habermas also zwangsläufig in der fatalen Überzeugung Ausdruck finden, „gegen das Motiv der geschichtlichen Auserwähltheit des deutschen Volkes“³⁷⁵ sei kein kosmopolitisches Kraut gewachsen. Gleichzeitig wandte er gegen Heideggers antiliberale Gleichsetzung der Subjektphilosophie seit Descartes mit dem bloß rechnerischen Intellekt einer kulturlosen westlichen Zivilisation aber noch viel grundsätzlicher ein, dass dadurch die „dialektische Plastizität der neuzeitlichen Entwicklung“ systematisch verzerrt werde: „eine Dialektik“, wie Habermas präzisierte, „die jenem durch Vergegenständlichung auf Beherrschung abzielenden Denken seine schöpferische Legitimation gibt und somit vor einseitiger Identifikation mit dem durchschnittlichen Meinen bewahrt“³⁷⁶. Im Zentrum der Habermas’schen Kritik stand folglich Heideggers „seinsgeschichtlich sanktionierte Ausschaltung der Idee der Gleichheit aller vor Gott und der Freiheit eines jeden und des praktischrationalistischen Korrektivs des technischen Fortschritts“³⁷⁷. Mit seinem Arbeitsantritt am Frankfurter IfS verlagerte Habermas sein intellektuelles Interesse in der zweiten Hälfte der 50er jedoch immer stärker auf demokratietheoretische Fragen. Seine ersten diesbezüglichen Gehversuche „schienen, gerade dank eines unbefangenen, wenn auch nicht naiven Umgangs mit den Wissenschaften Ernst zu machen mit dem Programm einer materialen Theorie der Gesellschaft – ihrerseits vom utopisch-messianischen Denken der Kritischen Theorie inspiriert zu einem radikaldemokratischen Denken“³⁷⁸. Bereits in seinem Einleitungstext Zum Begriff politischer Beteiligung, den er zu der Frankfurter Gemeinschaftsstudie Student und Politik beisteuerte, kam ein ambitioniertes normatives Demokratieverständnis zum Vorschein, „hinter dem ein radikal antika-

 Ebd.  Ebd. S. 71.  Ebd.  Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 600. Habermas‘ Kritik richtete sich folglich ganz grundsätzlich gegen Heideggers opportunistisch anwendbare Fundamentalontologie, nicht allein – wie Müller-Doohm suggeriert – gegen dessen „Weigerung, nach 1945 das eigene Fehlverhalten bekannt zu haben“, Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 94.  Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 607.

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pitalistischer, ein chiliastisch-revolutionärer Maßstab überwinterte“³⁷⁹. Dagegen konnte die real existierende Kanzlerdemokratie Adenauers letztlich nur alt aussehen. Im konservativen Weimarer Staatsrechtslehrer Carl Schmitt fand Habermas fortan einen viel brauchbareren Gegner als in Heidegger. Dass er sich an Schmitt regelrecht abarbeitete, hatte hauptsächlich zwei Gründe: erstens waren Schmitts Schriften aus der Weimarer Zeit, anders als Heideggers hermetische Philosophie, auf politische Fragen unmittelbar übertragbar, was allein die zentralen Begriffe des Schmitt’schen Werks – „Souveränität“, „Diktatur“, „Parlamentarismus“, „Liberalismus“, „Demokratie“ und „Verfassung“ – verdeutlichten; zweitens sah sich der Kritische Theoretiker Habermas regelrecht dazu gezwungen, die ungebrochene intellektuelle Strahlkraft des alten Rechten Schmitt in der Bonner Republik und in Europa nach 1945 kritisch zu hinterfragen. Schmitt hatte in der frühen Bundesrepublik eine Saat ausgestreut, die er aus seiner Sauerländer Abgeschiedenheit in Plettenberg gekonnt pflegte. In seinem zweiten wirkungsgeschichtlichen Frühling kam ihm zugute, dass eine Reihe von jungen Intellektuellen, wie Jan-Werner Müller treffend bemerkt, „die scheinbar umstandslos importierten angloamerikanischen Theorien über liberale Demokratie“ für „oberflächlich und philosophisch unbefriedigend“ hielt und sich von Schmitt „bedeutend tiefere Einsichten in das Wesen des Politischen“³⁸⁰ erhoffte. Neben Reinhard Höhn und Otto Koellreutter gehörte Schmitt zu den wenigen kompromittierten deutschen Staatsrechtslehrern, die „nach 1945 keine Professur mehr [erhielten] und […] auch aus dem Kreis der Staatsrechtslehrer ausgeschlossen [blieben]“³⁸¹. Seine Verstrickung in den Nationalsozialismus war enorm: Schmitt hatte sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme „als ‚Märzgefallener‘“ entschlossen, „den neuen Boden zu akzeptieren und mit den Wölfen zu heulen. Das muss[te] er nicht: Er hätte im Nationalsozialismus als renommierter konservativer Professor relativ unbehelligt leben können.“³⁸² Stattdessen brach er alle Brücken zu jüdischen Intellektuellen und regimekritischen Kollegen, mit denen er während der Weimarer Republik noch in regem bis freundschaftlichem Austausch gestanden hatte, ab, um sich mit den schlimmsten Nazi-Schergen wie Hans Frank, dem späteren Generalgouverneur für Polen, einzulassen. Die Meidung Schmitts in der frühen Bundesrepublik und sein Ausschluss aus der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hatte allerdings den paradoxen    

Ebd. S. 609. Müller, Ein gefährlicher Geist, S. 17. Günther, Denken vom Staat her, S. 64. Mehring, Carl Schmitt, S. 307.

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Effekt, dass seine Denkanstöße nun in den Schriften seiner inoffiziellen Schüler umso subtiler fortwirkten. So blieb das Plettenberger Gespenst „eine Gestalt, die in der frühen Bundesrepublik paradoxerweise sowohl anwesend als auch abwesend war“³⁸³. Schmitts Einfluss blieb hier zwar auf Gespräche „im halböffentlichen Raum von Kolloquien oder privatissime in Plettenberg“³⁸⁴ – auf „Gespräche in der Sicherheit des Schweigens“³⁸⁵ – beschränkt. Sein politisches Denken strahlte durch ein weitgesponnenes Netzwerk aus Briefwechseln jedoch auf den talentierten akademischen Nachwuchs unterschiedlicher Disziplinen aus. Dadurch war Schmitt ein bedeutender Platz in der „bundesdeutschen Gegenöffentlichkeit“³⁸⁶ sicher.³⁸⁷ Die Auseinandersetzung mit Schmitt und seinen Schülern gehört zu den prägendsten Erfahrungen in Habermas’ intellektueller Biografie. Rückblickend sprach Habermas deshalb auch von einem „Kampf um die mentale Ausrichtung der Bundesrepublik“, der „unter friedlichen Prämissen geführt worden“ sei: Die personellen und geistigen Kontinuitäten, die sich zwischen NS-Regime und früher Bundesrepublik unter der Decke eines Verdrängungsantikommunismus unbehelligt fortsetzten, haben auf der einen Seite die Furcht vor einem Rückfall in die autoritären Verhaltensmuster und elitären Denkgewohnheiten des vordemokratischen Deutschlands – bei mir sogar bis in die frühen 80er Jahre hinein – wachgehalten. Unsere Reaktion auf dieses beunruhigende Profil der Adenauerzeit war ein Anti-antikommunismus, den die andere Seite mit innerstaatlichen Feinderklärungen beantwortet hat. Carl Schmitts intellektueller Einfluss hat eine unheilvolle Rolle gespielt; das Klima ist durch die Ausgrenzungsversuche seiner Adepten vergiftet worden.³⁸⁸

 Müller, Ein gefährlicher Geist, S. 73.  Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 36.  Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens.  Müller, Ein gefährlicher Geist, S. 71.  Dazu Jan-Friedrich Missfelder: „Die institutionelle Verankerung dieser Form einer akademischen Gegenkultur war ausgesprochen schwach, aber auch bewußt als Gegenmodell zum universitären Leben inszeniert. Leitmodell dieser esoterischen Kommunikationsform war eben nicht die akademische Hierarchie von Student bis Professor, sondern eine abgeschlossene Plattform privater Freundeskreise, Gesprächsrunden und Debattierklubs einiger weniger Eingeweihter. […] Für Schmitt bedeutete diese Form der esoterischen Kommunikation neben der von ihm ebenfalls extensiv gepflegten Briefkultur die einzige Möglichkeit, an wissenschaftlichen Diskussionen teilzunehmen und eine Art quasi-akademische ‚Lehre‘ auszuüben.“, Missfelder, „Die Gegenkraft und ihre Geschichte“, S. 313.  Habermas, „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“, S. 184.

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Im Folgenden soll ein Rückblick auf Schmitts Denkmodus in der Weimarer Zwischenkriegszeit³⁸⁹ helfen, diese spezifische Frontstellung besser zu verstehen, zumal Habermas die frühe Bundesrepublik an einem ähnlichen politischen Scheideweg wähnte wie die späte Weimarer Republik.³⁹⁰ Anders ausgedrückt: Habermas’ kritische Auseinandersetzung mit dem von Schmitt favorisierten Modell einer plebiszitären Führerdemokratie – eines besonders perfiden deutschkonservativen Versuches, der parlamentarischen Demokratie Weimars auf intellektueller Ebene den Todesstoß zu versetzen – war nicht zuletzt eine Reaktion auf die Verfassungswirklichkeit der restaurativen Adenauerrepublik, in der sich nunmehr Schmitts Schüler daran machten, den präsidialen und zunehmend antidemokratischen Führungsstil des Bundeskanzlers ideologisch zu flankieren. Der Schmitt-Biograf Reinhard Mehring begreift die „ideenpolitische Auffassung der Begriffssoziologie“ Max Webers, wie sie in der Zwischenkriegszeit von Schmitt verfochten wurde, als ein Wechselspiel zwischen der machtanalytischen Aufschlüsselung des politischen Diskurses „im Zusammenhang der Absichten seiner Träger“, in der Schmitt vor allem „die polemische Profilierung von Begriffen“ betont habe, und einer verstehend-soziologischen Bewertung des „‚Glauben[s]‘, den solche Diskurse bei ihren Trägern finden“³⁹¹. Die Vorstellung, dass politische Begriffe nicht nur Indikatoren, sondern in Gestalt ihrer Träger auch signifikante Faktoren der sozialen Wirklichkeit sind, und dass die Wirksamkeit solcher Begriffe im Sinne Max Webers wiederum davon abhängt, wie stark man kollektiv daran glaubt, war eigentlich nicht weiter problematisch. Schmitts begriffspolitische Interventionen waren auch nicht etwa deshalb fragwürdig, weil er sie auf der Folie einer politischen und schließlich auch sozioökomischen Krise der Weimarer Republik vornahm. Als besonders schwerwiegend erweist sich in seinem Fall rückblickend vielmehr der intellektuelle Schachzug, die Krisenanfälligkeit der Weimarer Republik als Beweis einer obskuren Geschichtsphilosophie anzuführen, mit der Schmitt seine antiliberalen, ja bald auch antisemitischen Ressentiments rechtfertigte. Es gehörte dabei zu den Charaktereigenschaften eines pathologischen Narzissten, sich bis zuletzt zu einem „seismographisch beobachtende[n] Teilnehmer“ zu stilisieren und „die Krise der Zeit zum Pathos seines Lebens“³⁹² zu erheben.³⁹³ Damit avancierte Schmitt letztlich zum Legitimationstheoretiker einer postfaktischen Politik avant la lettre.

 Die folgenden Ausführungen finden sich stark verkürzt bereits in Hansl, „Lüge, Bluff und Co.“, S. 13 ff.  Zu dieser die politische und intellektuelle Debatte der Bundesrepublik bis in die späten 50er dominierenden Auseinandersetzung über das Erbe Weimars vgl. Ullrich, Der Weimar-Komplex.  Mehring, „Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt“, S. 147.  Mehring, Kriegstechniker des Begriffs, S. 5.

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Für Habermas’ demokratietheoretische Absetzbewegung von Schmitt war entscheidend, dass letzterer „die Frage nach der Fügsamkeit, nach dem ‚Glauben‘, den ‚Prinzipien‘ und ‚Begriffe‘ finden, mit deren politischer Funktion, Ordnung zu schaffen, indem sie Freund und Feind unterscheiden“³⁹⁴, verbunden hatte. Schmitt erhob folglich das „Thema der Diktatur, der Transformation des liberalen Rechtsstaats in den Exekutivstaat“, zu seinem „verfassungspolitische[n] Lebensthema“³⁹⁵. Als er seine Broschüre über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus Anfang der 20er niederschrieb, traten die radikalen politischen Bewegungen des Bolschewismus und Faschismus gerade ihren Siegeszug an. Schmitt fühlte sich deshalb ermuntert, Rousseaus identitäres Demokratieverständnis gegen das Erbe des klassischen Liberalismus in der Tradition Burkes, Guizots, Benthams und J. St. Mills auszuspielen. Laut Schmitt beruhten die geistesgeschichtlichen Grundlagen des modernen Parlamentarismus auf dem kollektiven Glauben an die Prinzipien der Öffentlichkeit und der Gewaltenteilung, die wiederum „die Vorstellung einer gewissen Konkurrenz“ implizierten, „aus der sich als Resultat das Richtige“³⁹⁶ ergebe. Schmitt behauptete dabei einen unauflöslichen Funktionszusammenhang zwischen einer für den Liberalismus typischen, in der Massendemokratie aber unmöglich gewordenen relativistischen Geisteshaltung einerseits und der parlamentarischen Regierungspraxis andererseits. Grundsätzlich spiele sich „im Parlament“, so lautete Schmitts Verdikt, immer nur „eine Balancierung ab, welche den gemäßigten Rationalismus jener Balancenvorstellungen“ bereits „voraussetzt“³⁹⁷. Wolle er funktionstüchtig sein, müsse der Parlamentarismus „auf einer Denkweise“ aufbauen, „die überall eine Vielheit schafft, um in einem Sys-

 Mehring erkennt in „Schmitts Anti-Individualismus und Anti-Liberalismus“ dennoch einen performativen Selbstwiderspruch, weil dieser „bei seinem kapriziösen Leben und Denken doch einer liberalen Umgebung und Verfassung“ (ebd. S. 27) geradezu bedurft hatte. Schmitts „anthropologischer Pessimismus“ habe ihn schließlich die Haltung eines „anarchische[n] und apokalyptische[n] Individualismus“ (ebd. S. 28) annehmen lassen: „So sehr Schmitt den bürgerlichen Individualismus und Liberalismus des Normalzustandes verachtete, so intensiv bejahte er den religiösen Individualismus des Ausnahmezustands. Der Bürger meidet Kontingenz und verkapselt sich in den Souveränitätsdünkel der Sekuritätsfassade. […] Der religiöse Apokalyptiker und Virtuose des Ausnahmezustands dagegen stellte sich in die Gefährdungslagen und hofft auf glückliche Fügungen und Lösungen von Problemlagen, die er allein nicht in der Hand hat.“, ebd. S. 29.  Mehring, „Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt“, S. 148.  Mehring, Kriegstechniker des Begriffs, S. 9.  Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 50.  Ebd. S. 51.

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tem von Vermittlungen ein aus immanenter Dynamik sich ergebendes Gleichgewicht an die Stelle einer absoluten Einheit zu setzen“³⁹⁸. Schmitt zufolge offenbarte sich immer mehr ein grundsätzlicher Widerspruch, der den Parlamentarismus zwar von Anbeginn auszeichnet habe, aber erst im frühen 20. Jahrhundert manifest geworden sei: die prekäre Koexistenz einer parlamentarisch zu ermittelnden Wahrheit – der „Veritas“, die Schmitt als „etwas Intellektualistisches“ abtat – und der in der Form einer in der Exekutive verkörperten Macht – der „Autoritas“, „die wesentlich auf Handeln angewiesen“³⁹⁹ sei. Solange das „Gerechtigkeitsgefühl einer ganzen Epoche“⁴⁰⁰ auf den geistesgeschichtlichen Grundlagen des Parlamentarismus beruht habe, hielten sich die Prinzipien von „Veritas“ und „Autoritas“ nach Schmitt noch einigermaßen die Waage. Doch bereits in der kritischen Hochphase des Liberalismus im 19. Jahrhundert seien die Liberalen einer Selbsttäuschung auf den Leim gegangen. Sie hätten geglaubt, durch „Öffentlichkeit und Diskussion allein“ den politischen Bestimmungsfaktor der „bloß tatsächliche[n] Macht und Gewalt – für liberalrechtsstaatliches Denken das an sich Böse, the way of beasts, wie Locke sagt – überwinden und den Sieg des Rechts über die Macht herbeiführen zu können“⁴⁰¹. Das Ende dieses liberalen Selbstbetrugs habe sich schließlich bereits in J. St. Mills „verzweifelte[r] Besorgnis“ angekündigt, dass in einer Tyrannei der Mehrheit „auch nur ein einziger Mensch […] der Möglichkeit beraubt werden“ könne, „seine Meinung zu äußern“⁴⁰². Folgt man Schmitt weiter, war der Parlamentarismus als Regierungsform also bereits in der Weimarer Republik aus der Zeit gefallen.⁴⁰³ Die Verlagerung der politischen Willensbildung in „Ausschüsse[ ] und immer engere[ ] Ausschüsse[ ]“⁴⁰⁴ sei in einer auf Propaganda und Personenkult ausgelegten Massendemokratie schlechterdings alternativlos. Von einer parlamentarisch vermittelten „Balancierung der Meinungen in öffentlicher Rede und Gegenrede“ könne unter solchen Bedingungen längst keine Rede mehr sein: Daher bezeichnete Schmitt das Parlament auch kurzerhand als „Fassade“⁴⁰⁵. Bereits in seiner Schrift Politi Ebd.  Ebd. S. 56.  Ebd. S. 61.  Ebd.  Ebd. S. 49.  Mit seinem antiliberalen Ressentiment befand der Meisterdenker des dezisionistischen Etatismus in der Weimarer Staatsrechtslehre keineswegs allein auf weiter Flur. So stellte Schmitts Parlamentarismus-Broschüre nicht zuletzt den Versuch dar, den Antiliberalismus seines Bonner Lehrstuhlvorgängers Rudolf Smend noch zu überbieten, vgl. Mehring, Carl Schmitt, S. 158.  Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 65.  Ebd.

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sche Theologie hatte er dem Parlamentarismus „im Zeitalter einer intensiven Verkehrswirtschaft“, in dem „der Verkehr in zahllosen Fällen häufig weniger Interesse an einem bestimmt gearteten Inhalt als an einer berechenbaren Bestimmtheit“⁴⁰⁶ habe, auf lange Sicht keine Überlebenschancen eingeräumt. Allein den Verfechtern der liberalen Demokratie sei die hoffnungslose Lage des Parlamentarismus noch nicht aufgefallen, während doch längst niemand mehr an ihre Verheißungen glaube.⁴⁰⁷ In der Vorbemerkung zur zweiten Auflage seiner Parlamentarismus-Kritik gerierte sich Schmitt sogar als Verfasser einer „unbeirrt wissenschaftlichen Erörterung, die sich jeder parteipolitischen Ausnutzung“ entziehe „und niemandem Propagandadienste“⁴⁰⁸ täte. Eine solche Haltung, schrieb er in Abgrenzung zum liberalen Staatsrechtler Richard Thoma, der Schmitts Studie zusammen mit dessen Schrift über Die Diktatur in einer Doppelrezension verrissen hatte, „muss heute den meisten unpraktisch, weltfremd und anachronistisch vorkommen“⁴⁰⁹. Doch die eigentlichen Vorgestrigen seien Liberale wie Thoma selbst, weil sie die parlamentarische Demokratie „als Regierungsmethode und politisches System“⁴¹⁰ unter den Bedingungen der massendemokratischen Moderne weiter funktionalistisch begründen wollten, während deren institutionelle Eckpfeiler – das freie Mandat, die Öffentlichkeit der Plenarsitzungen und der organisierte Parteienstreit im Dienste des Gemeinwohls – längst „wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich“ wirkten: „als hätte jemand die Heizkörper einer modernen Zentralheizung mit roten Flammen angemalt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen“⁴¹¹. Mehring stellt dieses bewusste Anzählen der parlamentarischen Demokratie Weimars in den Kontext anderer Schriften Schmitts zur „[m]etaphysik- bzw.

 Schmitt, Politische Theologie, S. 37.  Dazu Schmitt konkret: „Es gibt heute sicher nicht viele Menschen, die auf die alten liberalen Freiheiten, insbesondere auf Rede und Preßfreiheit verzichten wollen. Auf dem europäischen Kontinent werden trotzdem nicht mehr viele sein, die glauben, jene Freiheiten existieren noch, wo sie den Inhabern der wirklichen Macht wirklich gefährlich werden könnten. Am wenigsten wird es noch den Glauben geben, daß aus Zeitungsartikeln, Versammlungsreden und Parlamentsdebatten die wahre und richtige Gesetzgebung und Politik entstehe. Das ist aber der Glaube an das Parlament selbst. Sind Öffentlichkeit und Diskussion in der tatsächlichen Wirklichkeit des parlamentarischen zu einer leeren und nichtigen Formalität geworden, so hat auch das Parlament, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren.“, Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 63.  Ebd. S. 5.  Ebd.  Ebd. S. 7.  Ebd. S. 10 f.

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geistesgeschichtlichen Lage politischer Willensbildung“⁴¹² aus derselben Zeit.Wie bereits in der Diktatur und der Politischen Theologie habe Schmitt auch in seiner Parlamentarismus-Kritik „die Plausibilität politischer Willensbildung […] an metaphysische Voraussetzungen“ geknüpft und „einen Zug vom Rationalismus zum Irrationalismus, vom Liberalismus zur Demokratie“⁴¹³ konstatiert. Wörtlich schrieb Schmitt, die Steigerung der rationalen Weltsicht ende „in einem Fieber, und unmittelbar vor sich“ sehe der Liberale „nicht mehr das idyllische Paradies, das der naive Optimismus der Aufklärung […] vor sich sah“, sondern „eine furchtbare Negation“⁴¹⁴. Diese Geschichtsphilosophie von rechts klang genauso geschichtsdeterministisch wie der Szientismus des orthodoxen Marxismus. Da er als katholischkonservativer Gegenrevolutionär aber dem Faschisten Mussolini näherstand als dem Oktoberrevolutionär Lenin, plädierte Schmitt in seiner ganz eigenen Version einer Dialektik der Aufklärung schließlich für eine plebiszitäre Führerdemokratie, nicht zuletzt weil der Volkswille „durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert werden“ könne „als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat“. Denn „[j]e stärker die Kraft des demokratischen Gefühls“ sich ausnehme, desto „sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Regierungssystem geheimer Abstimmungen“⁴¹⁵. Gegen das vermeintlich liberale Modell einer „technischen“ brachte Schmitt sodann sein Modell einer „auch im vitalen Sinne unmittelbaren Demokratie“ in Stellung, in der „das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie“ erscheine, „während diktatorische und zäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Substanz und Kraft“⁴¹⁶ seien.

Demokratie und Sozialismus im Dornröschenschlaf Hatte Schmitt in der Weimarer Republik eine in der Verfassungsinstitution des Reichspräsidenten inkarnierte und von Webers Begriff der „charismatischen Herrschaft“ inspirierte Form der plebiszitären Führerdemokratie affirmiert, die ohne die Vermittlungsleistungen parlamentarischer Institutionen auskommen     

Mehring, Carl Schmitt, S. 161. Ebd. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 76. Ebd. S. 22. Ebd. S. 22 f.

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sollte, erkennt William Scheuerman in Habermas’ Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit aus der Spätphase der Adenauer-Ära richtigerweise einen spiegelbildlichen „Gegenentwurf zu [diesem] dezisionistischen Modell von Recht und Politik“⁴¹⁷. Mit anderen Worten: Habermas trat Schmitt am Ausgangspunkt seiner akademischen Karriere in gewisser Weise selbst als „praktischer Schmittianer“⁴¹⁸ gegenüber, indem er die Kanzlerdemokratie Ade-

 Weiter heißt es: „Wenn Strukturwandel der Öffentlichkeit die unheilvolle Aussicht auf ein von der Regierung dominiertes plebiszitäres Regime skizziert, in dem die zwanglose Debatte, das Rechtsstaatsprinzip und die Parlamentsherrschaft zugunsten maßgeschneiderter Öffentlichkeiten, rechtlicher Willkür und von oben organisierter Akklamation über Bord geworfen wurden, dann entspricht Habermas’ Beschreibung von dessen Kernelementen spiegelbildlich Schmitts Verteidigung eines massenbasierten autoritären Regierungssystems.“, Scheuerman, „Staatsrecht“, S. 24. Der Unterschied zwischen Schmitt und Habermas hätte schon in methodischer Hinsicht nicht größer sein können: Schmitt betrieb in Anlehnung an Weber eine Begriffssoziologie mit „antithetische[n] Entgegensetzungen“, um „in Begriffen, die einen komplexen Sachverhalt ausdrücken, […] einzelne Elemente von ihrem historischen und systematischen Kontext [zu isolieren], [zu abstrahieren] und dann antithetisch und unvermittelbar einem in gleicher Weise entwickelten Gegenbegriff [entgegenzusetzen]“, Preuß, „Carl Schmitt und die Frankfurter Schule“, S. 408. Vergegenwärtigt man sich die normative Verknüpfung der plebiszitären Führerdemokratie mit der rechtshegelianischen Geschichtsphilosophie, sollte man im Nachhinein weniger Schmitts Eigenbezeichnung eines „Begriffsrealismus“ folgen, sondern im Hinblick auf seine Methode besser von einer obskurantistischen Begriffsontologie sprechen, die er gleichermaßen gegen Liberalismus und Sozialismus in Stellung brachte. Demgegenüber verpflichtete sich der linke Republikaner Habermas in der Adenauer-Ära auf ein ideologiekritisches Verfahren, das sich „um die Ermittlung des objektiven historischen Sinnes und der Funktion“ des parlamentarischen Regierungssystems und der bürgerlichen Öffentlichkeit im Allgemeinen bemühte, „um ihre historischen Sinnvariationen und Funktionsveränderungen zu erkennen und die gegenwärtigen Bedingungen ihrer normativen Geltung zu benennen“, ebd. S. 409.  Bude, „Die Soziologen der Bundesrepublik“, S. 577. Damit soll jedoch keineswegs suggeriert werden, jede Feinderklärung in der diskursiven Arena qualifiziere einen zum politischen Existenzialisten à la Schmitt. Streitlust und Polemik gehören allerspätestens seit der politischen Theorie J. St. Mill zu den unverzichtbaren Ingredienzien einer liberalen politischen Kultur. Wer dies leugnet, übernimmt Schmitts Gleichsetzung des Liberalismus mit einer lavierenden Denkhaltung in politik- und sozialgeschichtlichen Schönwetterphasen und macht sich damit automatisch zum Komplizen seiner genauso antiliberalen wie antidemokratischen Diffamierungsstrategie. Die These einer inhaltlichen Parallele zwischen Schmitts Antiliberalismus und dem Denken der kritischen Theorie der Frankfurter Schule im Allgemeinen sowie Habermas’ Öffentlichkeitstheorie im Besonderen gewinnt auch nicht durch kontextbefreite Werkvergleiche an Plausibilität, vgl. in diesem Zusammenhang etwa Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas. Mit Abstrichen findet sich diese unzulässige Gleichsetzung auch in der ansonsten hervorragenden Studie von Meinel, Vertrauensfrage, S. 18 f. Viel treffender ist diesbezüglich die Einschätzung Mathew Specters: „[C]haracterizing Habermas as a ‚left-Schmittian‘ critic of liberal democracy did not do him justice; greater contextualization is necessary to reshape our understanding of his earliest works.“, Specter, Habermas, S. 28 f. Dennoch folgt die

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nauers verschlüsselt mit der von Schmitt glorifizierten politischen Herrschaftsform einer plebiszitären Führerdemokratie gleichsetzte und dieser eine letztlich recht vage bleibende Vorstellung des demokratischen Sozialismus entgegensetzte. In der agonalen Frontstellung gegen Schmitt und dessen Schüler hatte er jedoch seine intellektuelle Mission gefunden: Er würde den Verfechtern einer konservativen Gegenaufklärung fortan nicht kampflos die Deutungshoheit über die entscheidenden politischen Begriffe überlassen, während der parteipolitische Konservatismus in der Bundesrepublik einen Wahlsieg nach dem anderen einfuhr. Habermas’ intensive Auseinandersetzung mit dem intellektuellen Erbe des dunklen Meisters der Weimarer Staatsrechtslehre fußte folglich auf sehr realen Befürchtungen.⁴¹⁹ Bei der Bundestagswahl von 1957 errang Adenauers Union mit 50,2 Prozent der Zweitstimmen die absolute Mehrheit im Bundestag. Habermas sah in dem Wahlergebnis ein Indiz für eine vorab von den Massenmedien erzeugte „Sentimentalität gegenüber Personen“⁴²⁰ aufseiten großer Teile der Wahlbevölkerung, insbesondere gegenüber dem alten Adenauer, und einen regelrechten

Bezeichnung „praktischer Schmittianer“ im Zusammenhang mit Habermas auf einer anderen Ebene letztlich einer richtigen Intuition. Selbst in der ansonsten äußerst wohlwollenden Habermas-Biografie von Müller-Doohm findet sich dazu der kritische Hinweis: „In der Rolle des öffentlichen Intellektuellen greift [Habermas] des Öfteren ins Arsenal ideenpolitischer Waffen. Er arbeitet mit Dramatisierungen, Generalisierungen und anderen rhetorischen Figuren der Zuspitzung, wohl wissend, dass die Ideenpolitik, die er damit betreibt, polarisierende Effekte hat, die Argumentation verflacht und somit seinem Aufklärungsideal widerspricht. Hier scheint der Zweck die Mittel zu heiligen.“, Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 351. Letztlich lässt sich Habermas’ gesamtes demokratietheoretisches Werk vielmehr „als Versuch verstehen, Schmitts politischen Existentialismus und seine Vernunftfeindlichkeit zu diskreditieren“ (Scheuerman, „Staatsrecht“, S. 24) – so wird auch sein späterer Vorwurf in Richtung Luhmann, einen Schüler Helmut Schelskys, verständlich, mit der Systemtheorie den Dezisionismus Schmitts neuaufgelegt zu haben. Eine analoge philosophische Frontstellung nahm Habermas denn auch gegen den „anarchisch-zynische[n] Poststrukturalismus“ (Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, S. 68) ein, dessen Vertretern er in der zweiten Hälfte der 80er eine ungesunde Nähe zu Heidegger unterstellte.  Specter begründet den pessimistischen Grundtenor in Habermas’ Frühwerk zwischen 1956 und 1962 mit fünf zeithistorischen „key issues“: „the 1956 decision of the Federal Constitutional Court to ban the Communist Party, Christian Democratic Union (CDU) political strength and Social Democratic Party (SPD) weakness in the national elections of 1957, the SPD’s ideological transformation at Bad Godesberg from a Marxist party to a ‚people’s party’ in 1959, the North Atlantic Treaty Organization (NATO) decision to arm West Germany with nuclear weapons in 1957, and the ruling against an antinuclear plebiscite by the Federal Constitutional Court in 1958.“, Specter, Habermas, S. 34.  Habermas, „Zum Begriff der politischen Beteiligung“, S. 52.

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„Zynismus gegenüber Institutionen“⁴²¹, der in schlechter deutscher Tradition zu stehen schien. Damals stand der Beweis tatsächlich noch aus, ob sich die Bundesrepublik in den kommenden Jahrzehnten zu einer lebendigen parlamentarischen Demokratie mit regelmäßigen Regierungswechseln würde entwickeln können.⁴²² Vielmehr schien der späte „Adenauer mit seinem patriarchalischen Auftreten dem Bedürfnis nach starker Führung entgegen“ zu kommen, „das sich seit Bismarck durch die deutsche politische Kultur zog und auch bei den Jüngeren, die ja überwiegend in den Kategorien des Militärischen erzogen worden waren, deutlich ausgeprägt war“⁴²³. Als der Bundestag im März 1958 auf Drängen der NATO die Stationierung taktischer Atomwaffen auf westdeutschem Boden beschloss, formierte sich unter der Führung der sozialdemokratischen Opposition und der Gewerkschaften, aber auch unter Beteiligung von unabhängigen Wissenschaftlern und Intellektuellen in mehreren Großstädten die erste große außerparlamentarische Protestbewegung der Bundesrepublik mit dem Motto „Kampf dem Atomtod“. Kurze Zeit schien es so, als würde die stillgelegte Öffentlichkeit der Bundesrepublik ganz nach Habermas’ Gusto aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. In der Frankfurter Studentenzeitung diskus griff der Adorno-Assistent folgerichtig aufseiten der Atomwaffengegner in die Debatte ein und lieferte sich einen Schlagabtausch mit dem CDU-Politiker und neoliberalen Vordenker Franz Böhm, indem er dessen Vorwurf, der außerparlamentarische Protest verstoße gegen das Grundgesetz, entschieden zurückwies und den Protest der Straße „als Reaktion auf die Tatsache“ verteidigte, „daß es in der Bundesrepublik eben keine repräsentative Demokratie im klassischen Sinne gebe“⁴²⁴.

 Ebd.  Dass dies vor allem auf eine erfolgreiche institutionelle Verknüpfung von Regierung und Parlament zurückgeführt werden konnte, die im Grundgesetz nicht geregelt und daher stets prekär ist, lässt sich nachlesen bei Meinel, Vertrauensfrage. S. 59 ff.  Ulrich Herbert verweist im Nachhinein aber auch auf die positiven Seiten dieses Führungsstils, indem er ergänzt: „Zweifellos war eine solche Form der Machtausübung im demokratischen Staat nicht unproblematisch, bewahrte und verstärkte sie doch autoritäre, führungsgläubige Orientierungen im Volk. Auf der anderen Seite erhöhte sie aber auch die Akzeptanz des neuen Staates und seiner Institutionen – und sie schuf im Gegenzug auch die Grundlage für die Kritik an Adenauers Regierungsstil: Schon nach einem knappen Jahrzehnt begannen sich die Stimmen zu mehren, die diese Formen der Bevormundung und Gängelung ablehnten. Jedenfalls wurde angesichts des autoritären politischen Führungsstils des Kanzlers das Verlangen nach kooperativeren Formen der Machtausübung stetig stärker. In der Weimarer Zeit war es gerade andersherum gewesen.“, Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 648 f.  Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 612.

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Zwar hegte Habermas angesichts der absoluten Mehrheit der Unionsparteien im Bundestag nur wenig „Hoffnung auf eine selbstbewußte politische Entscheidung der wahlberechtigten Bevölkerung in ihrer Gesamtheit, und auf eine effektive Handhabung der parlamentarischen Institutionen durch das mündige Volk“⁴²⁵. Allerdings schienen Umfragen auch zu bestätigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung der atomaren Aufrüstung der Bundeswehr ablehnend gegenüberstand: Der Wille der konservativen Parlamentsmehrheit und der Mehrheitswille in der Gesellschaft stimmten in dieser politischen Grundsatzfrage folglich einmal nicht überein. Habermas’ Hoffnung auf mehr Demokratie ruhte in diesem Punkt vor allem auf der „Beteiligung von Gruppen, die außerhalb des Parlaments über ein Feld politischer Wirksamkeit verfügen. Das sind auf der einen Seite Mitglieder von Massenorganisation, die sich“ – wie im Falle der Kampf-demAtomtod-Bewegung – „zu außerparlamentarischen Aktionen zusammenfinden und die Staatsorgane unter den ‚Druck der Straße‘ setzen können; auf der anderen Seite die ‚funktionellen Eliten‘, die über die Apparate der staatlichen und privaten Bürokratie verfügen.“⁴²⁶ Was den Demokratisierungseifer der Funktionseliten in Politik, Wirtschaft und Verwaltung anbelangte, machte sich Habermas Ende der 50er jedoch keinerlei Illusionen. Auf dem Höhepunkt der Adenauer-Regentschaft ging er vielmehr davon aus, „daß die prominenten Nutznießer der wiederhergestellten Demokratie nicht in erster Linie die sind, die sich im Ernstfall auch für sie schlagen würden“⁴²⁷. So kam denn doch alles auf den Erfolg des von den Gewerkschaften und der SPD mitverursachten Druck der Straße an. Doch nachdem das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 30. Juli 1958 Volksbefragungen auf Bundesebene verboten und dem Protest damit den Wind aus den Segeln genommen hatte, verlief „Kampf dem Atomtod“ relativ schnell im Sand, zumal „sich in SPD und DGB jene Kräfte durch[setzten], die entschlossen waren, die Kampagne auslaufen zu lassen“, sodass „selbst noch Habermas’ Hoffnung auf außerparlamentarische Aktionen von Massenorganisationen als überschwänglich“ erscheinen musste, „als Verkennung der hemmenden Kräfte in derartigen Apparaten, und seine Hoffnung auf einsichtige CDU-Professoren im Parlament als die ironische Anklage einer Demokratie, die politische Beteiligung mit allen Mitteln entmutigte.“⁴²⁸ Wer zu einer gewissen geschichtsphilosophischen Verklärung der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik neigt, kann die von Adenauer    

Habermas, „Zum Begriff der politischen Beteiligung“, S. 55 f. Ebd. S. 56. Ebd. S. 57. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 612 f.

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Ende der 40er getroffene Entscheidung gegen die Bildung einer Großen Koalition mit der SPD auch zum Ausgangspunkt einer bruchlosen Erfolgsgeschichte des demokratischen politischen Wettbewerbs in der Bundesrepublik stilisieren, in deren Verlauf sich zwei genauso integrations- wie konfliktfähige Volksparteien an der Regierungsspitze abwechselten. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass es nach der Bundestagswahl 1957 bis in die frühen 60er durchaus noch so aussehen konnte, als wolle ein mittlerweile über achtzigjähriger Adenauer, der bis dato immer noch erste und einzige Regierungschef der Bundesrepublik, mit der absoluten Mehrheit im Rücken die Kanzlerdemokratie tatsächlich in eine plebiszitäre Präsidialdemokratie à la Carl Schmitt umbauen. Mehrere hochumstrittene Aktionen des Bundeskanzlers, durch die er enorm an Ansehen verlor und seine erzwungene Abdankung letztlich selbst einleitete, deuteten in diese Richtung: etwa seine im April 1959 angekündigte und kurz darauf wieder zurückgezogene Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten, das er in gaullistischer Manier zum Machtzentrum eines Präsidialregimes umzubauen gedachte; sein im darauffolgenden Jahr vorgenommener Versuch der Gründung eines regierungsnahen Deutschlandfernsehens, der vom Bundesverfassungsgericht vereitelt werden sollte; oder seine Untätigkeit angesichts des verfassungswidrigen Handelns seines Verteidigungsministers Franz-Josef Strauß in der SPIEGEL-Affäre im Herbst 1962 .⁴²⁹ Kein Wunder, dass in der Spätphase der Adenauer-Ära ein „Klima der Illiberalität und Verdächtigung“ herrschte, „das sich durch den sich Ende fünfziger Jahre zuspitzenden Konflikt um Berlin weiter aufheizte“⁴³⁰ und junge linke Denker wie Habermas besonders in Mitleidenschaft zog. So ist es zu erklären, dass Habermas Ende der 50er alarmistisch von der „historischen Alternative einer Entfaltung der liberalen zur sozialen Demokratie oder ihrer Überführung in plebiszitär-obrigkeitliche Formen autoritärer Demokratie“⁴³¹ warnte. Eine von der Integrationstheorie Rudolf Smends beeinflusste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ließ den Bürgern nach Habermas „nur die eine Möglichkeit politischer Mitbestimmung, das Parlament zu wählen“, während das Volk sich in der Weimarer Republik „außer durch Reichstagswahlen, zumal nach der Auflösung des Reichstages durch den Reichspräsidenten, durch die Wahl dieses Reichspräsidenten selbst, und in besonderen Fällen durch Volksbegehren und Volksentscheid Gehör verschaffen konnte“⁴³². Auch wenn die institutionelle In Vgl. dazu Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 756 ff., Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 207 ff.  Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 669.  Habermas, „Zum Begriff der politischen Beteiligung“, S. 60.  Ebd. S. 49.

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stabilität der Weimarer Republik zum Sieg der nationalsozialistischen Diktatur beigetragen haben mochte, war sie dem bundesrepublikanischen Provisorium in ihrem demokratischen Anspruch überlegen – so Habermas’ ernüchterndes Urteil. Laut Habermas war die rechtsstaatlich garantierte negative Freiheit des Wohlstandsbürgers im Wirtschaftswunderland folglich teuer erkauft, weil sie auf Kosten einer lebendigen, wahren Demokratie ging. Demnach sei „für den Bürger der sogenannten Konsumentengesellschaft auch juristisch der Status eines Kunden vorgesehen“, der „zwar am Ende die Zeche bezahlen“ müsse, für den ansonsten „aber alles derart vorbereite“ sei, „daß er selber nicht nur nichts zu tun braucht, sondern auch nicht mehr viel tun kann“⁴³³. Trotz ihrer Grundrechte seien die Bürger „so gut wie ausgeschlossen von tatsächlicher politischer Mitbestimmung“ und würden „zum Objekt der Fürsorge“, die Soziale Marktwirtschaft sei nichts anderes als eine „wohlfahrtsstaatliche Gestalt der Patrimonialität, so als hätte die Verfassung schon die Entwicklung anzeigen wollen, die verwirklichen könnte, was heute erst Tendenz ist: alles für das Volk, aber nichts durch das Volk“⁴³⁴. Dass sich Habermas nach seinem Streit mit Horkheimer Anfang der 60er in Marburg bei dem Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth – dem zu diesem Zeitpunkt einzigen offen marxistischen Professor in der Bundesrepublik – habilitierte, kam folglich nicht von ungefähr. Abendroth stand zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftler Viktor Agartz auf der Seite des schrumpfenden linken Flügels der SPD, der auch nach dem Tod Kurt Schumachers weiter für eine Sozialisierung von Schlüsselindustrien und für weitreichende Formen der demokratischen Wirtschaftsplanung eintrat. Der Erfolg des Erhard’schen Modells der Sozialen Marktwirtschaft hatte solche Positionen auch in einer Partei, die sich zuvor als marxistische Arbeiterklassenpartei verstanden hatte, an den Rand gedrängt. Denn „indem sie die ökonomische Planung prononciert ablehnte[n]“, war es den regierenden Christdemokraten vor der Godesberger Wende der SPD gelungen, die sozialdemokratische Opposition „innenpolitisch [auszugrenzen] und deren Programmatik mit Staatssozialismus östlicher Prägung [zu] assoziieren“⁴³⁵. Gleichzeitig konnte die Adenauerpartei ihren ordoliberalen und ihren wertkonservativen Flügel durch den gezielten Ausbau des Sozialstaats mit ihrem Arbeitnehmerflügel versöhnen.⁴³⁶

 Ebd.  Ebd. S. 49 f.  Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 89.  Mit den Worten Gabriele Metzlers: „Punktuelle Regulierungen, nicht aber Planung als Leitkonzept politischen Handelns: So ließe sich die Orientierung der Regierung Adenauer knapp zusammenfassen.“, ebd. S. 83.

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Kurz vor der Bundestagswahl 1957 verabschiedete der Bundestag eine große Reform der Rentenversicherung, durch die die Altersbezüge dynamisch an die Einkommensentwicklung angepasst wurden. Vier Jahre später folgte, pünktlich zur nächsten Bundestagswahl, die gesetzliche Einführung der Sozialhilfe. Als sich die SPD Ende 1959 in Bad Godesberg unter dem Einfluss des erstarkenden Reformflügels um Herbert Wehner, Carlo Schmid, Fritz Erler, Karl Schiller und Willy Brandt endgültig von ihrem marxistischen Selbstverständnis verabschiedete, um den Wandel zur Volks- bzw. „Allerweltspartei“ (Otto Kirchheimer) zu vollziehen und bei den kommenden Bundestagswahlen der Union ernsthaft Konkurrenz machen zu können, war vom umfassenden Konzept des demokratischen Sozialismus außer Lippenbekenntnissen nicht viel übriggeblieben: „im Wesentlichen der Gedanke der Kontrolle wirtschaftlicher Macht durch Mitbestimmung“⁴³⁷. Habermas lehnte die wirtschaftspolitische Neuausrichtung der Partei entlang einer marktwirtschaftlich orientierten, technokratischen keynesianischen Steuerung von Grund auf ab. Gegen diese wirtschaftspolitische Modernisierung der Sozialdemokratie, die maßgeblich vom dynamischen Hamburger Wirtschaftsprofessor Schiller vorangetrieben wurde, plädierte er mit Abendroths offensiver Interpretation der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes für eine radikaldemokratische Reformierung der bundesrepublikanischen politischen Ökonomie. Habermas verstand sich folglich als ein auf dem Boden der Verfassung stehender demokratischer Sozialist.⁴³⁸ Aus diesem Grund begab er sich in seiner Habilitationsschrift auch auf staatsbzw. verfassungsrechtliches Terrain, wo er die produktive Auseinandersetzung weniger mit Schmitt selbst als mit dessen staatsrechtlichen Schülern suchte. Schmitt blieb zwar noch in der Bundesrepublik „ein Mann des polemischen

 Faulenbach, „Zur Entwicklung des demokratischen Sozialismus seit dem Zweiten Weltkrieg“, S. 76.  Vgl. Specter, Habermas, S. 40. Seine damalige politische Position, die im übrigen wegen des bei allen Vertretern der Kritischen Theoretiker vorhanden utopischen Überschusses nicht zweifelsfrei zu fixieren ist, lässt sich im Nachhinein als eine insbesondere in Fragen der politischen und wirtschaftlichen Demokratie radikalisierte Variante des demokratischen Sozialismus bezeichnen. Nach Walter Euchner weist das Konzept des demokratischen Sozialismus, das sich im Prinzip von der Gründung der SPD bis zum Ende der Weimarer Republik herauskristallisiert hat, „folgende Strukturelemente“ auf: „das Bekenntnis zum parlamentarischen System, ein öffentlicher und genossenschaftlicher Wirtschaftssektor, direkte und indirekte Methoden der Wirtschaftssteuerung, kommunale Selbstverwaltung und Kommunalpolitik im Interesse der einkommensschwachen Schichten, kollektive Regelungen der Arbeitsbeziehungen […], Mitwirkung und Mitbestimmung in den Unternehmen unter Beteiligung der Gewerkschaften, Ausbau der Sozialversicherungssysteme Reform des Bildungswesens […].“, Euchner, „Die Herausbildung des Konzepts ‚Demokratischer Sozialismus‘“, S. 47.

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Traktats, der Streitschrift, des Pamphlets“, der „[z]u seiner eigentlichen literarischen Form […] in dem [fand], was die Franzosen einen brûlot nennen: ein entflammbarer Text, ein Boot mit hochentzündlicher Fracht, dazu bestimmt, das Schiff des Gegners in Brand zu setzen“⁴³⁹. Doch anders als ihr stigmatisierter Meister, der aufgrund einer vermeintlichen Tyrannei der Werte des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts im Bonner Provisorium „nur noch Vernichter und Vernichtete“⁴⁴⁰ am Werk sah, argumentierten die Schmitt-Schüler deutlich subtiler, wenngleich ihre Schriften ebenfalls von antiliberalen und antidemokratischen Ressentiments angetrieben wurden. Schmitts Weimarer Meisterschüler Ernst Forsthoff profilierte sich in der frühen Bundesrepublik etwa als Experte für verwaltungsrechtliche Fragen und kultivierte auf einmal eine völlig neue Zuneigung zum formellen Rechtsstaat.⁴⁴¹ Schmitt übte hier allenfalls noch subkutan Einfluss aus.⁴⁴² Die Sozialstaatsdebatte der frühen Bundesrepublik – „a heated debate […] between the Abendroth camp and the Schmitt camp over whether the Basic Law contained a ‚decision‘ for a social welfare state with a capitalist basis or a socialist democracy“⁴⁴³ – hinterließ Anfang der 60er in Habermas’ Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit folglich deutliche Spuren.⁴⁴⁴ Dabei  Schönberger, „Werte als Gefahr für das Recht?“, S. 57.  Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 52.  Vgl. Forsthoff, „Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung“.  Schmitt hatte es nicht mehr in der Hand, wie von seinem staatsrechtlichen und politiktheoretischen Erbe Gebrauch gemacht wurde. Er selbst verlagerte seine Kritik vom Parlament, das er in Weimarer Zeiten als Hüter einer kalten Legalität verhöhnt hatte, unter dem Einfluss seines Meisterschülers Forsthoff nunmehr auf das Bundesverfassungsgericht, das im Grundgesetz eine „objektive Wertordnung“ angelegt sah. Die beiden gegnerischen Flaggschiffe, auf die Schmitt es in der frühen Bundesrepublik vor allem abgesehen hatte, waren die vor der Godesberger Wende noch unter marxistischen Bannern marschierende Sozialdemokratie sowie das von der Integrationstheorie Smends beeinflusste Bundesverfassungsgericht.  Specter, Habermas, S. 40 f.  Vgl. dazu die einschlägige Darstellung in der Forsthoff-Biografie von Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, S. 360 ff. Zum historischen Kontext dieser Debatte aus den frühen 50er erläutert Metzler: „Die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und des totalen Krieges mit seinen grundverstörenden Folgen ließen eine Rückkehr zu altliberalen Prinzipien nicht als angemessen erscheinen, um der anstehenden Probleme Herr zu werden.Vielmehr mußte es darum gehen, den aktiven Part des Staates mit rechtsstaatlichen Vorzeichen zu versehen, und das konnte entweder geschehen, indem man die demokratischen Bestimmungen des Grundgesetzes vor allem als Verfahrensregeln ansah, ansonsten aber Rechts- und Sozialstaatlichkeit als voneinander getrennte Sphären interpretierte, wie dies Forsthoff und andere taten, oder indem man davon ausging, daß Rechts- und Sozialstaatlichkeit einander bedingten, miteinander auf das engste verklammert waren, und daß Sozialstaatlichkeit eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft nach sich ziehen müsse, wie es besonders deutlich bei Abendroth und anderen seines

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führte Habermas die linkssozialdemokratische Tradition der Weimarer Staatsrechtslehre im Geiste Abendroths, Hermann Hellers und Hugo Sinzheimers fort, indem er die Grundrechte, wie er seine Position kurz darauf in seiner Aufsatzsammlung über Theorie und Praxis präzisierte, „als Prinzipien einer mit dem Staat auch die Gesellschaft umgreifenden Verfassung“⁴⁴⁵ deutete. Anders als in den Idealstaatskonzepten der Schmitt-Schüler Werner Weber und Ernst Forsthoff, denen zufolge ein starker, neutraler Exekutivstaat durch den notorischen Appell an das Rechtsstaatsprinzip gegen die Ansprüche sozialer Gruppen, da hieß allen voran: gegen die Ansprüche der Gewerkschaften, abgeschirmt werden sollte, plädierte Habermas unter den günstigen ökonomischen Bedingungen der trente glorieuses für die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen den drei Gewalten zugunsten einer daueraktivierten, öffentlich verantwortlichen Legislative: Die Demokratisierung der Produktionsmittel und -verhältnisse und die Ausweitung der politischen Teilhabe bedingten sich demnach gegenseitig.⁴⁴⁶ In diesem Sinne hatte Habermas schon in seinem Text Zum Begriff politischer Beteiligung festgehalten: „Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen wäre die politische Kontrolle der Funktionen privaten Kapitaleigentums die notwendige Voraussetzung, um die gleichmäßige Verteilung der Chancen politischer Mitbestimmung sicherzustellen und die Rechtssicherheit auf alle Bezirke der Gesellschaft auszudehnen.“⁴⁴⁷ Aus zeitdiagnostischer Perspektive nahm Habermas in seiner Habilitationsschrift aber auch Anleihen bei den Schmitt-Schülern, wenn er etwa Forsthoffs Konzept des Verwaltungsstaats der Daseinsvorsorge für seine demokratietheoreKreises wie Martin Draht zum Ausdruck kam. Darüber, daß der Staat eine aktive, intervenierende Rolle spielte und spielen sollte, herrschte Konsens; die Gräben zwischen den unterschiedlichen Lagern taten sich an den Stellen auf, an denen es darum ging, über den verbindlichen Gehalt der demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes zu entscheiden und in der Verfassungsinterpretation das ‚Sein‘ oder das ‚Sollen‘ in den Vordergrund zu rücken […]. Freiheit ließ sich […] in einer modernen Gesellschaft, als die sich die Bundesrepublik am Ende der fünfziger Jahre uneingeschränkt verstand, nicht mehr dadurch erlangen und sichern, daß man Sicherungen gegen staatliche Eingriffe installierte; Freiheit war nur noch durch staatliche Eingriffe gewährleistet, welche der Freiheit eine materielle Grundlage sicherten und das Recht auf Teilhabe garantierten.“, Metzler, Konzeptionen staatlichen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 104 f.  Habermas, Theorie und Praxis, S. 122 f.  Dazu Specter: „Habermas did not intend to argue for a new equilibrium among the executive, legislative, and judicial branches of the government in Bonn but rather for the priority of the democratic legislative branch over the other two. His preference for the legislator reflected a Rousseau-influenced notion of the general will. Habermas believed that the Basic Law had produced a lopsided state of affairs: Strong guarantees of basic rights were juxtaposed with the weakest of mechanisms for achieving popular sovereignty.“, Specter, Habermas, S. 67.  Habermas, „Zum Begriff der politischen Beteiligung“, S. 46 f.

1.2 Denken von der Gesellschaft her

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tischen Zwecke anverwandelte. Dazu führte Habermas in direkter Fortsetzung von Forsthoffs Überlegungen aus, dass „[d]er neue Interventionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts […] von einem Staat getragen“ werde, „der durch die Konstitutionalisierung einer […] politisch fungierenden Öffentlichkeit mit den Interessen der bürgerlichen Gesellschaft tendenziell gleichgeschaltet ist“⁴⁴⁸. Nach dem Übergang vom liberalen zum organisierten Kapitalismus würden Interessenkonflikte „nicht mehr innerhalb der Privatsphäre“ – also zwischen Privatbürgern auf dem Markt – „allein ausgetragen“, sondern zunehmend „ins Politische“ übertragen: „[D]er staatlichen Intervention in die gesellschaftliche Sphäre“ entspreche dabei „auch die Übertragung öffentlicher Kompetenzen auf private Körperschaften“⁴⁴⁹. Deshalb sei „mit der Ausdehnung der öffentlichen Autorität über private Bereiche“, wie Habermas in Anlehnung an Forsthoff schloss, zugleich „der gegenläufige Prozeß einer Substitution staatlicher Gewalt durch gesellschaftliche verbunden“ gewesen: „Erst diese Dialektik einer mit fortschreitender Verstaatlichung der Gesellschaft sich gleichzeitig durchsetzenden Vergesellschaftung des Staates zerstört allmählich die Basis der bürgerlichen Öffentlichkeit – die Trennung von Staat und Gesellschaft.“⁴⁵⁰ Doch obwohl diese Skizze der „repolitisierten Sozialsphäre“ in der sozialstaatlichen Massendemokratie sofort Erinnerungen an die von Forsthoff bereits in der ersten Hälfte der 50er aufgeworfenen Verfassungsprobleme des Sozialstaats weckte, zog Habermas aufgrund seiner politischen Überzeugungen daraus logischerweise keine sozialstaatskritischen Konsequenzen. Hinter die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zurückzufallen, kam für einen demokratischen Sozialisten unter keinen Umständen in Frage. Habermas’ theoriepolitischer Fluchtpunkt war deshalb auch nicht – wie bei Forsthoff – die liberale Eingrenzung, sondern, im Gegenteil, die radikaldemokratische Entgrenzung des Wohlfahrtsstaats. Am neokorporatistischen Politikmodus innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft missfiel ihm konkret eine im exekutiven Machtzentrum zusammenlaufende Interessenpolitik großer Verbände, eine das abstrakte Tauschprinzip im Kapitalismus in letzter Instanz freilich stützende „Arkanpolitik der Interessenten“, für die später eine „Person oder Sache öffentliches Prestige“ erwerben, d. h. „in einem Klima nicht-öffentlicher Meinung akklamationsfähig“⁴⁵¹ werden solle.

   

Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 225 f. Ebd. S. 226. Ebd. Ebd. S. 299 f.

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Gegen Forsthoff wandte er in diesem Zusammenhang ein, dass dessen „Formel der kollektiven Daseinsvorsorge […] die Vielfalt der dem Sozialstaat neu zugewachsenen Funktionen“ und „die mannigfach sich durchkreuzenden kollektiv organisierten Privatinteressen, die diesem Zuwachs zugrunde liegen“⁴⁵², im Prinzip nur verschleiere. Habermas war vielmehr der Überzeugung, dass der Interventionsstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „durch Gesetz und Maßnahme tief in die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit“ eingreife, gerade weil „die konkurrierenden Interessen der gesellschaftlichen Kräfte“ sich in der sozialstaatlichen Massendemokratie längst „in politische Dynamik“ umgesetzt hätten und, „durch den staatlichen Interventionismus vermittelt, auf die eigene Sphäre zurückwirken“⁴⁵³ würden. Er versuchte also zu zeigen, dass Forsthoffs Rückfallposition, die strenge verfassungsrechtliche Auslegung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips, nur darauf hinauslaufen konnte, die Regierungspraxis einer expertokratischen Staats- und Verwaltungselite konservativer Provenienz gegen berechtigte demokratische Ansprüche aus der Gesellschaft zu immunisieren, was letztlich nichts anderes als eine unzeitgemäße Rückverwandlung der sozialstaatlichen Massendemokratie in den liberalen Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts bedeutet hätte.⁴⁵⁴ Habermas hielt Forsthoff dessen antidemokratische Pointe vor, in der Bundesrepublik die „ausschließliche Geltung des Rechtsstaatsbegriffs auf verfassungsrechtlicher Ebene“⁴⁵⁵ restaurieren zu wollen, obwohl die Einsichten des Schmitt-Schülers zur fortschreitenden Materialisierung des Rechts im Verwaltungsstaat der Daseinsvorsorge doch längst gegen eine in verfassungsrechtlicher Hinsicht bloß negatorische Auslegung der Grundrechte sprachen.⁴⁵⁶ Für den Kritischen Theoretiker  Ebd. S. 233.  Ebd.  Dazu wiederum Specter: „Habermas, aware of the pasts of the Schmitt students, held them at arm’s length. Nevertheless, he appropriated their radical critique of the welfare state against the grain of their intention. Like them, Habermas was repelled by the influence of powerful interestgroups. But where they criticized a ‚vacuum’ of state authority, he did not seek to reconstruct a strong executive branch as his preferred guardian of the constitution. Habermas learned from the Schmittians that the spheres of ‚state’ and ‚society’ had interpenetrated each other. If public and private spheres were collapsing in on one another, Habermas reasoned, the idea of prepolitical, negative liberties had ceased to be meaningful. Negative liberties could be reinvented only as positive guarantees of participation with a unified state-society.“, Specter, Habermas, S. 71.  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 272, Fn. 90.  Der Jurist Christoph Schönberger begründet Forsthoffs „Beharren auf einem formellrechtsstaatlichen Verfassungsverständnis in der Bundesrepublik“ mit dessen Überzeugung, „das entscheidende inhaltliche Moment des Rechts“ sei „längst aus dem Verfassungsrecht in das Verwaltungsrecht gewandert“: „Im Verfassungsrecht kann er gerade deshalb die technisch-formale Seite so stark betonen, weil die eigentlich bedeutsamen Entwicklungsprozesse der Indu-

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stand außer Frage, „daß die Verfassung des liberalen Rechtsstaates von Anbeginn nicht nur den Staat als solchen und in seinem Verhältnis zur Gesellschaft, sondern den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang im ganzen“⁴⁵⁷ habe ordnen wollen. Die soziale Transformation des liberalen Rechtsstaats sei folglich „durch Kontinuität, nicht etwa durch einen Bruch mit der liberalen Tradition charakterisiert“⁴⁵⁸. Hier rekurrierte Habermas auf Franz Neumanns immanente Kritik der Rechtsvorstellung der bürgerlichen Gesellschaft⁴⁵⁹ und stellte in Anlehnung an Abendroth fest, dem liberalen Prinzip der Generalität der Norm sei unter den veränderten Bedingungen der sozialstaatlichen Massendemokratie erst Genüge getan, wenn die allgemeine Formulierung […] unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen auch faktisch an keine bestimmte Gruppe innerhalb der Gesellschaft adressiert ist. […] Die Rechtswirkung des nach materialen Kriterien allgemeinen Gesetzes darf nicht selektiv sein; sie muß ‚elementar‘ oder ‚prinzipiell‘ sein in der Weise, daß sie sich auf die Grundlagen der gesamtgesellschaftlichen Ordnung und insofern auf den Personenkreis aller Mitglieder der Gesellschaft bezieht.⁴⁶⁰

Die Handschrift Abendroths machte sich in Habermas’ demokratietheoretischen Frühschriften nicht zuletzt daran bemerkbar, dass Habermas dem Staat als Agentur umfassender Planung aufgeschlossen gegenüberstand, solange die Planziele demokratisch von der Gesellschaft vorgegeben wurden. Damit bekannte er sich zu einem sozialistisch imprägnierten Republikanismus, in dem Rousseau gegenüber Kant klar die Oberhand behielt.⁴⁶¹ Ziel war eine Verfassungswirklichstriegesellschaft und des Sozialstaats aus seiner Sicht im davon unberührten Verwaltungsrecht ablaufen. Hieraus erklärt sich auch Forsthoffs Beharren auf einer traditionellen juristischen Gesetzeshermeneutik in der Verfassungsauslegung. Die Antiquiertheit der empfohlenen Methode entspricht der wahrgenommenen Antiquiertheit des Interpretationsgegenstands.“, Schönberger, „Werte als Gefahr für das Recht?“, S. 83.  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 327.  Ebd. S. 328.  Vgl. Neumann, „Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft“.  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 217, Fn. 88.  Wie sehr dabei die Grundgesetzinterpretation seines Marburger Lehrers Abendroth zum Zuge kam, verdeutlichte zudem eine Stelle aus Habermas‘ ebenfalls in Theorie und Praxis zu findenden Aufsatz über Naturrecht und Revolution, in der Habermas den Versuch einer immanenten Kritik des Liberalismus unternahm: „Freilich begreifen wir die Grundrechte nicht deshalb historisch aus dem gesellschaftlichen Lebenszusammenhang, um sie als pure Ideologie zu entwerten, sondern gerade um zu verhindern, daß die Ideen, nachdem ihnen die lebendige Basis entzogen, ihren Sinn preisgeben und sodann rechtfertigen, wovon sie einst die Menschen doch lossprechen sollten: die unaufgelöst substantielle Gewalt von politischer Herrschaft und sozialer Macht, die der Legitimation an öffentlich diskutierten und rationalen Zwecken weder willens noch fähig ist. Das

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keit, in der „das revolutionäre Moment der Positivierung von Naturrecht […] in eine[m] langfristigen Prozeß der demokratischen Integration von Grundrechten“⁴⁶² aufgehen sollte. Forsthoff warf er vor, die im organisierten Kapitalismus weiterhin von kapitalistischen Partikularinteressen dominierten, nichtöffentlichen Politikmodus als alternativlose Verwaltung im Dienste des Gemeinwohls auszugeben – ein Ideologieverdacht, den er im gleichen Atemzug auch gegen Schelskys technokratisch-konservative Programmschrift Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation aussprach, in der „[d]as einst von C. Schmitt entwickelte Modell des Verwaltungsstaates, dessen technische Funktionsbedingungen einer möglichen Demokratisierung entgegenstehen“⁴⁶³, wiederaufgenommen worden sei.

Kritik der Arkanpolitik: Habermas vs. Koselleck Wechselt man auf eine zweite wichtige Ebene der zeitgenössischen intellektuellen Debatte, hatte zwischen Ende der 50er und Ende der 60er das Thema der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Konjunktur. Der Öffentlichkeitsbegriff rückte regelrecht „ins Zentrum der Auseinandersetzung über die innere Demokratisierung der Bundesrepublik […] zwischen verschiedenen akademischen und generationellen Lagern“⁴⁶⁴. Die Angehörigen der wilhelminischen Generation (Jahrgänge 1883 bis 1905) – also Denker wie Hans Freyer, Günther Anders oder auch Theodor W. Adorno – waren, wie Christina von Hodenberg nachzeichnet, noch im vergleichsweise stabilen Kaiserreich sozialisiert worden, bevor sie den großen Zivilisationsbruch in Form zweier Weltkriege und der nationalsozialistischen Herrschaft an Haut und Haaren miterlebten.⁴⁶⁵ Seit den frühen 50ern dominierten sie zunächst die bundesrepublikanische Debatte und stimmten in ihren Konzepten von Öffentlichkeit vorwiegend kulturkritische Töne an. Demzufolge war die „gegenwärtige Öffentlichkeit […] als Element einer seelenlosen, technisierten

gleiche dialektische Verhältnis stellt sich also umgekehrt auch so dar: daß sich einerseits der revolutionäre Sinn des modernen Naturrechts nicht auf den gesellschaftlichen Interessenzusammenhang reduzieren läßt, daß sich aber andererseits die über bürgerliche Ideologie hinausweisende Idee des Naturrechts nicht etwa retten, sondern im Ernst erst verwirklichen läßt durch eine Interpretation aus den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen. Deren naturwüchsige Strukturen können freilich in den Normen der grundrechtlich fixierten Gesamtverfassung einer politischen Gesellschaft nur in dem Maße aufgehoben werden, in dem sie darin auch zur Geltung kommen.“, Habermas, Theorie und Praxis, S. 122.  Ebd. S. 123.  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 340, Fn. 130.  Hodenberg, Konsens und Krise, S. 31.  Ebd. S. 36.

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Massengesellschaft“ von „einer vormodernen utopischen Welt des ‚Eigentlichen‘“⁴⁶⁶ abzugrenzen. Den Medien, die „mechanistisch als Apparaturen, Systeminstanzen oder Maschinen beschrieben wurden“, stellten diese Autoren einen überzeichneten, emphatischen Begriff von Individualität gegenüber. Diese ‚Persönlichkeit‘, die es vor Entfremdung und Vereinnahmung zu bewahren galt, wurde dabei als die überlegene Eigenschaft einer geistigen Elite verstanden. Nicht die Partizipation aller Staatsbürger an den öffentlichen Debatten, sondern das Überleben des innerlich geleiteten, gebildeten Menschen in einer feindlichen Umwelt war der Dreh- und Angelpunkt dieser Konzepte – gleichgültig ob sie von Exponenten des Konservatismus, der Frankfurter Schule oder der Kirchen kamen.⁴⁶⁷

Während die meisten Wilhelminer also einen „Argwohn gegenüber der Moderne“⁴⁶⁸ kultivierten, fand spätestens in den frühen 60ern eine diskursive Wachablösung statt. Nun stellten die Reformdenker der 45er-Generation, allen voran Dahrendorf und Habermas, das kulturkritische Argument der Wilhelminer vom Kopf auf die Füße. Ihnen war daran gelegen, „den neugegründeten Weststaat durch eine politisierte Öffentlichkeit vor der Gefahr des Totalitarismus abzusichern“⁴⁶⁹. Demokratisierungsagenten wie Dahrendorf und Habermas sinnierten „mehr und mehr über die Funktion der öffentlichen Sphäre als Forum der politischen Kommunikation und als Kontrollinstanz der Regierung“, während sie „die Bedrohung der ‚Persönlichkeit‘ durch die Moderne immer weniger interessierte“⁴⁷⁰. Allerdings existierten im Denken ihrer Generation zwei konkurrierende Konzepte fort, „an deren Bewertung sich die akademischen Lager schieden: zum einen der im 18. und 19. Jahrhundert ausgeprägte Öffentlichkeitsbegriff des europäischen Liberalismus, zum anderen die Öffentlichkeitsidee der Weimarer Rechten und des Nationalsozialismus – personifiziert in Carl Schmitt und seiner ‚Schule‘“⁴⁷¹. Innerhalb dieser generationeninternen Debatte war der konservative Gegenentwurf zu Habermas’ Studie über den Strukturwandel der Öffentlichkeit die drei Jahre zuvor erschienene Dissertationsschrift des Historikers und Schmitt-Schülers Reinhart Koselleck über Kritik und Krise, die in ihrem programmatischen Untertitel den Nachweis einer „Pathogenese der bürgerlichen Welt“ ankündigte. Mit Habermas und Koselleck standen sich in der frühen Bundesrepublik folglich ein

     

Hodenberg, „Konkurrierende Konzepte von ‚Öffentlichkeit‘“, S. 208. Ebd. Hodenberg, Konsens und Krise, S. 37. Ebd. S. 41. Hodenberg, „Konkurrierende Konzepte von ‚Öffentlichkeit‘“, S. 209. Hodenberg, Konsens und Krise, S. 43 f.

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sozialistischer Verfechter des radikaldemokratischen Aufklärungs- und Öffentlichkeitsmodells der Französischen Revolution und ein konservativer Kritiker der Aufklärung im Geiste Edmund Burkes gegenüber. Mit den Worten des HennisBiografen Schlak: Während Habermas „in der Herausbildung einer kritischen und moralischen Öffentlichkeit einen Wandel zu mehr ‚Demokratisierung‘, ‚Emanzipation‘ und ‚Partizipation‘“ erkannte, verglich Koselleck diese Entwicklung mit einer „Unterwerfung der Politik unter die Moral, die zwangsläufig zu Krise und Bürgerkrieg führe“⁴⁷². Demnach versuchte Koselleck in seiner Studie „die liberale Öffentlichkeitsidee mittels des Repräsentationsbegriffs aus den Angeln zu heben, das Element der staatsbürgerlichen Partizipation aus der öffentlichen Sphäre herauszudefinieren, den Staat zum unentbehrlichen Richter im endlosen Kampf der Gruppeninteressen zu stilisieren sowie das Staatswohl mit dem Gemeinwohl und das Publikum mit der ungebildeten Masse gleichzusetzen“⁴⁷³. Seine Dissertationsschrift war in ihrer „Fixierung auf die Gefahr des Bürgerkrieges, die durch die Stärkung der Staatsmacht überwunden werden sollte“⁴⁷⁴, freilich in hohem Maße von Schmitts Denken beeinflusst.⁴⁷⁵ Noch im Vorwort zur ersten Auflage von Kritik und Krise mochte Koselleck seinen „Dank aussprechen Herrn Professor Dr. Carl Schmitt“, der ihm „in Gesprächen Fragen stellen und Antworten suchen“⁴⁷⁶ geholfen habe. Aus Kosellecks akademischen Gesellenstück lässt sich folglich ohne viel Phantasie ableiten, dass er die von Habermas und auch von Dahrendorf vehement geforderte Demokratisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft – das Denken von der Gesellschaft her – genauso leidenschaftlich ablehnte wie sein Plettenberger Mentor. Aus einer anderen Perspektive als der staatsrechtliche Schmitt-Schüler Forsthoff, der in erster Linie gegen den von den Christdemokraten seit Ende der 50er ja selbst forcierten Ausbau des bundesrepublikanischen Sozialstaats anschrieb, sympathisierte der 23er Koselleck mit Adenauers autoritärem Konsolidierungskurs und gehörte in dieser Zeit noch zu jenen konservativen Figuren, die in den Worten Jan-Werner Müllers „den Staat über die Gesellschaft setzten und wenig auf die Freiheit des Individuums gaben“⁴⁷⁷. Noch vor der Niederschrift seiner Habilitationsschrift begegnete Habermas bei der Lektüre von Kosellecks Studie unverschlüsselt Schmitts antidemokrati-

 Schlak, Wilhelm Hennis, S. 53.  Hodenberg, Kritik und Krise, S. 48.  Hodenberg, „Konkurrierende Konzepte von ‚Öffentlichkeit‘“, S. 211.  Gleiches galt für die Komplementärarbeit des Soziologen und regelrechten Schmitt-Jüngers Hanno Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg.  Koselleck, Kritik und Krise, S. XII.  Müller, Ein gefährlicher Geist, S. 90 f.

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schem Staatsverständnis aus den späten 30ern.⁴⁷⁸ In einer Doppelrezension von Kritik und Krise und der zeitgleich erschienenen Dissertation Hanno Kestings über Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg für den Merkur gab Habermas Ende der 50er an, in beiden Studien den unverhohlenen Versuch einer Konservierung von Schmitts politischem Existentialismus und Freund-Feind-Denken in der Bundesrepublik entdeckt zu haben: denkbar ungünstig in einer Zeit, in der es für Linke und Liberale vor allem darauf ankam, „der von außen eingepflanzten Demokratie ein autochthones Fundament […] zu verschaffen“⁴⁷⁹. Hatten Horkheimer und Adorno aus kritisch-theoretischer Perspektive noch bedauert, dass die Aufklärung ihres herrschaftskritischen und utopischen Kerns verlustig gegangen und stattdessen in den ideologischen Mythos totaler instrumenteller Naturbeherrschung umgeschlagen war, boten Koselleck und Kesting hierzu eine von Schmitts Hobbes-Studie inspirierte konservative Gegendialektik an. Demzufolge hatte die Aufklärung ihre eindeutigen politischen Implikationen von Anbeginn geleugnet und war gerade wegen ihres utopischen Anstrichs zum Brandbeschleuniger eines Bürgerkriegs und anschließend eines Weltbürgerkriegs zwischen dem liberalen

 Wie er einige Jahrzehnte später berichtete, sah er sich von dem auf den Machtstaat ausgerichteten, Hobbes’ Absolutismus sogar noch überbietendem Denken Schmitts besonders herausgefordert. Als Schmitts Weimarer Schriften Politische Theologie und Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus in den 80ern ins Englische übersetzt wurden, deutete Habermas im Times Literary Supplement für ein englischsprachiges Publikum das Schmittsche Gesamtwerk deshalb auch noch einmal „im Lichte des Hauptwerks, der […] nicht sehr umfangreichen Studie über Hobbes“ aus dem Jahr 1938: „Das Hobbes-Buch hat die Perspektive, aus sich [die] Argumente der zwanziger Jahre zusammenzufügen, entfaltet. Weimar erschien als die Verfallsperiode: die Reste eines selbst von Hobbes bereits halbherzig konzipierten Staates lösten sich auf in einer unpolitischen ‚Selbstorganisation der Gesellschaft‘. Die Krise konnte nur auf dem Wege über eine vorübergehende diktatorische Ausnutzung des Notstandsparagraphen 48 der Weimarer Verfassung, dauerhaft jedoch nur durch den ‚totalen Staat‘ überwunden werden. Dabei dachte Schmitt zunächst an Mussolini und den italienischen Faschismus. Nach der Machtergreifung durch die Nazis war er opportunistisch genug, seiner Staatskonstruktion jene kleine Wendung zu geben, die nötig war, um den Dezisionismus des Führers nicht mehr rein Hobbesianisch verstehen zu müssen, sondern als die souveräne Spitze über den ‚konkreten Ordnungen‘ des VolkeS. […] Schmitt konstruiert eine antisemitische Genealogie der Feinde des Leviathan. Sie beginnt mit Spinoza, der als jüdischer Philosoph von außen an die Staatsreligion herantritt und der individuellen Gedankenfreiheit eine gefährliche Bresche geschlagen hat; sie setzt sich fort in Moses Mendelssohn und im ‚rastlosen Geist der Juden‘ in den Freimaurer- und Illuminatenorden des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die ‚instinktsicher‘ die staatliche Macht unterminiert haben – ‚zur Lähmung des fremden und zur Emanzipation des eigenen jüdischen Volkes‘; sie führt schließlich zu den emanzipierten Juden Heine, Börne und Marx, die ihre ‚Operationsgebiete‘ in Publizistik, Kunst und Wissenschaft subversiv ausnutzen. Sie alle haben den Leviathan, den Staat als Mythus, ‚geistig paralysiert‘., Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, S. 107 f.  Söllner, „Jenseits von Carl Schmitt“, S. 526.

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Westen und dem kommunistischen Osten avanciert.⁴⁸⁰ Habermas wandte gegen die beiden konservativen Dialektiker der Aufklärung ein, sie redeten mit ihrer Wiedereinführung der Hobbes’schen Kategorie des Bürgerkriegs in die intellektuelle Debatte nur „der Herrschaft von Eliten und Elitennationen mit dem Argument ihrer naturwüchsigen und unaufhebbaren Überlegenheit“ das Wort und orientierten sich dabei „negativ an einer Organisation politischer Herrschaft, die in der Person des absoluten Monarchen ihren Idealtypus findet und die Wiederherstellung der gestörten Ordnung als wünschenswert voraussetzt“⁴⁸¹. Ein solches Modell politischer Ordnung aus der reaktionären Mottenkiste sei „unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen“ der Adenauerrepublik jedoch „nur in Form des totalitären Staates möglich“: Schmitt habe „diese Konsequenz auch mit großer Klarheit und selbst Entschiedenheit gezogen“⁴⁸². Habermas zeigte sich am Ende seiner Rezension deshalb ironisch-bissig „dankbar, von so gescheiten Autoren zu erfahren, wie Carl Schmitt, ein [in den Hobbesschen Kategorien des Bürgerkriegs – M.H.] denkender Spezialist, die Lage heute beurteilt“⁴⁸³.

 In ihrem „politisch neutrale[n] Anspruch einer feststehenden, ewig gültigen Moral“ musste die Aufklärung laut Koselleck „in sich notwendig so total“ werden, „daß alle Handlungen und Haltungen in der politischen Welt, wenn sie erst einmal dem moralischen Urteil unterworfen [wurden] und vor diesem nicht bestehen [konnten], in ein totales Unrecht [gerieten].“ Folglich war es nur eine Frage der Zeit, bis die Aufklärer – einmal selbst an die Macht gekommen – allen denen, die sich dieser „moralische[n] Totalität“ nicht fügten, „die Existenzberechtigung“ (Koselleck, Kritik und Krise, S. 27 f.) entzogen. Auf lange Sicht habe sich die Kritik „in ihrer Hypokrisie ad absurdum“ (ebd. S. 103) geführt. Folgt man Kesting über den Zeitraum des 18. Jahrhunderts hinaus, dann setzte die Aufklärung ein geschichtsphilosophisches Denken in Bewegung, das „um der Zukunft willen auf die Gegenwart zu verzichten“ (Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, S. XIV) bereit gewesen sei. Die „Pathogenese der bürgerlichen Welt“, so der Untertitel von Kosellecks Studie, hatte ihren Urgrund demnach „[i]n der Entfremdung der Moral von der politischen Wirklichkeit“ (Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 47) und folgte der „konsekutiven Argumentationskette Geschichtsphilosophie, Utopie, Ideologie, ‚Endstation Terror‘“ , ebd. S. 60.  Habermas, „Verrufener Fortschritt – Verkanntes Jahrhundert“, S. 475.  Ebd.  Ebd. S. 477. An Koselleck schätzte Habermas gleichwohl den im Unterschied zu Schmitt entschieden sachlicheren Duktus und das Bemühen um historische Akkuratesse. Allgemein konnte Habermas seinem Anspruch, die Kritische Theorie als interdisziplinären Materialismus auf demokratietheoretischer Ebene zu erneuern, auch nur gerecht werden, wenn er die Methode der immanenten Kritik um nennenswerte sozial-, politik- und begriffsgeschichtliche Aspekte ergänzte und auf diese Weise auch in breiteren wissenschaftlichen Kreisen Gehör fand. Nur so konnte es ihm gelingen, „die Öffentlichkeitsidee der Aufklärung und des Frühliberalismus vor den Angriffen der ‚neuen Konservativen‘ zu retten“, Hodenberg, Konsens und Krise, S. 50. Im Mittelteil seiner Habilitationsschrift lieferte Habermas deshalb auch eine begriffsgeschichtliche Herleitung der öffentlichen Meinung und eine kritische Ideengeschichte der Öffentlichkeit von

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Koselleck gab sich in Kritik und Krise offen als konservativer Kritiker der Aufklärung zu erkennen, die „kraft eigener Autorität die Grenze“ beseitigt habe, „die sie sich selbst einst gegeben“⁴⁸⁴. Seine Studie „interpretierte die sukzessive Ausweitung der bürgerlichen Forderung nach Öffentlichkeit als langsamen Prozeß der Beschlagnahme des Staates durch die Kräfte der Gesellschaft“⁴⁸⁵. Der Schmitt-Schüler dachte den dialektischen Umschlag einer vormals opaken Herrschaftskritik in die öffentliche Politisierung der Moral folglich von Hobbes’ Staatsverständnis her – als eine Krisendialektik von Moral und Politik, die „zwischen den kosmopolitischen Gesetzen und den unvermeidlichen Übeln des Staates […] auf einen radikalen Dualismus“⁴⁸⁶ habe zusteuern müssen. Seine an Edmund Burkes konservativer Revolutionskritik aus dem späten 18. Jahrhundert⁴⁸⁷ angelehnte Rekonstruktion der „Pathogenese der bürgerlichen Welt“ lief – mit einem deutlichen Seitenhieb auf Rousseaus Republikanismus – schließlich auf die Warnung vor der „permanente[n] Revolution im Gewande der Legalität“⁴⁸⁸ und vor einer pausenlosen „Jagd nach der Fiktion einer rational durchgeplanten Wirklichkeit“ hinaus, die „immer wieder die Diktatur aus sich“ hervorbringe, „um die ungedeckten Wechsel [auf die Zukunft] einzulösen“⁴⁸⁹. Dabei knüpfte Koselleck an eine Grundüberlegung aus Schmitts Hobbes-Buch an, der zufolge „der

Kant über Hegel und Marx zu J. St. Mill und Tocqueville. Zweifellos erhielt er den entscheidenden methodischen Anstoß für dieses Herzstück seiner Studie, das die sozial- und politikgeschichtlichen Teile der Entstehungs- und Verfallsgeschichte der bürgerlichen Öffentlichkeit in genialer Manier miteinander verknüpft, durch seine Lektüre der Dissertation Kosellecks. Es spricht zudem vieles für die These, dass Habermas seinen ersten Anlauf zu einer Demokratietheorie der Öffentlichkeit überhaupt erst durch eine theoriepolitische Absetzbewegung von Koselleck entwickelte, behandelte dieser in Kritik und Krise mit der „Geschehenseinheit der Aufklärung im absolutistischen Staat“ (Koselleck, Kritik und Krise, S. 5) doch einen Zeitraum, der laut Habermas für die Herausbildung der öffentlichen Meinung konstitutiv gewesen war. In einer Fußnote seiner Habilitationsschrift dankte Habermas Kosellecks „ausgezeichnete[r] Untersuchung“ folgerichtig auch für die „viele[n] Hinweise“, Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S.161, Fn. 2. Später attestierte er den liberalkonservativen Schmitt-Schülern im Rückblick zwar „viel Konservatives, aber kein[en] Hauch von rechtem Untergrund“, und kam immerhin zu dem einigermaßen versöhnlichen Schluss: „Auf diesen Pfaden hat Carl Schmitt die politische Kultur der Bundesrepublik gewiß nicht destabilisiert.“, Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik, S. 118.  Koselleck, Kritik und Krise, S. 101.  Hodenberg, Konsens und Krise, S. 49.  Koselleck, Kritik und Krise, S. 73.  Vgl. Burke, Über die Französische Revolution.  Koselleck, Kritik und Krise, S. 136.  Ebd. S. 140.

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Vorbehalt der inneren, privaten Gedanken- und Glaubensfreiheit“ „zum Todeskeim“⁴⁹⁰ der staatlichen Friedensstiftung geworden sei.⁴⁹¹ Doch weder fand sich in Kosellecks Dissertation eine Spur von dem unverhohlenen Antisemitismus Schmitts⁴⁹², der den „rastlose[n] Geist des Juden“ für die „Unterminierung und Aushöhlung der staatlichen Macht“⁴⁹³ verantwortlich gemacht hatte, noch zog er aus seiner Aufklärungskritik – wie der intellektuelle Mentor – den durch und durch antiliberalen Schluss, die Gewaltenteilung habe als Institutionalisierung der Unterscheidung von innerem Glauben und äußerem Bekenntnis „die eindeutige Übereinstimmung von staatlichem Befehl und politischer Gefahr, von Macht und Verantwortung, Schutz und Gehorsam“⁴⁹⁴ getrübt.⁴⁹⁵ Dennoch zog Habermas damals mit Recht den Schluss, Koselleck sei ein

 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 86.  Dementsprechend hieß es bei Schmitt: „Die staatliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts vollendete den Gedanken der fürstlichen Souveränität, das cujus regio, ejus religio, und damit die klassische Form eines vollen, ungeteilten, staatlichen Absolutismus. Das geht aber nur in der Weise vor sich, daß die absolute staatliche Macht, die souverän-repräsentative Person, die den ständischen und den kirchlichen Gegner besiegt hat, zwar den augenfälligen Schauplatz des öffentlichen Geschehens und den Vordergrund der politisch-geschichtlichen Bühne beherrscht, daß gleichzeitig aber unsichtbare Unterscheidungen von Außen und Innen, Öffentlich und Privat nach allen Richtungen hin zu einer immer schärferen Trennung und Antithese weitergetrieben werden.“, ebd. S. 89. Fast wortgleich stellte Koselleck schon in der Einleitung seiner Dissertation die These auf: „Der Absolutismus bedingt die Genese der Aufklärung; die Aufklärung bedingt die Genese der Französischen Revolution. […] [D]er kritische Prozeß der Aufklärung hat die Krise im gleichen Maße heraufbeschworen, wie ihr der politische Sinn dieser Krise verdeckt blieb. Die Krise wird so sehr verschärft, wie sie geschichtsphilosophisch verdunkelt wird; sie wird nie politisch erfaßt, sondern bleibt verborgen in geschichtsphilosophischen Zukunftsbildern, vor denen das Tagesgeschehen verblaßt: um so ungehemmter konnte dieses auf eine unerwartete Entscheidung zusteuern.“, Koselleck, Kritik und Krise, S. 5 f.  Vgl. dazu auch La Vopa, „Conceiving a Public“, S. 85  Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 92 f.  Ebd. S. 117.  Dass ihm überhaupt nicht daran gelegen gewesen sei, die Idee einer aufklärerischen Herrschaftskritik in seiner Dissertation in Bausch und Bogen zu verwerfen, versuchte Koselleck im Vorwort zur Neuauflage von Kritik und Krise in den frühen 70ern zu verdeutlichen: [Die Problematik der Aufklärung] besteht darin, an eine Grenze zu kommen, die als politische Grenze erkannt sein will, wenn sie sinnvoll überschritten werden soll. Wo die Grenze als politische verkannt wird, gerinnt die Aufklärung zu einer Utopie, die, indem sie scheinbar beflügelt, Gegenbewegungen provoziert, welche sich der Verfügung der Aufklärung entziehen, sobald sie sich der Einsicht in die Heterogonie der Zwecke begeben hat. Die Heterogonie der Zwecke ist nämlich eine zeitliche Bestimmung des Politischen, die von keiner Utopie überholt werden kann. Vielmehr werden die Zielsetzungen einer Aufklärung gerade dann verfehlt, wenn sie die Dialektik eines politischen Prozesses nicht prognostisch einfangen kann. Die Dialektik der Aufklärung entspringt […] nicht nur ihr selbst, sondern mehr noch der geschichtlichen Situation, in der sie sich entfaltet. Jede

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gegenaufklärerischer Befürworter der plebiszitären Führerdemokratie im Geiste Schmitts.⁴⁹⁶ Denn zweifellos erscheint Hobbes – der Vordenker des absolutistischen Staates – in Kosellecks Dissertation als ein Apostel der politischen Klugheit. So heißt es an einer Stelle, Hobbes habe den „herkömmlichen Morallehren“ „eine Morallehre gegenüber“ gestellt, „die die politische Vernunft zum Thema hat“⁴⁹⁷. Laut Koselleck war allein Hobbes zu der „Denkleistung“ imstande gewesen, „den Riß zwischen Gewissen und Politik, soweit er bei den religiös orientierten, d. h. unvernünftigen Menschen unvermeidbar war, in einen Bereich zu verlegen, der außerhalb der Staatsmaschine lag“⁴⁹⁸. Der von Habermas verteidigte öffentliche Gebrauch der Vernunft sei überhaupt erst auf der Grundlage dieser „politischen Neutralisierung der religiösen Auseinandersetzungen“ und „Einschränkung der Kriege auf reine Staatenkriege“ möglich geworden: „Der moralische Fortschritt ist […], in den geschichtlichen Zusammenhang gestellt, ein Produkt der politischen Stabilität.“⁴⁹⁹

Aufklärung gerät früher oder später in Konfliktlagen, die rational aufzuschlüsseln eine Umsetzung der bloßen Kritik in politische Verhaltensweisen erfordert.“, Koselleck, Kritik und Krise, S. X. Der Originalausgabe von 1959 fehlte jedoch diese erst nachträglich vorgenommene Präzisierung.  Jan-Friedrich Missfelder hat die Spuren von Schmitts Hobbes-Deutung in Kosellecks Kritik und Krise detailliert nachverfolgt und dabei den instruktiven Hinweis gegeben, Koselleck sei in seiner Dissertation erheblich von Schmitts Antiliberalismus und Antimodernismus abgerückt, weil er hier bereits „eine vorhypokritische Situation“ skizziert habe, „die das Potential einer kritischen Haltung dem absolutistischen Staat gegenüber in eine produktive Position umzusetzen in der Lage“ (Missfelder, „Die Gegenkraft und ihre Geschichte“, S. 335) sei. Folglich bestehe ein „zentrale[r] Unterschied zwischen einer denunziatorisch gefärbten und prognostisch offenen Beschreibung eines politischen Mechanismus und der präzisen Diagnose seiner historischen Konstellation“ (ebd. S. 336): zwischen dem antiliberalen Begriffsrealismus Schmitts und der liberalkonservativen Begriffsgeschichte Kosellecks, der aus demokratietheoretischer Perspektive dann auch eher in die Nähe des englischen Republikaners Burke gerückt werden müsste. Doch scheint diese Erkenntnis nicht zuletzt einem Bruch in Kosellecks intellektueller Entwicklung zwischen Dissertations- zur Habilitationsschrift geschuldet. Reinhard Mehring kommt daher zu dem Ergebnis, dass Kosellecks „dramatische[ ] Formulierungen zur ‚Pathogenese‘ der Moderne […] ihrerseits Gefahr“ liefen, „moralische Ansprüche in der Politik im Namen einer sehr pauschalen Geschichtsphilosophie von Kritik und Krise politisch zu diffamieren“. Erst in seiner Habilitationsschrift über Preußen sei Koselleck dann in der zweiten Hälfte der 60er „zu einer positiveren Sicht des Modernisierungsprozesses“ (Mehring, „Das Politikum der Kritik“, S. 159 f.) gelangt.  Koselleck, Kritik und Krise, S. 24.  Ebd. S. 28.  Ebd. S. 38. In die gleiche Kerbe schlug in der zweiten Hälfte der 60er auch Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, vgl. dazu auch Missfelder, „Die Gegenkraft und ihre Geschichte“, S. 321.

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Folgt man Jan-Friedrich Missfelder, wollte Koselleck in seiner Dissertation die „Erinnerung an die konfessionellen Bürgerkriege als Legitimation des souveränen Staates“⁵⁰⁰ wachhalten. Mit Max Weber gesprochen, gab Koselleck dem politischen Verantwortungsethiker Hobbes, der die pazifizierende Staatsgewalt aus einer historischen Notwendigkeit heraus begründete, den Vorzug gegenüber dem moralisierenden Gesinnungsethiker Kant, der zu einer politisch instrumentalisierbaren, transhistorischen Kritik tendiert habe. Demnach sei Hobbes zwar „kein Historiker“ gewesen, „der vergangene und gegenwärtige Fakten gesammelt oder dargestellt hätte“, aber zumindest ein luzider „Geschichtsdenker, dem es darum ging, den Bürgerkrieg zu überwinden“: Der bereits von den Zeitgenossen erhobene Einwand, daß Hobbes aus dem, was ist, ableite, was sein soll, daß er aus einem Naturzustand, in dem die Menschen einander Wölfe sind, den geordneten Staat entspringen lasse […], beweist gerade die Geschichtlichkeit seines Denkens. […] Hobbes dachte geschichtlich sogar in hervorragendem Maße, als er den logisch paradoxen Sprung aus dem Naturzustand des Bürgerkriegs in den perfekten Staat vollzog. Hobbes brachte zur Sprache, was das siebzehnte Jahrhundert ausgezeichnet hat. Die Kraft seines Denkens erweist sich an dem prognostischen Element, das ihm inhärent ist.⁵⁰¹

Habermas retournierte auf diese Lobpreisung des Vordenkers der absolutistischen Staatstheorie in seiner Habilitationsschrift mit einer affirmativen Deutung der Französischen Revolution, die er als Beginn eines langfristigen Konstitutionalisierungsprozesses beschrieb, in dessen Verlauf „das Prinzip der Volkssouveränität mit dem des parlamentarischen Rechtsstaates“⁵⁰² im Begriff der öffentlichen Meinung zusammengefügt worden sei. Sein begriffs- und theoriepolitisches Gegenprojekt zur Schmitt-Schule zielte folglich auf die Freilegung des historischen Entwicklungspotentials einer „öffentlichen Meinung“, die „weder Gewaltenschranke noch selber Gewalt, noch gar Quelle aller Gewalten“ sein wollte, sondern durch die sich „vielmehr der Charakter der vollziehenden Gewalt, Herrschaft selbst“ verändert habe: Die ‚Herrschaft‘ der Öffentlichkeit ist ihrer eigenen Idee zufolge eine Ordnung, in der sich Herrschaft überhaupt auflöst; veritas non auctoritas facit legem. Diese Umkehrung des Hobbesschen Satzes geht beim Versuch, die Funktion der öffentlichen Meinung mit Hilfe des Souveränitätsbegriffs zu fassen, ebenso verloren wie in der staatsrechtlichen Konstruktion der pouvoirs. Pouvoir als solche wird durch eine politisch funktionierende Öffentlichkeit zur Debatte gestellt. Diese soll voluntas in eine ratio überführen, die sich in der öffentlichen

 Ebd. S. 324.  Koselleck, Kritik und Krise, S. 31 f.  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 173.

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Konkurrenz der privaten Argumente als der Konsensus über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige herstellt.⁵⁰³

Es ist an dieser Stelle wichtig, noch einmal den Unterschied zwischen Habermas’ hegelmarxistischer Forderung nach einer Aufhebung und Schmitts strikter Ablehnung des Parlamentarismus herauszustellen. Schmitt hatte „öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentieren“ in den 20ern noch als das „Wesentliche des Parlaments“ bezeichnet, „wobei zunächst noch nicht an Demokratie gedacht zu werden“⁵⁰⁴ brauche. Das Prinzip öffentlicher Deliberation war für ihn letztlich nur als eine abgeschottete elitäre Praxis im Honoratiorenparlament des 19. Jahrhunderts vorstellbar. Habermas zog in seiner Reaktion auf Kosellecks Kritik und Krise hingegen den Schluss, dass sich die öffentliche Meinung, das Prinzip rationaler Diskussion als Medium genuin demokratischer Herrschaftsrationalisierung, ursprünglich aus der Gesellschaft heraus und also gegen den Staat herausgebildet hatte, bevor sie ihr politisch-institutionelles Äquivalent erst anschließend in den Institutionen des Parlamentarismus fand. So seien „die Kaffeehäuser in ihrer Blütezeit zwischen 1680 und 1730, die Salons in der Zeit zwischen Regentschaft und Revolution“ in England und Frankreich und später auch in Deutschland zu „Zentren einer zunächst literarischen, dann auch politischen Kritik“ geworden, „in der sich zwischen aristokratischer Gesellschaft und bürgerlichen Intellektuellen eine Parität der Gebildeten herzustellen“ begonnen und die Meinung „sich von den Bindungen der wirtschaftlichen Abhängigkeit“⁵⁰⁵ gelöst habe. Im Gegensatz zu Koselleck verwies der Hobbes-Kritiker Habermas hier auf die entscheidende Rolle des Aufklärers Kant, der mit seiner Idee der „Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral“ zum „äußersten Gegenschlag gegen das Prinzip: auctoritas non veritas facit legem“⁵⁰⁶ ausgeholt habe und als

 Ebd. S. 152 f.  Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 43.  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 92 ff.  Dazu heißt es im Strukturwandel der Öffentlichkeit weiter: „Einst konnte Hobbes mit dieser Formel die absolute Gewalt der Fürsten sanktionieren, weil Friedensstiftung, nämlich das Ende des konfessionellen Bürgerkrieges, offenbar nur um den Preis zu erlangen war, daß die öffentliche Gewalt in der Hand des Monarchen monopolisiert und die bürgerliche Gesellschaft, samt ihrem Gewissensstreit, als Privatsphäre neutralisiert wurden. Vor der Dezision nach Eingebungen einer Klugheit, die sich in der Person des Souveräns sozusagen existentiell auswies, war jedes Räsonnement nach Regeln der Sittlichkeit zur politisch folgenlosen Gesinnung herabgesetzt. Als diese durch Kant, zwei Jahrhunderte danach, in Form des Gesetzes der praktischen Vernunft rehabilitiert wurde, als gar die politische Gesetzgebung ihrer Kontrolle moralisch unterstellt sein sollte, hatten sich inzwischen jene bürgerlichen Privatleute zum Publikum formiert und die

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maßgeblicher Repräsentant der rationalen Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat und der damit einhergehenden konstitutionellen Zähmung der Politik verstanden werden müsse. Seine von Kant und Rousseau gleichermaßen inspirierte Theorie der Öffentlichkeit mündete letztlich in die ambitionierte Forderung nach der „Bindung aller Staatstätigkeit in einem nach Möglichkeit lückenlosen System von Normierungen, die durch öffentliche Meinung legitimiert sind“⁵⁰⁷. Gemessen an dieser idealistischen Zielbestimmung klang Habermas’ Fazit zum Zustand der politischen Öffentlichkeit in der Kanzlerdemokratie Adenauers nach dem sang- und klanglosen Scheitern der ersten außerparlamentarischen Protestbewegung gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik jedoch ernüchtert. Demnach habe sich die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik „zum Hof“ rückgebildet, vor dessen Publikum sich Prestige entfalten läßt – statt in ihm Kritik. Einst mußte Publizität gegen die Arkanpolitik der Monarchen durchgesetzt werden: sie suchte Person oder Sache dem öffentlichen Räsonnement zu unterwerfen und machte politische Entscheidungen vor der Instanz der öffentlichen Meinung revisionsfähig. Heute wird Publizität umgekehrt mit Hilfe einer Arkanpolitik der Interessenten durchgesetzt: sie erwirbt einer Person oder Sache öffentliches Prestige und macht sie dadurch in einem Klima nicht-öffentlicher Meinung akklamationsfähig.⁵⁰⁸

Sphäre ihres Räsonnements, nämlich Öffentlichkeit, in die politischen Funktionen einer Vermittlung von Staat und Gesellschaft eingesetzt. Darum gilt Kants Publizität als dasjenige Prinzip, das allein die Einhelligkeit der Politik mit der Moral verbürgen kann. Er begreift ‚Öffentlichkeit‘ als Prinzip der Rechtsordnung und Methode der Aufklärung zumal.“, ebd. S. 179 f.  Ebd. S. 152.  Ebd. S. 299 f. Sighard Neckel hat Habermas’ Refeudalisierungsthese vor einigen in die sozialwissenschaftliche Debatte wiedereingeführt und dabei die interessante Überlegung angestellt, der junge Habermas habe mit diesem Begriff auf einen kontingenten „Wandlungsmodus der Gesellschaft“ abgestellt, wohingegen seine spätere „Kolonialisierungsthese“ aus der Theorie des kommunikativen Handelns „eine Art von unaufhaltsamer Rationalisierung“ darstelle, „die sich schließlich ins Pathologische“ richte: „eine fortschreitende Modernisierung ohne Gegenläufigkeit, die bestehende Sozialbeziehungen durch die Funktionsweise moderner Systemmedien wie Geld, Markt, Recht oder Bürokratie ersetzt und in eine gesellschaftliche Sinn- und Integrationskrise mündet. Demgegenüber verfügt das analytische Modell der Refeudalisierung über die Eigenschaften, weder eine lineare Steigerung von Krisenphänomenen behaupten zu müssen noch gezwungen zu sein, solche Krisenphänomen auch dann noch auf Pathologien moderner Zweckrationalitäten zurückzuführen, wenn es beispielsweise gar keine anonymen Systemimperative moderner Märkte sind, die gesellschaftliche Krisenerscheinungen entstehen lassen, sondern vielmehr die Machtchancen ständisch privilegierter ökonomischer Führungsgruppen.“, Neckel, „‚Refeudalisierung‘“, S. 48.

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Das Elend der Demoskopie Kurz vor der Wahl zum 4. Deutschen Bundestag am 17. September 1961 steuerte Habermas auf der Grundlage dieses Fazits einen alarmistischen Text zum magnum-Sonderheft Woher – Wohin. Bilanz der Bundesrepublik bei, in dem er das westdeutsche politische System polemisch mit einer „Wahlmonarchie“ verglich. Die Godesberger Wende der SPD signalisiere: „in einem immer mehr sich schließenden System der Meinungsbildung stehen auch die Alternativen unter Konformitätszwang – ‚Wohlstand ist für alle da‘“⁵⁰⁹. Dass die Christdemokraten, die trotz des zunehmend eruptiven Führungsstils eines greisen Bundeskanzlers zu diesem Zeitpunkt vor ihrem vierten Bundestagswahlsieg in Folge standen, beim Volke besser ankamen als die Sozialdemokraten, führte Habermas in einer auf den ersten Blick paradox anmutenden Erklärung auf die katholisch und bürgerlich geprägte Stammwählerschaft der Union zurück, die im Vergleich zur Wählerklientel der SPD „in einem höheren Grad vorpolitisch oder ganz unpolitisch motiviert“ sei, „so daß es größerer Anstrengungen bedarf, diesen Anhang zur rechten Zeit auf die Beine zu bringen“⁵¹⁰. Damit sich die ihr wohlgelittenen, aber demokratiefaulen Wähler schließlich doch an die Urnen schleppten, habe die CDU „als erste Partei ihre Wahlstrategie auf die modernen Techniken der Konsumentenwerbung“ umstellen müssen. Darin habe sie es mittlerweile zu einiger Virtuosität gebracht, weshalb ihr überdies auch noch die „‚Abschöpfung‘ des Reservoirs an Unentschlossenen“⁵¹¹ – der am Ende über Sieg oder Niederlage entscheidenden Wählergruppe – besser gelinge als der sozialdemokratischen Konkurrenz. Im Prinzip folgte Habermas mit seiner Kritik an der demoskopischen Ermittlung des Wählerwillens einer Beobachtung des Juristen und Politikwissenschaftlers Wilhelm Hennis, der in seiner Studie über Meinungsforschung und repräsentative Demokratie bereits kurz vor der Bundestagswahl 1957 festgestellt hatte, „daß die Meinungsumfragen in der Bundesrepublik zu einem anerkannten Instrument des politischen Kampfes avanciert sind, das aus der Technik moderner Herrschaftsformen kaum mehr weggedacht werden kann“⁵¹². Hennis’ Prognose lautete schon zwei Jahre vor der Godesberger Wende der SPD, die er, der selbst Sozialdemokrat war, im Unterschied zu Habermas entschieden befürworten sollte:

   

Habermas, „Die Bundesrepublik – eine Wahlmonarchie?“, S. 26. Ebd. S. 27. Ebd. Hennis, „Meinungsforschung und repräsentative Demokratie“, S. 38.

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So wenig wie unser parlamentarisches Leben noch durch ‚geborene‘ Koalitionen bestimmt wird, so ungewiß wird für das Kalkül des Wahlstrategen die ‚geborene‘ Parteizugehörigkeit bestimmter, von ihm traditionell ansprechbarer Bevölkerungsgruppen. […] Da die Parteien im ‚Daseinsvorsorgestaat‘ im großen und ganzen alle das gleiche zu tun versprechen und faktisch im großen und ganzen auch alle das gleiche tun würden, kämen sie an die Macht, sind es Faktoren persönlicher, stimmungsmäßiger Art, die das Urteil des Wählers mehr und mehr bestimmen, immer weniger aber eine zunehmend undifferenziert werdende Klassenlage und die spezifischen Interessen, die mit ihr traditionell verbunden waren.⁵¹³

Auf einer allgemeineren Ebene war Habermas auf der Suche nach einer konkreten Fragestellung für seine Habilitationsschrift ebenfalls in Hennis’ kleiner Studie fündig geworden. Hier fand sich bereits die These, eine Reihe „politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Tendenzen“ laufe mittlerweile „insgesamt auf einen Abbau der liberalen Repräsentativdemokratie und des ihr zugeordneten Begriffs der öffentlichen Meinung“⁵¹⁴ hinaus. Diesem Strukturwandel der Öffentlichkeit ging Habermas in seinem akademischen Meisterstück bekanntlich selbst genauestens auf den Grund. Allerdings lehnte er die offen elitäre Konzeption politischer Führung, die Hennis gegen die Vermassungstendenzen im Daseinsvorsorgestaat der modernen Industriegesellschaft vorschlug, als sentimentalen Bewahrungsversuch eines überkommenen Frühliberalismus vehement ab.⁵¹⁵ Hennis hielt indes weiter „am Vorrang der bildungsbürgerlichen Elite, an einer starken Führung und am prinzipiellen Vertrauen in den verantwortlich handelnden Staatsmann fest“⁵¹⁶ – eine Position, die ihn Ende der 60er in scharfe Opposition zur Studentenbewegung bringen sollte und schließlich auch zum Vordenker einer konservativen Tendenzwende werden ließ. Anders als der auf Erlösung hoffende Republikaner Habermas oder der auf grenzenlose Mobilität in der marktwirtschaftlich flankierten Demokratie zielende Dahrendorf trat der für konsequente politische Führung optierende Hennis in der frühen Bundesrepublik nur „für eine vorsichtige Veränderung unter Anknüpfung an erhaltenswerte deutsche Kulturmuster ein und wahrte zugleich Distanz zu den  Ebd. S. 40.  Ebd. S. 62.  Dazu Habermas konkret: „Das Moment der Öffentlichkeit, das Vernünftigkeit verbürgt, soll [bei Hennis; M.H.] um den Preis ihres anderen Moments der Allgemeinheit, das allgemeine Zugänglichkeit verbürgt, gerettet werden. Dabei werden die Qualifikationen, die die Privatleute einst als soziale Kriterien der Zugehörigkeit zum Publikum innerhalb der Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit erwerben konnten, zu hierarchischen Qualitäten der Repräsentation verselbständigt, weil mit jener Basis nicht mehr gerechnet werden kann: Eine Repräsentanz dieser Art läßt sich unter den gegebenen Verhältnissen soziologisch nicht mehr befriedigend bestimmen.“, Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 346.  Hodenberg, Konsens und Krise, S. 58.

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reformerischen Konzepten von ‚Demokratisierung‘ und ‚Diskussion‘“⁵¹⁷. Als Smend-Schüler und Schmitt-Kritiker zugleich war die Bundesrepublik für ihn „ein aufnahmebereiterer Boden für das Gedeihen des plebiszitär-demokratischen Mißverständnisses unserer Staatsform, als ihn die repräsentativen Demokratien von der alten Tradition der angelsächsischen Staaten abgeben“⁵¹⁸. Diese Warnung richtete sich bei Hennis aber nicht etwa – wie bei Habermas – gegen den autoritären Regierungsstil Adenauers, sondern vor allem gegen Habermas und „die deutsche demokratische Linke“ selbst, die „sich nur schwer von der Idee [wird] trennen können, die Demokratie bestünde darin, daß der Wille des Volkes in jeder nur denklichen Weise geschehe und die Identität von Regierenden und Regierten im Sinne unmittelbarer ‚Teilhabe‘ des Volkes an der Regierungsmacht hergestellt wird“⁵¹⁹. Die Kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule belehrte er in Meinungsforschung und repräsentative Demokratie deshalb bereits mit den Worten: „Wer davon ausgeht, daß in einer politischen Gemeinschaft immer teils dümmere, dahergeredete, mithin weniger beachtenswerte, teils klügere, durchdachte, mithin öffentlichen Respekt fordernde Meinungen vertreten werden, den darf man nicht gleich ‚naiver Elitentheorie‘ zeihen.“⁵²⁰ Denn „auch in der freiheitlichen Demokratie und gerade in ihr“ entschied laut Hennis „darüber, ob eine Meinungsäußerung ein Beitrag zur öffentlichen Meinung ist, nicht der Kopf, sondern das, was in ihm ist“⁵²¹. Hennis’ Ablehnung der Demoskopie speiste sich folglich aus ganz anderen Quellen als bei Habermas. Nach Hennis gehörte es „zu den Gemeinplätzen der Meinungsforschung, gegenüber dem angeblich ‚formalen‘ Bild der nur in ihrer Verfassungsform existenten Demokratie, das pathetische Bild einer ‚wahreren‘, ‚echteren‘ Demokratie zu zeichnen, die sich aus der perpetuierlichen Befragung eines statistisch-repräsentativen Samples ergeben soll“⁵²². Der Siegeszug der Demoskopie in der Massendemokratie führe zu einer „Beeinträchtigung der repräsentativen Verfassungsinstitutionen durch scheinplebiszitäre Elemente“⁵²³ und einen damit verbundenen Schwund der Führungsbereitschaft: „Über lauter ‚Gesellschaft‘ sieht man die Verfassung nicht mehr, will sie auch nicht sehen, glaubt sie auch nicht sehen zu müssen, ist sie doch nur das ‚Produkt‘ gesellschaftlicher

      

Ebd. S. 57. Hennis, „Meinungsforschung und repräsentative Demokratie“, S. 65. Ebd. Ebd. S. 52. Ebd. S. 61. Ebd. S. 66. Ebd. S. 67.

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Verhältnisse.“⁵²⁴ Hennis hielt den Parlamentarismus überhaupt nur dann für rettbar, wenn „ein Parlament sich weigert, die gemeine Meinung demoskopischer Ergebnisse, sei es selbst gegen die Regierung auszuspielen oder gegen sich ausspielen zu lassen“⁵²⁵. Die Meinungsforschung, die „ständig das statistisch Repräsentative gegen die soziale Zusammensetzung der politischen Repräsentation“ ausspiele, war demzufolge „nur geeignet, den Prozeß der Abschottung und Auslaugung der alten sozialen Führungsschicht zu verstärken, die Bildung einer neuen zu verhindern“⁵²⁶. Dagegen hielt der radikaldemokratische Kapitalismuskritiker Habermas einen von der Markt- und Meinungsforschung dominierten Bundestagswahlkampf vor allem deshalb für bedenklich, weil er „allenfalls eine Wählergruppe zu plebiszitärer Akklamation“ veranlasse, „die auf der Skala der staatsbürgerlichen Tugenden weit unten“ rangiere und „zur Wahlurne mehr geschoben als gezogen“⁵²⁷ werde. Dieses pseudo-politische Schauspiel sei letztlich nur ein weiterer „Bestandteil einer Konsumentenkultur für Unpolitische“, dem „natürlich eine Partei um so weniger gewachsen“ sei, „je mehr ihre Organisation an innerparteilicher Demokratie sich bewahrt hat, je mehr sie an politischer Programmatik festhält“⁵²⁸. Der „Nutzeffekt des Reklameaufwands“ für die alleinregierenden Unionsparteien hing nach Habermas jedoch in erheblichem Maße von der guten Konjunkturentwicklung in der Bundesrepublik ab. So müsse die Wahlbevölkerung „wenigstens subjektiv […] die Gewißheit haben, daß ihre Ansprüche auf soziale Entschädigungen in bestimmtem Umfang eingelöst sind und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft befriedigt werden“⁵²⁹. Deshalb verwende die konservative Regierung „[u]nter Anleitung der Meinungsforscher, die den politischen Markt stetig unter Kontrolle halten“, im Vorfeld der Wahlen „ihre innerpolitische Sorgfalt vorzüglich auf die Stabilisierung des Preisniveaus und auf wohldosierte, termingerecht gezielte Kaufkrafterhöhungen in solchen Einkommensgruppen, in denen sie die für den Wahlausgang entscheidenden ‚Randschichtenwähler‘ vermuten darf“⁵³⁰ – etwa auf Rentenerhöhungen. Solche sozialpolitischen Geschenke aus wahltaktischem Kalkül hatten laut Habermas aber „auch einen beruhigenden Aspekt“, weil sie darauf hinwiesen, dass demokratische Wahlen „in Zeiten der Konjunktur als ein indirekter

      

Ebd. S. 77. Ebd. S. 82. Ebd. S. 83. Habermas, „Die Bundesrepublik – eine Wahlmonarchie?“, S. 28. Ebd. Ebd. Ebd.

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Mechanismus der Kontrolle immerhin insoweit“ funktionierten, „als sie gewisse sozialstaatliche Garantien ‚automatisch‘ erzwingen“⁵³¹. Auch wenn der demokratische Sozialist diese während der trente glorieuses noch selbstverständliche, gewissermaßen demokratieimmanente Logik des Ausbaus wohlfahrtsstaatlicher Programme auf ganzer Linie begrüßte, wurde er als dialektischer Gesellschaftskritiker ebenso wenig müde, die „Kehrseite“ dieser Entwicklung in einer „Entpolitisierung des Wahlkampfes und der Wahlentscheidung selbst“ zu sehen: „weittragende Entscheidungen werden nicht etwa vom Publikum der Staatsbürger in der Öffentlichkeit diskutiert und dann, durch die Stimmabgabe, im Grundsätzlichen fixiert. Sie werden vielmehr vor der Wahl nach Gesichtspunkten der public relations lanciert, um, den Wählern weithin unbewußt, jene Art ‚Popularität‘ der großen Männer zu steigern, die […] heute die unmittelbare Beziehung des einzelnen zur Politik ersetzt.“⁵³² Folgt man dieser Argumentation weiter, war der demoskopisch erzeugte „Schleier der Entpolitisierung, der sich vorerst immer weiter ausbreitet und gegen jederlei Appelle einer wie immer totalitären Partei wohltuend abschirmt“, auf Dauer einfach zu schwach, „um einer bekannten sozialpsychologischen Dialektik zu widerstehen: daß gerade die politisch indifferenten Massen durch plebiszitären Handstreich oberflächlich politisiert und in der Regie einer starken Obrigkeit mobilisiert werden können“⁵³³. Hier flackerte erneut die Warnung vor der plebiszitären Führerdemokratie auf: Ohne ein gewisses Maß an politischer Autonomie innerhalb des Staatsbürgervolks drohe „die antikommunistische Austrocknung der Demokratie – für die Demokratie“⁵³⁴. Obwohl bei Habermas in dieser  Ebd.  Ebd.  Ebd. S. 29.  Ebd. Im Strukturwandel der Öffentlichkeit präzisierte Habermas am Beispiel der Bundestagswahlkampf von 1957 noch einmal, wie sich „in der manipulierten Öffentlichkeit“ der Adenauerschen Kanzlerdemokratie „eine akklamationsbereite Stimmung“ eingeschlichen habe, die besonders auf „die Präsentation des Führers oder der Führungsgarnitur“ (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 321) anspringe: „Das Verhältnis von hergestellter Öffentlichkeit und nichtöffentlicher Meinung läßt sich am Beispiel einiger Maßnahmen erläutern, die die Wahl zum Deutschen Bundestag 1957 zugunsten der Regierungsparteien beeinflußt haben. […] Im großen und ganzen waren vier strategische Maßnahmen für die Öffentlichkeitsarbeit der im Wahlkampf siegreichen Partei bestimmend. Die im Bundestagswahlkampf 1953 bewährte Imago des Parteiführers mußte, um Befürchtungen, vor allem angesichts seines Alters, zu begegnen, umstilisiert werden: man präsentiert ihn inmitten ‚seiner Mannschaft‘. Sodann stellte die Propaganda vorwiegend auf Angstgefühle und Sicherheitsbedürfnisse ab, indem einerseits der Gegner wirksam mit der bolschewistischen Gefahr assoziiert, und andrerseits die im Besitz der Staatsgewalt befindliche und mit dem Staat als solchen tunlichst identifizierte Partei als der einzige Bürge für Sicherheit, militärische wie soziale, glaubwürdig gemacht wurde: Keine Experimente, Was Du

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Zeit „kulturpessimistische Anklänge“⁵³⁵ zu vernehmen waren, die vor allem auf den intellektuellen Einfluss Horkheimers und Adornos zurückzuführen waren, diente ihm die bis in die Adenauer’sche Kanzlerdemokratie hineinreichende Verfallsgeschichte der öffentlichen Meinung am Ende „jedoch nur als Ausgangspunkt für eine Demokratisierungsvision. Wenn der Soziologe den weit fortgeschrittenen Verfall des historisch abgeleiteten Idealtyps herausstellte, so nur deshalb, um die Notwendigkeit einer Umgestaltung der zeitgenössischen Öffentlichkeitspraxis zu belegen.“⁵³⁶ Um es noch einmal zusammenzufassen: Habermas’ Frühschriften waren gegen das Fortwirken einer letztlich genauso antidemokratischen wie antiliberalen Tradition politischen Denkens im intellektuellen Feld der Bundesrepublik gerichtet, für die der rechtskonservative Staatsrechtslehrer Carl Schmitt Pate stand. Den zeitgeschichtlichen Hintergrund bildete die Hoch- und Spätphase der Adenauer-Ära, in der sich die konservativen Schmitt-Schüler als Legitimationstheoretiker eines arkanen Machtstaats zu erkennen gaben, indem sie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gegen die demokratische Öffentlichkeit ausspielten und raunend vor einer Politisierung der Moral warnten, die im Kalten Krieg zwischen West und Ost besten Falle staatliche Politik nur erschwerte, im schlimmsten Fall aber gleich in den heißen Bürger- bzw. Weltbürgerkrieg münden musste. Als der Strukturwandel der Öffentlichkeit 1962 schließlich erschien, hatte die Union ihre absolute Mehrheit im Bundestag aber schon verloren. Doch obwohl sich die Bedingungen für eine grundlegende Demokratisierung der bundesrepu-

hast, das hast Du usw. Drittens traf die Regierung, um der wahlpolitisch ungünstigen Furcht vor Preissteigerungen entgegenzuwirken, mit der Industrie sogenannte Stillhalteabkommen, auf Grund deren Unternehmer Preiserhöhungen bis nach dem Wahltermin zurückstellten. Zusätzlich verbürgte sich eine Reihe von Markenartikelfirmen durch Anzeigen in der Tagespresse für die Stabilität des Preisniveaus; dem war der Reklamefeldzug eines Einzelhändlerverbandes vorausgegangen. Als wirkungsvollste Maßnahme war schließlich die Rentenreform verabschiedet worden: etwa 6 Millionen Rentner erhielten ab Mai 1957 höhere Bezüge und Nachzahlungen; natürlich blieb die materielle und psychologische Wirkung nicht allein auf die Rente beschränkt. Alle vier Maßnahmen wurden vorher sorgfältig getestet und mit kalkulierten Werbetechniken publizistisch umgesetzt (die weiche Welle) bzw. ausgewertet (Wohlstand für alle). Klarer als nach der propagandistischen Wirkung sind [die einzelnen strategischen Maßnahmen] nach ihrem politischen Gehalt zu interpretieren: die einzig verbindliche Verpflichtung sind die Regierungsparteien mit ihrer (dem Wahlkampf vorausgegangen) Zustimmung zur Rentenreform eingegangen. Am Zustandekommen des Gesetzes hatte sie Oppositionspartei zwar ebenso Anteil; es ließ sich aber (weil der Bundestag von vielen Wählern mit der Bundesregierung identifiziert wird) von den Regierungsparteien als termingerecht gezielter Publizitätsanlaß eher ausschöpfen.“, ebd. S. 323 f.  Hodenberg, Konsens und Krise, S. 51.  Ebd. S. 52.

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blikanischen Gesellschaft seit der zweiten Hälfte der 50er faktisch längst verbessert hatten, konnte Habermas in den frühen 60ern noch keinen schlagkräftigen Akteur identifizieren, der die notwendigen politischen Experimente in Gang zu setzen vermochte, um dem stahlharten Gehäuse des bundesrepublikanischen Neokorporatismus – einer auf Leistung, Gehorsam und dem Rückzug ins Private basierenden Gesellschaftsordnung – eine radikaldemokratische, sozialistische Alternative entgegenzusetzen. Seine Hoffnung, „die Rationalisierung der Herrschaft im Medium des öffentlichen Räsonnements der Privatleute“ möge doch wenigstens die „beim Pluralismus der Privatinteressen freilich begrenzte“ Form einer „Rationalisierung der sozialen und politischen Machtausübung unter der wechselseitigen Kontrolle rivalisierender, in ihrem inneren Aufbau ebenso wie im Verkehr mit dem Staat und untereinander auf Öffentlichkeit selbst festgelegter Organisationen“⁵³⁷ annehmen, klang deshalb sehr defensiv. Nichtsdestotrotz kam er am Ende seiner Studie über den Strukturwandel der Öffentlichkeit schließlich wieder auf den lebendigen Stachel einer kritischen Publizität zurück, die in gegenwärtigen parlamentarischen Demokratien doch „immerhin einen wichtigen Teil der Prozeduren“ bestimme, „an die der politische Machtvollzug und Machtausgleich faktisch gebunden sind“⁵³⁸.

1.2.3 Dahrendorfs Suche nach Konflikt in Erhards formierter Gesellschaft⁵³⁹ Sozialliberal, neoliberal oder beides? Der Habilitand Habermas war in der Themenwahl seiner Arbeit noch von einem weiteren Konservativen, dem „von konträren geisteswissenschaftlichen Schulen geprägt[en]“⁵⁴⁰ Integrationsrepublikaner Rüdiger Altmann beeinflusst. Altmann „hatte sich Carl Schmitts Begrifflichkeit zu eigen gemacht, war zugleich aber stark durch Rudolf Smend und Wolfgang Abendroth“⁵⁴¹ beeinflusst, und wurde 1954 mit einer Arbeit über Das Problem der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die moderne Demokratie bei Abendroth in Marburg promoviert. Hier schlug er „eine durch das Grundgesetz eingehegte und durch die Parteien repräsentierte Öffentlichkeit vor. Von oben mußte kontrollierend in den Willensbildungsprozeß eingegriffen werden, um die harmonische Integration auseinanderstrebender ge-

 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 311.  Ebd. S. 365.  Die folgenden Ausführungen finden sich in sehr verkürzter Form bereits in Hansl, „Dahrendorfs Spuren“, S. 110 ff.  Hodenberg, Konsens und Krise, S. 59.  Ebd.

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sellschaftlicher Interessen zu gewährleisten.“⁵⁴² Doch während in Altmanns Dissertationsschrift letztlich noch „eine kritische Distanzierung von Schmitt“ überwog, „scheint es bei [ihm] zu einer um so engeren Anlehnung an Schmitt gekommen zu sein, je intensiver sein Kontakt zur Verbands- und Regierungspolitik wurde“⁵⁴³. Mit seiner gesellschaftspolitischen Leitformel von der „formierten Gesellschaft“, die in abgewandelter Form schließlich in die politische Rhetorik Ludwig Erhards Eingang finden sollte, näherte sich der Kanzlerberater Altmann „Mitte der 1960er Jahre und fortan endgültig jenen Theoremen Schmitts an, die er noch in seiner Dissertation, rund zehn Jahre zuvor, abgelehnt hatte, und zwar der Parlamentarismus- und Pluralismuskritik, dem Vorrang des Allgemeinwohls gegenüber Partialinteressen, sowie der Sorge um staatliche Autorität und Dezision“⁵⁴⁴. Diese Losung rief wiederum den liberalen Herrschaftskritiker Dahrendorf auf den Plan, der – wie bereits angedeutet – vor allem in den sozialstrukturanalytischen und politiktheoretischen Schriften Helmut Schelskys die ideologische Flanke einer christdemokratischen Dauerherrschaft witterte. Daran zeigt sich nicht zuletzt, dass Habermas’ und Dahrendorfs theoriepolitische Interventionen – so sehr sie sich im Einzelnen ideengeschichtlich auch voneinander unterscheiden mochten – in der frühen Bundesrepublik gleichermaßen darauf abzielten, den Konservativen die Deutungshoheit über politische Grundsatzfragen streitig zu machen. Dieser Kampf wurde in einem Klima begonnen, das einstweilen noch gegen die beiden ungleichen Weggefährten zu sprechen schien. Diese distanzierte Nähe zwischen dem Popper-Schüler und dem Kritischen Theoretiker offenbarte sich freilich auch an Habermas’ zwiespältigem Verhältnis zum Liberalismus. Einen liberalen Klassiker wie Tocqueville bezeichnete er in seiner Habilitationsschrift einerseits zwar als prototypischen Repräsentanten eines schon „nicht mehr liberal[en], zum Liberalismus sich bekehrend[en]“ Bürgertums, das in Krisenzeiten „auf die Sicherheiten vorbürgerlicher Einrichtungen“⁵⁴⁵ zurückgreifen müsse, um sich den legitimen demokratischen Ansprüchen der unteren Schichten zu versperren. Doch andererseits betonte Habermas im gleichen Atemzug, dass Tocquevilles in Über die Demokratie in Amerika vorgenommene Analyse des „Despotismus eines im wachsenden Maße bürokratisierten Staates“⁵⁴⁶ bereits den spezifischen Problemkomplex ausleuchte, mit dem sozi-

    

Ebd. S. 60. Fischer, Moralkommunikation der Macht, S. 139. Ebd. S. 140. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 219. Ebd. S. 221.

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alstaatliche Massendemokratien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr denn je konfrontiert seien.⁵⁴⁷ Das von Habermas im Strukturwandel der Öffentlichkeit skizzierte Schreckensszenario einer „Arkanpolitik der Interessenten“ in der „akklamatorischen Demokratie“ zeichnete sich folglich in gewisser Hinsicht selbst durch gewisse Parallelen zu Tocquevilles Kritik des modernen Despotismus aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts aus. Von sämtlichen Berührungsängsten mit der liberalen Tradition politischen Denkens befreit, schwang sich der liberale Missionar Dahrendorf in der frühen Bundesrepublik indessen gleich offen zu einem überzeugten Epigonen Tocquevilles und auch J. St. Mills auf, indem er eine modernisierte Variante der These von der „Tyrannei der Mehrheit“ aufstellte. Demzufolge befanden sich moderne Industriegesellschaften „auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft“ – so lautete der Untertitel seiner Aufsatzsammlung Konflikt und Freiheit aus den frühen 70ern. Dieser grundlegende Wandel zeichne sich durch die „enorme[ ] Ausweitung der Dienstklasse auf Kosten aller Gruppen“ und die „allmähliche[ ] Eroberung des Verhaltens aller anderen, einschließlich sogar der Herrschenden, durch die Wertvorstellungen“ aus, „die die Dienstklasse kennzeichnen“⁵⁴⁸. Diese „Dienstklasse“ könne selbst nicht als genuin politische Kraft gelten, sondern sei letztlich immer nur der verlängerte bürokratische Arm der Herrschaftsklasse, tendiere im Zeitalter der Christdemokratie also „nach rechts“⁵⁴⁹. Analog zum Kritischen Theoretiker Habermas skizzierte Dahrendorf hier aus liberaler Perspektive ein politisches Schreckensszenario der nivellierten Massendemokratie, in der die Grenzen für demokratische Experimente und individuellen Nonkonformismus immer enger wurden. Dass rechtshegelianische Staatsgläubigkeit im politischen Denken und in der politischen Praxis der frühen Bundesrepublik fortwirkte, war Dahrendorfs tiefe Überzeugung. Diese zentrale Pointe seiner liberalen Herrschaftskritik musste im Kern auch wieder dem Kritischen Theoretiker und Linkshegelianer Habermas gefallen. Der theoriegestützte Konservatismus der regierenden Christdemokraten bestärkte demnach eine bürokratische „Dienstklassenmentalität“⁵⁵⁰, die zwar auf

 Hier fällte Habermas das fragwürdige Urteil, Tocqueville sei dabei weitsichtiger gewesen als J. St. Mill. Plausibler ist, dass Mill in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Anknüpfung an Tocqueville ebenfalls zu einer luziden Kritik des modernen Despotismus ansetzte – einer Kritik, die etwa zeitgleich von Marx’ Analyse des Bonapartismus komplettiert wurde. Diese Parallelen sind Habermas im ideengeschichtlichen Teil seiner Habilitationsschrift entgangen.  Dahrendorf, Konflikt und Freiheit, S. 112.  Ebd. S. 145.  Bereits in seiner Habilitationsschrift hatte Dahrendorf auf Karl Renners Begriff der „Dienstklasse“ zurückgegriffen, verband damit aber gerade nicht – wie noch der Austromarxist –

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den ersten Blick mit den formalen Institutionen der liberalen Demokratie kompatibel war, diese auf Dauer jedoch gerade dadurch unterlief, dass sie eine gegebene Verteilung von Herrschaftspositionen im Staat gegen den legitimen und produktiven Einspruch der Herrschaftslosen immunisierte. Deutscher Konservatismus und deutsche Dienstklassenmentalität gingen in der frühen Bundesrepublik nach dieser Lesart eine unheilvolle Allianz ein und standen der Ausbreitung einer positiven Formel von Liberalität im Weg, die in Form eines öffentlichen und mit agonalen Mitteln geführten demokratischen Wettbewerbs den formalen Prozeduren der liberalen Demokratie überhaupt erst Leben eingehaucht hätte. Aus der typisch deutschen Konfliktunfähigkeit und Sehnsucht nach Harmonie zog der liberale Missionar freilich keine sozialistischen Konsequenzen; vielmehr setzte er auf gesellschaftspolitische Reformen innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems und forderte letztlich sogar die Ausweitung des Marktprinzips in allen gesellschaftlichen Bereichen. Im Vorwort zur 16. Auflage des Homo Sociologicus betonte er deshalb rückblickend auch noch einmal mit einem kleinen Seitenhieb gegen zeitgenössische Kapitalismuskritiker wie Habermas: „Während viele die große Reform gegen die Gesellschaft suchten, lag mir daran, Reformen innerhalb der Gesellschaft in die Wege zu leiten.“⁵⁵¹ Der überzeugte Marktwirtschaftler sah in der frühen Bundesrepublik folglich keine Verschleierung der Herrschaft des abstrakten Tauschprinzips am Werk. Durch seine Volten gegen den konservativen Zeitgeist zog er unter den spezifischen Bedingungen der westdeutschen Nachkriegsdemokratie mit seinem ungleichen sozialistischen Weggefährten Habermas schließlich doch gemeinsam an einem Strang. Dabei vollzog Dahrendorf in den 60ern auch einen Rollenwechsel: Der liberale Theoriedarwinist der späten 50er mutierte zunehmend zu einem liberalen öffentlichen Intellektuellen mit politischen Ambitionen. Er trat in dieser Zeit

einen autonomen Sachwalter des Gemeinwillens, sondern eine „Klasse, die nie Klasse werden“ könne: „Herrschaft ohne die Bürokratie ist nicht möglich, aber Herrschaft durch die Bürokratie auch nicht. Sie steht jeweils dem als Medium und Instrument der Herrschaft zur Verfügung, der sie zu dirigieren berufen ist. Als Konstante im Klassenkonflikt begleitet und unterstützt sie die jeweils herrschende Gruppe, indem sie deren Interessen und Direktiven pflichtgemäß und loyal verwaltet. Sie ist […] eine ‚Dienstklasse’, definiert durch ihr Dienstverhältnis zur Herrschaft. […] Die bürokratische Reservearmee der Herrschaft ist ein Söldnerheer des Klassenkonfliktes, das zwar immer im Kampf steht, aber seine Schlagkraft in die Dienste wechselnder Herren und Ziele zu stellen gezwungen ist.“, Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 249 f. Dieses Schreckensszenario einer opportunistischen „Dienstklasse“ konnte in den späten 50ern und in den 60ern durchaus als chiffrierte Kritik an den personellen Kontinuitäten zwischen Drittem Reich und früher Bundesrepublik in Politik, öffentlicher Verwaltung, in Wirtschaft und im Rechtssystem verstanden werden.  Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 15.

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folglich aus dem engeren sozialwissenschaftlichen Kontext heraus. Seine Publikationen richteten sich fortan nicht mehr primär an ein sozialwissenschaftlich geschultes Fachpublikum, sondern an eine breitere Öffentlichkeit. Sein Schreibstil wurde immer essayistischer. Anders ausgedrückt: Dahrendorf wandte seine Konflikttheorie nun auf den konkreten Fall der Bundesrepublik an. Aus begriffsund theoriepolitischer Sicht avancierte er dabei zu einem regelrechten Vordenker einer „sozial-liberale[n] Politik“, die „auf die Erhaltung und Vertiefung jener Gleichheit des staatsbürgerlichen Status“ hinwirken müsse, „die die Freiheit aller überhaupt erst ermöglicht“, aber gleichsam ein „entschiedener Gegner aller gesellschaftlichen Nivellierung und Uniformierung, damit entschiedener Verfechter des institutionellen Pluralismus, der sozialen Differenzierung und der menschlichen Vielfalt in Freiheit“⁵⁵² sei. Nach der weitgehenden Verwirklichung staatsbürgerlicher Gleichheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie sie von seinem Doktorvater T. H. Marshall nachgezeichnet worden war, kam es nach Dahrendorf in der Bundesrepublik der 60er „vor allem darauf an, das Ziel erneut in den Mittelpunkt politischer Programmatik zu rücken, um dessentwillen die Voraussetzung gleichen Ranges allererst eingeführt wurde: Sozialliberale Politik muß heute vor allem liberal sein, denn die gleiche Freiheit ist vor allem Freiheit.“⁵⁵³ Schon dieser eindeutige Vorrang des liberalen vor dem sozialen Prinzip verdeutlicht, dass Dahrendorf letztlich nicht dazu geschaffen war, in die Fußstapfen seines sozialdemokratischen Vaters zu treten. Andererseits folgte seine Verknüpfung der beiden Adjektive „sozial“ und „liberal“, die der spezifischen historischen Konstellation im bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderland geschuldet war, auch noch einem sozialreformerischen Impuls, der dem liberalem Denken im Krisenzeitalter der 70er und 80er mehr und mehr abhandenkommen sollte. An Dahrendorfs frühbundesrepublikanischen Schriften ist Jens Hacke in diesem Zusammenhang die „insbesondere im Vergleich mit den in diesen Jahren intellektuell reüssierenden Neoliberalismen, die sich vor allem marktliberal zu begründen versuchten, […] weitgehende Abwesenheit ökonomischer Überlegungen“ aufgefallen: Die Wirtschaft galt vor dem Hintergrund der trente glorieuses, der dreißig glorreichen Nachkriegsjahre, als unproblematisch. Dahrendorf zitiert in diesen Jahren Hayeks politiktheoretisches Standardwerk ‚Verfassung der Freiheit‘ (Anfang der 1960er Jahre erschienen) bei vielen Gelegenheiten zustimmend, ohne sich für dessen ökonomische Vorstellungen, die Chicago School oder ihre ordoliberalen Antagonisten überhaupt zu interessieren. Noch

 Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 414 f.  Ebd. S. 415.

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Dahrendorfs letztes Buch über die Erasmus-Intellektuellen verdeutlicht seine tiefe Verwurzelung in einem vom antitotalitären Konsens getragenen Cold War Liberalism, der für eine politische Ethik der Freiheit eintrat. Seine Heroen sind Raymond Aron, Isaiah Berlin und Karl Popper, auch wenn er zum Ende seines Lebens immer mehr zum skeptischen Kritiker eines Marktliberalismus wurde, der sich seinerseits in dieselbe Traditionslinie zu stellen versuchte.⁵⁵⁴

Mit seiner Deutung unterschätzt Hacke jedoch die neoliberalen Einsprengsel, die sich in Dahrendorfs Denken in dieser Phase durchaus fanden, und unterschlägt gleichsam doch einen intellektuellengeschichtlichen Bruch, den er im letzten Satz selbst andeutet: zwischen dem optimistischen Liberalen während der trente glorieuses, dem die ökonomische Entwicklung westlicher Industrienationen – wie Hacke ja richtigerweise diagnostiziert – tatsächlich „als unproblematisch“ galt, und dem defensiven bzw. skeptischen Liberalen späterer Zeiten, der sich von der politischen Mesalliance zwischen Marktliberalismus und Konservatismus nachhaltig verunsichert zeigte. Hacke kommt der Sache zwar schon näher, wenn er schreibt: „Den Forderungen des Tages folgend variierte er [Dahrendorf – M.H.] als situativ-interventionistischer Liberaler seine politischen Positionen, war in England ein sozialliberaler Kritiker Thatchers und blieb in Deutschland ein Mahner gegen übermäßiges Staatsvertrauen.“⁵⁵⁵ Doch auch die Losung vom situativ-interventionistischen Liberalen wird dem angedeuteten Bruch im Denken des enttäuschten liberalen Missionars letztlich nicht gerecht. Denn Dahrendorf berief sich in seinen theoriepolitischen Interventionen in den 60ern recht konsequent auf eine angelsächsisch inspirierte Markt- und Wettbewerbsrhetorik, die heute definitiv als neoliberal durchgehen würde, ohne dass er damals aber gleich die eminente Bedeutung des Ausbaus moderner Sozialstaatlichkeit infrage gestellt hätte. Mit anderen Worten: Als sich der Kapitalismus in der Nachkriegszeit seiner Krisenhaftigkeit entledigt zu haben schien, als Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung also noch mehr oder weniger selbstverständlich waren, war es für viele Liberale gar nicht unüblich, den Dreiklang aus repräsentativer Demokratie, empirischem Skeptizismus und freier Marktwirtschaft hochzuhalten und gleichzeitig – gewissermaßen als Lehre aus den ökonomischen, sozialen und politischen Verwerfungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – einen reformfreudigen Interventionsstaat mit wohlfahrtsstaatlicher Schlagseite zu preisen. Die von Hacke vorgenommene Unterscheidung des Londoner, Chicagoer und Freiburger Neoliberalismus von einem antitotalitären Cold War-Liberalismus erscheint im Nachhinein sowieso frag-

 Hacke, „Das politische Scheitern eines liberalen Hoffnungsträgers“, S. 127 f.  Ebd. S. 136.

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würdig: Schließlich war Berlin ein maßgeblicher Stichwortgeber des von Hayek 1948 ins Leben gerufenen neoliberalen Denkkollektivs der Mont Pèlerin Society, dem Aron und Popper, zwei weitere Gewährsmänner Dahrendorfs, überdies nicht zufällig selbst angehörten.⁵⁵⁶ Genau genommen entwickelte das neoliberale Denkkollektiv auch erst im Verlauf dreier Nachkriegsjahrzehnte einheitliche marktradikale Positionen. Davor ließ sich der vage Begriff des Neoliberalismus auf eine zwar marktwirtschaftsaffine, aber nichtsdestotrotz auch wieder äußerst heterogene Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen anwenden. Deren Angehörige suchten zunächst aus einer Position der Defensive heraus zwischen dem in Misskredit geratenen Laissez-Faire-Kapitalismus der Zwischenkriegszeit und der totalitär-kollektivistischen Tendenzen innerhalb der modernen Massendemokratien des 20. Jahrhunderts nach Wegen, um den Liberalismus rundzuerneuern. Dazu gehörte auch die durchaus kontrovers diskutierte Frage, welches Maß an staatlichem Interventio-

 Daniel Stedman Jones erkennt in Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde folglich auch eines der drei wichtigsten Leitdokumente des Neoliberalismus. Neben Ludwig von Mises’ Abrechnung mit der Bürokratie und Hayeks Kritik des Kollektivismus in Der Weg zur Knechtschaft habe Popper mit seinem Angriff auf die historizistischen Geschichtsphilosophien Hegels und Marx’ gegen Ende des 2. Weltkriegs den erkenntnistheoretischen Grundstein für ein Denken gelegt, das einen unauflösbaren Zusammenhang von freier Marktwirtschaft und politischer Freiheit postulierte, vgl. Stedman Jones, Masters of the Universe. S. 37 ff. Stedman Jones betont indessen auch die Unterschiede zwischen Popper und den marktradikaleren Hayek und von Mises: „[…] [P] opper was not as willing as Hayek and Mises were to prioritize the free market above all else. This is evident in The Open Society, which illuminates his fear that the Western democracies had fallen under the influence of the wrong-headed collectivist ideas of Plato, Heraclitus, Hegel, and Marx. But Popper, more so than Hayek, also saw his task as one of reunification of liberals, progressives, and socialists.“, ebd. S. 39. An anderer Stelle heißt es ergänzend: „If Hayek was concerned with the drift of Western policymakers toward collectivism in general, it may be that Popper was more worried about any reproduction of the conditions of totalitarianism.“ (ebd. S. 61) Trotz dieser unterschiedlichen Nuancen kommt Stedman Jones zu dem Schluss, dass „it is clear they were extremely close to each other during this period in the 1940s, especially when their views are contrasted with the view of Hayek’s great friend and academic adversary John Maynard Keynes, who was working to plan the peace with the Americans, including developing the Bretton Woods monetary system with Harry Dexter White (ebd. S. 62). Der Unterschied zwischen der neoliberalen Ursprungsgemeinde und Keynes bestand demnach vor allem in Keynes’ „faith in a technocratic elite as the guardian of social progress“, ebd. S. 183. Folglich haben die Neoliberalen ein technokratisches Politikmodell – die makroökonomische Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage – zunächst strikt abgelehnt, bevor der Neoliberalismus später selbst zur technokratischen Steuerungs- und vermeintlichen Krisenbewältigungsstrategie avanciert ist. Vgl. zur historischen Entwicklung neoliberalen Denkens auch Biebricher, Neoliberalismus zur Einführung; Burgin, The Great Persuasion und Mirowski/Plewe (Hrsg.), The Road from Mont Pèlerin Society.

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nismus angesichts der nachweislichen Krisenanfälligkeit des liberalen Kapitalismus notwendig bzw. wünschenswert sei: The ‚constructive‘ aspects of the movement did not merely involve minor technical limitations on the free market or symbolic rhetorical gestures designed to repackage a social philosophy that had lost favor in the public arena. Rather, they were rooted in foundational dissatisfactions with the moral abstractions of homo economicus and a desire to adopt a social philosophy capable of reconciling a theory of competition with the extramaterial needs of humankind. The ‚neoliberalism‘ that became paradigmatic in the Anglo-American policy arena in the 1970s and 1980s looked very different from the ‚neoliberalism‘ of the late 1930s and 1940s.⁵⁵⁷

Mit der wichtigen Unterscheidung einer frühen intellektuellen Findungs- von einer späten politikökonomischen Implementationsphase des Neoliberalismus rückt also ein dialektischer Umschlag im liberalen Denken des 20. Jahrhunderts in den Blick, der für Dahrendorfs Wandel vom optimistischen hin zum skeptischen Liberalen konstitutiv war. Demzufolge feierte der in akademischer Hinsicht vormals randständige Neoliberalismus zu einem Zeitpunkt den Durchbruch, als er sich in seinem neuen intellektuellen Zentrum in Chicago längst zur ideologischen Flanke privatkapitalistischer Profitinteressen entwickelt hatte und auf politischer Ebene in Großbritannien und den USA, dem heartland des Liberalismus, eine Mesalliance mit dem wiedererstarkenden Konservatismus eingegangen war. Diesen Weg konnte Dahrendorf später aus guten Gründen nicht mehr euphorisch mitbeschreiten. Allerdings verfolgte er in der frühen Bundesrepublik ja zunächst gewissermaßen selbst ein neoliberales Projekt. Hier schreckte Dahrendorf Anfang der 60er auch nicht vor der Rehabilitation des vom deutschen Arbeiterführer Ferdinand Lassalle im 19. Jahrhundert denunzierten und in Deutschland traditionell verpönten Nachtwächterstaats zurück, den er zum Idealmodell der liberalen Repräsentativdemokratie stilisierte. Seine Staatsformtypologie nahm sich dabei genauso simpel wie eingängig aus. Die Botschaft seines vom Titel her an Poppers politikphilosophischem Hauptwerk über Die offene Gesellschaft und ihre Feinde angelehnten Vortrags Der repräsentative Staat und seine Feinde, den Dahrendorf am 7. Oktober 1960 vor dem Kongress der SPD zum Thema „Junge Generation und Macht“ in Bad Godesberg hielt, lautete: Nach dem Untergang des totalitären NSStaats, eines „brutale[n] Gefängnisaufseher[s]“, durften sich die Deutschen nicht nach dem „gestrenge[n] und gütige[n] Familienvater“, dem „autoritative[n] Staat“ im Kaiserreich zurücksehnen, sondern mussten die Herausforderungen des „repräsentative[n] Staat[s]“ nunmehr aktiv annehmen, der sich „als Nachtwächter“  Burgin, The Great Persuasion, S. 82.

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stets „auf den Schutz der Freiheit der ihm anvertrauten Menschen“⁵⁵⁸ zu beschränken wisse. Hatte Habermas zeitgleich den marktwirtschaftlichen Reformkurs der SPD und die Kaltstellung innerparteilicher Kritiker aus dem linkssozialdemokratischen Lager wie Wolfgang Abendroth entschieden abgelehnt, schloss Dahrendorf seinen Vortrag hingegen mit den unzweideutigen Worten: „Wenn auch der Familienvater vielleicht die würdigste dieser drei Figuren ist, so läßt doch der Nachtwächter den ihm Anvertrauten den größten Spielraum.“⁵⁵⁹

Die halbe Demokratie Diese angelsächsische Belehrung der Deutschen galt zu diesem Zeitpunkt jedoch weniger den Sozialdemokraten, die ihre liberale Wandlungsfähigkeit auf dem Godesberger Reformparteitag Ende der 50er ja nach seinem Dafürhalten eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatten, als vielmehr den regierenden Christdemokraten selbst. Laut seiner Biografin hatte Dahrendorf das Ergebnis der Bundestagswahl 1957 wenige Jahre zuvor während seines Forschungsaufenthalts in Palo Alto zusammen mit seinem Freund Fritz Stern „gemeinsam im Radio“ verfolgt und „in dem großen Zuspruch der Bevölkerung zum über 80-jährigen Konrad Adenauer nicht nur die Zustimmung zum wirtschaftlichen Aufschwung der jungen Bundesrepublik“ gesehen, „sondern auch eine gefährliche Sehnsucht vieler Deutscher nach einem autoritativen Führer“⁵⁶⁰. Anfang der 60er hielt er in seinem Vortrag vor der SPD-Jugend zwar noch einmal anerkennend fest, „daß das Verdienst der CDU an der Schaffung des repräsentativen Staates nicht gering“ gewesen sei: „sie war die Partei der neuen Oberschicht, die nicht zuletzt durch die Wirtschaftspolitik von Herrn Minister Erhard erstarkt ist, die Partei der liberalen Ansätze der Nachkriegszeit, des wirtschaftlichen und politischen Konkurrenzsystems, der veränderten privaten und öffentlichen Werthaltungen“⁵⁶¹. Allerdings beobachtete Dahrendorf spätestens seit dem Gewinn der absoluten Mehrheit auf Bundesebene mit Missfallen, wie sich die CDU unter der Ägide des greisen Kanzlers „in den letzten Jahren in zunehmendem Maße von der Gesellschafts- und Staatskonzeption zu entfernen“ schien, „durch deren Förderung sie uns allen ursprünglich einen großen Dienst erwiesen hat“⁵⁶². Mittlerweile habe „es fast den Anschein, als drängten vergangene autoritäre Kräfte noch einmal nach vorne“, was sich „[a]n esoterischen Entscheidungen, an nationalistischen Sprüchen, an     

Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 242. Ebd. S. 242 f. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 90. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 254. Ebd.

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einer illiberalen Wirtschafts- und Innenpolitik sowie an manchen Reminiszenzen an den autoritären Wohlfahrtsstaat, gepaart mit einer Unterbindung der Teilnahme der vielen“⁵⁶³, ablesen lasse. Eine „gegenläufige Entwicklung“⁵⁶⁴ meinte Dahrendorf zu Beginn des dynamischen Jahrzehnts der 60er bei der SPD erkennen zu können, die „in den letzten Jahren mit ständig wachsendem Erfolg darangegangen“ sei, „ihre Programme und Forderungen neu zu bedenken, sie herauszulösen aus den sozialen und politischen Zusammenhängen, in denen sie ursprünglich ihren Sinn hatten“⁵⁶⁵. Folglich attestierte er der SPD „heute eine gewisse Chance, zu jener großen liberalen Partei zu werden, die das notwendige Gegengewicht zu den wachsenden konservativen Tendenzen ihres politischen Gegenübers bildet“⁵⁶⁶. Dafür durfte sie nach Dahrendorfs Verständnis aber nicht beim Godesberger Reformprogramm stehenbleiben, sondern musste mit einem noch liberaleren gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Angebot aufwarten, um die Christdemokraten an der Regierungsspitze abzulösen. Ganz in diesem Sinne gab sich Dahrendorf kurz vor der Bundestagswahl 1961 als Bewunderer einer stillen Revolution zu erkennen, in deren Verlauf „Westdeutschland den versäumten Kapitalismus“ seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Windeseile habe nachholen können. Dadurch habe „der Staat in Deutschland ein wenig vom Nimbus der sittlichen Idee verloren“, während die Gesellschaft „in ein sehr viel bunteres Licht getaucht“ sei, „in dessen Spektrum die wirtschaftlichen Farben besondere Leuchtkraft haben“⁵⁶⁷. Die Union hatte ihr Scherflein zu dieser Entwicklung beigetragen. Ihre Reformkraft hatte sich mittlerweile aber erschöpft. Nun waren die Sozialdemokraten am Zug. Anders als der Kritische Theoretiker Habermas, der im um sich greifenden Konsumismus der westdeutschen Bevölkerung nur den Beweis für deren politische Teilnahmslosigkeit erkennen wollte, feierte Dahrendorf die proto-hedonistische Grundhaltung einer neuen Oberschicht, deren Angehörige in ihrem Streben nach individuellem Erfolg, sozialer Mobilität und höherem Einkommen „in eklatantem Widerspruch zu allen Stereotypen des sogenannten deutschen Nationalcharakters“ handelten: „Fleiß, Gründlichkeit, Genauigkeit, Disziplin, Unterwürfigkeit, Liebe zum Militär sind sämtlich Eigenschaften, die man bei vielen heute vergeblich suchen wird. An ihre Stelle ist der ganz persönliche Wunsch nach Verbesserung der eignen Lebenslage getreten, dem das Ganze der Gesell-

    

Ebd. S. 255. Ebd. Ebd. S. 256. Ebd. Vgl. dazu auch Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 149 Dahrendorf, „Die stille Revolution“, S. 86.

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schaft weithin gleichgültig ist.“⁵⁶⁸ Sein optimistisches Fazit lautete, dass Menschen mit einem derart ausgeprägten Hang zum Individualismus „nicht bereit sein werden, sich ohne Protest totalitären oder autoritären Ansprüchen unterzuordnen“⁵⁶⁹. Ein Blick auf die Geschichte anderer Länder – Dahrendorf schwebten hier die kapitalistischen Musterländer Großbritannien und USA vor – lasse „die Hoffnung zu, daß eine bunte, stark von wirtschaftlichen Führungsgruppen geprägte Oberschicht nicht die schlechteste Voraussetzung freiheitlicher politischer Verhältnisse ist“⁵⁷⁰. Interessanterweise lancierte er seine These, die Entfesselung einer liberalkapitalistischen Konsumgesellschaft sei das beste Mittel gegen klassisches deutsches Obrigkeitsdenken, in jenem magnum-Sonderheft, in dem Habermas vor einer allzu starken Vermarktlichung der Politik warnte und die Adenauerrepublik durch politische Dauerreklame in eine Wahlmonarchie abgleiten sah. In Zeiten eines christdemokratischen Dauerabonnements auf die Regierungszentrale im Bonner Palais Schaumburg schienen die Mentalitäten, die für eine Verwirklichung der „Verfassung der Freiheit“⁵⁷¹ erforderlich waren, laut Dahrendorf aber dennoch „nicht vom Himmel“⁵⁷² zu fallen. Zwar hielt er den Rückfall der bundesrepublikanischen Demokratie in eine offen autoritäre Form der Herrschaft im Unterschied zu Habermas mittlerweile für ausgeschlossen. Allerdings skizzierte Dahrendorf Mitte der 60er das sanfte Schreckensszenario einer „Demokratie ohne Freiheit unter der Herrschaft einer politischen Klasse, die aus Mangel an Teilnahme, aus Mangel an stabilen Strukturen sozialer und politischer Interessen in die Lage gedrängt wird, zu regieren ohne zu kämpfen“⁵⁷³. Während „der Autoritarismus der Vergangenheit ein Ergebnis bewußter Ausübung der Autorität und ungewollter Nichtteilnahme“ gewesen sei, scheine „heute die Nichtteilnahme gewollt und die Autorität unbeabsichtigt“⁵⁷⁴.

 Dahrendorf, „Die stille Revolution“, S. 87.  Ebd.  Ebd.  Hayek, Die Verfassung der Freiheit.  Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 264.  Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 473 f.  Ebd. S. 475. Die Negativfolie einer „Demokratie ohne Freiheit“ hatte Dahrendorf unter Bezugnahme auf Tocqueville und David bereits in seiner Aufsatzsammlung Gesellschaft und Freiheit entwickelt. Nach diesem Verständnis war Demokratie „zugleich mehr und weniger als Freiheit: mehr, insofern dieser Begriff ein bestimmtes Arrangement von Institutionen und nicht nur das Ziel, zum dem diese bestehen, bezeichnet; weniger, insofern die politische Demokratie nur einige der notwendigen Bedingungen der Freiheit schaffen kann.“, Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 193. Der „demokratische Mensch“, der „verschieden zu sein“ (ebd. S. 194) gedenke, stehe in der „Demokratie ohne Freiheit“ allein auf weiter Flur, während das liberale Institutionengefüge

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Nach seinem vormaligen Lob für die reformwilligen Sozialdemokraten änderte Dahrendorf seine Meinung in der Mitte des Jahrzehnts, als er mit Missfallen zur Kenntnis nahm, dass sich während des glücklosen Interregnums des neuen Bundeskanzlers Ludwig Erhard zwischen Christ- und Sozialdemokraten auf Bundesebene eine Große Koalition anbahnte. Statt die Institutionen der liberalen Demokratie nach der gelungenen ökonomischen Konsolidierung der Bundesrepublik für einen beherzten Parteienstreit um die Macht zu nutzen, schien mittlerweile selbst die Opposition im Bundestag der notorischen deutschen Sehnsucht nach Harmonie zu erliegen. Der Flirt mit der Großen Koalition offenbarte für Dahrendorf nur die Unfähigkeit der westdeutschen politischen Eliten, endgültig vom deutschen Sonderirrweg in die Moderne abzurücken. Offenbar war die SPD aus machttaktischen Erwägungen zu einer von parlamentarischer Opposition weitgehend unbehelligten Modernisierung von oben im Stile Bismarcks bereit. Deshalb stellte ihr Dahrendorf in seiner fulminanten Studie über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland ein denkbar schlechtes Zeugnis aus: „Seit dem Godesberger Programm hat die SPD der Bundesrepublik ihre Politik der Umklammerung so weit getrieben, daß die Große Koalition schon verwirklicht scheint, bevor sie in der Regierung sitzt; den Preis zahlt die deutsche Gesellschaft mit der Vitalität ihrer demokratischen Institutionen.“⁵⁷⁵ Die Vorstellung einer parteiübergreifenden Verwaltung des Erfolgsmodells der Sozialen Marktwirtschaft sei „der gefährlichen Verwechslung sozialer Integration und sozialer Harmonie“ geschuldet, die wiederum auf einem „Irrtum“ beruhe „weil es wohlintegrierte Gemeinwesen geben kann, in denen“ – wie Dahrendorf hinzufügte – „lebhafte Auseinandersetzungen stattfinden; ja vielleicht kann Konflikt um so heftiger sein, je klarer die Zusammengehörigkeit der Antagonisten zutage liegt; ein Streit zwischen Freunden ist wahrscheinlicher und auch fruchtbarer als ein Streit zwischen Fremden.“⁵⁷⁶ Dass aus der Bundesrepublik auch eine waschechte liberale Demokratie, damit aus Christ- und Sozialdemokraten auch waschechte liberale Demokraten wurden, bedurfte es nach Dahrendorf eines echten Machtwechsels an der Regierungsspitze, keines politischen Mammutbündnisses, das den Parteienstreit als Movens des sozialen Wandels stillstellte.⁵⁷⁷

unter dem Konformitätsdruck des außengeleiteten Menschen „leicht zu einer leeren Hülle“ verkomme, „die mit dem Charakter ihrer Bürger nicht verknüpft (ebd. S. 202) sei.  Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 222.  Ebd. S. 223.  Noch im Kontext der Wiedervereinigung gab Dahrendorf deshalb zu bedenken, dass die deutsche Demokratie „gerade darum instabil“ bleibe, „weil sie so eng mit materiellem Wohlstand verknüpft ist.“, Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, S. 80.

1.2 Denken von der Gesellschaft her

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Deshalb hatte er die zentralen Erkenntnisse aus seinem großen Deutschlandbuch in einem schneidigen Essay für die September-Ausgabe des Merkur von 1965 vor der anstehenden Bundestagswahl auch zu einer feurigen Attacke auf das bundesrepublikanische Kartell der Angst gebündelt. Darin bezeichnete er die Spitzenpolitiker beider Volksparteien kurzerhand als eine „politische Klasse wider Willen“⁵⁷⁸. Nach Dahrendorf lag das Grundproblem letztlich in der wechselseitigen Distanz der politischen Eliten der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft: Man traute einander aufgrund von unterschiedlichen Biografien im Dritten Reich längst noch nicht über den Weg⁵⁷⁹ und schloss paradoxerweise gerade aus diesem Grund ein „Stillhalteabkommen“⁵⁸⁰, durch das drängende gesellschaftspolitische Reformen ad infinitum aufgeschoben wurden. Auch hier bediente er sich wieder ausgiebig der angelsächsisch-liberalen Wettbewerbsrhetorik: „Statt ihre Vielfalt zu einer lebhaften Konkurrenz auf dem Markt der politischen Entscheidung zu benutzen, haben sie [die Eliten – M.H.] sich gleichsam zusammengeschlossen in der Übereinkunft, einander nicht weh zu tun und gemeinsam die öffentlichen Dinge zu verwalten.“⁵⁸¹ Dadurch verstetige sich jedoch ein spezifisch deutscher „Autoritarismus ohne Autorität“: „Die Gesellschaft wird autoritär regiert, aber niemand regiert autoritär.“⁵⁸² An anderer Stelle präzisierte Dahrendorf: „Niemand regiert Deutschland, Deutschland wird regiert.“⁵⁸³ Gegen dieses bundesrepublikanische Elitenkartell – den historischen Nachfolger eines traditionellen deutschen Elitenmonopols – brachte er ein idealisiertes angelsächsisches Modell der Elitenkonkurrenz mit der „Möglichkeit eines […] Wechsels durch die Spitzenpositionen höchst verschiedener Bereiche“⁵⁸⁴ in Stellung. Auf dem Höhepunkt seiner publizistischen Wirkmacht in der Bundesrepublik stellte Dahrendorf in seinem demokratietheoretischen Opus Magnum über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland auf einer allgemeineren Ebene die provokative Frage, warum „das Prinzip der liberalen Demokratie in Deutschland so wenig Freunde gefunden hat“⁵⁸⁵, um die Antwort darauf freilich gleich selbst anzudeuten: Es gibt eine experimentelle Haltung zur Welt, die das Recht des anderen auf seinen Lösungsvorschlag nur gelten läßt, solange dieses jeden dogmatischen Anspruch vermeidet. Es

       

Dahrendorf, „Das Kartell der Angst“, S. 806. Ebd. S. 807 f. Ebd. S. 812. Ebd. S. 806. Ebd. S. 812. Ebd. S. 814. Ebd. S. 809. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 26.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

gibt einen liberalen Zweifel, der den Herrschenden vor allem Schranken zu setzen, nicht Brücken zu bauen sucht. Es gibt eine Gesinnung der Konkurrenz, die den Fortschritt nur dort garantiert sieht, wo mehrere um Vorrang streiten. Es gibt eine Auffassung von Freiheit, die diese für das Individuum nur dort gewährleistet findet, wo experimentelle Gesinnung, konkurrierende soziale Kräfte und liberale politische Institutionen sich verbinden. Diese Auffassung hat in Deutschland nie recht Fuß fassen können. Warum nicht? Das ist die deutsche Frage.⁵⁸⁶

Dahrendorf näherte sich dem Liberalitätsproblem der Deutschen – das er in dieser Phase für dringlicher hielt als die etwa zeitgleich durch das Gleichgewicht des Schreckens der Supermächte in den Hintergrund rückende eigentliche deutsche Frage nach der Einheit der beiden Teilstaaten – aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters. Die akademischen Lehrjahre in Großbritannien und den Vereinigten Staaten hatten ihre Spuren hinterlassen, die Maximen des dortigen Marktliberalismus waren zu seinem argumentativen Bezugspunkt geworden. Deshalb empfahl Dahrendorf in einer „Sternstunde soziologischer Aufklärung“, in der er laut Helmut König die „Umstellung der deutschen Selbstbeschreibung vom Nationalen und Staatlichen auf das Gesellschaftliche“⁵⁸⁷ maßgeblich befördert habe, letztlich nichts anderes als die kompromisslose Ersetzung der deutschen durch die angelsächsische politische Haltung. Mit den Worten Christina von Hodenbergs: Dahrendorf bemühte „den angelsächsischen Westen als Folie, um die Deutschen des Illiberalismus, des Obrigkeitsdenkens und der Scheu vor Konflikt und Partizipation in der öffentlichen Sphäre zu überführen“⁵⁸⁸. Dabei bekannte er sich offensiv zur „Marktrationalität“ als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip, das er im Geiste Hayeks entschieden von der Idee demokratischer Planung abgrenzte: Rational ist der Markt, auf dem durch die Konkurrenz der Beteiligten nach ihren Interessen die günstigste Wirkung erzielt wird; rational ist aber auch der Plan, in dem ohne Konkurrenz und Widerspiel von vornherein festgelegt wird, wer was wann zu tun hat. Zur Marktrationalität gehören bestimmte Spielregeln und Instanzen, die über deren Einhaltung wachen; zur Planrationalität gehört eine Bürokratie, die den Plan im einzelnen entwickelt und seine Ausübung kontrolliert. Für die marktrationale Haltung ist Planrationalität nicht rational; alle Pläne müssen irren, und sie bedeuten daher eine gigantische Chance des Irrtums. Für die planrationale Haltung ist andererseits Marktrationalität nicht rational; Konkurrenz ist immer erhebliche Verschwendung von Ressourcen, die nur durch Vorplanung vermieden werden kann. Marktrational ist die Theorie der politischen Ökonomie von Smith, planrational die der nationalen Ökonomie von List. Zur marktrationalen Haltung gehören die

 Ebd. S. 29.  König, „Die Bundesrepublik – eine Philosophiegeschichte“, S. 685.  Hodenberg, Konsens und Krise, S. 63.

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politische Theorie und Praxis des Liberalismus; zur planrationalen Haltung gehört der autoritäre, in neuerer Zeit der totalitäre Staat.⁵⁸⁹

Der frischgebackene Horkheimer-Nachfolger Habermas kritisierte in seiner Rezension des Dahrendorf’schen Deutschlandbuchs für den SPIEGEL wenig überraschend dessen marktliberale Hauptbotschaft: „Dahrendorf stellt Marktrationalität und Planrationalität so gegenüber, als sei in dem einen Prinzip der Heilige Geist, im anderen der Beelzebub verkörpert.“⁵⁹⁰ Gleichzeitig ziehe Dahrendorf fälschlicherweise eine „Parallele zwischen wirtschaftlicher Konkurrenz und einer politischen Willensbildung durch den Streit von Parteien“⁵⁹¹. Dieser liberalen Maxime hielt Habermas im Gestus des linken Diskurstheoretikers der Demokratie entgegen, dass auf dem Markt „keine Diskussion“ stattfinde, sondern nur die zweckrationale Wahl angemessener Strategien. Demokratischen Entscheidungen hingegen geht eine Diskussion voraus, die sich nicht nur auf die Organisation von Mitteln, sondern auch auf die Wahl von Standards der Beurteilung und der Bewertung erstreckt. Dort werden Interessen nur durchgesetzt, hier müssen sie begründet, hier können sie durchschaut werden.⁵⁹²

Schon damals war nur schwer von der Hand zu weisen, dass Dahrendorf allzu leichtfertig aus der Perspektive eines angelsächsischen Marktliberalismus argumentierte, dessen Kehrseite ihm in den englischen und amerikanischen Eliteinstitutionen, die er besucht hatte, bis dato verborgen geblieben war. Allerdings war sich Habermas angesichts der fortwirkenden antiliberalen Tradition in der bundesrepublikanischen Gesellschaft auch der Vorzüge einer solchen „jungliberal[en]“ Position bewusst, die „heute nur auf dem Umwege einer eigentümlich angelsächsischen Verfremdung hergestellt werden“ könne: „In unserem Lande kann ein abstrakter Liberalismus nicht ohne Gewaltsamkeit, nicht ohne den fingierten Blick des Emigranten überhaupt zur Geltung gebracht werden.“⁵⁹³ Die Leitthese des jungliberalen Missionars lautete, dass die Deutschen von Kants „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ stets weniger hatten wissen wollen als von Hegels „Suche nach der Wirklichkeit der sittlichen Idee“⁵⁹⁴ im Staat. Um diese These in Dahrendorfs übergeordnete Konflikttheorie einzubetten: Der politische und soziale Klassenkonflikt zwischen Herrschenden und

     

Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 68 f. Habermas, „Die verzögerte Moderne“, S. 457. Ebd. Ebd. Ebd. S. 454. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 18.

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Beherrschten sei in Deutschland durch ein ideologisches „Primat des Nationalen“⁵⁹⁵, durch Faktoren wie „Nation, Staat, straffe Aufsicht, Gesamtinteresse, Einund Unterordnung“⁵⁹⁶, lange Zeit gewaltsam unterdrückt statt parlamentarisch ausgetragen worden, bis er sich in der Weimarer Republik schließlich gegen die Institutionen des Parlamentarismus selbst gewendet und bürgerkriegsähnliche Formen angenommen habe.⁵⁹⁷ Es war nach Dahrendorf nur ein besonders bitterer Treppenwitz der Geschichte, dass die unvermeidliche Modernisierung der deutschen Gesellschaft anschließend maßgeblich von den Nationalsozialisten unter totalitären Vorzeichen vorangetrieben worden sei. Dahrendorfs Studie erhielt ihre Brisanz jedoch nicht in erster Linie durch die kühne These von der Modernisierungswirkung des Nationalsozialismus, sondern vielmehr durch ihren unmittelbaren Gegenwartsbezug. Die Botschaft war klar: Der aktive Staatsbürger hatte im Zeitalter der Christdemokratie „erst einen Fuß auf die Schwelle zur deutschen Gesellschaft gesetzt und gehört daher noch nicht recht zu ihr“⁵⁹⁸. Als Wirtschaftsminister und Liberalisierungsagent von Amtes wegen hatte Erhard in Dahrendorfs Augen noch eine gute Figur abgegeben. Doch mittlerweile gerierte sich der einstige Vater des Wirtschaftswunders „in seiner ohnehin bestehenden Geringschätzung der Parteien, aber auch der Verbände“ wie ein pluralismusfeindlicher Populist und suchte, an den Interessengruppen vorbei, einen direkten Zugang zu seinem Volk zu finden – ein, wie der Historiker Edgar Wolfrum rückblickend treffend feststellt, „mehr als waghalsiges Unterfangen in einer Parteiendemokratie“. Erhards „Vorstellung von der Interessenübereinstim-

 Ebd. S. 71.  Ebd. S. 53.  Das Grundproblem des deutschen Entwicklungsmodells bestand laut Dahrendorf darin, dass sich die Protagonisten der bürgerlichen Gesellschaft hier nie so recht vom bevormundenden Staat hatten emanzipieren können: „Das kaiserliche Deutschland hat die Industrialisierung rasch und gründlich absorbiert. Es hat diesen Prozeß aber hineingenommen in die sozialen und politischen Strukturen, die es vor allem prägten. In diesen Strukturen war kein Platz für eine breite, politisch selbstbewußte Bourgeoisie; daher spielten wirtschaftliche Großgebilde von vornherein eine erhebliche Rolle. In diesen Strukturen hatte der Staat eine herausgehobene Stellung; daher nahm der Staat als Förderer und Eigentümer am Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung von vornherein teil. Der Staat, der so die neue Macht zur Stärkung der alten zu benutzen vermochte, war seinerseits durch die charakteristisch autoritäre Mischung von Strenge und Wohlwollen bestimmt; daher gehörte die sozialpolitische Fürsorge zu den frühen Korrelaten der Industrialisierung. Auch die Industrialisierung hat in Deutschland nicht dazu geführt, das Eigengewicht der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Staat durchzusetzen; als Motiv für alle gesellschaftlichen Wandlungen blieb die mächtige Nation in den Köpfen der Politiker, ihrer Ideologen und ihres Publikums lebendig.“, ebd. S. 58.  Ebd. S. 130.

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mung im Volk und von der Interessenidentität zwischen Regierenden und Regierten“ entsprach dabei nach Wolfrum einer alten politischen Denktradition in Deutschland, die im Gegensatz zum angelsächsischen Politikmodell steht, wonach es auf das Aushandeln verschiedener, aber gleichberechtigter Interessen ankommt. Erhard wärmte diese Tradition wieder auf; nach den Kabalen der vergangenen Jahre, unter denen er [als ewiger Kronprinz, der von Adenauer torpediert wurde – M.H.] gelitten hatte, suchte er dort Zuflucht, wo er verehrt und geliebt wurde: beim ‚guten‘ Volk.⁵⁹⁹

Die Idee der formierten – eine von dem Schmitt-Schüler Rüdiger Altmann entworfene gesellschaftspolitische Leitformel für Erhards „feste Überzeugung, daß der Einfluß der Verbände zugunsten eines gleichsam a priori feststehenden Gemeinwohls zurückgedrängt werden müsse“⁶⁰⁰ und, mit den Worten Erhards selbst, „der Staat im gesellschaftswirtschaftlichen Leben zu Höherem berufen“ sei, „als die Rolle des Nachtwächters zu spielen“⁶⁰¹ – widersprach zutiefst Dahrendorfs pluralistischem Appell an die Individuen und sozialen Klassen in der Bundesrepublik, „aus eigenem Antrieb am politischen, aber auch am umfassenderen gesellschaftlichen Prozeß teilzunehmen, die eigenen Interessen auf den Markt der Politik wie die eigenen Waren auf den Markt der Ökonomie und die persönlichen Idiosynkrasien auf den Markt der Gesellschaft zu tragen“⁶⁰². Da Erhards Gesellschaftsverständnis „mithin auf eine Totalinklusion [zielte], für die der Staat die Letztverantwortung übernimmt, welche ihm ebenso moderierende wie kontrollierende Funktionen zumißt, deren nur prozessual, gradualistisch denkbares Gelingen indessen von den gesellschaftlichen Interessengruppen abhängt“⁶⁰³, kam Dahrendorf zu dem Schluss, der Bundeskanzler habe sich „in wachsendem Umfange den illiberalen Phrasen der deutschen Tradition verschrieben“⁶⁰⁴. Mit einem Verständnis staatlicher Politik, die vermeintlich über den Interessen stand, konnte der liberale Konflikttheoretiker Dahrendorf nichts anfangen. Für ihn fand die „Pathologie staatsbürgerlicher Gleichheit in Deutschland“⁶⁰⁵ im Politik- und Gesellschaftsverständnis Erhards, dessen Partei bei der Bundestagswahl von 1965 wieder nur haarscharf an der absoluten Mehrheit vorbeigeschrammt war, somit ihre Fortsetzung.

      

Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 218. Ebd. Zit. nach Fischer, Moralkommunikation der Macht, S. 149. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 79. Fischer, Moralkommunikation der Macht, S. 150. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 468. Ebd. S. 93.

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Angriff auf die deutsche Ideologie Dass Erhard den Dichter Rolf Hochhuth, der in seinem Stück Der Stellvertreter von 1963 die Rolle des Papstes im Zweiten Weltkrieg kritisiert hatte, im Wahlkampf einen „Pinscher“ genannt hatte, verdeutlichte zudem seine feindliche Haltung gegenüber den Intellektuellen, die in der frühen Bundesrepublik eine immer wichtigere Rolle in der öffentlichen Debatte einnahmen. Genau genommen handelte es sich freilich um eine Abneigung gegen die herrschaftskritischen Positionen sogenannter kritischer und Linksintellektueller. Sich von unionsnahen und staatsapologetischen Intellektuellen wie Helmut Schelsky oder Arnold Gehlen beraten zu lassen, bereitete Erhard hingegen keine Probleme. Dahrendorfs Antipoden im intellektuellen Feld waren deshalb auch schnell ausgemacht. Figuren wie Gehlen, Schelsky oder auch Martin Heidegger verkörperten für ihn kategorisch einen fragwürdigen Typus des „klassischen Intellektuellen“, der zunächst im Dritten Reich und später in der Bundesrepublik „seinen Frieden mit den herrschenden Gewalten und sozialen Verhältnissen seiner Zeit gemacht“ habe und – wider die liberale Kontingenzformel – „der Wirklichkeit den Anstrich des Notwendigen oder doch des Richtigen“ verleihe: „[H]arter Kern aller Bemühungen der ideologischen Phantasie bleibt doch der Versuch, das Wirkliche als vernünftig zu erweisen.“⁶⁰⁶ Dahrendorf rechnete sich selbst hingegen dem Lager jener „kritischen Intellektuellen“ zu, die „mit vielen oder allen gemeinhin selbstverständlichen Bindungen“ zu brechen und folglich auch „zur absichtlichen Distanzierung von den obwaltenden sozialen und politischen Bedingungen“⁶⁰⁷ bereit seien. Deshalb wertete er es auch als intellektuelle Kriegserklärung, als Gehlen in der Mai-Ausgabe des Merkur von 1964 mit einem Essay über Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat aufschlug. Gehlen hatte in München kurz zuvor – vor Parteikadern der CDU/CSU, den konservativen Experten in Staatsangelegenheiten – mit seinen Widersachern, den kritischen Intellektuellen, abgerechnet und damit implizit auch Dahrendorf „Überreiztheit“⁶⁰⁸ und einen Hang zur „Überpolitisierung“⁶⁰⁹ attestiert. Ihre „allgemeinmenschlich-philanthropische Ethik“, die laut Gehlen „sehr leicht zu einer Angriffswaffe gegen das Bestehende“⁶¹⁰ entartete, müsse auf ein tiefes „Vergeblichkeitsbewußtsein“⁶¹¹ der kritischer Intellektuellen in modernen Industriegesellschaften zurückgeführt werden. „Da der

     

Ebd. S. 312. Ebd. S. 318. Gehlen, „Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat“, S. 403. Ebd. S. 406. Ebd. S. 409. Ebd. S. 411.

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Linksintellektuelle ein gebrochenes Verhältnis zu Staat und Wirtschaft besitze und Herrschaftsansprüche stelle“, so fasst Jens Hacke diesen Vorwurf seitens der Vertreter des technokratischen Konservatismus rückblickend zusammen, „habe er nicht das Gemeinwohl im Sinn, sondern wirke subversiv“⁶¹². In seinem Vortrag verdichtete Gehlen Schumpeters Intellektuellendefinition und Max Webers normative Unterscheidung zwischen einer gemeinwohlorientierten Verantwortungs- und einer staatszersetzenden Gesinnungsethik zu einem unversöhnlichen Gegensatz, um eine offen konservative Position zu beziehen: Als vom technisch-industriellen Fortschritt überforderte, an ihre kognitiven Grenzen stoßende und deshalb die soziale Wirklichkeit gesinnungsethisch verkürzende Wortakrobaten stünden die Intellektuellen einer Gruppe von gleichermaßen kompetenten wie sich ihrem begrenzten Handlungsspielraum auch bewussten Praktikern, eben den Experten, gegenüber, „die in Staat und Wirtschaft die Dinge in Gang“⁶¹³ hielten. „Verantwortung“, erläutert Hacke Gehlens Indienstnahme des Weberschen Begriffspaares, entsprach dabei „definierbaren institutionellen Aufgaben und Pflichten“, während „Gesinnung […] stets in Hypermoralisierung ohne Realitätsbezug auszuarten“⁶¹⁴ drohte. Demzufolge stach der aufgeklärte Technokrat in der wissenschaftlichen Zivilisation den moralisierenden (Links-) Intellektuellen aus. Dahrendorf hielt Gehlen in der Juli-Ausgabe des Merkur in einem facettenreichen Essay, den er unter der provokativen Frage Angst vor Hofnarren? publizierte, schlagfertig entgegen, dass ein Intellektueller zuallererst einmal ein von der politischen Praxis distanziertes Subjekt sei. Folglich unterscheide sich Gehlen selbst kein bisschen von den geschmähten Linksintellektuellen, agiere er doch selbst als „ein Fremder auf der Bühne der Praxis“⁶¹⁵. Es folgten zwei inhaltliche Bestimmungen, die Dahrendorfs intellektuelles Selbstverständnis und sein demokratietheoretisches Grundanliegen in der frühen Bundesrepublik in nuce kennzeichneten. Erstens nahm er eine gegen Gehlen gerichtete positive Funktionsbestimmung des Intellektuellen vor, dessen Aufgabe es sei, in Abgrenzung zu  Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 119.  Gehlen, „Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat“, S. 410.  Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 120.  Dahrendorf, „Angst vor Hofnarren?“, S. 663. Dahrendorf hatte Recht: Gehlen führte bei seiner Intellektuellenschelte ein zweischneidiges Schwert, denn die Diskreditierung seiner Gegner erfolgte gerade im Modus der intellektuellen Intervention, also mit den ureigenen Mitteln derjenigen, die er zu entzaubern versuchte. Hier zeigte sich das ambivalente Verhältnis der konservativen Intellektuellen zur Öffentlichkeit: einerseits holten sie fortwährend zur Kritik an den kritischen Intellektuellen aus, nutzen die öffentliche Sphäre aber andererseits dazu, um „selbst herausgehoben als politische Intellektuelle“ zu wirken und „publizistisch breitgestreute Aktivitäten“ (Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 119) zu entfalten.

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den herrschenden Gewalten eine gewisse Form des Nonkonformismus zu kultivieren. Nach Dahrendorfs Verständnis hatte sich ein solcher Nonkonformismus zu diesem Zeitpunkt, wie bereits ausgeführt, sowohl gegen die christdemokratische Dauerregierungspartei als auch gegen die sozialdemokratische Opposition zu richten, deren Verzicht auf einen eigenen Kandidaten bei der Bundespräsidentenwahl von 1964 bereits als Bereitschaft zum Eintritt in eine Große Koalition gewertet wurde. Zweitens unterschied Dahrendorf in seinem Merkur-Essay zwischen einer bloß „freien“ und einer „mündigen“ Gesellschaft, d. h. zwischen der entpolitisierten „Demokratie ohne Freiheit“, wie sie die politische und gesellschaftliche Gegenwart der Bundesrepublik kennzeichne, und einer lebhaften politischen „Verfassung der Freiheit“, die es erst noch zu verwirklichen gelte. Zwar pflichtete Dahrendorf Gehlen auch in Teilen bei, indem er ebenfalls vor einer utopischen „Vermählung von Theorie und Praxis“⁶¹⁶ warnte und den Intellektuellen in der „Dienstklassengesellschaft“ durch „seinen klaren Status im Hinblick auf die Herrschenden“⁶¹⁷ strukturellen Zwängen unterworfen sah, aus denen eine naive Systemopposition keinen Ausweg biete. Nichtsdestotrotz redete Dahrendorf auch geradezu emphatisch einer herrschaftskritischen Gegenöffentlichkeit das Wort, die sich nur außerhalb der etablierten politischen Institutionen entfalten könne, und schickte in Richtung Gehlen hinterher: „Emigration, innere Emigration und Kapitulation sind keine sehr nützlichen intellektuellen Verhaltensweisen; aber sie sind in der Geschichte unseres Landes häufiger als die widerwillig tolerierte Randstellung, in der der Intellektuelle gedeiht.“⁶¹⁸ Mit dieser unverblümten Anspielung auf Gehlens unrühmliche Rolle im Nationalsozialismus waren die Fronten geklärt: Für Dahrendorf, den intellektuellen Nonkonformisten, war Gehlen ein Repräsentant der kapitulierenden Intellektuellen, die ihren Nichtangriffspakt mit den Machthabern im Dritten Reich nun unter veränderten Vorzeichen in der frühen Bundesrepublik fortsetzten. In den theoriepolitischen Interventionen konservativer Denker wie Gehlen und Schelsky meinte Dahrendorf letztlich jenen bereits von Ernst Cassirer Ende der 40er skizzierten „Mythos des Staates“⁶¹⁹ entschlüsseln zu können, der bei

 Dahrendorf, „Angst vor Hofnarren?“, S. 665.  Ebd. S. 666.  Ebd. S. 666 f.  Cassirer hatte in seinem gleichnamigen Werk über Hegel geschrieben: „Er verwirft die ‚mechanischen‘ Theorien, nach denen der Staat nicht mehr ist als ein Aggregat individueller Willen, zusammengehalten durch die gesetzlichen Bande eines Gesellschaftsvertrages oder eines Unterwerfungsvertrages. Wie die romantischen politischen Schriftsteller beharrt Hegel darauf,

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Hegel seinen Ausgang genommen und seit der Reichsgründung von 1871 der Immunisierung einer autoritären Herrschaftspraxis gegen demokratischen Einspruch aus der Gesellschaft gedient habe. Demnach verstehe sich der Staat – laut Dahrendorf nur eine Chiffre für „diejenigen, die sich hinter dem schützenden Schild dieses Namens verbergen“ – vor allem als Rechteinhaber „gegenüber dem Individuum“, das wiederum „wortlos zu gehorchen“⁶²⁰ habe. Zwar gestehe der allzu deutsche Staatsaberglaube seit Hegel dem Individuum auch Rechte zu, doch müssten diese „‚aufgehoben‘ werden in den höheren Rechten des Staates“⁶²¹. Auf politisch-praktischer Ebene schimmere „hier die Verfassung des Kaiserreiches durch, die sich beinahe als angewandter Hegel beschreiben“ lasse: Der Reichstag, die ‚Schwatzbude‘, symbolisiert die bürgerliche Gesellschaft der Interessen und Kämpfe. Die soziale Realität unter ihm ist eine Welt der Unmündigkeit der Familien; und über ihm erst beginnt der Staat in seiner Majestät. Der Streit der Parteien reicht also an das Zentrum der Autorität nicht heran; er steht auf einer niederen Ebene und bedarf der Überwindung in einer nicht mehr parteilichen Instanz autoritativer Gewißheit.⁶²²

Auf der Suche nach einer geeigneten konservativen Schießbudenfigur, die für das Fortleben jenes deutschen Staatsmythos in der frühen Bundesrepublik symptomatisch war, landete Dahrendorf wieder bei seinem einstigen akademischen Förderer Schelsky. Durch seine „semantische Transformationsarbeit von der Volksgemeinschaft zur Eliten-Demokratie“ hatte Schelsky laut Gerhard Schäfer zwar den Übergang zum parlamentarischen Repräsentationsmodell vollzogen, bei dem allerdings noch Elemente der faschistischen Ideologie weiterwirken: so in der Beschränkung des Bereichs des Politischen (gegen Überpolitisierung), in der Forderung nach einem ›hochwertigen‹ Beamtentum (gegen Parteibuchbeamtentum) und in dem Treuebekenntnis zu den Strukturprinzipien der bestehenden Gesellschaft (gegen zu viel Kritik/Desintegration).⁶²³

Die Wissenschaft hatte nach Schelskys tiefster Überzeugung stets im Dienste eines vermeintlich neutralen Staates und der „Stabilität der Ordnung“ zu stehen, oder wie Schäfer die politisch-historische Stoßrichtung der Schriften Schelskys präzisiert: „früher im Dienste des Nationalsozialismus und nun in der jungen Bun-

daß der Staat eine ‚organische‘ Einheit besitze. In einem solchen Organismus ist, nach der Definition des Aristoteles, das Ganze ‚vor‘ den Teilen.“, Cassirer, Vom Mythus des Staates, S. 345.  Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 231.  Ebd.  Ebd.  Schäfer, „Der Nationalsozialismus und die soziologischen Akteure der Nachkriegszeit“, S. 131.

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desrepublik als ‚Institutionenwissenschaft‘“⁶²⁴. Schelsky hatte in Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation – der Programmschrift des technokratischen Konservatismus, die Anfang der 60er aus einem Vortrag vor der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen hervorgegangen war – den Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für die politische Herrschaftsform in westlichen industriellen Gesellschaften nachgespürt. Seiner These zufolge war politische Herrschaft in der „wissenschaftlich-technischen Zivilisation“ nicht länger als Herrschaft von Personen über Personen vorstellbar, weil „an die Stelle der politischen Normen und Gesetze“ vermehrt „Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“ treten würden, „die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder Weltanschauungsnormen nicht verstehbar sind“⁶²⁵. Schelsky postulierte, dass dadurch auch „die Idee der Demokratie sozusagen ihre klassische Substanz“ verliere: „an die Stelle eines politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert“⁶²⁶. Folglich kam Schelsky in Abwandlung der berühmten Formel Carl Schmitts aus der Politischen Theologie zu dem Schluss, im technischen Staat der Gegenwart sei souverän, „wer über die höchste Wirksamkeit der in einer Gesellschaft angewandten wissenschaftlichtechnischen Mittel verfügt“⁶²⁷. Ein Staatsmann könne unter diesen Umständen auch nicht mehr im strengen Sinne als „‚Entscheidender‘ oder ‚Herrschender‘“ bezeichnet werden; er sei vielmehr „Analytiker, Konstrukteur, Planender, Verwirklichender“⁶²⁸. Politik sinke unter diesen Bedingungen prinzipiell „auf den Rang eines Hilfsmittels für Unvollkommenheiten des ‚technischen Staates‘ herab“⁶²⁹. Um sich von den liberalen Theoretikern der pluralistischen Demokratie abzusetzen, postulierte Schelsky konsequenterweise auch einen „Gegensatz von ‚technischem Staat‘ und dem ‚Staat der Interessengruppen‘“, um damit zu unterstreichen, „daß heute oft nicht mehr die Politiker das Allgemeininteresse vertreten, sondern gerade die Fachleute des wissenschaftlich-technischen Staates“⁶³⁰. Die demokratische Rückbindung politischer Herrschaft an den Willen des Volkes – ob nun in ihrer radikal- oder liberaldemokratischen Variante – sei nur noch eine Illusion:

      

Ebd. S. 139 f. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 21 f. Ebd. S. 22. Ebd. S. 24. Ebd. S. 25. Ebd. Ebd. S. 29.

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Der ‚technische Staat‘ entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz. Technisch-wissenschaftliche Entscheidungen können keiner demokratischen Willensbildung unterliegen, sie werden auf diese Weise nur uneffektiv. Wenn die politischen Entscheidungen der Staatsführungen nach wissenschaftlich kontrollierten Sachgesetzlichkeiten fallen, dann ist die Regierung ein Organ der Verwaltung von Sachnotwendigkeiten, das Parlament ein Kontrollorgan für sachliche Richtigkeit geworden. Das Volk im Sinne des Ursprungs der politischen Herrschaftsgewalt wird dann zu einem Objekt der Staatstechniken selbst.⁶³¹

Für den glühenden Liberalen Dahrendorf gaben die Institutionen der parlamentarischen Demokratie zwar noch keine Gewähr, waren in jedem Fall aber die notwendige Voraussetzung einer mündigen Gesellschaft. Demgegenüber schrieb Schelsky in seiner konservativen Apologie des technischen Staats, wo politische Entscheidungen vermeintlich allein anhand eines „one best way“ unter wissenschaftlich-technischen Gesichtspunkten ermittelt werden konnten⁶³², nur abschätzig von den „leere[n] Hülsen“ der „alte[n] Herrschaftsformen“⁶³³. Damit weckte er Erinnerungen an die zutiefst antiliberale und antidemokratische Wortwahl Carl Schmitts aus den 20ern.Von Schmitt inspiriert, hatte sich Schelsky 1939 in Königsberg bei Arnold Gehlen und Gunther Ipsen mit einer Arbeit über Die Totalität des Staates bei Thomas Hobbes habilitiert, in der er einen auf die staatliche Obrigkeit fokussierten politischen Existentialismus vertrat: Das Volk musste dazu gebracht werden, die Authentizität des Führerwillens ohne Widerrede anzuerkennen. Doch anders als Schmitt, der Hobbes noch dafür kritisiert hatte, in seiner absolutistischen Staatstheorie mit der Unterscheidung von persönlichem Glauben und öffentlichem Bekenntnis bereits das Einfallstor für die liberale Zersetzung des Staates geöffnet zu haben, rechnete Schelsky Hobbes das Verdienst zu, auf der Grundlage wissenschaftlicher Rationalität als Erster Wege zu einer Pflichtenethik des Bürgers gegenüber dem Staat aufgezeigt zu haben.⁶³⁴ In der Bundesrepublik hielt Dahrendorf Schelskys „scheinbare Ersetzung der Entscheidung durch Information, also die Suche nach dem Experten für die Entscheidungspositionen der Gesellschaft“, nun für den „strukturell interessantere[n] Fehler“⁶³⁵ im Vergleich zu Schmitts dezisionistischem Etatismus, der seinen Zenit längst überschritten habe. Doch obwohl Schelsky im Zeitalter einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der Politik ein gewisses Maß an Plausibilität attestiert werden müsse, rede dieser mit seinem technokratischen Herr    

Ebd. S. 29 f. Vgl. dazu vor allem Séville, ‚There is no alternative‘, S. 49 ff. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 32. Vgl. dazu Dyzenhaus, „Leviathan in the 1930s“, S. 179 ff. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 188.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

schaftsmodell letztlich „einer autoritären Oligarchie“ das Wort, weil das von ihm bemühte Sachzwangargument als „willkommene[r] Schleier“⁶³⁶ fungiere, um die nach wie vor von Interessen bestimmte politische Willensbildung vor den Augen der demokratischen Öffentlichkeit zu verbergen. Partikularinteressen ließen sich laut Dahrendorf als Movens des sozialen Wandels in modernen Industriegesellschaften einfach nicht aus der Welt schaffen, so sehr die deutschen Ideologen dies in ihren Schriften auch suggerierten, um „eine autoritäre Ordnung“ und pseudoharmonische Friedhofsruhe zu legitimieren, „die den Wenigen ihre Rechte auf Kosten der Vielen“⁶³⁷ gebe. In Schelskys technokratischem Herrschaftsmodell erkannte Dahrendorf folglich nur den notorischen Elitismus eines deutschen Denkens, dessen vermeintliche Gemeinwohlorientierung seit jeher von antidemokratischen Ressentiments angetrieben wurde. Der liberale Missionar vertrat hingegen selbst die letztlich durch und durch demokratische Position, jedem einzelnen Staatsbürger für sich „eine gewisse Fähigkeit“ zuzugestehen, „Entscheidungen zu treffen, falsch und richtig zu unterscheiden, sein Urteil auf den Markt der politischen Auseinandersetzung zu tragen“⁶³⁸. Dieser Egalitarismus rückte ihn wieder in die Nähe seines ungleichen sozialistischen Weggefährten Habermas. Doch werde im deutschen Denken bis in die Gegenwart hinein „nicht nur häufig bestritten, daß jeder Mensch eine solche Fähigkeit hat, sondern es wird auch der Sinn eines politischen Systems bestritten, das durch den Marktwettbewerb derart grober Talente funktionieren soll“. Dem technokratischen Konservatismus – den Dahrendorf polemisch auf die Formel einer „angewandten Elitetheorie der Manifestation der Wahrheit“ reduzierte – entspreche daher „die Unmündigkeit derer, die fern von aller Gewißheit leben; der common sense bedroht diese nützliche Ideologie so sehr wie die Gleichheit der Chancen.“⁶³⁹ Auf die politische Ebene übertragen, hatte Schelsky in seiner Studie über die die Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart schon in den 50ern eine sozialwissenschaftliche Beschwörungsformel der Adenauer-Ära geliefert, als er die Familie „als Stabilitätsrest in unserer Gesellschaftskrise“⁶⁴⁰ glorifizierte.

 Ebd. S. 189.  Ebd.  Ebd. S. 190.  Ebd. An solchen Positionen offenbarte sich auch der Unterschied zwischen einem liberalen Demokratisierungsagenten wie Dahrendorf und einem elitären sozialdemokratischen Staatsdenker wie Hennis, obwohl sich beide in der frühen Bundesrepublik gleichermaßen als Verfechter einer angelsächsischen politischen Tradition – Hennis als glühender Anhänger des britischen Parlamentarismus und Mehrheitswahlrechts – profilierten.  Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, S. 13.

1.2 Denken von der Gesellschaft her

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Dahrendorf, der ja gerade die mangelnde öffentliche Streitlust bzw. die mangelnde Beteiligung seiner Landsleute an den öffentlichen Angelegenheiten für die Übel der jüngeren deutschen Geschichte mit verantwortlich machte, hatte dieser implizite Aufruf zum kollektiven Rückzug ins Private arg missfallen. Zur Vorbereitung seiner großen Deutschlandstudie setzte er sich Mitte der 60er deshalb auch intensiv mit Schelskys kurz zuvor erschienener Aufsatzsammlung Auf der Suche nach Wirklichkeit auseinander. Einige der darin wiederabgedruckten Texte hatte Dahrendorf bereits in seiner Saarbrücker Habilitationsschrift rezipiert, stammten diese, wie etwa die beiden Aufsätze über Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft und Gesellschaftlichen Wandel, doch teils noch aus den 50ern. Damals war er im Zuge seiner liberalen herrschaftssoziologischen Wendung der Marx’schen Klassentheorie auf Schelskys Nivellierungsthese aufmerksam geworden und hatte ihr für die Beschreibung sozialstruktureller Entwicklungen in westlichen Industriegesellschaften ein hohes Maß an Plausibilität attestiert, die Herrschafts- und Klassenblindheit dieser neueren bundesrepublikanischen Schichtungssoziologie aber heftig kritisiert. Bei der erneuten Lektüre der in Teilen überarbeiteten Texte, die zudem um Schelskys Studie über den technischen Staat ergänzt worden waren, beschloss Dahrendorf, seinen früheren akademischen Fürsprecher endgültig als einen vom Wirtschaftswunderwohlstand sanktionierten Vertreter der deutschen Ideologie zu disqualifizieren. Demnach dokumentiere Schelskys These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft in Verbindung mit seiner affirmativen Skizze eines technokratischen Herrschaftsmodells „eine verblüffende Verengung der Perspektive“, trage „die ganze Ferne der sozialen Distanz“, die in modernen Klassengesellschaften weiterhin bestehe, in sich und beurteile „die Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Dienstklasse“⁶⁴¹. Die „Irrationalität der deutschen Ideologie, deren vielfältige Formen Schelsky um eine neue Version bereichert hat“, lag nach Dahrendorf nicht nur darin, dass sie „der leicht verängstigten Dienstklasse ein sanftes Ruhekissen“ bescherte; „auch die Eliten können hinter dem Schirm dieser Ideologie ungestört durch lästige Fragen und Sorgen ihren Geschäften nachgehen, die vielfach harmlos genug sein mögen, aber doch immer auch der Erhaltung der eigenen Herrschaftsposition und Zementierung des sozialen Status quo dienen“⁶⁴². Dahrendorf verschärfte seinen Angriff, indem er Schelsky in der Bonner Republik die unrühmliche Rolle zuschrieb, mit der These der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ an die verheerenden deutschen Staatsideologien während

 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 148.  Ebd.

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1 Distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik

des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus, an die „Harmonie der Klassen“ und die „Volksgemeinschaft“, angeknüpft zu haben. Deshalb könne ihm der Vorwurf nicht erspart bleiben, die beiden Hauptmerkmale der deutschen Malaise „in seine Theorien integriert zu haben: die Klassenlosigkeit der eigenen Gesellschaft, die sich dadurch zudem von den anderen unterscheidet, und eine melancholische Sehnsucht nach Sicherheit, die der modernen Welt die Fähigkeit abspricht, Menschen glücklich zu machen“⁶⁴³. Dahrendorfs und Habermas’ Varianten einer sozialliberalen bzw. demokratisch-sozialistischen Herrschaftskritik erreichten im Verlauf der zweiten Hälfte der 60er ihren wirkungsgeschichtlichen Höhepunkt, was sich schon anhand zweier einschneidender biographischer Wegmarken belegen lässt: Dahrendorf trat nach dem sozialliberalen Machtwechsel 1969 aufseiten der FDP in die neue Bundesregierung ein, um sein Programm einer grundlegenden Reformierung der westdeutschen Gesellschaft gleich selbst mit umzusetzen, und Habermas wurde mit seiner Berufung zum Ko-Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg kurze Zeit später zum wichtigsten beglaubigten (und durchaus wohlwollenden) Kritiker der sozialliberalen Regierungspolitik gekürt. Mit der Wahl Willy Brandts zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler erreichten auch Planungs- und Reformeuphorie in der Bundesrepublik, die Dahrendorfs und Habermas’ Denken gleichermaßen stark beeinflussten, ein neues Maß. Die Zeit für die Umsetzung ihrer utopischen Politikmodelle war gekommen.

 Ebd. S. 151.

2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom […] wann hätten diese bürgerlichen Optimisten je eine Krise vorausgesehen oder vorausgesagt? Nie hat es noch eine Prosperitätsperiode gegeben, wo sie nicht die Gelegenheit wahrgenommen, um zu beweisen, dass dieses Mal die Medaille keine Kehrseite habe, dass dieses Mal das unerbittliche Schicksal besiegt sei. Karl Marx, MEW Bd. 8

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie: Eintritt ins lange Krisenjahrzehnt 2.1.1 Am Ende aller Ziele? Von der Großen Koalition zum sozialliberalen Machtwechsel Globalsteuerung als Staatsdoktrin Eingangs bedarf es einer kurzen politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion der rasanten Erschöpfung des ersten bundesrepublikanischen Zeitalters der Christdemokratie. Wer sich vergegenwärtigt, dass die glorreiche Nachkriegszeit hier bereits in ihre letzte Phase eintrat, wird anschließend umso besser nachvollziehen können, weshalb die utopischen Gesellschaftsentwürfe der beiden ungleichen Weggefährten Dahrendorf und Habermas in der Krise der 70er regelrecht aus der Zeit gefallen schienen. Noch unter Bundeskanzler Erhard, der nach der Abdankung Adenauers seit 1963 in einer Koalition mit der FDP regierte, war die westdeutsche Wirtschaft im Sommer 1966 zum ersten Mal seit Ende der 40er wieder in eine Rezession geschlittert. Während das Bruttoinlandsprodukt 1966 schon nur noch um weniger als drei Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewachsen war – 1960 hatte das Wirtschaftswachstum noch 9 Prozent und 1964 immerhin noch fast sieben Prozent betragen –, kam es im Krisenjahr 1967 sogar zum viel gefürchteten Nullwachstum. Diese beunruhigende ökonomische Entwicklung, die auch durch ein hohes Defizit in der Leistungsbilanz, eine für bundesrepublikanische Verhältnisse besorgniserregende Inflation und die geringe Investitionsfreude westdeutscher Unternehmen gekennzeichnet war, weckten spätestens im Herbst 1966 Erinnerungen an die Endphase der Weimarer Republik, die sich durch die Wahlerfolge der rechtsextremistischen NPD bei diversen Landtagswahlen zu einer öffentlichen Hysterie auswuchsen. Erhard, der Vater des westdeutschen Wirtschaftswunders, geriet daraufhin innerparteilich wie öffentlich unter großen Druck. Die hohen Erwartungen, die nach dem Ende der Adenauer-Ära an ihn herangetragen wurden, erwiesen sich https://doi.org/10.1515/9783110711615-003

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

unter den veränderten politikökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der 60er für einen Mann der alten Garde als unerfüllbar. Nach der erfolgreichen Wiederaufbauphase avancierte das „magische Viereck“ aus angemessenem Wirtschaftswachstum, Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht in der „zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft“ (Alfred Müller-Armack) zur heiligen Formel der Wirtschaftspolitik.Wie man dieses Ziel am besten würde erreichen können, darüber schieden sich zwischen ordnungsökonomischen Traditionalisten wie Erhard auf der einen und keynesianischen Neuerern auf der anderen Seite jedoch die Geister. Letztere – allen voran der Hamburger Wirtschaftsprofessor und SPD-Politiker Karl Schiller, der „mit technokratischer Brillanz, schwungvollem Ehrgeiz und bilderreicher Beredsamkeit die Bühne nationaler Politik“¹ betreten hatte – waren überzeugt, dass es eines umfassenden und wissenschaftlich ausgeklügelten Konzepts makroökonomischer Globalsteuerung bedurfte, um nach Ende des Wirtschaftswunderjahrzehnts den in gereiften Volkswirtschaften immer wahrscheinlicher werdenden ökonomischen Krisentendenzen präventiv den Stachel zu ziehen. Die Anhänger eines solchen wirtschaftspolitischen Ansatzes waren mittlerweile auch in der Union auf dem Vormarsch. Ihr wichtigstes Sprachrohr war der CSU-Vorsitzende und Erhard-Gegner Franz-Josef Strauß, der sich nach seinem unrühmlichen Rücktritt als Verteidigungsminister in der SPIEGEL-Affäre von 1962 akribisch in die Bereiche der Wirtschafts- und Finanzpolitik eingearbeitet hatte. Demgegenüber wehrte sich der glücklos wirkende Kanzler auf der Grundlage seiner ordnungsökonomischen Grundüberzeugungen, die mit einem transzendentalen Staatsverständnis deutscher Tradition in unheilvoller Wechselwirkung standen, fast schon aus Prinzip gegen die Vorstellung, der Staat könne als omnipräsentes Steuerungszentrum der Wirtschaft fungieren. Denn in der Verschränkung von Staat und Gesellschaft sah er seit jeher die Gefahr, bestimmte soziale Gruppen könnten den vermeintlich neutralen, gemeinwohlorientierten Staat auf unzulässige Weise zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen instrumentalisieren: „Die beste Voraussetzung für eine harmonische Entwicklung der Volkswirtschaft waren aus seiner Sicht eine funktionierende Wettbewerbsordnung sowie eine stabilitätskonforme Geld- und Währungspolitik. Eine präzise Steuerung der makroökonomischen Parameter durch eine antizyklische Fiskalpolitik hielt er […] für unmöglich.“² Mit dieser Einstellung verpasste Erhard den Anschluss an den keynesianischen Zeitgeist, der mit US-Präsident John F. Kennedys „reformerisch-idealisti-

 Baring, Machtwechsel, S. 661.  Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 245.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

161

sche[m] Aufbruch“³ Anfang der 60er in der Bundesrepublik Einzug gehalten hatte und in der Krise von 1966/67 in der „Neuen Wirtschaftspolitik“ der Großen Koalition schließlich in praktische Politik umgemünzt werden sollte. Noch vor Erhards Rücktritt gelang es der sozialdemokratischen Opposition, die christdemokratisch geführte Bundesregierung in den Ausschussverhandlungen über die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur Aushebelung ökonomischer Krisen, für das die Regierung die Zustimmung der in mehreren Bundesländern mitregierenden SPD benötigte, vor sich her zu treiben.⁴ Ihr wichtigstes Ziel erreichte die SPD damit, dass im Gesetz „neben der kurzfristigen konjunkturellen Stabilisierung auch die langfristige Wachstumsförderung als politisches Ziel“⁵ festgeschrieben wurde. Wachstum war nach gängiger keynesianischer Vorstellung der Motor der Vollbeschäftigung, wenn sich gleichzeitig die Inflation in Grenzen hielt und das außenwirtschaftliche Gleichgewicht gewahrt werden konnte. Für diesen Zusammenhang schien man nun die ideale wissenschaftliche Formel gefunden zu haben. Karl Schiller, Alex Möller und Klaus-Dieter Arndt – die wirtschafts- und finanzpolitischen Verhandlungsführer der SPD, die bereits die marktwirtschaftliche Kehrtwende ihrer Partei in Bad Godesberg Ende der 50er maßgeblich forciert hatten – gestalteten „Erhards Defensivgesetz“ virtuos „in einen Instrumentenkasten für eine keynesianische Globalsteuerung“⁶ um. Der ordnungsökonomische Dogmatismus Erhards, dessen Gestaltungskraft sich darin erschöpfte, die Tarifparteien mit rhetorischen Beschwörungsformeln zum „Maßhalten“ aufzurufen, galt mittlerweile als überholt, während die von Schiller „propagierte Verbindung von marktwirtschaftlicher Wettbewerbsordnung und makroökonomischer Globalsteuerung […] in wissenschaftlichen und politischen Kreisen um die Mitte der sechziger Jahre längst zum common sense [gehörte]“⁷. Der letztlich innerhalb der eigenen Partei erzwungene Sturz des Kanzlers, „der noch im Herbst 1965 aufgrund seiner großen Popularität ein hervorragendes Wahlergebnis erzielt hatte, zeigte, wie tief das Vertrauen in die Selbststeuerungsfähigkeit der Märkte erschüttert war“⁸. Die Wirtschaftskrise verlangte eine  Ebd. S. 281.  So drängten die Sozialdemokraten mit großem Erfolg auf weitreichende Anpassungen des ersten Gesetzesentwurfs der Bundesregierung und forderten für die Zukunft die Möglichkeit zu einer flexiblen Außenwirtschaftspolitik, die konsequente Einbeziehung wissenschaftlicher Prognosemethoden, die systematische Einholung der Expertise des Sachverständigenrats und die Schaffung neuer Institutionen zur Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, vgl. ebd. S. 293.  Ebd. S. 294.  Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 86.  Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 304.  Ebd. S. 303.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

neue politische Strategie: die technokratische Verwissenschaftlichung der Wirtschaftspolitik in keynesianischem Geiste, der nun auch in der ersten Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers herumspukte. Hier versprach Kiesinger „nichts geringeres als einen Aufbruch der Wirtschaftspolitik, die sich nun zeitgemäßer Methoden und Instrumente bedienen sollte“⁹. Mit dem am 8. Juni 1967 in Kraft getretenen „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ stand SPD-Wirtschaftsminister Schiller und CSU-Finanzminister Strauß nun „ein reichhaltiges Arsenal an makroökonomischen Steuerungsinstrumenten zur Verfügung, mit welcher der Keynesianismus zur offiziellen wirtschaftspolitischen Philosophie erhoben wurde“¹⁰. Dabei verkörperten die beiden wichtigsten Minister der Großen Koalition „auch habituell jenen neuen Politikstil, der ideologiefreies Planungsdenken und rationales Entscheidungshandeln miteinander verband“¹¹. Allerdings lag in der naiven Wissenschaftsgläubigkeit und im überbordenden „Rationalitätsversprechen zugleich auch der Idealismus des mit dem Stabilitätsgesetz formulierten Politikmodells begründet: Dieses vertraute einerseits auf die Eindeutigkeit der wissenschaftlich gewonnenen Daten, andererseits darauf, daß es der Politik gelang, den aus diesem Wissen abgeleiteten Instrumenteneinsatz dann tatsächlich ohne Entscheidungsverzögerung umzusetzen.“¹²

 Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 82.  Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 309. Dazu gehörten einerseits kontraktive Bestimmungen zur Konjunkturdämpfung bei einer möglichen Überhitzung der Wirtschaft wie die Streckung investiver Ausgaben des Bundeshaushaltes (um die freiwerdenden Mittel entweder zur zusätzlichen Schuldentilgung bei der Bundesbank zu verwenden oder in einer freiwilligen Konjunkturausgleichsrücklage stillzulegen), die Beschränkung der Kreditaufnahme der öffentlichen Hand, die Erhebung eines Konjunkturzuschlags auf Steuern, die Beschleunigung oder Erhöhung von Steuervorauszahlungen, die Einschränkung oder Aufhebung von steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten der Unternehmen und die Ermächtigung der Bundesbank zur Abschöpfung von Liquidität über den Verkauf von Wertpapieren. Anderseits stand den Regierungen von Bund und Ländern bei schwacher Nachfrage das ganze „Instrumentarium zur Ankurbelung der Wirtschaft“ zur Verfügung, von der außerplanmäßigen Kreditaufnahme im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung über die Abrufung stillgelegter Mittel aus der Konjunkturausgleichsrücklage bis zu Steuersenkungen und Investitionsprämien, Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 87.  Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 327.  Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 89. Schanetzky erläutert: „Antizyklische Politik konnte die gewünschte Wirkung überhaupt nur dann entfalten, wenn zum richtigen Zeitpunkt die jeweils angemessenen Schritte der konjunkturpolitischen Feinsteuerung gemacht wurden. Jede Entscheidungsverzögerung und jede Fehleinschätzung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mußte dazu führen, daß die Globalsteuerung prozyklisch wirkte. Prognose und Projektion der konjunkturellen Entwicklung rückten damit im Konzept der Globalsteuerung an die zentrale Stelle.“, ebd. S. 88.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

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Als die Große Koalition im Krisenjahr 1967 von ihrem keynesianischen Instrumentenkasten erstmals Gebrauch gemacht hatte, sah es jedoch noch danach aus, als führe die Anwendung der neuen Regierungstechniken auf geradem Weg in ein technokratisches Steuerungsparadies. Schiller hatte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage mit Hilfe zweier Konjunkturprogramme kräftig angekurbelt. Bereits 1968 wuchs die bundesrepublikanische Wirtschaft wieder um mehr als fünf, ein Jahr später sogar um mehr als sieben Prozent: „Die Zeit, in der die Gesellschaft den Fährnissen wirtschaftlicher Unsicherheit und konjunktureller Krisen ausgeliefert war, schien endgültig vorbei.“¹³

Frankfurter Showdown: Der reformlustige Liberale und die Kritiker des Spätkapitalismus Die ökonomische Krisenstimmung hatte sich im April 1968, als in Frankfurt der 16. Deutsche Soziologentag stattfand, wieder weitgehend verflüchtigt. Es schien so, als hätte die Große Koalition die kurzzeitig ins Stocken geratene Wachstumsmaschine der Sozialen Marktwirtschaft mit den Mitteln der keynesianischen Globalsteuerung gut geölt. Auch Dahrendorf war damals diesem Steuerungsoptimismus verfallen. Der Frankfurter Soziologentag, der die von Adorno, dem scheidenden Vorsitzenden der DGS, programmatisch vorgegebene Leitfrage Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? verhandelte, stand im Zeichen der Studentenproteste. Zum ersten Mal waren in diesem Jahr überhaupt Studenten zur Teilnahme an der wichtigsten soziologischen Fachtagung in der Bundesrepublik berechtigt. Die Frankfurter Kaufhausbrände hatten die Gemüter bereits mächtig erhitzt, als am Gründonnerstag, dem 11. April, der gleichzeitig der Abschlusstag des Soziologentages war, der Hilfsarbeiter Josef Bachmann in Westberlin einen Mordanschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke verübte. Dutschke überlebte, blieb aber für den Rest seines Lebens körperlich schwer beeinträchtigt, bis er an Heiligabend 1979 an den Spätfolgen des Attentats im Alter von 39 Jahren starb. Erst Ende Januar 1968 hatte sich Dutschke vor den Toren des FDP-Bundesparteitags in Freiburg einen Schlagabtausch mit dem neuen liberalen Paradeintellektuellen Dahrendorf auf einem ikonisch gewordenen Autodach des ansässigen RCDS geliefert: Dutschke hatte die sozialistische Revolution gefordert,

 Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 326. Dazu Baring: „Nachdem die Große Koalition die Rezession von 1966/67 gemeistert und ein modernes wirtschaftspolitisches Instrumentarium geschaffen hatte, glaubte man, sorgenfrei in die Zukunft blicken zu dürfen. Die neuen Möglichkeiten schienen, wie Experten versicherten, einen weitgehend krisenfreien Konjunkturverlauf mit kontinuierlichen Wachstumsraten und hohem Beschäftigungsstand bei gleichzeitiger Preisstabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht zu garantieren.“, Baring, Machwechsel, S. 647.

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Dahrendorf hingegen für gesellschaftspolitische Reformen plädiert, die das Prinzip der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht nur unangetastet lassen sollten, sondern dessen reibungsloses Funktionieren ja gerade voraussetzten. Zwar verfügte Dahrendorf durchaus über einen Hang zur Selbstdarstellung und genoss schillernde Momente öffentlicher Aufmerksamkeit sichtlich, wie jenes sogar ins Fernsehen übertragene Rededuell mit Dutschke. Doch anders als Habermas – der sich vor seinem Wechsel ans Starnberger Max-Planck-Institut zunächst noch dem Ziel einer „Demokratisierung der Universität“ verschrieben hatte, durch die „anstelle traditionaler Berufsethiken ein reflektiertes Verhältnis der Hochschulabsolventen zu ihrer Berufspraxis [gefördert]“, „das sonst dogmatisch wirksame Verhältnis der lebenden Generationen zu den handlungssteuernden kulturellen Überlieferungen […] ins Bewußtsein [gehoben]“ und „schließlich auch politisch folgenreiche Einstellungen und Motive, die der universitäre Wissenschaftsbetrieb und die Korporation formen, kritischer Erörterung [unterzogen]“¹⁴ werden sollten – stand Dahrendorf einer demokratischen Überbeanspruchung der Wissenschaft auf dem glanzvollen Höhepunkt seiner akademischen Karriere Ende der 60er skeptisch gegenüber. In seiner Ansprache zur Eröffnung des Soziologentages bedauerte der neue DGS-Vorsitzende, dass die westdeutsche Soziologie im Zeitalter einer euphorisch vorangetriebenen Verwissenschaftlichung der Politik in dem Dilemma zwischen „einer praxisbezogenen gesamtgesellschaftlichen Analyse einerseits“ und „einer theoretisch bezogenen Teilanalyse von gesellschaftlichen Problemen andererseits“¹⁵ verharrte. Trotz des „damalige[n] Interesse[s] der Politik an der Soziologie, d[er] Expansion der Soziologie-Lehrstühle in jenen Jahren und de[s] Aufstiegs des Faches zur wissenschaftlichen Leitdisziplin“¹⁶ drohte die Soziologie nach Dahrendorf aufgrund ihrer internen Polarisierung im Vergleich mit anderen Disziplinen – vor allem der Volkswirtschaftslehre, die in Form des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bereits über das wichtigste Politikberatungsgremium in der Bundesrepublik verfügte – zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilt zu werden. Wie der Mitgründer der Reformuniversität Konstanz selbstkritisch festhielt, sei es ihm und seinen Fachkollegen bislang nicht in ausreichendem Maße gelungen, „in der Verständigung mit den Studierenden dafür zu sorgen, daß die kritische und theoretische Absicht des Faches zusammengebracht werden“ und „nicht neben kritischen Bekenntnissen ohne Gegenstand unkritische Darstellungen von Wissenschaftsentwicklungen stehen, ohne

 Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 149 f.  Dahrendorf, „Ansprache zur Eröffnung des 16. Deutschen Soziologentages“, S. 5.  Micus, Tribunen, Solisten, Visionäre, S. 170.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

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daß beide sich zusammenschließen in dem, was man soziologische Analyse mit gesamtgesellschaftlichem und mit praktischem Bezug nennen könnte“.¹⁷ Diese Forderung nach einem problembezogenen, und das hieß vor allem: politikbezogenen soziologischen Forschungsansatz füllte Dahrendorf seit seiner Berufung an die Universität Tübingen höchst selbst mit Leben: „Der dahinter stehende gesellschaftspolitische Impetus, also der Versuch, über politische Entscheidungen oder Prozesse gesellschaftliche Mentalitätsveränderungen zu bewirken, war [zu Beginn der 60er] selbst in progressiven intellektuellen Kreisen eine singuläre Forderung.“¹⁸ Obwohl Dahrendorf im Bundestagswahlkampf von 1961 noch Willy Brandt unterstützt hatte, geriet er in Baden-Württemberg nach seiner aufsehenerregenden Immatrikulationsrede über Arbeiterkinder an deutschen Universitäten ¹⁹ zur Eröffnung des Sommersemesters „ab spätestens 1964 in das Fahrwasser der CDU“²⁰ und verdingte sich fortan als bildungspolitischer Berater des Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger, der „den aufstrebenden Soziologen an der ‚Aura der Macht‘ teilhaben [ließ]“ und „ihn in seinen Beraterstab der […] ‚best and the brightest‘ aufnahm; [Kiesinger] adelte die Gedanken des jungen Professors, als er seine Regierungserklärung 1964 im bildungspolitischen Teil weitgehend an dessen Tübinger Immatrikulationsrede im selben Jahr anlehnte; und er bekundete seine Hochachtung, wenn er ihn zum entspannten Plausch bei Wein in seinen Amtssitz, die Villa Reitzenstein, einlud.“²¹ Dieser biografische Querverweis verdeutlicht vor allem eines: Dahrendorf war ein liberaler Herrschafts- und Elitentheoretiker der Demokratie, also vielleicht eher ein um weitreichende gesellschaftspolitische Reformen bemühter Liberalisierungs- als ein zu allem bereiter Demokratisierungsagent, der sich in den 60ern zunächst folgerichtig auch keiner bestimmten Partei verpflichtet fühlte: „Dabei waren für ihn der Umgang mit politischen Schwergewichten wie Willy Brandt oder Kurt Georg Kiesinger und konkrete Einflussmöglichkeiten wie die Ausgestaltung einer neuen Universität [in Konstanz – M.H.] oder eines Hochschulgesamtplanes [für Baden-Württemberg – M.H.] wichtiger als Parteistrukturen und -programme.“²² Nach seinem steilen akademischen Aufstieg suchte er deshalb auch innerhalb der mächtigen sozial- und christdemokratischen Volksparteien nach Politikern in herausgehobener Stellung, die sich für seine bildungspolitischen Reformideen empfänglich zeigten. Der FDP stand er hingegen noch skeptisch

     

Dahrendorf, „Ansprache zur Eröffnung des 16. Deutschen Soziologentages“, S. 5. Weber, Der Linksliberalismus in der Bundesrepublik um 1969, S. 129. Dahrendorf, Arbeiterkinder an deutschen Universitäten. Micus, Tribunen, Solisten, Visionäre, S. 175. Ebd. S. 175 f. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 153.

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gegenüber, weil sie unter den Fittichen des nationalkonservativen Parteivorsitzenden Erich Mende stand, der aufgrund seiner Ablehnung der Brandt’schen Ostpolitik nach dem sozialliberalen Machtwechsel später konsequenterweise zur CDU überwechselte. Durch seinen engen Draht zu Kiesinger, der sich mustergültig von seiner NSDAP-Vergangenheit distanziert zu haben schien und – wie der baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn – als ausgesprochener Reformgeist galt, meinte Dahrendorf „zeitweise bei der CDU […] gefunden zu haben, was er zuvor bei der SPD gesucht hatte, bei der FDP aber offensichtlich noch nicht zuallererst vermutete: Liberalität“²³. Nach Erhards Sturz wurde Kiesinger am 1. Dezember 1966 zum Bundeskanzler der ersten Großen Koalition zwischen Union und SPD gewählt. Mit ihm zog im Palais Schaumburg frischer Wind ein. Erhard hatte sein Kabinett nach dem Laissez-Faire-Prinzip zuvor mehr moderiert als geführt. Kiesinger stattete das Kanzleramt inmitten der ersten Rezession der westdeutschen Nachkriegsgeschichte dagegen mit einem eigenen Planungsstab aus, um künftig wieder stärker auf die Arbeit der einzelnen Ressortminister durchgreifen zu können. Dieser Schritt weckte Reminiszenzen an die „Kanzlerdemokratie der Adenauer-Zeit“, als das Bundeskanzleramt unter der diskreten Regie seines Staatssekretärs Hans Globke als effiziente Schaltstelle der Regierungspolitik fungiert, diese Rolle aber in der Amtszeit Erhards verloren [hatte], dessen kollegiales Amtsverständnis den großen Ministerien erheblich mehr Spielraum zur Verfolgung ihrer Ressortinteressen eröffnet hatte, freilich um den Preis, dass die Konturen der Regierungspolitik an Schärfe verloren.²⁴

Dahrendorf, der Kiesinger zusammen mit seinem Tübinger Weggefährten, dem Historiker Waldemar Besson, „bei der Konzeption des Planungsstabs [beriet]“²⁵, erhoffte sich künftig eine zentrale Rolle im Entscheidungsumfeld des neuen Kanzlers. Kurz nach der Wahl Kiesingers erhielten er und Besson auch den „Auftrag, je ein Papier zur Innen- (Dahrendorf) und zur Deutschland- und Außenpolitik (Besson) zu entwerfen“²⁶. Es wurde jedoch schnell deutlich, dass sich die Prioritäten des Kanzlers im Vergleich zu seiner Zeit als baden-württembergischer Ministerpräsident infolge der Wirtschaftskrise auf ein Gebiet verlagert hatten, in dem sich Dahrendorf noch nicht sonderlich gut auskannte. Demnach dominierten in Kiesingers Regierungserklärung „finanz- und wirtschaftspolitische Erwägungen“, die ihm Schiller, das keynesianische Mastermind der SPD,

   

Micus, Tribunen, Solisten, Visionäre, S. 176. Süß, „‚Wer aber denkt für das Ganze?‘“, S. 352. Ebd. S. 354. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 150.

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diktiert hatte, „während die für Dahrendorf so wichtige Gesellschaftspolitik nur am Rande erwähnt wurde“²⁷. Dahrendorfs Reformverständnis und überhaupt seine ganze liberale Konflikttheorie waren letztlich einer historischen Konstellation entsprungen, in der – um noch einmal Jens Hacke in Erinnerung zu rufen – ökonomische Fragen „vor dem Hintergrund der trente glorieuses als unproblematisch“²⁸ galten. Diese Zeiten waren nach der Rückkehr der Ökonomie in der Rezession von 1966/67 vorbei. Fortan rückte der Versuch, die Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer ökonomischen Verfasstheit im Gleichgewicht zu halten und – wenn nötig – aus ihrer Krisenhaftigkeit herauszusteuern, ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Oder wie der Politikwissenschaftler Arnulf Baring Anfang der 80er, als nach der ersten auch die zweite Ölkrise über die kapitalistische Welt hereingebrochen war, rückblickend genauso prägnant wie schwärmerisch schrieb: „Ein riesiges Areal, ein Arsenal umfassend gestaltender Interventionstätigkeit des Staates bildete sich heraus. Seither ist Politik in der Bundesrepublik wesentlich nur noch Wirtschaftspolitik – aber ganz großen Stils. Das Kabinett verhandelt und beschließt, wie die Protokolle seiner Beratungen zeigen, über andere Themenbereiche nur noch am Rande.“²⁹ Dahrendorf schien dieses neue Primat der Ökonomie zwei Jahre später bereits erkannt zu haben, kam analog zum keynesianischen Zeitgeist aber zu dem Schluss, man könne die kurze Rezession von 1966/67„schwerlich als eine kritische ökonomische Lage beschreiben“³⁰. Die in der Bevölkerung grassierenden „Sorgen über den Stand der Wirtschaft“ seien „vor allem eine Sache der Kollektivpsychologie“³¹ und entbehrten letztlich einer materiellen Grundlage. An Erhards Sturz ließ sich nach Dahrendorf dennoch ein „lange[r] Prozeß der Erosion der Legitimität des deutschen politischen Systems“³² ablesen. Dieser sei der Tatsache geschuldet, dass die Politik die positive ökonomische Entwicklung in der Bundesrepublik viel zu lange für selbstverständlich gehalten und es deshalb versäumt habe, „langfristige politische Konzeptionen des Wandels zu entwickeln und in die Wirklichkeit umzusetzen. Das gilt auch für die Wirtschafts- und Finanzpolitik, ja es gilt für fast jeden Bereich der Regierungstätigkeit.“³³ Obwohl Dahrendorf in dieser Phase kaum noch zu Kiesinger durchdrang, hatte er Gefallen an der praktischen Politik gefunden. Statt sich in der Rolle als

      

Ebd. S. 151. Hacke, „Das politische Scheitern eines liberalen Hoffnungsträgers“, S. 127. Baring, Machtwechsel, S. 136. Dahrendorf, „Das Ende eines Wunders“, S. 92. Ebd. Ebd. S. 93. Ebd. S. 94.

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wissenschaftlicher Politikberater weiterhin von der Gunst und den Launen der Mächtigen abhängig zu machen, bot sich ihm im Rahmen einer Landtagskandidatur für die baden-württembergischen Liberalen die einmalige Möglichkeit, künftig „selbst aktiv Politik zu gestalten – und das bedeutet Einfluss zu nehmen und Macht auszuüben – und aus der zunehmend unbefriedigenden Rolle des Beraters auszubrechen“³⁴. Er versuchte nach seinem für manchen Beobachter überraschenden Eintritt in die FDP am 27. Oktober 1967 seine Reformvorstellungen über eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik gleich im Selbstversuch umzusetzen. In seiner Antrittsvorlesung an der Reformuniversität Konstanz hatte er einige Monate zuvor kundgetan, der Soziologe müsse „mehr sein als ein Mensch, der Soziologie betreibt“, und seinen künftigen Rollenwechsel mit einer doppelten Volte gegen die in politischer Hinsicht resignativen Vertreter der Kritischen Theorie einerseits und den gestürzten Kanzler der „formierten Gesellschaft“ Erhard und dessen ehemaligen „Hofsoziologen“ Rüdiger Altmann andererseits vorweggenommen: Heute kann der Soziologe wissen, daß sozialwissenschaftliche Erkenntnisse die Interessen, Eingebungen und Überzeugungen von Menschen nicht unverändert lassen; wie umgekehrt die Beantwortung praktischer Fragen ohne den scheinbaren Umweg über Theorie häufig nur noch die meist verderbliche Antwort der Nicht-Antwort gestattet. Unter solchen Umständen verliert die Rollentrennung von Theoretikern und Praktikern, und das heißt auch von Wissenschaftlern und Politikern, zumindest im Bereich der Sozialwissenschaften, weitgehend ihren Sinn. Die Zeit, in der Tyrannen oder auch Kanzler sich Hofsoziologen halten, ist vorbei, bevor die Herren dies versucht hätten oder die Soziologen zu den erwarteten Diensten in der Lage gewesen wären. Theorie und Praxis sind einander so nahe gekommen, daß die von ihnen Lebenden gelegentlich die Rollen tauschen: Der Sozialwissenschaftler wird Minister, und der Politiker Professor.³⁵

Spätestens mit seiner Rede auf dem Freiburger Bundesparteitag, der Ende Januar 1968 „zu einem überraschenden Linksruck der FDP geführt [hatte]“, avancierte das neu gewählte Bundesvorstandsmitglied Dahrendorf dann zum „passende[n] Aushängeschild, mit dem bei einer neuen Wählergruppe um Stimmen geworben werden konnte“³⁶, zumal der neue Parteivorsitzende Walter Scheel, ein für Reformen offener Zentrist, anfangs unterschätzt und – so vom SPIEGEL – „als die Fortsetzung Mendes mit anderen Mitteln“³⁷ betrachtet wurde. Der Radikalliberale

   

Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 156. Dahrendorf, Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, S. 63. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 163. Zit. nach ebd. S. 162.

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Dahrendorf hoffte, dass die FDP „nun für eine Neugruppierung, wie ich sie voraussehe, ein Kristallisationszentrum“ abgeben könne und der Kurswechsel bei zukünftigen Wahlen „fünf oder sogar zehn Prozent“³⁸ einbringe. Mit solchen Aussagen machte er sich innerparteilich schnell Feinde, die angesichts der öffentlichen Strahlkraft des neuen Parteimitglieds jedoch noch in der Deckung blieben. Dahrendorfs Ambitionen kannten ab diesem Zeitpunkt jedenfalls keine Grenzen mehr: „Zur grauen Eminenz bin ich nicht geboren, und Chefideologe bin ich eigentlich auch nicht“. Scheels Inthronisierung bedeute nicht, „daß ich politisch das Ende meiner Ziele erreicht hätte“³⁹. Dass Dahrendorf – wie er selbst bekundete – vor allem deshalb aufseiten der Liberalen in die Politik eingetreten war, weil er die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik durch die Bildung der Großen Koalition für ernsthaft gefährdet hielt, ist eher unwahrscheinlich.⁴⁰ Vielmehr konnte er in der verunsicherten und von Flügelkämpfen geplagten Partei „einen beispiellosen politischen Aufstieg nehmen, während die [durch die drohende Wahlrechtsreform – M.H.] stark angeschlagene FDP sich an die Öffentlichkeitswirkung und den Elan des Soziologen klammern konnte“⁴¹ – eine klassische Win-Win-Situation, die Dahrendorf in den beiden Volksparteien nicht vorgefunden hätte. Auf dem Stuttgarter Landesparteitag und Dreikönigstreffen der FDP am 6. Januar 1968 stellte der Oppositionspolitiker Dahrendorf bereits sein politisches Talent und taktisches Verhältnis zur Wahrheit unter Beweis, als er die Große Koalition als „unpolitischste aller Regierungen“⁴² bezeichnete, obwohl sie „gerade auf dem Gebiet der Innenpolitik, namentlich in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Rechts- und Sozialpolitik, wichtige Reformvorhaben gelungen waren und sie im Bereich der Sicherheits-, Deutschland- und Ostpolitik Kurskorrekturen vorgenommen hatte“⁴³. In Freiburg schrieb er sich gut drei Wochen später „eine Gesellschaftspolitik der Liberalität“ auf die Fahnen, durch die „jeder einzelne an den Möglichkeiten der modernen Gesellschaft teilnehmen“⁴⁴ könne. Dazu sei es nicht ausreichend, „Rechtsansprüche in Gesetze und Verfassungen zu schreiben; vielmehr muß [dem Individuum] die Möglichkeit gegeben

 Dahrendorf in Der Spiegel, „Wollen Sie Parteiführer werden?“, S. 32.  Ebd., S. 32. Dahrendorfs Biografin merkt zu Recht an, die Stärke des professoralen ShootingStars der FDP habe „vor allem in seiner Rhetorik“ gelegen, während es seinen Reden in der Regel „an Konkretheit mangelte“, Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 164.  Vgl. Weber, Der Linksliberalismus in der Bundesrepublik um 1969, S. 201.  Ebd. S. 203.  Dahrendorf, Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, S. 103 f.  Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 159.  Dahrendorf, Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, S. 156.

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werden, seine Rechte auch tatsächlich wahrzunehmen. In diesem bestimmten Sinne ist eine moderne liberale Politik immer zugleich eine soziale Politik.“⁴⁵ Damit zielte Dahrendorf auf „eine Politik der entschiedenen Reform“, die „das Bildungssystem und Gesundheitswesen, das System von Recht und Verwaltung, die sozialen Dienste des Staates und die politischen Einrichtungen selbst“⁴⁶ umfasse. Er war sich durchaus darüber im Klaren, dass eine solche Reformpolitik „nicht nur Geld“ kostete, sondern gleichsam „wirtschaftliche Verhältnisse“ voraussetzte, „die es erlauben, sich von den Bedürfnissen menschlichen Überlebens den Erfordernissen eines Lebens in Freiheit zuzuwenden“⁴⁷. Deshalb schwor er seine Partei auch auf den von der Großen Koalition bereits eingeschlagenen Kurs einer keynesianischen Globalsteuerung ein, um „kontrolliertes Wirtschaftswachstum mit allen Bedingungen und Folgen einer solchen Entwicklung“ zu gewährleisten: Gerade hier darf Stagnation nicht einsetzen, wenn wir die Welt, in der wir leben, öffnen und offen halten wollen. Ich möchte daher hoffen, daß eine liberale Partei in ihrer Wirtschaftspolitik nicht hinter die Selbstverständlichkeiten zurückgeht, die in den Universitäten der Welt heute jeder Student der Ökonomie in seinen ersten Semestern lernt. Wir sollten es also den beharrlich Vorgestrigen im Lande überlassen […], den Sachverständigen zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorrationale Lektionen über die Folgen der Verschuldung der öffentlichen Hand oder den Zusammenhang zwischen nominellem Geldwert und wirtschaftlicher Stabilität zu erteilen.⁴⁸

Auf der Idee, dass Wachstum mit den Mitteln der Globalsteuerung auf Dauer einigermaßen sicher geplant werden konnte, beruhte letztlich Dahrendorfs Reformverständnis wie später überhaupt die ganze sozialliberale Politik der Inneren Reformen. Wie Klaus Weber in seiner Studie über den Linksliberalismus in der Bundesrepublik um 1969 treffend festhält, passte Dahrendorf offensichtlich in die Zeit: Sein antinationalsozialistischer Hintergrund machte ihn besonders bei weiten Teilen der jüngeren Generation glaubwürdig, seine hohe wissenschaftliche Reputation im In- und Ausland bediente den Zeitgeist der Verwissenschaftlichung der Politik, seine kluge ‚Gesellschaftskritik‘ war en vogue, weswegen seine gesellschaftspolitischen Ideen nunmehr durch die allgemeine Vorstellung der umfassenden Machbarkeit von Politik auch faktisch umsetzbarer zu werden schienen, und schließlich fand seine langjährige Forderung nach einer liberaleren Gesellschaft über die Parteigrenzen

   

Ebd. Ebd. S. 159. Ebd. Ebd. S. 160.

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hinweg auch immer mehr Anhänger. Kurz: Dahrendorf schien den Wandel der Bundesrepublik in gewisser Weise zu personifizieren.⁴⁹

Im Frühjahr 1968 hatte der FDP-Senkrechtstarter deshalb eigentlich auch keine Zeit mehr, seine Funktion als neuer DGS-Vorsitzender mit dem nötigen Engagement wissenschaftlich auszufüllen. Auf dem Frankfurter Soziologentag musste er sich aber notgedrungen noch einmal auf das Feld der akademischen Debatte begeben. Sicher wollte Dahrendorf einen Rückfall in die verschärften Frontstellungen des Positivismusstreits der frühen 60er vermeiden. Doch Adorno machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Im Gegensatz zu Dahrendorf verband dieser mit dem keynesianischen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der Großen Koalition einen „wirtschaftliche[n] Interventionismus“, der „nicht, wie die ältere liberale Schule meint, systemfremd aufgepfropft, sondern systemimmanent, Inbegriff von Selbstverteidigung“⁵⁰ sei. In Dahrendorfs offensivem Reformeifer bzw. seiner Forderung nach einer kritisch angeleiteten Verwendung soziologischer Forschungsergebnisse für gesellschaftspolitische Reformen⁵¹ erkannte der Großwesir der Kritischen Theorie folglich nur eine defensive Abwehrhaltung des spätkapitalistischen Interventionsstaats, der „den Zusammenbruch [des Kapitalismus – M.H.] ad Kalendas Graecas“⁵² aufschieben wolle, ohne an der offensichtlichen „Irrationalität der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur“⁵³ zu rütteln. So eindrucksvoll sich die Produktivkraftentwicklung in westlichen Industriegesellschaften auch ausnehmen mochte, so undurchdringlich, irrational und zerstörerisch erschien Adorno damals, auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs, auch deren Kanalisierung, die jeden noch so gut gemeinten politischen Reformismus zu pervertieren drohte. Deshalb entwarf er in Frankfurt das Szenario einer undurchdringlichen „Präponderanz der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte, die doch längst der Verhältnisse spotten“⁵⁴, und wandte gegen die von der scheinbaren Krisenresistenz des keynesianischen Nachkriegskapitalismus benebelten Vertreter des sozialwissenschaftlichen Mainstreams ein, dass sie die Steuerbarkeit einer begrifflich fetischisierten „Industriegesellschaft“ mit den Mitteln rationaler politischer Planung überschätzten, wo doch die spätkapitalis-

 Weber, Der Linksliberalismus in der Bundesrepublik um 1969, S. 206.  Adorno, „Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag“, S. 23.  „The goal for him was to produce scientifically informed policy advice for reform politics rather than a critique of contemporary society.“, Borchert/Lessenich, Claus Offe and the Critical Theory of the Capitalist State, S. 2.  Adorno, „Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag“, S. 13.  Ebd. S. 17.  Ebd. S. 20.

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tische Industriegesellschaft in ihrer Organisation mehr denn je dem anarchistischen Tauschprinzip gehorche. Denn produziert werde heute wie ehedem um des Profits willen. Über alles zur Zeit von Marx Absehbare hinaus sind die Bedürfnisse, die es potentiell längst waren, vollends zu Funktionen des Produktionsapparates geworden, nicht umgekehrt. […] Nicht nur werden die Bedürfnisse bloß indirekt, über den Tauschwert, befriedigt, sondern in wirtschaftlich relevanten Sektoren vom Profitinteresse selber erst hervorgebracht, und zwar auf Kosten objektiver Bedürfnisse der Konsumenten, wie denen nach zureichenden Wohnungen, vollends nach Bildung und Information über die wichtigsten sie betreffenden Vorgänge.⁵⁵

Es wäre eindeutig zu kurz gegriffen, diese auf den ersten Blick recht pessimistische Einschätzung der bereits ein Vierteljahrhundert zuvor in der Dialektik der Aufklärung entwickelten „geschichtsphilosophischen Konstruktion“ zuzuschreiben, „die die Entwicklung zum Faschismus als ‚rückläufige Anthropogenese‘ auffaßt“⁵⁶. Zwar rief der bei dem radikalen Teil der Frankfurter Studentenbewegung um deren Rädelsführer Hans-Jürgen Krahl selbst in Ungnade gefallene Adorno seinen linken studentischen Kritikern in einer seiner letzten Veröffentlichungen vor seinem Tod im Sommer 1969 in aller Deutlichkeit zu: „Keine höhere Gestalt der Gesellschaft ist, zu dieser Stunde, konkret sichtbar: darum hat, was sich gebärdet, als wäre es zum Greifen nah, etwas Regressives.“⁵⁷ Doch obwohl er der Studentenbewegung in einem auf seinen Todestag datierten Brief an Herbert Marcuse „ein Quentchen Wahn“ attestierte, sei er „der letzte“, der ihre „Meriten“ – nämlich „den glatten Übergang zur total verwalteten Welt [zu unterbrechen]“⁵⁸ – unterschätze. Seine Hoffnungen auf eine wahrhaft demokratische Gesellschaft waren in dieser Phase im Vergleich zum Massenvernichtungszeitalter der 40er schon wieder gewachsen. Allein sein Auftritt auf dem Frankfurter Soziologentag musste „jeden erstaunen, der in ihm nur einen Philosophen des Scheiterns, einen enttäuschten Verfechter ‚negativer Dialektik‘ zu sehen glaubte“⁵⁹. Durch die Gleichsetzung der gegenwärtigen Gesellschaftsformation mit dem „Spätkapitalismus“ erwies sich Adorno, der in seiner Rolle als DGS-Vorsitzender überhaupt wieder stärker materialistisch argumentierte, auf dem Frankfurter Soziologentag folglich noch ein letztes Mal als versierter theoriepolitischer Stichwortgeber der antikapitalistischen Linken. Er deutete den globalen Protest     

Ebd. S. 18 f. Honneth, „Adorno und Habermas“, S. 648. Adorno, „Resignation“, S. 798. Adorno/Horkheimer, Briefwechsel, Bd. 4, S. 856. Lepenies, „Dilemma eines Kongresses – Dilemma der Soziologie“, S. 179.

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„als Ausdruck des Widerstandes gegen die Anpassungszwänge, als Wunsch nach Freiheit und Veränderung“⁶⁰ und positiven Wink der Geschichte. Müller-Doohm schreibt deshalb treffend: „Dass eine andere Gesellschaft nicht nur theoretisch gedacht, sondern praktisch verwirklicht werden könnte, wenn der Kapitalismus in der späten Phase seiner Entwicklung abstirbt oder revolutionär beseitigt wird, war gewiss ein Nebengedanke, der durch den Begriff ‚Spätkapitalismus‘ assoziiert wurde.“⁶¹ Allein seine Verwendung des Spätkapitalismusbegriffs verdeutlicht, dass sich Adorno in dieser Phase dezidiert als historischer, d. h. an der konkreten Ausformung der kapitalistischen Wirklichkeit orientierter Materialist verstand. Nach seiner pessimistischen Verarbeitung des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs hatte er das Denken ja nicht eingestellt. Ende der 60er lieferte er vielmehr noch einmal den Aufschlag zu einer Krisentheorie des spätkapitalistischen Staates, die nur vordergründig resignativ, im Kern aber geradezu als Aufforderung zu verstehen war, die Möglichkeit der Überwindung kapitalistischer Zwangsherrschaft wieder verstärkt in den Denkmodus der Kritischen Theorie aufzunehmen. In dieser Rolle unterschied er sich doch sehr vom resignativen Horkheimer. Ein maßgeblich von den Ideen des Habermas-Assistenten Claus Offe angetriebenes Autorenkollektiv nahm Adornos Spätkapitalismuskritik auf dem Frankfurter Soziologentag tags darauf wieder auf und verband „die bei weitem konkreteste historisch-ökonomische Analyse, die auf diesem Soziologentag geleistet wurde, mit der Kritik bestehender politischer Verhältnisse“⁶². Offe und seine Mitstreiter Joachim Bergmann, Gerhard Brandt, Klaus Körber und Ernst Theodor Mohl versuchten in ihrem Gemeinschaftsreferat unter Bezugnahme auf Otto Kirchheimers kritisch-theoretische Staatslehre⁶³ die These zu untermauern, dass „die private Verfügungsgewalt über die industriellen Großunternehmungen und die dieser Verfügungsgewalt zugeordneten Investitionsentscheidungen als entscheidende restriktive Bedingungen politischen Handelns heute“⁶⁴, dass also die fortbestehende privatkapitalistische Wirtschaftsform als ultimative Grenze der Problemlösungskapazitäten des keynesianischen Interventionsstaats zu gelten habe: „Obwohl der ökonomische Prozeß nur durch den Staat und seine regulierenden Interventionen sich aufrechtzuerhalten vermag, behalten private Interes-

 Müller-Doohm, „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, S. 131.  Ebd. S. 132.  Lepenies, „Dilemma eines Kongresses – Dilemma der Soziologie“, S. 177 f.  Vgl. Kirchheimer, Politische Herrschaft (hier insbesondere der Beitrag „Restriktive Bedingungen und revolutionäre Durchbrüche“).  Offe et al., „Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung“, S. 72 f.

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sen doch den Primat vor öffentlichen.“⁶⁵ Folgte man der Kernbotschaft der Frankfurter Jungsoziologen, die bereits in Habermas’ Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit aus den frühen 60ern auftauchte⁶⁶, waren die sozialpolitische Umverteilung und die Formen kollektiver Daseinsvorsorge im Wohlfahrtsstaat des organisierten Spätkapitalismus „eher negativ als positiv“ zu bestimmen, weil solche Maßnahmen gerade nicht auf die „Durchsetzung praktischer Ideen“ zur Einrichtung einer gerechten herrschaftsfreien Gesellschaft, sondern letztlich nur auf die Abwehr von Risiken „ökonomischer Krisen und Wachstumsstörungen“ und „unkontrollierter Motivbildungen und Bedürfnisinterpretationen“⁶⁷ abzielten. Der Habermas’sche Hintergrundsound war an dieser Stelle unverkennbar. Auf dem Höhepunkt der Planungseuphorie und des keynesianischen Steuerungsglaubens war es in der Bundesrepublik keineswegs selbstverständlich, soziale Ungleichheit als „evident und sogar relativ konstant“⁶⁸ zu bezeichnen und – wie die Frankfurter Arbeitsgruppe um Offe – zur Grundannahme der eigenen Theoriebildung zu machen. Diese ungleichheitssoziologische Pointe richtete sich fachintern vor allem gegen die von Helmut Schelsky bereits in den 50ern diagnostizierte „Tendenz zur mittelständischen Homogenisierung der Sozialstruktur“, die „zum Beweis für die historische Starrheit der industriellen Gesellschaft“ erhoben werde, andererseits aber auch gegen die marxistische Orthodoxie, deren Vertreter „nach wie vor mit der vorrangigen Relevanz von Schichtungs- und Klassenstrukturen für eine Theorie der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung“⁶⁹ rechneten. Offe und seine Mitstreiter glaubten demgegenüber, dass der spätkapitalistische Interventionsstaat eine ganz neue Form der sozialen Ungleichheit auf Dauer stellte, „die weniger in der vertikalen Dimension der Ungleichheit von Schichten und Klassen zu suchen ist als in der horizontalen Dimension der Disparität von Lebensbereichen, d. h. der ungleichgewichtigen Befriedigung der verschiedenen Lebensbedürfnisse“⁷⁰. Solche Disparitäten lagen der Theorie zufolge oft quer zueinander und waren vielschichtiger als der ökonomische Klas-

 Ebd. S. 75.  Vgl. Lepenies, „Dilemma eines Kongresses – Dilemma der Soziologie“, S. 178.  Offe et al., „Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung“, S. 83.  Ebd. S. 81.  Ebd.  Ebd. S. 82. Interessanterweise ließen die jungen Frankfurter Soziologen bereits in Zeiten der Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik die Frage offen, ob der Trend zur „Egalisierung der Einkommensverteilung seit Beginn dieses Jahrhunderts“ auch „kontinuierliche fortschreitende Tendenzen“ anzeige, und sprachen lieber von „einzelne[n] Egalisierungsschübe[n] und ihre[n] Folgen, besonders während der Kriege und der unmittelbaren Nachkriegszeit“, ebd. S. 78.

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senunterschied alten Stils. Um disparate Lebensbereiche herum ließ sich, mit anderen Worten, nur unter erschwerten Bedingungen ein gemeinsames Solidaritätsgefühl aufbauen, das hinreichend viele Menschen hinter einem gemeinsamen sozialistischen Projekt hätte versammeln können. Das Frankfurter Autorenkollektiv unternahm folglich den Versuch, „dem Geklapper vulgärmarxistischer Terminologie die differenzierte Analyse empirischer Befunde gegenüberzustellen und sowenig von einer unproblematischen Einheit von Theorie und Praxis zu reden wie vom ein für alle Mal festgelegten Verhältnis von Basis und Überbau“⁷¹. An diesen Fragen entzündete sich zeitgleich auch der Konflikt zwischen Habermas und den radikalen Vertretern der Studentenbewegung, die auf dem Höhepunkt ihres Protests daran glauben wollten, der Arbeiterschaft ein geschärftes Klassenbewusstsein eintrichtern zu können. Doch der Gegner der Frankfurter Autorengruppe war auf dem Soziologentag ja nicht etwa ein revolutionslüsterner studentischer Demos, sondern vielmehr der Typus des liberalen Reformers. Im Unterschied zu keynesianischen politischen Praktikern wie Wirtschaftsminister Schiller, die in der Großen Koalition den Ton angaben und glaubten, Wirtschaftskrisen ohne negative Begleiteffekte technokratisch ausschalten zu können, gaben sich Offe und seine Mitstreiter deutlich pessimistischer. Ihre Skepsis resultierte nicht zuletzt aus der empirischen Beobachtung neokorporatistischer Verhandlungsrunden, die sich im Vorlaufhorizont der krisenhaften 70er in nahezu allen westlichen Industriegesellschaften herausbildeten. Nach der Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von 1967 bot in der Bundesrepublik die sogenannte Konzertierte Aktion aus Regierung, Verbänden und Bundesbankvertretern „dem Wirtschaftsminister Gelegenheit, die in ihrem wirtschaftlichen Verhalten weitgehend autonomen Gruppen in die Pflicht des ‚stabilitätspolitisch Notwendigen‘ zu nehmen, sie auf ‚Orientierungsdaten‘ festzulegen und zu einer stabilitätskonformen Aufteilung der Sozialproduktzuwächse zu bewegen“⁷². Dabei handelte es sich um den Versuch der praktischen Umsetzung eines gesetzlichen „Rahmen[s], innerhalb dessen ‚Stabilitätsopfer‘ der einen Seite, d. h. zumeist der Arbeitnehmer, durch Zugeständnisse anderer sozialer Gruppen und des Staates kompensiert werden konnten“⁷³. Wie Werner Abelshauser verdeutlicht, bestand das „Hauptziel“ der Konzertierten Aktion also darin, „auf eine stabilitätsorientierte Lohnpolitik hinzuwirken, ohne die in der Verfassung verbürgte Autonomie der Tarifvertragsparteien anzutasten“⁷⁴. Allgemein ging man damals davon aus, zur Verwirklichung    

Lepenies, „Dilemma eines Kongresses – Dilemma der Soziologie“, S. 179. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 374. Ebd. Ebd. S. 376 f.

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des magischen Vierecks und nachhaltigen Bekämpfung der seit 1929 zum Menetekel gewordenen Inflation Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände an einen Tisch bringen und zu gemeinwohlorientiertem Handeln anleiten zu müssen, um die Funktionsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft sicherzustellen. Laut Offe und seinen Mitstreitern waren korporative Strukturen wie die Konzertierte Aktion in spätkapitalistischen westlichen Industriegesellschaften vor allem deshalb wie Pilze aus dem Boden geschossen, weil die Vollbeschäftigung, also die weitgehende Abwesenheit von Arbeitslosigkeit und damit einer industriellen Reservearmee im Marx’schen Sinne, in Verbindung mit der mono- bzw. oligopolistischen Verzerrung des Markts zu der ständigen Gefahr einer „Überwälzung der gestiegenen Lohnkosten auf die Preise“⁷⁵ führte, die durch Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften im Keim erstickt werden sollte. Die herrschende keynesianische Lehre war: Solange sich die Inflation noch so weit in Grenzen hielt, dass die Wirtschaftsteilnehmer ihre Entscheidungen nicht in erster Linie an künftiger Inflationserwartung ausrichteten, konnte ein moderater Preisauftrieb durchaus wachstumsförderliche Effekte zeitigen. Sobald aber eine toxische, sich selbst verstärkende Lohn-Preis-Spirale einsetzte, erwartete man auf Dauer negative Wachstumseffekte und steigende Arbeitslosigkeit. Die Konzertierte Aktion sollte dieser Entwicklung in der Bundesrepublik gegensteuern. Die Frankfurter Arbeitsgruppe ließ aber keinen Zweifel daran, dass die in solchen institutionellen Arrangements getroffenen Abmachungen auf Dauer zu einer ungerechten Verschiebung der Einkommensverteilung „zugunsten der Besitzeinkommen auf Kosten der Löhne und Gehälter“⁷⁶, ergo zu wachsender sozialer Ungleichheit führen mussten, zumal sich der Staat „strukturelle[n] Widerstände[n]“ und einem starken unternehmerischen Drohpotenzial ausgesetzt sehe, wenn er die letztlich im Modus der privatkapitalistischen Verwertung angelegte Reproduktion sozialer Ungleichheit über klassische sozialdemokratische Umverteilungspolitiken korrigieren wollte: „Die Möglichkeiten der Überwälzung von Steuern und Soziallasten, der Einschränkung der Investitionen und schließlich der Kapitalflucht markieren Schranken, die der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik von privaten Interessen gesetzt sind.“⁷⁷

 Offe et al., „Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung“, S. 77.  Ebd.  Ebd. S. 79. Die Grenzen des keynesianischen Appells an die gewerkschaftliche Vernunft offenbarten sich tatsächlich spätestens im Herbst 1969, als in mehreren westdeutschen Industriestädten wilde Streiks ausbrachen. Während der Krise von 1966/67 hatten sich die Gewerkschaften auf der Grundlage der verhaltenen Konjunkturprognosen des Sachverständigenrats auf eine zurückhaltende Lohnpolitik für die kommenden Jahre verpflichtet. Im unerwartet raschen und starken Aufschwung von 1968/69 führte diese Entscheidung dann aber logischerweise zu Ent-

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Aufgrund der Erfahrungen mit der Rezession von 1966/67 rechnete die Frankfurter Arbeitsgruppe um Offe für die Zukunft folglich auch mit der Ablösung des „Pauperismus des frühkapitalistischen Proletariats“ durch den „modernen Pauperismus der im weitesten Sinne ‚depressed areas‘“⁷⁸. Dafür lieferten der Verfall der öffentlichen Infrastruktur, die Entstehung und Reproduktion von Bildungsungleichheit und Altersarmut, die desolate Situation in der Pflege und in den Psychiatrien sowie „die gesellschaftlichen Ausnahmesituationen ethnischer Minderheiten, zukunftsloser Wirtschaftszweige, der Slums und der strukturellen Armutsgebiete“⁷⁹ bereits ernst zu nehmende Indizien. Ihre Hoffnung auf Besserung ruhte auf dem Protest einer problemsensiblen „professionalisierten Intelligenz“ im Bildungs- und Gesundheitswesen, „der Stadtplanung und Architektur und einiger weiterer Bereiche in Technologie, Administration, Planung und Forschung“⁸⁰, die aus den eigenen Erfahrungen mit den negativen Effekten staatlicher Interventionstätigkeit im Spätkapitalismus politische Konsequenzen ziehen müsse. Entscheidend für die Herausbildung eines solchen kritischen Selbstverständnisses sei – ganz nach Maßgabe der Habermas’schen Interventionen zur Demokratisierung der Hochschulen – „Inhalt und Organisation der Institutionen des höheren Bildungswesens“⁸¹. Die Frankfurter Arbeitsgruppe beendete ihr Gemeinschaftsreferat mit der alles in allem optimistischen These, „daß die neue Struktur der Disparität von Lebensbereichen maßgeblich daran“ mitwirken kön-

täuschungen aufseiten der Arbeiterschaft: Die im Boom erwirtschafteten Gewinne kamen überproportional den Unternehmen zugute, weil die Löhne in der Aufschwungsphase aufgrund eines politischen Kompromisses stagnierten, der noch unter den pessimistischen Vorzeichen in der Krise gefunden worden war. Folglich fühlten sich die Arbeiter von ihren eigenen Interessenvertretern, die sich ja wiederum nur an den wissenschaftlich ermittelten Lohnleitlinien orientiert hatten, schlecht repräsentiert und nahmen den Arbeitskampf Ende der 60er ohne weitere Absprachen mit den Gewerkschaften in die eigenen Hände. Um ihren politischen Einfluss zu wahren und das verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen, legten die Gewerkschaften ihre lohnpolitische Zurückhaltung ad acta und setzten „in einer Abschwungphase (1969/71) […] – um die soziale Symmetrie wieder herzustellen – für ihre Mitglieder außergewöhnlich hohe Zuwachsraten der Durchschnittseinkommen durch, obwohl das Konzept der stabilitätsorientierten Einkommenspolitik gerade im Abschwung lohnpolitische Zurückhaltung erfordert hätte. Es zeigte sich, dass die wirtschaftspolitischen Instanzen nicht in der Lage waren, gegen Lohnerhöhungen –, aber auch gegen sonstige Preiserhöhungen – die den in den Orientierungsdaten abgesteckten Rahmen sprengten, Sanktionen zu ergreifen und die Tarifvertragsparteien mit den Mitteln der Fiskal- und Geldpolitik zu stabilitätsbewusstem Verhalten zu zwingen.“, Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 377.  Offe et al., „Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung“, S. 86.  Ebd.  Ebd. S. 87.  Ebd.

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ne, in der nahen Zukunft „politisch artikulierbaren Konfliktstoff und systemtranszendierende Tendenzen zu mobilisieren“⁸². Dahrendorf ging auf dem Soziologentag erst gar nicht auf die Positionen seiner kritisch-theoretischen Vorredner ein, auch weil er im baden-württembergischen Landtagswahlkampf „keine Zeit gefunden“ hatte, „sich auf die Plenardiskussion seiner Arbeitsgruppe […] vorzubereiten“⁸³. Doch selbst wenn er in seinem Vortrag substanzieller auf die Argumente Offes und Co. reagiert hätte, anstatt sich „zu einer Fundamentalkritik an Adornos Einleitungsreferat“⁸⁴ zu versteigen, wäre vom optimistischen sozialliberalen Reformer wohl auch nichts anderes zu erwarten gewesen als eine Reihe von rhetorischen Fragen, die er an die anwesenden Kritischen Theoretiker, allen voran an Adorno richtete: „Ist das Verhältnis von Theorie und Praxis in der hier erörterten Form mehr als das Verhältnis zu einer Praxis, die nur die Organisation eines lokal geprägten Jargons der Eigentlichkeit ist? Muß nicht derjenige, der die Praxis will, etwas tun? Muß er nicht mindestens gewisse Wege dazu angeben, wie etwas getan werden kann?“⁸⁵ Oder: „Könnte es nicht sein, daß der zugrunde liegende Blütentraum von der herrschaftslosen Gesellschaft gerade den Grund dafür abgibt, warum einige der Analysen, die wir gehört haben, den Weg in die Praxis so schwer machen, wenn nicht versperren?“⁸⁶ Aus dieser gezielten Provokation entwickelte sich in der Anschlussdiskussion eine hitzige Debatte über die Chancen einer (sozial‐)liberalen Reformpolitik unter spätkapitalistischen Bedingungen. Adorno und das Frankfurter Autorenkollektiv trieben ihre Kritik an der liberalen Reformeuphorie in fortgeschrittenen westlichen Industriegesellschaften dabei auf die Spitze, während Dahrendorf, der ja bereits ein Zwitterleben als liberaler Berufspolitiker und nur mehr halbherziger Sozialwissenschaftler führte, in Frankfurt vor lauter „Reformlust“⁸⁷ kaum stehen konnte, um sich am Ende des Soziologentags über die vermeintlich praxisferne „Zurschaustellung der letzten Schule deutscher Soziologie“⁸⁸ zu mokieren. Im Verlauf der Diskussion verteidigte Adorno noch einmal die Abgrenzung zwischen der von ihm und seinen Schülern vertretenen „objektiven Soziologie“, „die glaubt, auf Strukturen der Gesellschaft rekurrieren zu können, die […] dem System der Gesellschaft selber entnommen sind oder das System der Gesellschaft

      

Ebd. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 171. Ebd. Dahrendorf, „Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung“, S. 91. Ebd. S. 97. Dahrendorf, „Ansprache zur Eröffnung des 16. Deutschen Soziologentags“, S. 8. Zit. nach Lepenies, „Dilemma eines Kongresses – Dilemma der Soziologie“, S. 172.

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selber treffen“, von „subjektiven“, „durch das szientifische Bedürfnis und die szientifische Organisation hervorgebrachten Systematisierungen oder Ordnungsschematas“⁸⁹. Zu letzteren zählte Adorno – wie vor ihm in der ersten Hälfte der 60er bereits Habermas – auch Dahrendorfs Herrschafts- und Konfliktsoziologie. Diese laufe auf eine Reformpolitik in gesellschaftlichen Einzelsektoren wie Bildung oder Verwaltung – um nur zwei der wichtigsten Reformvorhaben der Zeit hervorzuheben – hinaus und lasse deren strukturellen Zusammenhang mit der spätkapitalistischen gesellschaftlichen Totalität außer Acht. Die Grenzen dieser liberalen Reformpolitik sah Adorno aufgrund ihrer Abhängigkeit von kapitalistischen Herrschaftsinteressen „als sehr eng an“⁹⁰. Gerhard Brandt sekundierte und warf Dahrendorf seine Neigung vor, „die faktischen oder restriktiven Bedingungen politischen Handelns, […] vor allen Dingen auch die ökonomischen Bedingungen, auszusparen“, weil seine Theorie „vorgängige Interessen und vorgängige Gewaltverhältnisse aus ihrer Reflexion weitgehend“⁹¹ ausspare. Folglich führe sie in letzter Konsequenz auch zu einer „Perpetuierung von Abhängigkeitsund Gewaltverhältnissen in der politischen Praxis“⁹². Dahrendorf sah sich daraufhin zu der Erwiderung veranlasst, es gehe ihm aus herrschafts- und konfliktsoziologischer Perspektive doch gerade um „die Domestizierung der Herrschaft unter Bedingungen der modernen Gesellschaft“⁹³ – das hieß freilich auch: unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Rund eineinhalb Jahre vor dem Machtwechsel in Bonn sah der intellektuelle Posterboy des Reformflügels der FDP und dezidierte Kritiker der Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition „kein anderes Rezept der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse als das auf dem Umweg über die Beeinflussung bestehender Herrschaftsstrukturen oder die Ersetzung bestehender Herrschaftsstrukturen durch andere“⁹⁴. Dagegen hielt Offe Dahrendorfs „Aufforderung zur pragmatisch gedämpften politischen Einzelinitiative auf der Basis eines liberalen Gesellschaftsbildes“ für „nicht wissenschaftlich ausweisbar, sondern nur durch Beredsamkeit plausibel zu machen“⁹⁵. Hier schimmerte bereits die Forderung nach einer dem liberalen Gesellschaftsbild widerstrebenden, demokratisch-sozialistischen Wirtschaftspolitik durch, wie sie auch Habermas hegte, der auf dem Frankfurter Soziologentag krankheitsbedingt fehlte. Für ihn sprangen seine Schüler ein, die an einem qualitativen Unterschied der

      

Adorno et al., „Protokoll der Diskussion“, S. 102. Ebd. Brandt et al., „Protokoll der Diskussion“, S. 108. Ebd. S. 109. Dahrendorf et al., „Protokoll der Diskussion“, S. 111. Ebd. Offe et al., „Protokoll der Diskussion“, S. 113.

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„spezifischen Desiderate einer auf zentrale Planung sich stützenden Wirtschaftspolitik“ festhielten: „je nachdem, wie die Frage der Verfügungsgewalt und je nachdem, wie die Frage der politischen Willensbildung, die letzten Endes zu wirtschaftspolitischen Entscheidungen führt, geregelt ist“⁹⁶.

Abwarten oder zur Aktion schreiten? Habermas’ Bruch mit der Außerparlamentarischen Opposition Mit seinem Vorwurf vom „linken Faschismus“⁹⁷, den er auf dem Hannoveraner Kongress „Hochschule und Demokratie“ gegen Rudi Dutschke erhob, kurz nachdem der Student Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei den Anti-Shah-Demonstrationen in Westberlin vom Polizeibeamten Karl-Keinz Kurras⁹⁸ erschossen worden war, war Habermas unterdessen bei den radikalen Teilen der studentischen Protestbewegung in Ungnade gefallen, obwohl er – wie sein Marburger Mentor Wolfgang Abendroth schrieb – „nach der Offenlegung des Konfliktes zwischen SPD und SDS“ von ihnen lange Zeit als „geistiger Führer akzeptiert“⁹⁹ wurde. Auch einer seiner studentischen Kritiker, Habermas’ langjähriger Frankfurter Assistent Oskar Negt, musste im Protestjahr 1968 konzedieren, dass Schriften wie der Strukturwandel der Öffentlichkeit „mit zur Auflösung der illusionären Hoffnungen auf den restaurierten Nachkriegsliberalismus beigetragen“¹⁰⁰ hatten. Selbst auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Habermas und dem SDS glaubte Negt noch feststellen zu können, dass die protestierenden Studenten „vom Habermas’schen Denken selbst dann noch abhängig sind, wenn sie sich gegen seine politischen Konsequenzen wenden“¹⁰¹. Habermas hatte die Bundesrepublik in Hannover als „gefährdete Demokra¹⁰² tie“ bezeichnet. Demnach habe das studentische Aufbegehren, das er nach der

 Brandt et al., „Protokoll der Diskussion“, S. 114.  Im Wortlaut: „Herr Dutschke hat als konkreten Vorschlag nur vorgetragen, daß ein Sitzstreik stattfinden soll. Das ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln. Ich frage mich, warum er das nicht so nennt und warum er eine Dreiviertelstunde darauf verwendet hat, eine voluntaristische Ideologie zu entwickeln, die man im Jahre 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, die aber unter heutigen Umständen – jedenfalls glaube ich, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen – ‚linken Faschismus‘ nennen muß.“, Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 148.  Kurras war – wie man heute weiß – ein DDR-Spion.  Abendroth, „Demokratisch-liberale oder revolutionär-sozialistische Kritik?“, S. 131.  Negt, „Einleitung“, S. 19.  Ebd. S. 32.  Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 138; vgl. dazu auch Fichter/Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 160.

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restaurativen Adenauerzeit zweifellos als „ein Stück Wiederherstellung politischer Öffentlichkeit“¹⁰³ begrüßte, auch „eine kompensatorische Funktion, weil die in einer Demokratie sonst eingebauten Kontrollmechanismen“ in Zeiten der Großen Koalition erst Recht „nicht oder nicht ausreichend arbeiten“¹⁰⁴. Dennoch war Habermas’ Verhältnis zu SDS-Führungskadern wie Rudi Dutschke oder HansJürgen Krahl, von denen die „Suggestion einer revolutionären Selbstorganisation der Massen“¹⁰⁵ ausging, schon allein wegen seiner generationenbedingten Abneigung gegen die Handlungsmaximen aktionswilliger Stadtguerillas von Anbeginn problematisch. Die Beharrlichkeit spätkapitalistischer Strukturen führte Dutschke in Hannover zu einer „Neubestimmung des Voluntarismus“, wonach die Überwindung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse „nur auf die konkreten Tätigkeiten von praktischen Menschen und nicht auf einen anonymen Prozeß“¹⁰⁶ zurückgehen konnte. Während breite Teile der Außerparlamentarischen Opposition zudem weiter auf den Pakt mit der Arbeiterklasse setzten und offen die Organisationsfrage stellten, schwebte Habermas eine viel subtilere, „langfristige Strategie der massenhaften Aufklärung“¹⁰⁷ innerhalb des parlamentarischen Regierungssystems der Bundesrepublik vor. Letztlich konnten die radikalen Studenten nicht akzeptieren, vom Theoretiker des herrschaftsfreien Diskurses auf die begrenzten Formen eines symbolischen Widerstands verwiesen zu werden, um „in die Nischen eines frontal unangreifbaren Systems“ einzudringen und mit „geringem Aufwand überproportionale Wirkungen“¹⁰⁸ zu erzielen. Wer unter dem Eindruck der Pariser Mai-Unruhen jedoch suggeriere, die Protestbewegung könne sich über ihre privilegierte akademische Trägerschicht hinaus im Eiltempo zu einer revolutionären Bewegung ausweiten, schlüpfte Habermas zufolge in die Rolle von „Taktikern der Scheinrevolution“, flüchtete sich „in theoretische Übervereinfachungen, in fetischisierte Gesinnungen und in eine irrationalistische Verklärung des Unmittelbaren“¹⁰⁹. Dies sei „eine verhängnisvolle Strategie, welche nicht nur Studenten und Schüler auf die Dauer isolieren, sondern alle auf Demokratisierung drängenden gesellschaftlichen und politischen Kräfte schwächen muß“¹¹⁰.

       

Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 685. Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 140. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 140. Zit. nach Fichter/Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 161. Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 199. Ebd. S. 191. Ebd. S. 145. Ebd. S. 197.

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Umgekehrt hatte Dutschke dem Kritischen Theoretiker Habermas in Hannover einen „begriffslose[n] Objektivismus“ vorgeworfen, der „das zu emanzipierende Subjekt“¹¹¹ erschlage. Laut Krahl erschöpfte sich Habermas’ Praxisbegriff im „Idealismus der zwanglosen Kommunikation der Geister einer parlamentarischen Utopie“; das „Elend der Kritischen Theorie“ bestehe folglich in „ihr[em] Unvermögen, die Organisationsfrage zu stellen“¹¹². Und am äußersten linken Rand echauffierte sich die spätere RAF-Rädelsführerin Gudrun Ensslin in einem Brief an ihren ehemaligen Lebensgefährten Bernward Vesper aus der Frankfurter Haftanstalt, wo sie für die von ihr mitverantworteten Frankfurter Kaufhausbrände einsaß, über Habermas’ „beherrschte Klugheit und richterliche Beherrschtheit“, die nicht nur „mörderisch“ sei, sondern auch „todsicher auf dem Markt“ lande, „den Habermase und Augsteine ja so aufrichtig und rührend moralisieren wollen“¹¹³. Mit den Worten Karl Heinz Bohrers, der damals den Literaturteil der FAZ leitete, bestand eine „kaum zu überbrückende Differenz zwischen einerseits der neumarxistischen Neuen Linken, für die ein Denker wie Habermas“ mit seinem Willen zur überlegten theoretischen Reflexion stand, „und andererseits den Phantasie-Vertretern“¹¹⁴ der Revolte, die das spätkapitalistische System aus seinen Angeln heben wollten – sofort und nicht erst irgendwann. Die entscheidende Differenz lautete also: Sollte man Ende der 60er abwarten, bis sich die spätkapitalistischen Mentalitäten in der Bevölkerung intrinsisch erschöpft und die demokratisch-sozialistischen Kräfte im Bundestag die Mehrheit errungen hatten – oder musste man zur revolutionären Aktion schreiten? Ganz der Tradition Kritischer Theorie verpflichtet, hielt Habermas die Möglichkeit einer voluntaristischen Allianz zwischen studentischem Protestmilieu und Arbeiterklasse für eine Illusion. Er setzte dagegen auf die allmähliche, diskursiv unterstützte Verbreitung postmaterialistischer und kapitalismuskritischer Werte: weniger innerhalb als jenseits der Arbeiterklasse. Dabei hoffte er nicht zuletzt auf das Entgegenkommen politischer Eliten auf der parlamentarisch organisierten demokratischen Linken, ergo: aus einer SPD, die sich von ihren Godesberger Verirrungen freimachen sollte. Laut Habermas verkannten die radikalen Studenten, „daß es heute um einen Sturm auf die Bastille nicht gehen“¹¹⁵ könne. Er glaubte zu Recht, dass die kapitalismuskritischen Impulse im Protestjahr 1968 noch von einer viel zu über-

 Zit. nach Fichter/Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 161; vgl. auch Frei, 1968, S. 120.  Krahl, Konstitution und Klassenkampf, S. 254.  Ensslin/Vesper, ‚Notstandsgesetze von deiner Hand‘, S. 103.  Bohrer, 1968: „Die Phantasie an die Macht?“, S. 386.  Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 197.

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schaubaren Gruppe ausgingen, die mit ihrem Wunsch nach weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen so lange auf taube Ohren stoßen musste, wie sich die übergroße Mehrheit der erwerbstätigen westdeutschen Bevölkerung ihren politischen Quietismus weiterhin mit genügend Geld und Freizeit abkaufen ließ.¹¹⁶ Zwar beruhe „das gesellschaftliche System des staatlich geregelten Kapitalismus auf einer sehr schwachen Legitimationsgrundlage“, weil sich staatliche Politik „fast nur noch negativ, durch Ablenkung der Interessen breiter Schichten auf den Privatbereich, und nicht mehr affirmativ durch Ziele praktischer Art“ rechtfertige: „Diese systemnotwendige Entpolitisierung der Öffentlichkeit, auf deren Boden die Willensbildung eine radikal-demokratische Form nicht annehmen kann, enthüllt den strategischen Punkt der Verletzbarkeit des Systems.“¹¹⁷ Als das große sozialliberale Demokratisierungsprojekt der Inneren Reformen noch Zukunftsmusik war, gelangte Habermas jedoch noch zu dem Schluss, dass „die Überlieferungen der bürgerlichen Moral und deren kleinbürgerlicher Ableitungen“¹¹⁸ allein in studentischen Subkulturen funktionslos geworden seien: nur die „Protestgruppe der Studenten und Schüler“ habe „keine Interessen, die sich unmittelbar aus ihrer Lage ergeben und durch Zuwachs an sozialen Entschädigungen systemkonform befriedigen ließen“¹¹⁹ – ganz anders bei den Arbeitern. Linke Kritiker wie Negt deuteten den aus dieser Position folgenden Verzicht auf die Formulierung „eine[r] politische[n] Theorie der sozialrevolutionären Veränderung […], die [Habermas’] Kapitalismus-Kritik eigentlich“¹²⁰ voraussetze, als „subtile“, wenn auch ungewollte „Aufwertung der historischen Legitimationsgrundlage der bestehenden Herrschaftssysteme“, die von deren ideologischen Verteidigern bis ins rechte Spektrum hinein dankend aufgenommen werde: „Die mit der Legitimationsschwäche notwendig verbundene Instabilität, die Habermas dem Spätkapitalismus nachweist, wird rückgängig gemacht in dem Augenblick, da es um die Bestimmung einer historisch legitimierten oppositionellen Praxis geht.“¹²¹ Andererseits konnten die radikalen Studenten noch so schöne revolutionäre Strategien und Ziele formulieren – zur Überwindung der spätkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse konnten sie nach Habermas nur dann einen Beitrag leisten, wenn ihr Protest auch wirklich mit einem „unlösbare[n] System-

 Vgl. Habermas, „Über einige Bedingungen der Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaften“, S. 80.  Ebd. S. 81.  Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 193.  Habermas, „Über einige Bedingungen der Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaften“, S. 82.  Negt, „Einleitung“, S. 20.  Ebd. S. 22.

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problem“¹²² zusammenfiel. Hier rekurrierte er aber nicht etwa auf ökonomische Krisentendenzen im spätkapitalistischen Wirtschaftssystem, sondern auf eine „strukturell bedingte Aushöhlung der Ideologie der Leistungsgesellschaft“¹²³, die sich Ende der 60er bereits am Horizont abzuzeichnen schien. Habermas’ Hoffnungen ruhten folglich auf der kollektiven Einsicht, dass es unter den spezifischen technischen und organisatorischen Bedingungen der Reichtumsproduktion im Spätkapitalismus „immer schwieriger“ werde, „die Statuszuweisung an den Mechanismus der Bewertung individueller Leistung auch nur subjektiv überzeugend zu binden“¹²⁴. Wenn die Idee der Leistungsgerechtigkeit mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nur noch entfernt etwas zu tun hatte, büßte die politische Ökonomie des Spätkapitalismus ihr zentrales ideologisches Fundament ein – so der Gedanke. Vom Ziel einer politischen Entfesselung des revolutionären Kampfes war diese Position sicher meilenweit weit entfernt. Deshalb meldete der sozialistische Diskurspartisan Wolfgang Abendroth auch starke Zweifel an, ob sein früherer Habilitand überhaupt noch „im Rahmen sozialistischer und demokratischer“ oder nicht „doch nur systemimmanent-liberaler Kritik an der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Herrschaftsordnung denkt, wenn er auch diesen Rahmen immer noch gelegentlich überschreitet“¹²⁵. Bei Habermas drohe „der Glaube an nur durch Überzeugung der Machtträger, nicht durch Kampf erwirkte Reformen der Institutionen zum Fetisch zu werden“¹²⁶ – nach Abendroth der Preis für ein Denken, das seit den späten 50ern zwar Aspekte einer materialistischen Gesellschaftsanalyse beinhaltete, aber „immer wieder an seine nur phänomenologischen Ausgangspunkte gebunden“¹²⁷ bleibe.¹²⁸ Ende der 60er rückten Habermas’ Frankfurter Lehrveranstaltungen mehr und mehr ins Visier linker Aktivisten, die hinter der philosophischen Diskurstheorie, der Habermas innerhalb seines Theoriebaukastens mit den Vorbereitenden Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz ¹²⁹ eine immer prominentere Rolle einräumte, ein liberales Pars pro toto vermuteten. Als im Dezember 1968 das Soziologische Seminar der Goethe-Universität besetzt wurde und  Habermas, „Über einige Bedingungen der Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaften“, S. 85.  Ebd.  Ebd.  Abendroth, „Demokratisch-liberale oder revolutionär-sozialistische Kritik?“, S. 133.  Ebd. S. 141.  Ebd. S. 140.  Diese Frage wird in der vorliegenden Arbeit nicht tangiert. Weiterführend sind in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse einer Studie über das philosophische Denken des frühen Habermas, vgl. Yos, Der junge Habermas.  Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie kommunikativer Kompetenz“.

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Habermas „auf dem Abzug der Besetzer beharrte, wurde er von den Lederjacken“ – also von Vertretern einer Splittergruppe innerhalb der Protestbewegung, die „sich aus schierer Wut gegen die oppressive Theoriesprache der Kritischen Theorie einen demonstrativen Prollo-Stil“ zugelegt hatten – sogar „physisch attackiert – und wiederholte ihnen gegenüber seinen alten Vorwurf des ‚Linksfaschismus‘“¹³⁰. Allerdings gelang es ihm in seinen Seminaren lange Zeit wie keinem zweiten, „den Pressionen der Studenten gerade so weit nachzugeben, daß ein Diskussionsraum erhalten blieb, in dem sich die Positionen messen konnten – selten zum Vorteil der Agitatoren, wenn es sich nicht gerade um ‚den Krahl‘ handelte, der sich mit Habermas noch im Winter 69/70 eine Serie spektakulärer Seminarduelle lieferte“¹³¹. „Der Krahl“ ließ sich jedoch zu Äußerungen hinreißen, die nach Habermas’ Verständnis hinter die Einsichten der Kritischen Theorie zurückfielen, wenn er etwa behauptete: „Die Legalität bürgerlicher Gerichte kann sich nicht mehr legitim begründen. Sie ist blanke, unbegründete Gewalt geworden, sie verfügt über keinen Emanzipations- und Legitimationsbegriff, sie übt nur Unterdrückung im Dienste des Kapitals aus.“¹³² Als der gemäßigte polnische Philosoph Leszek Kołakowski – Habermas’ Wunschkandidat für die Nachfolge des im Sommer 1969 überraschend verstorbenen Adorno – seinen Ruf nach Frankfurt schließlich entnervt ablehnte, weil sich die marxistisch infiltrierte Philosophische Fachschaft der Goethe-Universität in einem offenen Brief deutlich gegen ihn positioniert hatte, fasste Habermas den folgenreichen Entschluss, dem Mekka der Kritischen Theorie ein zweites Mal den Rücken zu kehren, um künftig in der oberbayerischen Provinz an seiner Theoriekathedrale zu bauen. Oder mit den Worten Müller-Doohms: „Die zermürbenden Dauerkonflikte in Frankfurt sind sicher ein Grund, wenn auch vielleicht nicht der einzige, dass Habermas Ende 1971 die Flucht ergreift.“¹³³ Laut seinem Biografen hat sich Habermas Anfang der 70er sodann schon nicht mehr „als Mitglied des inner circle der Frankfurter Schule gesehen, was ihm damals (und vielleicht auch heute noch) nicht wenige verübeln“¹³⁴. Diese These bedarf nun einer entscheidenden Qualifizierung: Die rasche Entfremdung von der sozialistisch-revolutionären Protestbewegung spornte ihn regelrecht dazu an, die Kritische Theorie Anfang der 70er als Ko-Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der

 Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 144; vgl. zu der Besetzung auch Fichter/Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 201 f.  Ebd. S. 200.  Krahl, Konstitution und Klassenkampf, S. 26.  Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 223.  Ebd. S. 222.

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Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg auf ein neues Fundament zu stellen. Man müsste die Aussage Müller-Doohms folglich umdrehen: Habermas gehörte nach Adornos Tod nicht zum inner circle, er bestimmte nun den inner circle der nach Starnberg exilierten Frankfurter Schule, die unter seiner Regie nun den – historisch betrachtet – vielleicht letzten institutionell abgesicherten Anlauf unternahm, die Chancen zur Überwindung des (Spät‐) Kapitalismus mit den Mitteln einer zeitgemäßen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung auszuloten, nachdem sich der SDS „aus seiner eigenen Tradition der Verteidigung der Autonomie der Wissenschaft gegen alle Interessen herauskatapultiert“¹³⁵ hatte.¹³⁶ Gleichzeitig machten Habermas’ im Kontext des Positivismusstreits geäußerte Zweifel an Dahrendorfs liberalem Missionarismus nun einer geradezu wohlwollenden Position Platz, was durchaus für die von Abendroth geäußerten Befürchtungen sprach. Zur Erinnerung: Habermas hatte bis in die frühen 60er keinen richtigen Ausweg aus der Adenauer’schen Restauration sehen können. Seit der

 Fichter, Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 200.  Folgt man der Argumentation seines langjährigen Frankfurter und Starnberger Assistenten Claus Offe, darf Habermas’ Wechsel von der Goethe-Universität an das Starnberger Max-PlanckInstitut also nicht einfach mit dem eskapistischen Wunsch verwechselt werden, „nach dem Scheitern der Illusionen“ am Starnberger See „wohlbehütet [zu] überwintern“ – so die Suggestion der drei Ideenhistoriker Alexander Cammann, Jens Hacke und Stephan Schlak, die Offe im Jahr 2005 um einen intellektuellen Rückblick auf die Bonner Republik baten. Offe hielt seinen Interviewern entgegen, dass Habermas und seine Mitstreiter im genauso konservativen wie beschaulichen Süden der Bundesrepublik vielmehr das ambitionierte Ziel in Angriff genommen hätten, das von Horkheimer in den 30ern skizzierte Projekt eines „interdisziplinären Materialismus“ noch einmal grundlegend neu zu denken, ohne sich dabei freilich von den allzu sendungsbewussten Stadtguerillas ins Bockshorn jagen zu lassen: „Es ging bei dem, wie sich zeigte: schwer durchzuhaltenden Starnberger Projekt darum, herauszufinden, ob und wie sich die in sektiererischer Selbstüberhebung steckengebliebenen Ambitionen der Frankfurter Kritischen Theorie mit den Mitteln der zeitgenössischen Sozialwissenschaften zumindest in Teilen reaktualisieren ließen. […] Das war keine Fahnenflucht, keine Abwanderung, sondern man sagte: Das ist im Frankfurter Dunstkreis nicht mehr zu machen, deshalb gehen wir nach Starnberg. Wo die alte Frankfurter Schule stecken geblieben war, was auch das weitere Umfeld von Erich Fromm, Leo Löwenthal und Friedrich Pollock nicht geschafft hatten – das wollten wir noch einmal versuchen. ‚Interdisziplinärer Materialismus‘, das war ein von Horkheimer stammender programmatischer Begriff aus Habermas’ Frankfurter Antrittsvorlesung und unser Stichwort der Stunde. Wir dachten, das müsse man alles nochmals neu machen und zwar auf dem Stand der heutigen Sozialwissenschaft. Aber es sollte seriös sein, und nicht so etwas Luftiges, wie uns zunehmend das elegant und eindrucksvoll, aber irgendwie auch obskur geschriebene Buch Dialektik der Aufklärung erschien. Aus dieser unglaubwürdig gewordenen Negationadramaturgie der Fünfziger wollten wir ausbrechen.“, Offe, „‚Die Bundesrepublik als Schattenriß zweier Lichtquellen‘“, S. 153 f.

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zweiten Hälfte der 60er mehrten sich jedoch die Anzeichen einer Erschöpfung des ersten bundesrepublikanischen Zeitalters der Christdemokratie. Die Bildung der Großen Koalition und die rhetorische Ablösung von Erhards „formierter“ durch Schillers Version einer „mündigen Gesellschaft“ deuteten bereits einen Wandel im Zeitgeist an. Außerdem stimmte Habermas die in gesellschaftspolitischer Hinsicht unverkennbar demokratisierungsfreundliche Schlagseite von Dahrendorfs konfliktsoziologischen Schriften mittlerweile milde; seit der Veröffentlichung von dessen fulminanter Deutschlandkritik Mitte der 60er konnte Habermas zudem sichergehen, dass der liberale Missionar mit seinem frühen positivistischen Versprechen einer szientistischen Sozialwissenschaft doch nicht ernst zu machen gedachte. Tatsächlich führte Habermas Dahrendorfs Konflikttheorie in seinem Literaturbericht Zur Logik der Sozialwissenschaften nunmehr als gelungenes Beispiel einer „systematisch anspruchsvollen soziologischen Geschichtsschreibung“¹³⁷ und „historisch gerichteten soziologischen Forschung“ an, „die in praktischer Absicht auf Gegenwartsanalyse“¹³⁸ ziele, um „unter Preisgabe des Anspruchs, allgemeine Theorien des sozialen Handelns aufzustellen, zu einer historisch gehaltvollen funktionalistischen Erforschung gesellschaftlicher Systeme“¹³⁹ vorzudringen.¹⁴⁰  Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 137.  Ebd. S. 143.  Ebd. S. 198.  Diese Annäherung spiegelte sich gewissermaßen auch auf der Ebene theorieinterner Auseinandersetzungen innerhalb der Soziologie wider. Der Gegner war jetzt nur noch Parsons bzw. bald Luhmann, nicht mehr Dahrendorf bzw. Popper. Habermas’ Kritik am sozialwissenschaftlichen Funktionalismus wirkte nun wie eine regelrechte Fortsetzung von Dahrendorfs ParsonsKritik aus den späten 50ern und frühen 60ern. Dahrendorf hatte gegen Parsons geltend gemacht, dass aus dessen theoretischen Annahmen nichts folge, nur um damit freilich zu skandalisieren, wie folgenreich – d. h. herrschaftsstabilisierend im schlechten Sinne – sich die Hegemonie der strukturfunktionalistischen Systemtheorie in der internationalen Soziologie letztlich doch ausnehmen musste. Im Zentrum der Habermas’schen Kritik standen nun vor allem zwei klärungsbedürftige Annahmen, die Parsons unhinterfragt unterstelle: die logische Abgrenzbarkeit des Gesellschaftssystems von seiner Umgebung und die in Analogie zur Kybernetik entwickelte Idee eines ermittelbaren systemischen Gleichgewichtszustands. Dazu fällte Habermas das anti-szientistische Verdikt: „Ein organisches Lebewesen ist von Haus aus ein abgegrenztes System; und der Zustand, in dem ein Organismus sein Leben reproduziert, ist durch eine Reihe von lebenswichtigen Prozessen (Stoffwechsel) leicht zu identifizieren. Beide Voraussetzungen sind hingegen in der Soziologie schwer oder gar nicht zu erfüllen.“, ebd. S. 194. Zwar hätte Dahrendorf nach seiner Selbstdistanzierung vom Hegelmarxismus der kritischen Theorie gegen Parsons niemals – wie sein ungleicher Weggefährte Habermas – den Einwand erhoben, die strukturfunktionalistische Systemtheorie entrate „eines weltgeschichtlichen Subjektes“, ebd. S. 187. Dennoch hätte es auch seiner Feder stammen können, als Habermas Parsons ermahnte, „die bis dahin anerkannten kulturellen Werte“ dürften „nicht nur als Maßstab fungieren“, um einen vermeintlichen

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Diese Annäherung an den sozialliberalen Paradeintellektuellen Dahrendorf änderte jedoch nichts daran, dass Habermas die spätkapitalismuskritischen Überlegungen seines Schülers Offe in einem Aufsatz über Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, der im August 1968 zu Ehren von Herbert Marcuses 60. Geburtstag erschien, weiterzuentwickeln versuchte. Damit blieb er der politischen Zielbestimmung einer Verwirklichung des demokratischen Sozialismus treu, die den liberal-keynesianischen Überlegungen Dahrendorfs weiterhin klar entgegengesetzt war. Habermas’ Ausgangspunkt blieb die im Prinzip bereits auf Thesen aus dem Strukturwandel der Öffentlichkeit zurückgehende Annahme, dass die keynesianische „Dauerregulierung des Wirtschaftsprozesses durch staatliche Intervention […] aus der Abwehr systemgefährdender Dysfunktionalitäten eines sich selbst überlassenen Kapitalismus hervorgegangen“ sei, „dessen tatsächliche Entwicklung seiner eigenen Idee einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich von Herrschaft emanzipiert und Macht neutralisiert, so offensichtlich zuwiderlief“¹⁴¹. Folglich werde die „Form der privatwirtschaftlichen Kapitalverwertung“ heute „durch die staatlichen Korrektive einer kreislaufstabilisierenden Sozial- und Wirtschaftspolitik aufrechterhalten“, wodurch „sich aber das Verhältnis des Wirtschaftssystems zum Herrschaftssystem verändert“ habe: „Politik ist nicht mehr nur ein Überbauphänomen.“¹⁴²

Sollzustand des Systems zu erhalten, sondern müssten vielmehr konsequent „in die Diskussion hineingezogen“ werden, um sie „von ihren ideologischen Bestandteilen“ (ebd. S. 195 f.) zu reinigen. Die strukturfunktionalistische Systemtheorie hielt Habermas nun nicht in erster Linie deshalb für bedenklich, weil sie für die technische Steuerung gesellschaftlicher Prozesse sonderlich geeignet gewesen wäre. Er kam denn auch zu dem Schluss, dass bei Parsons doch „in der Tat ein ridiküles Mißverhältnis zwischen der aufgetürmten Masse leerer kategorialer Gehäuse und dem schmächtigen empirischen Gehalt, den sie beherbergen“ (ebd. S. 327), bestehe. Habermas störte sich vielmehr daran, dass Parsons „das Funktionieren gesellschaftlicher Einrichtungen bei normativ vorausgesetztem Systemzweck“ untersuche und damit „präskriptiv verwendbare Informationen“, also „technisches Wissen zweiter Stufe“ (ebd. S. 197 f.) erzeuge. Mit diesem Begriff etikettierte Habermas eine Wissensform, die „im Sinne empirischer Triftigkeit überhaupt nicht ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sein“ könne, aber „den Status von bedingten Imperativen (von Gebots-, Verbots- und Erlaubnisaussagen)“ einnehme, „die deduktiv ›gültig‹ oder ›ungültig‹ sind“, ebd. S. 156. Kurzum: Parsons zeichnete Habermas zufolge an einem positivistischen Weltbild mit, das die Herstellung und Verwertung technischen Wissens in allen Lebensbereichen zum alleinigen Maßstab erhob und Fragen nach dem guten Leben ausklammerte. Parsons war in diesem Punkt folglich nicht bloß ein Epigone von Weber, sondern – wenn man Habermas’ Marburger Antrittsvorlesung mitberücksichtigt – auch ein verkappter Hobbes-Schüler.  Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 75.  Ebd.

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Nach einer Erneuerung seiner Kritik an der Marx’schen Arbeitswerttheorie¹⁴³ kam Habermas in Anlehnung an seinen Schüler Offe zu dem Schluss, dass die technokratische Stilllegung des Klassenkonflikts im Spätkapitalismus der späten 60er durch eine „Konfliktvermeidungspolitik“ erkauft werde, die den „mit der privatwirtschaftlichen Kapitalverwertung nach wie vor in die Struktur der Gesellschaft eingebaute[n] [Klassenkonflikt]“ nur in die Latenz verschiebe: Er tritt hinter andere Konflikte zurück, die zwar ebenfalls durch die Produktionsweise bedingt sind, aber nicht mehr die Form von Klassenkonflikten annehmen können. […] Konfliktträchtig sind die an der Peripherie des staatlichen Aktionsbereichs liegenden Bedürfnisse, weil sie von dem latent gehaltenen Zentralkonflikt entfernt sind und daher keine Priorität bei der Gefahrenabwehr genießen.¹⁴⁴

Um diese neu entstehenden Konflikte an der gesellschaftlichen Peripherie beispielhaft zu illustrieren, zitierte Habermas auch noch einmal ausführlich die Überlegungen seines Frankfurter Assistenten zur Disparität der Lebensbereiche, die „vor allem hinsichtlich des unterschiedlichen Entwicklungsstandes zwischen tatsächlich institutionalisiertem und möglichem Niveau des technischen und gesellschaftlichen Fortschritts“ wachse: ob es sich nun um „das Mißverhältnis zwischen modernsten Produktions- und Militärapparaten und der stagnierenden Organisation des Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungssystems“ oder den „Widerspruch zwischen rationaler Planung und Regulierung der Steuer- und Finanzpolitik und der naturwüchsigen Entwicklung von Städten und Regionen“¹⁴⁵ handelte. Demnach führte der in der keynesianischen Globalsteuerung der Großen Koalition verkörperte „kybernetische Wunschtraum einer instinktanalogen Selbststabilisierung von Gesellschaften“ laut Habermas die „vage[n] Grundannahmen des technokratischen Bewußtseins negativ-utopisch zu Ende“ und bezeichnete „so eine Entwicklungslinie, die unter der sanften Herrschaft von Technik und Wissenschaft als Ideologie sich abzeichnet“¹⁴⁶. Mit dieser Modifizierung des Ideologiebegriffs im Hinblick auf die spezifische Funktionsweise des organisierten Spätkapitalismus knüpfte er auch an die düsteren Überlegungen Adornos aus den späten 50ern an. Laut Adorno hatte die bürgerliche Ideologie einst noch ein „objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein“ angezeigt, eine „Verschränkung des Wahren und Unwahren, die sich von der vollen Wahrheit ebenso scheidet wie von der bloßen Lüge“. Als „Rechtfertigung“ von    

Vgl. ebd. S. 80. Ebd. S. 84 f. Offe zit. nach ebd. S. 85. Ebd. S. 97 f.

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Herrschaft habe sie „ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes“ erheischt, „den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde“¹⁴⁷. Adorno formulierte deshalb treffend: „Wo bloße unmittelbare Machtverhältnisse herrschen, gibt es eigentlich keine Ideologien.“¹⁴⁸ Folglich bedürfe ein vollends in den irrationalen Mythos umgeschlagenes Denken im Prinzip keiner immanenten Kritik mehr, weil diese überhaupt „nur soweit möglich“ sei, wie der kritisierte Gegenstand „ein rationales Element“ enthalte, „an dem die Kritik sich abarbeiten kann“: „Das gilt für Ideen wie die des Liberalismus, des Individualismus, der Identität von Geist und Wirklichkeit“¹⁴⁹ – nicht aber für den nationalsozialistischen Rassenwahn. Für Adorno war entscheidend, dass die bürgerliche Ideologie, die immerhin noch idealistisch über die gegebenen Herrschaftsverhältnisse hinausgewiesen habe, im postliberalen Zeitalter des organisierten Spätkapitalismus ihre Funktion verloren hatte. Mittlerweile sei an ihre Stelle die bloße „Anerkennung des Bestehenden selber“ getreten: „Modelle eines Verhaltens, das der Übermacht der Verhältnisse sich fügt“¹⁵⁰. Demzufolge war die Ideologie mit der zunehmenden Erschöpfung des bürgerlichen Aufklärungspotenzials auf ein kulturindustriell reproduzierbares Pathos des Tatsächlichen zusammengeschrumpft und erwies sich gerade deshalb als umso beharrlicher.¹⁵¹ In spätkapitalistischen Gesell-

 Adorno, „Beitrag zur Ideologienlehre“, S. 465.  Ebd.  Ebd. Nahezu deckungsgleich nahm sich Habermas’ Beschreibung der bürgerlichen Ideologie Ende der sechziger Jahre aus: „Die brüchig gewordenen Legitimationen werden durch neue ersetzt, die einerseits aus der Kritik an der Dogmatik der überlieferten Weltinterpretationen hervorgehen und wissenschaftlichen Charakter beanspruchen, die aber andererseits Legitimationsfunktionen behalten und faktische Gewaltverhältnisse somit der Analyse wie dem öffentlichen Bewußtsein entziehen. Erst dadurch entstehen Ideologien im engeren Sinn: sie ersetzen die traditionellen Herrschaftslegitimationen, indem sie mit dem Anspruch der modernen Wissenschaft auftreten und sich aus Ideologiekritik rechtfertigen. Ideologien sind gleichursprünglich mit Ideologiekritik. In diesem Sinne kann es vorbürgerliche ‚Ideologien‘ nicht geben.“, Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 72.  Adorno, „Beitrag zur Ideologienlehre“, S. 477.  „Bestimmt man als Erbschaft der Ideologie die Totalität jener geistigen Erzeugnisse, welche heute das Bewußtsein der Massen in weitem Maß anfüllen, so wird man darunter weniger den gegen die eigenen gesellschaftlichen Implikationen verblendeten autonomen Geist verstehen dürfen als die Totalität dessen, was konfektioniert wird, um die Massen als Konsumenten einzufangen, und wenn möglich ihren Bewußtseinszustand zu modellieren und zu fixieren. Das gesellschaftlich bedingte falsche Bewußtsein von heute ist nicht mehr objektiver Geist, auch in dem Sinne, daß es keineswegs blind, anonym aus dem gesellschaftlichen Prozeß sich kristallisiert, sondern wissenschaftlich auf die Gesellschaft zugeschnitten wird.“, ebd. S. 474 f.

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schaften, die laut Adorno über kein Leitbild mehr verfügten, obliege denn auch allein dem kulturindustriellen Apparat „die willentliche Integration [seiner] Abnehmer von oben“¹⁵². Habermas hatte im Strukturwandel der Öffentlichkeit bereits in dieses Klagelied eingestimmt, als er die Rückbildung der öffentlichen Meinung in der sozialstaatlichen Massendemokratie auf die „kulturindustriellen Selbstverständlichkeiten, die flüchtigen Resultate jener publizistischen Dauerberieselung oder auch propagandistischen Bearbeitung“ zurückführte, „der die Konsumenten vorzüglich in ihrer Freizeit ausgesetzt“¹⁵³ seien. Noch Ende der 60er erinnerte er die studentischen Revoluzzer im Gleichschritt mit Adorno an die massiven „Integrationsleistungen eines veränderten Systems“¹⁵⁴, in dem „an die Stelle der Ideologie des freien Tausches eine Ersatzprogrammatik“ trete, „die an den sozialen Folgen nicht der Institution des Marktes, sondern einer die Dysfunktionen des freien Tauschverkehrs kompensierenden Staatstätigkeit orientiert“ sei: „Sie verbindet das Moment der bürgerlichen Leistungsideologie […] mit der Garantie von Wohlfahrtsminima, der Aussicht auf Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie der Stabilität des Einkommens.“¹⁵⁵ Mit dem Sozialstaat sei das technokratische Bewusstsein nun „als Hintergrundideologie auch in das Bewußtsein der Masse der Bevölkerung“¹⁵⁶ eingedrungen und habe einem – wenn auch vergleichsweise sanften – technokratischen Despotismus Vorschub geleistet: „Die manifeste Herrschaft des autoritativen Staates weicht den manipulativen Zwängen der technisch-operativen Verwaltung.“¹⁵⁷ Diese „durch das mediatisierte Klassenverhältnis im organisierten Spätkapitalismus“ – wie Habermas sich in Anlehnung an Hegel und in kritischer Distanzierung vom technokratischen Konservatismus à la Gehlen ausdrückte – „stillgestellte Dialektik des Sittlichen“ erzeuge „den eigentümlichen Schein der Post-Histoire“¹⁵⁸, der „jedoch nur den Interessenzusammenhang“ verschleiere, „der unreflektiert die Richtung des technischen Fortschritts bestimmt“¹⁵⁹. Schelskys Diagnose aus den frühen 60ern, „daß sich die technischen Sachzwänge verselbständigt hätten“¹⁶⁰, stellte nach Habermas demzufolge den Fluchtpunkt der technokratischen Ideologie dar.

        

Adorno, „Résumé über Kulturindustrie“, S. 337. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 354. Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 41. Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 76 f. Ebd. S. 81. Ebd. S. 83. Ebd. S. 88. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 115. Ebd.

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Die vorläufige Stabilität des Klassenkompromisses im eingebetteten Nachkriegskapitalismus veranlasste Habermas Ende der 60er auch zu der programmatischen Trennung von Arbeit und Interaktion, deren Verhältnis Marx nicht „expliziert, sondern unter dem unspezifischen Titel der gesellschaftlichen Praxis eins auf das andere reduziert, nämlich kommunikatives Handeln auf instrumentales zurückgeführt“ habe. Auf dem Höhepunkt der keynesianischen Globalsteuerung in der Bundesrepublik trieb ihn vor allem die Beobachtung um, dass das vermeintlich unerschöpfliche Zeitalter ökonomischen Wachsstums („[d]ie Befreiung von Hunger und Mühsal“) „nicht notwendig mit der Befreiung von Knechtschaft und Erniedrigung“¹⁶¹ einhergehe.¹⁶² Im Unterschied zu Adorno, der in seinem unvollendeten Spätwerk, der Ästhetischen Theorie, in der Erschütterung des individuellen Bewusstseins durch das authentische Kunstwerk dann doch die vielversprechendste Möglichkeit einer kritischen Transzendierung des spätkapitalistischen Status quo erkannte¹⁶³, zog Habermas den Schluss, anhand einer immanenten Kritik der sozialwissenschaftlichen Ausläufer des „technokratischen Bewußtseins“ zumindest den Weg zu einer überfälligen Demokratisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft und gemeinverträglichen Nutzung der verwissenschaftlichten Technik angeben zu können.¹⁶⁴ Dieser Optimismus rührte nicht zuletzt aus der Hoffnung, im materiellen Aufschwung der trente glorieuses schlummere ein unvollendetes Möglichkeitspotenzial bürgerlicher Gesellschaften, das es im Hinblick auf die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus nur zu nutzen gelte.¹⁶⁵

 Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 46.  Der Begriff des kommunikativen Handelns war bei Habermas bis Mitte der 70er noch eine Chiffre für die radikaldemokratische Verwirklichung des demokratischen Sozialismus, bevor er ihn anschließend – wie wir noch sehen werden – auf einen defensiven Krisenbewältigungsmodus im Postwachstumskapitalismus bezog.  Adorno, Ästhetische Theorie.  Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 98 f.  Die älteren Kritischen Theoretiker empfanden die Herrschaft des abstrakten Tauschprinzips im Spätkapitalismus – wie Adorno – als derart übermächtig, dass an eine humanistische Nutzung von Technik und Wissenschaft entweder gar nicht mehr zu denken war, oder schreckten – wie Marcuse – vor der Wucht der Produktivkraftentwicklung selbst zurück, um in Analogie zum technokratischen Konservatismus technikkritische Töne anzuschlagen. Mit der von Marcuse gehegten Hoffnung auf eine „Neue Wissenschaft“ wusste Habermas jedoch nichts anzufangen. Er erkannte darin den utopischen Überschuss der „aus jüdischer und protestantischer Mystik vertrauten Verheißung einer ‚Resurrektion der gefallenen Natur‘“ – einen aus seiner Schelling-Dissertation vertrauten, in seinen Augen nunmehr aber fragwürdigen „Topos, der […] in den schwäbischen Pietismus in Schellings (und Baaders) Philosophie eingedrungen ist, bei Marx in den Pariser Manuskripten wiederkehrt, heute den Zentralgedanken der Blochschen Philosophie bestimmt und, in reflektierter Form, auch die geheimen Hoffnungen Benjamins, Horkheimers und

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Ähnlich wie Adorno hielt es zwar auch Habermas für problematisch, dass die neue technokratische Ideologie, die sich vor allem in der Idee einer widerspruchsfreien politischen Steuerung des kapitalistischen Wirtschaftssystems spiegelte, „durch Reflexion weniger angreifbar“ sei als die bürgerlichen Ideologien alten Stils, eben „weil [sie] nicht mehr nur Ideologie“¹⁶⁶ sei. Der von Keynes maßgeblich mitgestaltete eingebettete Liberalismus war unbestreitbar die treibendende Kraft hinter dem Aufschwung westlicher Industriegesellschaften nach 1945 gewesen und kam in seiner avanciertesten Variante unter Wirtschaftsminister Schiller nun besonders selbstevident daher. Doch Habermas war aufgrund seiner optimistischen Lektüre der Marx’schen Grundrisse auch zuversichtlich, dass der im Grundgesetz verbürgte „institutionelle Rahmen, der die Distribution der Lasten und Entschädigungen regelt und eine den Kulturverzicht sichernde Herrschaftsordnung“, kurzum: die spätkapitalistische Marktwirtschaft stabilisiere, „mit fortschreitender Technik lockerer werden und zunehmend Teile der kulturellen Überlieferung“, ergo: die herrschaftsfreie Gesellschaft des demokratischen Sozialismus „in Realität verwandeln“¹⁶⁷ könne. Ihm schwebte folglich eine „Kritik an den geschichtlich obsolet gewordenen Herrschaftsformationen“¹⁶⁸ privatkapitalistisch organisierter Gesellschaften vor, die durch den technischwissenschaftlichen Fortschritt überhaupt erst ermöglicht worden war und nach der Bundestagswahl vom 28. September 1969 auf ein entgegenkommenderes politisches Spitzenpersonal hoffen durfte. Wer brauchte da noch eine gewaltsame Revolution?

Adornos lenkt“, ebd. S. 54. Es wollte Habermas nicht einleuchten, „wie wir je […] auf Technik, und zwar auf unsere Technik, zugunsten einer qualitativ anderen sollen verzichten können“, ebd. S. 56 f. In der Manier eines moralischen Modernisten schlussfolgerte er, dass es für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt überhaupt „kein Substitut“ gebe, „das ‚humaner‘ wäre“. Habermas war folglich allein an der bewussten Änderung der „Richtung dieses Fortschritts“ durch die Lockerung des Privateigentums im demokratischen Sozialismus gelegen, während der „Maßstab der Rationalität selber“ (ebd. S. 58) gleichbleibe – oder wie er sich in Erkenntnis und Interesse in Anlehnung an Fichte ausdrückte: an einer materialistisch zu wendenden „Identität der theoretischen Vernunft mit der praktischen“ bzw. „Einheit von Vernunft und interessiertem Gebrauch der Vernunft“, Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 257. Dieser Wunsch nach einer demokratischen Nutzung der verwissenschaftlichten Technik wurde insbesondere in seinen universitätspolitischen Interventionen der 60er deutlich, die überdies verdeutlichen, wie wenig sich Habermas zwischenzeitlich der grassierenden Planungs- und Reformeuphorie zu entziehen vermochte.  Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, S. 89.  Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 340.  Ebd.

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Sozialliberale Aufbruchsstimmung und die Geburt der Starnberger Krisentheorie Herrschte im ersten Zeitalter der Christdemokratie bis in die Großen Koalition hinein noch das Prinzip technokratischer Planung vor, schienen sich im Zuge des sozialliberalen Machtwechsels im Bonner Regierungszentrum nun „demokratische Teilhabe und politische Planung miteinander zu verbinden“¹⁶⁹. Nach der Wahl kündigte der neue Bundeskanzler Willy Brandt in seiner denkwürdigen Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 an, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen und „durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik“ darauf hin zu wirken, dass „jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken“¹⁷⁰. Allerdings ermahnte er die radikalen Studenten sogleich zu der Einsicht, „daß auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben“¹⁷¹. Ganz ähnlich hatte Habermas in seiner vorerst letzten großen Frankfurter Monographie über Erkenntnis und Interesse Ende der 60er Dutschke, Krahl und Co. daran erinnert, dass „bei einem Test, der die Bedingungen einer möglichen ‚Einschränkung des Leidens‘ erproben soll“, „das Risiko erhöhten Leidens nicht zum Bestandteil der Versuchsanordnung selber gemacht werden“ dürfe: „Diese Vorsicht hemmt nicht die kritisch-revolutionäre Tätigkeit, wohl aber die totalitäre Gewißheit, daß die Idee, von der sie sich mit guten Gründen leiten läßt, unter allen Umständen realisierbar ist.“¹⁷² Auch hier wurde wieder sein zurückhaltender Gestus deutlich, seine Wette auf den Faktor Zeit. Rückblickend erklärte Habermas den Unterschied zwischen seiner radikalreformistischen Position, die das bestehende liberaldemokratische Institutionengefüge nicht in Bausch und Bogen verwarf, und dem reinen Revolutionspathos der 68er mit einer letztlich unüberwindbaren generationellen Kluft: Die jungen Aktivisten sahen sich als den verlängerten Arm Che Guevaras in den Metropolen – hier also, wo man nichts begreifen konnte, wenn man nicht zunächst einmal den relativen Erfolg des sozialdemokratischen Reformismus begriffen hatte. Das zu begreifen war mir, war uns linken Kindern der Adenauerzeit natürlich leichter gefallen, während Marcuses und Adornos Spätkapitalismustheorie eher der totalisierenden Sichtweise der 68er Vorschub leistete. Die etwas ältere Generation des SDS (Preuss, Offe usw.) hatte ich mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), und das heißt: mit einer vom reformistischen Abendroth beeinflußten offensiven Sozialstaatsinterpretation des Grundgesetzes, noch erreicht, wäh-

   

Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 358. Brandt, Regierungserklärung. Ebd. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 345.

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rend die nächste ‚Generation‘, mit Dutschke und Krahl, schon aktionistisch dachte. Die 1968 aktiv gewordenen Studenten waren schon so weit von der NS-Zeit entfernt, daß sie nicht mehr als selbstverständlich akzeptierten, was selbst für Marx selbstverständlich gewesen war: keine sozialistische Emanzipation ohne Verwirklichung der bürgerlichen Freiheitsrechte.¹⁷³

Die hier von Habermas am dreißigsten Jahrestag der Pariser Mai-Unruhen nachträglich geadelte sozialliberale „Verwirklichung der bürgerlichen Freiheitsrechte“ umfasste Anfang der 70er eine Reihe tiefgreifender Reformvorhaben, die von der sozial-, steuer- und strukturpolitischen Redistribution des gesellschaftlichen Reichtums über die Veränderung des ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnungsrahmens, die Modernisierung der politischen Organisationsstruktur und die Aufwertung des sozialen Status einzelner gesellschaftlicher Gruppen bis hin zur Stärkung demokratischer Partizipation und Ermöglichung der Teilhabe möglichst vieler Bürger an politisch und gesellschaftlich relevanten Entscheidungen reichten.¹⁷⁴ An oberster Stelle rangierte „ein sozialpolitisches Expansionsprogramm, das ganz vom Leitbild des modernen Wohlfahrtsstaates und dem Ziel einer ‚gerechteren‘ Verteilung der gesamtwirtschaftlichen Zuwächse in der Arbeitnehmergesellschaft geprägt war“. Die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition zielte folglich „klar auf die Verbesserung der Arbeitnehmer- und Verbraucherrechte“, und es wurde „eine beeindruckende Reihe von Reformgesetzen in die Wege“ geleitet, „die zur konjunkturunabhängigen Ausweitung der staatlichen Ausgaben führten und die öffentlichen Mittel langfristig banden“¹⁷⁵. Gleichzeitig ergriff die Bundesregierung mehrere „Initiativen zum Ausbau der Hochschulen und zur Modernisierung der kommunalen Raum- und Infrastruktur, die ebenfalls zur Erhöhung der staatlichen Ausgaben auf allen Ebenen führten“ und sich „auch in einer regelrechten Einstellungswelle im öffentlichen Dienst nieder[schlugen]“¹⁷⁶. Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund nahm Habermas’ soziologischer Meisterschüler Offe nun den ersten Anlauf zu einer Krisentheorie des Spätkapitalismus, mit deren eigenwilliger Fortentwicklung Habermas kurz darauf „die ökonomische Theorie von Marx durch eine Theorie des Politischen“¹⁷⁷ zu ergänzen, oder besser: gleich zu ersetzen versuchte. Offe glaubte in der überaus ambitionierten Reformpolitik der sozialliberalen Koalition die zentralen Strukturprobleme des kapitalistischen Staates in nuce zu

    

Habermas, Die nachholende Revolution, S. 24 f. Vgl. Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 351 ff. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 122. Ebd. Müller-Doohm, „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, S. 132.

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erkennen. Nach einem achtzehnmonatigen Forschungsaufenthalt in den USA erschien seine bedeutende Aufsatzsammlung 1972 auf dem Höhepunkt der sozialliberalen Reformeuphorie. Offe hatte neue Erkenntnisse im Gepäck, als er an Habermas’ Starnberger Institut wechselte. Seine Grundthese lautete, dass der Staat in fortgeschrittenen westlichen Industriegesellschaften einem Dilemma ausgesetzt war, weil er zwei widersprüchliche Aufgaben zu bewerkstelligen hatte: Einerseits musste er dafür sorgen, den privatkapitalistischen Modus der Wachstumsproduktion, aus dem er letztlich die notwendigen finanziellen Mittel zur Erfüllung seiner wachsenden Staatsaufgaben abschöpfte, weitgehend störungsfrei am Laufen zu halten; andererseits war er dazu verdammt, bei der Bevölkerung im Sinne Max Webers einen Mindestglauben an die Legitimität – man könnte es auch alltagssprachlicher formulieren: an die Gerechtigkeit – der politischen Ordnung bzw. Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums aufrechtzuerhalten. Obwohl folglich auch der reformwillige sozialliberale Staat in der Industriegesellschaft der Logik privater Kapitalverwertung unterworfen war, sah sich Offe Anfang der 70er – wie vor ihm ja bereits Adorno beklagt hatte – mit „einer theoriepolitischen Situation“ innerhalb der Sozialwissenschaften konfrontiert, „in der der Terminus Kapitalismus keine Rolle spielt“¹⁷⁸. Die Selbsttäuschung „der etablierten liberalen Sozialwissenschaft: daß der antagonistische Charakter der kapitalistischen Entwicklung überwunden“ und die gesellschaftskritische Verwendung des Kapitalismusbegriffs infolgedessen obsolet geworden seien, führte er auf eine „Verwechslung der Manifestationsform mit der zugrunde liegenden Entwicklungslogik des Kapitals und des von ihm getragenen und limitierten Institutionensystems“¹⁷⁹ zurück. Anders ausgedrückt: Wenngleich es Anfang der 70er angesichts der gesellschafts- und sozialpolitischen Initiativen der sozialliberalen Koalition danach aussehen konnte, als sei das Zeitalter kapitalistischer Ungleichheit an eine Ende gekommen (der sozialliberale Gerechtigkeitsstaat als

 Der sozialwissenschaftliche Mainstream krankte nach Offe an einer doppelten Verfehlung der weiterhin kapitalistischen Verfasstheit fortgeschrittener westlicher Industriegesellschaften: „Die distinktive Kraft dieses Konzepts [des Kapitalismus] muß daher gegen eine etablierte Forschungspraxis behauptet werden, die die Abstraktionsebene des Kapitalismus-Begriffs in einer von zwei Hinsichten verfehlt. Diese Abstraktionsebene wird entweder unterboten von Studien, deren Untersuchungseinheit ein nationalstaatliches System und seine Geschichte ist; gelegentlich werden dabei allerdings mehrere solcher Systeme unter identischer Fragestellung untersucht und in Vergleich zueinander gesetzt; oder sie wird überschritten in Richtung auf eine ‚Theorie industrieller Gesellschaften‘, die von Differenzen der sozialökonomischen Formation, von der Frage Kapitalismus oder Sozialismus, entweder vollends absieht, oder sich doch nur unter dem Gesichtspunkt ihres Irrelevantwerdens, nämlich konvergenztheoretisch, zur Kenntnis nimmt.“, Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, S. 7.  Ebd. S. 18.

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Erscheinungsform des Kapitalismus), erzeugte die spätkapitalistische Form der Reichtumsproduktion neue Widersprüche, Ungleichheiten, Abhängigkeiten, provozierte weiter Verschwendung, verursachte Zerstörung etc. (unabänderliche Entwicklungslogik des Kapitalismus). Entwicklungslogisch war das Reformgebaren des sozialliberalen Interventionsstaats im Spätkapitalismus laut Offe also nach wie vor durch den Grundwiderspruch einer fortschreitenden Vergesellschaftung der Produktion bei gleichzeitiger privater Aneignung des produzierten Reichtums angetrieben, wobei der Terminus „privat“ eben auf eine „ökonomische[ ] Struktur“ verweise, „in der Gebrauchswerte nur als Begleiterscheinungen von Tauschwerten auftreten; in der gesellschaftlicher Reichtum auf der Erzeugung von Mangel beruht; in der Kapitalakkumulation von der periodischen oder permanenten Kapitalvernichtung begleitet ist, usf.“¹⁸⁰ Geblendet von dem vermeintlich schrankenlosen Wachstumskapitalismus der Nachkriegsjahrzehnte, würden sich die Menschen in der spätkapitalistischen Gegenwart schlichtweg über die Tatsache hinwegtäuschen, dass im Übergang vom liberalen zum organisierten Kapitalismus bloß „eine Reihe von „‚Auffang-Mechanismen‘“ entwickelt worden seien, „mit deren sukzessiver Institutionalisierung die selbstnegatorischen Tendenzen der kapitalistischen Grundstruktur jeweils abgefangen, gepuffert oder umgeleitet, jedenfalls an der krisenhaften Manifestation gehindert worden sind; ihre Funktion ist es, auf diese Weise einen jeweils neuen Überlebensspielraum für das System zu erschließen.“¹⁸¹ Hier spielte Offe vor allem auf den Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, aber auch auf die Formen der Professionalisierung bzw. Verwissenschaftlichung der Politik durch Beratungsstäbe, Gremien und Expertenkommissionen an, auf deren Grundlage die „staatliche Globalregulierung sämtlicher bestandswichtiger Variablen des Systems“¹⁸² erfolge. Für ihn stand Anfang der 70er fest, dass sich die Möglichkeiten der „Selbstperpetuierung des kapitalistischen Systems“ nunmehr „kategorial erschöpft“ hatten – daher rührte auch die Überzeugung, „in einem nicht bloß losen Sprachgebrauch den Begriff Spätkapitalismus“¹⁸³ verwenden zu dürfen. Offe sah die Aufgabe der an das Starnberger Institut abgewanderten Kritischen Theoretiker fortan in der „Analyse der Grenzen und systematischen Unzulänglichkeiten“ jener „selbstkorrektive[n] Mechanismen“ des spätkapitalistischen Staates – also der keynesianischen Globalsteuerung, der

   

Ebd. S. 15. Ebd. S. 21. Ebd. S. 24. Ebd.

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Sozialpolitik, der Bildungspolitik usw. –,“deren Funktion“ es sei, „die selbstnegatorischen Tendenzen des Systems jeweils an kritischen Punkten abzustoppen oder in die Latenz zu verdrängen“¹⁸⁴. Demzufolge war „eine Krisentheorie nur dann überzeugend, wenn sie als eine Theorie über die Grenzen politischen und ökonomischen Krisenmanagements aufträte; und eine Klassentheorie wäre dementsprechend als eine Theorie über das Konfliktpotential anzulegen, das die zersplitternden und pazifizierenden Funktionen des autoritären Wohlfahrtsstaates systematisch nicht unter Kontrolle zu bringen vermögen.“¹⁸⁵ Staatliche Herrschaft blieb nach Offe so lange Klassenherrschaft, wie es ihr gelang, „das Kapital sowohl vor seinen eigenen falschen wie vor einem antikapitalistischen Bewußtsein der Massen in Schutz zu nehmen“¹⁸⁶ Daran habe sich unter der sozialliberalen Koalition nichts geändert. Mehr als dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung seiner Aufsatzsammlung über die Strukturprobleme des kapitalistischen Staates bekannte Offe, sein Optimismus habe jedoch schon in den frühen 70ern nicht so weit gereicht, dass er „die Struktur der kapitalistischen Ökonomie insgesamt als zur politischen Disposition stehend gewähnt hätte“¹⁸⁷. Doch selbst wenn diese späte Erinnerung zutreffen sollte, kehrte bei ihm und Habermas letztlich erst viel später, nämlich gegen Ende des Krisenjahrzehnts der 70er, die große Ernüchterung ein, insbesondere nachdem Habermas’ zwischenzeitliche These einer bevorstehenden Legitimationskrise des spätkapitalistischen Staates vom Lauf der Geschichte überholt worden war. Zunächst hatten die Hoffnungen des neuen Tandems der Starnberger Krisentheorie auf die künftige Verwirklichung des demokratischen Sozialismus durch den sozialliberalen Machtwechsel in Bonn ja durchaus Auftrieb erhalten: Das Ziel einer weitreichenden Demokratisierung der Gesellschaft schien nun selbst im politischen Machtzentrum in Bonn groß geschrieben zu werden. Mit der Politik der Inneren Reformen ging zudem eine massive Ausweitung des öffentlichen Dienstes einher – und damit eines Typus des Beschäftigten, der nicht mehr unmittelbar in kapitalistische Verwertungszwänge verwickelt war und scheinbar größeren Spielraum zur kritischen Reflexion der Verwerfungen spätkapitalistischer Herrschaftssysteme vorfand. Durch diese Entwicklung fühlte sich Habermas überhaupt erst dazu ermutigt, die recht zurückhaltenden Grundannahmen Offes um einen normativen Begriff legitimer demokratischer Herrschaft zu ergänzen, an dem die spätkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse der Bundesrepublik

   

Ebd. S. 25. Ebd. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Veränderte Neuausgabe, S. 104. Offe, „Erneute Lektüre“, S. 191.

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schließlich hätten zerbrechen sollen – wenn auch nicht in einem Sturm revolutionärer Gewalt. Zwar stimmte Habermas Offes Argumentation in dem Punkt zu, dass der massive Aufgabenzuwachs des Staates – ob nun unter Brandt in der Bundesrepublik oder im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Expansionspolitik der Great Society unter US-Präsident Lyndon B. Johnson – die immanenten Krisentendenzen im Spätkapitalismus, insbesondere die von James O’Connor diagnostizierte Finanzkrise des Staates ¹⁸⁸, auf lange Sicht nur weiter verschärfen konnte. Dennoch wertete er das demokratische Wagnis des Idealisten Brandt auch als Indiz eines gewissermaßen irreversiblen moralischen Lernprozesses der bundesrepublikanischen Gesellschaft, der einer – von Offe und seiner Arbeitsgruppe bereits auf dem Frankfurter Soziologentag herbeigesehnten – problemsensiblen professionalisierten Intelligenz im öffentlichen Dienst erst zur Geltung verhalf. Wenn hier die Beschäftigtenzahl immer stärker anwuchs – so der hoffnungsvolle Gedankengang –, musste der egalitaristische Zeitgeist auch in den entscheidenden Politikfragen sukzessive zum Zuge kommen. Habermas glaubte an einen besonderen Marsch durch die Institutionen: den demokratischen Siegeszug des besseren Arguments, der durch die die Reformpolitik der Bundesregierung nur weiter vorangetrieben wurde. Die Zeiten, in denen elitäre Technokraten den politischen Prozess dominierten – ein Politikverständnis, das er seit den frühen 60ern vehement bekämpfte –, gerieten im Zuge der sozialliberalen Reformpolitik scheinbar mehr und mehr ins Hintertreffen. Paradoxerweise rührte Habermas’ Optimismus nicht zuletzt aus der Beobachtung, dass die rein an wissenschaftlich-technischer Rationalität orientierte Politik der keynesianischen Globalsteuerung des Wirtschaftskreislaufs nolens volens irgendwann an ihre Grenzen stoßen musste. Davon erhoffte er sich eine weitere Stärkung der Godesberg-kritischen SPD-Linken innerhalb der Regierung, die mit verschiedenen Formen demokratischer Investitionslenkung liebäugelten. Auf wirtschafts- und finanzpolitischer Ebene hatte die sozialliberale Koalition das „magische Viereck“ aus dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 für ihre Reformoffensive letztlich bewusst außer Kraft gesetzt, um die linke Jugend in die Mitte der parlamentarischen Demokratie zurückzuholen. Dieses Ziel wurde auch deshalb relativ problemlos erreicht, weil mit Brandts Amtszeit die „bis dahin längste konjunkturelle Aufschwungphase in der Geschichte der Bundesrepublik“¹⁸⁹ zusammenfiel. Gleichzeitig hatten die „drei Problembereiche der Globalsteuerung“, also „fehlende außenwirtschaftliche Absicherung, undiszipli-

 O’Connor, Die Finanzkrise des Staates.  Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 344.

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nierte Fiskalpolitik und starker Anstieg der Arbeitnehmereinkommen“, zusammen mittlerweile „den Druck auf den Geldwert“ stark erhöht, so „daß die Inflationsrate von zwei Prozent im Jahr 1969 bis 1971 auf knapp fünf Prozent anstieg und dann 1973 fast sieben Prozent erreichte“¹⁹⁰. Hinter der außen- und deutschlandpolitischen Großdebatte über die neue Ostpolitik, in deren Verlauf die Koalition beinahe zerbrochen wäre, ging dann nahezu unter, dass Schiller im Sommer 1972 von seinem Amt als Superminister für Wirtschaft und Finanzen zurücktrat, nachdem vor ihm bereits Finanzminister Möller abgetreten war. Schiller sah sich in seiner neuen Doppelrolle genauso „außerstande, den Rahmen einer ausgewogenen, finanzwirtschaftlich abgesicherten, reformorientierten Ausgabenpolitik deutlich abzustecken […]“¹⁹¹. Seinen Kabinettskollegen fehlte für eine antizyklische Stabilisierungspolitik – das keynesianische Mittel der Wahl angesichts einer überhitzten Konjunktur – in den frühen 70ern der Wille, weshalb der immer unbeliebtere Schattenkanzler und einstige Star der Koalition schließlich geopfert wurde.¹⁹² In seinem Rücktrittsgesuch an Brandt schrieb Schiller frei von der Leber: Ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die nach außen den Eindruck erweckt, die Regierung lebe nach dem Motto: ‚Nach uns die Sintflut‘. Ich bin auch nicht bereit, dann womöglich noch von einem Amtsnachfolger gleicher oder anderer Couleur in einer neuen Regierung als Hauptschuldner für eine große sogenannte ‚Erblast‘ haftbar gemacht zu

 Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 127.  Baring, Machtwechsel, S. 664.  Schillers Kabinettskollegen stellten sich in der Streitfrage über die Einführung von Schacht’schen Kapitalkontrollen zur Bekämpfung der importierten Inflation bzw. der DollarFlutung der westdeutschen Devisenmärkte geschlossen auf die Seite von Bundesbank-Präsident Karl Klasen. Zuvor hatte Schiller, wie schon im Showdown mit Finanzminister Strauß im Wahlkampf 1969, betont, „Devisenkontrollen seien ihrer Natur nach lückenhaft und daher wirkungslos. Außerdem stelle man mit einem derartigen Genehmigungszwang die Weichen in Richtung auf nationalstaatliche Devisenbewirtschaftungen. Das schädige die Bemühungen um ein Vereintes Europa schwer. Was hier auf Vorschlag der Bundesbank beschlossen werden solle, bedeute den Anfang vom Ende des freien Kapitalmarktes und damit den Verzicht auf eine der für unsere Wirtschaft wirksamsten Errungenschaften der Nachkriegszeit.“, ebd. S. 671. Schiller empfahl demgegenüber eine Aufwertung der D-Mark, die jedoch zu einer Schwächung der bundesrepublikanischen Exportindustrie hätte führen können. Der kollektive kabinettsinterne Vertrauensentzug in dieser Frage, den der Bundeskanzler gegen seinen wichtigsten, aber kabinettsintern immer unbeliebteren Minister mittrug, war letztlich nur eine versteckte Retourkutsche für die von Schiller zuvor im Gestus des Schattenkanzlers und keynesianischen Meisterökonomen arrogant vorgetragene Forderung, seine Kollegen sollten angesichts des aus dem Ruder laufenden Bundeshaushalts doch bitte drastische Einsparungen in ihren Ressorts einleiten.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

201

werden […]. Ein Finanzminister, der monatelang stumm bleiben sollte, wie das viele Kollegen wünschen, weil man in solchen Zeiten nicht von Geld redet, ist von mir nicht darzustellen.¹⁹³

Die „triumphale[ ] Bestätigung der sozialliberalen Koalition [bei der Bundestagswahl im November 1972], die vom Charisma Brandts (‚Willy wählen’) und den Erfolgen in der Ostpolitik profitiert hatte“¹⁹⁴, überspielte folglich nur, dass die sozialliberale Reformpolitik im Prinzip „von Beginn an durch eine kaum aufzulösende Paradoxie geprägt“ war: Sie bewirkte einerseits die kontinuierliche und konjunkturunabhängige Ausdehnung der öffentlichen Haushalte, wodurch sie die Wirksamkeit aller fiskalpolitischen Elemente der Konjunktursteuerung systematisch untergrub. Andererseits fußte sie aber auf der Überzeugung, daß die Globalsteuerung auch künftig jederzeit die Grundlage für eine derart nachhaltige Ausdehnung des ‚Staatskorridors‘ – in Form stabil hoher Wachstumsraten – zu schaffen in der Lage war.¹⁹⁵

Diese Überzeugung sollte sich im Verlauf des Krisenjahrzehnts als falsch erweisen. Als Habermas in Starnberg die Probleme der keynesianischen Globalsteuerung in seiner Studie über die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus verarbeitete, wähnte er sich laut dem Ideenhistoriker Jens Hacke noch „mit fast geschichtsphilosophisch grundierter Sicherheit im festen Bewusstsein, inmitten einer historischen Krise zu stecken“¹⁹⁶. Es handelte sich nach Habermas jedoch nicht in erster Linie um keine ökonomische Krise, sondern – wie der Titel der Studie bereits andeutete – um einen schleichenden Prozess der Erosion der Leitwerte kapitalistischer Modernisierung. Wer Habermas’ „ersten Versuch einer  Schiller zit. nach Baring, Machtwechsel, S. 675.  Hoeres, „Von der ‚Tendenzwende‘ zur ‚geistig-moralischen Wende‘“, S. 95.  Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 123. An anderer Stelle erläutert Schanetzky: „Für die Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Koalition zwischen 1970 und 1973 wurde der ‚Maßnahmenperfektionismus‘ der keynesianischen Feinsteuerung immer mehr zur Belastung, prägte doch die Hektik zahlreicher kurzfristiger Steuerungseingriffe das Bild einer Politik, die zunehmend gehetzt wirkte und kaum noch etwas von der konzeptionellen Eleganz der sechziger Jahre erkennen ließ. Zwischen Januar 1970 und Juni 1972 waren allein 70 konjunktur- und geldpolitische Entscheidungen zu verzeichnen, welche die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen teils erheblich modifizierten. Der von den Keynesianern in den sechziger Jahren erfolgreich erweckte Eindruck einer aktiv steuernden Politik ging über diesem Aktionismus verloren, und die Lage in den drei zentralen Problembereichen der Globalsteuerung spitzte sich von 1970 bis 1973 immer weiter zu: Internationale Währungsturbulenzen, eine dauerhaft expansive Fiskalpolitik und die auf Umverteilung zielende Einkommenspolitik setzten die Wirtschaftspolitiker unter anhaltenden Inflations- und Handlungsdruck und entzogen dem Steuerungsoptimismus damit jede Grundlage.“, ebd. S. 119.  Hacke, „Der Staat in Gefahr“, S. 195.

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umfassenden Gesellschaftstheorie, die neben der Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen Entwicklungen im Gefolge der Studentenbewegung insbesondere von der Beschäftigung mit der Marx’schen Krisentheorie und der Abgrenzung zu Luhmanns Systemtheorie motiviert war“¹⁹⁷, aus einigen Jahrzehnten Abstand noch einmal zur Hand nimmt, stößt hier auch noch auf ein gehöriges Maß an Optimismus. Rückblickend stellt sich dann vor allem die Frage nach den Gründen für Habermas’ Ernüchterung, an deren Ende er das SpätkapitalismusTheorem Mitte der 80er ja tatsächlich, wie Hacke schreibt, „still und leise verabschiedet“¹⁹⁸ hat. Demzufolge zeichneten sich die Legitimationsprobleme noch durch einen zuversichtlichen Theoriegestus aus, von dem in der Theorie des kommunikativen Handelns Anfang der 80er schon nichts mehr zu spüren war. Diese pessimistische Kehre lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass sich das sozialliberale Reformprojekt und das Konzept politischer Planung im Verlauf der 70er erschöpften, ehe sie überhaupt die von Habermas in den Legitimationsproblemen ersehnten Früchte tragen konnten: Statt in ein Zeitalter des demokratischen Sozialismus überzugehen, wurde bald noch der letzte Angestellte im öffentlichen Dienst dazu gezwungen, seine Verfassungstreue unter Beweis zu stellen und – freilich noch später – seine Arbeitskraft als Ware zu verstehen.

2.1.2 Schleichende Ernüchterung: Die Grenzen des Wachstums und das Ende der Planungseuphorie Die Erosion kapitalistischer Werte? Habermas’ Starnberger Illusion Gleichwohl attestiert der Soziologe Wolfgang Streeck der „auf verschiedene Weise marxistisch inspirierte[n] Frankfurter Soziologie“ – man müsste genau genommen von der Starnberger Soziologie sprechen – der frühen 70er rückblickend „einen besseren intuitiven Zugang als andere[n] zu der politischen und ökonomischen Dramatik jener Zeit“¹⁹⁹. Folglich hätten neomarxistisch inspirierte Denker wie Offe und Habermas im Unterschied zum sozialwissenschaftlichen Mainstream immerhin den Versuch unternommen, „die damaligen Verwerfungen, von den Streikwellen von 1968 […] bis zur ersten sogenannten ‚Ölkrise‘, in den größeren historischen Zusammenhang der Entwicklung des modernen Kapitalismus einzuordnen“²⁰⁰. Gleichzeitig verweist Streeck aber auf die Mängel und Grenzen dieser zeitgebundenen Krisentheorie, gegen die er ein eigenes krisen   

Nullmeier, „Spätkapitalismus und Legitimation“, S. 188. Hacke, „Der Staat in Gefahr“, S. 201. Streeck, Gekaufte Zeit, S. 24. Ebd.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

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theoretisches Modell in Stellung bringt, um der neoliberalen Wende seit Mitte der 70er Rechnung zu tragen. Entscheidend ist, dass Streeck seinen krisentheoretischen Stichwortgebern aus den frühen 70ern zwar zugutehält, „die Spannungen und Brüche in der politischen Ökonomie der Zeit neu zu bestimmen versucht“ zu haben, doch nur um im selben Moment zu dem Schluss zu gelangen, dass die tatsächliche Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus „sich ihrem Zugriff“²⁰¹ entzogen habe. Den blinden Fleck des Spätkapitalismus-Theorems à la Habermas und Offe erkennt Streeck folglich in „d[er] damals weit und breit und bis erstaunlich weit nach links herrschende[n] Vorstellung, dass die kapitalistische Ökonomie zu einer technokratisch beherrschbaren Wohlstandsmaschine geworden war, die sich mit Hilfe des keynesianischen Instrumentenkastens in einem geordneten Zusammenspiel von Staaten und Großunternehmen gleichmäßig und krisenfrei in Gang halten ließ“²⁰². Nach Brandts fulminantem Wahlsieg im November 1972, als die SPD mit 45,8 Prozent zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte mehr Stimmen erhielt als die Union, hätte man tatsächlich den Eindruck gewinnen können, der Keynesianismus sei zur Zauberformel eines krisenfreien Wachstumsmodells avanciert, hinter das künftig kein Weg mehr zurückführte. Von ihren ordoliberalen Anfängen kuriert, schien sich die Bundesrepublik unter Brandt nun in ein Mekka sozialer Gleichheit zu verwandeln. Im sozialliberalen Reformgewitter standen die Zeichen der Zeit zudem auf einer demokratischen Daueraktivierung eines zunehmend postmateriell orientierten „Staatsvolks“; an die Möglichkeit des konsequenten Ausscherens eines über enorme Kapitalressourcen verfügenden „Marktvolks“²⁰³ aus dem demokratischen Kapitalismus der Nachkriegszeit wollte in dieser Phase noch niemand denken. Deshalb vertritt Streeck die plausible Ansicht, für Habermas habe auf dem Höhepunkt der Brandt’schen Demokratisierungseuphorie die Schlussfolgerung nahegelegen, „dass die repressive Diszi-

 Ebd.  Weiter heißt es: „Zweifellos spiegelte dies die Erfahrung von zwei Jahrzehnten rapiden und nahezu unterbrochenen wirtschaftlichen Wachstums – und was Deutschland angeht, das Erlebnis der nachträglich kaum als solche zu bezeichnenden Krise von 1966 und ihrer Bewältigung durch die ‚moderne‘, antizyklische Wirtschaftspolitik der Großen Koalition. […] Derselbe ‚Steuerungsoptimismus‘ – ein Wort, das erst in Umlauf kam, als das, was es bezeichnete, schon verschwunden war – herrschte in den Vereinigten Staaten unter Kennedy und Johnson, mit ihren Beraterstäben keynesianisch geschulter und entsprechend interventionsfreudiger Ökonomen. Planung war alles andere als Anathema, und sogar die Möglichkeit einer Konvergenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus war ein legitimes Mittel der politisch-ökonomischen Debatte: Der kapitalistische Markt brauchte mehr Plan, der kommunistische Plan mehr Markt, so konnten sich Kapitalismus und Kommunismus in der Mitte treffen.“, ebd. S. 36.  Vgl. zu dieser durchaus strittigen Unterscheidung ebd. S. 118 ff.

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plin, die der Kapitalismus als soziale Organisation den Menschen abverlangte, und der Zwangscharakter der entfremdeten Lohnarbeit unter den neuen historischen Bedingungen gesicherten Wohlstands nicht mehr auf Dauer durchsetzbar sein würden“²⁰⁴. Später bezeichnete selbst Offe diese in Habermas’ Legitimationsproblemen schließlich in gebündelter Form vorliegende Perspektive als eine „ungemein optimistische Sicht“²⁰⁵, die in dem Wissen um die Effekte der neoliberalen Wende der 80er und 90er nicht länger haltbar sei. In den frühen 70ern standen er und Habermas allerdings noch unter dem Eindruck eines geradezu linear anmutenden Ausbaus des versorgenden Wohlfahrtsstaats und des öffentlichen Dienstes, von dem sie die Freisetzung immer größerer Teile der Bevölkerung vom unmittelbaren Zwang zur Verwertung ihrer eigenen Arbeitskraft erwarteten. Offe war dabei der Erste, der die Legitimationskrise des kapitalistischen Staates nun auch offen prognostizierte: aufgrund eines „quantitativ wachsende[n] und qualitativ nichtintegrierbare[n] Potential[s] nicht-kapitalistischer und nicht einmal nach bloßen Gebrauchswertkriterien produktiver Rollensysteme und Vergesellschaftungsformen, dessen notwendige Exemption vom Arbeits- und Verwertungsprozeß sich gegen ihn wendet“²⁰⁶. Wenn überdies „immer größere Teile der Arbeitskraft“ – so Offes damalige Vermutung im Hinblick auf den wachsenden Anteil von Angestellten im öffentlichen Dienst an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen – „in jene konkreten Bestimmungen [zurückfallen], aus der sie die kapitalistische Freisetzung der ‚freien Lohnarbeit‘ herausgenommen hatte“, drohte die „Erosion jenes legitimatorischen Grundschemas des Äquivalententauschs“²⁰⁷, auf das der kapitalistische Staat in seiner Rolle als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Friedrich Engels) bei seiner selektiven Infrastrukturpolitik stets angewiesen sei. Der starke Anstieg der Staatsausgaben in der Brandt-Ära schien Offes These einer „‚parasitäre[n]‘ Verselbständigung der staatlichen Infrastrukturproduktion“²⁰⁸ zu untermauern. Dabei stellte dieser der in sozialliberalen Kreisen verbreiteten Illusion einer vermeintlich problemlosen sozialstaatlichen Einhegung des Kapitalismus („Sozialstaatsillusion“) die „höchst reelle Möglichkeit“ gegenüber, daß sich die staatlichen Organe der Infrastrukturpolitik um die Erhaltung ihrer (auf politischer Macht beruhenden) Steuerungskapazität willen genötigt sehen, selbst die Intention

    

Ebd. S. 39 f. Offe, „Erneute Lektüre“, S. 191. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, S. 44. Ebd. S. 46. Ebd. S. 56.

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strikt verwertungskomplementärer Produktion von Gebrauchswerten zu verletzen, d. h. Ansprüchen nachzugeben, die lediglich konkurrenz-demokratischen Strategien der Machterhaltung einer Regierungspartei, nicht aber realen ‚Verwertungsbedürfnissen‘ entsprechen.²⁰⁹

Dass die Imperative der politischen Entscheidungsfindung die Verwertungsbedingungen des Kapitals zunehmend unterminierten, war nach Offe vor allem dem „endogen vorangetriebene[n] Auflösungsprozeß“ jener „legitimatorischen Ressourcen“ geschuldet, „von deren Verfügbarkeit das kapitalistische Herrschaftssystem in höchstem Maße abhängt“²¹⁰. Dieser Erosionsprozess sei im sozialliberalen Zeitalter „in den Bereichen und bei den Gruppen am weitesten fortgeschritten […], deren Arbeitskraft aus dem unmittelbaren Verwertungsprozeß herausgefallen und der Form nach als nur gebrauchswertschaffende organisiert ist“²¹¹. Demnach wurden im Spätkapitalismus immer weniger Menschen gebraucht, um Profite zu erwirtschaften, und gingen entweder gar keiner Lohnarbeit mehr nach oder arbeiteten vermehrt beim Staat, wo sie die Kehrseiten einer nach wie vor auf die private Kapitalverwertung ausgerichteten Produktionsweise ausbügeln sollten und sich – so paradox es klingen mag – von der Entfremdung wieder entfremdeten. Habermas ging vor dem Ausbruch der Ölkrise im Herbst 1973 in Anlehnung an Offes Ausführungen fälschlicherweise noch davon aus, dass sich die ideologische Integrationskraft des kapitalistischen Staates in naher Zukunft erschöpfen werde. Freilich hatte er zum Zeitpunkt der Niederschrift der Legitimationsprobleme bereits erkannt, dass man den „über die Zeit verteilte[n] und in seinen sozialen Folgen entschärfte[n] Krisenzyklus“ nach dem Scheitern der keynesianischen Globalsteuerung à la Schiller „durch Inflation und eine Dauerkrise der öffentlichen Finanzen“²¹² erkauft hatte. Vor diesem Hintergrund sah Habermas den kapitalistischen Staat „gleichzeitig vor zwei Aufgaben“ gestellt, deren synchrone Erfüllung ihm zunehmend schwerfalle: „einerseits soll er die erforderliche Steuermasse über die Abschöpfung von Profiten und Einkommen aufbringen und die disponible Steuermasse so rational verwenden, daß krisenhafte Wachstumsstörungen vermieden werden können; andererseits sollen die selektive Aufbringung von Steuern, das erkennbare Prioritätenmuster ihrer Verwendung und die administrativen Leistungen selber so beschaffen sein, daß der entstehende Legitimationsbedarf befriedigt werden kann“. Seine weitergehende Prognose lautete:

   

Ebd. Ebd. S. 62. Ebd. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 88.

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„Wenn der Staat gegenüber der einen Aufgabe versagt, entsteht ein Defizit an administrativer Rationalität; versagt er im Hinblick auf die andere Aufgabe, entsteht ein Legitimationsdefizit.“²¹³ Hier trennte Habermas also bereits zwischen der Möglichkeit eines Rationalitätsdefizits der politisch-administrativen Planung einerseits und eines Legitimationsdefizits des spätkapitalistischen Staates andererseits. Dennoch verwechselte er den kapitalistischen Staat, wie Streeck zu Recht schreibt, trotz der längst ersichtlichen ökonomischen Krisenanfälligkeit des keynesianischen Nachkriegskapitalismus weiterhin mit „einer technokratisch beherrschbaren Wohlstandsmaschine“²¹⁴. Mit der Rückkehr der Ökonomie ist gemeint: Der stets krisenanfällige Kapitalismus gab sich nach dem Ende der trente glorieuses auch wieder als krisenanfällig zu erkennen – just in einer Zeit, in der viele gar nicht mehr damit gerechnet hatten. Die Theorien von Habermas und Offe ließen jedoch darauf schließen, dass im organisierten Spätkapitalismus gerade nicht der Modus kapitalistischen Wirtschaftens an sich, sondern nur der technokratische Modus kapitalistischer Modernisierung endogen politische Krisentendenzen erzeugte. Man könnte es auch so formulieren: Während die kurze Krise von 1967 von der Großen Koalition bewältigt wurde, hat Habermas zwar wieder ein Gefühl für Widersprüche bekommen, aber am Ende doch gedacht, dass man die Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Ökonomie mit politisch-administrativer Steuerung in den Griff bekommen kann. Nur glaubte er, dass technokratische statt demokratischer Steuerung andere Probleme verursacht, eben Legitimitätsprobleme. So war es also zu verstehen, als Habermas im Eröffnungssatz der Legitimationspro Ebd. S. 88 f.  Streeck, Gekaufte Zeit, S. 36. Streecks Kritik ist jedoch ins Fadenkreuz von Jens Borchert und Stephan Lessenich geraten. Borchert und Lessenich halten Streecks Vorwurf einer dem keynesianischen Steuerungsglauben verhafteten Theoriebildung noch am ehesten im Hinblick auf Habermas’ Legitimationsprobleme für gerechtfertigt: „If anything, Streeck’s critique applies to some extent to Jürgen Habermas’ reading of the crisis of the time as a matter of the dwindling „motivational resources“ of capitalism […]. As far as Offe’s critical theory of the capitalist state is concerned, however, all the charges directed by Streeck at the would-be ‚critical theorists’ can easily be rejected: […] Offe certainly did not overestimate the late capitalist state’s administrative capacities, nor did he in any way take the technical governability of the economy for granted. Most obviously, he did not think of political crisis management as ever being able to eliminate systemic crisis tendencies.“, Borchert/Lessenich, Claus Offe and the Critical Theory of the Capitalist State, S. 111. Doch argumentieren Borchert und Lessenich hier bei genauerer Betrachtung selbst ungenau, weil sie verschiedene, zeitlich teils weit auseinanderliegende und bis in die frühen 80er reichenden Aufsätze Offes nachträglich zu einer systematischen kritischen Theorie des kapitalistischen Staates verdichten. Die Abgrenzung Offes von einem optimistischeren Habermas aus den Legitimationsproblemen hinkt dann aber, weil Habermas im Verlauf der 70er selbst pessimistischer geworden ist.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

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bleme die Losung ausgab: „Wer den Ausdruck ‚Spätkapitalismus‘ verwendet, stellt die Hypothese auf, daß auch noch im staatlich geregelten Kapitalismus die gesellschaftlichen Entwicklungen ‚widerspruchsvoll‘ oder krisenhaft verlaufen.“²¹⁵ Demnach fühlte er sich auch dazu berufen, im Zuge seiner kommunikationstheoretischen Wende eine über den vermeintlich orthodoxen Marxismus hinausweisende, zeitgemäße Krisendiagnose vorzulegen, die jenen Besonderheiten des späten bzw. organisierten Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerecht werden sollte, die Marx im 19. Jahrhundert noch nicht hatte voraussehen können. Tatsächlich lief Habermas der historischen Entwicklung in seiner Argumentation aber längst hinterher. Sein Ziel lautete, „[d]en dogmengeschichtlichen Erläuterungen der Marx’schen Krisentheorie keine weitere hinzufügen, sondern einen sozialwissenschaftlich brauchbaren Krisenbegriff systematisch einführen“.²¹⁶ Diese Spitze richtete sich gegen marxistische Krisentheoretiker wie den seit 1970 in Belgien lehrenden Ökonom Ernest Mandel, die dem Kapitalismus selbst nach dem Übergang von seiner liberalen zu seiner organisierten Erscheinungsform ein weitaus höheres Maß an Kontinuität attestierten, als es Denkern wie Habermas und Offe lieb war. In seiner Analyse der westdeutschen Rezession von 1966/67 hatte Mandel geschrieben: Der wichtigste Unterschied zwischen dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts oder jenem der Weimarer Zeit und dem heutigen Spätkapitalismus in der BRD besteht nicht darin, daß sich die von Marx aufgedeckten Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise oder der bürgerlichen Gesellschaft entscheidend geändert hätten. Er besteht darin, daß die Arbeiter und Angestellten das Bewußtsein von ihrer Ausbeutung zu einem bedeutenden Teil verloren haben; daß also zur objektiven Entfremdung im Arbeits- und Lebensprozeß (Betrieb, Konsum, Freizeit) nun eine Entfremdung in der Sphäre des Bewußtseins getreten ist; daß der Arbeiter von dem Bewußtsein seiner Entfremdung entfremdet wurde. […] In diesem Entfremdungsprozeß spielt aber gerade die Legende der ‚krisenfesten Marktwirtschaft‘, der Fähigkeit des Systems, seine wirtschaftlichen Widersprüche weitgehend zu überwinden, eine bedeutende Rolle.²¹⁷

Offe hatte sich in der westdeutschen „Staatsableitungsdebatte“ jedoch bereits von orthodoxen Krisentheoretikern wie Elmar Altvater oder Joachim Hirsch abgegrenzt, indem er im Anschluss an die frühe Systemtheorie Niklas Luhmanns dem soziokulturellen und politischen Teilsystem der Gesellschaft eine wachsende Bedeutung bei der „Bearbeitung der Folgeprobleme der von Tauschprozessen

 Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 9.  Ebd. S. 11.  Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise, S. 6.

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bestimmten Akkumulation“²¹⁸ attestierte. Auch Habermas stellte der Fortgeltung des marxistischen Wertgesetzes „die These des Bruches mit der rein ökonomischen Logik zugunsten der politischen Affizierung der gesamten Produktionsverhältnisse gegenüber“²¹⁹. Allerdings ergänzte er Offes Annahme von der relativen Eigenständigkeit des politischen und soziokulturellen Teilsystems der Gesellschaft im Spätkapitalismus um die normative Pointe einer sozialevolutionären „Logik der Lebenswelt, deren Strukturen durch sprachlich erzeugte Intersubjektivität bestimmt sind und auf kritisierbaren Geltungsansprüchen beruhen“²²⁰. Immerhin kann man Habermas zugutehalten, dass er sich von Anbeginn dagegen verwahrte, seine „Klärung von Hypothesenstrukturen sehr allgemeiner Art mit empirischen Ergebnissen“²²¹ zu verwechseln. Auch wenn das Unterfangen, die Krisentheorie des Spätkapitalismus durch die Integration systemtheoretischer und entwicklungspsychologischer Elemente über die „Verabsolutierung der werttheoretischen Begriffsstrategie“²²² hinauszutreiben, in der Krise der langen 70er falsifiziert wurde, hatte er damals also auch „Konstellationen“ für möglich gehalten, „in denen das [keynesianische] Krisenmanagement folgenreich versagt“. Nur könne man „das Eintreten solcher Konstellationen“ eben „nicht mehr systematisch voraussagen“²²³. Um es überspitzt zu formulieren, hoffte Habermas vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise der 70er auf die kontinuierliche Fortsetzung einer mit dem sozialliberalen Machtwechsel eingesetzten Entwicklung, in der die günstigen ökonomischen Bedingungen der trente glorieuses politisch dazu genutzt werden

 Offe, „Krisen des Krisenmanagement“, S. 210.  Nullmeier, „Spätkapitalismus und Legitimation“, S. 193.  Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 27.  Ebd. S. 7.  Ebd. S. 76.  Ebd. S. 129. Eine gewisse Nähe zu Poppers Theorieverständnis, von dem Habermas im Positivismusstreit in der ersten Hälfte der 60er noch meilenweit entfernt war, konnte dieser Position nun nicht mehr abgesprochen werden. Zwar blieb Habermas nach seinem Wechsel nach Starnberg zunächst ein historisch-materialistischer Denker, der dem kontingenten Wandel der kapitalistischen Produktionsweise ja allein durch die Verwendung des Spätkapitalismusbegriffs Rechnung zu tragen versuchte. Gleichzeitig kehrte im Zuge seiner kommunikationstheoretischen Wende jedoch eine zunehmend abstrakte, fast schon ahistorische Theoriesprache in sein Denken ein, deren Verwendung – und das gilt im Kreise der soziologischen Großtheoretiker für Habermas wahrscheinlich noch am wenigsten – stets mit der misslichen Neigung korrespondiert, die Wirklichkeit in ein begriffliches Korsett zu zwängen. Dazu passt auch der Hinweis Streecks auf eine der „weniger erfreulichen Erinnerungen an meine Frankfurter Studienzeit […], dass Vorlesungen und Seminare sich, jedenfalls für meinen Geschmack, zu sehr mit ‚Ansätzen‘ und zu wenig mit dem befassten, was mit deren Hilfe erforscht werden sollte“, Streeck, Gekaufte Zeit, S. 16.

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sollten, einem postmateriellen Wertewandel²²⁴ zum Durchbruch zu verhelfen und der Deutungshoheit ordnungsliebender Spießbürger, die in der frühen Bundesrepublik noch den Ton angegeben hatten, den Garaus zu machen. Die vom Club of Rome 1972 angestoßene Debatte über Die Grenzen des Wachstums ²²⁵, in deren Folge „die herrschende neoklassische Wachstumstheorie intensiver zugunsten eines neuen Wachstums- und damit Fortschrittsverständnis hinterfragt“²²⁶ wurde, nahm auch in Habermas’ Denken einen breiten Raum ein, zumal der Siegeszug der qualitativen Wachstumskritik einen atmosphärischen Wandel innerhalb der sozialdemokratischen Regierungspartei bewirkt hatte.²²⁷ Folglich konnten spätkapitalistische Gesellschaften den evidenten ökologischen, anthropologischen und geopolitischen „Imperativen der Wachstumsbegrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips“ – der profitablen Selbstverwertung des Kapitals – „nicht folgen, weil die Umstellung vom naturwüchsigen kapitalistischen Wachstum auf qualitatives Wachstum eine gebrauchswertorientierte [und keine – wie weiterhin im Spätkapitalismus – tauschwertorientierte; M.H.] Planung der Produktion“²²⁸ verlange. Die These vom Ende der Wachstumsgesellschaft wurde laut Habermas vor allem dadurch erhärtet, dass eine weitere „Expansion der Staatstätigkeit die Nebenfolge einer überproportionalen Steigerung des Legitimationsbedarfs“²²⁹ in einer für die Kehrseiten kapitalistischen Wachstums sensiblen Bevölkerung mit sich bringe. So ziehe „die administrative Planung“ des politischen Prozesses unaufhörlich „nicht-intendierte Beunruhigungs- und Veröffent-

 Vgl. Inglehart, The Silent Revolution.  Vgl. Meadows, Die Grenzen des Wachstums.  Seefried, „Bruch im Fortschrittsverständnis?“, S. 436.  Wachstumskritiker wie Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler nahmen nun zumindest in der Öffentlichkeit eine prominentere Rolle ein. Offe hatte diese innerparteiliche Machtverschiebung, die einem vorübergehenden Rückzugsgefecht der Godesberger Marktwirtschaftler entsprach, bereits als weiteres Signum eines immer stärker in Bedrängnis geratenen spätkapitalistischen Staates gedeutet: „Solange staatliche Wachstumspolitik sich darauf beschränken konnte, materielle Voraussetzungen und verstetigende Steuerungsleistungen für ökonomisches Wachstum bereitzustellen, blieb der Konkretisierungsgrad einer solchen Politik relativ gering. Jedenfalls hat es die Wachstumspolitik vermocht, die Interessen von Einzelkapitalien mit gesamtwirtschaftlichen Imperativen und diese wiederum mit den institutionalisierten Interessen des Wählerpublikums verträglich zu machen; sobald aber – wie progressive Technokraten [à la Erhard Eppler – M.H.] es aufgrund destruktiver Folgewirkungen des ökonomischen Wachstums für erforderlich zu halten beginnen – der Konkretionsgrad staatlicher Politik plötzlich ansteigt, d. h. sobald nicht mehr nur quantitative, sondern auch qualitative Kriterien für wirtschaftliches Wachstum durchgesetzt werden müssen, versagt die einheitsstiftende Kraft der Wachstumsstrategie […].“, Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, S. 36 f.  Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 63.  Ebd. S. 100.

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lichungseffekte“ nach sich, „die das Rechtfertigungspotential der aus ihrer Naturwüchsigkeit aufgescheuchten Traditionen schwächen“. Durch diese permanente „Aufstörung kultureller Selbstverständlichkeiten“ komme es zu einer „Politisierung von Lebensbereichen, die bis dahin der Privatsphäre zugeschlagen werden konnten“²³⁰. Ein Ende des bis zu diesem Zeitpunkt „über die Strukturen der Öffentlichkeit informell gesicherten staatsbürgerlichen Privatismus“²³¹ sei folglich absehbar. Mehr noch als auf dem Höhepunkt der Studentenproteste glaubte Habermas Anfang der 70er, dass eine Legitimationskrise des spätkapitalistischen Staates in Form einer Motivationskrise großer Teile der Bevölkerung bevorstand, die sich aus einer „Diskrepanz zwischen dem Bedarf an Motiven, die der Staat, das Ausbildungs- und das Beschäftigungssystem anmelden, einerseits und dem Motivationsangebot von seiten des soziokulturellen Systems andererseits“²³² ergebe. Um seine These von der Erosion des „staatsbürgerlichen“ bzw. „familial-beruflichen Privatismus“²³³ – der zentralen motivationalen Grundlage zur Aufrechterhaltung der spätkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse – zu plausibilisieren, entwickelte der Linkshegelianer eine intelligente, wenn auch voreilige Formel, indem er schrieb: „Kapitalistische Gesellschaften waren stets von kulturellen Randbedingungen abhängig, die sie nicht aus sich selbst reproduzieren konnten: sie zehrten vom Traditionsbestand parasitär.“²³⁴ Einerseits verlieh Habermas damit seiner Überzeugung Ausdruck, dass der „vorbürgerliche Traditionsbestand, in den der staatsbürgerliche und familial-berufliche Privatismus eingebettet“²³⁵ seien – ein traditionalistisches Staatsverständnis, ein patriarchales Familienmodell und ein protestantisches Arbeitsethos – seine handlungsleitende Kraft im Spätkapitalismus bereits irreversibel eingebüßt habe.

 Ebd. S. 102.  Ebd.  Ebd. S. 105.  Zur Begriffsdefinition: „Staatsbürgerlicher Privatismus soll heißen: Interesse an den Steuerungs- und Versorgungsleistungen des administrativen Systems bei geringer, aber den institutionell vorgesehenen Chancen angemessener Beteiligung am legitimatorischen Prozeß (hohe Output- vs. geringe Input-Orientierung). Der staatsbürgerliche Privatismus entspricht also den Strukturen einer entpolitisierten Öffentlichkeit. Der familial-berufliche Privatismus verhält sich zum staatsbürgerlichen komplementär; er besteht in einer Familienorientierung mit ausgebildeten Konsum- und Freizeitinteressen einerseits und andererseits in einer dem Statuswettbewerb angemessenen Karriereorientierung. Dieser Privatismus entspricht mithin den Strukturen eines über Leistungskonkurrenz geregelten Ausbildungs- und Beschäftigungssystems.“, ebd. S. 106.  Ebd. S. 107.  Ebd. S. 111.

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Beflügelt durch den massiven personellen Zulauf der Brandt’schen SPD, die in dieser Zeit zur „Partei der kritischen Jugend“²³⁶ wurde, glaubte er andererseits beobachten zu können, dass selbst „die Kernbestandteile der bürgerlichen Ideologie wie Besitzindividualismus und Leistungsorientierung durch Veränderungen der Sozialstruktur untergraben werden“²³⁷ und „die Grundüberzeugungen der kommunikativen Ethik und die Erfahrungskomplexe der Gegenkulturen […] für typische Sozialisationsprozesse in einigen Straten heute schon bestimmend sind, also motivbildende Kraft haben“²³⁸. Nach Habermas bestanden die „definitiven Schranken der Legitimationsbeschaffung“ für die Politik in den frühen 70ern folglich in jenen „unnachgiebige[n] normative[n] Strukturen, die das ökonomisch-politische System nicht länger mit ideologischen Ressourcen versorgen, sondern mit Überforderungen konfrontieren“²³⁹. Seiner kühnen Prognose zufolge ließ sich eine Legitimationskrise „auf die Dauer nur vermeiden, wenn entweder die latenten Klassenstrukturen des Spätkapitalismus umgeformt werden oder wenn der Legitimationszwang, unter dem das administrative System steht, beseitigt wird“²⁴⁰. Demokratischer Sozialismus oder autoritäre Technokratie – das waren die beiden Pole, die Habermas am Horizont sah. Die Hoffnungen auf eine evolutionäre Überwindung des Spätkapitalismus²⁴¹ lösten sich in einem Jahrzehnt allerdings in Luft, oder mit den Worten Streecks: in „gekaufte Zeit“ auf. Bereits Mitte der 70er setzte in den politischen Ökonomien westlicher Industrie- bzw. Dienstleistungsgesellschaften eine monetaristische und angebotspolitische Revolution ein, eine Umstellung der politischen Handlungslogik von rationaler, langfristiger Planung auf gegenwarts- und krisenbezogenes muddling through, in deren Folge der Kapitalismus in seine nächste, diesmal womöglich tatsächlich seine späte Phase eintrat, wenn man unter dem Adjektiv „spät“ die von Offe bereits im Hinblick auf den keynesianischen Steuerungsstaat der frühen 70er postulierte kategoriale Erschöpfung seiner Mittel versteht, ökonomische Krisen aufzuschieben.²⁴²

 Baring, Machtwechsel, S. 90.  Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 111.  Ebd. S. 125.  Ebd. S. 130.  Ebd.  Optimistisch stimmte ihn dabei in Anlehnung an die Entwicklungspsychologie Lawrence Kohlbergs bereits ein „kollektiv erreichter Stand des moralischen Bewußtseins“, der „sowenig vergessen werden“ könne „wie ein kollektiv erarbeitetes Wissen – was Regression nicht ausschließt“, ebd. S. 28.  Für Habermas dürfte es rückblickend nur ein schwacher Trost sein, dass er mit seiner zweischneidigen Prognose am Ende doch insofern Recht behalten sollte, als der Legitimationszwang, unter dem der spätkapitalistische Staat im Zeitalter der Stagflation ab der zweiten Hälfte

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Diese Renaissance des Marktprinzips in Bereichen, in denen der Staat vormals exklusive Steuerungskompetenzen beansprucht hatte, setzte im Windschatten der Rezession nach der ersten Ölkrise ein. Komplementär dazu verlor die Idee des demokratischen Sozialismus an Boden. Lange bevor die sozialistischen Planwirtschaften des Ostens implodierten, stieß das Konzept einer breit angelegten politischen Planung vor allem im kapitalistischen Westen an ihre Grenzen, nachdem es in der Bundesrepublik gerade erst mit Beginn der Brandt-Ära Blüten getrieben hatte. Doch noch vor dem Rücktritt des Kanzlers im Mai 1974 war es schon grandios gescheitert. Im Vergleich zur Amtszeit Kiesingers, der letztlich „nur in wenigen Fällen auf die Expertisen seines ‚Gehirntrusts‘ [zurückgegriffen] und […] es [vorgezogen hatte], im Bedarfsfall Einzelgespräche mit Wissenschaftlern seines Vertrauens zu führen, die nicht dem Planungsstab angehörten“²⁴³, erreichte die Planungseuphorie unter Brandts erstem Kanzleramtschef Horst Ehmke ihren absoluten Höhepunkt, als die Planungsstelle im Kanzleramt zu einer ganzen Planungsabteilung unter der Leitung des Ökonomen Reimut Jochimsen ausgebaut wurde: „Planung und Reformpolitik fielen im Verständnis Ehmkes und Jochimsens in eins, und ohne ein modernes Planungsinstrumentarium konnte man, so ihre Überzeugung, gar nicht daran denken, konkrete Reformen vorzubereiten und umzusetzen.“²⁴⁴ In der Folge erhöhten sich Reichweite, Interdependenz, Objektbezug und Zeithorizont des Planungsansatzes um ein Vielfaches.²⁴⁵ Faktisch ließ sich der Gedanke, „durch vorausschauendes Handeln Zonen gesellschaftlicher Stabilität und Sicherheit zu erzeugen“, schon als Reaktion auf eine als krisenhaft wahrgenommene Beschleunigung der Zeiterfahrung verstehen, als Versuch der Modernisierungsbewältigung durch Verstetigung der erwünschten Modernisierungsfolgen (wie etwa der wirtschaftlichen Prosperität) und vorweggenommener Begrenzung bzw. Vermeidung unerwünschter Modernisierungswirkungen, für die Umweltprobleme und der Anfang der siebziger Jahre stark thematisierte Gegensatz zwischen individuellem Reichtum und öffentlicher Armut als Beispiel dienen können. Das Vertrauen sozialdemokratischer Planer in die langfristige Problemlösungsfähigkeit des Planungsdenkens blieb freilich – zumindest bis zum Ölpreisschock – von kritischen Gegenwartsdiagnosen unberührt, ihre Zukunftsprognose basierte, gerade in den Anfangsjahren der Sozialliberalen Koalition, ganz überwiegend auf dem Glauben an die Gestaltbarkeit künftiger Verhältnisse durch wissenschaftlich angeleitetes Handeln.²⁴⁶

der 70er vor allem in den USA und Großbritannien zu zerbersten drohte, im Verlauf der neoliberalen Wende der 80er und 90er tatsächlich auch beseitigt wurde.  Süß, „‚Wer aber denkt für das Ganze?‘“, S. 355.  Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 368.  Vgl. Süß, „‚Wer aber denkt für das Ganze?‘“, S. 361 ff.  Ebd. S. 363 f.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

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Durch die erfolgreiche Krisenpolitik der Großen Koalition in der Rezession von 1966/67 war der Planungsidee „auch in Westdeutschland schlagartig zum Durchbruch verholfen“ worden; ab Beginn der zweiten Amtszeit Brandts „machte [ihr] das Gespenst der ‚Stagflation‘“ allerdings „ebenso rasch den Garaus“²⁴⁷. Es lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass Habermas „den Beginn eines Hegemoniewandels in der kapitalistischen Weltwirtschaft […] weg von der staatlichen Steuerung […] hin zu größerer Autonomie des Marktgeschehens“²⁴⁸ auch deshalb regelrecht zu verschlafen drohte, weil er die Grenzen demokratischer politischer Planung nicht zu akzeptieren bereit war. Anders ausgedrückt: Im Prinzip vertraute er weiter blind auf die Segnungen politischer Planung, obwohl die ambitionierte Reformpolitik der sozialliberalen Koalition wohl gerade auch aufgrund ihres Planungsüberschusses wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Am Ende ihrer ersten Legislaturperiode „war der Planungswille der Bundesregierung erlahmt“²⁴⁹; Ehmke und Jochimsen wurden aus dem Kanzleramt entfernt. Die „Ernüchterung hinsichtlich der Möglichkeiten einer zentralen Koordination von Gesetzesvorhaben durch den Ausbau des Kanzleramtes zur Superbehörde“ und „die offenkundigen Probleme bei den Verwaltungs- und Gebietsreformen sowie die sichtbar werdenden Grenzen einer Steuerung der Wirtschaftsund Finanzpolitik“ hatten den Planungs- und Steuerungsoptimisten vor Augen geführt, „dass die parteiübergreifend wirksame Planungseuphorie der 1960erJahre als heute naiv anmutender Machbarkeitswahn im Zenit und vor dem Auslaufen des langen Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit an ihr Ende gelangt war“²⁵⁰. Gegen einen sich immer deutlicher wandelnden Zeitgeist war Habermas aber der Meinung, die ambitionierten politikplanerischen Reformvorhaben der sozialliberalen Koalition seien nur aufgrund ihres technokratischen Implementationsmodus gescheitert. Pointiert zusammengefasst: Politische Planung als

 Ruck, „Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie“, S. 394.  Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 893.  Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 372.  Schildt, „‚Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten‘“, S. 458 f. Mit den Worten Ulrich Herberts: „[D]ie staatliche Planung der Wirtschaft erwies sich hier wie da als Fehlschlag. Politik konnte sich hinfort offenbar nicht mehr auf die Vermehrung, Verbesserung, Beschleunigung des Bestehenden allein konzentrieren. Ein Großteil der jetzt anstehenden Probleme war nicht länger Ausdruck der um die Jahrtausendwende im Zuge der Durchsetzung der Industriegesellschaft entstandenen Herausforderungen, sondern vielmehr Folge oder Nebenwirkung der darauf reagierenden Lösungen. Versteht man unter der ‚Hochmoderne‘ die in den dreißig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg beginnende Phase der dominanten Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der klassischen Industriegesellschaft auf der Suche nach dem ihr angemessenen politischen und sozialen Ordnungssystem, so neigte sie sich nun offenbar ihrem Ende entgegen.“, Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, S. 903.

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solche war aus seiner Sicht nicht das Problem, sondern musste künftig stärker als bisher an diskursive Verfahren demokratischer Willensbildung angeschlossen werden. Anders als SPD-nahe Sozialwissenschaftler wie Renate Mayntz oder Fritz W. Scharpf, die in ihrer Arbeit für die bereits von Kiesinger eingesetzte und später „sang- und klanglos aufgelöst[e]“²⁵¹ Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform auf die praktischen Schwierigkeiten und Grenzen politischer Planung gestoßen waren²⁵², neigte Habermas in den frühen 70ern noch immer zu der optimistischen „Annahme, daß nicht jeder Inkrementalismus, also der Typus einer auf mittelfristige Horizonte beschränkten und für externe Anstöße sensiblen Planung, eo ipso die Rationalitätsdefizite einer überforderten Verwaltung spiegelt“²⁵³. Denn in der Regel ließen sich, so seine Überzeugung, immer nur „die Rationalitätsschranken eines Vermeidungshandelns ins Feld führen, das die Kompromißfähigkeit von Interessen abtasten muß, ohne zuvor die Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Interessen zur Diskussion stellen zu können“²⁵⁴. Doch in einer Zeit, in der es die Bevölkerung infolge der Ölkrise mit der Angst zu tun bekam, war für die sozialliberalen Entscheidungsträger gar nicht mehr daran denken, in langwierigen demokratischen Diskursen noch über die „Verallgemeinerungsfähigkeit“ ihrer Politik zu sinnieren. Spätestens im Krisenjahr 1974 begann sich auch im „Rheinischen Kapitalismus“²⁵⁵ der Bundesrepublik „das allgemeine Bewusstsein“ durchzusetzen, „dass es sich beim wirtschaftlichen Wachstum entgegen dem vorherigen Optimismus doch um ein vergängliches, an bestimmte historische Bedingungen gebundenes Phänomen handelte und die Zeit des ‚Wirtschaftswunders‘ definitiv vorbei war: So gesehen begriff sich jene Zeit für viele Zeitgenossen durch den Blick zurück, nicht durch die Vorausschau.“²⁵⁶ Der damit einhergehende „tiefe volkswirtschaftliche, gesellschaftliche und politisch-kulturelle Einschnitt“ manifestierte sich auch in der „Auswechslung des sozialdemokratischen ‚Visionärs‘ Willy Brandt durch den ‚Pragmatiker‘ Helmut Schmidt“²⁵⁷ im Palais Schaumburg. Schmidt verkörperte einen dem Krisenzeitalter angemessenen, an Poppers peace meal engineering orientierten Politikstil²⁵⁸,

 Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 386.  Vgl. Mayntz/Scharpf (Hrsg.), Planungsorganisation; Scharpf, Planung als politischer Prozeß.  Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 93.  Ebd. S. 93 f.  Vgl. zu den unterschiedlichen Modellen des Kapitalismus Hall/Soskice, Varieties of Capitalism.  Radkau, Geschichte der Zukunft, S. 318.  Schildt, „‚Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten‘“, S. 449.  Ruck, „Der kurze Sommer der konkreten Utopie“, S. 401.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

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der mit den Leitbegriffen „Realismus, Nüchternheit, Stabilität, Sicherheit“²⁵⁹ auf den Punkt gebracht werden kann.²⁶⁰ Ihm ging es nicht länger darum, „seit Jahrzehnten verfolgte Ziele mit visionärem Schwung zu erreichen, sondern auf unvorhergesehene und neue Herausforderungen kurzfristig und angemessen zu reagieren“²⁶¹. Schon Schmidts erste Regierungserklärung ließ „erkennen, dass staatliche Akteure seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ihren Handlungsspielraum“ immer stärker zu begrenzen bereit waren, „indem umfassende politische Planungen nicht mehr unternommen bzw. in leichter überschaubare sektorale Planungen heruntergebrochen wurden, mit denen sich große Gesellschaftsentwürfe nicht mehr verbanden und die keine überfrachteten Erwartungen aus der Gesellschaft an staatliches Handeln mehr generierten“²⁶². Oder mit den maliziösen Worten des Konservativen Schelsky: „Konsolidierung der Experimente, das ist die Aufgabe der Stunde.“²⁶³ Bevor er Brandt im Kanzleramt ablöste, verstand sich Schmidt schon in seiner kurzen Zeit als Finanzminister nur noch „als Krisenmanager, nicht als Neuerer der Wirtschaftspolitik“, der „die Instrumente des Stabilitätsgesetzes pragmatisch und selektiv“ einsetzte: „Seine wirtschaftspolitische Philosophie unterschied sich somit fundamental von Schillers Globalsteuerung, welche wissenschaftliche Aufklärung, Wirtschaftsprognose und politische Planung miteinander verband.“²⁶⁴ Hatte Schiller noch daran geglaubt, Krisen durch ein von ihm maß-

 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 930.  Zu diesem Paradigmenwechsel erhellend Wolfgang Lorig: „Die sich ausweitenden Zweifel an der Effizienz administrativ initiierter Gesellschaftspolitik, die aus der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung resultierenden Finanznöte für die öffentlichen Haushalte und die äußerst kontroversen Auseinandersetzungen um Extremismus und Terrorismus lassen die ursprünglich anspruchsvollen reformistischen Bemühungen der Koalition in eine pragmatische Politik übergehen. Mit der Ernennung von Helmut Schmidt zum Bundeskanzler im Jahre 1974 und dem anschließenden personellen Revirement verdrängt eine Politik des ‚muddling through‘ die bisherige Reformpolitik.“, Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 22.  Ebd. S. 933.  Metzler, „Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren?“, S. 253.  Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, S. 125.  Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 348. Schmidt, der als ausgabenfreudiger Verteidigungsminister im ersten Kabinett Brandt noch selbst eifrig an der Demontage Schillers mitgewirkt hatte, übernahm nach dem Rücktritt des gefallenen Stars der sozialliberalen Koalition für kurze Zeit dessen Doppelministerium für Wirtschaft und Finanzen, bevor er sich nach der Bundestagswahl ein kompetenzerweitertes Finanzministerium sicherte, um seinem Kollegen Hans Friderichs von der FDP ein abgespecktes Wirtschaftsministerium zu überlassen. Dass der machtpolitisch äußerst versierte neue Schattenkanzler der sozialliberalen Koalition das Haushalts- und Sparministerium dem mit der Konjunkturpolitik betrauten Wirtschaftsministerium vorzog, kann

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geblich mitentwickeltes wissenschaftliches Frühwarnsystem präventiv den Stachel ziehen zu können, deutete Schmidt die mangelnde Steuerbarkeit und zunehmende Krisenanfälligkeit des globalen Kapitalismus in den 70ern als Zeichen eines immer enger werdenden Handlungsspielraums der Politik in einer globalisierten politischen Ökonomie, aus dem es reaktiv das Beste zu machen galt. Seine „Abneigung gegenüber ausgedehnten Theoriedebatten war teilweise ein Reflex auf die politischen Angriffe der Außerparlamentarischen Opposition und des linken Parteiflügels der SPD. Doch auch die wissenschaftlichen Modelle der Ökonomen und Sozialwissenschaftler […] schienen ihm viel zu abstrakt, um im politischen Tagesgeschäft bestehen zu können.“²⁶⁵ Wichtig ist, dass sich während Schmidts Kanzlerschaft auch ein tiefgreifender Wandel in der wirtschaftspolitischen Semantik ereignete, durch den „der Keynesianismus und damit das wirtschaftspolitische Handlungsmodell der sechziger Jahre endgültig verabschiedet und durch ein angebotspolitisches Konzept ersetzt [wurde], das die Wissensproduktion der wirtschaftspolitischen Beratung inhaltlich bis heute dominiert“²⁶⁶. Zumindest im Hinblick auf die monetaristische Geldmengentheorie des Chicagoer Ökonomen Milton Friedman wurde der neoliberale bzw. -konservative Paradigmenwechsel in der Bundesrepublik sogar noch früher in praktische Politik umgesetzt als in Großbritannien und den USA, den intellektuellen Vorreiterstaaten dieser Entwicklung.²⁶⁷ In der Bundesrepublik war

rückblickend als früher Vorbote auf eine Krisenpolitik gelten, in der das Sparen zwar nicht faktisch, aber so doch immerhin rhetorisch in den Rang eines Fetischs erhoben wurde.  Ebd. S. 347.  Schnanetzky, Die große Ernüchterung, S. 162. „Die Ölpreiskrise hatte die Globalsteuerung in ein grundsätzliches strategisches Dilemma gestürzt: Auf die Gefahren steigender Arbeitslosigkeit und konjunktureller Abkühlung wäre an sich mit einer expansiven Fiskalpolitik zu reagieren gewesen. Dies verbot sich jedoch angesichts der hohen Preissteigerungen. Ein striktes Beibehalten des restriktiven, auf Stabilität gerichteten Kurses des Jahres 1973 schied jedoch ebenso aus, da dies die Krise prozyklisch zu verschärfen drohte und auf jeden Fall mit steigender Arbeitslosigkeit verbunden sein mußte, ja am Ende in die Stagflation münden konnte – stagnierendes oder sinkendes Wirtschaftswachstum bei hoher Geldentwertung. Die Politik der Globalsteuerung befand sich damit in einem paradoxen Zielkonflikt: Die Lage erforderte Lockerung und Verschärfung zugleich […].“, ebd. S. 166.  Während die Labour-Regierung unter Premierminister Jim Callaghan noch bis zur Währungskrise von 1976, als Schatzkanzler Denis Healey beim Internationalen Währungsfonds Finanzhilfen von 3,8 Milliarden US-Dollar beantragen musste, und die USA sogar noch bis zur Ernennung des monetaristischen Hardliners Paul Volcker zum Notenbankpräsidenten durch den demokratischen US-Präsidenten Jimmy Carter im August 1979 an der Strategie festhielten, durch Inflation Zeit zu kaufen und „den sich abzeichnenden Verteilungskonflikt zwischen Arbeit und Kapital“ durch „Einbringung zusätzlicher Ressourcen zu entschärfen, die allerdings nur als Geld und nicht, oder noch nicht, real zur Verfügung standen“ (Streeck, Gekaufte Zeit, S. 62),

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man folglich früher dazu bereit, dem Schreckgespenst der Inflation mit monetaristischen Mitteln – und unter Inkaufnahme einer Stabilisierungskrise mit steigender Arbeitslosigkeit – zu Leibe zu rücken.²⁶⁸

Im Herzen der Konfliktgesellschaft: Dahrendorfs Londoner Bauchlandung Genau genommen handelte es sich bei der „widersprüchlichen“ Wirtschafts- und Finanzpolitik der sozialliberalen Koalition unter Schmidt in letzter Konsequenz dann aber doch um ein technokratisches Durchwursteln, das sich durch „eine irritierende Zerrissenheit zwischen Angebotspolitik und Keynesianismus“ auszeichnete: Auf der einen Seite agierte die Fiskalpolitik weiterhin antizyklisch, wurden noch zahlreiche Konjunkturprogramme aufgelegt. Auf der anderen Seite zielten schon seit 1975 zahlreiche Gesetze auf die Angebotsseite der Wirtschaft, vor allem über Abschreibungserleichterungen und Investitionszulagen. Seit 1977 trugen zudem die Konjunkturprogramme klar angebotspolitische Züge: Sie zielten immer weniger auf die Gesamtnachfrage, sondern verbanden Investitionsanreize mit strukturpolitischen Initiativen.²⁶⁹

schwenkten der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage, die unabhängige Bundesbank und die zuständigen Fachminister für Finanzen (Helmut Schmidt) und Wirtschaft (Hans Friederichs) nach der Freigabe des Dollar-Wechselkurses der D-Mark bereits im ersten Halbjahr 1973, also noch in der Brandt-Ära, auf einen restriktiven Kurs der Geldmengenbegrenzung um, Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 138 f.  Allerdings hatte diese Selbstverpflichtung auf eine harte Währung gleichermaßen den Effekt, dass in der Bundesrepublik auch die Sozialausgaben und mit diesen die Staatsverschuldung früher als anderswo in die Höhe schossen. Diesen Zusammenhang erklärt Streeck in Anknüpfung an eine Studie Fritz J. Scharpfs aus den frühen 90ern wie folgt: „Am wenigsten inflationär war die Gelpolitik in Deutschland mit einem faktisch hochzentralisierten Lohnverhandlungssystem und einer von der Regierung unabhängigen Zentralbank [durch das Bundesbankgesetz von 1957 – M.H.], die schon Mitte der 1970er Jahre die spätere monetaristische Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten und Großbritanniens vorwegnahm […]. Trotz oder grade wegen dieser Ausgangssituation konnte Helmut Schmidt den Wahlkampf von 1976 mit der Parole ‚Lieber fünf Prozent Inflation statt fünf Prozent Arbeitslosigkeit‘ führen. Als Ausgleich für die hohe Geldwertstabilität begann allerdings die Staatsverschuldung in Deutschland früher als anderswo […]. Die unabhängige Bundesbank, die der Bundesregierung den Zugriff auf die Geldmenge verwehrte und sie so indirekt dazu zwang, zur Erhaltung der Beschäftigung und zur Verhinderung eines Legitimationsverlustes sowohl der staatlichen Politik als auch der Marktwirtschaft fiskalpolitische Instrumente einzusetzen, wurde in den kommenden Jahren zum Vorbild für die Zentralbanken der anderen europäischen Länder, einschließlich Frankreichs unter Mitterand, und später für die EZB.“, Streeck, Gekaufte Zeit, S. 103 f., Fn. 37.  Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 211 f.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Genauso wenig, wie er dem keynesianischen Planungseifer seines Hamburger Lehrers Schiller nacheiferte, wollte und konnte sich Schmidt in der bundesrepublikanischen Politikverflechtungsfalle²⁷⁰ zu einer den starken Staat in Dienst nehmenden neoliberalen Totaloffensive à la Thatcher²⁷¹ durchringen. Wie der ehemalige Chefredakteur des SPIEGEL Wolfgang Kaden in seinem Nachruf auf den Altkanzler im November 2015 treffend schrieb, war auch Schmidt in dieser Hinsicht ein viel zu sehr von den Wirtschaftswunderjahren geprägter, „tief wachstumsgläubig[er] Ökonom“²⁷² geblieben, der in der Konjunkturpolitik, die er als Kanzler zur Chefsache machte, weiterhin das Mittel zur (Wieder‐)Herstellung der Vollbeschäftigung erkennen wollte. Auch in seiner Ära zeigte sich folglich das Grunddilemma der antizyklischen Politik, wonach es einer Regierung stets leichter fällt, „in Zeiten geringer Nachfrage die Staatsausgaben auszuweiten, als in Zeiten der Übernachfrage die Ausgaben zu kürzen“²⁷³. Dennoch schien sich das Durchwursteln des „Weltökonomen“ in der zweiten Hälfte der 70er zunächst recht gut zu bewähren. Besonders im Vergleich zu den „an der ‚englischen Krankheit‘ laborierenden Briten“, die mit „Arbeitslosigkeit und Inflation, Staatsverschuldung und ernste[n] Zahlungsbilanzprobleme[n]“ zu kämpfen hatten und unter dem „mangelnde[n] gesellschaftliche[n] Konsens“ litten, „der in zahllosen schweren Arbeitskämpfen zum Ausdruck kam“, erschien die Bundesrepublik „als Hort der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stabilität“²⁷⁴. Schmidt wusste dieses Bild während des Wahlkampfs im Aufschwungsjahr 1976 gegen seinen in wirtschaftspolitischen Fragen vergleichsweise unmusikalischen Herausforderer Helmut Kohl erfolgreich für sich zu nutzen: Das ‚Modell Deutschland‘ verwies […] auf die Erfolge der sozialliberalen Wirtschaftspolitik und ihre Ursachen. Diese lagen demnach in der Entfaltung der produktiven Kräfte des Kapitals in den geordneten Bahnen eines Wohlfahrtsstaates, der die Risiken der freien Marktwirtschaft absicherte und der auf der Kooperation zwischen Staat, Arbeitnehmern und Arbeitgebern basierte. In diesem Sinne verstanden die Sozialdemokraten das ‚Modell Deutschland‘ tatsächlich als weltweit richtungsweisendes ‚Erfolgsmodell‘.²⁷⁵

Als der Krisenmanager und wirtschaftspolitische Grenzgänger Schmidt das Modell des westdeutschen Korporatismus wieder auf Vordermann brachte, wechselte

     

Vgl. Scharpf/Reissert/Schnabel, Politikverflechtung. Vgl. dazu Gamble, The Free Economy and the Strong State. Kaden, „Unser Weltökonom“. Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 349. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 213. Ebd.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

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der glücklose FDP-Politiker Dahrendorf mit einer „durchwachsenen Brüsseler Bilanz“ und in der tiefen „Ernüchterung über die Handlungsmöglichkeiten in der praktischen Politik“²⁷⁶ als neuer Rektor an die LSE, wo er sich fortan dem Wissenschaftsmanagement verschrieb und auch wieder vermehrt in seine Rolle als öffentlicher Intellektueller schlüpfte. Sein vorheriges Scheitern in der Bonner Bundes- und anschließend in der Brüsseler Europapolitik war laut Matthias Micus, der Dahrendorfs „rasanten Aufstieg und jähen Fall“ in der Politik überzeugend nachzeichnet, „fundamental“²⁷⁷. Als Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Walter Scheel hatte Dahrendorf nach wenigen Monaten „Anzeichen für Ermüdung, Unzufriedenheit und Resignation erkennen“ lassen; sein „Hang zu überraschenden Alleingängen und unbequemen Stellungnahmen [kollidierte] mit dem Erfordernis von Disziplin“²⁷⁸. Ohne Hausmacht in der eigenen Partei und trotz seiner relativ schwachen Position in der Bundesregierung machte er sich koalitionsübergreifend im Eiltempo Feinde, indem er höherrangige Kabinettsmitglieder wie Wissenschaftsminister Leussink und Kanzleramtsminister Ehmke für deren vermeintlich nicht weit genug reichende hochschulpolitische Reforminitiativen attackierte.²⁷⁹ Nach seiner undiplomatischen öffentlichen Kritik an der Bremswirkung US-amerikanischer Außenpolitik für die ostpolitischen Initiativen der sozialliberalen Koalition war Dahrendorf „im Frühjahr 1970 politisch isoliert“²⁸⁰. Auch nach seinem abrupten Wechsel in die Brüsseler EG-Kommission als Außenhandelskommissar erwiesen sich die bürokratischen Mühlen einer Großorganisation als „Quelle seiner Unzufriedenheit, auch seines Leidens an der gouvernementalen Tätigkeit, letztlich: seiner zunehmend irrationalen Ausbruchsversuche“²⁸¹. Seinem utopischen Liberalismus und Wettbewerbsrepublikanismus geschuldet, war Dahrendorf mit der naiven Vorstellung in die Berufspolitik gewechselt, er könne sein radikales Reformverständnis aus der Zeit als wissenschaftlicher Politikberater in dem noch relativ unbestellten Feld der Bildungsund Hochschulpolitik der 60er nun eins zu eins auf alle politischen Fragen übertragen. Doch hätte er an der verschleppten Fertigstellung der Reformuniversität Konstanz, in deren Gründungsausschuss er von Anbeginn saß, längst erkennen können, auf welche Hindernisse beherzte Reforminitiativen selbst auf dem Höhepunkt der Planungseuphorie stießen. Wie Micus präzisiert, verkannte

     

Meifort, „Der Wunsch nach Wirkung“, S. 204. Micus, Tribunen, Solisten, Visionäre, S. 164. Ebd. S. 201. Vgl. ebd. 202 f. Ebd. S. 203. Ebd. S. 205.

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Dahrendorf in Brüssel „die Schwerfälligkeit politischer Gremien, die Schwäche der Kommission im europäischen Institutionengeflecht und die Reformwiderstände durch andere politische Akteure, kurzum: die Determinationskraft politischer Realitäten“²⁸². Sein „realitätsfremde[s] Politikverständnis“²⁸³ kulminierte schließlich in einer unter dem Pseudonym „Wieland Europa“ in der ZEIT veröffentlichten „Kritik, die an den Wurzeln der europäischen Institutionen ansetzte, ihre Zukunftsfähigkeit grundsätzlich in Zweifel zog und insofern radikal bzw. maßlos ausfiel“²⁸⁴ – eine Affäre, die ihn nicht nur innerhalb der Kommission, sondern noch weiter in der bundesdeutschen Politik isolierte. Nach seiner Degradierung zum Forschungskommissar zog Dahrendorf schließlich die Reißleine, nahm das Angebot der LSE dankend an und kehrte der Berufspolitik nach nur wenigen Jahren den Rücken. Dieser karrierebiografischen Desillusionierung folgte zudem ein intellektueller Ernüchterungsprozess, nachdem Dahrendorf erkannt hatte, dass sein angelsächsischer Wettbewerbsrepublikanismus in der Krise des westlichen Wachstumskapitalismus utopisch anmutete. Kurz vor Dahrendorfs Ankunft in London war die Regierung des konservativen Premierministers Edward Heath Anfang 1974 bereits nach weniger als vier Jahren gescheitert. Die Labour-Partei des alten und neuen Regierungschefs Harold Wilson verfügte im Unterhaus dennoch über keine eigene Mehrheit. Nach den Februarwahlen betrug der Vorsprung auf die Tories im Unterhaus nur vier Sitze, während die Liberals und die Scottish National Party (SNP) ihren Sitzanteil deutlich erhöht hatten. Auch die von Wilson ausgerufene Neuwahl im Oktober brachte keine klareren Verhältnisse. Dieses parlamentarische Patt war ein deutliches Zeichen für den Vertrauensverlust der Briten in die politischen Problemlösungskapazitäten ihres Westminster-Liberalismus, nachdem sich die beiden großen Parteien in den vorangehenden Jahren an der Reformierung des zersplitterten und ineffektiven britischen Korporatismus gleichermaßen die Zähne ausgebissen hatten. Dahrendorf musste erkennen, dass er seinen Lebensmittelpunkt ins Zentrum eines empire in decline ²⁸⁵ verlegt hatte, das im Prinzip seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinem wirtschaftlichen und politischen Abstieg haderte und im langen Krisenjahrzehnt der 70er von politischem Dauerzwist, ökonomischer Malaise und infrastruktureller Lähmung heimgesucht wurde. In London konnte er die Nachteile des Westminster-Liberalismus nun aus nächster Nähe beobachten.  Ebd. S. 211.  Ebd. S. 212.  Ebd. S. 212 f.  Zur ideengeschichtlichen Rekonstruktion dieses Denkmotivs in Großbritannien vgl. Hausteiner, Greater than Rome.

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Hatte er den Deutschen in den 60ern noch mit der angelsächsischen Brille deren Konsenssehnsucht und mangelnden Willen zur Verwirklichung des Marktprinzips vorgehalten, erlebte er im heartland der konfliktiven liberalen Demokratie nun eine „Dekade der Dauerkrise und des zähen Ringens zwischen Gewerkschaften und Regierung um Löhne und Reformen“²⁸⁶, die ihn skeptischer werden ließ.²⁸⁷ Großbritannien wurde vom Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretten Woods und den Auswirkungen der Ölkrise viel stärker in Mitleidenschaft gezogen als die Bundesrepublik, deren Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 70er wieder „um durchschnittlich fast vier Prozent [wuchs]“²⁸⁸. Das Problem bestand darin, dass sich alle britischen Regierungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs in dem Dilemma wiederfanden, einem mittlerweile völlig überzogenen Selbstverständnis Großbritanniens als imperiale Großmacht bzw. den daraus erwachsenden finanziellen Verpflichtungen gerecht werden und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der im internationalen Maßstab strauchelnden heimischen Industrie verbessern zu müssen. Dass dieser Spagat gründlich misslang, verdeutlichten die notorisch wiederkehrenden Defizite in der britischen Zahlungsbilanz. In den krisenhaften 70ern verschlechterten sich die britischen terms of trade schließlich dramatisch: Es wurde zu viel importiert und gleichzeitig zu wenig exportiert, um die stockende Konjunktur während der Wirtschaftskrise am Laufen zu halten.²⁸⁹

 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 896.  Etwa zeitgleich mit Dahrendorfs Wechsel an die LSE entsandte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer als Kulturkorrespondenten nach London. Bohrer bringt die Krisenstimmung im England der 70er in seiner Autobiographie Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie rückblickend anschaulich auf den Begriff, ohne sich dabei eines gewissen Hangs zur neokonservativen Mythenbildung erwehren zu können: „Die altersschwachen Fabriken, die schrumpfende industrielle Produktion, die unrationellen Arbeitsmethoden, die archaische Struktur der Gewerkschaften, das fast vollkommen fehlende Verständnis englischer Manager für ausländische Marktbedürfnisse, ihre Tendenz, im Ausland, nicht im Inland zu investieren – das waren die Gründe für den Tiefstand der britischen Wirtschaft seit Mitte der Siebzigerjahre. […] Es fiel auf, dass Wörter wie ‚Effizienz‘ und ‚Plan‘ in englischen Ohren Unwörter blieben. Wohl auch weil sie mit dem Ideal des ‚Gentleman‘ nicht zu verknüpfen waren. Dieses Ideal beruhte auf der Lässigkeit des Nichtfachmanns. Chefs kamen noch immer nicht vor 10 Uhr in ihr Büro und saßen um 12 Uhr schon wieder bei einem ausgedehnten geselligen Lunch.“, Bohrer, Jetzt, S. 189 f.  Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 897.  Als Teil des Problems der heimischen Industrie, die in den boomenden 50ern der europäischen Konkurrenz bereits hinterherhinkte, erwies sich auch die traditionelle Eigenständigkeit der britischen Finanzwirtschaft, die seit Beginn der Industrialisierung vorwiegend außerhalb Englands nach Anlage- und Investitionsmöglichkeiten hatte suchen müssen, weil die britische Industrie während der Pax Britannica exklusiven Zugang zu den Weltmärkten besessen und einer

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Die staatliche Planungs- und Steuerungseuphorie hatte in Großbritannien einen vorübergehenden Höhepunkt erreicht, als die Labour-Partei 1964 nach dreizehn qualvollen Oppositionsjahren an die Macht zurückgekehrt war und der damals neue Premierminister Wilson einen politischen Umbruch auf der Grund-

investiven Flankierung durch die Finanzwirtschaft deshalb nicht bedurft hatte. Zur Abwicklung ihrer internationalen, von der heimischen Industrie mehr oder weniger abgekoppelten Geschäfte ist die britische Finanzwirtschaft seit jeher an einer herausgehobenen Stellung der City of London als internationalem Finanztransaktionsplatz und an einer starken und stabilen Währung, ja letztlich an einer Überbewertung des Pfunds interessiert. Dieses Ziel stand jedoch früh mit expansiven staatlichen Investitions- und Planungsprogrammen in Widerspruch, weil die Währung in deren Folge tendenziell entwertet werden muss. Anders als in der Bundesrepublik, wo Staat, Großbanken und die Tarifpartner seit der Währungsreform von 1948 in der „Deutschland-AG“ an einem Strang zogen, um die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Industrie auf internationaler Ebene auch durch Lohnzurückhaltung zu erhöhen, bildete die Finanzwirtschaft in Großbritannien – der institutionelle Machtkomplex aus Treasury, Bank of England und City – seit Kriegsende ein ideologisches Bollwerk gegen die umfassende staatliche Neukoordinierung der fragmentierten industriellen Beziehungen, derer die britische Wirtschaft dringend bedurft hätte. Der vermeintliche postwar consensus zwischen den konservativen Tories und der Labour-Partei nahm folglich auch eher die Form einer planlosen „continual oscillation in government strategy between Keynesian expansion and liberal retreat“ an: „an oscillation which seriously hampered the ability of successive governments to learn how to deal effectively with Britain’s accelerating economic decline“, Kerr, Postwar British Politics, S. 123. Nach dem Ausbau des britischen Wohlfahrtsstaats und der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien wie Telekommunikation, Transport, Kohle, Gas und Stahl schwenkte demnach bereits die erste britische Nachkriegsregierung unter Labour-Premierminister Clement Atlee Ende der 40er auf einen kontraktiven bzw. klassisch-liberalen Kurs der Staatsausgabenbegrenzung zur Inflationskontrolle ein, der von den konservativen Nachfolgeregierungen unter Winston Churchill, Anthony Eden und Harold Macmillan fortgesetzt wurde und wohl nur deshalb kein größeres Aufsehen erregte, weil in dieser Zeit der Welthandel und mit ihm auch die britische Wirtschaft boomten. Erst gegen Ende der 50er entschloss sich die konservative Macmillan-Regierung wieder zu einem vorsichtigen Ausbau des Wohlfahrtsstaats bei gleichzeitiger Reduzierung des aufgeblähten Verteidigungsetats und anschließend zu einer moderaten Erhöhung des allgemeinen Niveaus der Staatsausgaben, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage anzukurbeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte in der Öffentlichkeit die Debatte über die relative Schwäche der britischen Wirtschaft bereits Fahrt aufgenommen. Man fürchtete, künftig den Anschluss an das dirigistische Frankreich, die Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik, überhaupt an die schlagkräftige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu verlieren. Zwar wuchs die eigene Ökonomie mittlerweile schneller als auf dem Höhepunkt des Viktorianischen Zeitalters, aber die anderen wuchsen eben noch schneller, was für die selbstbewussten Briten eine äußerst schmerzhafte Erkenntnis darstellen musste. Im Vergleich mit den anderen europäischen Nationen schien der Geist des Manchester-Kapitalismus Großbritannien ein regelrechtes Planungsdefizit eingehaucht zu haben, das der Wettbewerbsfähigkeit seiner Industrie auf Dauer im Weg stand, vgl. Brüggemeier, Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert, S. 259 f.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

223

lage einer wissenschaftlichen Revolution versprach.²⁹⁰ Die Parallelen zum technokratischen Planungseifer und Wissenschaftsglauben, die von den bundesrepublikanischen Sozialdemokraten, ob nun in Gestalt ihres wirtschafts- und finanzpolitischen Vordenkers Karl Schiller oder des Kanzleramtschefs Horst Ehmke, vor sich her getragen wurden, stechen ins Auge. Doch anders als in der Bundesrepublik, wo etwa Schillers moderater Einsatz des neuen keynesianischen Instrumentenkastens in der Wirtschaftskrise von 1966/67 zumindest mit schnellen Erfolgen assoziiert wurde, verpufften der Reformeifer und die ambitionierten neokorporatistischen Initiativen der Wilson-Regierung in Großbritannien Ende der 60er nahezu wirkungslos. Deshalb leitete der Premierminister bereits in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit eine politische Kehrtwende ein, in deren Folge seine Regierung „dismantled its strategy of expansionism in favour of a more concerted attempt to prioritise inflation, this time by focusing upon restrictions on wage increases and reducing trade union power“²⁹¹. Dieser scheiternde Versuch einer stärkeren einkommenspolitischen Kontrolle der aus dem Ruder laufenden Inflation wurde der einst mit großen Vorschusslorbeeren angetretenen ersten Wilson-Regierung schließlich jedoch zum Verhängnis. Während sich der linke Flügel innerhalb der Labour-Partei daraufhin radikalisierte, hatten die Tories in der Opposition ihr marktliberales Profil geschärft.

 Vgl. dazu auch Séville, ‚There is no alternative‘, S. 98 ff. Dabei hatte der konservative Premierministier Macmillan bereits ein halbes Jahrzehnt, bevor die Große Koalition in Bonn die Konzertierte Aktion ins Leben rief und das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verabschiedete, in Großbritannien die Initiative ergriffen und den National Economic Development Council (NEDC oder Neddy) geschaffen, ein auf lokaler Ebene in mehrere little neddies verzweigtes politisches Steuerungsgremium aus Staat, Gewerkschaften und Industrie „that would enable them to plan for industrial growth while keeping a tight control on inflation“, Kerr, Postwar British Politics, S. 102. Um die britische Industrie zu modernisieren und das Wirtschaftswachstum auf das Niveau der europäischen Konkurrenz zu heben, wurde unter Wilson ein Department of Economic Affairs (DEA) gegründet und mit der Aufgabe betraut, einen nationalen Wirtschaftsplan auszuarbeiten und gegen die erwartbaren Widerstände aus der Treasury durchzusetzen, während gleichzeitig ein ebenfalls neugeschaffenes Technologieministerium den Einsatz von Forschungs- und Entwicklungsgeldern zur Förderung von profitablen High-Tech-Industrien steuern sollte.  Ebd. S. 106 f., vgl. dazu auch Brüggemeier, Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert, S. 262. Nirgendwo sonst zeigte sich deutlicher, dass die historische Pfadabhängigkeit der politischen Ökonomie eines ehemaligen Imperiums in Krisenzeiten eine massive Bürde darstellen kann. Die Schließung des Suez-Kanals infolge des Sechstagekriegs zwischen Israel und Ägypten traf die britische Exportwirtschaft besonders hart; verschlimmert wurde die Lage noch durch Unruhen in Rhodesien und Nigeria sowie die Weigerung des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, Großbritannien die Aufnahme in die EWG zu gewähren, was der britischen Industrie als Alternative zu ihren schwächelnden postimperialen Absatzmärkten den Zugang zum dynamischen europäischen Markt erleichtert hätte.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Nach ihrem knappen Wahlsieg im Sommer 1970 legte die konservative HeathRegierung ein bereits in Ansätzen neoliberales Regierungsprogramm auf, dessen Inhalt aber noch darin bestand, viele der staatsinterventionistischen Reformen der Vorgängerregierung zurücknehmen.²⁹² Abgesehen von den enormen weltwirtschaftlichen Turbulenzen, von denen die Heath-Regierung auf kaltem Fuß erwischt wurde, fiel ihr marktliberales Kartenhaus anschließend auch deshalb wieder in sich zusammen, weil der Premierminister eben kein neoliberaler Hardliner, sondern allenfalls ein skrupulöser Vorbote Thatchers war. Heath gehörte in der Tradition Harold Macmillans letztlich noch zu der aussterbenden Riege progressiver One Nation-Tories, die weiterhin an die Steuerungsfähigkeit des britischen Staates bzw. an den Führungsanspruch einer aufgeklärten technokratischen Steuerungselite glaubten.²⁹³ Als Schicksal seiner Regierung erwies sich folglich, dass sie „promoted elements of both the old and the new worlds and was trapped uneasily as one paradigm [keynesianism] was beginning to lose its hold, but the other model [neoliberalism] had yet to secure intellectual credibility or popular backing“²⁹⁴. Nach dem Ausbruch der Ölkrise beging Heath Ende 1973

 Vgl. Gamble, The Free Economy and the Strong State, S. 82.  Stedman Jones, Masters of the Universe, S. 231. Zur Einordnung Heaths im innerparteilichen Spektrum der Tories schreibt Anthony Seldon: „Heath was never a believer in laissez-faire, but was a traditional Tory who saw the state as an essential deliverer of economic and social policy.“, Seldon, „The Heath Government in History“, S. 13 f.  Ebd. S. 1. Neokonservative Scharfmacher wie Enoch Powell, der später zusammen mit Thatcher den marktradikalen Think Tank Center for Policy Studies (CPS) gründete, hatten Heath bereits in seiner Rolle als Oppositionsführer innerparteilich vor sich her getrieben. Das Resultat war ein im Ton äußerst radikales Aktionspapier, das auf der Konferenz des konservativen Schattenkabinetts im Selsdon Park Hotel im Januar 1970 zirkulierte und seinen Weg in die Presse fand. Letztlich handelte es sich dabei vor allem um die überspitzte Rhetorik einer Oppositionspartei, die sich profilieren und von der Labour-Regierung absetzen musste, um in der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen zu werden. Nach seinem Einzug in Downing Street No. 10 galt der Premierminister bei den marktradikalen Scharfmachern in der eigenen Partei bald als Umfaller, weil er sein angebotspolitisches Reformpaket innerhalb kürzester Zeit durch „eine regulative Einkommenspolitik und einen wirtschaftlichen Interventionismus“ ersetzt hatte, „der der LabourPolitik in nichts nachstand“, Séville, ‚There is no alternative‘, S. 104. Die Verstaatlichung von Rolls-Royce und der schottischen Werften der Upper Clyde Shipbuilders mochten dem marktradikalen Flügel der Tories aus der Warte der ökonomischen Vernunft vielleicht gerade noch einleuchten. Für dieses Abrücken vom wirtschaftsliberalen Wahlprogramm gab es gute Gründe, weil es sich bei Rolls-Royce um „ein leistungsfähiges und technologisch führendes Unternehmen [vor allem bei der Herstellung von Triebwerken für Flugzeuge – M.H.]“ handelte, „das nur aufgrund besonderer Fehlentwicklungen in eine vorübergehende Finanzkrise geraten war“, während „die Werften zwar eine Dauerkrise [erlebten], […] aber weiterhin Aufträge [erhielten] und […] eine vorübergehende Unterstützung [benötigten], um den bereits stattfindenden Anpassungsprozess erfolgreich fortzusetzen. Es sprach also in beiden Fällen wenig dafür, Eingriffe des Staates in die

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

225

den folgenschweren Fehler, im Kampf gegen die Inflation den politischen Showdown mit der mächtigsten britischen Gewerkschaft, der National Union of Mineworkers (NMU), zu suchen. Der erneute Streik der britischen Bergarbeiter, die sich angesichts des industriellen Strukturwandels in einer schwachen Verhandlungsposition befanden und durch die Einkommenspolitik der Regierung massive reale Lohneinbußen fürchteten, fiel in eine Zeit, in der sich der Ölpreis innerhalb kürzester Zeit bereits vervierfacht hatte, und nahm schließlich derart bedrohliche Ausmaße an, dass Anfang 1974 aufgrund des absehbaren Kohlemangels eine veritable Energiekrise drohte. In Industrie und öffentlichem Dienst musste zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren die Dreitagewoche eingeführt werden, damit in Großbritannien im wahrsten Sinne des Wortes nicht die Lichter ausgingen. Aus den von Heath demonstrativ unter die Schicksalsfrage Who governs? gestellten Parlamentswahlen gingen die Tories im Februar 1974 als gedemütigte Verlierer hervor und hinterließen der Labour-Partei ein ökonomisches und innenpolitisches Schlachtfeld.²⁹⁵ Nach der erneuten Regierungsbildung unter Wilson kam es auch zu einer Polarisierung des politischen Spektrums in Großbritannien: Bei den Tories hatte der neokonservative und marktradikale Parteiflügel um Margaret Thatcher in der Opposition ab Mitte der 70er eindeutig die Führung übernommen²⁹⁶, während in der regierenden Labour-Partei die Pragmatiker um Außenminister Anthony Crosland, Premierminister Wilson und seinen Nachfolger James Callaghan von der Parteilinken um den Industrie- und später Energieminister Tony Benn stark unter Druck gesetzt wurden. Auf ihren Parteitagen schrieb sich Labour in dieser Zeit sogar eine alternative Wirtschaftsstrategie auf die Fahnen, deren Umsetzung dem Mutterland des Liberalismus den Weg in den Sozialismus geebnet hätte. Während die Tories unter ihrer neuen Parteichefin Thatcher, die ihren Vorgänger Heath 1975 in einer Kampfabstimmung vom Thron gestoßen hatte, zu einer

Wirtschaft aus Prinzipientreue abzulehnen […].“, Brüggemeier, Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert, S. 264. Doch dass ihre Regierung mit dem Industrial Act von 1972 schon nach den ersten ernsteren Streikwellen der Bergarbeiter zu einer aktiven Industriepolitik der Lohn- und Preisabsprachen mit den Gewerkschaften zurückkehrte – und damit den Industrial Relations Act von 1971, ein marktliberales Reformgesetz zur Beschneidung der Gewerkschaften, Makulatur werden ließ –, brachte das Fass zum Überlaufen. Den letzten Beweis für den politischen U-turn der Heath-Regierung lieferte das ausgiebige deficit spending des neuen Schatzkanzlers Anthony Barber ab Ende 1972, das zu keiner langfristigen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der britischen Industrie, sondern nur in eine kurzfristige, importgetriebene Überhitzung der Konjunktur („Barber-Boom“) mündete, vgl. Seldon, „The Heath Government in History“, S. 7.  Zu den Gründen für das Scheitern der Heath-Regierung vgl. auch Gamble, The Free Economy and the Strong State, S. 87 f.  Vgl. dazu Geppert, Thatchers konservative Revolution.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Selbstreinigung ansetzten, um noch den letzten keynesianischen Rest aus ihren Reihen zu tilgen, setzte sich Wilson in einer schwierigen ökonomischen Ausgangslage²⁹⁷ ein weiteres Mal an die Regierungsspitze, um einen mit den Gewerkschaften ausgehandelten Sozialvertrag (Social Contract) umzusetzen. Es nimmt kein Wunder, dass Dahrendorf seine einst so optimistische liberale Konflikttheorie angesichts dieser politikökonomischen Turbulenzen einer Revision unterzog. Als neuer Rektor der LSE erhielt er kurz nach seinem Amtsantritt die Möglichkeit, die renommierten Reith-Lectures zu halten, in denen er den Freiheitsbegriff neu zu bestimmen versuchte. Er mahnte an, „daß wir unsere Währung ändern müssen, wenn wir die großen Probleme des Tages in liberaler Weise lösen wollen“²⁹⁸, und entwarf ein Zukunftsszenario, in dem die „bewegende Kraft der politischen Ökonomie der Freiheit […] nicht mehr Ausweitung, Expansion, sondern Besserung“ sei und „qualitative an Stelle quantitativer Entwicklung“²⁹⁹ trete. Mit der Umstellung seines Modells des sozialen Wandels von der „Expansions-“ auf die „Meliorationsgesellschaft“ reagierte er ebenfalls auf die anhaltende Debatte über die Grenzen des Wachstums, die in Verbindung mit der weltweiten Rezession nach der Ölkrise verstärkt Fragen nach der Lebensqualität im Zeitalter nach dem Boom aufwarfen: Expansion hat es mit Quantität zu tun, mit einer Organisation der Gesellschaft, die das ständige Anwachsen von Produktion und Nachfrage, Einkommen und Ausgaben, menschlichen Bedürfnissen und Mitteln zu ihrer Befriedigung möglich macht. Melioration hat es mit Qualität zu tun. Diese beginnt mit kleinen Dingen, die nichtsdestoweniger nicht zu verachten sind, weil sie die Qualität unseres Lebens verbessern.³⁰⁰

Dahrendorfs begriffliche Trennung zwischen „Problemen des Überlebens“ und „Problemen der Gerechtigkeit“³⁰¹ – in gewisser Hinsicht eine Analogie zu Habermas’ späterer Unterscheidung zwischen der materiellen und symbolischen Reproduktion der Lebenswelt in der Theorie des kommunikativen Handelns – sollte der veränderten Herausforderung Rechnung tragen, dass wir „sozusagen nicht mehr aus unseren Problemen herauswachsen, sondern […] statt dessen mit ihnen fertig werden müssen“.³⁰² Dass Großbritannien in besonderem Maße von der Stagflation geplagt wurde, erklärte er recht unspezifisch mit Fehlentscheidungen in der britischen Nachkriegspolitik: „Man hat sich auf Umverteilung konzentriert,

     

Vgl. dazu Tomlinson, „Economic policy“, S. 56. Dahrendorf, Die neue Freiheit, S. 21. Ebd. S. 27. Ebd. S. 89. Ebd. S. 71. Ebd. S. 70.

2.1 Die Rückkehr der Ökonomie

227

als die beispiellosen Expansionschancen der Nachkriegszeit entstanden, und man hat Expansion gesucht, als die vorherrschende Stimmung eine der Umverteilung und der Inflation geworden war.“³⁰³ Grundsätzlich traf seine Intuition aber zu, als er mit Seitenblick auf die in ökonomischer Hinsicht robustere Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik fragte, ob es mittlerweile „nicht in Großbritannien einen Modernitätsrückstand“³⁰⁴ gebe. Diese Vermutung wurde seit der zunehmenden Finanzialisierung der globalen politischen Ökonomie durch wiederholte Spekulationsattacken auf das britische Pfund genährt, die 1976 zu einer Währungskrise und der drohenden Zahlungsunfähigkeit Großbritanniens führten. Nach einem kabinettsinternen Machtkampf musste Wilson den Stab in dieser heiklen Phase an seinen Konkurrenten James Callaghan weiterreichen. Die Arbeitslosigkeit hatte sich in der Zwischenzeit mehr als verdoppelt, und die Inflationsrate hatte im Sommer 1975 beinahe die Marke von dreißig Prozent erreicht. Die Malaise der britischen Ökonomie schien auf Dauer gestellt, Großbritannien in einen Zustand der Unregierbarkeit eingetreten, aus dem weder die eine noch die andere Partei einen Ausweg fand.³⁰⁵ Offensichtlich ging der pragmatische Politikwechsel, den Schatzkanzler Denis Healey mit der wirtschaftspolitischen Preisgabe der Vollbeschäftigung angekündigt hatte,³⁰⁶ den Finanzmärkten noch nicht weit genug. Um deren Vertrauen in die britische Währung wiederherzustellen, mussten Callaghan und Healey den Gang nach Canossa antreten und beim Internationalen Währungsfonds (IWF) einen Kredit in Höhe von 3,8 Milliarden US-Dollar beantragen.³⁰⁷

 Ebd. S. 72.  Ebd. S. 73.  Die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zugespitzte politikökonomische Situation in Großbritannien erklärt Armin Schäfer rückblickend mit der Zersplitterung des britischen Korporatismus: „Ländern mit zentralisierten, verpflichtungsfähigen Verbänden gelang es besser, die negativen Auswirkungen des Ölpreisschocks zu verarbeiten, als solchen mit starken, aber zersplitterten konkurrierenden Gewerkschaften […]. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass insbesondere Großbritannien als unregierbar galt […]. Die Siebzigerjahre hindurch versuchten wechselnde britische Regierungen, die Inflationsrate durch Absprachen mit den Gewerkschaften in den Griff zu bekommen. Immer neue Abkommen zur Einkommenspolitik wurden ausgehandelt, die jedoch selten länger als ein Jahr Bestand hatten. Der Staat wirkte den Gewerkschaften hilflos ausgeliefert. Trotz einiger Besonderheiten wurde die ‚englische Krankheit‘ als Vorbote künftiger Entwicklungen in anderen Ländern angesehen […].“, Schäfer, „Krisentheorien der Demokratie“, S. 161.  Healey hatte 1975 bereits den ersten Haushaltsplan der britischen Nachkriegsgeschichte vorgelegt, in dem der Inflation und nicht mehr der Vollbeschäftigung höchste Priorität eingeräumt wurde, Stedman Jones, Masters of the Universe, S. 242.  Dessen Gewährung wurde an die Auflage geknüpft, die in Ansätzen bereits eingeleitete Konsolidierungspolitik in der Heimat konsequent voranzutreiben. Da die nationale Souveränität

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Einmal abgesehen von den unterschiedlichen Krisenszenarien rücken im Hinblick auf die politischen Herausforderungen der sozialdemokratischen Regierungsparteien in der Bundesrepublik und Großbritannien nach dem Boom wichtige Gemeinsamkeiten in den Blick. Sowohl Schmidt als auch sein LabourPendant Callaghan verfolgten in der Übergangsphase vom keynesianischen zum neoliberalen Kapitalismus einen visionslosen pragmatischen Politikmix aus monetaristischen, angebotspolitischen und kryptokeynesianischen Maßnahmen, also eine „Strategie des muddling through“³⁰⁸, um ihre angeschlagenen Länder durch die krisenhaften 70er zu navigieren. Beide Regierungen befanden sich nach dem Ende des Nachkriegsbooms gleichermaßen in einer Lage, in der die kapitalistische Wachstumsmaschine nur noch mit Mühe in Gang gehalten werden konnte. Weil die alten Rezepte allein nicht mehr wirkten, wurden sie mit wirtschafts- und finanzpolitischen Strategien neoliberaler bzw. -konservativer Provenienz amalgamiert. Von dieser Entwicklung konnte Dahrendorfs und Habermas’ Denken nicht unberührt bleiben, zumal sich neue (und alte) intellektuelle Stichwortgeber anschickten, einem grundlegenden konservativen Politikwechsel zum Durchbruch zu verhelfen.

2.2 Die Rache des Konservatismus: Szenen eines Rückzugsgefechts 2.2.1 Rechts vor links: Politischer Klimawandel in der Krise Vorhut der Demokratiekritik: Hennis und Schelsky Die nüchterne Anpassung der Regierungspolitik an einen in die Krise geratenen Wachstumskapitalismus sorgte auch innerhalb der SPD für tiefe Risse, die bereits kurz nach der Vereidigung des zweiten Kabinetts unter Brandt im Frühjahr 1973 in Hannover einen der kontroversesten Parteitage der Nachkriegsgeschichte erlebt hatte, als mehrheitlich Mitglieder der Parteilinken in den Bundesvorstand gewählt worden waren. Die Trias Brandt, Wehner und Schmidt konnte damals nur mit Mühe verhindern, dass sozialistische Positionen ins Regierungsprogramm

Großbritanniens in dieser Frage nunmehr zur Disposition stand, brachen die ideologischen Grabenkämpfe innerhalb des Labour-Kabinetts offen aus. Es kam zu „a pitched battle between the ministers of the hard left, led by Tony Benn, who supported the AES, and moderates, led by Crosland. Healey stood firm for the fiscal and monetary restraint demanded by the IMF. Benn advocated holding out, and a resort to protectionism through the imposition of import controls.“, Stedman Jones, Masters of the Universe, S. 243.  Séville, ‚There is no alternative‘, S. 111.

2.2 Die Rache des Konservatismus

229

aufgenommen wurden.³⁰⁹ Die Godesberger Wende von 1959 schien folglich durch einen neuerlichen innerparteilichen Grabenkampf zwischen links- und rechtssozialdemokratischem Flügel wieder ernsthaft zur Disposition zu stehen. Wegen ihrer im Vergleich zu den späten 50ern veränderten Mitgliederstruktur musste die SPD ab Mitte der 70er zwischen zwei unterschiedlichen Ansprüchen lavieren: im Krisenzeitalter pragmatisch zu regieren und die vielen neuen linken Parteimitglieder glaubhaft in den Termini des demokratischen Sozialismus zu adressieren.³¹⁰ Ohne die Vermittlungsfigur Brandt, der die Anwerbung neuer Mitglieder aus dem Dunstkreis der 68er-Bewegung als SPD-Parteivorsitzender weiter aktiv betrieb, um die infolge des Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft schwindende Arbeiterbasis zu kompensieren, hätte sich die sozialliberale Koalition wahrscheinlich nicht bis in die 80er hinüberretten können. Doch konnte in der Regierungspolitik von dem demokratischen Wagnis, das Brandt als Kanzler 1969 eingeleitet hatte, ab Mitte der 70er unter Schmidt längst keine Rede mehr sein.³¹¹ Die Vertreter eines wiedererstarkenden Konservatismus hatten unterdessen ihre Messer gewetzt – und Dahrendorf und Habermas, die den demokratischen Zeitgeist mit ihren auf weitreichende gesellschaftspolitische Veränderung zielenden, vorwärtstreibenden theoriepolitischen Interventionen zuvor regelrecht verkörpert hatten, gerieten nun in die Defensive. Denn in der Krise wurde die Republik konservativer.³¹² Die Ernüchterung über den sozialliberalen Politikwechsel lässt sich an den Beginn des Jahres 1972 datieren, als der von der Brandt-

 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 547 ff.  Dabei waren „(partei‐)politische Positionen neu zu justieren, waren außerparlamentarische Kräfte in die parlamentarischen Systeme bzw. in die Parteien einzubinden. Erschwert wurde dies im Lager der Linken dadurch, dass sich das sozialdemokratische Planungsparadigma und die ambitionierte Politik der ‚inneren Reformen‘ schon vor der Ölpreiskrise erschöpft hatten, den linken Visionen also kaum mehr das Versprechen von ‚mehr Demokratie‘ glaubwürdig entgegengesetzt werden konnte.“, Metzler, „Probleme politischen Handelns im Übergang zur Zweiten Moderne“, S. 247.  Zur ernüchternden Bilanz der sozialliberalen Reformpolitik vgl. Scherf, Enttäuschte Hoffnungen – vergebene Chancen; Schmidt, „Die ‚Politik der Inneren Reformen‘ in der Bundesrepublik Deutschland 1969–1976“.  Dazu Nicolai Wehrs in seiner minutiösen Studie über die Formierung einer konservativen Tendenzwende im Bund Freiheit der Wissenschaft: „Die Keine-Experimente-Mentalität der Ära Adenauer war um 1970 hinweggefegt, als hätte es sie nie gegeben. […] Wenige Jahre später, um die Mitte der 1970er Jahre, schien die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung dann plötzlich verflogen. Meinungsforschungsinstitute registrierten seit Ende 1973 eine substanzielle Reformmüdigkeit in der Bevölkerung der Bundesrepublik, verbunden mit einer konservativen Grundstimmung. Optimismus und Machbarkeitsglaube der vorangegangenen Dekade wichen Ernüchterung und Skepsis.“, Wehrs, Protest der Professoren, S. 10 f.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Regierung gebilligte Radikalenerlass der Ministerpräsidentenkonferenz zu einem „atmosphärisch spürbare[n], wenngleich nicht genau zu bemessende[n] Verlust an politischer Liberalität in der Bundesrepublik“³¹³ führte. Gegen Ende des Krisenjahrs 1974 wehte der Zeitgeist, wie der Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen beklagte, schon wieder „eher rechts als links“³¹⁴. Nach Greiffenhagen war die „Popularität der Sozialdemokraten und ihres Vorsitzenden“ Brandt, der wenige Monate zuvor in der Spionageaffäre um seinen Mitarbeiter Günther Guillaume hatte zurücktreten müssen, in den Keller gesunken, während der enge finanzielle Handlungsspielraum des Staates in der Rezession „Fortschritte gerade auf den Feldern“ erschwere, auf denen Progressive sie erwarten und fordern. Die Europapolitik stößt an die Grenzen nationaler Egoismen. Die Abrüstungspolitik kommt nicht vom Fleck. Das Verhältnis zur Sowjetunion und ihren Verbündeten ist frostig, die Ostpolitik scheint wenig gebracht zu haben. Amerika droht sich aus Europa zurückzuziehen: eine innen- wie außenpolitische Wetterlage, wie Konservative sie seit je schätzen. Man hat es immer schon gewußt, Fortschrittsträume erfüllen sich nicht, und was hält, sind allein die alten Prinzipien Macht, Ordnung, Sicherheit auf der Basis des Mißtrauens.³¹⁵

Ursprünglich hatten sich die Identitätsprobleme des westdeutschen Konservatismus nach dem sozialliberalen Machtwechsel von 1969 noch „aus der Wahrnehmung“ gespeist, „dass sich [die Modernisierung] in der Geschichte der Bundesrepublik erstmals nicht mehr wie selbstverständlich unter konservativen Auspizien vollzog, sondern unter dem Banner der ‚Demokratisierung‘ mit linken, emanzipativen, gesellschaftsverändernden Anliegen besonders der jüngeren Generation und hier vor allem des akademischen Nachwuchses verwoben war“³¹⁶. Der deutsche Konservatismus steckte, wie Greiffenhagen zu Beginn der 70er noch mit Überzeugung postulieren konnte, in einem „Dilemma“³¹⁷ und hatte unter dem Dauerbeschuss von Demokratisierungsagenten wie Dahrendorf und Habermas den geordneten Rückzug angetreten. Allerdings hatten konservative Intellektuelle den Kampf um die intellektuelle Deutungshoheit deshalb keineswegs aufgegeben, sondern setzten vielmehr alles daran, den gesellschaftspolitischen Demokratisierungsdrang der sozialliberalen Koalition und ihres intellektuellen Flankenschutzes mit allen Mitteln zu diskreditieren. Thomas Biebricher fasst das (neo‐)konservative Projekt einer Rückeroberung der Öffentlichkeit der Bundes    

Schildt, „‚Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten‘“, S. 468. Greiffenhagen, „Neokonservatismus in der Bundesrepublik“, S. 20. Ebd. Schildt, „‚Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten‘“, S. 451. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland.

2.2 Die Rache des Konservatismus

231

republik in den 70ern und 80ern im Nachhinein treffend zusammen: „1968 muss dort bekämpft werden, wo es die Vorherrschaft schon erlangt hat, nämlich auf der Ebene der Tugenden, Werte und Orientierungen, kurz: der kulturellen Hegemonie.“³¹⁸ Nach dem Ausbruch der ersten Ölkrise sah der westdeutsche Konservatismus schließlich seine Chance gekommen. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, noch einmal Jan-Werner Müllers Charakterisierung des intellektuellen Feldes der frühen Bundesrepublik in Erinnerung zu rufen. Müller zufolge wurden hier „potentiell liberale Positionen wie das Eintreten für die Trennung von Staat, Kirche und Gesellschaft nicht selten von Konservativen verfochten, die letztlich immer den Staat über die Gesellschaft setzten und wenig auf die Freiheit des Individuums gaben“³¹⁹. Folgt man seiner Argumentation weiter, haben die Liberalen damals „ihr Vertrauen fast ausschließlich in starke, womöglich schon leicht autoritäre Institutionen zur Verteidigung der Demokratie“ gesetzt, woraufhin Linke wie Habermas geradezu trotzig eine Position eingenommen hätten, „die paradoxerweise Liberalismus und Autoritarismus in eins setzte und sie skeptisch werden ließ gegenüber zentralen liberalen Ideen wie dem Rechtsstaat“³²⁰. Diese Gegenüberstellung erscheint im Hinblick auf das intellektuelle Minenfeld der Bundesrepublik in den 70ern und 80ern jedoch schon zu statisch. In der Krise kam deutlich mehr Bewegung ins Spiel, weil der klassische deutsche Konservatismus aus der Mottenkiste der Kulturkritik nun zu einem facettenreichen, Partei- wie Ländergrenzen transzendierenden Neokonservatismus recycelt wurde. Die Speerspitze der – wie Habermas ätzte – „Umrüstung der ins neukonservative Lager abgedrifteten Liberalen“³²¹ bildeten in der Bundesrepublik „Konvertiten, die frustriert und verbittert die Sozialdemokratie verlassen“ hätten, „wie etwa Hermann Lübbe und Wilhelm Hennis“³²². Laut Dahrendorf suchten die Vertreter der konservativen Tendenzwende „den eigenen Vorteil auf möglichst angenehme Weise mit der Schließung der Schranken für die Späteren zu verbinden“³²³. Ein solches Verhalten sei für „jene rechten Sozialdemokraten“ konstitutiv, „die, nachdem sie selber das rettende Ufer sozialer Privilegien erreicht haben, andere in das Meer der Unsicherheit zurückstoßen“³²⁴.

      

Biebricher, Geistig-moralische Wende, S. 88. Müller, Ein gefährlicher Geist, S. 90. Ebd. S. 91. Habermas, „Einleitung“, S. 18 f. Schildt, „‚Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten‘“, S. 454. Dahrendorf, „Kulturpessimismus vs. Fortschrittshoffnung“, S. 223. Ebd. S. 224.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Habermas fürchtete schon in den frühen 70ern „das Ressentiment der umgefallenen, in Militanz und Verschwörungstheorien flüchtenden Liberalen“, denen er deshalb das Etikett „Renegat[en] der Mitte“³²⁵ anheftete und „ein projektives Weltbild“ attestierte, „das mit Fakten nur noch locker verknüpft“³²⁶ sei. Allerdings nahm er die frühen Vertreter der konservativen Tendenzwende, die sich 1970 im Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW) zusammentaten, um der Demokratisierung der Hochschulen infolge der Studentenproteste entgegenzutreten, damals noch als Streiter eines aus der Zeit gefallenen Ancien Régime wahr. Vor dem Ausbruch der Wirtschaftskrise stand Habermas’ Denken – wie in den vorigen Kapiteln deutlich geworden sein sollte – noch ganz im Zeichen des Machbarkeitsglaubens und der Planungseuphorie der trente glorieuses. Im innenpolitischen Reformeifer und der neuen Ostpolitik der frischgewählten sozialliberalen Koalition sah der Starnberger Institutsdirektor gar „Anhaltspunkte dafür, daß die Eliminierung des Krieges als eines legitimen Mittels der Konfliktlösung, daß die Beseitigung von Massenarmut und von Disparitäten der wirtschaftlichen Entwicklung zu den internationalen Überlebensimperativen fortgeschrittener Gesellschaftssysteme entweder schon gehören oder alsbald gehören werden“³²⁷. Optimistischer hätte man nicht sein können.³²⁸ Dennoch zeigte sich der euphorische Demokratisierungsagent in den frühen 70ern auch von einem gesellschaftstheoretischen Quietismus irritiert, der entweder „die menschliche Natur oder Imperative komplexer Systeme“³²⁹ als Grenzen der Demokratie festschreiben wolle. Zu diesem Zeitpunkt war Habermas noch fest davon überzeugt, dass der Übertragung des demokratischen Diskursprinzips auf Politik und Wirtschaft keinerlei rationale Grenzen gesetzt waren. Anfang der 70er verortete er seine theoriepolitischen Gegenspieler deshalb in den Reihen derjenigen, „die, ob nun neo-liberal im Namen einer Elitetheorie“ – der pejorativ verwendete Begriff „neo-liberal“ war hier noch auf den Versuch einer Delegitimierung des Demokratisierungsmotivs unter ideengeschichtlicher Bezugnahme auf den altliberalen Freiheitsbegriff des 19. Jahrhunderts gemünzt – „oder eher

 Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 312.  Ebd. S. 313.  Ebd. S. 314.  Mit diesem Selbstbewusstsein fiel es leicht, die von konservativen Ordinarien vorgenommene „ungenierte Gleichsetzung der Farbbeutel unserer Studenten mit den Nervengasen einer chemischen Kriegsführung“ als „[r]ealitätsfern“ (ebd.) zu bezeichnen, obwohl man vor dem Voluntarismus der linken Studenten in Frankfurt selbst die Flucht ergriffen hatte.  Ebd. S. 323.

2.2 Die Rache des Konservatismus

233

technokratisch im Namen der Systemtheorie, die bürgerlichen Ideale unverhohlen widerrufen“³³⁰. Nachdem Habermas mit gesellschaftspolitisch ausgewiesenen Sozialliberalen wie dem Bildungsreformer Dahrendorf in der zweiten Hälfte der 60er Frieden geschlossen hatte, schoss er sich in der Folge vermehrt auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns ein. Dieser nahm nun anstelle der Vertreter der positivistischen Sozialwissenschaft den Platz des innerakademischen Prügelknaben ein.Während er in seiner aus gemeinsamen Frankfurter Seminaren hervorgehenden Theoriedebatte mit Luhmann erneut ein beiläufiges Friedensangebot in Richtung Dahrendorf aussendete,³³¹ ordnete Habermas seinen Bielefelder Kontrahenten den Kräften einer „Gegenaufklärung“ zu, „die ihr Heil in der Sedimentierung jeweils bestimmter Möglichkeiten“³³², also in der Verteidigung des Status quo, suche.³³³ Rückblickend ist Habermas’ bis in die 90er andauernde Auseinandersetzung mit Luhmann aber wohl kaum als Scharmützel eines Kritischen Theoretikers mit einem Neokonservativen zu werten.³³⁴ Nachdem er seinen ideengeschichtlichen Ort im Krisenzeitalter verloren hatte, kam es bei Habermas, dem ernüchterten linken Demokratisierungsagenten, vielmehr zu einer sukzessiven Anverwandlung einiger zentraler systemtheoretischer Annahmen für die gesellschaftlichen Funktionsbereiche des bürokratischen Staates und der kapitalistischen Wirt-

 Ebd.  Habermas, „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?“, S. 253 f.  Ebd. S. 161.  Folglich kritisierte er Luhmann für die statische theorieimmanente Gleichsetzung von sozialen Strukturen und Prozessen, die dieser „gleichermaßen als Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität“ (ebd. S. 239) begreife. Zudem fasse Luhmann „das entfaltete System nicht mehr länger als kategorialen Rahmen einer empirischen, der Überprüfung bedürftigen Theorie“ auf, „sondern als eine philosophische Deutung der Welt im ganzen – eben als eine unter kybernetischen Gesichtspunkten dynamisierte Spielart von Monadologie“, ebd. S. 230. Einer solchen Verkennung der Rolle des Wissenschaftlers habe er sich vormals selbst schuldig gemacht, als er – wie Habermas selbstkritisch im Hinblick auf seine einstige Forderung nach einer Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht anmerkte – „im Anschluß an Marx […] die Idee einer Menschengattung, die sich als Subjekt der Weltgeschichte konstituiert“ (ebd. S. 179), vertreten habe. Zur Erinnerung: Dahrendorf hatte beide Vorwürfe, sowohl den einer konservativen Gleichsetzung von Struktur und Prozess, der die Kräfte des sozialen Wandels unterschätze, als auch die mangelnde Rückbindung der Theorie an die Empirie bereits in den späten 50ern und frühen 60ern gegen Parsons vorgebracht.  Dazu Manfred Füllsack: „Die in der öffentlichen Wahrnehmung für diese Debatte nahezu konstituierende Polarisierung in einen einerseits ‚kritisch-progressiv-linken‘ und einen andererseits ‚affirmativ-konservativ-rechten‘ Theorieansatz erweist sich aus der Nähe […] als erstens personell nicht stimmig zuordenbar und als zweitens aus heutiger Sicht auch nicht relevant.“, Füllsack, „Die Habermas-Luhmann-Debatte“, S. 178.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

schaft. In der Tat war Luhmann ein Liberaler, der den institutionellen Errungenschaften der bürgerlichen Moderne mit seiner Systemtheorie ein bleibendes Denkmal setzte.³³⁵ Im Prinzip erschließt sich Habermas’ falsche Zuordnung Luhmanns zur Gegenaufklärung rückblickend nur vor dem Hintergrund des politisch-publizistischen Feuerwerks, das die Anhänger der neokonservativen Tendenzwende nach der Studentenrevolte von 1968 und dem sozialliberalen Machtwechsel von 1969 gegen den Zeitgeist, der im Begriff der Demokratisierung kulminierte, zündeten. Kurzum: Habermas kritisierte ihn deshalb so polemisch, weil Luhmann ein Schüler des neokonservativen Demokratiekritikers Schelsky war. Der einstige Meisterdenker des technokratischen Konservatismus trat in den 70ern als Stichwortgeber im „Kampf gegen eine vermeintliche Hegemonie der Neuen Linken und ihrer professoralen Adepten im politisch-intellektuellen Diskurs“ auf den Plan und übernahm „stärker als früher die Rolle eines Multiplikators, der die von den BFW-Professoren im Kampf innerhalb des wissenschaftlich-akademischen Milieus gebildeten Narrative in der außeruniversitären Öffentlichkeit zu popularisieren half“³³⁶, um sie „mit den parteitaktischen Interessen der CDU/CSU“³³⁷ zu verknüpfen. Diese Agenda war nicht weiter überraschend, wenn man die Stoßrichtung seiner frühbundesrepublikanischen Interventionen bedenkt. Erstaunlich – wenn auch angesichts seines frühbundesrepublikanischen Elitismus keineswegs absurd – war schon eher, dass wenige Monate vor dem sozialliberalen Machtwechsel von 1969 „mit Wilhelm Hennis ein von der Studentenbewegung gebeutelter Professor (und späterer BFW-Mitgründer) die meist beachtete Widerrede gegen

 Es war folglich auch kein konservativer Taschenspielertrick, als Luhmann auf Habermas’ frühen Konservatismus-Vorwurf postwendend erwiderte, dass sich sein soziologisches Erkenntnisinteresse den Habermas’schen Kategorien von vornherein entzog: „daß weder praktische Diskurse noch zweckrationale Handlungsplanungen in ihren historisch entwickelten Formen und Grenzen ihrer Möglichkeiten dem Problem gerecht werden können, das ich als zentral ansehe: dem Problem der Komplexität“, Luhmann, „Systemtheoretische Argumentationen“, S. 294. Folglich binde sich die Systemtheorie „nicht an eine vorgegebene Dialektik von Subjekt und Objekt, von Praxis und Technik, von Interaktion und Arbeit, von Kommunikation und Manipulation. Ihr Interesse liegt nicht primär in der Ausarbeitung solcher Gegensätze, die sie nicht ignoriert, aber relativiert, um sie mit Systemstrukturen korrelieren zu können; ihr Interesse liegt in kombinatorischen Gewinnen.“, ebd. S. 326. Von derlei kombinatorischen Gewinnen glaubte Habermas bei der Konstruktion der Theorie des kommunikativen Handelns später selbst profitieren zu können.  Wehrs, „Auf der Suche nach einem ‚Pronunciamento‘“, S. 124 f.  Wehrs, Protest der Professoren, S. 436.

2.2 Die Rache des Konservatismus

235

Brandts Adaption des radikaldemokratischen Demokratisierungsparadigmas gehalten“³³⁸ hatte. Damit verortete sich einer im konservativen Spektrum, der in den frühen sechziger Jahren selbst maßgeblich daran beteiligt war, Traditionsbestände im deutschen Staatsverständnis aufzubrechen und diesem eine moderne Konzeption vom Staat gegenüberzusetzen, in welchem insbesondere die Dichotomie von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ aufgehoben war. […] Und Hennis war kein Einzelfall, im Gegenteil. Viele der Reformbefürworter, viele aus der […] Diskurskoalition der frühen und mittleren sechziger Jahre, fanden sich zu Beginn des folgenden Jahrzehnts im Lager derjenigen wieder, die der sozialliberalen Reformpolitik mehr als skeptisch gegenüberstanden und insbesondere mit ihrem Unbehagen am soziokulturellen Wandel, der sich in der Regierungszeit Brandts vollzog, nicht hinter dem Berg hielten.³³⁹

Neokonservative Intellektuelle vom Schlage eines Hennis legten den klassischkonservativen „Topos der staatlichen Auflösung unter dem Druck partikularer Kräfte“³⁴⁰ unter den veränderten politikökonomischen Bedingungen im Krisenzeitalter wieder auf. Ihr Unbehagen galt einem „Bewusstseinswandel“, der sich in Medien, Schulen, Universitäten und sogar den Kirchen ausbreite und „dessen Voranschreiten letztlich zu einer Verschiebung in der kulturellen Hegemonie noch diesseits des Sozialismus führe und den sanften Übergang in jenen vorbereite“³⁴¹ – also jener Entwicklung, die Habermas als Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus und Vorboten des demokratischen Sozialismus herbeisehnte. Im Vergleich zum deutschen Alt-Konservatismus, dem noch die politische Demokratie als solche zuwider gewesen war, hatte „sich die Stoßrichtung des neokonservativen Projekts“³⁴² verschoben; seinen Vertretern schien es nunmehr darum zu gehen, „jene bürgerliche Welt zu erhalten, die ja nicht nur demokratisch, sondern vor allem auch liberalkapitalistisch verfasst […] und laut Diagnose der Neokonservativen vor allem durch ihre eigenen Erfolge in ihrem Bestand gefährdet“³⁴³ war. Daher konnte Schelsky seinen Gegnern vom linksliberalen bis ins neomarxistische Spektrum hinein auch entgegenhalten, die Etikettierung seiner und anderer Positionen als neokonservativ entbehre „der geistigen Inhaltbestimmung“ und sei „rein ‚funktional‘, d. h. nach der Rolle im gegenwärtigen politischen, insbesondere parteipolitischen Kräftespiel der Bundesrepublik geprägt“. So werde der Konservatismus jedoch „zum reinen Relationsbegriff in dem

     

Wehrs, „Auf der Suche nach einem ‚Pronunciamento‘“, S. 126. Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 407. Biebricher, Geistig-moralische Wende, S. 104. Ebd. S. 90. Biebricher, Geistig-moralische Wende, S. 97. Ebd.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

Sinne, daß jede Gruppe jeweils vom eignen Standort aus bestimmt, was ‚konservativ‘ und was ‚fortschrittlich‘ ist […]. Was das konkret politisch jeweils eigentlich ist, bleibt meist im begriffslosen Dunkel.“³⁴⁴ Willkürlich war die Zuordnung von Denkern wie Schelsky oder Hennis zu einem – wenn auch sehr heterogenen – neokonservativen Denkkollektiv jedoch keineswegs, was bereits deren als Verteidigung des liberalen Verfassungsstaats, der parlamentarischen Demokratie und der Ideen der politischen Aufklärung camouflierte Demokratiekritik verdeutlicht.³⁴⁵ Mit seinem „Rollenwechsel vom praktischen Reformer zum politischen Anti-Kritiker“³⁴⁶ hatte etwa Hennis seine Position im Kontext der Studentenproteste, in deren Visier er als Politikprofessor in Freiburg selbst mehrmals geraten war, „deutlich radikalisiert“³⁴⁷. Im Bundestagswahlkampf von 1969 kritisierte er, „der in diesen Wochen aus der SPD austrat und in die CDU überwechselte“³⁴⁸, den Kanzlerkandidaten der SPD Brandt vor der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf für dessen im Wahlkampf wiederholt vorgetragene Überzeugung, der Wähler stehe im September vor einer echten Alternative. Als früherer Mitarbeiter Adolf Arndts, eines der maßgeblichen Architekten des Godesberger Paktes der SPD mit der Marktwirtschaft, störte sich Hennis insbesondere an Brandts normativer Unterscheidung, „daß die CDU, im konservativ-altliberalen Geist verharrend, die Demokratie nur als Staatsform, die SPD sie dagegen als grundsätzliches Prinzip

 Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, S. 108 f.  Wolfgang H. Lorig skizziert das neokonservative Denkkollektiv wie folgt: „Als der exponierte Sprecher des Neokonservatismus gelten kann Hermann Lübbe; Wilhelm Hennis, Martin Kriele, Christian Graf von Krockow, Alexander Schwan und Kurt Sontheimer setzen sich zu verschiedenen Zeiten und Anlässen mit unterschiedlicher Intensität mit aktuellen politischen Problemen auseinander; Thomas Nipperdey veröffentlicht primär im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im ‚Bund Freiheit der Wissenschaft‘ Stellungnahmen zu bildungspolitischen Fragen; Karl Dietrich Bracher erörtert ausführlich eine mögliche ‚Re-Ideologisierung‘ in westlichen Demokratien; Richard Löwenthal kann vergleichbar mit Daniel Bell im neokonservativen Spektrum angesiedelt werden, und Helmut Schelsky, der bereits früher als konservativ bezeichnet wurde, formuliert spezifische Theoreme neokonservativen Denkens besonders prononciert, teilweise auch polemisch-provokativ.“, Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 80. In der vorliegenden Arbeit wird das Gravitationszentrum neokonservativen Denkens in der Bundesrepublik auch aus forschungspragmatischen Gründen bei Schelsky und Hennis angesiedelt: Beide spielen bereits im ersten Teil der Arbeit über Dahrendorfs und Habermas’ distanzierte Nähe in der frühen Bundesrepublik eine Rolle als elitäre Antipoden der eifrigen Demokratisierungsagenten, und ihre nneokonservative Publizistik in den 70ern steht in einer gewissen Kontinuität zu ihrem frühbundesrepublikanischen Denken.  Schlak, Wilhelm Hennis, S. 148.  Schildt, „‚Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten‘“, S. 453  Schlak, Wilhelm Hennis, S. 158.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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des ganzen gesellschaftlichen Lebens verstehen würde“³⁴⁹. Als Demokratieskeptiker wie er laufe man Gefahr, gleich „faschistoider Gesinnung bezichtigt“, mindestens aber „in altliberal-konservativen Gedankengängen befangen etikettiert zu werden“³⁵⁰. Laut Hennis war die von Brandt bereits im Wahlkampf angekündigte „Übertragung des Begriffs der Demokratie auf nicht- oder vorpolitische Sozialtatbestände“³⁵¹ – also auf Gesellschaftsbereiche, die mit der parlamentarischen Demokratie vermeintlich nichts zu tun hatten wie die Marktwirtschaft, aber auch die Universität – mit den Funktionsbedingungen des liberalen Rechtsstaats unvereinbar.³⁵² Die Vorstellung von der Demokratisierung der ganzen Gesellschaft zeugte demzufolge vom praktischen Siegeszug eines falschen rousseauistischen Demokratieverständnisses, mit dem nur prätendiert werde, „der Mensch würde frei und gleich geboren“, während es doch „eine Tatsache der Natur“ sei, „nach der der Mensch zwar durchaus mit der Befähigung, [frei] zu werden, geboren wird, im Zustande der Geburt jedoch alles andere als frei und gleich ist“³⁵³. Hennis’ Urteil über die Brandt’schen Politikversprechen im Wahlkampf war folglich eindeutig: Man kann […] in Schulen, Universitäten, Wirtschaftsbetrieben, Zeitungsredaktionen, Krankenhäusern usw. die Formen des menschlichen Miteinander ändern, sie freier, auch ihre rechtlichen ‚Strukturen‘ weniger hierarchisch gestalten. Für Anhörung, Mitwirkung, auch Mitbestimmung, sollte, wo immer es möglich ist, Raum gegeben werden. Nur ‚demokratisch‘ läßt all dies sich nicht legitimieren. Nicht einmal für die wirtschaftliche Mitbestimmung, die ich für eine gute und nicht preiszugebende Sache halte, läßt sich aus dem Begriff der Demokratie das geringste ableiten […].Wenn dem Begriff der Demokratie unverzichtbar Freiheit und Gleichheit zugeordnet sind, diese außerhalb des Bereichs der Liebe und der Freund-

 Hennis, „Demokratisierung“, S. 28.  Ebd. S. 36 f.  Ebd. S. 45.  Oder wie der Hennis-Biograf Stephan Schlak dessen „Spiegelung des bundesrepublikanischen Reformeifers mit der absolutistischen Machtkonzentration der frühen Neuzeit“ (Schlak, Wilhelm Hennis, S. 159) rückblickend treffend zusammenfasst: „Auch wenn die sozialdemokratischen Emanzipationspolitiker und Theoretiker der Sechziger Jahre in ihrer normativen Selbstzuschreibung das Machtmonopol des Staates zu demokratisieren trachteten, [waren] sie vor dem Horizont der alten Begriffe gar nicht so weit von den absolutistischen Fürstenerziehern entfernt: Jean Bodin, Thomas Hobbes, Willy Brandt, Jürgen Habermas und Hartmut von Hentig – allesamt [waren] sie für Hennis vereinigt im Kampf um die Grenze. Mehr noch, der Denker der praktischen Überlieferung [erkannte] in der kaum hinterfragten, absoluten Forderung nach ‚Demokratisierung‘ eine ‚totalitäre‘ Note – die Verschiebung der alten Barbarengrenze.“, ebd. S. 160.  Hennis, „Demokratisierung“, S. 49.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

schaft nur im politischen Raum erfüllbar sind, so stehen […] seiner Übertragung auf vor- und nichtpolitische Bereiche unüberbrückbare Hemmnisse entgegen.³⁵⁴

Nach Brandts Wahlsieg von 1972 nahm Schelsky „Hennis’ Argumentationsfaden“³⁵⁵ wieder auf, um sein ganzes publizistisches Gewicht in der FAZ gegen den Zeitgeist in die Waagschale zu werfen. In seiner Schrift Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation hatte er bereits Anfang der 60er „das Modell eines Obrigkeitsstaates unter dem Deckmantel der Sachlichkeit“ beworben, „der Züge einer Herrschaft berufener Gelehrter trägt“³⁵⁶. Mehr als ein Jahrzehnt später redete Schelsky nun „eine Krise des Staates herbei, die letztlich nur mit seiner ‚Entstaatlichung‘ und einer Wiederentdeckung von autonomen Institutionen und Organisationen“³⁵⁷ beantwortet werden könne. Auch in seiner FAZ-Intervention ging es folglich um den Grundsatzkonflikt […] zwischen einem liberalen Demokratieverständnis einerseits, das Demokratie in erster Linie als Organisationsprinzip der politischen Ordnung begriff und sie in der repräsentativdemokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik bereits ausreichend verwirklicht sah, und einem radikaldemokratischen Demokratieverständnis andererseits, das (mit Wolfgang Abendroth) aus dem Grundgesetz einen ‚permanenten Auftrag‘ zur Verwirklichung der ‚sozialen Demokratie‘ im Sinne eines Maximums an direkter Partizipation auch in vorpolitischen Sozialbereichen herauslas.³⁵⁸

Gegen Abendroth, Habermas und die mittlerweile bereits einige Jahre zurückliegende erste Regierungserklärung Brandts gerichtet, erinnerte Schelsky die Zeitungsleser in einem „gleichsam antipolitischen und anti-etatistischen Affekt“³⁵⁹ nach der Bundestagswahl an eine in der bundesrepublikanischen Verfassungswirklichkeit vermeintlich gestörte Balance zwischen Freiheit und Demokratie: „Wenn von den Herrschenden der Vorrang ‚Mehr Demokratie‘ programmatisch verkündet wird, dann ist damit ebenso verschwiegen und uneingestanden die Hinnahme von ‚Weniger Freiheit‘ verbunden.“³⁶⁰ Ihm missfiel an der öffentlichen politischen Debatte zudem die Glorifizierung der hohen Wahlbeteiligung von über neunzig Prozent. Dadurch werde nur der Zusammenhang verschleiert, „daß ein bestimmter Prozentsatz an freiwilligen Nichtwählern in einem hochzivilisierten

      

Ebd. S. 46 f. Wehrs, „Auf der Suche nach einem ‚Pronunciamento‘“, S. 127. Thümmler, „Mehr Demokratie oder mehr Freiheit?“, S. 218. Thümmler, „Mehr Demokratie oder mehr Freiheit?“, S. 219. Wehrs, „Auf der Suche nach einem ‚Pronunciamento‘“, S. 126. Séville, ‚There is no alternative‘, S. 72. Schelsky, Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung, S. 50.

2.2 Die Rache des Konservatismus

239

demokratischen Lande eher ein Anzeichen politischer Stabilität“ sei, „insofern ein Teil des Volkes von jeder ernsthaft zur Wahl stehenden Regierung entweder gleich Gutes oder gleich Schlechtes, jedenfalls aber keine entscheidende Gefährdung ihrer Lebensinteressen erwartet“³⁶¹. Die Freiheit zur Nichtwahl erscheine „einer nach totalem politischem Engagement strebenden Demokratisierung“ hingegen „fast wie eine Gottes- oder Demokratielästerung“³⁶². Diese Haltung werde jedoch „mit einer ideologischen Reprimitivisierung, mit einer politischen Manipulierung des Wählers und einer Reduzierung auf Personalkult und ‚Führer-Wahl‘“³⁶³ bezahlt. Folglich sah Schelsky in der personalisierten „Willy-Wahl“ eine Entwicklung am Werk, in der „Demokratie zu einem pauschalen Vertrauensbeweis für eine Person“ werde und „in der Mentalität von ähnlichen Plebisziten in diktatorischen Staaten nur noch graduell unterschieden“³⁶⁴ sei. Sein Haupteinwand gegen das in Brandts zweiter Regierungserklärung jedoch bereits eindeutig relativierte sozialliberale Demokratisierungsprojekt bestand in dessen vermeintlich „offensichtliche[r] Funktionsminderung der vielfältigen Organe einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft“³⁶⁵. Für Schelsky stand fest, „daß die Tendenz ‚Mehr Demokratie‘ im Sinne der höheren Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Willensbildung bezahlt werden muß mit den Tendenzen: ‚mehr Konflikte‘, ‚weniger Rationalität‘, ‚mehr Herrschaftsansprüche‘, ‚weniger Sachlichkeit‘, vor allem aber mit der durchgehenden Politisierung in Richtung auf zentralistisch-totalitäre Machtdurchsetzung“³⁶⁶. Ähnlich wie Hennis fürchtete auch er, „daß die überzogene Bewegung für ‚Mehr Demokratie‘ zum Abbau der Gewaltenteilung und damit zur parteipolitischen ‚Polarisierung‘ auch in Institutionen führt, die vor dieser Konfliktsteigerung durch ihre ‚Autonomie‘ gerade bewahrt werden sollten“³⁶⁷. Während die als Kanzlerwahlverein verspottete CDU dieser Entwicklung aufgrund ihrer „Grundsatzschwäche“, „die sie pragmatischer und machttaktischer handeln“ lasse, „als es ihr als Opposition bekommt“³⁶⁸, nichts entgegenzusetzen habe und die FDP in ihrer Rolle als Juniorpartner der sozialliberalen Koalition „die Kritik der Liberalen des 19. Jahrhunderts an den

       

Ebd. S. 60. Ebd. S. 61. Ebd. Ebd. S. 62. Ebd. S. 69. Ebd. S. 55. Ebd. S. 63 f. Ebd. S. 78.

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Gefahren der Massendemokratie“³⁶⁹ sowieso längst preisgegeben habe, zeichne sich innerhalb der SPD die Zuspitzung eines „fast ein Jahrhundert alte[n] Dilemma[s] der Sozialdemokratie zwischen Klassenkampfpartei und pragmatischer Reformpartei“³⁷⁰ ab. Schelsky sprach als einer der Ersten aus, was kurz nach der Wiederwahl der sozialliberalen Koalition viele über den zunehmend erschöpft wirkenden Kanzler dachten: „Man kann […] nicht Bebel und Liebknecht auf der einen und Lassalle und Bernstein auf der anderen Seite in einer Person sein, wie es Willy Brandt versucht.“³⁷¹ Linke Aura und pragmatisches Regierungserfordernis schienen einander zunehmend zu widersprechen. Schelskys schwarzmalerische Prophezeiung lautete gar, daß fast unvermeidlich das Prinzip gesteigerter ‚Demokratisierung‘ die Politik aller Parteien bestimmen und damit die politischen Konflikte verschärfen, die ‚Polarisierung‘ vorantreiben wird. […] Diese ist die voraussehbare politische Zukunft der Bundesrepublik. Die Epoche ihres verhältnismäßig hohen inneren sozialen und politischen Friedens ist zu Ende; die Generation der bundesrepublikanischen Bürger, die heute über 40 Jahre alt ist, wird sehr bald die zwei Jahrzehnte zwischen 1949 und 1969 als die ‚goldene‘, die politisch friedlichste Zeit ihres Lebens betrachten.³⁷²

Habermas bezeichnete Schelskys demokratiekritische Instrumentalisierung des liberalen Freiheitsbegriffs – wie auch Luhmanns systemtheoretische Verteidigung der funktionalen Eigenlogik sozialer Teilsysteme gegen politikplanerische Übergriffe – als einen typischen „Topos der Gegenaufklärung“³⁷³. Die rechtsstaatliche Begrenzung der Demokratie sei überhaupt nur dort zu rechtfertigen, „wo Interessenbereiche geregelt werden sollen, die diskursiv nicht gerechtfertigt werden können und daher Kompromisse verlangen“ – wobei es sich dabei selbst um eine Frage handele, die „allein mit Mitteln diskursiver Willensbildung“³⁷⁴ geklärt werden könne. Ganz in diesem Sinne hatte Habermas schon in seiner Auseinandersetzung mit dem liberalkonservativen Philosophen Robert Spaemann kurz zuvor im Merkur postuliert, „daß wir die Frage, wie weit diskursive Willensbildung als Organisationsprinzip der Gesellschaft durchgesetzt werden kann, ohne an Kapazitätsgrenzen des Persönlichkeitssystems zu stoßen, eine anthropologi-

     

Ebd. S. 81. Ebd. S. 79. Ebd. Ebd. S. 81 f. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 154. Ebd. S. 155.

2.2 Die Rache des Konservatismus

241

sche Antwort überhaupt nicht geben können“³⁷⁵. Wenn man diese Aussage zuspitzt, war die rechtsstaatliche Immunisierung der Politik gegen den demokratischen Einspruch des Staatsvolks in den Augen des demokratischen Sozialisten Habermas schlichtweg illegitim. Nach dieser starken normativen Lesart sollte und konnte die vermeintlich drohende Legitimationskrise des spätkapitalistischen Staates nur durch die radikaldemokratische Daueraktivierung des Staatsvolks überwunden werden – ein Politikmodus, der im Sinne seines Marburger Lehrers Abendroth über die institutionellen Kapazitäten der liberalen Repräsentativdemokratie weit hinausschoss.

Der Selbstabgrenzungsversuch eines defensiven Liberalen Dass diese Position nach dem Ausbruch der Ölkrise zunehmend in die Defensive geriet, verdeutlichte ein von langer Hand geplantes Initiationsereignis des bundesrepublikanischen Neokonservatismus, dessen Teilnehmer sich im November 1974 auf einer Tagung in der Münchner Akademie der Schönen Künste unter dem programmatisch zu verstehenden Titel Tendenzwende? Zur geistigen Situation in der Bundesrepublik versammelten. Diesem Tendenzwendekongress – als dessen Strippenzieher der in den 60er Jahren auf dem Feld der Bildungs- und Hochschulpolitik als besonders fortschrittlich geltende CDU-Kultusminister des Landes Baden-Württemberg Wilhelm Hahn zu gelten hatte, der immer noch über gute Kontakte zu Dahrendorf verfügte – war eine breite öffentliche Wirkung „schon wegen der prominenten Gäste, Redner und Autoren“ gesichert: „neben dem Akademiepräsidenten Gerd Albers waren das Hermann Lübbe, Golo Mann, Hans Maier, Robert Spaemann und Ralf Dahrendorf“³⁷⁶. Letzterer wehrte sich jedoch entschieden gegen eine Vereinnahmung durch die neokonservativen Tendenzwender. Liest man die Tagungsvorträge im Hinblick auf die Frage, wie sich darin der Übergang von einem idealistischen zu einem pragmatischen sozialliberalen Regierungsstil im Krisenzeitalter wiederspiegelte, ist der Vortrag Hermann Lübbes, der die Tagung mitinitiiert hatte, rückblickend besonders aufschlussreich. Nach Lübbe ließ „sich die Tendenzwende, die wir verspüren“, vor allem „daran ablesen, daß die ja nur im Verhältnis zu den Visionären so benennbaren Macher in allen Bereichen des öffentlichen Lebens wieder den Kredit einer ernüchterten Erwartung genießen. Für den, der sein Handwerk beherrscht, galt es ja nie als charakteristisch, daß er alles für machbar hält, vielmehr daß er weiß, was man ma-

 Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 320  Hoeres, „Von der ‚Tendenzwende‘ zur ‚geistig-moralischen Wende‘, S. 96.

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2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

chen und was man nicht machen kann.“³⁷⁷ In seinem Vortrag über Fortschritt als Orientierungsproblem im Spiegel politischer Gegenwartssprache ging Lübbe im Nachgang noch einmal hart mit der „Reform-Rhetorik“ des Visionärs Brandt ins Gericht, die „uns zur Überwindung vermeintlicher Stagnation in Aufbruchsstimmung“ habe versetzen wollen, wo doch Politik stets mit „Steuerungsprobleme[n] in bezug auf Bewegungen“ zu kämpfen habe, „die längst im Gang“³⁷⁸ seien. Folglich lege „sich eine Atmosphäre von Unernst über die Szenerie, wenn man Krisenvorbeugungspolitik euphorisch betreibt. Nicht die Reformpolitik, aber ihre an sich ja unnötige Aufbruchsrhetorik ist am Schwund der Zukunftsgewißheit gescheitert, der sich im Widerspruch zu ihr und gleichzeitig mit ihr in unserer Zivilisation ausgebreitet hat.“³⁷⁹ „Krisenmanagement als das Gebot der Stunde“³⁸⁰ – auch an Lübbes nachträglicher Kritik der Brandt’schen Politik der Inneren Reformen offenbarte sich ein neokonservativer Politik- und Reformbegriff, „wonach die Beweislast der Vernünftigkeit und Praktikabilität stets das Neue und der Neuerer zu tragen haben“ und „der faktischen Existenz bestehender Verhältnisse eine widerlegbare Vermutung ihrer Vernünftigkeit [zugrunde liegt]“³⁸¹. Diese von Lübbe gefeierte „Wende zur Vernunft und zur Pragmatik der Vernunft“³⁸², die „auch ein[en] Meinungswandel breiter Bevölkerungsteile [ausdrückte], nachdem die allgemeine Reformfreudigkeit vom Ende der sechziger Jahre einer Ernüchterung gewichen [war] und Zweifel an den Erträgen der Reformen sich [mehrten]“³⁸³, rief auf der Tagung den Widerspruch des einstigen sozialliberalen Musterintellektuellen Dahrendorf auf den Plan. Dahrendorf fühlte sich gleich zu Beginn seines Vortrags über die Zukunft der Freiheit zu einer politischen Selbstabgrenzung von den Kongressteilnehmern bemüßigt und stellte klar, „daß ich als Linker zu Ihnen komme, denn ich bin Liberaler, und ich bin nicht bereit, dieses Wort an die Rechten zu verschenken“³⁸⁴. Der Leitbegriff der Tagung, die Rede von der „Tendenzwende“, sei schlechterdings „irreführend, wenn irgend jemand die Hoffnung

 Lübbe, „Fortschritt als Orientierungsproblem im Spiegel politischer Gegenwartssprache“, S. 20 f.  Ebd. S. 18.  Ebd. S. 19.  Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, S. 412.  Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 88.  Lübbe, „Fortschritt als Orientierungsproblem im Spiegel politischer Gegenwartssprache“, S. 23.  Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 89.  Dahrendorf, „Zukunft der Freiheit“, S. 94.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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haben sollte, daß es […] eine sinnvolle Möglichkeit gibt, Entwicklungen, wie sie sich in diesen Jahren und Jahrzehnten abgespielt haben, umzukehren“³⁸⁵. Aus seiner Sicht war jede Wende „zur Irrelevanz“ verdammt, „wenn man die Hoffnung haben sollte, […] eine sich verändernde Gegenwart zu erinnern an Werte, die sie verlassen hat“³⁸⁶. Dahrendorf wandte sich in seinem Vortrag gleichsam gegen die in Politik und Wirtschaft immer beliebter werdende Auffassung, „daß eine Rückkehr zu einem gewissen Maß an Arbeitslosigkeit ein Instrument der Stabilitätspolitik sein kann“, und hielt es auch für illusorisch, „daß in dem Augenblick, in dem eine gewisse Arbeitslosigkeit wieder entsteht, Menschen wieder anfangen zu arbeiten, die Arbeit ernst zu nehmen oder dergleichen“³⁸⁷. Für jeden Liberalen sei der Rückweg „zu Institutionen, zu Wertvorstellungen, zu Lebensformen, wie sie vor drei, vier, fünf Jahrzehnten gang und gäbe waren“³⁸⁸, unvorstellbar. Allerdings konnte die Entschiedenheit, mit der er seine Position in Abgrenzung zu den konservativen Kongressteilnehmern vortrug, nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dahrendorf Mitte der 70er vor allem auch deshalb „aktiv und bewusst die Position des liberalen Intellektuellen“³⁸⁹ besetzte, weil er sich mittlerweile in einem doppelten Rückzugsgefecht wähnte: Während sich die Neokonservativen anschickten, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen, und die Erneuerung eines überkommenen Tugendkatalogs forderten, redeten ihre linken Antipoden eine Entgrenzung der Demokratie herbei, die dem Liberalen genauso suspekt blieb. Im krassen Gegensatz zu Habermas verstand sich Dahrendorf ja als Radikalliberaler, dem es nicht um die Infragestellung des Prinzips repräsentativdemokratischer Herrschaft als solchem, sondern allein um eine faire demokratische Auslese von Personal für Führungspositionen in potentiell grenzenlos mobilen modernen Gesellschaften ging. Für diese ganz und gar undialektische Position handelte er sich aus Starnberg nach wie vor Kritik ein,³⁹⁰ die er noch im Spätwerk retournierte. Anders als Habermas, der in den 70ern noch eine konsequente Ausweitung des Demokratieprinzips auf nahezu alle Gesellschaftsbereiche forderte, plädierte Dahrendorf auf der Münchner Tendenzwende-Tagung bereits für einen politischen „Themenwechsel in Richtung auf eine Anerkennung der Ungleichheit unter

 Ebd. S. 94 f.  Ebd. S. 95.  Ebd.  Ebd.  Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 232.  Zu Habermas’ Kritik am „Schrumpfungsprozeß“ der liberalen Elitentheorie vgl. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 169 f.

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der Voraussetzung einer Gleichheit der Chancen“³⁹¹. Chancen- statt Ergebnisgleichheit – diese Losung blieb nicht nur Dahrendorfs Grundüberzeugung, sondern sollte gut zwei Jahrzehnte später auch zu einem der maßgeblichen Schlachtrufe einer flottgemachten Sozialdemokratie des Dritten Wegs avancieren.³⁹² Seine Forderung nach einem solchen Themenwechsel resultierte Mitte der 70er „aus der Erfahrung ineffektiver und z.T. kontraproduktiver staatlicher Reformstrategien, dem Versagen keynesianischer Wirtschaftsinstrumente sowie dem Erleben von ‚Grenzen des Wachstums‘ angesichts knapper werdender Ressourcen und ökologischer Folgeprobleme“³⁹³. Dahrendorf gab zu bedenken, dass „die letzten Jahre“ den Prozess der Demokratisierung in der Bundesrepublik „über die Grenzen der repräsentativen Regierung hinausgetrieben haben, hin zu einer Form der Teilnahme, die total ist“³⁹⁴. Mit den immer realer werdenden Blütenträumen vom imperativen Mandat, des gesellschaftlichen Proporzes und der permanenten Diskussion in den Universitäten sah er „den seltsamen Punkt“ erreicht, an dem die Übertreibung des Prinzips der staatsbürgerlichen Teilnahme dazu führt, daß dieses Prinzip seinen Sinn selbst verliert“, denn „die totale Teilnahme aller an allen Entscheidungen“ habe praktisch den Effekt, „daß nur diejenigen, die die Zeit finden können […], grenzenlos zu diskutieren“, und „nur diejenigen, die sich zu diesem Zweck organisieren, tatsächlich noch einen Einfluß haben auf die politischen Entscheidungen“³⁹⁵. Folglich müsse der Liberale „heute auch eine defensive Stellung einnehmen“, um dieser schleichenden Erosion der Institutionen der liberalen Demokratie Einhalt zu gebieten, und sich „die Verteidigung der rechtsstaatlichen Grundsätze und Institutionen“³⁹⁶ auf die Fahnen

 Dahrendorf, „Zukunft der Freiheit“, S. 101.  Hier zeigt sich bereits eine gewisse Nähe des Liberalen zum Neokonservatismus. Lorig sieht in der Kritik an der vermeintlichen Ergebnisgleichheit eines ausufernden Sozialstaats in den 70ern nämlich eine Gemeinsamkeit im Denken des neokonservativen Denkkollektivs: „Neokonservative erinnern in der Diskussion um den Gleichheitsbegriff an die gemeinsame historische Wurzel von Leistungsbegriff und Demokratienorm: Das Leistungsprinzip sei nach wie vor eine Norm, die Chancengleichheit postuliere und Ungleichheit in Frage stelle. Das Postulat der Chancengleichheit besage aber zugleich, daß Ungleichheit als Konsequenz der Freiheit durch Gleichheit – nämlich als Gleichheit der Startbedingungen – gerechtfertigt werden müsse und daß umgekehrt Gleichheit nicht an sich, sondern nur als Bedingung der Freiheit für alle, als Fundament gesellschaftlicher Differenzierung, ein sinnvolles Ziel sein könne.“, Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 113.  Ebd. S. 23.  Dahrendorf, „Zukunft der Freiheit“, S. 102.  Ebd. S. 103.  Ebd. S. 108.

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schreiben. Diesen Abwehrkampf gegen den Angriff auf die etablierten Institutionen der liberalen Demokratie hielt Dahrendorf in der Bundesrepublik umso mehr für geboten, als diese wie stets den Anschein erwecke, man brauche „die institutionellen Wände nur einmal anzustoßen, und schon brechen sie in sich zusammen“³⁹⁷.

Die Legitimationskrise findet nicht statt: Duisburger Relativierungen Während Dahrendorf noch davon ausging, der Zug der Demokratisierung rolle weiter über die Bundesrepublik hinweg, war Habermas mitten in der Krise zu Recht schon viel skeptischer. Erste Anzeichen einer Ernüchterung offenbarten sich bereits in seiner Kritik am sozialdemokratischen Orientierungsrahmen ’85³⁹⁸, dem neuen Grundsatzprogramm der SPD von 1975, das die Godesberger Reformbeschlüsse aus den späten 50ern ursprünglich mit neuem sozialistischen Geist hatte erfüllen sollen. Zum Publikationszeitpunkt schien der Orientierungsrahmen, dessen erster Entwurf auf dem kontroversen Hannoveraner Parteitag im Frühjahr 1973 diskutiert worden war, aber schon wieder überholt, weil er noch deutliche Züge der Planungseuphorie der späten 60er aufwies. Noch in Hannover war es dem Triumvirat Brandt, Schmidt und Wehner zudem gelungen, die Entscheidung über brisante wirtschaftspolitische Kernforderungen des neuen Grundsatzprogramms zu vertagen, indem man für die kommenden Jahre eine grundlegende Überarbeitung des Papiers versprach. Schließlich wurde auf dem Mannheimer Parteitag am 14. November 1975 – also nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise – nur noch ein „Kompromiß“ verabschiedet, „den eine heterogen zusammengesetzte Kommission unter Vorsitz von Peter von Oertzen als programmatische Handlungsempfehlung entwickelt“³⁹⁹ und der vom sozialistischen Geist des Hannoveraner Parteitags nicht mehr viel übriggelassen hatte. Ursprünglich war Habermas schon Brandts „Programm geregelter Demokratisierung“⁴⁰⁰, das dem einsetzenden postmateriellen Wertewandel und einem Ende der 60er grassierenden Wunsch nach politischer Partizipation und sozialer Emanzipation immerhin innerhalb klarer institutioneller Grenzen Rechnung zu tragen versprach, nicht weit genug gegangen, weil es weiterhin den Restriktionen staatlichen Handelns im Spätkapitalismus unterlag. Doch im „anpasserischen ‚Realismus‘ der Nach-Brandtschen Ära“, in dem „nicht einmal mehr der Wille zur  Ebd.  Vgl. von Oertzen/Ehmke/Ehrenberg (Hrsg.), Orientierungsrahmen ’85.  Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 84.  Metzler, „Am Ende aller Krisen?“, S. 102.

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Reform überzeugend verkörpert“⁴⁰¹ werde, sah er seine Hoffnungen auf eine offensive Grundgesetzinterpretation mit dem Ziel der Verwirklichung des demokratischen Sozialismus endgültig dahinschwinden. Ihren Unmut äußerten Habermas und Offe in einem zusammen mit Sigrid Skarpelis-Sperk und Peter Kalmbach verfassten SPIEGEL-Artikel vom 24. Februar 1975, der unter der provokativen Frage Ein biedermeierlicher Weg zum Sozialismus? abgedruckt wurde. Die pejorative Verwendung der Begriffsfigur des Biedermeier zielte auf die von der SPD-Programmkommission unter der Leitung von Oertzens empfohlene Selbstbegrenzung sozialdemokratischer Regierungspolitik auf Maßnahmen einer indirekten Wirtschaftslenkung. Der im Orientierungsrahmen zum Ausdruck kommende programmatische Verzicht auf direkte Eingriffe in Produktion und Verteilung sei nichts weiter als eine „Vernebelung des Weges zum demokratischen Sozialismus“, deren „unvermeidliche[ ] Nebenfolgen mit den Zielen einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung kollidieren“⁴⁰². Reiche das wirtschaftspolitische Vorstellungsvermögen aber „über einen breiten Fächer von Anreizen und Sanktionen“, wie er im Orientierungsrahmen vorgeschlagen werde, nicht hinaus, bleibe „die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus auf das kapitalistische Unternehmen als Erfüllungsgehilfen angewiesen“⁴⁰³. Eine solche Selbstauslieferung sozialdemokratischer Programmpolitik an die Launen des Kapitals könne der Partei auf lange Sicht nur schaden. Der Versuch einer bloß „indirekten Steuerung“ der Wirtschaft bleibe nämlich „solange ein Widerspruch in sich, wie [er] sich nicht auf die Reaktionen einstellt, die aus dem ‚negativen‘ Eigentumsrecht folgen“⁴⁰⁴. Um zu verhindern, dass sich das Kapital in Krisenzeiten „tot stellt“ und – wie in der Krise – in einen langanhaltenden Investitionsstreik geht, müsse „man den Hebel direkter Eingriffe in Produktion und Verteilung zumindest in Reserve haben“, genauso wie man „die politische Basis“ benötige, „die den Einsatz dieses Hebels deckt, andernfalls bedeutet indirekte Steuerung einen Entscheidungsvorbehalt des Kapitals darüber, wie weit und wohin es sich steuern lassen möchte“⁴⁰⁵. Aus dieser Forderung sprach bereits die Befürchtung, dass die SPD bloß noch ein Lippenbekenntnis zum demokratischen Sozialismus abzugeben bereit war, während die Union in der Opposition bereits in Lauerstellung hockte und – zusammen mit dem wirtschaftsliberalen Flügel der mitregierenden FDP unter Führung des Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff – sowieso als die     

Habermas et al., „Ein biedermeierlicher Weg zum Sozialismus?“, S. 44. Ebd. S. 45. Ebd. S. 48. Ebd. S. 50. Ebd.

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glaubwürdigere Verfechterin einer angebotspolitischen Kehrtwende galt, mit deren Hilfe ein investitionsfaul gewordenes Kapital in der Krise reanimiert werden sollte.⁴⁰⁶ Die von dem Quartett um Habermas vorgenommene Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen Politik und kapitalistischer Wirtschaft in der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik, in der „die Begriffe Demokratie und Marktwirtschaft fast synonym geworden“⁴⁰⁷ seien, deutete in gewisser Hinsicht bereits auf die von Wolfgang Streeck fast vier Jahrzehnte später aufgestellte These von der „andere[n] Legitimationskrise“ des demokratischen Nachkriegskapitalismus voraus, die „aus einem Unbehagen ‚des Kapitals‘ an der Demokratie und den ihm in ihr auferlegten Verpflichtungen“⁴⁰⁸ hervorgegangen sei. Laut Streeck resultieren Wirtschaftskrisen im Kapitalismus „aus Vertrauenskrisen auf Seiten des Kapitals und sind keine technischen Störungen, sondern Legitimationskrisen eigener Art“⁴⁰⁹. Demnach ähnelt das Verhalten des Kapitals in der Krise in gewisser Weise einer Erpressung der Politik: Niedriges Wachstum und Arbeitslosigkeit sind Folgen von ‚Investitionsstreiks‘ derer, die über das Kapital verfügen, durch dessen Einsatz sie behoben werden könnten, aber nicht behoben werden, solange es den Kapitaleignern an Vertrauen mangelt. Das Kapital der Gesellschaft ist im Kapitalismus Privateigentum, das seine privaten Eigentümer verwenden oder nicht verwenden können, im Prinzip wie es ihnen beliebt. Zum Investieren verpflichtet werden können sie jedenfalls nicht […].⁴¹⁰

 Als Beleg lässt sich das Vorpreschen von „jenen politischen Intellektuellen“ anführen, „die zur gleichen Zeit eifrig an der programmatischen Neuausrichtung der CDU arbeiteten. Sie kam im Juni 1975 mit der ‚Mannheimer Erklärung‘ zum Abschluß, die einen eigenständigen Versuch der gesellschaftlichen Positionsbestimmung enthielt. Ganz im Stil der Zeit kam das Papier auch als ‚Alternative ’76‘ daher, was seine unmittelbare Konkurrenz zum sozialdemokratischen ‚Orientierungsrahmen ’85‘ schon im Titel verdeutlichte. Für die Inhalte zeichneten vor allem Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler verantwortlich, und es ging um die Wiedergewinnung der wirtschaftlichen Stabilität, um die Erhaltung und Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, um die Lösung gesellschaftspolitischer Aufgaben und vor allem um die Verbesserung der staatlichen Handlungsfähigkeit.“, Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 238 f.  Habermas et al., „Ein biedermeierlicher Weg zum Sozialismus?“, S. 44.  Streeck, Gekaufte Zeit, S. 47.  Ebd. S. 49.  Ebd. S. 49 f. Dass das Kapital sein Drohpotenzial, in den Invetitionsstreik zu gehen, am Ende auch ausspielt, ist demzufolge immer dann am wahrscheinlichsten, wenn sich die Verwertungsbedingungen des Kapitals infolge von endogenen Krisentendenzen des Kapitalismus drastisch verschlechtern. Dieser Fall ist nach Streeck in den frühen 70ern eingetreten, als „[a]uf kontinuierlich hohes Wachstum als demokratisch-kapitalistische Friedensformel […] kein Verlass mehr“ gewesen sei: „Auf Profite zu verzichten, um Vollbeschäftigung zu erhalten, oder Produktion und Produkte unter hohem Aufwand so zu gestalten, dass sie sichere Beschäftigung bei

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Karl Schiller hatte bereits die treffende Formel für dieses Problem gefunden: Man könne den Gaul immer nur zum Brunnen führen, doch saufen müsse er schon selber. Streecks Deutung der „vertagten Krise des demokratischen Kapitalismus“ – so der Untertitel seiner in Buchform erschienenen Adorno-Vorlesungen von 2012 – hat seit ihrer Veröffentlichung hohe Wellen geschlagen. Zur Ehrenrettung der Krisentheorie aus den 70ern verweist der Autor im Nachhinein auch darauf, dass die „langgezogene Wende vom Sozialkapitalismus der Nachkriegszeit zum Neoliberalismus des beginnenden 21. Jahrhunderts“⁴¹¹ eine letztlich „von keiner Theorie vorhergesehene machtvolle Wiederkehr freier, selbstregulierender Märkte auf breitester Front“⁴¹² gewesen sei. Habermas gestand auf einer Konferenz im Jahr 2014 selbstkritisch ein, dass seine und Offes „Theorie der Verschiebung des Krisenpotentials in den Steuerstaat und in die kulturellen Muster der Sozialisation“ von besser informierten Krisentheoretikern wie Streeck heute „aus guten Gründen wegen des seinerzeit suggerierten Vertrauens in die ökonomische Selbststabilisierungsfähigkeit des Kapitalismus“⁴¹³ modifiziert worden sei. Doch

hohen Löhnen und geringer Lohnspreizung gewährleisteten, hätte von den Unternehmen und den von ihren Gewinnen Abhängigen Opfer verlangt, die zunehmend inakzeptabel hoch erschienen. Da dem Staat, der fast überall in mehr oder weniger sozialdemokratische Hände gefallen war, nicht zu trauen war, blieb als Lösung nur die Flucht in den Markt: die Freisetzung der kapitalistischen Wirtschaft von den bürokratisch-politischen und korporatistischen Kontrollen der Wiederaufbaujahre und die Wiederherstellung angemessener Gewinnspannen durch freie Märkte und Deregulierung statt, verbunden mit der Gefahr sozialer Auflagen, durch staatliche Politik.“, ebd. S. 55 f. An anderer Stelle präzisiert Streeck seine Krisenformel wie folgt: „“Krisen entstehen, wenn diejenigen, die unentbehrliche Produktionsmittel kontrollieren, glauben befürchten zu müssen, am Ende nicht entsprechend ihren Vorstellungen von Marktgerechtigkeit entlohnt zu werden. An diesem Punkt sinkt ihr ‚Vertrauen‘ unter das für Investitionen erforderliche Minimum. Kapitalverfüger können ihr Kapital ins Ausland verschieben oder es irgendwo in der Geldwirtschaft zwischenparken und es dadurch für immer oder zeitweise dem Wirtschaftskreislauf einer nicht mehr vertrauenswürdigen politischen Jurisdiktion entziehen – mit der Folge von Arbeitslosigkeit und niedrigem Wachstum. Heute, unter den Bedingungen entfesselter Kapitalmärkte, gilt dies mehr denn je.“, ebd. S. 94 f. Zu einer kritischen Einschätzung dieser entscheidungstheoretischen Perspektive gelangen Borchert/Lessenich, Claus Offe and the Critical Theory of the Capitalist State, S. 112. Im Hinblick auf die Bundesrepublik bleibt freilich hinzuzufügen, dass die „Flucht in den Markt“ auch während der sechzehnjährigen Regentschaft Helmut Kohls noch – wenn diese etwas platte Metapher erlaubt sein mag – auf halber Strecke stehenblieb und schließlich erst von rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder beherzt vollzogen wurde.  Streeck, Gekaufte Zeit, S. 19.  Ebd. S. 46.  Habermas, „Entgegnung auf Smail Rapic“, S. 199, vgl. dazu auch Habermas, Im Sog der Technokratie, S. 138 f.

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scheint er dabei zu vergessen, dass er selbst schon viel früher, nämlich in der zweiten Hälfte der 70er, von seinem vorigen Optimismus abgerückt war. Ganz in diesem Sinne klang in Habermas’ Fazit zum sozialdemokratischen Orientierungsrahmen weniger als zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Studie über die Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus bereits die Ernüchterung über eine „Reformpolitik“ an, die von vornherein „zum Scheitern verurteilt“ sei, „wenn sie die Macht, mit der sie das Wirtschaftssystem für die Verwirklichung politischer Ziele als Instrument einsetzen könnte, gar nicht erst anstrebt“⁴¹⁴. Folglich müsse [e]ine Reformpolitik, die unter einer so unrealistischen Voraussetzung eingeleitet wird, […] zu wirtschafts-, reform- und wahlpolitischen Niederlagen führen, […] die eigenen Anhänger entmutigen, […] auf längere Sicht der Sache des demokratischen Sozialismus schaden. Der Nebel der Reformrhetorik hilft niemandem – es sei denn denen, die Godesberg sagen, wenn sie bloße Rhetorik meinen.⁴¹⁵

Zweifellos verortete sich Habermas als Godesberg-Kritiker der ersten Stunde damals noch in der demokratisch-sozialistischen Tradition der Weimarer Staatsrechtslehre der 20er, die er bereits in den späten 50ern zum Eckpfeiler seiner Demokratietheorie auserkoren hatte.⁴¹⁶ Mitte der 70er war er noch nicht bereit,

 Habermas et al, „Ein biedermeierlicher Weg zum Sozialismus?“, S. 50.  Ebd.  Deshalb begründete Offe die Kritik an der sozialdemokratischen Programmpolitik der 70er im Nachhinein auch mit dem Verweis auf diese ideengeschichtliche Tradition, der Habermas und er damals noch verpflichtet gewesen seien: „Heute würde ich das so ausdrücken: Daseinszweck und Bestimmung der Sozialdemokratie ist es, das Marktgeschehen kapitalistischer Gesellschaften zu beschränken, zu begrenzen und an Regeln zu binden, und das stets im Rahmen des ‚Machbaren‘ und im Geiste einer geradezu ‚biedermeierlichen‘ Konfliktscheu. Das ist normaler Staatsinterventionismus, regulative oder distributive Politik. Der Marktverkehr und die Eigentumsgrundlagen werden selbst nicht infrage gestellt, sondern in ihrer Handhabung beschränkt. Heute sehen wir, daß die Kapazität, solche Beschränkungen zu verhängen, unter bestimmten fiskalischen, ökonomischen, internationalen Maßgaben – Internationalisierung, Denationalisierung, Globalisierung, Finanzkrise sind die Stichworte – selbst eng beschränkt ist. Wie man diese ‚strukturellen‘ Beschränkungen möglichen interventionistischen Beschränkens selbst überwinden kann, das war das Rätsel, mit dem wir uns beschäftigt haben. Das hat die Sozialdemokraten manchmal geärgert, oft aber auch aufrichtig interessiert. Habermas und ich waren beide damals bei Gremien der SPD zu Gast. […] Ein Thema der Debatte war: Wer auf festem Grund des Machbaren und Realistischen zu stehen meint, der steht möglicherweise tatsächlich auf einer Eisscholle, auf der man ausrutschen oder die wegschmelzen kann. Wenn wir wieder festen Grund unter den Füßen haben wollen, müsse folgendes passieren: Man muß den Artikel 14 mit der Sozialbindung des Eigentums ernstnehmen, man muß Möglichkeiten der nicht-marktlichen ‚Investitionslenkung‘ schaffen, und so weiter. Es muß jedenfalls nicht-verhandelbare und kon-

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sich mit einer kapitalistisch kompromittierten liberalen Demokratie bzw. dem vom neuen Bundeskanzler Schmidt propagierten „Modell Deutschland“ – einer pragmatischen Fortsetzung der Sozialen Marktwirtschaft unter Krisenbedingungen – abzufinden. Sein affirmatives Verfassungsverständnis motivierte ihn „nicht zur Unterstützung der DKP, sondern des linken Flügels der SPD“⁴¹⁷. Noch glaubte Habermas zumindest an die Möglichkeit des demokratischen Sozialismus, in dem Investitionsentscheidungen unabhängig von Profitinteressen kapitalistischer Unternehmen getroffen werden könnten, um „verallgemeinerbare Interessen“ zu realisieren, obwohl nach dem Ausbruch der Krise im Kanzleramt längst ein eisigerer Wind wehte, durch den auch die sozialdemokratische Programmarbeit merklich heruntergekühlt war. Gleichzeitig nahm Habermas’ Denken in diesem Zeitraum aber auch pessimistischere Züge an, weil sich die Grenzen seines idealistischen Politikmodells erst in der Krise eklatant offenbarten. Dieses lief ja darauf hinaus, ein bestimmtes Maß an sozialer Entdifferenzierung bzw. Rückschritte im Hinblick auf das geltende ökonomische Wachstumsparadigma in Kauf zu nehmen, um das Verhältnis von privatem Reichtum und öffentlicher Armut gewissermaßen umzukehren. Offe hält rückblickend fest, der eigentliche Sündenfall in der bundesrepublikanischen Politikgeschichte sei die „semantische Perversion des Wortes ,Reform‘“⁴¹⁸ gewesen. Er und Habermas hätten mit der Republik „ja nie im Streit gelegen, sondern mit den kapitalistischen Deformationen der republikanischen Idee von politischer Autonomie“⁴¹⁹. Wen er auf der intellektuellen Ebene für die spätere neoliberale Rückabwicklung des republikanischen Autonomiebegriffs zumindest mitverantwortlich machte, daran ließ Offe keinen Zweifel: „Hennis war ja einmal Sozialdemokrat und ist dann zur CDU gegangen.“⁴²⁰ In der Auseinandersetzung zwischen Habermas und Offe auf der einen und neokonservativen Tendenzwendern wie Hennis auf der anderen Seite wirkten in den 70ern auch die alten Weimarer Frontstellungen fort. Habermas’ zurückliegende Prognose von der drohenden Legitimitätskrise im Spätkapitalismus schlug hier nun wie ein Bumerang auf ihn zurück. Während seine sozialdemokratischen

junktur-immune Statusrechte von Bürgern und Arbeitnehmern geben, und so fort.Wir haben also die linke Staatsrechts-Diskussion aus den zwanziger Jahren wieder aufgenommen. Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel, Franz Neumann, Hermann Heller – die haben wir, wie gleichzeitig viele andere auch, für uns wiederentdeckt.“, Offe, „‚Die Bundesrepublik als Schattenriß zweier Lichtquellen‘“, S. 156.  Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 329.  Offe, „‚Die Bundesrepublik als Schattenriß zweier Lichtquellen‘“, S. 157.  Ebd.  Ebd.

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Kritiker – wie der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Richard Löwenthal – noch vergleichsweise glimpflich mit ihm umsprangen⁴²¹,  Löwenthal erhob gegen Habermas den Vorwurf, er qualifiziere die eigentlich doch sehr leistungsfähige parlamentarische Demokratie unzulässig ab, indem er seine Version einer materialen, „utopisch fingierten Demokratie“ gegen die Verfassungswirklichkeit der Bonner Republik ausspiele – eine Demokratie, die „in komplexen Gesellschaften nicht nur niemals existiert“ habe, „sondern für sie niemals auch nur konkret entworfen worden“, (Löwenthal, „Gesellschaftliche Transformation und demokratische Legitimität“, S. 32) sei. Anders als Habermas, der auf eine unrealistische Dauerpolitisierung der Demokratie hinauswolle, gehörten laut Löwenthal „zur Entwicklung der parlamentarischen Demokratie [in Wirklichkeit] Phasen dramatischer Auseinandersetzungen um große Entscheidungen mit intensiver Anteilnahme eines Großteils der Wählerschaft genauso wie die dazwischenliegenden Phasen relativer politischer Routine und entsprechend verbreiteter Passivität der Bürger“, ebd. S. 33. Statt die Zeichen der Zeit als Legitimationsverlust der politischen Ordnung zu deuten, neigte Löwenthal dazu, „in den Krisentendenzen […] die Voraussetzungen eines möglichen neuen Schubes der Systementwicklung, eines neuen grundsätzlichen Schrittes zur Unterwerfung des kapitalistischen Verwertungsmechanismus unter die Ziele staatlicher [oder überstaatlicher Steuerung – zum Beispiel im Interesse einer qualitativen Wachstumskontrolle –] zu sehen“, der allein „mit den Mitteln der Demokratie des allgemeinen Wahlrechts grundsätzlich“ (ebd. S. 33 f.) erreicht werden könne: „Die weitere demokratische Transformation des ‚spätkapitalistischen‘ Systems, in der das politische Subsystem die Führung der gesellschaftlichen Entwicklung übernehmen und deren Abhängigkeit von der Eigendynamik des kapitalistischen Verwertungsprozesses entscheidend durchbrechen würde, wird so zur real anstrebbaren Alternative eines progressiven Zerfalls des Systems an dem von seinen Krisentendenzen bewirkten Legitimationsverlust und einer durch ausweglose Verschärfung der sozialen Konflikte bewirkten revolutionären Identitätskrise.“, ebd. S. 34. In seiner Stuttgarter Hegelpreisrede Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität herausbilden? hatte Habermas zu Beginn des Jahres 1974 unmissverständlich klargestellt: „Solange die Gesellschaft Klassenstrukturen aufweist, muß die staatliche Organisation Teilinteressen gegenüber Gesamtinteressen privilegiert zur Geltung bringen. Das politische System bleibt abhängig von Imperativen eines Wirtschaftssystems, das die Ungleichverteilung von Produktivmitteleigentum, also von Macht und Reichtum institutionalisiert hat. Wie sehr sich auch das kapitalistische Wirtschaftssystem inzwischen entwickelt und im Rahmen der entfalteten Konkurrenzdemokratie auch verändert hat, an einem Grundtatbestand hat sich nicht so viel geändert: auch heute bilden sich die gesellschaftlichen Prioritäten des staatlichen Handelns weithin naturwüchsig und nicht als Ausdruck der verallgemeinerungsfähigen Interessen der Gesamtbevölkerung.“, Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 108. Wie Löwenthal zu Recht feststellte, lief diese Anklage der strukturellen Ungleichverteilung von Macht und Reichtum im spätkapitalistischen Klassenstaat der Bundesrepublik gerade nicht auf „die ‚bürgerlichen‘ Wertideen der Gleichheit der politischen Rechte und sozialen Chancen, des gleichen Zugangs zu Macht und Reichtum“ hinaus, sondern zielte letztlich allein auf die demokratische Verwirklichung einer „Gleichheit der faktischen Situation, der strukturellen Verteilung von Macht und Reichtum selbst“. In dieser in Habermas’ kommunikativer Ethik notorisch privilegierten politischen Zielbestimmung konnte Löwenthal jedoch keineswegs „das grundlegende verallgemeinerungsfähige Interesse der Menschheit in allen Hochkulturen“ erkennen, genauso wie er es bezweifelte, „daß [die Gleichheit der faktischen Situation] heute ohne einen schweren Rückschlag in

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spielte es für die neokonservativen Hardliner in der zweiten Hälfte der 70er schon keine Rolle mehr, dass er sich in seiner Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit Anfang der 60er noch in aller intellektuellen Redlichkeit vom „Hobbismus“ und der „akklamatorischen Demokratie“⁴²² Carl Schmitts abgegrenzt hatte. Auf dem Duisburger Politologentag, der im Herbst 1975 in Anlehnung an die gesellschaftstheoretischen Entwürfe von Habermas und Luhmann die Frage nach den Legitimationsproblemen politischer Systeme ⁴²³ aufwarf, wurde Habermas vom einstigen Smend-Schüler Hennis, der mittlerweile zu einem umtriebigen Sprachrohr des Neokonservatismus in der Bundesrepublik avanciert war, kurzerhand mit Hitlers Kronjuristen in einen Topf geworfen.⁴²⁴ Fast unbemerkt hatte Hennis, der „Politik in ihrem alten Sinne stets als ‚praktische Wissenschaft‘“⁴²⁵ verstanden wissen wollte, in einer Fußnote seiner Broschüre über Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Habermas schon Ende der 60er die „fehlende Auseinandersetzung mit der Schmitt-Schule“⁴²⁶ moniert. In Duisburg wurde er konkreter und schob seinem Widersacher „den Sophistentrick des Gegeneinanderausspielens von Materialem und Formalem“ unter, den „im Zusammenhang des Legitimitätsproblems“ Schmitt in den 20ern uraufgeführt habe. Habermas’ „Rekurs auf partizipatorische Demokratie, auf Fundamentalpolitisierung oder -demokratisierung und auf einen angeblich verschütteten ‚klassischen‘ Demokratiebegriff“ erschien Hennis viel zu „dürftig“, um „sich auf ein so heikles Spiel“ einzulassen, „mit dem man schon einmal dazu beigetragen“

der Leistungsfähigkeit von Wirtschaft, Technik und Wissenschaft und allgemein im Niveau der ‚Produktivkräfte‘ und ohne enorme Opfer an Handlungsspielraum und daher Selbstverwirklichung eines Großteils der Angehörigen der entwickelten Industriegesellschaften hergestellt werden kann“. Seit die Wachstumsmaschine in der Krise ins Stocken geraten war, schien die dem Habermas’schen Gleichheitspostulat zugrundeliegende Überflussgesellschaft in Löwenthals Augen zudem „weit entfernt“, und es sei „durchaus nicht gewiß, daß wir ihr in der absehbaren Zukunft näher kommen werden“, Löwenthal, „Gesellschaftliche Transformation und demokratische Legitimität“, S. 37.  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 268 f.  Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme.  Dass über dem Legitimitätsstreit der 70er zwischen Hennis und Habermas „die dunklen Wolken Weimars“ hingen, hat der Hennis-Biograf Stephan Schlak – wenn auch mit einem gewissen Hang zur anekdotischen Verunklarung – bereits ausführlich rekonstruiert (vgl. Schlak, Wilhelm Hennis, S. 164 ff.) und spielt für die Einbettung der Auseinandersetzung zwischen den neomarxistischen Krisentheoretikern und ihren neokonservativen Widersachern in den Krisenkontext der 70er auch nur eine untergeordnete Rolle.  Ebd. S. 80.  Hennis, „Verfassung und Verfassungswirklichkeit“, S. 210, Fn. 74.

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habe, „den Versuch der Demokratie in Deutschland intellektuell zuschanden zu machen“⁴²⁷. Während Max Webers empiristisch verkürzter Legitimitätsbegriff letztlich nur „untauglich für kritisch-normative Abgrenzung legitimer von illegitimer Herrschaft“ sei, bestehe der noch größere intellektuelle Missgriff in jene[n] ‚materialen‘ Gegenbegriffe[n], die man im Stil Carl Schmitts gegen bloße Formallegitimität ausspielt oder die uns als oftmals prolongierter Wechsel auf die Zukunft als Diskurswahrheit in Aussicht gestellt werden – sie verschlimmern die Lage eher, da vor ihrem Richterstuhl politische Herrschaft wegen des utopischen, nie einlösbaren Charakters dieser Vorstellungen kaum je gerechtfertigt werden kann oder man vom Regen der Formallegitimität nur in die Traufe der Aufgabe aller Errungenschaften freiheitlicher Ordnungen käme.⁴²⁸

Demgegenüber müsse legitime Herrschaft weiterhin in erster Linie als „eine Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft“ verstanden werden, „die den Einzelnen aus den festen Klammern der antiken und mittelalterlichen Ordnung in einen Raum der privat-gesellschaftlichen Freiheit und der kritischen Distanz gegenüber der politischen Herrschaft entlassen hat“⁴²⁹. Ihr Kern bestehe seit der englischen Neuzeit in der Anerkennung von „Schranken der Herrschaft“, und es sei nur „obrigkeitsstaatliches Erbe, wenn die gegenwärtig herrschende deutsche Verfassungstheorie die sogenannten Grundwerte der Verfassung – Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit etc. – als zu konkretisierende und zu aktualisierende Rechtsgründe im Sinne von Zwecken interpretiert“⁴³⁰. Hennis wollte nicht einleuchten, „wie man die unbestreitbar großen Schwierigkeiten und Probleme des Regierens, vor denen wir wie alle Industriestaaten stehen, ohne arge Verzerrung als Legitimationsprobleme oder gar als Beleg für Legitimationskrisen rubrizieren kann“⁴³¹. In Habermas’ Krisentheorie des Spätkapitalismus erkannte er folglich „viel Wunschdenken“⁴³². Man könne nicht „alles und jedes, Konjunktursteuerung, Rezession etc.“, gleich als Legitimationskrise der politischen Ordnung ausgeben. Dazu müssten die Nöte schon viel existenziellerer Natur sein: „Nicht mehr unter einer Herrschaft leben können, sich ihr entziehen oder sie revolutionär verändern müssen: Nur wenn es so steht,

     

Hennis, „Legitimität“, S. 24. Ebd. S. 26. Ebd. S. 27. Ebd. S. 29. Ebd. S. 17. Ebd.

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kann man von einer Legitimationskrise reden.“⁴³³ Mehr als die „Klassenstruktur entwickelter Industriegesellschaften“, die „eine viel zu fluide, überspringbare, dissimulierbare Barriere“ sei, „als daß sie je für sich – oder ‚in letzter Instanz‘ – Legitimitätskrisen oder auch nur -defizite hätte produzieren können“, seien kulturelle Unterscheidungsmerkmale wie „Religion, Nation, Hautfarbe […] Legitimitätsfaktoren erster Ordnung: und natürlich, an erster Stelle rangierend, der Charakter der Herrschaft, deren despotischer oder freier Charakter doch nur Aberglaube, aber kein wissenschaftlich unbefangener Zugriff restlos aus dem ‚Klassencharakter‘ meint ‚ableiten‘ zu können“⁴³⁴. So sei es auch nicht weiter verwunderlich, dass „Klassenauseinandersetzungen im Kapitalismus [nie] auch nur einen Hauch jenes Hasses“ erzeugt hätten, „den noch immer religiöse, nationale, ethnische Inhomogenitäten und der Haß auf den politischen Unterdrücker bewirken können […]“⁴³⁵. Aus ideengeschichtlicher Perspektive berief sich Hennis auf die von Habermas bereits in dessen Marburger Antrittsvorlesung verabschiedete klassische Lehre von der Politik, die der Ahnenreihe großer politischer Denker von Aristoteles bis Locke folgte, und knüpfte seinen Legitimitätsbegriff in traditioneller Manier an „die Natur einer Regierung, die man sittlich anerkennen“⁴³⁶ können müsse. Gleichzeitig nahm er Anleihen bei der Weimarer Integrationslehre Smends, der in seinem Hauptwerk Verfassung und Verfassungsrecht aus den späten 20ern bereits „persönliche, sachliche und funktionelle Integrationsfaktoren“⁴³⁷ einer politischen Ordnung voneinander unterschieden hatte. Daraus folgerte Hennis, dass politische Herrschaft immer dann als legitim angesehen werden konnte, wenn sie sich durch personale Ansehensmacht auszeichne, ihren Aufgabenbereich vernünftig einzuschätzen – also vor allem einzugrenzen – wisse und wenn sie klaren institutionellen Regeln unterliege: „Heute können die Personen, morgen die richtig erfaßten Aufgaben, zu anderer Zeit die Formen der Willensbildung, die konsentierenden und limitierenden Strukturen der öffentlichen Ordnung der wichtigste Faktor sein.“⁴³⁸

 Ebd. S. 19 f. Interessanterweise schrak in ähnlicher Weise auch Dahrendorf – wie er später ausführte – vor der Verwendung eines „beladene[n] und belastende[n[ Ausdruck[s]“ zurück, impliziere der Begriff einer „Legitimitätskrise“ doch „eine Situation, in der der Zweifel an politischen Institutionen ihr Überleben selbst in Frage“ (Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 199) stelle.  Hennis, „Legitimität“, S. 22 f.  Ebd. S. 23.  Ebd. S. 30.  Ebd. S. 31.  Ebd. S. 33.

2.2 Die Rache des Konservatismus

255

Unbestritten hatte Hennis den Rücktritt des idealistischen Kanzlers Brandt als überfälligen Schritt zur Abwendung einer politischen Führungskrise in der Bundesrepublik positiv verbucht. Münzt man seinen klassischen Legitimitätsbegriff also auf die zeitgeschichtlichen Entwicklungen, konnte der ramponierte Ruf der Bundesregierung infolge der Ablösung Brandts durch den kompetenten Macher Schmidt einigermaßen wiederhergestellt werden. Doch noch viel mehr als einen personalen Ansehensverlust der Exekutive fürchtete Hennis schon seit Mitte der 60er die drohende Unregierbarkeit des bundesrepublikanischen Staates, der sich „heute gegenwärtig in der Tendenz“ auf dem Weg „zu einem überzogenen Sozialund Rahmenrichtlinienstaat“⁴³⁹ befinde. Sein wohlfahrtsstaatskritisches Fazit lautete: „Ein Staat, in dem demnächst fünfzig Pfennig jeder Mark von öffentlichen Händen befingert werden, ist nicht mehr legitim im Sinne jenes freiheitlich-bürgerlichen Konzepts, von dem ich ausgehe. Dieses Legitimitätsideal verblaßt, für viele hat ein sozialstaatliches Protektorat längst größere Attraktivität.“⁴⁴⁰ Dieser „alteuropäische Zuschnitt der Argumentationsstrategie“⁴⁴¹ erschien Habermas in seiner Duisburger Replik hoffnungslos anachronistisch, zumal er ja bereits die von Ernst Forsthoff in der frühen Bundesrepublik propagierte rechtsstaatliche Immunisierung des Staates gegen wachsende sozialstaatliche Ansprüche für eine zweifelhafte Beschwörung des liberalen Manchesterkapitalismus gehalten hatte. Der „Traditionalismus eines Michael Oakeshott“ – zu dieser Zeit einer der maßgeblichen politikphilosophischen Vordenker des Konservatismus in Großbritannien – sei letztlich „der Ort, den auch Hennis einnimmt, wenn er zwar Tugend und Gerechtigkeit als Geltungsgrund legitimer Herrschaft voraussetzt, dann aber doch nur auf Gewohnheiten rekurriert“⁴⁴². Solche Gewohnheiten – die verklärten Ausläufer eines Common Sense, den Margaret Thatcher später ins Zentrum ihrer rhetorischen Begleitmusik zur neoliberalen Wende rückte –⁴⁴³ erinnerten Habermas nur an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, „da große Volksmassen ohne Pression auf Plätzen und Straßen zusammenliefen, um einem Reich, einem Volk und einem Führer zu akklamieren – was anders sollte sich darin ausgedrückt haben als ein untheoretisches, durchschnittliches Normbewußtsein?“⁴⁴⁴. So selbstbewusst er diese Retourkutsche für Hennis’ überzogenen Schmittianismus-Vorwurf auch vortragen mochte, darf man sich nicht darüber hinweg-

     

Ebd. Ebd. S. 35. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 295. Ebd. S. 298. Vgl. dazu Séville, ‚There is no alternative‘, S. 127 ff. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 296.

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täuschen, dass Habermas seine frühere Prognose einer Legitimationskrise in Duisburg letztlich zurücknahm. Zwar war ihm weiterhin unbegreiflich, „daß Legitimationsprobleme, wie Hennis behauptet, nichts mit Klassenkonflikten zu tun haben sollen“⁴⁴⁵. Vielmehr müsse man sich aus dieser „politologischen, auf den Staat fixierten Blickverengung lösen“⁴⁴⁶ und die synchrone Entwicklung von moderner Staatsgewalt und kapitalistischem Wirtschaftssystem ins Auge fassen, damit sich einem die Legitimationsprobleme fortgeschrittener Industriestaaten in ihrer ganzen Bandbreite überhaupt erschlossen. Laut Habermas waren die westlichen Industriestaaten in der Krise mehr denn je vor die Schwierigkeit gestellt, die Bevölkerung mit Hilfe „eine[r] wachstumssichernde[n] Konjunkturpolitik, eine[r] am kollektiven Bedarf orientierte[n] Beeinflussung der Produktionsstruktur und Korrekturen am Muster sozialer Ungleichheit“ zu pazifizieren, „ohne die Funktionsbedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft und das heißt: ohne das Komplementärverhältnis zu verletzen, welches den Staat vom ökonomischen System ausschließt und zugleich von dessen Dynamik auch abhängig macht“⁴⁴⁷. Demnach bestand das grundlegende Legitimationsproblem des Staates während der Rezession auch nicht länger in der Frage, „wie die funktionalen Bezüge zwischen Staatstätigkeit und kapitalistischer Wirtschaft zugunsten ideologischer Gemeinwohldefinitionen verschleiert werden können. Das ist, jedenfalls in Zeiten wirtschaftlicher Krise, nicht mehr möglich – und die marxistische Enthüllung nicht mehr nötig.“⁴⁴⁸ Unter den Bedingungen der weltpolitischen Blockkonfrontation bestehe das Problem für die politischen Eliten im Westen „vielmehr darin, die Leistungen der kapitalistischen Wirtschaft als die im Systemvergleich bestmögliche Erfüllung verallgemeinerbarer Interessen darzustellen, oder wenigstens zu unterstellen“⁴⁴⁹. Habermas sah weiterhin „eine Reihe von restriktiven Bedingungen“ am Werk, „unter denen der Staat heute seine legitimationswirksamen Aufgaben in Angriff nehmen“⁴⁵⁰ müsse. An allererster Stelle nannte er dabei den in der Wirtschaftskrise immer evidenteren Zielkonflikt „zwischen einer Stabilitätspolitik, die ihre Maßnahmen an der zyklischen Eigendynamik des Wirtschaftsprozesses ausrichten muß, einerseits, und einer Reformpolitik andererseits, die die sozialen Kosten des kapitalistischen Wachstums kompensieren soll und Investitionen ohne Rücksicht auf Konjunkturlage und betriebswirtschaftliche Rentabilität erfor-

     

Ebd. S. 275. Ebd. S. 282. Ebd. S. 288. Ebd. S. 289. Ebd. Ebd. S. 290.

2.2 Die Rache des Konservatismus

257

dert“⁴⁵¹. Musste der Staat in der Krise also den unmöglichen Drahtseilakt vollführen, gleichzeitig die Staatsverschuldung abzubauen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage anzukurbeln und die unternehmerischen Investitionen anzureizen, habe die voranschreitende „Internationalisierung von Arbeit und Kapital“ – der internationale Abbau von Kapitalkontrollen war nach dem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems von Bretton Woods bereits in vollem Gang – seinen Handlungsspielraum „auch nach außen“⁴⁵² stark eingeschränkt. Diese Lagebeschreibung erwies sich angesichts der Grenzen der pragmatischen Krisenpolitik des Machers Schmidt als äußerst luzide. Nach der Rezession von 1974/75 kam es in der Bundesrepublik 1976 zwar schon wieder zu einem ökonomischen Aufschwung. Das Wirtschaftswachstum betrug in diesem Jahr über fünf Prozent und weckte Erinnerungen an die goldene alte Nachkriegszeit. Letztlich handelte es sich aber nur um eine „kurzlebige Lagerkonjunktur“⁴⁵³, die mit einer massiven Ausweitung der Staatsverschuldung einhergegangen war und keine nennenswerten Effekte auf den Arbeitsmarkt hatte. Auch in der Bundesrepublik herrschte mittlerweile keine Vollbeschäftigung mehr, weil sich die strukturelle Arbeitslosigkeit infolge der Ölkrise deutlich erhöht hatte: Legt man die gängigen wirtschaftspolitischen Rezepte der Zeit zugrunde, sah sich die Schmidt-Regierung in dieser Lage mit der unlösbaren Aufgabe konfrontiert, einerseits einen klaren Konsolidierungskurs zum Abbau der Staatsverschuldung einleiten zu müssen, um den künftigen Handlungsspielraum der Politik nicht noch weiter einzuschränken, und andererseits (teure) wachstums- und beschäftigungspolitische Investitionsprogramme aufzulegen, zumal sich das Wirtschaftswachstum bereits 1977 schon wieder deutlich verringerte. Im Hinblick auf die Konsolidierung fehlte es der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung verständlicherweise „am politischen Durchsetzungsvermögen“⁴⁵⁴. Aufgrund der steigenden Kosten für die Sozialversicherung erreichte die Staatsverschuldung im Verlauf der Schmidt-Ära einen neuen Höchststand. Was die Ausgabenpolitik der sozialliberalen Koalition betraf, verabschiedete der Bundestag im März 1977 unter dem Beifall des Sachverständigenrats ein „Programm für Zukunftsinvestitionen“, das mit seinem Schwerpunkt auf der Schaffung von Investitionsanreizen zumindest keine neuen dauerhaften finanziellen Verpflichtungen für die öffentliche Hand bedeutete und die von den Gewerkschaften und vom linken Flügel der SPD angemeldeten „Forderungen nach einer

   

Ebd. Ebd. Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 217. Ebd. S. 215.

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althergebrachten Fortführung der Globalsteuerung, nach einem ‚Arbeitsbeschaffungsprogramm‘, nach Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage angebotspolitisch“⁴⁵⁵ zu unterlaufen schien. Dieser Versuch einer gezielten Ausgabenpolitik zur Verbesserung der Profitabilitätsbedingungen des Kapitals wurde jedoch dadurch konterkariert, dass US-Präsident Jimmy Carter den Bundeskanzler auf dem Bonner Weltwirtschaftsgipfel von 1978 zu einem „‚Rückfall‘ in eine globale Anregung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage“⁴⁵⁶ im Umfang von fast 30 Milliarden D-Mark drängte, um die stagnierende Weltwirtschaft anzukurbeln und zu einem Abbau außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte beizutragen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen in der globalen politischen Ökonomie erwartete Habermas keine Legitimationskrise mehr, sondern sah den kapitalistischen Staat allein mit wiederkehrenden „Erscheinungen der Delegitimation“ konfrontiert, die „unvermeidlich“ seien, sobald das staatliche Krisenmanagement folgenreich versagte, sobald es dem Staat also nicht mehr gelang, „die dysfunktionalen Nebenwirkungen des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses in den Grenzen zu halten, die vom Wählerpublikum noch akzeptiert werden“, oder „die Schwellen der Akzeptabilität selbst zu senken“⁴⁵⁷. Dabei glaubte er in der Bundesrepublik Mitte der 70er zwar bereits die „Symptomatik eines verschärften Verteilungskampfes“ wahrzunehmen, „der nach den Regeln eines Nullsummenspiels zwischen Staatsquote, Lohnquote und Gewinnrate abläuft“: So könne man an der „Inflationsrate, staatliche[n] Finanzkrise und Arbeitslosenquote“ mittlerweile das Ausmaß „des Versagens vor Aufgaben der Stabilitätssicherung“ ablesen, nachdem „der Zusammenbruch der Reformpolitik“ bereits die Unfähigkeit des Staates bewiesen habe, „unerwünschte Produktionsund Privilegienstrukturen zu verändern“⁴⁵⁸. Allerdings musste Habermas gleichzeitig einräumen, dass die „Ausschläge im politischen System“ der Bundesrepublik in der Krise bislang „beinahe minimal“⁴⁵⁹ geblieben waren. Er stellte sogleich offen die Frage, welcher Anteil am geringen Demokratisierungswillen und Politisierungsgrad der Bevölkerung wohl „einer zuerst von den Hochschulen ausstrahlenden Tendenzwende“ zukomme, „die mit der Mobilisierung von Angst, viel anthropologischem Pessimismus, der Beschwörung von Unterwerfungstugenden und wenig Argumenten zielbewußt herbeigeführt worden“⁴⁶⁰ sei. Zwar meldete Habermas weiterhin Zweifel an, dass die von den

     

Ebd. S. 219. Ebd. S. 222. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 291. Ebd. Ebd. Ebd. S. 292.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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neokonservativen Tendenzwendern propagierte Lebensform privater Häuslebauer nach der Rückkehr des Krisenkapitalismus noch sonderlich ziehe. Dennoch schien er den selbsternannten Machern auch auf Dauer zuzutrauen, „praktische Fragen in technische umzudefinieren“ und „Fragen, die den Werteuniversalismus der bürgerlichen Gesellschaft radikalisieren, gar nicht erst aufkommen zu lassen“⁴⁶¹. Seine Vision einer demokratisch-sozialistisch organisierten Gesellschaft rückte in dieser Zeit in weite Ferne. Da Habermas den unlösbaren Zielkonflikt des kapitalistischen Staates zwischen Haushaltskonsolidierung und sozialstaatlicher Expansion im Krisenzeitalter klar gesehen hat und im Verlauf der 70er ja selbst pessimistischer wurde, was den erhofften kapitalismuskritischen Wertewandel innerhalb der Bevölkerung anging, ist es rückblickend umso erstaunlicher, dass er in dieser Phase auch immer unbeirrter nach Spuren der Vernunft aufseiten des Demos suchte, um normative Hoffnungen und harte Wirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen. So schien es ihm in seiner Duisburger Rede ernsthaft unvermeidlich, dass sich, wenn schon nicht der possessive Individualismus, so doch wenigstens das Nationalbewusstsein der Menschen in westlichen Industriegesellschaften in naher Zukunft erschöpfen werde. Im Zuge seiner kommunikationstheoretischen Wende legte er sich also – wie bereits mit seiner These von der Legitimationskrise des spätkapitalistischen Staates – erneut voreilig auf eine Position fest, die er mehr als zwanzig Jahre später, als der völkerrechtliche Idealismus in den 90ern seinen Höhepunkt erreichte, in seiner Beschwörung einer postnationalen Konstellation unter den Vorzeichen eines vermeintlichen „Endes der Geschichte“ auf die Spitze trieb. Um Hennis’ kulturalistische Verkürzung des Staatsbürgerbegriffs zu kontern, verstieg er sich bereits Mitte der 70er zu der Bemerkung, dass es „heute nicht mehr so einfach“ sei, „innere und äußere Feinde nach nationalen Merkmalen auszugrenzen. Als Ersatz dienen Merkmale der Systemopposition (etwa im Sinne des Radikalenerlasses); aber umgekehrt scheint sich Systemmitgliedschaft nicht zu einem positiven Identifikationsmerkmal aufbauen zu lassen.“⁴⁶² Doch unterschätzte er damals nicht nur die bleibende Integrationskraft nationalistischer Ideologie, sondern überschätzte zugleich die öffentliche Reaktion auf die wiederholte kommunikative Selbstdementierung der Angehörigen des Staatsapparats in der Mediendemokratie, wo sich Politiker angesichts ihrer wi-

 Ebd.  Ebd. S. 291

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derstreitenden Steuerungsaufgaben vor aller Augen in rhetorischen Sackgassen wiederfinden.⁴⁶³

Neokonservative Bodengewinne in der unregierbaren Demokratie Der spätere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte bereits 1967 die Gegenthese zu Habermas’ Version einer traditionsbereinigten kommunikativen Kompetenz des Demos formuliert, indem er das nachgerade berühmt gewordene Diktum aufstellte, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen“ lebe, „die er selbst nicht garantieren kann“: Er müsse „die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft“⁴⁶⁴ gewinnen. Der liberale Verfassungsstaat war demzufolge stets auf das sittliche Entgegenkommen seiner Bürger angewiesen, das er auch in Krisenzeiten „nicht von sich aus, das heißt mit Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen“ könne, „ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und […] in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgefunden hat“⁴⁶⁵. Diese für „das Institutionen- und Staatsverständnis der Liberalkonservativen“ konstitutive Formel, mit der Böckenförde die Erhaltung der liberalen Demokratie an eine „Vermittlungsleistung ‚sittlicher Institutionen‘“⁴⁶⁶ knüpfte, hatte bei ihrer Wiederveröffentlichung ein Jahr vor dem Höhepunkt des Linksterrorismus im Deutschen Herbst von 1977 die Zeichen der Zeit auf ihrer Seite. Habermas hatte solche Sittlichkeitsvorstellungen im Spätkapitalismus gerade noch für obsolet erklären wollen. Doch seine konservativen Gegenspieler – zu denen der moderate Schmitt-Schüler Böckenförde nur punktuell gehörte – wussten die grassierende Krisenstimmung und die Angst vor der Handlungsunfähigkeit des Staates in den 70ern jedoch zu nutzen, um eine dekadenztheoretische Gegengeschichte zu seiner evolutionstheoretischen Erzählung von der aufsteigenden Moral moderner westlicher Industriegesellschaften und deren „postkonventionellen Bewußtseinsstufen“⁴⁶⁷ in Umlauf zu bringen.

 Wie im Schlussteil der vorliegenden Arbeit angedeutet werden soll, hat seit den 70ern eine entgegengesetzte Entwicklung stattgefunden: Die Wiederkehr des Nationalismus trifft auf eine in sich widersprüchliche, postfaktische Politik, die die vorherrschenden Ressentiments keinesfalls dementiert, sondern noch verstärkt.  Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, S. 60.  Ebd.  Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 165 f.  Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 266.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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Als sich das technokratische Durchwursteln unter Bundeskanzler Schmidt zum ultimativen Modus der Krisenpolitik entwickelt hatte, konkurrierten miteinander im Wesentlichen drei Politikangebote zur Therapie eines mit seinen vielfältigen Aufgaben zunehmend überlasteten demokratischen Staates. Grob vereinfacht lässt sich sagen: Die Neokonservativen wollten die Brandt’sche Reformpolitik so weit wie möglich zurücknehmen und in der Bevölkerung einen vergessen geglaubten Tugendkatalog aus den 50ern wiederbeleben, die Liberalen die Bürokratie zurechtstutzen und das Marktprinzip wieder stärker zur Geltung bringen, und die Linken hofften nach wie vor auf eine Überwindung des Kapitalismus durch den weiteren Ausbau staatlicher Steuerungskapazitäten und die Demokratisierung der Wirtschaft. Zwischen Neokonservativen und Liberalen kam es in dieser Phase wenig überraschend zu inhaltlichen Überlappungen, insbesondere was die Forderung nach einer „Senkung gesellschaftlicher Ansprüche an den Staat“ betraf: Öffentliche Dienstleistungen sollten privatisiert, die Wirtschaft entstaatlicht und bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. […] Recht eigentlich sollte also das Prinzip von Markt und Wettbewerb dort Steuerungsfunktionen übernehmen, wo bislang Gewerkschaften, Verbände und staatliche Bürokratien Ansprüche, Subventionen und Interventionen immer weiter gesteigert hatten.⁴⁶⁸

Fortan gelang es einem Liberalen wie Dahrendorf immer weniger, eine eigenständige und widerspruchsfreie liberale Position zu formulieren, ohne in neokonservatives Fahrwasser zu geraten. Zugleich kamen die neokonservativen Krisentheoretiker umso selbstbewusster aus der Deckung, je weniger sie sich noch mit einer gesellschaftspolitischen Demokratisierungseuphorie herumschlagen mussten, die in der andauernden Wirtschaftskrise einem Klima der Angst vor der Stagflation gewichen war und große Teile der Bevölkerung für ihre Positionen empfänglich gemacht hatte. Analog zu Schelskys sozialstaatskritischer Abgrenzung zwischen dem „selbständigen“ und dem „betreuten“ Menschen⁴⁶⁹ betonten sie „die Notwendigkeit einer Widerherstellung einer Staatlichkeit, die sich gegenüber den gesellschaftlichen Kräften zu behaupten weiß“, und argumentierten entlang der Maßgabe: „Nicht nur der Kapitalismus, auch der Staat benötigt als sein Komplement gewisse Tugenden vonseiten der Untertanen bzw. Bürger.“⁴⁷⁰ Auf der Suche nach den Schuldigen für die finanzielle Überlastung des Staates und die stotternde Ökonomie nahmen sie vor allem zwei Akteure ins Visier, die

 Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 243.  Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch.  Biebricher, Geistig-moralische Wende, S. 105.

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während der trente glorieuses noch als Garanten der Stabilität der demokratischen Nachkriegsordnung gegolten hatten: Während die Schuld für die hohe Inflation und die steigende Arbeitslosigkeit allen voran vermeintlich maßlosen Gewerkschaften in die Schuhe geschoben wurde, weil diese im Zeitalter der sozialen Demokratie zu viel Organisationsmacht angehäuft und marktverzerrende Lohnabschlüsse erzielt hätten, sah man im Überbietungswettbewerb der Parteien um Wählerstimmen und dem massiven Ausbau des Sozialstaats letztlich die Ursachen für eine ungesunde Anspruchsinflation der Bevölkerung, die von linken Verführungskünstlern wie Habermas zudem legitimiert werde.⁴⁷¹ Trotz einiger auffallender Parallelen zu den Auseinandersetzungen in den 50ern und 60ern begannen sich die Vorzeichen im intellektuellen Feld der Bundesrepublik im Verlauf der 70er merklich zu verschieben: Während das linke Krisennarrativ, das die Überforderung des keynesianischen Steuerungsstaates auf die evidenten Widersprüche des (Spät‐)Kapitalismus zurückführte, signifikant an Strahlkraft verlor, übernahmen die neokonservativen Intellektuellen in der öffentlichen Debatte über die Krise der westlichen Demokratie die Führung.⁴⁷² In der Bundesrepublik trug vor allem der Linksterrorismus der RAF zum diskursiven Hoch der Neokonservativen bei. So fand es Schelsky Mitte der 70er „keineswegs unerfreulich, daß nicht nur Inflation, Löhne, Steuern, Konsumeinschränkung usw. oder gar die zum öffentlichen Verständnis wenig geeigneten Risiken der Außenpolitik das öffentliche Bewußtsein beherrschen, sondern auch grundsätzliche Fragen des Rechtsstaates“: Man könne „dankbar sein, daß dieser Angriff auf unseren Staat so früh und so überradikal kam“⁴⁷³. Kurz darauf frohlockte er: „Wenn statt über ‚Emanzipation‘, ‚Partizipation‘, ‚Transparenz‘ und ähnliches

 Laut Lorig entwickelten die Neokonservativen „den Widerspruch zwischen der institutionellen Organisation und den normativen Grundlagen des Wohlfahrtsstaates in drei Argumentationslinien: dem Argument der Anspruchsinflation, dem Argument der Bürokratisierung und dem der verlorenen Verbindlichkeiten. Im Gegensatz zu marxistischen Krisentheorien ist aber der Widerspruch, der zwischen Anspruch und Realität klafft, kein unauflösbarer. Er bleibt im Rahmen der liberal-demokratischen Systeme lösbar, wenn eine durchsetzungsfähige politische Führung vorhanden ist.“, Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 117.  Diese Entwicklung ging seit Mitte der 70er von den USA aus, vgl. dazu das internationale Gründungsdokument des Neokonservatismus von Crozier/Huntington/Watanuki, The Crisis of Democracy. Über das die Gemeinsamkeiten von US-amerikanischem und bundesrepublikanischem Neokonservatismus vgl. Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika.  Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, S. 143.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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jetzt wissenschaftlich über ‚Regierbarkeit‘ gearbeitet und publiziert wird – ausgezeichnet.“⁴⁷⁴ Hennis agierte in dieser Hinsicht als neokonservativer Spiritus Rector, als er Ende der 70er zusammen mit Peter Graf Kielmansegg und Ulrich Matz zwei von der Thyssen-Stiftung geförderte Bände zur Problematisierung der Regierbarkeit westlicher Demokratien herausgab. In ihrer Zeitdiagnostik zeigten sich die neokonservativen Unregierbarkeitstheoretiker, wie Offe in seinem resignativen Beitrag für die von Habermas ebenfalls Ende der 70er herausgegebenen Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘ anmerkte, im Vergleich zu ihren altkonservativen Vorläufern „gegen marxistische Ideologiekritik, gegen den Verdacht bloßer Stimmungsmache und Mystifikation nicht nur wegen ihres deutlich verbesserten theoretischen Niveaus resistent“, sondern folgten „überdies, wenn auch mit konträrer politischer Nutzanwendung, einem Kernstück jener politisch-ökonomischen Krisenargumente, die sich die theoretische Linke bislang als ihren Erkenntnisvorsprung zugute hielt“⁴⁷⁵. Die „neo-konservative Krisenliteratur“ habe nicht nur die Reste ihres linken Pendants nahezu vollständig aus dem Bereich öffentlicher Aufmerksamkeit verdrängt, sondern auch mit Geschick gewisse Versuche und Ansätze, die aus der Tradition einer kritischen Theorie des fortgeschrittenen Kapitalismus (z. B. Theoreme über die Krise des Steuerstaates, Legitimationsprobleme, Disparitäten- und Randgruppenkonflikte, ökologische Krisen) stammen, für ihre Zwecke umgedeutet und adaptiert.⁴⁷⁶

Wie Frank Bösch in seinem Buch über die Zeitenwende 1979 anmerkt, waren die von Habermas herausgegebenen Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘ kein Zeugnis eines selbstbewussten linken Denkkollektivs, sondern konstatierten vielmehr „ernüchtert eine ‚neue Unübersichtlichkeit‘ zwischen dem Utopieverlust der Linken, einer konservativen Tendenzwende und einer Krisenwahrnehmung, die viele an die frühen 1930er-Jahre erinnerte“⁴⁷⁷. In dieser politischen Großwetterlage, die laut Habermas mit einer „Selbsteingrenzung“ der Linken einherging, „die sich in dogmatische oder in lebensreformerische Ghettos“ zurückzögen und „aus der politischen Öffentlichkeit durch selbsternannte Türhüter einer eher militarisierten denn wehrhaften Demokratie“⁴⁷⁸ ausgegrenzt würden, versuchte er das Projekt einer Kritischen Theorie der Gesellschaft zwar noch bis in die 80er

 Ebd. S. 161.  Offe, „‚Unregierbarkeit.‘ Zur Renaissance konservativer Krisentheorien“, S. 297.  Ebd. S. 295. Umgekehrt hatte Habermas aber in den späten 50ern und frühen 60ern auch von den konservativen Zeitdiagnosen profitiert.  Bösch, Zeitenwende 1979, S. 14.  Habermas, „Einleitung“, S. 13.

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fortzuschreiben. Dieses Vorhaben verstand er aber selbst zunehmend als Kampf gegen Windmühlen. Rigide Ordnungs- statt ausufernde Programmpolitik, Selbstregulierung des Marktes statt staatlicher Regulierung, individuelle Leistung statt kollektiver Ansprüche, Tugend statt Diskussion, Tradition statt Emanzipation, Freiheit im liberalen Verfassungsstaat statt Gleichheit in der exzessiven Demokratie – der Neokonservatismus hatte viele Facetten. Auch wenn seine Forderungen in unterschiedlichen Ländern auf unterschiedlich starke Weise Eingang in praktische Partei- oder Regierungspolitik fanden, reicht an dieser Stelle der Hinweis, dass das neokonservative Denken seit den späten 70ern in politisch-praktischer Hinsicht jedenfalls deutlich wirkmächtiger war als die Idee des demokratischen Sozialismus, die auf eine stärkere Demokratisierung der Produktionsverhältnisse und Produktionsmittel (der Wirtschaft) hinausgelaufen wäre.⁴⁷⁹ Diese historische Niederlage der Linken hinterließ auch bei Habermas lange vor dem Zusammenbruch des Ostblocks Eindruck, zumal sich die neokonservativen Intellektuellen bald auf die Wahl neuer konservativer Regierungen in den Kernlanden der westlichen Demokratie stützen konnten. Dagegen vermochte auch eine rege Kritik des Neokonservatismus nur wenig auszurichten, deren „Autoren fast alle vom  Der Politikwissenschaftler Armin Schäfer kommt zu dem Schluss, dass sich die „Perspektive der rechten Sozialstaatskritik“ im Unterschied zur heutzutage tatsächlich völlig marginalisierten marxistischen Krisentheorie seit den späten 70ern durchgesetzt hat und „eine Ursache für die wirtschaftsliberalen Reformen der letzten […] Dekaden“ (Schäfer, „Krisentheorien der Demokratie“, S. 160) gewesen sei. Dazu Streeck ausführlich: „Die Strategie der Liberalisierung – der Zurückdrängung des Interventionsstaats und der Rückkehr zum Markt als primärem wirtschaftlichem Allokationsmechanismus – war, von heute aus betrachtet, atemberaubend erfolgreich und überraschte keineswegs nur die Kritische Theorie. Beginnend in den frühen 1980er Jahren wurden in den Gesellschaften des Westens zentrale Elemente des Gesellschaftsvertrags des Nachkriegskapitalismus nach und nach aufgekündigt oder in Frage gestellt: politisch garantierte Vollbeschäftigung, flächendeckende Lohnfindung durch Verhandlungen mit freien Gewerkschaften, Mitbestimmung der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz und im Unternehmen, staatliche Kontrolle von Schlüsselindustrien, ein breiter öffentlicher Sektor mit sicherer Beschäftigung als Vorbild für die Privatwirtschaft, universelle, gegen den Wettbewerb geschützte soziale Bürgerrechte, durch Einkommens- und Steuerpolitik in engen Grenzen gehaltene soziale Ungleichheit und staatliche Konjunktur- und Industriepolitik zur Verhinderung von Wachstumskrisen. In allen westlichen Demokratien begann um 1979, dem Jahr der ‚zweiten Ölkrise‘, eine mehr oder weniger aggressive Zurückdrängung der Gewerkschaften. Parallel dazu kamen weltweit meist graduelle, deshalb aber nicht weniger einschneidende Reformen der Arbeitsmärkte und der sozialen Sicherungssysteme in Gang, die im Zeichen einer angeblich überfälligen ‚Flexibilisierung‘ der Institutionen und ‚Aktivierung‘ des Arbeitskräftepotenzials auf eine Fundamentalrevision des Wohlfahrtsstaats der Nachkriegsjahrzehnte hinausliefen, die zunehmend auch mit der Expansion der Märkte über nationale Grenzen hinweg, der sogenannten ‚Globalisierung‘, begründet wurde.“, Streeck, Gekaufte Zeit, S. 56 f.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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semantischen Paradigma einer kritischen Gesellschaftslehre der Frankfurter Schule“⁴⁸⁰ – das heißt: von Habermas – beeinflusst waren. Um einen besseren Eindruck von der politikökonomischen Stoßrichtung neokonservativen Denkens zu gewinnen, bietet sich wieder ein Blick auf Hennis an, der die in den späten 70ern stattfindenden „großen politischen Auseinandersetzungen in den westlichen Demokratien“ als Ausdruck jenes „Versuch[s]“ wertete, „eine neue Balance, ein neues Gleichgewicht zwischen den Zwangsläufigkeiten des aktiven Leistungsstaats auf der einen und dem normativen Verlangen nach freiheitlicher Mäßigung auf der anderen Seite herzustellen“⁴⁸¹. Dass er sich als militanter Verfechter einer freiheitlichen Mäßigung, ja einer ordnungspolitischen Rückbesinnung auf die Kernfunktionen des gewaltenteilenden Rechtsstaats verstand, verrieten bereits seine beiden intellektuellen Gewährsmänner. In seinem programmatisch zu verstehenden Beitrag Vom gewaltenteilenden Rechtsstaat zum teleokratischen Programmstaat folgte er gewissenhaft den beiden neokonservativen Vordenkern Hayek und Oakeshott in der Unterscheidung zwischen schlechten „teleokratischen“ Ordnungen, in denen die angewandten politischen Mittel nur „rationale Folgen“ eines übergeordneten „Zwecks“ seien, und guten „nomokratischen“ Ordnungen, „in denen die Regel das Bestimmende“⁴⁸² sei. Es war typisch für die Argumentation eines Neokonservativen, dass sich der politische Steuerungswille des Staats „über das Unvermeidliche hinaus“ längst ins Absurde gesteigert habe: Mit Hilfe von Keynes glaubte man endlich so weit zu sein, die Konjunktur steuern, das ‚Wachstum nach Maß‘ regulieren zu können. Dem Machbaren schienen mit Hilfe einer als Sozialtechnik auftretenden Sozialwissenschaft kaum noch Grenzen gesetzt zu sein, alles erschien als im Prinzip ‚machbar‘, den richtigen Plan, die Verfügbarkeit der ‚Ressourcen‘, den Willen zur ‚Implementation‘ vorausgesetzt. Politik als teleokratische Programmrealisierung, das ist die knappste Formel, auf die man den Charakter der modernen Politik bringen kann.⁴⁸³

Obwohl er der regierenden sozialliberalen Koalition unter Schmidt attestierte, „heute nicht mehr ganz so blauäugig wie in der Ära Ehmke“⁴⁸⁴ zu agieren, sah sich Hennis auch nach der pragmatischen Wende im Kanzleramt „mit einer Staatsapparatur konfrontiert, die immer aufdringlicher jene unsympathischen

 Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 12.  Hennis, „Vom gewaltenteilenden Rechtsstaat zum teleokratischen Programmstaat“, S. 261.  Ebd. S. 264.  Ebd. S. 268.  Ebd. S. 270.

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Züge des absolutistischen Polizeistaates“ annehme, „der zwar recht effizient, aber doch im Grunde bevormundend, unfreiheitlich, arrogant und überaus unfähig zur Selbstkritik gewesen“⁴⁸⁵ sei. Weil „die vorgeblich so rationale, ‚wissenschaftlich‘ abgesicherte Politik des letzten Jahrzehnts […] soviel unvorhergesehene Nebenfolgen produziert, soviel nicht vorhergesehenen Unfug bewirkt“ habe, „daß der Bürger […] mit Recht an der höheren Weisheit von Politik und Verwaltung zu zweifeln anfängt“, werde es allerhöchste Zeit, dass sich auch der öffentliche Dienst wieder daran erinnere, „daß er nicht nur Exekutive, ausführendes Organ, sondern der dem Ganzen verantwortliche Dienst ist, dessen vorzüglichste Aufgabe das Beraten, auch einmal das Abraten, das Bremsen, das Moderieren der sog. ‚Kräfte der politischen Willensbildung‘“⁴⁸⁶ sei. Dazu passte auch Hennis’ Forderung, sich „von der blendenden Faszination der Technik und der Rationalität“ wieder freizumachen: „Ob der Wille und die Fähigkeit dazu noch vorhanden sind, das weiß ich nicht, ich bin nur sicher, daß es darauf ankommen wird.“⁴⁸⁷ Den Wunsch seines linken Starnberger Antipoden nach dieiner demokratischen Kontrolle der privaten Investitionsfreiheit verglich Hennis in seiner Polemik über den Organisierten Sozialismus der Sozialdemokratie mit „eine[r] Art levée en masse plus Ermächtigungsgesetz“⁴⁸⁸. Angesichts des „ungemein hehr[en]“ Ziels, den demokratischen Sozialismus zu verwirklichen, sei „dieser Weg konsequent“, führe aber „aus dem demokratischen Verfassungsstaat […] hinaus“⁴⁸⁹. Folglich denke Habermas fatalerweise zu Ende, wo inkonsequente Linke wie Peter von Oertzen und Horst Ehmke – die Programmschreiber der SPD und Hennis’ alte Kollegen aus dem Smend-Seminar – auf halber Strecke stehenblieben. Diese Volten gegen die neomarxistisch angehauchte Kapitalismuskritik Frankfurter bzw. Starnberger Provenienz und gegen die Überbleibsel sozialdemokratischen Steuerungsglaubens ging mit Hennis’ melancholischer Überhöhung der ordnungsökonomischen Grundsätze des Godesberger Reformparteitags von 1959 einher, als die SPD vor Verantwortungsethikern nur so gestrotzt, sich in der Antizipation ihrer künftigen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene „unmißverständlich auf dem Boden des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates“ bewegt und „ihren progressistischen Dünkel […] hinter sich gelassen“⁴⁹⁰ habe. Damals hätten sich die Sozialdemokraten „entgegen den alten sozialistischen Vorstellungen von der Selbstorganisation der Gesellschaft oder den radikalde-

     

Ebd. S. 271. Ebd. S. 272. Hennis, „Vom gewaltenteilenden Rechtsstaat zum teleokratischen Programmstaat“, S. 274. Hennis, Organisierter Sozialismus, S. 81. Ebd. Ebd. S. 37.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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mokratischen Vorstellungen einer Identität von Regierenden und Regierten“⁴⁹¹ noch darum bemüht, die Institutionen der parlamentarischen Demokratie ernst zu nehmen. Den „eigentliche[n] Bruch zwischen der Ära Adenauer/Erhard und der 1969 anhebenden ‚Neuen Ära‘“ identifizierte Hennis, der sich mittlerweile zum Berater des christdemokratischen Oppositionsführers im Bundestag Helmut Kohl aufgeschwungen hatte, demzufolge „in der Ablösung einer mehr ordnungspolitisch orientierten Politik durch eine eindeutig ‚zielpolitisch‘ orientierte“⁴⁹². Damit erklärte er die Wahl Brandts von 1969 nachträglich zum Sündenfall der westdeutschen Politikgeschichte seit 1945. Brandt verkörpere wie Erhard Eppler und Gustav Heinemann oder wie moralinsaure Literaten wie Günther Grass und Heinrich Böll nämlich die „romantisch-aktivistisch-bewegte“ Tendenz der SPD, die sich durch „das komplette Unverständnis für den Sinn politischer Institutionen“⁴⁹³ disqualifiziere. Dagegen komme auch der „Sozialdemokrat H. Schmidt“ bei all seinem Pragmatismus nur schwer an, obwohl er das politische Gemeinwesen immerhin „ein wenig besser ‚in Ordnung‘ bringen“⁴⁹⁴ wolle. Der Vergleich mit den 30ern war auch in den späten 70ern ein beliebter Topos der intellektuellen Dramatisierung. Hennis wusste auf dieser Klaviatur durchaus zu spielen. Da „zähe Phasen der ‚Schwer‘- bis ‚Unregierbarkeit‘ den überschaubaren Zukunftshorizont“⁴⁹⁵ überschatteten, gelte es unter allen Umständen sicherzustellen, dass die beiden westdeutschen Volksparteien regierungsfähig blieben. Hennis’ Überlegungen zur Parteienstruktur und Regierbarkeit nahmen sich denn auch als inständige Warnung vor der Rückkehr der politischen Verhältnisse der späten Weimarer Republik aus, als die demokratischen Parteien regierungsunfähig gewesen seien.⁴⁹⁶ Die Bundesrepublik habe sich in den beiden ersten Jahrzehnten ihres Bestehens nur deshalb „zu einer der ‚regierbarsten‘ Parteiendemokratien des Westens“ entwickeln können, weil in ihr von Anbeginn ein „neue[s] Exempel für die Relation von Amt und Mandat“⁴⁹⁷ statuiert worden sei. Hennis zufolge waren „[d]ie Verbindung von Kanzleramt und Parteivorsitz in der Person Adenauers, von Parteivorsitz und Fraktionsvorsitz in der Person Schumachers und Ollenhauers, von Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz in der Person Brandts“ allesamt Beispiele für „ein neues, sich von der [instabilen Wei-

      

Ebd. S. 50. Ebd. S. 16. Ebd. S. 68. Ebd. S. 17. Hennis, „Parteienstruktur und Regierbarkeit“, S. 165. Ebd. S. 172. Ebd. S. 173.

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marer – M.H.] Tradition klar absetzendes Muster“⁴⁹⁸ verantwortlicher politischer Führung. Dass „seit dem Rücktritt Willy Brandts vom Kanzleramt im Mai 1974 oberstes Parteiamt und das Amt des verantwortlichen Regierungschefs wieder in getrennten Händen“ lagen, deutete Hennis demnach als Beleg einer Konstellation der Unregierbarkeit, in der ein pragmatischer Kanzler allein auf weiter Flur stand und von einer immer fanatischeren Parteibasis – der von einem romantischidealistischen Parteivorsitzenden freie Hand gelassen wurde – an der rationalen Amtsführung gehindert werde. Hennis ließ sich vor diesem Hintergrund gar zu der These hinreißen, „daß es die besondere geschichtliche Verantwortung des SPDParteivorsitzenden Willy Brandt gewesen sein wird, wenn die Bonner parlamentarische Demokratie an einer aufgrund schiefer Theorien im strikten Sinne des Wortes ‚volksfremd‘ werdenden Repräsentationspraxis ihre verfassungsrechtliche Anerkennungswürdigkeit, d. h. Legitimität, einmal verlieren sollte“⁴⁹⁹. Brandt sei für den liberalen Verfassungsstaat folglich das größere Risiko als der CSU-Vorsitzende und politische Falke Strauß, dessen Weste jedenfalls „in diesem Punkte, dem Verständnis des Amts aus dem Zusammenwirken von Partei- und Wählerauftrag, […] blütenweiß“⁵⁰⁰ sei. Der neue programmatische Grundsatzfuror in der SPD wirke nach der „geistig-sozialen Entortung der Parteien“⁵⁰¹ nur noch „künstlich, ausgeklügelt, ausgedacht“ und diene der Kompensation der unumstößlichen – von Hennis’ konservativem Mitstreiter Lübbe bereits Ende 1974 auf dem Münchner Tendenzwendekongress vorgetragenen – Erkenntnis, daß man in Wahrheit ja doch ständig vor nichts als die Forderung des Tages gestellt ist, dabei sicher besser fährt, wenn man einige Prinzipien im Hinterkopf hat, aber im großen und ganzen doch wissen muß, daß diese Gesellschaft der Politik nicht wie eine Tabula rasa als blankes Feld zur Disposition steht, in die im Namen vorgefertigter Konzepte die Furchen nur hineinzuziehen wären.⁵⁰²

Die entscheidende Triebkraft hinter der vermeintlichen Unregierbarkeit westlicher Demokratien glaubte der Demokratisierungskritiker Hennis in „der absoluten Freiheit und Gleichberechtigung aller Meinungen“⁵⁰³ zu erkennen. Seine in neokonservativen Kreisen weitverbreitete These war, „daß die großen Herausforderungen, vor denen die Menschheit und die einzelnen politischen Gemein-

     

Ebd. S. 173 f. Ebd. S. 174. Ebd. Ebd. S. 188. Ebd. S. 189. Hennis, „Zur Begründung der Fragestellung“, S. 16.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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wesen stehen oder in Kürze stehen könnten, nur durch ein ganz ungewöhnliches Maß von Disziplinierung, Energie und Zucht bewältigt werden können“⁵⁰⁴. Hennis beschwor einen tugendhaften, bescheidenen und traditionsverbundenen Bürger, während „ein starkes, kaum mehr unterschwelliges, sondern ganz evidentes Verlangen unserer Zeit“ dahin gehe, „den Staat als Garanten der sittlichen Normen ad acta zu legen“⁵⁰⁵. Die Menschen rechneten demnach „alles Versagen im Leistungs- und Lebensqualitätsbereich dem Staat“ zu und machten „aus jeder wirtschaftlichen Rezession eine Staats- und Verfassungskrise“, so dass „der Koloß der modernen Staatlichkeit auf tönernen Füßen“⁵⁰⁶ stehe. Nichts ging nach Hennis über den „selbstverständlichen, unlösbaren Zusammenhang von politischer […] und sittlicher Ordnung“⁵⁰⁷ – bei Habermas eine Chiffre für die Verbindung eines kleinbürgerlichen Wertetraditionalismus mit Formen des possessiven Individualismus. Wenn er zerfalle, nahe das Ende der „spezifisch abendländischen Weise des Regierens, die auf das Wort, Gespräch, Rat und Überzeugung freier Menschen abgestellt war“⁵⁰⁸. Gegen diese Neukonservative Klimakunde, „die der Substanz nach auf den Zweifel“ hinauslaufe, „ob die Bundesrepublik tatsächlich noch als freiheitliche Staats- und Gesellschaftsordnung bezeichnet werden könne oder vielmehr unter dem Ansturm sozialdemokratischer Reforminitiativen und einer um sich greifenden staatspolitischen Libertinage als ein quasi-despotisches, von ‚totalitären‘ Aufweichungen aktuell bedrohtes politisches System betrachtet werden müsse“⁵⁰⁹, holte der mittlerweile nach Bielefeld berufene Offe noch einmal zum Gegenschlag aus. Allerdings schätzte auch er die Chancen einer Transformation der kapitalistischen Sozialen Marktwirtschaft mittlerweile auf nahezu null. Seine zunehmende Skepsis zeigte sich allein daran, dass er fünf Jahre nach der Veröffentlichung der Habermas’schen Studie über die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus seinen akademischen Mentor nunmehr darüber aufklärte, „daß ökonomische Krisen nicht nur […] Motive einer grundsätzlichen Opposition, sondern ebenso Anpassungs- und Integrationsbereitschaft fördern“⁵¹⁰. Offe schien sich damit abzufinden, dass sein Spätkapitalismusbegriff in die Irre geführt hatte. Zur Erinnerung: Ende der 60er hatte er „keine Dimension“ mehr erkennen können, „in der neue Mechanismen der Selbstperpetuierung des kapi-

      

Ebd. Ebd. S. 17. Ebd. Ebd. S. 19. Ebd. S. 20. Offe, „Neukonservative Klimakunde“, S. 210. Offe, „‚Unregierbarkeit.‘ Zur Renaissance konservativer Krisentheorien“, S. 313.

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talistischen Systems […] gefunden und appliziert werden könnten“⁵¹¹. Zehn Krisenjahre später schien sich indessen immer mehr zu bewahrheiten, dass der Kapitalismus wesentlich wandlungsfähiger war, als es viele seiner Kritiker auf der Linken zuvor hatten glauben wollen. Pointiert gesagt: Der Begriff des Spätkapitalismus hatte ausgedient; er wich in der kritischen Analyse wieder dem allgemeineren Terminus Kapitalismus, nachdem er fälschlicherweise eben doch die bevorstehende Transformation der Sozialen Marktwirtschaft in den demokratischen Sozialismus suggeriert hatte, ohne dass es im Westen – abgesehen von verschiedenen Varianten des Euro-Kommunismus – auch nur ansatzweise zu einer solchen Entwicklung gekommen wäre. In der Neuauflage der Strukturprobleme bezeichnete Offe den Spätkapitalismusbegriff deshalb rückblickend auch „als ein[en] terminologischen Fehlgriff“⁵¹². Ähnlich wie Habermas, der die Renaissance konservativen Denkens in der Bundesrepublik nach dem sozialliberalen Machtwechsel als „paramilitärischen Einsatz an der Bürgerkriegsfront“ beschrieben und vor einer damit einhergehenden „semantische[n] Enthemmung von Affekten“⁵¹³ gewarnt hatte, war Offe zu dem Schluss gekommen, dass neokonservative Begriffspolitiker wie Hennis oder auch Schelsky das „Arrangement der theoretisch-politischen Frontlinien“ im Verlauf der 70er erfolgreich neujustiert hatten. Anders als im ersten bundesrepublikanischen Zeitalter der Christdemokratie der 50er und 60er, das von seinen intellektuellen Anhängern vor allem noch in geschichtlichen und außenpolitischen Kategorien, d. h. vom „nationalsozialistischen Regime einerseits, dem Herrschaftssystem der DDR andererseits“, abgegrenzt worden war, um es „in dieser doppelten Antithese als freiheitlich-demokratische [Ordnung]“ zu verteidigen, hätten die Vordenker des neokonservativen Diskurses nun eine scharfe Freund-Feind-Demarkationslinie „im Binnenbereich“ gesetzt, die „nicht mehr zwischen freiheitlich-demokratischen und ‚totalitären‘ Systemen, sondern zwischen ‚freiheitlichen‘ und ‚demokratischen‘ (lies: fast schon totalitären) Tendenzen im eigenen Land“⁵¹⁴ verlaufe. Diese negative Überzeichnung des Demokratiebegriffs war nach Offe vor allem deshalb perfide, weil Brandts „Begriff der ‚inneren Reformen‘“ in progressiven Kreisen heute nur noch „die Erinnerung an eine lange Liste unbeglichener Rechnungen und sonstiger Peinlichkeiten“⁵¹⁵ wachrufe. Während mit Helmut Schmidt längst ein dezidierter Pragmatiker und selbst ernannter kritischer Ra    

Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, S. 24. Offe, „Erneute Lektüre“, S. 194. Habermas, „Einleitung“, S. 21. Offe, „Neukonservative Klimakunde“, S. 210. Ebd. S. 211.

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tionalist in der Tradition Poppers – der über Parteigrenzen hinaus wählbar war – die Regierungsgeschicke leitete, konnte von einem schlagkräftigen radikaldemokratischen Gegner, den die neokonservativen Tendenzwender an den Schalthebeln der Macht wähnten, überhaupt keine Rede sein. Weil die kapitalistischen Verhältnisse „den Verschleiß der Formeln, mit denen sie zuvor beschrieben und gefeiert worden waren, jedenfalls in der Bundesrepublik ziemlich unbeschadet überstanden“⁵¹⁶ hatten, warf Offe seinen neokonservativen Antipoden ein beabsichtigtes „methodisches Selbsttäuschungsmanöver“ vor, „das auf die schlichte Verdrängung der Soziologie durch Philosophie“⁵¹⁷ hinauslaufe: Die Gefahr eines sozialistischen Umschwungs in der Bundesrepublik wurde demzufolge aus strategischen Motiven bewusst überzeichnet, um die eigenen antidemokratischen Positionen salonfähig zu machen. Laut Offe warfen die neokonservativen Tendenzwender dabei alles, was sich eigentlich hinreichend voneinander unterschied – wie die sozialdemokratische Regierungspraxis, das Denken kaltgestellter sozialdemokratischer Parteiintellektueller, die neomarxistische Krisentheorie und schließlich noch den RAF-Terrorismus – in einen Topf, nur um ihrem Ziel, einem konservativen Machtwechsel und der Rücknahme sozialliberaler Errungenschaften, näherzukommen. Das ganze Ausmaß dieses Schattengefechts offenbare sich letztlich an Hennis’ Scheinangriff auf das vermeintlich sozialistische sozialdemokratische Grundsatzprogramm von 1975, das „sämtlich Probleme der Regierungs- und Verwaltungsorganisation“ behandle und an keiner Stelle die „Garantien des Eigentums, der Familie, der Religion“ zur Disposition stelle. Gleichzeitig sei es bezeichnend, dass man von den Konservativen „nirgends“ Klagen über die „durchaus unter sozialdemokratischer Ägide“ vorgenommenen Einschränkungen der Freiheit von „Lehramtsbewerbern, Strafgefangenen, Telefonbenutzern, Verbreitern unerwünschter Meinungen und anderen Bürgern“ vernehme, „die von demokratischen Grundrechten wie denen der Meinungs-, Informations-, Berufsoder Wissenschaftsfreiheit Gebrauch machen oder schlicht auf ihrer Menschenwürde bestehen“⁵¹⁸. Hennis‘ oder auch Schelskys „doktrinäre Berufung auf einen altliberalen Begriff der Freiheit“⁵¹⁹ verdeutlichte laut Offe „nur noch die Ressentiments einer alten Mittelklasse, deren aufgewärmte Idyllik nicht so sehr von der SPD-Politik wie von den Zwangsläufigkeiten der sozialökonomischen Entwicklungs- und Krisendynamik überrollt wird, mit deren Balancierung jene gerade

   

Ebd. Ebd. S. 212. Ebd. S. 216. Ebd. S. 219.

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befaßt ist“⁵²⁰. Wenig überraschend werde diese Strategie zeitgleich durch eine „argumentfreie Dogmatisierung philosophiegeschichtlicher Traditionsbestände“ und ein „Verfahren bloßer geisteswissenschaftlicher Traditions-Anrufung“ flankiert: „Real-Analyse“ weiche bloßer „Begriffsgeschichte“⁵²¹. Offe war sich aber darüber im Klaren, dass die neokonservativen Tendenzwender neben ideengeschichtlichem Kitsch auch eine Reihe konkreter Vorschläge zur Krisenbewältigung im Gepäck hatten, die sich in der Bundesrepublik Ende der 70er „sämtlich im Stadium der praktischen ‚Erprobung‘ und Weiterentwicklung“⁵²² befanden. Hier stand ihm vor allem die international an Boden gewinnende Idee der „‚Privatisierung‘ bzw. ‚Entstaatlichung‘ öffentlicher Dienstleistungen und ihre Überführung in konkurrierende privatwirtschaftliche Träger“ vor Augen, also die Vorboten eines in der Bundesrepublik letztlich erst unter der rotgrünen Bundesregierung in den frühen Nullerjahren forcierten Wandels vom (ver‐)sorgenden zum aktivierenden und investiven Sozialstaat, der die Klienten des Wohlfahrtsstaates nur noch dann Leistungen in Anspruch nehmen lassen sollte, wenn sie zuvor auch genügend Eigeninitiative gezeigt oder privat vorgesorgt hatten⁵²³. Durch eine solche – nach konservativer Idealvorstellung von jeder gewerkschaftlichen Störung befreite – „Restaurierung der Konkurrenzmechanismen“ auf breiter Front glaube man „der Inflation im engeren Sinne und der Anspruchsinflation im weiteren Sinne einen Riegel“⁵²⁴ vorschieben zu können.⁵²⁵ Ganz in diesem Sinne plädierte der neokonservative Wirtschaftswissenschaftler Joachim Starbatty, der zwischen 1965 und 1969 letzter wissenschaftlicher Assistent von Ludwig Erhards ordnungsökonomischem Stichwortgeber Alfred Müller-Armack im Deutschen Bundestag gewesen war, in seinem Beitrag für  Ebd. S. 216 f.  Ebd. S. 220.  Offe, „‚Unregierbarkeit.‘ Zur Renaissance konservativer Krisentheorien“, S. 299.  Vgl. dazu vor allem Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen.  Offe, „‚Unregierbarkeit.‘ Zur Renaissance konservativer Krisentheorien“, S. 300.  Um dieses Primärziel zu erreichen, setzten die neokonservativen Tendenzwender nach Offe gleichsam „tiefer an“, indem sie zum einen für die Ausweitung einer Reihe von „Institutionen sozialer Kontrolle“ plädierten, die darauf abzielen sollten, wieder „Werte wie Selbstbescheidung, Disziplin und Gemeinsinn zu fördern, das allgemeine Geschichtsbewußtsein zu kräftigen und die von der ‚Aufklärungspädagogik‘ vertretenen ‚postaquisitiven Werte‘ […] einzudämmen“, ebd. Zuallerletzt ruhe ihre Hoffnung, die heilige Kuh des Staates endlich zu entlasten, noch auf diversen, mitunter recht subtilen „Filtermechanismen“, die – wie das damals nicht nur von Offe, sondern vor allem auch noch von Habermas außerordentlich kritisch beäugte Bundesverfassungsgericht – „darüber entscheiden, welche Ansprüche überhaupt Gehör verdienen“, und dabei „institutionalisierte Erkenntnisleistungen“ erfüllten, „die selbst über den jeweiligen Anspruchsträgern und den Institutionen des demokratischen Willensbildungsprozesses stehen und auf diese nicht zurückführbar sein dürfen“, ebd. S. 301.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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Hennis’ Regierbarkeitsstudien für den „endgültige[n] Abschied von dem Glauben, die politisch Verantwortlichen könnten durch Einsatz des konjunktur- und wachstumspolitischen Instrumentariums die nationale Volkswirtschaft längs eines erwünschten Erfolgspfades steuern“⁵²⁶. Starbatty begründete sein stabilitätspolitisches Gegenmodell in Anlehnung an die Klassiker der liberalen politischen Ökonomie aber nicht etwa mit revolutionären wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten, sondern pries es vielmehr als „ein Zurück in gut durchforschte Gebiete“⁵²⁷. Demnach biete sich „für die Neuorientierung der Konjunkturpolitik der Versuch [an], das Prinzip ‚Markt‘ beziehungsweise die dahinterstehende ordnungspolitische Idee in den Dienst der Konjunkturpolitik zu stellen, da gerade dieses Prinzip Verhaltensweisen, die sich am Eigennutz, nicht aber am Gemeinnutz orientieren, in Richtung sozialer Zwecke kanalisiert“⁵²⁸. Weil eine „konjunkturpolitische Konzeption, die auf dem ordnungspolitischen Prinzip ‚Markt‘ gründet“, eine strikt „regelgebundene Politik“⁵²⁹ sei, mussten „wichtige Entscheidungen“ laut Starbatty in der Zukunft „aus dem jeweiligen politischen Willensbildungsprozeß herausgenommen“ werden: In der Tat zielt das Konzept auf Entpolitisierung, doch übersieht dieser Vorwurf den entscheidenden Punkt: Die politische Entscheidung über den konjunkturpolitischen Kurs ist vorverlegt worden. Es wird weniger oft, dafür aber grundsätzlicher und gründlicher diskutiert, weniger unter dem Druck von Wahlterminen. […] Wenn der Politiker absolut ‚sündigen‘ will, so wird man ihn nicht davon abbringen können, doch stärkt die Regelbindung denjenigen Politikern den Rücken, die nicht ‚sündigen‘ wollen. Es spricht sogar einiges dafür, daß die Politiker es gerne sähen, wenn sie eine zusätzliche Legitimationsbasis für ihre restriktiv angelegten oder konjunkturneutralen Politiken erhielten.⁵³⁰

Ähnlich äußerte sich der in Köln lehrende Ökonom Christian Watrin, der in der Bundesrepublik „erhebliche Ineffizienzen der staatlichen Leistungserstellung“⁵³¹ diagnostizierte. Wie er in Anlehnung an die aufkommende Public-Choice-Literatur James Buchanans und Gordon Tullocks ausführte, verfüge der Staat „wie jede Organisation oder Teilorganisation nur über eine begrenzte Kapazität, Probleme anzugehen und zu verarbeiten“, weshalb es „nicht nur ein Gebot des klugen Regierens“ sei, „die staatliche Zuständigkeit nicht über Gebühr auszuweiten, um so der Gefahr des ‚Staatsversagens‘, der Unregierbarkeit, zu entgehen; gleichzeitig

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Starbatty, „Was kann der Marktmechanismus leisten?“, S. 198. Ebd. Ebd. S. 204. Ebd. S. 206. Ebd. S. 220 ff. Watrin, „Zur Überlastung des Staates mit wirtschaftspolitischen Aufgaben“, S. 235.

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empfiehlt sich diese Strategie auch im Dienste der Freiheitserhaltung“⁵³². Deshalb plädierte Watrin in neokonservativer Manier für mehr Subsidiarität und eine aktive Selbstbegrenzung des Staates, der sich auf die Lösung jener Probleme konzentrieren solle, „die vom Markt nicht oder nur unzureichend bewältigt werden können und bei denen auch nicht mit der Bildung freiwilliger Vereinigungen zu rechnen ist, um die vorhandenen Schwierigkeiten zu meistern“⁵³³. Statt in der Krise aber verstärkt auf marktwirtschaftliche Lösungen zu setzen, werde in der Bundesrepublik weiterhin „überall freizügig zum Mittel direkter Gebote und Verbote gegriffen, die teilweise nicht erfüllbare Anforderungen stellen“ und „Vorschriftenlawinen in Gang“ setzten, „die nicht nur das wirtschaftliche Handeln einem Geflecht von bürokratischen Reglementierungen unterwerfen“⁵³⁴. Daraus folge wiederum die „Lähmung der wirtschaftlichen Initiative und damit das Nichtausnutzen von Chancen, die bei ökonomisch richtigem Vorgehen hätten genutzt werden können“⁵³⁵. Da sich die „schwere Hand des Staates“ in der Regel als „wenig nützlich“ erweise, empfehle sich „ein Rückgriff auf Marktlösungen, die jedoch im Zuge einer wachsenden öffentlichen Abneigung gegen die unsichtbare Hand des Marktes zunehmend als unsozial verdächtigt werden“⁵³⁶. Dass diese „Friedmansche Doktrin der Restauration von Marktmechanismen und der Entschärfung der politischen Krise durch Entpolitisierung“⁵³⁷ – die in den späten 70ern in Großbritannien und den USA kurz vor dem Durchbruch stand, deren Durchsetzungschancen Watrin in der Bonner Republik aber, wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik während der Kohl-Ära zeigen sollte, zu Recht noch als gering einschätzte – schließlich in der rot-grünen Berliner Republik der frühen 2000er ihren Siegeszug feiern würde, ging damals noch weit über Offes Vorstellungskraft hinaus. Ende der 70er war er vielmehr überzeugt, dass im kapitalistischen Westen der politikökonomische Kollaps drohte, wenn „die Regierungen auch nur einen Augenblick davon ablassen, ihre Aufgabe als die einer ‚teleokratischen Programmrealisierung‘ zu verstehen und wahrzunehmen“, wie sie von Hennis und dessen neokonservativen Mitstreitern so vehement kritisiert wurde. Sollte der unwahrscheinliche Fall eines Rückzugs des Staates doch eintreten, musste nach Offes Dafürhalten „das manifeste Chaos“ ausbrechen und „der ‚Systemtod‘ eines Systems“ eintreten, „das gerade wegen seiner privatwirtschaftlichen Organisationsprinzipien und Imperative nur noch unter der künst-

     

Ebd. S. 248. Ebd. S. 250. Ebd. S. 251. Ebd. Ebd. S. 253. Offe, „‚Unregierbarkeit.‘ Zur Renaissance konservativer Krisentheorien“, S. 309 f.

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lichen Beatmung eines [bevormundenden; M.H.] Programmstaats zu überleben imstande ist“⁵³⁸. Im Krisenzeitalter bewahrheitete sich laut Offe mehr denn je, „daß der in kapitalistischen Gesellschaften wirkende Gegensatz von lebendiger und toter Arbeit, von Arbeitskraft und Kapital ein derart fundamentaler und hartnäckig sich durchsetzender ‚Konstruktionsfehler‘ [kapitalistischer] Gesellschaftssysteme“ war, dass sowohl neokonservative als auch sozialdemokratische Rezepte zur Wiederherstellung staatlicher Handlungsfähigkeit „sogar krisenverschärfend“⁵³⁹ wirken mussten. Da blieb also weiter „nur die Strategie der Demokratisierung, d. h. der Relativierung privatautonomer Dispositionsvorbehalte von Eigentümern“, insofern es sich dabei „nicht um die ‚Abschaffung‘ bürgerlicher Freiheit“ handle, „sondern um ihre Generalisierung in Formen, die freilich gegen den Widerstand ihrer vormals alleinigen Nutznießer durchzusetzen wären“⁵⁴⁰. Bezeichnenderweise tat sich

 Offe, „Neukonservative Klimakunde“, S. 218. Treffend war hingegen seine pessimistische Einschätzung der langfristigen Erfolgsaussichten einer zumindest zwischenzeitlich von den regierenden Sozialdemokraten anvisierten „administrative[n] Strategie zur Verbesserung staatlicher Steuerungs- und Leistungsfähigkeit“, die sich entweder darin äußere, „den staatlichen Dispositionsspielraum quantitativ-fiskalisch zu erweitern“, oder – wie es von sozialdemokratischen Sozialwissenschaftlern wie Fritz J. Scharpf damals angestrebt wurde – „die Regelungskapazität der Regierungen qualitativ-organisatorisch [zu verbessern], um so mehr Effizienz und Effektivität politisch-administrativen Handelns zu erreichen“. Eine solche gleichermaßen „sachliche und zeitliche Erweiterung der Leistungskapazität staatlicher Politik“ könne nur in dem unwahrscheinlichen Fall gelingen, „wenn dieser die Erweiterung der sozialen Allianzen und Integrationsmechanismen entsprechen, auf die sie sich stützen kann“ (Offe, „‚Unregierbarkeit.‘ Zur Renaissance konservativer Krisentheorien“, S. 302 f.). Offe hob diesbezüglich die wichtige Rolle informeller institutioneller Arrangements zwischen Staat, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden wie der Konzertierten Aktion in der Bundesrepublik oder des Social Contract in Großbritannien hervor, die stets vom Ausscheren einer der Parteien bedroht und daher „höchst labile Gebilde“ (ebd. S. 303) seien.  Ebd. S. 309.  Offe, „Neukonservative Klimakunde“, S. 222. Konkret schwebte Offe eine Form der sozialistischen Räterepublik vor, in der „die von bürokratischen Strukturen nicht zu bewältigenden Entscheidungslasten in dezentrale demokratische Entscheidungskörperschaften [verlagert] und durch eben diese Dezentralisierung vermindert“ würden. Im Stile seines akademischen Lehrers Habermas schlussfolgerte er: „Wo man ‚richtige‘ Lösungen nicht ausrechnen, von Experten entscheiden lassen oder aus präskriptiven Theorien ableiten kann, bleibt gar nichts anderes übrig, als daß man sich über das weder politisch noch wissenschaftlich ‚Erkennbare‘ in neuen Formen der Partizipation und Selbstverwaltung demokratisch ‚einigt‘.“, Offe, „Neukonservative Klimakunde“, S. 225. Gleichzeitig erteilte Offe den Gewaltphantasien der RAF eine entschiedene Absage und stellte einen provokativen Vergleich an: „Ähnlich dem liberalen Analogisierungszwang, daß es politische Freiheit nur da geben könne, wo die Freiheit des Eigentums herrsche, stehen die Terroristen unter der spiegelbildlichen Obsession, daß sich das auf Privateigentum gegründete

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Habermas mit solchen sozialistischen Bekenntnissen selbst immer schwerer. Nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch das RAF-Kommando „Siegfried Hausner“ am 5. September 1977 und Schleyers anschließender Ermordung hatte sich der Versuch einer „über öffentliche Bürokratien gezielt ausgeübte[n] Demoralisierung der Linken“⁵⁴¹ aus seiner Sicht noch einmal verstärkt. Daher blickte er Ende der 70er auch wehmütig auf die erste Legislaturperiode der Brandt-Ära zurück, als es immerhin so etwas wie „eine Konvergenz zwischen den Antrieben der Regierungsprogrammatik und den Grundüberzeugungen der meisten Intellektuellen gegeben“⁵⁴² habe. Dieses recht kurze Zeitalter der Reformen werde „heute belächelt, im vornehmen Ton des CSUVorsitzenden [Strauß] als eine Periode der Spinner, Traumtänzer und Wolkenschieber“, nachdem man ja auch in der Sozialdemokratie „mit dem Radikalenerlaß“ rasch „zu einer Realpolitik“ zurückgekehrt sei, „die sich nun, weil sie auf eine Revolte von links reagieren konnte, der Hemmungen ledig fühlen durfte, die der Diskreditierungseffekt der Naziperiode den gesunden deutschen Traditionen bis dahin auferlegt hatte“⁵⁴³. Hatte Habermas’ Optimismus in den frühen 70ern noch auf der Annahme einer Durchsetzung linker Überzeugungen innerhalb der sozialdemokratischen Regierungspartei und im öffentlichen Dienst beruht, machte er sich in dieser Hinsicht nun keine Hoffnungen mehr. Seine Desillusionierung gründete in der Beobachtung, dass „die systematische Gesinnungskontrolle aller Anwärter des öffentlichen Dienstes einen Streubombeneffekt“ nach sich gezogen und „in einer ganzen Generation Angst“ ausgelöst, „Mutlosigkeit“ hervorgebracht und „Bindungen an das“ verhindert habe, „wofür unsere weithin zynisch gewordene Republik einmal stehen sollte“⁵⁴⁴. Wie er bereits in einem Kommentar für den SPIEGEL vom 10. Oktober 1977 konsterniert feststellte, konnte in der Bundesrepublik ein herausgehobener Oppositionspolitiker wie der spätere Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag Alfred Dregger „die ‚Frankfurter Schule‘ schlicht zu einer Ursache des Terrorismus“ erklären und in Koproduktion mit dem bayerischen Dauerprovokateur Strauß „Linien objektiver Verantwortlichkeit in einer Manier“ konstruieren, „die sonst nur noch im Einflußbereich stalinistischer Bü-

System gesellschaftlicher Macht nur stürzen lasse, wenn man Rechtsgarantien, die zu den politisch-moralischen Errungenschaften der demokratischen Republik gehören, schlicht überrennt.“, ebd. S. 224.  Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 400.  Ebd. S. 401.  Ebd.  Ebd. S. 332.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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rokratien Anklang findet“⁵⁴⁵. Diese „barbarische Geistfeindschaft“ der Politik kontrastierte Habermas mit einer „lustlosen Passivität, in der wir Intellektuelle seit gut fünf Jahren verharren“⁵⁴⁶. Gleichzeitig wurde die altbekannte Intellektuellenschelte des technokratischen Konservatismus aus der frühen Bundesrepublik seit einigen Jahren in neuer Form wiederaufgelegt. In diesem Zusammenhang erreichte der schwelende Dauerkonflikt zwischen Dahrendorf und Schelsky noch einmal einen Höhepunkt.⁵⁴⁷ Der neue Rektor der LSE verfasste Mitte der 70er für die ZEIT eine Rezension über Schelskys soeben erschienenes Buch Die Arbeit tun die anderen, das er als neurechte „Denunziation der Aufklärung“⁵⁴⁸ einordnete. Schelsky knüpfte in seiner passagenweise paranoiden Studie über den neuen „Klassenkampf und die Priesterherrschaft der Intellektuellen“ – so der Untertitel des Buches – direkt an Gehlens Überlegungen aus den frühen 60ern an, indem er die Langzeitfolgen einer von den Studentenprotesten und der sozialliberalen Reformpolitik vorangetriebenen Demokratisierung der Gesellschaft tendenziös überzeichnete. Demnach habe sich seit den späten 60ern „eine neue Klasse der politisch und ökonomisch sich durchsetzenden ‚Sinn-Vermittler‘ und ‚Heilslehrer‘“ herausgebildet, die „die Fronten des ‚alten Klassenkampfes‘ ideologisch in einer Härte aufrecht zu erhalten“ versuche, „die den Interessen gerade der arbeitenden Schichten unserer Gesellschaft in keiner Weise mehr entspricht“⁵⁴⁹. Die Ausweitung des öffentlichen Sektors und der Ausbau des Sozialstaats hätten es der neuen Herrschaftsklasse erlaubt, die freiheitlichen Impulse der Bevölkerung über Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und über die Massenmedien mit ihren Herrschaftstechniken der propagandistischen Belehrung, sozialen Betreuung und wissenschaftlichen Planung regelrecht zu lähmen. Die klassischen Eliten aus Politik und Wirtschaft kämen dagegen nicht mehr an.⁵⁵⁰ Schelskys hanebüchene Grundthese, der zufolge sich „ein neuer intellektueller ‚Klerus‘“ anschicke, „die ‚weltlichen‘ Geschehnisse, das politische und wirtschaftliche Handeln, zu seinen Gunsten und nach seinen Zielvorstellungen in den Herrschaftsgriff zu bekommen“⁵⁵¹, kann als besonders schrille Variante einer Kritik an Linksintellektuellen wie Habermas gelten, die – wie Wolfgang Lorig diese neokonservative Position zusammenfasst – „mit einer traditionellen deut-

      

Ebd. S. 366. Ebd. S. 366 f. Vgl. Hansl, „Dahrendorfs Spuren“, S. 114. Dahrendorf, „Die Denunziation der Aufklärung“. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, S. 14. Vgl. ebd. S. 367 ff. Ebd. S. 15 f.

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schen Anfälligkeit für geschichtsphilosophische Heilslehren eine fundamentalkritische Position zur soziopolitischen Realität einnehmen und utopische Wunschprojektionen als positive Alternative zur bestehenden Gesellschaft verkünden“⁵⁵² würden. Dahrendorf hielt diese Attacke für „so abwegig, daß sich eine längere Diskussion nicht lohnt“, und konterte: „Daß es in sehr entfernter Weise mit [den Namen Marx oder Engels – M.H.] zusammenhängen mag, ob in Bielefeld Soziologen Habermas lesen oder Schelsky, mag richtig sein; aber man muß schon ein sehr verengtes Weltverständnis haben, um aus dieser Tatsache irgendwelche Schlüsse auf die Herrschaftsstrukturen moderner Gesellschaften zu ziehen.“⁵⁵³ Schelskys „mittelmäßige[s] Modebuch“⁵⁵⁴ firmierte bei Dahrendorf erneut unter der Rubrik einer allenfalls notdürftig kaschierten Version der deutschen Ideologie – von Schelsky diesmal vorgetragen in der Funktion eines publizistischen Steigbügelhalters des Neokonservatismus, der reale soziale, politische und ökonomische (Fehl‐)Entwicklungen in seiner Pseudo-Sozialstrukturanalyse bewusst ausklammere. Solche intellektuellenkritischen Tiraden hätten sehr wohl weitreichende politische Implikationen. Denn die „Verve, mit der [Schelsky] die Modernität denunziert – in ihrer geistigen Form als Aufklärung und in ihrer rechtlichen Form als Staatsbürgertum“, spiele jenen politischen Kräften in die Hände, „die meinen, ein bißchen Arbeitslosigkeit bringe die Arbeiter wieder zur Räson, und ein bißchen Staatsmacht schaffe wieder Ordnung“⁵⁵⁵. Damit wiederholte Dahrendorf seine Kritik, die er im Jahr zuvor an den Protagonisten des Münchner Tendenzwende-Kongresses geübt hatte. Interessanterweise knüpfte er mit dem Versuch einer Entlarvung des strategischen Kerns von Schelskys Buch an seine frühere These von der politischen Unzuverlässigkeit der Dienstklasse an. Folglich meinte er problematische Tendenzen bei der expandierenden Bildungsklasse keineswegs in deren offenem Herrschaftsanspruch zu erkennen, „sondern in ihrer Disponibilität“⁵⁵⁶ und Instrumentalisierbarkeit. In ihrer Abhängigkeit von staatlichen (Bildungs‐)Institutionen seien Intellektuelle – dazu gehörte im übrigen auch die von Habermas so hoffnungsvoll adressierte professionalisierte Intelligenz im Öffentlichen Dienst – „verwendbar, und zwar von jenen, die Schelsky ganz und gar ausspart aus seinen Analysen, den Repräsentanten großer organisierter Mächte, auch den gegenaufklärerischen Demagogen der Neuen Rech-

 Lorig, Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 99.  Dahrendorf, „Die Denunziation der Aufklärung“, S. 3.  Ebd.  Ebd.  Ebd.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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ten“⁵⁵⁷. Dahrendorfs berechtigter Vorwurf lautete, dass sich Schelsky, der „deutsche CDU, französische Gaullisten und amerikanische Republikaner im Bündnis mit ‚sachverantwortlicher Wissenschaft‘ als Medizin für eine verworfene Gegenwart“⁵⁵⁸ empfehle, mit seiner These von der Rückkehr des Dualismus von Geist und Macht selbst in den Dienst einer allzu weltlichen konservativen Interessenpolitik stellte. Auch wegen solcher Interventionen wirkte ein „Radikalliberaler wie Dahrendorf“ angesichts „der eigentümlichen Rechtsverschiebung unseres politischen Spektrums“ und „jene[r] nationalen und obrigkeitsstaatlichen Hypotheken, die eine im Kaiserreich wurzelnde politische Kultur insbesondere unseren Liberalen auf die Schulter legt“, auf Habermas wie „eine exotische Erscheinung“⁵⁵⁹. Ende der 70er hatte er kurz vor seinem Weggang vom Max-Planck-Institut deshalb noch vergeblich versucht, den ob seiner begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten an der LSE unzufriedenen Dahrendorf nach dem altersbedingten Ausscheiden CarlFriedrich von Weizsäckers als Ko-Direktor nach Starnberg zu lotsen. Von anderen selbsternannten Liberalen fühlte sich Habermas im Kampf gegen den neokonservativen Zeitgeist dagegen regelrecht verraten. So warnte er in einem offenen Brief an einen anderen „Renegaten der Mitte“, den Münchner Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer, der Anfang der 60er noch als luzider Kritiker Weimarer Rechten hervorgetreten war⁵⁶⁰, in den 70ern aber ein dickes Buch über den Zusammenhang zwischen linker Theorie in der Bundesrepublik und dem RAF-Terrorismus vorgelegt hatte⁵⁶¹, vor einer unbotmäßigen Einschränkung „de[s] Spielraum[s] legitimer Verfassungsinterpretationen“⁵⁶². Linkes Denken war laut Habermas stets „in der einen oder anderen Weise mit dem Ziel einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft verbunden“; für dessen „ernstzunehmende[ ] Varianten“ habe jedoch immer gegolten, „daß keine entwickelte Gesellschaft die Kennzeichnung ‚sozialistisch‘ verdient, die nicht die Substanz unserer Verfassung: Grundrechte, Volkssouveränität, Recht auf Oppo-

 Ebd.  Dahrendorf, „Die Denunziation der Aufklärung“, S. 3.  Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 333. Dahrendorfs Suche nach neuen Freiheitspotenzialen im Postwachstumszeitalter hatte er zudem längst als Beitrag einer gelungenen Zeitdiagnostik geadelt, die „die Entwicklungsprobleme des gegenwärtigen Gesellschaftssystems mit dem Blick auf strukturelle Möglichkeiten analysiert, die noch nicht institutionalisiert“ (Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 250) seien.   Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen.  Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 377 f.

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sition, Unabhängigkeit der Gerichte und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“⁵⁶³ garantiere. Folgte man demgegenüber dem liberalkonservativen Institutionenverteidiger Böckenförde, war es mit der von Habermas unzweideutig akzeptierten „Substanz“ des Grundgesetzes unvereinbar, aus Art. 14 Abs. 2 GG (Sozialbindung des Eigentums) den parlamentarischen Auftrag zum demokratischen Sozialismus abzuleiten, weil „der Kern des Eigentumsrechts, der durch gesetzgeberische Inhaltsbestimmung und Aktualisierung der Sozialbindung nicht beseitigt werden kann“, stets die „verbleibende (potentielle) Privatnützigkeit und eine Dispositionsbefugnis im vermögensrechtlichen Bereich“⁵⁶⁴ seien. Selbst wenn diese „verfassungsrechtlichen Hemmnisse […] keine absoluten Hinderungsgründe für den Verstaatlichungsweg“⁵⁶⁵ darstellen mussten, riet Böckenförde dringend davon ab, sozialistische Schlussfolgerungen aus der Krise der Regierbarkeit westlicher Demokratien zu ziehen. Denn weitreichende Verstaatlichungen würden „weniger eine enorme Machtsteigerung als vielmehr eine dauernde politische Überanstrengung der staatlichen Entscheidungsorgane“ nach sich ziehen und – wie er in Richtung Habermas und Offe hinzufügte – „zugleich neue und schwer lösbare Legitimationsprobleme aufwerfen“: Ein Parlament oder eine Regierung, die verbindliche Lohnleitlinien zu beschließen oder allgemein Tariferhöhungen festzulegen haben, die über Investitionsvolumen und Investitionsprioritäten befinden, geraten zwangsläufig unter einen politischen Druck und in einen Umfang politischer Verantwortlichkeit, die sie – bei Aufrechterhaltung eines offenen demokratischen politischen Prozesses – schwerlich bestehen können.⁵⁶⁶

Trotz aller evidenten Krisenerscheinungen hatte der Status quo der Sozialen Marktwirtschaft nach Böckenförde also „ein relatives Maß an Vernünftigkeit“⁵⁶⁷ auf seiner Seite. Demzufolge beruhe die Funktionalität des politischen Systems der Bundesrepublik weiterhin „auf einem institutionalisierten Kompromiß zwischen den demokratisch gewählten politischen Entscheidungsträgern einerseits“ und Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Unternehmen, also „den politischen Entscheidungsträgern kraft Statusfunktionen aus der Innehabung von Tarifautonomie und (gesamtwirtschaftlich relevanter) Investitionsfreiheit ande-

 Ebd. S. 378.  Böckenförde, „Die politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie“, S. 241.  Ebd.  Ebd. S. 242.  Ebd. S. 251.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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rerseits“⁵⁶⁸. Freilich wusste Böckenförde nur allzu gut, wie sehr der Wille zur Aufrechterhaltung dieses institutionalisierten Klassenkompromisses von der Voraussetzung abhing, „daß die wirtschaftlich-sozialen Gegebenheiten nicht in einer Weise sich entwickeln oder verändert werden, die einen der Beteiligten aus seiner Interessenlage heraus dazu treibt, eine einseitige, dem anderen Beteiligten oktroyierte Auflösung des Kompromisses zu verfolgen“⁵⁶⁹. Gewerkschaften und kapitalistische Unternehmer sah er in dieser Hinsicht gleichermaßen in der Pflicht. Der Sozialdemokrat Böckenförde bekannte sich als Sachverständiger der Enquete-Kommission Verfassungsreform im Deutschen Bundestag noch klar zur starken Stellung der Gewerkschaften im bundesrepublikanischen Verfassungsgefüge und zur sozialstaatlichen Demokratie, hinter die allein deshalb kein Weg mehr zurückführe, weil „die grundrechtlichen Rechtsgewährleistungen nicht für eine wachsende Zahl von Bürgern leerlaufen“⁵⁷⁰ dürften. Viel radikaler führte der Kölner Politikwissenschaftler und Mitherausgeber der neokonservativen Regierbarkeitsstudien Peter Graf Kielmansegg die Gefahr einer „Überwältigung des Staates durch organisierte Interessen“, ja der „Auflösung der inneren Souveränität“⁵⁷¹ des Staates, unter Verweis auf den englischen Patienten recht unverblümt auf die Rolle der Gewerkschaften zurück, die „zur stärksten Vetomacht in den pluralistischen Demokratien des Westens“⁵⁷² avanciert seien. Nur sie verfügten „über Vetomacht im vollen Sinn des Wortes: der status quo kann zu ihren Lasten nicht ohne ihre Zustimmung geändert werden“⁵⁷³. Demgegenüber seien alle relevanten Unternehmerentscheidungen über Investitionen, Preise und Arbeitsplätze „in hohem Maße ökonomisch determiniert“, also „in erster Linie durch Gewinnerwartungen und durch den Wettbewerb“, weshalb „Kooperationsverweigerung als Waffe für den gezielten, organisierten politischen Einsatz“ in ihrem Fall „schwierig und daher unwahrscheinlich“⁵⁷⁴ sei. Zwar handelte es sich um Beiträge aus demselben Textkonvolut des neokonservativen Denkkollektivs, doch wurde bereits an der Titelwahl deutlich, dass sich Kielmanseggs rhetorische Frage Organisierte Interessen als „Gegenregierungen“? gewissermaßen als gewerkschaftskritische Radikalisierung der abwägenden Einlassungen des Verfassungsjuristen Böckenförde über Die politische

      

Ebd. S. 252. Ebd. S. 253. Ebd. S. 239. Kielmansegg, „Organisierte Interessen als ‚Gegenregierungen‘?“, S. 143 f. Ebd. S. 160. Ebd. S. 164. Ebd. S. 166 f.

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Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie lesen ließ. In liberalkonservativer Manier wollte Böckenförde die Verhältnisse belassen, wie sie waren, und argumentierte getreu dem Motto: „Die bestehenden Verhältnisse haben prima facie die widerlegliche Vermutung ihrer Vernünftigkeit für sich, und die Beweislast liegt dementsprechend bei denjenigen, die Veränderungen einfordern.“⁵⁷⁵ Demgegenüber ging Kielmansegg einen neokonservativen Schritt weiter und forderte in der Krise politische Reformen zur Verbesserung der Profitabilitätsbedingungen des Kapitals. Bei ihm ließ sich in nuce die Verschiebung des Zeitgeists der späten 70er vom nachfrageorientierten Keynesianismus zur neoliberalen Angebotspolitik nachverfolgen, wenn man sich allein seine lakonische Feststellung vergegenwärtigt: „Wenn der Staat wünscht, daß investiert wird, muß er denen, die über Investitionen entscheiden, Gewinnaussichten eröffnen.“⁵⁷⁶ Ende der 70er war Schelsky sicher, dass es dazu eines tiefgreifenden Umbaus des westdeutschen Sozialstaats bedurfte. Auch wenn er zu glauben vorgab, mit seinen Vorschlägen könne „heute keine Partei eine Wahl gewinnen“⁵⁷⁷, schlossen sich an diesem Punkt die konservativen Reihen. Den „entscheidenden Fehler des auswuchernden Sozialstaates“ sah Schelsky in seiner Kritik der austeilenden Gerechtigkeit in der Aufrechterhaltung der Illusion, die Menschen seien nach den „politischen und sozialen Reformen dieses Jahrhunderts“ immer noch nicht in der Lage, „ihre soziale Sicherheit in eigener Daseinsvorsorge zu schaffen“⁵⁷⁸. Folglich deutete er den Marx’schen Begriff der Entfremdung in neokonservativer Absicht zu einer „politisch aufrecht erhaltene[n] Unmündigkeit des Menschen“ um, „die im westlichen Sozialstaat vor allem darin“ bestehe, „daß die Güter und Dienstleistungen produzierende Arbeiterschaft immer mehr in die Abhängigkeit und Unselbständigkeit durch ihre eigenen Hilfs- und Unterstützungssysteme geführt und die Macht ihrer Sozialvormünder gestärkt wird“⁵⁷⁹. Wer seine „Forderung nach dem liberalen Drittel“⁵⁸⁰ voreilig als Rückkehr zum Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts abtue, dürfe sich nicht wundern, dass der „strukturelle Selbstvernichtungsmechanismus des Sozialstaates“ – die Aufkündigung des Generationenvertrags – weiter voranschreite und „wichtige

 Biebricher, Geistig-moralische Wende, S. 113.  Kielmansegg, „Organisierte Interessen als ‚Gegenregierungen‘?“, S. 167.  Schelsky, „Kritik der austeilenden Gerechtigkeit“, S. 306.  Ebd. S. 307.  Ebd. S. 309.  Ebd. Demnach sollte im Grundgesetz festgelegt werden, dass der Staat seinen Bürgern nicht mehr als ein Drittel ihres Bruttoeinkommens durch Steuern und gesetzliche Sozialabgaben entziehen dürfe.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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Tugenden und Verantwortungen in der Bevölkerung systematisch geschwächt oder gar aufgelöst“⁵⁸¹ würden. Schelskys Schlussplädoyer für ein „Gegen-System, das an die Stelle der staatlich zugeteilten Wohlfahrt an erster Stelle die Selbsthilfe“ setze, „die Selbstbestimmung und Wahlfreiheit der sozialen und finanziellen Leistungen zum Prinzip der Sozialpolitik“ erhebe und „eine Demokratie“ verwirkliche, „in der diejenigen mehr mitzubestimmen haben, die auch für das Ganze mehr leisten“, wirkt im Nachhinein angesichts seines Versprechens, so „den gegenwärtigen Stand der sozialen Sicherung [zu] erhalten, […] darüber hinaus vernachlässigte Kräfte der sozialen Sicherung wieder [zu] beleben, vor allem aber eine herrschaftsfreiere geistige, moralische und emotionelle Haltung der Menschen in unseren Gemeinwesen [zu] erzeugen“⁵⁸², wie die ideologischprophetische Schönfärberei einer Gegenwart, die sich nach der neoliberalen Reform des Sozialstaats auch in Deutschland in Wirklichkeit trostloser ausnimmt.

2.2.2 Denker ohne Ort Grundlegende Revisionen Nach einem längeren Ernüchterungsprozess hatte Habermas seine Erwartungen im Hinblick auf die Demokratisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft und politischen Ökonomie auf dem „Höhepunkt des Pessimismus in der Geschichte der Bundesrepublik“⁵⁸³ zu Beginn der 80er immer weiter heruntergeschraubt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rang er sich im Vorwort zur Neuauflage seiner Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit schließlich zu dem Bekenntnis durch, dass er staatliche Politik und kapitalistische Ökonomie seit der Publikation der Theorie des kommunikativen Handelns „als systemisch integrierte Handlungsbereiche“ begreife, „die nicht mehr von innen demokratisch umgestaltet, d. h. auf einen politischen Integrationsmodus umgestellt werden könnten, ohne in ihrem systemischen Eigensinn beschädigt und damit in ihrer Funktionsfähigkeit gestört zu werden“⁵⁸⁴. Hierbei handelte es sich um eine explizite Teilanerkennung der Luhmann’schen Systemtheorie. Unter dem Projekt einer „radikalen Demokratisierung“ verstand Habermas seit Beginn der 80er folglich nicht mehr „schlechthin die ‚Aufhebung‘ eines kapitalistisch verselbständigten Wirtschafts- und eines bürokratisch verselbständigten Herr-

   

Ebd. S. 310. Ebd. S. 314. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 434. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 36

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schaftssystems“, sondern nur noch das abgespeckte Programm einer „demokratische[n] Eindämmung der kolonialisierenden Übergriffe der Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche“⁵⁸⁵. Folgerichtig hatte er auch den Krisenbegriff aus seiner Schrift über die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus durch einen Begriff neuer sozialer Konflikte ersetzt, die „sich nicht an Verteilungsproblemen, sondern an Fragen der Grammatik von Lebensformen“⁵⁸⁶ und „an den Nahtstellen zwischen System und Lebenswelt“⁵⁸⁷ entzünden sollten. Hier entstehe „eine Konfliktlinie zwischen dem Zentrum der am Produktionsprozeß unmittelbar beteiligten Schichten, die ein Interesse daran haben, das kapitalistische Wachstum als Grundlage des sozialstaatlichen Kompromisses zu verteidigen, und einer bunt zusammengewürfelten Peripherie auf der anderen Seite“, deren Protagonisten „für die selbstdestruktiven Folgen des Komplexitätswachstums stärker sensibilisiert oder von ihnen stärker betroffen sind“⁵⁸⁸. Der äußerst heterogene Protest der Neuen Sozialen Bewegungen habe jedoch – vom Feminismus einmal abgesehen – „einen eher defensiven Charakter“, weil er „auf die Eindämmung formal-organisierter zugunsten kommunikativ-strukturierter Handlungsbereiche“ und „nicht auf die Eroberung neuer Territorien“⁵⁸⁹ ziele. Zweifellos traf Habermas mit seinem gesellschaftstheoretischen Opus Magnum, der Theorie des kommunikativen Handelns, „einen zentralen Nerv der Zeit“, zumal ihm „von hier aus eindrückliche Zeitdiagnosen und Strukturanalysen wie etwa im Hinblick auf die Dilemmata des Wohlfahrtsstaates, des staatlichen Bildungssystems und die in der gegenwärtigen Moderne hervortretende ‚Neue Unübersichtlichkeit‘“ gelingen sollten, die er weiterhin „mit der Kritik ‚neokonservativer‘ Versuche [verband], am kapitalistischen Wachstumsmodell und seinen Verwertungsbedingungen festzuhalten“⁵⁹⁰. Diesbezüglich entwarf er kurz nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition noch einmal eine im Ton jedoch konsternierte Kritik an der „neukonservative[n] Lehre, die bei uns im Laufe der siebziger Jahre über die Presse in den politischen Alltag eingesickert“⁵⁹¹ sei: Die Neukonservativen vertauschen Ursache und Wirkung. An die Stelle der ökonomischen und administrativen Imperative, der sogenannten Sachzwänge, die immer weitere Lebensbereiche monetarisieren und bürokratisieren, immer weitere Beziehungen in Waren und in

      

Ebd. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 576. Ebd. S. 581. Ebd. S. 577. Ebd. S. 578 f. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 210 f. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 44.

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Objekte der Verwaltung verwandeln – an die Stelle der wirklichen Krisenherde der Gesellschaft rücken sie das Gespenst einer subversiv überbordenden Kultur. Diese falsche Analyse erklärt, daß den Neukonservativen, wenn sie zu wählen haben, die Lebenswelt, auch die familiäre, keineswegs so heilig ist, wie sie es vorgeben.Während die Christdemokraten keine Hemmung haben, die Bundesrepublik zu verkabeln, sind die Sozialdemokraten, in Fragen der Medienpolitik, wohl eher die Hüter der Tradition.Wir müssen mit der Substanz bewährter Lebensformen, soweit sie von der Wachstumsdynamik der gesellschaftlichen Modernisierung noch nicht zerstört sind, schonend umgehen. Es fragt sich nur, wer diese Bestände im Ernstfall schont.⁵⁹²

Als Folge seiner Ernüchterung rückten nun die schier unabänderlichen Aporien komplexer moderner Gesellschaften in den Mittelpunkt des Habermas’schen Denkens: An kapitalistischer Wirtschaft und bürokratischem Staat schien ja offensichtlich kein Weg vorbeizugehen – oder zumindest schien bis auf ein paar versprengte K-Gruppen niemand mehr bereit zu sein, einen solchen Weg einzuschlagen. Nach der Iranischen Revolution und dem Ausbruch der zweiten Ölkrise von 1979 war die Weltwirtschaft Anfang der 80er wieder in eine tiefe Rezession gestürzt, in deren Folge sich auch in der Bundesrepublik die Grenzen des pragmatischen Politikkurses des Krisenkanzlers Schmidt offenbarten.⁵⁹³ Im Zuge dieser abermaligen Krisenverschärfung „vertiefte sich die Kluft zwischen den sozial- und gesellschaftspolitischen Zielen, die die Aufbruchzeit der sozial-liberalen Koalition gekennzeichnet hatten, und den eng begrenzten politischen Gestaltungsmöglichkeiten, die der Regierung Schmidt/Genscher faktisch noch zu Gebote standen“⁵⁹⁴. Daran offenbarte sich laut Habermas mehr denn je das strukturelle Problem, „daß der Sozialstaat sowohl die unmittelbaren negativen  Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 53.  Dazu Schanetzky: „Die Wachstumsraten drehten erneut ins Negative (‐0,2 Prozent 1981 und -1,1 Prozent 1982). Sofort schnellte die Arbeitslosigkeit wieder über die Millionenmarke (1981). Die Quote stieg von 3,7 Prozent (1980) binnen Jahresfrist auf 5,3 Prozent – und übertraf damit bereits den Höchststand von 1975. Ein Jahr später lag sie bereits bei 7,6 Prozent, und 1983 erreichte sie mit 9,3 Prozent und über zwei Millionen Erwerbslosen einen Wert, den die Republik seit den frühen fünfziger Jahren nicht mehr kannte. Erneut stieg auch die Inflationsrate auf über fünf Prozent (Höchststand 1981 mit 6,3 Prozent). Wie schon nach dem ersten Ölpreisschock brachen die Steuereinnahmen weg, während gleichzeitig die Staatsausgaben weiter anstiegen – vor allem wegen der hohen Kosten der Arbeitslosigkeit. […] Die Staatsverschuldung stieg allein beim Bund von 207,6 Milliarden im Jahr 1979 auf 314,3 Milliarden im Jahr 1982 an (eine Zunahme um 51 Prozent in drei Jahren). Die Gesamtverschuldung aller öffentlichen Haushalte nahm im gleichen Zeitraum mit der gleichen Rasanz zu: von 413,9 auf 614,8 Milliarden Mark, was einem Plus von 48,5 Prozent entspricht. Die Stimmung korrespondierte mit diesen katastrophalen Zahlen: 1982 wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache die Wendung ‚Talfahrt der Wirtschaft‘ zum ‚Wort des Jahres‘.“, Schanetzky, Die große Ernüchterung, S. 228.  Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 18.

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Auswirkungen des kapitalistisch organisierten Beschäftigungssystems wie auch die dysfunktionalen Nebenwirkungen eines über Kapitalakkumulation gesteuerten ökonomischen Wachstums auf die Lebenswelt auffangen soll, ohne Organisationsform, Struktur und Antriebsmechanismus der wirtschaftlichen Produktion antasten zu dürfen“⁵⁹⁵. Seine kritisch-theoretische Pointe gegen Luhmann lautete deshalb: Der Staatsapparat sei insofern „von dem mediengesteuerten Subsystem Wirtschaft abhängig“, als er im (Spät‐)Kapitalismus notorisch „zu einer Reorganisation“ gezwungen werde, „die unter anderem dazu führt, daß politische Macht an die Struktur eines Steuerungsmediums angeglichen, Macht an Geld assimiliert wird“⁵⁹⁶. Doch aus dieser unverrückbaren marxistischen Grundüberzeugung – die Habermas mittlerweile schon in der Sprache der Systemtheorie vortrug – folgte in „der eigentümlichen Zwischenlage […], in der sich die bundesrepublikanische Gesellschaft zwischen Krisenbewußtsein, Fortschrittsoptimismus und dem Gewicht wertkonservativer Ansprüche befand“⁵⁹⁷, kein sozialistisches Projekt mehr. Vielmehr ging Habermas im Zuge seiner intensiven Parsons- und Luhmann-Rezeption davon aus, dass der bürokratische Staat und die kapitalistische Ökonomie, also die „Bereiche organisationsförmiger und mediengesteuerter Sozialbeziehungen“⁵⁹⁸, bei allen pathologischen Nebeneffekten die unverzichtbare Funktion erfüllten, vergesellschaftete Individuen über die Steuerungsmedien Geld und administrative Macht von ansonsten nicht zu bewerkstelligenden Verständigungsanforderungen zu entlasten. Ausgerechnet in einer Phase, in der „Brüche im Regierungslager“ sichtbar wurden, „Argumentationsvorteile für die Opposition“ entstanden und sich konservative Stimmen weiter mehrten, „die deutliche Anzeichen für eine Überforderung des sozialen Interventionsstaates zu erkennen glaubten und einen grundsätzlichen Wechsel in der Haushalts-, Gesellschaftsund Sozialpolitik forderten“⁵⁹⁹, wandte sich Habermas mit der überraschenden Bitte an seine linken Mitstreiter, „unserem marxistischen Herzen einen Stoß“ zu geben und zu bekennen: „er war ganz erfolgreich, der Kapitalismus, wenigstens im Bereich der materiellen Reproduktion, und ist es immer noch“⁶⁰⁰. Seinen philosophischen Diskursbegriff hatte er seit den frühen 70ern zwar immer mehr verfeinert, dessen Anwendungsbedingungen insbesondere im Hinblick auf Politik und Wirtschaft aber deutlich relativiert.

     

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 511. Ebd. S. 256. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 111. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 231. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 18. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 194.

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Wenn man sich zudem Habermas’ verdinglichtungstheoretische Pointe aus der Theorie des kommunikativen Handels vergegenwärtigt, drängt sich rückblickend der Eindruck auf, dass er im Kontext der neokonservativen Politikwende in Großbritannien und den USA, die sich zu Beginn der 80er auch in der Bundesrepublik abzeichnete, vor dem (spät)kapitalistischen Status quo resignierte. Seinem gesellschaftstheoretischen Großentwurf folgend, schlugen die „systemische[n] Entlastungen, die durch die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht“ worden seien, dialektisch in „Überlastungen der kommunikativen Infrastruktur dieser Lebenswelt“⁶⁰¹ um. Mit der These von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“, einer vornehmlich über das Rechtsmedium vermittelten „Monetarisierung und Bürokratisierung der Alltagspraxis“⁶⁰² durch die Systemimperative Geld und Macht, erklärte sich Habermas nun die Beharrlichkeit einer auf „Konsumismus und Besitzindividualismus, Leistungs- und Wettbewerbsmotive“ verengten Privatsphäre, die einem „spezialistisch-utilitaristischen Lebensstil“⁶⁰³ mit wiederkehrenden hedonistischen Ausbruchsversuchen Vorschub leiste. Daneben führe die „bürokratische Vermachtung und Austrocknung spontaner Meinungs- und Willensbildungsprozesse“⁶⁰⁴ zu einer Verkümmerung der Öffentlichkeit, in der Massenloyalität planmäßig mobilisiert und die politische Entscheidungsfindung gegen demokratischen Einspruch technokratisch immunisiert würden. Laut Habermas deuteten die neuen sozialen Konflikte seit Mitte der 70er zwar darauf hin, dass trotz der zweifachen „systemisch induzierte[n] Verdinglichung“ bei hinreichend vielen Menschen „die utopische Perspektive“ virulent geblieben sei, „aus der der kapitalistischen Modernisierung stets der Makel angehaftet hat, daß sie die traditionalen Lebensformen auflöst, ohne deren kommunikative Substanz zu retten“⁶⁰⁵. Dennoch ging er mittlerweile nicht mehr davon aus, dass sich das „unauflösliche Spannungsverhältnis“⁶⁰⁶ zwischen Kapitalismus und Demokratie auf Dauer noch zugunsten letzterer verschieben lassen werde. Am Ende des sozialliberalen Zeitalters fand er sich vielmehr mit der Vorstellung einer repräsentativdemokratischen Gesellschaft im (spät‐)kapitalistischen Dauerzustand ab, nachdem er zehn Jahre zuvor noch von der Verwirklichung einer radikaldemokratischen sozialistischen Gesellschaft im ganzen geträumt hatte. Der Siegeszug postmaterieller Werte, den Habermas Anfang der 70er noch als zunehmende Infragestellung der motivationalen Grundlagen des Kapitalismus ge-

     

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 554. Ebd. S. 480. Ebd. Ebd. Ebd. S. 486. Ebd. S. 507.

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deutet hatte, schien sich im Gewand einer Pluralisierung von Lebensformen und Lebensstilen „im sozialen Segment der jüngeren, gut ausgebildeten, kinderlosen und erwerbstätigen Mittelschichten“ nun mit „eine[r] geschlechterübergreifende[n] Berufs- und Erwerbszentrierung“⁶⁰⁷ zu verbinden. Folglich war es „im Grunde erst die Integration in die Erwerbsgesellschaft, die im privaten Bereich Individualisierung und Pluralisierung erlaubte“⁶⁰⁸ – eine Entwicklung, die sich Habermas ursprünglich ganz anders ausgemalt hatte.⁶⁰⁹ Habermas’ Selbstdistanzierung von seiner früheren politischen Zielbestimmung des demokratischen Sozialismus ging mit einer sukzessiven Formalisierung seiner Theoriesprache einher. Hatte er Dahrendorf in den frühen 60ern noch dafür kritisiert, durch die Verwendung der formalen Bestandteile der Marx’schen Klassentheorie deren sozial- und herrschaftskritische Stoßrichtung preiszugeben, zog er in der Theorie des kommunikativen Handelns Anfang der 80er selbst den formalistischen Schluss, „System- und Handlungstheorie“ „als die disjecta membra [der] Hegel-Marxschen Hinterlassenschaft“⁶¹⁰ analytisch miteinander verschränken zu müssen.⁶¹¹ Im Zuge seiner kommunikationstheoretischen Wen-

 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 325.  Ebd.  Streeck hebt im Unterschied zu Wirsching die problematischen Aspekte dieser Entwicklung am Beispiel der Integrierung der Frauen in die Erwerbsgesellschaft hervor: „Auch die Lohnarbeit […] erfuhr eine von [Habermas’ – M.H.] Theorie der Legitimationskrise nicht vorhergesehene Rehabilitierung. Beginnend in den 1970er Jahren, strömten überall in der westlichen Welt die Frauen in die Arbeitsmärkte und erlebten das, was kurz vorher noch als Lohnknechtschaft gebrandmarkt und für historisch überholt erklärt worden war, als Befreiung von dem, was ihnen nunmehr als unbezahlte Knechtschaft in der Familie erschien. Die Popularität der weiblichen Erwerbsarbeit wuchs in den folgenden Jahrzehnten ungebrochen weiter, trotz in der Regel schlechterer Bezahlung. In der Tat wurden die in Beschäftigung drängenden Frauen vielfach zu Verbündeten der Arbeitgeber in ihrem Bestreben, den Arbeitsmarkt zu deregulieren, um auf diese Weise ‚Außenseitern‘ zu ermöglichen, die – männlichen – ‚Insider‘ zu unterbieten. Die steigende Frauenerwerbstätigkeit hing im Übrigen eng mit einem gleichzeitigen Wandel der Familienstrukturen zusammen: Die Zahl der Scheidungen nahm zu, die der Eheschließungen nahm ab und mit ihr die der Kinder, während der Anteil der Kinder in unsicheren Familienverhältnissen stieg, was das weibliche Arbeitsangebot weiter erhöhte […].“, Streeck, Gekaufte Zeit, S. 42.  Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 303.  Es ist folglich nicht zu weit gegriffen, seine Neuauflage der Kritik des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus – die in der Theorie des kommunikativen Handelns schließlich in das Diktum mündete, Parsons sei durch „die systemtheoretische Einschmelzung der handlungstheoretischen Grundbegriffe“ (ebd. S. 370) zum Urheber des funktionalistischen „Essentialismus“ (ebd. S. 356) avanciert – in die Tradition von Dahrendorfs früherer Parsons-Kritik zu stellen. Entsprechend hat Habermas rückblickend auch noch einmal verdeutlicht, dass er und seine Altersgenossen sich bereits in den 50ern von Dahrendorfs Parsons-Kritik besonders angezogen fühlten: „Was [Dahrendorf] den größten Respekt seiner Altersgenossen sicherte, war […] sein

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de, durch die „die formalen Eigenschaften der Intersubjektivität möglicher Verständigung den Platz der Bedingungen der Objektivität möglicher Erfahrung“⁶¹² einnahmen, rückte er folgerichtig auch von seiner früheren Kritik am formalsoziologischen Charakter der Dahrendorf’schen Konflikttheorie ab. Ironischerweise hatte sich Dahrendorf aus der anderen Richtung dem Denken seines ungleichen Weggefährten Habermas ebenfalls angenähert. Hatte er in seiner Habilitationsschrift aus den späten 50ern noch einem naiven Positivismus gehuldigt und für eine methodische Annäherung der Sozial- an die Naturwissenschaften plädiert, räumte er bei der Niederschrift seines Buchs über Lebenschancen mitten im britischen Winter of Discontent von 1978/79 ein, mittlerweile an einer „überaus verkehrseichen Kreuzung von sozialwissenschaftlicher Theorie, Geschichtsphilosophie und politischer Theorie“⁶¹³ angekommen zu sein. Der einstmals unversöhnliche Kritiker der spekulativen Geschichtsphilosophie ließ sich auf einen „Flirt mit der Utopie“⁶¹⁴ ein und fischte nun selbst in trüben Gewässern: „Der Sozialwissenschaftler muß mehr tun, als nur Sozialwissenschaft betreiben. Die Theorie sozialer Prozesse bleibt unergiebig, wenn in ihr nur ein distanziertes theoretisches Interesse wirksam wird.“⁶¹⁵ Während Habermas auf der Ebene der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung immer formalistischere Wege einschlug, versuchte Dahrendorf also gerade umgekehrt „den Formalismus meiner frühen theoretischen Ansätze zu überwinden und damit die Bahn zu bereiten für neue theoretische Entwicklungen“. Dieser Entschluss sei durch „Erfahrungen“ erleichtert worden, die der Natur der Sache nach nicht formal bleiben konnten. Zwar gab es auch in meiner politischen Tätigkeit eine Phase – die des Machtwechsels von 1969 –, in der gleichsam der Wandel als solcher, ‚die Bewegung um ihrer selbst willen‘, zum Thema wurde; und mancher meiner Kritiker wird es nicht zufällig finden, daß ich mich gerade an diesem Punkt engagiert habe. Aber mit der Forderung nach Wandel um seiner selbst willen kommt man in der Praxis nicht weit. Die Art und Weise, in der zuerst ein beinahe inhaltsleerer Begriff von ‚Reformen‘ übertrieben wurde, während dann eine ebenso inhaltsleere Aversion gegen Reformen um sich griff, erzählt die Geschichte.⁶¹⁶

fachliches Wissen, die Vertrautheit mit der angelsächsischen Diskussion und das Bewusstsein, mit einer konflikttheoretisch zugespitzten Kritik an Talcott Parsons, der damals die internationale Szene beherrschte, an der Forschungsfront zu sein – während uns Hinterbänklern die Lektüre von Parsons selbst noch bevorstand.“, Habermas, Im Sog der Technokratie, S. 162.  Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 279.  Dahrendorf, Lebenschancen, S. 7.  Hertfelder, „Neoliberalismus oder neuer Liberalismus?“, S. 274.  Dahrendorf, Lebenschancen, S. 81.  Ebd. S. 8.

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Ende der 70er sah sich Dahrendorf auf einmal zu der expliziten Vorannahme veranlasst, „daß die Analyse der Richtung des sozialen Wandels irgendwo in einem Raum festgemacht werden muß, der Aussagen darüber erlaubt, ob etwas besser oder schlechter, Fortschritt oder Rückschritt ist“⁶¹⁷. Den „mögliche[n] Sinn von Geschichte“ erkannte er folglich in dem Versuch, „mehr Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen“⁶¹⁸. Zwar verspreche ein solches Geschichtsverständnis weiterhin „ein[en] Weg zu immer neuen Ufern – aber das mißverstehe man nicht: nicht nur das immer Neue, also die Alternativen und Optionen, ist daran wichtig, sondern auch die Ufer, also die Bezüge und Bindungen“⁶¹⁹. Damit verpflichtete sich Dahrendorf auch unter Rückgriff auf J. St. Mill auf die kantische Idee eines „regulativen Fortschritts“, der „durchaus unterschiedliche Realitäten an moralischen Regeln [messe] und […] sowohl Fortschritt als auch Rückschritt [kenne]“⁶²⁰. Seine Überzeugung, „daß das Potential von Lebenschancen in gegebenen Gesellschaften oft größer“ sei, „als die bestehenden Strukturen erlauben“⁶²¹, und Geschichte als „ein ständiger, möglicherweise nie abgeschlossener Prozeß des (möglichen) Wachsens“⁶²² verstanden werden müsse, war nahezu deckungsgleich mit Habermas’ evolutionstheoretischer Pointe aus dessen Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Doch noch eingängiger als der ernüchterte Sozialist Habermas warnte der defensive Liberale Dahrendorf in der Krise vor der Rückkehr von „Zeiten, zu denen der Felsbrocken zurückrollt, wenn Sisyphus ihn unter Schweiß fast auf den Gipfel gestemmt hat, und den ganzen Abhang zurück bis zur Ebene, auf der er lag, herunterholpert“⁶²³.

 Ebd. S. 14.  Ebd. S. 26.  Ebd. S. 27.  Ebd. S. 30.  Ebd. S. 28.  Ebd. S. 71.  Ebd. S. 35 f. Überraschenderweise äußerte Dahrendorf gegen Habermas weiterhin den Popper’schen „Verdacht des Historizismus“, weil er sich an dessen Versuch stieß, zwischen verschiedenen Rechtfertigungsniveaus im Geschichtsablauf „einen entwicklungslogischen Zusammenhang“ (ebd. S. 152 f.) herstellen zu wollen. Dieser Vorwurf war auf der Folie seiner eigenen geschichtsphilosophisch-moralischen Wende unverständlich, dürfte also entweder irrationalen Phantomschmerzen oder der mangelnden Lektürebereitschaft eines vielbeschäftigten Wissenschaftsmanagers geschuldet gewesen sein. Habermas suggerierte mit dem Kriterium der „Entwicklungslogik“ jedenfalls „weder Unilinearität, noch Notwendigkeit, noch Kontinuität, noch Nichtumkehrbarkeit der Geschichte“ (Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 154). Vielmehr wollte er damit allein den „logischen Spielraum“ festsetzen, in dem moderne Gesellschaften unter „kontingenten Randbedingungen“ zu „umfassendere[n] Strukturbildungen“ (ebd. S. 155) kommen können. Diese Annahme konnte Dahrendorf, der ja selbst eine Reihe von „Argumente[n] für den moralischen Fortschritt“ (Dahrendorf, Lebenschancen, S. 184)

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Um mit seiner Verbindung von individuellen Wahlmöglichkeiten („Optionen“) und sozialen Bindungen („Ligaturen“) im Begriff der „Lebenschancen“ nicht selbst in den Verdacht zu geraten, der neokonservativen Mesalliance zwischen Marktradikalismus und Wertetraditionalismus anzuhängen, versuchte er zu beteuern, „kein romantisches Plädoyer für die Welt von gestern im Sinn“ zu haben: „[W]einige Aussichten sind beängstigender als die, daß am Ende diejenigen obsiegen, die uns zu den angeblichen Tugenden der Vergangenheit zurückführen wollen und die uns in Wirklichkeit alle ihre Laster aufs neue bescheren würden.“⁶²⁴ Dahrendorf gab vor, mittlerweile nur noch Verachtung für „jene negative Haltung“ übrig zu haben, „die sich liberal“ nenne, „aber tatsächlich kaum etwas anderes“ sei „als die Verteidigung der Positionsinteressen der Besitzenden“⁶²⁵. Als die Marktrhetorik der britischen Oppositionsführerin Thatcher unmittelbar vor deren Wahl zur Premierministerin immer schrillere Züge annahm, distanzierte er sich von einem seiner wichtigsten früheren intellektuellen Stichwortgeber: Hayeks „halbliberaler“ politischer Philosophie fehle es „zutiefst an Phantasie und Mut“. Demgegenüber warf Dahrendorf einen „aktive[n] Begriff der Freiheit“ in die Waagschale, der „keine Ruhe“ erlaube, „bevor nicht alle Wege zur Erweiterung menschlicher Lebenschancen erkundet sind“⁶²⁶, denn „einer der Irrtümer der ex post-Kombination“ von Bürgerrechten und Wohlstand habe während der trente glorieuses in dem naiven Glauben gelegen, „daß sie notwendig zusammen auftreten“⁶²⁷. Unweigerlich sahen sich Dahrendorf und Habermas, die ihre universalistischen Grundüberzeugungen bis in das Krisenzeitalter der langen 70er nie hatten hinterfragen müssen, durch den Siegeszug des Neokonservatismus auf einmal selbst vor die dringliche Frage gestellt, wie der soziale Kitt in fortgeschrittenen Industriegesellschaften fernab der Beschwörung einer angestaubten Sozialmoral wiederherzustellen bzw. weiterhin zu sichern sei. Mit anderen Worten: Auch sie mussten auf das Problem der wachsenden Bindungslosigkeit – der sozialen Anomie – in der (Post‐)Moderne eine Antwort geben, ohne gleichzeitig in die neokonservative Falle zu tappen und das Individuum auf dem Altar der Tradition

in der Geschichte in die Waagschale geworfen hatte, nicht ernsthaft kassieren wollen, wiewohl Habermas später selbst zugab, mit seiner Evolutionstheorie „etwas Bauchschmerzen“ zu haben, lauerten hier doch „auf der einen Seite die II. Internationale und auf der anderen Seite der Luhmann, und drittens vielleicht sogar noch die Gespenster einer naturalisierten Geschichtsphilosophie“, Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 193.  Dahrendorf, Lebenschancen, S. 58.  Ebd. S. 61.  Ebd.  Ebd. S. 82.

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zu opfern. Habermas feilte deshalb ausgiebig an einem der Phänomenologie entlehnten Konzept der „Lebenswelt“, die er „als Reservoir von Selbstverständlichkeiten oder unerschütterten Überzeugungen“ verstand, „welche die Kommunikationsteilnehmer für kooperative Deutungsprozesse benutzen“⁶²⁸ konnten. Aus dieser kommunikativ unhinterfragten Lebenswelt sollten folglich überhaupt erst die „Solidaritäten der über Werte und Normen integrierten Gruppen und die Kompetenzen vergesellschafteter Individuen“ stammen, die wiederum „in ähnlicher Weise wie kulturelle Überlieferungen“⁶²⁹ kritisierbar bleiben mussten, damit sie sich auf Dauer nicht selbst zu ideologischen Stützen der herrschenden Verhältnisse verhärteten. Habermas wusste nur zu genau, dass jede „kulturalistische Verkürzung des Konzepts der Lebenswelt“⁶³⁰ einer konservativen Verherrlichung der Tradition gefährlich nahekam. Seine Zauberformel lautete deshalb am Ende: „Die Moderne kann ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr den Vorbildern anderer Epochen entlehnen. Die Moderne sieht sich ausschließlich auf sich gestellt – sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die authentische Gegenwart ist von nun an der Ort, wo sich Traditionsfortsetzung und Innovation verschränken.“⁶³¹ Derweil sinnierte Dahrendorf über eine „Tiefenkultur“ aus Ligaturen, die die Menschen untereinander mit der nötigen Solidarität ausstatten solle, „ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden“⁶³², ohne dabei „fundamentalistische Ansprüche“⁶³³ zu stellen. Sein Konzept von Solidarität stiftenden Bindungsmustern beruhte auf einer kreativen Kreuzung von Tocqueville mit Marx, die „gar nicht so weit voneinander entfernt“⁶³⁴ seien. In seiner Auseinandersetzung mit dem „somewhat triumphant new conservatism“ in Großbritannien und den USA erklärte er sich – ähnlich wie Habermas – zum Anwalt einer universalistischen Sozialethik, der nach neuen, modernen Ligaturen suchte, „unheard of in the past, and designed to take the place of the values of modernity, that is of ‚rivalry‘ and ‚cupidity‘“, während die neuen Konservativen seek to combine the classical industrial values of achievement and competition with the old ligatures of familiy, church, nation. Theirs is a truly reactionary position, a reaction against both the trend towards solidarity instead of achievement and that towards rationality instead of faith; they seek to revive a classical social Darwinism along with the Victorian virtues on

      

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 189. Ebd. S. 205. Ebd. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 141. Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 41. Ebd. S. 8. Ebd. S. 43.

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whicht it may have been thriving a century ago. At least in popular appeal, the mixture is successful, though what it does to people’s heads and hearts, is another matter.⁶³⁵

Dahrendorf sah die westliche Welt nach Ablauf der trente glorieuses „dem Traum der Weltbürgergesellschaft so fern wie nur je“⁶³⁶ und verwies in seinem Beitrag zu den Habermas’schen Stichworten zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘ auf die „Tatsache, daß die produktiven Kräfte von gestern sich zu erschöpfen beginnen, daß sie ihre eigenen Widersprüche hervorbringen. Diese Widersprüche gilt es zu erkennen, zu beschreiben und, wenn möglich, zu lösen. Aber […] die Lösung liegt in einer neuen Zukunft, nicht in der Rückkehr zu vergangenen Strukturen.“⁶³⁷ Mehr als zwei Jahrzehnte schien sich die Moderne nur von ihrer besten Seite gezeigt zu haben: die Wissenschaften machten unter staatlicher Anleitung unheimliche Fortschritte, nationale Volkswirtschaften wuchsen kontinuierlich, sodass die Verwirklichung der Staatsbürgerrechte für alle ein realistisches Ziel wurde, und die liberale Demokratie bestand nicht mehr nur der Form nach, sondern hatte sich in den Mentalitäten selbstbewusster Individuen festgesetzt. Melancholisch blickte Dahrendorf nun auch auf den Konsensus der bürgerlichen Wachstumsgesellschaft zurück, den er lieber „einen sozialdemokratischen Grundkonsensus“ genannt hätte, „wenn das Wort nicht in Deutschland parteipolitisch beschlagnahmt wäre“. Dieser Konsens beinhalte „liberale und soziale Elemente, Wirtschaftswachstum, Bürgerrechte, der Versuch, beide vernünftig zu entwickeln, die Abkehr von radikalen Lösungen, das Vertrauen, daß Modernität am Ende den Menschen nützt und gefällt, die Annahme, daß es auf diesem Weg noch lange weitergehen kann, mit Nuancen hier und da, aber im Grunde ohne große Kontroverse“⁶³⁸. Diese Utopie einer sozial-liberalen Moderne, von der Dahrendorfs früheres Denken stark gezehrt hatte, war in der Krise – wie er gestehen musste – unglaubwürdig geworden. Modernität habe ihre Kehrseiten, und es gelte, „jene Zweideutigkeiten des Fortschritts“⁶³⁹ schonungslos aufzudecken, um daraus Lehren für die politischen Zukunft zu ziehen. Allein das „Grundmotiv“ des Wachstumsmodells kapitalistischer Gesellschaften sei im Krisenjahrzehnt der 70er vom Kopf auf die Füße gestellt worden: Die protestantische Ethik Max Webers war laut Dahrendorf einer hedonistischen instant gratification gewichen.

 Dahrendorf, Law and Order, S. 77.  Dahrendorf, „Kulturpessimismus vs. Fortschrittshoffnung“, S. 216.  Ebd. S. 224.  Dahrendorf, „Was kommt nach dem Konsensus der bürgerlichen Wachstumsgesellschaft?“, S. 45.  Ebd. S. 46.

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Heute lebe der Kapitalismus nicht länger „vom Sparen, sondern vom Ratenzahlen, nicht von der aufgeschobenen Befriedigung, sondern vom vorzeitigen Genuß“: Deshalb seien „die Verfechter der protestantischen Ethik“ mittlerweile auch „charakteristischerweise Wachstumsgegner“⁶⁴⁰. Daraus folge wiederum ein „Wachstum, das dennoch durch hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit unerträglich wird“⁶⁴¹ und die Ungültigkeit des vom Keynesianismus vormals unterstellten Zusammenhangs zwischen verschiedenen zentralen volkswirtschaftlichen Parametern vor Augen führe. Doch Dahrendorfs eigener Versuch, seit Mitte der 70er eine liberale „Mittlerstellung“⁶⁴² einzunehmen, um der „erstaunlichen Renaissance des linken und rechten Konservatismus“⁶⁴³ etwas entgegenzusetzen, indizierte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit letztlich nur das Dilemma, in dem sich der Liberalismus im krisenhaften Postwachstumskapitalismus verheddern musste. Denn wenn Dahrendorfs Kritik der sozialdemokratischen „Verteidigung des sozialen Besitzstandes gegen jede ‚soziale Demontage‘“ und der „Abkehr von einer Politik der Reformen zu einer Politik der Stabilität“ galt, musste sein liberaler Feldzug gegen ein neokonservatives Denken, das sich gerade durch „eine Stellung der Konfrontation zum Bestehenden“⁶⁴⁴ auszeichnete, weitgehend verpuffen. Es kam ja auch nicht von ungefähr, dass viele Liberale – wie Dahrendorf selbst monierte – in diesen Zeiten zunehmend Gefahr liefen, „zu Sprechern zweitrangiger Wirtschaftszweige zu werden, in denen die klassische marktwirtschaftliche Theorie noch halbwegs funktioniert, und die Kernfrage zu ignorieren, wie denn die Anwendung liberaler Prinzipien unter Bedingungen hoher Konzentration, hoher Organisation und verminderter Wachstumserwartungen aussieht“⁶⁴⁵. Seine Antwort auf diese „Kernfrage“ erschöpfte sich jedenfalls in der literarischen Beschwörung einer Gleichheit der Chancen⁶⁴⁶, zu deren Ermöglichung dem Staat in der Krise schlicht

 Ebd. S. 48.  Ebd. S. 49.  Hacke, „Der Staat in Gefahr“, S. 198.  Dahrendorf, Lebenschancen, S. 143.  Ebd.  Ebd. S. 138.  Etwa besonders blumig hier: „Wenn alle Menschen gleiche Chancen haben sollen, um ihre Talente, Interessen, auch Marotten und Idiosynkrasien auszuleben, dann muß es einen gemeinsamen Boden geben, auf dem sie stehen. Dieser Fußboden wird durch Staatsbürgerrechte geschaffen, und je höher er ist, desto besser. Das ist die positive Seite der Sache. Auf der anderen, negativen Seite muß man sicherstellen, daß niemand in der Lage ist, die Lebenschancen von anderen, oder auch nur ihre Bürgerrechte, willkürlich zu beschränken. Es sollte keine Obristen von Söldnerarmeen geben, keine Sklavenhalter, keine Menschen, die andere am steifen Arm verhungern lassen, ihre Stimmen oder ihre Loyalitäten kaufen, und auch nicht den unkontrol-

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die Mittel fehlten, wenn er gleichzeitig die Profitabilitätsbedingungen des Kapitals wieder verbessern wollte. Zugleich redete Dahrendorf einer solchen angebotspolitischen Wende selbst wiederkehrend das Wort, etwa wenn er „für eine Partei der Ungleichheit“ plädierte: die Verteidigung der Differenzierung und nicht der Integration im Bildungswesen, der Steuererleichterungen statt der weiteren Reduktion von Einkommensdifferenzen, der Ermutigung des wirtschaftlichen Erfolgs statt der Subventionierung derer, die in Schwierigkeiten geraten sind, der Anreize für individuelle Mobilität, sei es geographisch oder sozial – denn alles diese trägt dazu bei, den Sinn für Hoffnung und damit für möglichen Fortschritt offen zu halten.⁶⁴⁷

Unbestritten betätigte sich Dahrendorf mit seiner fundamentalen Staatsskepsis, Kritik des Sozialstaats und eines falschen Egalitarismus sowie seiner klassisch liberalen Kritik am Bürokratismus neokorporativer Strukturen⁶⁴⁸ in dieser Phase als intellektueller Befürworter der neoliberalen Wende. Auch er wähnte sich seit Ende der 70er in einer historischen Übergangsphase, in der die „vertrauten Instrumente“ aus den Zeiten des Nachkriegsbooms obsolet geworden seien: „Die Arbeitslosigkeit bleibt; die Inflation verflüchtigt sich nicht; die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates scheinen gefährdet; und wo es Aufschwung gibt, bleibt er eigentümlich zitterig und prekär.“⁶⁴⁹ Statt das Problem struktureller Arbeitslosigkeit zu lösen, führe die konventionelle antizyklische Arbeitsbeschaffungspolitik nur noch dazu, „konventionelles Wachstum zu erschweren“⁶⁵⁰, zumal der Westen sich in der sich globalisierenden politischen Ökonomie ungekannten Problemen wie hohen Rohstoffpreisen, neuerlichen Handelsrestriktionen und industriellen Marktsättigungseffekten gegenübersehe. Dahrendorf glaubte zu wissen: „Keynes hilft nicht mehr weiter. Globalsteuerung steuert nicht, und Strukturpolitik greift nicht.“⁶⁵¹ Weil „eine Phase vorbei zu sein scheint, in der wir uns ständig wachsende Erwartungen im Hinblick auf privaten wie öffentlichen Wohlstand leisten konnten“, lobte er explizit die Konsolidierungsbemühungen der britischen Labour-Regierung unter Premierminister Callaghan, der es im

lierten Einfluß von Lockheed-Direktoren, Geheimdienstchefs oder Mafia-Bossen. Abgesehen vom gemeinsamen Fußboden muß das Gebäude der Gesellschaft eine Decke haben, wenn es auch Gründe geben mag zu sagen, daß diese nicht so niedrig wie möglich, sondern so niedrig wie nötig sein sollte.“, ebd. S. 172.  Ebd. S. 190 f.  Vgl. Hertfelder, „Neoliberalismus oder neuer Liberalismus?“, S. 269 ff.  Dahrendorf, „Krise der Demokratie?“, S. 56.  Ebd. S. 59.  Ebd. S. 60.

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Rahmen ihres euphemistisch so genannten Sozialvertrags mit den Gewerkschaften in der zweiten Hälfte der 70er immerhin gelungen sei, „eine Senkung der Reallöhne über zwei Jahre hin durchzuhalten und zugleich die öffentlichen Ausgaben nahezu konstant zu halten. Man spricht viel von der ‚britischen Krankheit‘; aber es gibt auch so etwas wie ein Modell Großbritannien für die Welt.“⁶⁵² Solche Sätze zeugten nicht gerade von der Glaubwürdigkeit seiner späteren Kritik am neokonservativen Politikprogramm der Thatcher-Regierung. Dennoch skizzierte Dahrendorf angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, die in Großbritannien in der Krise noch dramatischere Ausmaße angenommen hatte als in der Bundesrepublik, Ende der 70er das Schreckensszenario, „daß der heraufdämmernde internationale Klassenkampf zwischen Reichen und Armen […] das beherrschende Thema der Weltpolitik“⁶⁵³ werde – eine Überlegung, die er nach dem Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 in seiner Kritik am „Pumpkapitalismus“⁶⁵⁴ wiederaufnahm. Gleichzeitig liebäugelte er geradezu wie ein Libertärer mit dem Minimalstaat, der „durchaus eine Lösung der ‚Legitimitätskrise‘ bieten“⁶⁵⁵ könne, auch weil ihn die Politik des starken Staates, die in den späten 70ern und frühen 80ern von konservativer Seite gefordert und in westlichen Metropolen wie New York und London erprobt wurde, beunruhigte.⁶⁵⁶ Dahrendorfs Unentschiedenheit mündete nun vermehrt in die intellektuelle Unbestimmtheit einer neoliberalen Phraseologie: Statt „das Rad der Geschichte zurückzudrehen“, spreche „manches dafür, die Notwendigkeit der Initiative in den Entscheidungsprozessen aller sozialen Einrichtungen zu betonen und neben der Verantwortlichkeit die Initiative zu ermutigen“⁶⁵⁷.

Die „geistig-moralische Wende“ und das Ende der Utopien Nach den konservativen Regierungswechseln in Großbritannien und den USA von 1979 und 1980 verschoben sich in der Bundesrepublik ebenfalls die politischen Vorzeichen. Bei der Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980 hatte der angesehene, aber ungeliebte Krisenkanzler Schmidt die sozialliberale Koalition in einem zugespitzten Lagerwahlkampf zwar noch einmal zu einem Wahlsieg führen können, weil sein Herausforderer, der CSU-Vorsitzende und Politikberserker Strauß, über die bayerischen Landesgrenzen hinaus nicht zu vermitteln war. Spätestens seit

     

Ebd. Ebd. S. 64. Dahrendorf, „Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik?“. Dahrendorf, „Kulturpessimismus vs. Fortschrittshoffnung“, S. 214. Dahrendorf, „Krise der Demokratie?“, S. 63. Dahrendorf, Lebenschancen, S. 191.

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dem Ausbruch der zweiten Ölkrise war die sozialliberale Koalition jedoch eine Regierung auf Abruf. Auf die „Aufforderung des Bundeskanzlers, angesichts der weiterhin trüben Konjunkturaussichten eine grundsätzliche wirtschaftspolitische Positionsbestimmung zu liefern“, antwortete FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff am 9. September 1982 mit einem Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das „mehr oder minder alles in Frage [stellte], was traditionell zum engsten Kanon sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik gehörte“, und „ein ordnungspolitisches Gegenmodell für eine am Horizont stehende christlich-liberale Koalitionsregierung [lieferte]“⁶⁵⁸. Lambsdorffs neoliberaler „Scheidungsbrief“ und die innere Gespaltenheit der SPD über die Frage der Stationierung amerikanischer Pershing II-Raketen auf westdeutschem Boden im Rahmen des NATODoppelbeschlusses besiegelten schließlich das Ende eines Parteienbündnisses, das nach dem Machtwechsel Ende der 60er noch als großes innenpolitisches Demokratisierungs- und außenpolitisches Annäherungsprojekt begonnen hatte, im Krisenjahrzehnt der langen 70er aber zerrieben worden war. Nach dem Rücktritt der FDP-Minister aus der Bundesregierung am 17. September und dem Beschluss der Liberalen zur Aufnahme förmlicher Koalitionsverhandlungen mit der Union tags darauf wurde Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Kanzler einer schwarz-gelben Koalition gewählt. „Daß der nationalliberale Flügel der FDP die innenpolitische Wende zum Neokonservatismus herbeigeführt hat“, kommentierte kurz darauf Habermas, der seinen Direktorenposten am Starnberger Max-Planck-Institut gekündigt hatte, um sich künftig auf einen Philosophie-Lehrstuhl der Frankfurter Goethe-Universität zurückzuziehen, „ist kein historischer Zufall; in diesen Tagen zeigt es sich, daß die Sozialliberalen nicht stark genug waren, um sich der fragwürdigen Hypotheken des deutschen Liberalismus zu entledigen.“⁶⁵⁹ Dass es sich bei der Wende aber nicht allein um den – wie die SPD im Wahlkampf zu suggerieren versuchte – opportunistischen Vertrauensbruch des erstarkenden wirtschaftsliberalen (bei Habermas gewohnt polemisch: „nationalliberalen“) Flügels der Liberalen handelte, zeigte sich bei den vorgezogenen Neuwahlen vom 3. März 1983. Die Union erzielte mit 48,8 Prozent ihr bestes Ergebnis seit dem Erringen der absoluten Mehrheit unter Adenauer 1957, wohingegen die Sozialdemokraten mit 38,2 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit der ersten Kanzlerkandidatur Willy Brandts bei der Bundestagswahl 1961 hinnehmen mussten. Während die FDP passable 7 Prozent einfuhr – und sich damit ihre schlimmsten Befürchtungen, infolge des einseitigen

 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 20.  Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 54.

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Koalitionsbruchs unter die Fünfprozenthürde zu fallen, nicht bewahrheiten sollten –, schaffte mit den Grünen, die 5,6 Prozent der Stimmen errangen, erstmals eine Anti-Parteien-Partei den Einzug in den Deutschen Bundestag. Habermas’ Hauptsorge galt daraufhin einer neokonservativen Politikwende, die, wie Andreas Wirsching schreibt, nach den Vorstellungen ihrer Befürworter darauf ausgelegt war, „einen neuen, auf ‚Modernität‘ verpflichteten Fortschrittsoptimismus hervorzubringen unter gleichzeitiger Rückbesinnung auf traditionelle Lebensweisen und wertkonservative Inhalte“⁶⁶⁰. Nach den Ankündigungen des neuen Bundeskanzlers sollte die Wende auf der handfesten materiellen Ebene „zum einen in einem Sparkurs zur Sanierung der Staatsfinanzen und zum anderen in einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik“ bestehen, „die […] gemäß neoklassischer Lehre eine effektive Bekämpfung des Hauptproblems der strukturellen Arbeitslosigkeit versprach“⁶⁶¹. Was die „immaterielle Dimension der Politik der Erneuerung“ betraf, sollten die seit dem sozialliberalen Machtwechsel für die Konservativen verlorengeglaubten jüngeren Generationen „auf den Boden der Bürgerlichkeit zurückgelotst werden, und zwar eben nicht nur mit materiellen Angeboten zur Senkung der Jugendarbeitslosigkeit, sondern auch durch Angebote an Sinngebung“⁶⁶². Nach Ausbruch der zweiten Ölkrise und der drastischen Verschlechterung der Wirtschaftslage hatte Kohl Anfang der 80er deshalb noch von der Oppositionsbank den „doppelten Gründungsmythos der Bundesrepublik in Form von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder“, d. h. den „Geist von 1948“ gegen den „Geist von 1968“⁶⁶³ zu mobilisieren versucht und die kollektive Rückbesinnung auf Tugenden gefordert,  Dazu Wirsching präzisierend: „Im einzelnen hieß dies: den technischen Fortschritt zu akzeptieren und als Chance zu begreifen, zugleich aber an einem christlichen Menschenbild festzuhalten; an die Eigeninitiative des einzelnen zu appellieren und zugleich gesellschaftliche Solidarität neu zu definieren; den Kräften des Marktes, der Eigeninitiative und des Wettbewerbs wieder stärkere Geltung zu verschaffen und zugleich die Familie zu fördern; die Geschichte als Stifterin kollektiver Identität in Anspruch zu nehmen und zugleich die spezifisch deutsche Verantwortung vor der Geschichte nicht zu leugnen; schließlich an der Offenheit der deutschen Frage festzuhalten, zugleich aber die Resultate der neuen Ostpolitik anzuerkennen. Indem also das Konzept der ‚geistig-moralischen Wende‘ in eigentümlicher Weise konservative, liberale und fortschrittsorientierte Elemente miteinander verknüpfte, stellte es ein ‚progressiv‘-konservatives Gesellschaftskonzept zur Krisenbewältigung dar. Von älteren Konzepten unterschied sich das Wendekonzept durch die unzweideutige Akzeptanz der modernen Realität der Massengesellschaft. Und trotz beziehungsweise gerade wegen der damit erzeugten Paradoxien erwies es sich als effizientes Instrument zur demokratischen Eroberung der Macht.“, Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 50 f.  Biebricher, Geistig-moralische Wende, S. 48.  Ebd. S. 49.  Ebd. S. 50 f.

2.2 Die Rache des Konservatismus

299

die […] klassischerweise schon von Max Weber mit Verweis auf ihre protestantischen Ursprünge als ‚Geist des Kapitalismus‘ bezeichnet worden waren: Leistungswille, Sparsamkeit (d. h. im übertragenen Sinn Opferbereitschaft), Disziplin und Eigenverantwortung als Bestandteile einer ‚rationalen Lebensführung‘, wie es bei Weber geheißen hatte – ergänzt durch die Liebe zu den für das Individuum konstitutiven Gemeinschaften von der Nation bis zur Familie.⁶⁶⁴

Auch in der Bundesrepublik der späten 70er und frühen 80er „war, ähnlich wie bei den britischen Konservativen, die Beschwörung einer Krisensituation eine konservative Strategie, um die Rückkehr in die Bundesregierung zu erreichen und die eigene künftige Politik zu legitimieren“⁶⁶⁵. Und das Ergebnis der Bundestagswahl von 1983 zeigte: „Die während des Aufbruchs von 1968 belächelten Spießer galten Anfang der 1980er-Jahre wieder als politisch und intellektuell satisfaktionsfähig und damit auch als politisch ernst zu nehmen.“⁶⁶⁶ Habermas vermutete hierin zunächst einen „Einschnitt“, der „tiefer“ greifen könne „als ein bloßer Regierungswechsel“⁶⁶⁷, wenngleich „Regierungswechsel in Zeiten großer ökonomischer Krisen“ an sich „ganz normal“⁶⁶⁸ seien. Aus seiner Sicht musste die SPD nun „für die unerwünschten Nebenfolgen“ ihrer eigenen Erfolge büßen, „indem sie […] die neokonservative Kritik am Wohlfahrtsstaat eher noch intensiviert“ habe, „ohne den falschen Rezepten dieser Seite eine produktive Antwort entgegensetzen zu können“⁶⁶⁹. In einem Interview mit der Basler Zeitung gab er kurz nach der Bundestagswahl unumwunden zu, selbst „auch keine“⁶⁷⁰ Lösung

 Ebd. S. 51 f.  Bösch, Zeitenwende 1979, S. 286.  Biebricher, Geistig-moralische Wende, S. 56. Das Wahlergebnis legte offen, dass die SPD ihren Ruf als fortschrittliche Partei der Jungwähler zwischen 18 und 34 Jahren in der Krise der Arbeitsgesellschaft verloren hatte: „Ein erheblicher Teil [der jungen, berufsorientierten und dynamischen Wählerschichten] orientierte sich an den Kernaussagen der christlich-liberalen Koalition, die auf Fortschrittsoptimismus, Stärkung der Marktkräfte, Eigenverantwortung und Rückführung des Staates setzte. Dem stand die wachsende Zahl derer entgegen, die dieser Botschaft mit Skepsis begegneten, die ökonomische Rationalität des verheißenen Aufschwungs mehr oder minder radikal ablehnten und insgesamt zu einer kulturkritischen, zumindest aber ‚postmaterialistischen‘ Haltung neigten. Sie wählten überwiegend grün, wenn sich auch im einzelnen fließende Übergänge zur SPD ergaben. In jedem Fall aber bildete der Verlust der Jugend, den die SPD in den achtziger Jahren zu beklagen hatte, eines der zentralen Probleme der Partei. Umgekehrt gehörte die vergleichsweise starke Position, die Union und f.D.P. in dieser Altersgruppe aufbauten, zu den Gründen für die 1983 erzielte, langandauernde strategische Mehrheitsposition der neuen Koalition.“, Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 46.  Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 57.  Ebd. S. 62.  Ebd. S. 63.  Ebd.

300

2 Gemeinsame Skepsis nach dem Boom

für dieses Problem anbieten zu können. Da eine „neokeynesianische Wirtschaftspolitik“, wie sie zuletzt noch von der Schmidt-Regierung forciert worden war, „nicht mehr für die Sicherung des Wachstums“ ausreiche, „das nötig ist, um Vollbeschäftigung zu sichern und Verteilungskonflikte einzudämmen“⁶⁷¹, werde der sozialstaatliche Kompromiss der Nachkriegszeit nun aus zwei unterschiedlichen Richtungen infrage gestellt. Die Regierung Kohl/Genscher war erst weniger als ein halbes Jahr im Amt, als Habermas in den „Einbußen am Realeinkommen für die Masse der Bevölkerung“, in der „Arbeitslosigkeit und Armut für eine wachsende Minderheit“, in den „Firmenzusammenbrüche[n] und gleichzeitig verbesserte[n] Investitionsbedingungen“ und „steigende[n] Gewinnraten für eine ganz kleine Minderheit“ auch in der Bundesrepublik „die offensichtlichen Signale“⁶⁷² eines neokonservativen Politikumschwungs erkennen wollte, der in Großbritannien und den USA bereits auf Hochtouren lief. In den ersten wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen der schwarz-gelben Koalition vermutete er die Rekombination „alte[r] Rezepte, die unsere Regierung immer energischer“⁶⁷³ durchspiele. Dabei werde eine „angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die unter heutigen Bedingungen eine massive Arbeitslosigkeit längerfristig in Kauf“⁶⁷⁴ nehme, von einem kulturellen „Traditionalismus“ flankiert, der „auf die sekundären Tugenden, die positiven Vergangenheiten, den common sense, auf konventionelle Religiosität, kurz: auf Naturwüchsigkeit“ setze, „auf Reflexionsstop und feste Werte“⁶⁷⁵. Gleichzeitig äußere sich die neokonservative Politikwende auch in wiederholten „Versuche[n], den Staatsapparat von lästigen Legitimationszwängen freizusetzen“ und „den Kreis öffentlicher Themen einzuschränken, um das politische Bewußtsein der Bevölkerung zu entproblematisieren, von gesellschaftspolitischen Fragen zu entlasten, mit denen, sei es negativ oder utopisch, besetzte Zukunftsperspektiven verbunden sein könnten“⁶⁷⁶. Diese nach innen gerichteten Disziplinierungen ergänze man schließlich um „die Stimulierung des Bewußtseins einer wachsenden äußeren Gefahr“⁶⁷⁷ im Kalten Krieg, der sich nach der Wahl Reagans und dem Tod Breschnews wieder zuzuspitzen begann. Solche Sätze klingen im historischen Rückblick alarmistisch, wenn man bedenkt, dass die christlich-liberale Regierung in den meisten innen- und außen-

      

Ebd. Ebd. Ebd. S. 64. Ebd. Ebd. S. 65. Ebd. Ebd.

2.2 Die Rache des Konservatismus

301

politischen Fragen den Kurs der sozialliberalen Vorgängerregierung im Prinzip nur fortsetzte. Zudem war die zunächst mit hoher Arbeitslosigkeit verbundene neokonservative Reformpolitik in Großbritannien und den USA „in der Bundesrepublik rasch negativ konnotiert und blieb es lange. […] Selbst wenn einzelne Christdemokraten ähnliche Reformen anstrebten, so erschien eine rhetorische Distanz zu Thatcher rasch geboten.“⁶⁷⁸ Der finanzpolitische Konsolidierungskurs, die angebotspolitische Wirtschaftspolitik und die Einschnitte ins soziale Netz wurden im zweiten bundesrepublikanischen Zeitalter der Christdemokratie überdies aufgrund der zahlreichen politischen Vetospieler nicht mit allerletzter Konsequenz betrieben, und auch der christlich-soziale Arbeitnehmerflügel der CDU, verkörpert von Politikern mit starker Hausmacht wie Heiner Geißler und Norbert Blüm, ließ über weite Strecken „keine Politikagenda aus einem Guss“⁶⁷⁹ zu und „bremste geplante marktliberale Reformen“⁶⁸⁰, wie sie in aller Radikalität noch in Otto Graf Lambsdorffs „Scheidungsbrief“ empfohlen worden waren. Folglich sahen sich radikale Neokonservative der ersten Stunde wie Günther Rohrmoser, „die sich von der Wende einen entsprechend tiefgreifenden gesellschaftlichen ‚Wertewandel‘ erhofften“, vom halbgaren Kurs der neuen Bundesregierung „alsbald getäuscht“⁶⁸¹. Dennoch sah Habermas „die demokratischen und rechtsstaatlichen Errungenschaften der Bürger“ kurz nach der Wende „in Gefahr“⁶⁸² und bedauerte das „spurlose Verschwinden des historischen Weges“⁶⁸³, der zu ihrer Erkämpfung habe zurückgelegt werden müssen. Angesichts der Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit nahm Habermas in dieser Zeit den alten Marx’schen Topos wieder auf, wonach der Industriearbeit „das Telos ihrer eigenen Abschaffung“⁶⁸⁴ innewohne, und mutmaßte:

 Bösch, Zeitenwende 1979, S. 287.  Biebricher, Geistig-moralische Wende, S. 62.  Bösch, Zeitenwende 1979, S. 292.  Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 53. Patrick Bahners begründet den Siegeszug der späten Systemtheorie Luhmanns in der Bundesrepublik der 80er und 90er Jahre insofern auch mit dem politischen Stil eines Kanzlers, dessen „Zweck der Zwecke“ eben „keine metapolitische Idee wie die Gerechtigkeit der Linken und keine vorpolitische Realität wie die Nation der Rechten, sondern ein so künstliches wie lebendiges Gebilde“ gewesen sei, „dessen Wesen wiederum im Funktionieren lag: das politische System, in dem er selbst die zentrale spielte“, Bahners, Helmut Kohl, S. 134.  Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 67.  Ebd. S. 68.  Ebd. S. 69.

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Vielleicht ist die menschliche Arbeit schon mit der ersten manufakturellen Zerlegung von Arbeitsprozessen unter diesen Aspekt der Selbstvertilgung getreten. Wahrscheinlich kommt aber dieses objektive Verhältnis breitenwirksam erst zu Bewußtsein, seitdem sich nicht nur Soziologentage, sondern auch Massenmedien mit der Tatsache befassen, die Dahrendorf auf die einprägsame Formel gebracht hat, daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht.⁶⁸⁵

Der von Habermas in diesem Zusammenhang erwähnte Dahrendorf hatte den Anwesenden auf dem Bamberger Soziologentag von 1982, der sich mit der Krise der Arbeitsgesellschaft beschäftigte, in seinem Eröffnungsvortrag mit einer genauso simplen wie eingängigen Gleichung erklärt, warum der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht: „Die, die früher nicht arbeiten mussten, sind nun zu denen geworden, die noch arbeiten dürfen, während die, die früher arbeiten mussten, nicht mehr arbeiten können.“⁶⁸⁶ Für Habermas mehrten sich damals die Hinweise, dass die Bundesrepublik im Zuge dieser Entwicklung zu einer „‚gespaltenen Gesellschaft‘“ zu werden drohe, die durch „eine[n] produktiven Kern von Beschäftigten und eine[n] breiter werdenden, nur noch notdürftig alimentierten, vernachlässigten Rand der in Subkulturen und Ghettos Abgedrängten“⁶⁸⁷ gekennzeichnet sei. Gleichzeitig wunderte er sich darüber, dass sich „kurioserweise immer wieder Bereiche“ auftun, „wo der Kapitalismus noch nicht zugeschlagen hat“, und zwar vorwiegend in Feldern, „die Tätigkeiten nach dem Muster der Industriearbeit gar nicht kennen, sondern eher einen kommunikativen Umgang mit Personen erfordern“ oder „in die Organisationsform von Industrie- und Verwaltungsbetrieben nicht passen“⁶⁸⁸. Habermas dachte in diesem Zusammenhang vor allem „an soziale und erzieherische“, aber „auch an politische Aufgaben, die gar nicht erst in formelle Beschäftigungsverhältnisse überführt werden, weil sie keinen Gewinn abwerfen; die aber auch nicht als Dienstleistungen organisiert werden sollten, weil das die Lebenswelt dem Zugriff von Experten noch weiter ausliefern würde“⁶⁸⁹. An dieser Stelle zeigte sich letztlich der grundlegende Zweifel eines enttäuschten Sozialisten an dem neoliberalen Mantra, „daß der Mechanismus des Marktes noch geeignet ist, den tatsächlichen Bedarf an Arbeit zu identifizieren und innerhalb von Formen gesellschaftlich anerkannter Arbeit zu befriedigen“⁶⁹⁰.

     

Ebd. Dahrendorf, „Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht“, S. 34. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 70. Ebd. S. 71. Ebd. Ebd. S. 72.

2.2 Die Rache des Konservatismus

303

Zu diesem Zeitpunkt verband Habermas mit dem Begriff des Sozialismus schon kein klar benennbares politisches Programm mehr, durch das die verhärteten spätkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse hätten durchbrochen werden können, sondern nur noch eine negative Vorstellung davon, „was man nicht will, wovon man sich befreien will: von einer Lebensform, in der alle Lebensfragen solange umdefiniert werden, bis sie in das Muster abstrakter Arbeit industrieller und gewinnorientierter, bürokratischer und herrschaftsorientierter Prägung hineinpassen“⁶⁹¹. Immerhin könne man sich aber auch künftig noch „die Mühe machen, die Bedingungen kollektiver Freiheit zu analysieren, die der individuellen Freiheit erst ihre Gefährlichkeit, ihr sozialdarwinistisches Gefahrenpotential nehmen. Der Einzelne kann nicht frei sein, wenn nicht alle in Gemeinsamkeit frei sind.“⁶⁹² Diese resignative Grundstimmung, die Habermas’ Denken letztlich seit der Theorie des kommunikativen Handelns durchzog, verdichtete sich Mitte der 80er in einem Merkur-Essay noch einmal zu der These von der Krise des Wohlfahrtsstaates und der Erschöpfung utopischer Energien. Seine These lautete, dass „eine immer noch von der arbeitsgesellschaftlichen Utopie zehrende Sozialstaatsprogrammatik“ unter den Bedingungen der einsetzenden Globalisierung und zunehmenden Verlagerung nationalstaatlicher Kompetenzen auf suprastaatliche Institutionen „die Kraft“ verloren habe, „künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen“⁶⁹³. Damit verabschiedete Habermas endgültig die hoffnungsvolle Seite seiner Krisentheorie aus den frühen 70ern; vom Spätkapitalismus war hier schon keine Rede mehr. Demzufolge machten sich „in einer Situation, in der mangelnde Investitionsbereitschaft und wirtschaftliche Stagnation, steigende Arbeitslosigkeit und die Krise öffentlicher Haushalte auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit mit den Kosten des Wohlfahrtsstaates in eine suggestive Verbindung gebracht werden können“, innerhalb westlicher Industriegesellschaften „die strukturellen Beschränkungen fühlbar, unter denen der sozialstaatliche Kompromiß gefunden und aufrechterhalten worden“⁶⁹⁴ sei. Der Sozialstaat drohe „seine gesellschaftliche Basis“ zu verlieren, weil die „aufwärtsmobilen Wählerschichten“ in der Krise zu einer „Mentalität der Besitzstandswahrung“ tendierten „und sich mit dem alten Mittelstand, überhaupt mit den ‚produktivistisch‘ gesonnenen Schichten zu einem defensiven Block gegen die unterprivilegierten oder ausgegrenzten Gruppen“⁶⁹⁵ zusammenschlossen. Dadurch seien vor allem „die Parteien bedroht, die     

Ebd. S. 73. Ebd. S. 76. Ebd. S. 147. Ebd. S. 149. Ebd. S. 150.

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sich, wie die Demokraten in den USA, die englische Labour Party oder die deutsche Sozialdemokratie, über Jahrzehnte auf ein festes sozialstaatliches Klientel verlassen konnten“, während zur gleichen Zeit „die Gewerkschaftsorganisationen durch die veränderte Situation des Arbeitsmarktes unter Druck“⁶⁹⁶ gerieten. Gleichzeitig überziehe „ein immer dichteres Netz von Rechtsnormen, von staatlichen und parastaatlichen Bürokratien den Alltag der potentiellen und tatsächlichen Klienten“⁶⁹⁷ sozialstaatlicher Programme. Die damit einhergehenden „Verformungen einer reglementierten, zergliederten, kontrollierten und betreuten Lebenswelt“ waren laut Habermas zwar „sublimer als die handgreiflichen Formen von materieller Ausbeutung und Verelendung“, die im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts vorgeherrscht hatten, „aber die aufs Psychische und Körperliche abgewälzten und verinnerlichten sozialen Konflikte“ seien „darum nicht weniger destruktiv“⁶⁹⁸. Auf der anderen Seite rief Habermas jedoch auch „die Alternativenlosigkeit, vielleicht sogar Irreversibilität“ des sozialstaatlichen Kompromisses ins Gedächtnis, „die uns heute vor das Dilemma stellen, daß der entwickelte Kapitalismus ebensowenig ohne den Sozialstaat leben kann – wie mit dessen weiterem Ausbau. Die mehr oder weniger ratlosen Reaktionen auf dieses Dilemma zeigen, daß das politische Anregungspotential der arbeitsgesellschaftlichen Utopie erschöpft ist.“⁶⁹⁹ Unter diesen Bedingungen galt Habermas’ verhaltene Sympathie nun den im Entstehen begriffenen Neuen Sozialen Bewegungen und den wachstumskritischen Dissidenten, die den Demokratisierungsfuror aus den Anfangsjahren der sozialliberalen Koalition „bereits unterhalb der Schwelle der zu Großorganisationen verselbständigten und ins politische System gleichsam abgewanderten Parteiapparate“⁷⁰⁰ basisdemokratisch wiederzubeleben versprachen, um die politische Willensbildung wieder stärker von Geld- und Machtfragen ab- und an innergesellschaftliche Solidaritätsmotive anzukoppeln. Dazu müsse es ihnen aber gelingen, den „Fundamentalismus der Großen Weigerung“ auf Dauer zu überwinden und mehr „als Negativprogramme des Wachstumsstops und der Entdifferenzierung“⁷⁰¹ anzubieten. Ihr Protest könne folglich „nur ins Offensive gewendet werden, wenn das Sozialstaatsprojekt nicht einfach festgeschrieben oder abgebrochen, sondern auf höherer Reflexionsstufe fortgesetzt würde“, und dürfe sich nicht in der „Einfriedung einer zur Norm erhobenen Vollzeitbeschäftigung“

     

Ebd. Ebd. S. 151. Ebd. Ebd. S. 157. Ebd. Ebd. S. 156.

2.2 Die Rache des Konservatismus

305

oder der „Einführung des garantierten Mindesteinkommens“ erschöpfen: „Dieser Schritt wäre revolutionär, aber nicht revolutionär genug […].“⁷⁰² Mit den Grünen, dem parlamentarischen Arm der Alternativszene, tauchte immerhin ein neuer Akteur auf der politischen Landkarte auf, der laut Habermas „die Unkosten der kapitalistischen Modernisierung und das Versagen einer strategisch kalkulierten und nicht auf allgemeine Willensbildung gestützten Kriegsverhütung“⁷⁰³ ins Bewusstsein rufe. Allzu große Freude wollte bei ihm deshalb aber nicht aufkommen, hatte er doch bereits in seiner Frankfurter AdornoPreisrede über das unvollendete Projekt der Moderne im September 1980 die Befürchtung geäußert, dass „die Ideen des Antimodernismus, mit dem Zusatz einer Prise von Prämodernismus, im Umkreis der grünen und der alternativen Gruppen an Boden“⁷⁰⁴ gewinnen könnten. Allerdings versinnbildlichten die Grünen mit ihrem Selbstverständnis, jenseits von rechts und links zu stehen, von Anbeginn eine starke Tendenz der Verbürgerlichung der Linken, die Habermas in dieser Zeit unterschätzte.⁷⁰⁵ Nur wenn man sich, wie Habermas, „von der arbeitsgesellschaftlichen Utopie“ der Vergangenheit sowieso verabschiedet hatte, ließ sich dieser Vorgang auch als zeitgemäße Verschiebung der „utopischen Akzente vom Begriff der Arbeit auf den der Kommunikation“⁷⁰⁶ offensiv bewerben. Wenn aber, wie Habermas schrieb, der „utopische Gehalt der Kommunikationsgesellschaft“ dabei allein „auf die formalen Aspekte einer unversehrten Intersubjektivität“⁷⁰⁷ zusammenschrumpfte, war über die defensive Zurückdrängung systemischer Imperative aus der Lebenswelt, also über die Symptombehandlung der Pathologien einer alternativlosen kapitalistischen Modernisierung hinaus kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Diesen Abwehrkampf hielt Habermas im fortgeschrittenen Kapitalismus aber allein für lohnenswert genug, was – so bereits seine Feststellung in der Theorie des kommunikativen Handelns – „sowohl im Selbstverständnis der Beteiligten wie in der ideologischen Zuschreibung der

 Ebd. S. 157.  Ebd. S. 63.  Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 464.  Dazu Bösch: „Die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge, die durch 68 und das alternative Milieu geprägt wurden, kamen nun in ein Alter, in dem sie Berufe suchten und Familien gründeten. Das zwang sie, jenseits der marxistischen Theorie Alltagsfragen zu klären und trotz düsterer Zukunftsprognosen eine lebenswerte Zukunft zu schaffen. Nach der Desillusionierung über die großen Theorien versprach das ökologische Engagement konkrete, greifbare Probleme und Lösungen sowie neue Utopien. Dies ging mit einer Auflösung der vielfältigen kommunistischen Gruppen einher, die sich in theoretischen Abgrenzungen verkämpft hatten und an Zulauf verloren.“, Bösch, Zeitenwende 1979, S. 295.  Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 160.  Ebd. S. 161.

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Gegner verdunkelt“ werde, „wenn die Rationalität der kulturellen Moderne voreilig mit der Rationalität der Bestanderhaltung ökonomischer und administrativer Handlungssysteme gleichgesetzt wird“⁷⁰⁸. Bei Dahrendorf schien die grenzenlose Euphorie, die er in den 60ern noch für das Prinzip der „Marktrationalität“⁷⁰⁹ hatte aufbringen können, im Verlauf der 80er einer grundlegenden Skepsis gegenüber den Verheißungen einer insgesamt fragwürdig gewordenen Arbeits- und Leistungsgesellschaft zu weichen. Seine Hoffnung auf eine Transformation der Expansions- in die Meliorationsgesellschaft der sinnvollen Tätigkeiten, die in ideengeschichtlicher Hinsicht an Marx’ philosophischen Frühschriften und Hannah Arendts Losung vom aktivem Leben orientiert war, klang im Sound fast schon weltabgewandt: „Könnte es nicht sein“, fragte er in seinen Fragmenten eines neuen Liberalismus, „daß das Prinzip der freien Tätigkeit zur treibenden Kraft einer anderen Welt wird?“⁷¹⁰ Schon seit Ende der 70er dachte er darüber nach, wie „de[r] Anspruch der Freiheit in das sogenannte Reich der Notwendigkeit“⁷¹¹ erlahmter Marktwirtschaften hineingetrieben werden konnte – eine Frage, die er nach dem Ausbruch der zweiten Ölkrise in der ZEIT vom 26. November 1982 zu der These verdichtete, die Arbeitsgesellschaft sei „am Ende“⁷¹². Seither hat sich freilich gezeigt, dass die Erwerbsarbeit „gesellschaftlich wie biographisch ebenso strukturprägend geblieben [ist] wie umgekehrt die Arbeitslosigkeit ein Stigma“⁷¹³. Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition hoffte Dahrendorf kurzzeitig jedoch auf ein politisches Comeback in der FDP, die sich dem angebotspolitischen Zeitgeist in dieser Zeit vollends verschrieben zu haben schien. Offenbar hatte er sich bereiterklärt, im Falle eines deutlichen Stimmenverlusts der Liberalen bei den vorgezogenen Neuwahlen vom März 1983 den Parteivorsitz von Hans-Dietrich Genscher zu übernehmen. Folglich war es keine Überraschung, dass sich der deutsch-britische Grenzgänger der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit im zeitlichen Horizont der Bundestagswahl seinen westdeutschen Landsleuten mit einem Buch über Die Chancen der Krise in Erinnerung rief. Dabei stellte Dahrendorf seine notorische Unfähigkeit zum politischen Selbstmarketing einmal mehr unter Beweis, indem er die von seinen Parteifreunden forcierte Bildung der christlich-liberalen Koalition offen als „Machtwechsel der Ratlosigkeit“ bezeichnete, der „den Anfang einer Periode des Suchens“ markiere, „vielleicht auch den

     

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 582 f. Vgl. dazu vor allem Dahrendorf, Konflikt und Freiheit, S. 240 ff. Dahrendorf, Fragmente eines neuen Liberalismus, S. 186. Dahrendorf, Lebenschancen, S. 127. Dahrendorf, Die Arbeitsgesellschaft ist am Ende. Hertfelder, „Neoliberalismus oder neuer Liberalismus?“, S. 283.

2.2 Die Rache des Konservatismus

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einer neuen Konfrontation zwischen den beiden Fronten, die jede eine ‚neue Mehrheit‘ für sich in Anspruch nehmen“⁷¹⁴. Es war auch keine sonderlich überzeugende Bewerbung um den FDP-Bundesvorsitz, als Dahrendorf seine Suche nach der neuen Freiheit im Krisenzeitalter strikt von den Unwägbarkeiten einer eklektizistischen liberalen Parteipolitik getrennt wissen wollte: „Es ist kein Zufall, daß man FDP-Vertretern nachgesagt hat, sie stünden links von der SPD, und anderen, sie stünden rechts von der CDU. Möglicherweise gibt es auf beiden Seiten einen politischen Platz. Einen liberalen Platz allerdings gibt es dort nicht.“⁷¹⁵ Letztlich handelte es sich bei dem Buch also nicht in erster Linie um eine politische Programmschrift in eigener Sache; vielmehr hielt der Leser hier das exemplarische Zeugnis eines ortlosen Liberalen in den Händen, der sich zwar mit allen Mitteln von den Traditionsbeschwörungen der neokonservativen Politikwende abzugrenzen versuchte, im Zuge seiner Verkündung des „Ende[s] des sozialdemokratischen Jahrhunderts in der OECD-Welt“⁷¹⁶ aber in Ansätzen selbst einen neokonservativen, sprich: neoliberalen Ausweg aus der „großen Weltunordnung“⁷¹⁷ propagierte. Die in Großbritannien und den USA bereits in politische Reformen umgemünzte Verbindung einer „Wirtschaftsethik, die so weit nicht weg“ sei „von Max Webers ‚protestantischer Ethik‘ und dem durch sie inspirierten Geist des Kapitalismus“, mit der „Ermutigung von Investitionen durch angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, also durch Steuersenkungen, Ent-Reglementierung, Inflationskontrolle, Gewinnförderung und unternehmerfreundliche Reden“⁷¹⁸, werfe zwar bereits die langen Schatten eines illiberalen „harte[n] Staat[s]“ voraus, „der seine Mitgefühls-Allüren“ abgelegt habe, „nicht nur in Fragen der Wohlfahrt, sondern auch bei Recht und Ordnung“⁷¹⁹. Während Dahrendorf „die ersten Wirkungen dieser Politik in einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit, auch in einer starken Steigerung der Zahl der Firmenzusammenbrüche“ erkannte, assoziierte er damit folgerichtig „neue Kosten, die sich mit der [versprochenen] Reduktion des Sozialstaats nicht in Einklang bringen lassen“⁷²⁰. Doch obwohl er diesen frühen „wirtschaftspolitischen Fehlschlag“⁷²¹ Thatchers und Reagans scharf kritisierte, musste Dahrendorf gleichsam be-

       

Dahrendorf, Die Chancen der Krise, S. 35. Ebd. S. 45. Ebd. S. 17. Ebd. S. 148. Ebd. S. 53. Ebd. S. 54. Ebd. S. 55. Ebd.

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kennen, dass es im Krisenzeitalter „nur noch in der Theorie leicht“ sei, diesem Politikansatz „eine liberale Position entgegenzuhalten“⁷²². Demnach war man als Liberaler mehr denn je „zu Kompromissen gezwungen“⁷²³, zumal in der OECD-Welt „Zeiten der Angst“⁷²⁴ angebrochen seien, in denen „die Rolltreppe des Fortschritts rückwärts“ laufe und es nunmehr einer besonderen Kraftanstrengung bedürfe, „um auch nur auf der Stelle zu treten“⁷²⁵. Wenig überraschend forderte Dahrendorf bei seiner Suche nach der „neuen Freiheit“, die an die Stelle des erschöpften Sozialliberalismus treten sollte, am Ende doch eine sozialstaatliche Rosskur. Den Sozialstaat betrachtete er mittlerweile „als Faß ohne Boden“⁷²⁶ und mahnte die unübersehbaren „Grenzen des Versuchs“ an, „die Kuh“ weiter „zu melken“⁷²⁷. Die neoliberalen Inhalte, die Dahrendorfs Denken seit den 60ern enthielt, hatten sich keineswegs verflüchtigt. Er klang geradezu nach einem glühenden Parteigänger des Wirtschaftsliberalen Graf Lambsdorff, als er postulierte, die Bundesrepublik müsse endlich „in eine Marktgesellschaft“„⁷²⁸ verwandelt werden. Weil „der Staat in vielen Bereichen, in die er in Deutschland seine Hände steckt, jedenfalls nichts [zu suchen]“⁷²⁹ habe, fehle hier „noch vieles an jenem Klima der Selbsthilfe und Eigeninitiative, in dem allein eine freie Gesellschaft“⁷³⁰ gedeihe. Die Zeichen der Zeit stünden also auf „Abschied von der Hoffnung auf den Staat als Wunderdoktor für alle Krankheiten der Zeit“⁷³¹. Dahrendorfs Botschaft war unmissverständlich: „Wir brauchen weniger Staat.“⁷³² Auf der anderen Seite wehrte er sich aber auch gegen die in Unionskreisen überaus beliebte Auffassung, „daß eben alles falsch gelaufen sei, seit Willy Brandt und Walter Scheel 1969 die Regierung bildeten“⁷³³. Diese rückblickende

 Ebd. S. 76.  Ebd.  Ebd. S. 9.  Ebd. S. 11.  Ebd. S. 103.  Ebd. S. 102. Dahrendorf hielt „schon aus finanziellen Gründen Eingriffe in das System des Sozialstaates unausweichlich“ (ebd. S. 104), um den „Weg zu einem verantwortlichen, aber auch finanzierbaren Sozialstaat“ (ebd., S. 105) zurückzulegen. Für den liberalen Kritiker der Bürokratie stand etwa auch fest, „daß mit dem Rückzug des Staates aus der Finanzierung sozialer Bedürfnisse ein Rückzug aus der Verwaltung dieser Bedürfnisse Hand in Hand gehen muß“, ebd. S. 111.  Ebd. S. 113.  Ebd. S. 116.  Ebd. S. 118.  Ebd. S. 130.  Ebd. S. 134.  Ebd. S. 25.

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Diskreditierung des sozialliberalen Reformprojekts, dem er sich einst ja selbst verschrieben hatte, hielt Dahrendorf nicht nur für „ungeschichtlich und schon deshalb abwegig“, sondern auch für „gefährlich“⁷³⁴. Dennoch bekannte er mittlerweile auch: „Adenauer und Erhard haben Großes für unser Land geleistet.“⁷³⁵ Sein eigener Rückblick auf die Politikgeschichte der Bundesrepublik fiel vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit dem britischen WestminsterLiberalismus, dessen zentrale Akteure in der Krise besonders glücklos zu agieren schienen, im Vergleich zu seiner Deutschlandkritik aus den 60ern also sehr versöhnlich aus. Folglich sei es auch eine „günstige Fügung des Schicksals“ gewesen, „daß die Bundesrepublik mitten in der ersten Ölkrise einen Kanzler fand, der das ungewöhnliche Talent besaß, ein starkes Land vor den neuen Anfechtungen zu bewahren“, und damit „einen Aspekt des deutschen Wunders“ rettete, „der zwar nicht marktwirtschaftlich, dafür aber wichtiger als alle Doktrinen ist, nämlich die enge Beziehung zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften“⁷³⁶. Statt sich also mit den grünen Verfechtern des Nullwachstums anzufreunden, plädierte Dahrendorf für „tiefgreifende und oft schmerzliche Anpassungsprozesse“ und die „Bereitschaft zur Umschulung, zur Mobilität, andererseits auch zur Erkundung neuer unternehmerischer Möglichkeiten, neuer Industrien, vielleicht neuer Dienstleistungen“, damit „Wohlstand im traditionellen Sinne“⁷³⁷ in der Bundesrepublik gesichert werden konnte. Wenn es, wie nach der erneuten Verschärfung der Krise in den frühen 80ern, aber „keine wirtschaftspolitischen Patentlösungen“⁷³⁸ gebe, also „[w]eder die angebotsorientierte noch die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik […] allein das Nötige bewirken“ könnten, blieb nach Dahrendorf gar nichts anderes übrig, als „eine pragmatische Mischung von Methoden“⁷³⁹ im Stile des ehemaligen Krisenkanzlers Schmidt weiterzuverfolgen, damit die „Gleichung ‚Wohlfahrt gleich Wohlstand plus Humanität‘“⁷⁴⁰ künftig aufgehe. Dazu bedürfe es am Ende der Arbeitsgesellschaft aber gleichzeitig eines „Hineintreiben[s] der Tä Ebd.  Ebd. S. 26.  Ebd. S. 34.  Ebd. S. 80.  Ebd. S. 81.  Ebd. S. 81 f.  Ebd. S. 86. Nach Dahrendorf war „Wohlfahrt in einer Welt schwachen Wirtschaftswachstums“ gleichbedeutend mit der „Abkehr von schlechten Gewohnheiten der Wachstumsgesellschaft“: „Wohnhochhäuser nein – Fußgängerzonen ja; Startbahn West nein – Schwellen in Wohnstraßen, die zum langsamen Fahren zwingen, ja; Motorboote auf Binnenseen nein – öffentliche Spazierwege an See- und Flußufern ja“, ebd. S. 85.

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tigkeit in die Welt der Arbeit“⁷⁴¹, also einer „stärkere[n] Humanisierung“ der bestehenden Arbeitsverhältnisse im Industrie- und Dienstleistungsbereich, etwa durch „Gruppenarbeit“, „die Abschaffung von Stechuhren“, eine „größere Flexibilität der Arbeitszeit“ und verschiedene Formen der „Mitbestimmung“⁷⁴² am Arbeitsplatz. Andererseits müsse angesichts der begrenzten finanziellen Mittel des Staates sogar die Einführung eines „allgemeinen Sozialdienstes“ in Erwägung gezogen werden, mit dem „jeder Bürger und jede Bürgerin ein Stück seines oder ihres Lebens der Gesellschaft geben“⁷⁴³ solle. Eine solche Lösung sei „unter allen denkbaren Gesichtspunkten besser, als Dinge ungetan zu lassen oder aber Gastarbeiter als geliehenes Proletariat ins Land zu holen“⁷⁴⁴. In Wirtschaftsbereichen, die zunehmend von Stellenabbau und Rationalisierung bedroht waren, plädierte Dahrendorf zudem für Maßnahmen zur „Lohnstabilisierung bei allmählicher Verkürzung der Arbeitszeit“ und die Einführung „eines Minimaleinkommens, das auf die eine oder andere Weise garantiert“⁷⁴⁵ werden müsse. An dieser Stelle bleibt mit Thomas Hertfelder nur festzuhalten, „dass die von Dahrendorf festgestellten Umbrüche keineswegs“ – wie er sich vorgestellt hat – „aus dem Arbeitsparadigma herausgeführt, sondern es unter den Vorzeichen von lean production, Flexibilisierung und Verdichtung von Arbeit, Leiharbeit und Niedriglohnsektor, weiter verschärft haben“⁷⁴⁶. Für die Widersprüchlichkeit des selbsternannten „einsame[n] Liberale[n]“⁷⁴⁷ war es in der zweiten Hälfte der 80er gewissermaßen symptomatisch, dass er den größten Fehler seines alten klassentheoretischen Ansatzes dann auf einmal auch im fehlenden „Bezug der Klassen auf Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte“⁷⁴⁸ erkannte. Der Primat der politischen vor der ökonomischen Herrschaft, wie er ihn noch in seiner Habilitationsschrift unterstellt hatte⁷⁴⁹, und sein Vertrauen in offene Gesellschaften, „in denen demokratische Staatsbürger ihre Lebenschancen durch individuelle Bemühung verbessern können“, seien folglich allenfalls „als Resümee eines historischen Prozesses“⁷⁵⁰ – ergo

         

Ebd. S. 95. Ebd. S. 96. Ebd. S. 98. Ebd. Ebd. S. 99. Hertfelder, „Neoliberalismus oder neuer Liberalismus?“, S. 284. Dahrendorf, Fragmente eines neuen Liberalismus, S. 78. Ebd. S. 248, Anm. 2. Vgl. dazu Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 241. Dahrendorf, Fragmente eines neuen Liberalismus, S. 63.

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der trente glorieuses – plausibel gewesen. Der anhaltende Wahlerfolg konservativer Politiker wie Thatcher, Reagan und Kohl beweise, dass die Ideen von Keynes, Beveridge und den alten Heroen der Sozialdemokratie ihre Kraft mittlerweile verloren hatten: „Der Geist weht nicht mehr links.“⁷⁵¹ Nach dem demokratischen Klassenkampf sei „durchaus möglich, daß die Besitzenden ihre Lage verbessern, ohne daß die Nichtbesitzenden ihnen auch nur ein paar Schritte weit folgen“⁷⁵²: Fast könnte man meinen, die grundlegenden Anrechte seien so knapp geworden, daß diejenigen, die sich stark genug fühlten, sie für sich zu erhalten, die Reihen geschlossen und andere in einer schwächeren Position ausgegrenzt haben. Die Staatsbürgergesellschaft ist so zur neuen Klassengesellschaft geworden, mit einer Mehrheitsklasse in einer Stellung relativen Vorrechts und einer Unterklasse in einer Stellung des Ausschlusses. In zunehmendem Maße ist überdies eine Grauzone derer entstanden, die halb drinnen und halb draußen oder zeitweise drinnen und zeitweise draußen sind. Jedenfalls aber ist die volle Mitgliedschaft in der Gesellschaft, sind daher volle Teilnahmechancen keine Selbstverständlichkeiten mehr.⁷⁵³

Nach Thatchers drittem Wahlsieg in Folge und der erneuten Bestätigung der christlich-liberalen Koalition bei der Bundestagswahl 1987 läutete Dahrendorf in einem Merkur-Essay schließlich „das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“⁷⁵⁴ ein und deutete Habermas’ kritisch-theoretische Diagnose von der Erschöpfung der utopischen Energien des Wohlfahrtsstaates in der Tradition einer liberalen Kritik der Bürokratie um. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und den Text gewissermaßen als intellektuelle Blaupause für eine neoliberale Politik des Dritten Wegs bezeichnen, die ein Jahrzehnt später in der New Labour-Regierung des britischen Premierministers Tony Blair und der rotgrünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Gestalt annahm. Dahrendorfs These sollte nicht etwa besagen, „daß Sozialdemokraten ein Jahrhundert lang regiert hätten, sondern daß sie ein Jahrhundert lang treibende Kraft der politischen Entwicklung waren, bis sie am Ende zur ‚natürlichen Regierungspartei‘ wurden und prompt ihre Kraft verloren“⁷⁵⁵. Es sei folglich eine dialektische Ironie der Geschichte, dass die Sozialdemokraten nach dem Einzug in das politische Machtzentrum westlicher Demokratien „nie wieder so stark“ gewesen seien „wie in den Jahrzehnten, in denen ihr zählbares politi-

    

Ebd. S. 97. Ebd. S. 110. Ebd. S. 118. Dahrendorf, „Das Elend der Sozialdemokratie“, S. 1022. Ebd. S. 1026.

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sches Gewicht begrenzt war, aber scheinbar unaufhaltsam zunahm“, und sie die konservativen Parteien programmatisch noch vor sich her treiben konnten: „Sie haben aus der Opposition mehr erreicht als in der Regierung.“⁷⁵⁶ Diese These ging am Ende doch mit einer nachträglichen Relativierung der politischen Leistung der sozialliberalen Koalition einher, der – so Dahrendorfs „deprimierende[r] Schluß“ – unter Brandt und Schmidt „kein einziges großes Reformwerk“ gelungen sei: „von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bis zur Ausweitung der Mitbestimmung war alles nur Ergänzung, Erweiterung schon vorhandener Gesetze und Institutionen“⁷⁵⁷. Nach dem Machtwechsel habe sozialdemokratische Politik in der Bundesrepublik in allererster Linie also dazu beigetragen, „die Dienstklasse im engeren Sinn, also den Anteil der de jure oder de facto öffentlich Bediensteten, zu steigern“⁷⁵⁸. Folglich gelte vor allem im bundesrepublikanischen Falle, dass sozialdemokratische Parteien nach der Regierungsübernahme „nicht nur Staatsparteien, sondern auch ÖffentlicheDienst-Parteien, Beamtenparteien und vor allem Lehrerparteien geworden“⁷⁵⁹ seien. Solange sie sich weiter als „Verfechter des alten Konsensus“ gerierten, blieb ihnen Dahrendorf zufolge nur die Möglichkeit, „auf verbleibende Unvollkommenheiten der von ihnen geschaffenen Welt hinzuweisen und im übrigen das Erreichte zu verteidigen“⁷⁶⁰. Wie ihre schlechten Wahlergebnisse zeigten, rufe beides „nicht gerade Begeisterungsstürme hervor“. Darin bestehe letztlich „das Elend der Sozialdemokratie“⁷⁶¹ – so auch der Titel seines MerkurEssays. Statt unaufhörlich die Besitzstände von gestern zu verteidigen, sollten sich die Sozialdemokraten fortan lieber mit der Idee anfreunden, dass „Konkurrenzfähigkeit“ in der internationalen politischen Ökonomie „nicht etwa ein Privatinteresse der Besitzenden, sondern Bedingung der Wohlfahrt aller“⁷⁶² sei. Wollten sie in der Wählergunst wieder steigen, müssten sie den „Test moderner Reformpolitik“ bestehen, indem sie künftig auch bereit seien, die „bürokratische Macht […] in ihre Schranken zu weisen“ und „sich von eben jenen Gruppen [zu] trennen, die das greifbare Resultat eines Jahrhunderts ihrer Politik sind“⁷⁶³. Eine solche Politik sei – man beachte diese Formulierung Dahrendorfs ganz

       

Ebd. Ebd. S. 1032. Ebd. S. 1033. Ebd. Ebd. S. 1034. Ebd. Ebd. S. 1035. Ebd.

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genau – keine „Anti-Thatcher-Politik“, die allein darauf abziele, „daß man den zivilisierten Konsensus der Vergangenheit gegen den Darwinismus der Brutalkonservativen verteidigt“, sondern eine „Nach-Thatcher-Politik“, durch die „man bestimmte Veränderungen des letzten Jahrzehnts nicht nur als unwiderruflich gegeben, sondern sogar als notwendig akzeptiert und nun auf ihrer Grundlage eine alternative Politik formuliert“⁷⁶⁴. Es ging Dahrendorf folglich um „eine Politik der Anrechte, die den Gewinn des Angebotsjahrzehnts nicht aufs Spiel setzt“⁷⁶⁵ – eine Idee, die er in seiner letzten großen sozialwissenschaftlichen Monographie Der moderne soziale Konflikt ⁷⁶⁶ schließlich präzisieren sollte. Mit dem sozialdemokratischen Zeitalter hat sich auch die einst so dynamische Theoriepolitik Dahrendorfs und Habermas’ erschöpft. Wie im folgenden Schlusskapitel gezeigt werden soll, bildeten Dahrendorfs liberale Konflikttheorie und Habermas’ deliberative Demokratietheorie nach dem von Francis Fukuyama diagnostizierten „Ende der Geschichte“⁷⁶⁷ zwei Seiten derselben Medaille: einer Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats bzw. der rechtsstaatlichen Demokratie, während die politikökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Positionen mehr und mehr zu erodieren begannen. Die beiden ungleichen Weggefährten gerieten hier auch in den Strudel eines liberalen Schismas, durch das sich ein genauso wohlstandschauvinistischer wie technokratischer Wirtschaftsliberalismus von einem weltanschaulichen Bekenntnisliberalismus mit identitätspolitischer Schlagseite abspaltete. Bei Dahrendorf, dem früheren Verkünder der liberalen Heilslehren Poppers und Hayeks, fiel das Rückzugsgefecht naturgemäß sehr ambivalent aus, was seine widersprüchliche Haltung zur neokonservativen Politikwende der späten 70er und der 80er bereits indizierte. Mit seiner Diagnose vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts und seinem genauso eklektischen wie verzweifelten Versuch der Bestimmung eines neuen Liberalismus war er selbst zu einem intellektuellen Begleitmusiker der neoliberalen Wende in Politik und Gesellschaft avanciert. Als sich Habermas in den 90ern schließlich zu einer späten Zweckehe mit dem Liberalismus entschloss, wirkte dieser Schritt hingegen wie die überstürzte Verdrängung eines unverarbeiteten intellektuellengeschichtlichen Traumas: des Verlusts seiner Utopie vom de-

   

Ebd. S. 1036. Ebd. S. 1037. Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt. Fukuyama, The End of History and the Last Man.

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mokratischen Sozialismus, an der er bis zur Publikation der Theorie des kommunikativen Handelns noch festgehalten hatte.⁷⁶⁸

 Die Leitthese Müller-Doohms, Habermas habe sich schon Anfang der 60er auf die „Vorstellung eines allein durch eine rechtsstaatlich verbürgte Demokratie mit sozialem Antlitz zähmbaren Kapitalismus“ (Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 135) festgelegt, wird dieser bruchreichen intellektuellen Ernüchterung nicht gerecht. Habermas als einen „Anderen unter seinesgleichen“ zu charakterisieren, der von Anbeginn kein Frankfurter Schüler gewesen sei (vgl. dazu auch Müller-Doohm, „Abschied von gestern“), klingt deshalb auch wie die nachgeschobene Versicherung einer unbedingten Systemtreue, die Habermas gar nicht gut ansteht. Dass es sich bei seinem Zweckbündnis mit dem Liberalismus womöglich um einen theoriestrategischen Zug handelte, indiziert die von Patrick Bahners kolportierte Bemerkung Habermas’ auf einer Tagung in Princeton, er hege weiterhin „die Hoffnung, dass der Kapitalismus irgendwann einmal ersetzt wird […]“, Bahners, „Demokratie kommt ohne Völker aus“.

Schluss: Zwei Liberale zwischen Rechtsstaat und Demokratie Als Karl Heinz Bohrer Ende 2011 seine fast dreißigjährige Herausgeberschaft bei der Intellektuellenzeitschrift Merkur niederlegte, rang er sich nachträglich zu einem Bekenntnis durch. Bereits der Titel seiner Abschiedsnote, Ästhetik und Politik, verriet eine begriffliche Hierarchie: einen Primat der ästhetischen Form über die politische Stoßrichtung der Zeitschriftenbeiträge. Nach diesem Verständnis konnten konkrete politische Inhalte immer erst durch eine spezifische Form, die essyaistische Provokation, ihr volles Gewicht entfalten. Ästhetische Politik oder „Ästhetik als Diagnostik“ – folgt man dieser Losung Bohrers, gehörte es geradewegs zum Kerngeschäft der Zeitschrift, mit genauso risikofreudigen wie stilistisch versierten Essays auf politische Relevanzen aufmerksam zu machen, um die deutsche Intellektuellengemeinde aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. „Mir kam dabei entgegen“, so Bohrer über sein in der Mitte der 80er begonnenes Projekt, „dass die bis dahin vorherrschende sozialhistorische und ideologiekritische Perspektive auf alles und jedes durch ein neues Interesse an rein ästhetischen Fragestellungen Konkurrenz bekommen hatte. […] Dieser ‚aesthetic turn‘ war allerdings in der Bundesrepublik nur spröde und zaghaft vorhanden.“¹ Bohrers Bekenntnis war jedoch keineswegs ein bloßes Indiz für den Siegeszug der postpolitischen Postmoderne seit den späten 70ern. Statt l’art pour l’art zu betreiben, sollte unter seiner Ägide im Merkur vielmehr ästhetisch zugespitzt werden, was hinter provinziellem Konsens und dem Diktum einer technokratischen Alternativlosigkeit gerade bis zur Unkenntlichkeit zu verschwimmen drohte. Politische Grundsatzfragen wie die nach der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit, nach Krieg und Frieden, nach der Rolle Deutschlands und Europas in der Welt, sollten im Merkur zum Gegenstand versierter Essayistik jenseits einer konservativen oder linken Blattpolitik werden. Der Autor erfüllte in seiner Rolle als agent provocateur folglich immer auch eine genuin politische Funktion als öffentlicher Intellektueller; das virtuose Aufbrechen von Denkblockaden sollte nicht viel weniger bewirken als die Enttabuisierung einer traditionell konfliktscheuen politischen Kultur der Deutschen. Als Galionsfigur und „jahrelang wichtigste[n] Begleiter der merkurischen Politik“ nannte Bohrer schließlich nicht etwa Jürgen Habermas, der seine Ko Bohrer, „Ästhetik und Politik“, S. 1091. https://doi.org/10.1515/9783110711615-004

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operation mit der Zeitschrift nach Meinungsverschiedenheiten mit Bohrer über Fragen der Deutschen Einheit Anfang der 90er aufgekündigt hatte, sondern den deutsch-britischen Grenzgänger Ralf Dahrendorf. „Sein Aufsatz Erasmus-Menschen von 1999“, beteuerte Bohrer, sei so etwas gewesen „wie die späte Auslegung des politischen Liberalismus, für den der Merkur stand“². Überraschend kam diese postume Adelung nicht: Den ehemaligen London-Korrespondenten der FAZ Bohrer und den späteren britischen Lord Dahrendorf einte seit jeher eine ausnehmend kritische Haltung zum Konsensdenken ihres Heimatlands. Beide blickten deshalb mit der angelsächsischen Brille auf das politische und intellektuelle Geschehen in der Bundesrepublik. Bemerkenswerte Zeugnisse dieser britisch inspirierten Deutschlandkritik sind Bohrers bissige Polemiken über den bundesrepublikanischen Provinzialismus, dessen politischen Protagonisten er mangelnden Stil und vor allem einen parasitären, von den transatlantischen Verbündeten zugleich profitierenden und gegen sie gerichteten Pazifismus vorwarf,³ genauso wie Dahrendorfs fulminante Diagnose eines fortwirkenden illiberalen Geists in Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass die von Bohrer und Dahrendorf vertretene Version eines streitbaren Liberalismus, der die politisch fragwürdige Sehnsucht nach Harmonie im Mainstreamdenken der Deutschen produktiv zu irritieren verstand, im Krisenzeitalter der Demokratie erschöpft hat. Der öffentliche Streit ist mittlerweile kein Movens einer demokratischen politischen Kultur mehr, und auch der von Habermas beschworene, „sich selbst korrigierende Lernprozess“⁴ lebendiger Verfassungen gerät angesichts des Siegeszugs rechtspopulistischer Politiker und Parteien in aller Welt zur Farce. Laut Habermas besteht die Aufgabe einer liberalen politischen Öffentlichkeit ja stets darin, die falschen Prätentionen einer zynischen Herrschaftselite konsequent aufzudecken. Doch wie soll diese kritische Herrschaftsrationalisierung noch gelingen, wenn die selbsternannten Alternativen zu den etablierten Parteien, die die Öffentlichkeit gekapert haben, selbst einen noch zynischeren Umgang mit der Macht pflegen? Auch der öffentliche Umgang mit der Wahrheit unterliegt heute den Gesetzen einer „regressiven Modernisierung“, wie sie von Oliver Nachtwey beschrieben worden ist: Einerseits indiziert das „hohe Maß an Konfabulation, also des pathologischen Glaubens an objektiv falsche Aussagen“⁵, dass „Gegenwartsgesellschaften hinter das in der sozialen Moderne erreichte Niveau an Integration zu Ebd. S. 1098 f.  Bohrer, Provinzialismus.  Habermas, „Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?“, S. 167.  Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 223.

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rückfallen“; andererseits werden „wir nicht Zeugen eines eindeutigen Rückschritts hinter das in vermeintlich besseren Zeiten Erreichte“⁶, weil das verfügbare und verwertbare Wissen ja tatsächlich ständig weiterwächst. Den öffentlichen Intellektuellen wird unter diesen Bedingungen gewissermaßen der Boden unter den Füßen weggezogen. Hinzu kommt, dass der mediale Diskurs über Politik heute zu ausdifferenziert und auch kleinteilig ist, die Mediennutzung zu vielseitig und dezentral, als dass einige besonders strahlkräftige intellektuelle Stichwortgeber mit ihren Stellungnahmen noch ein signifikantes Publikum erreichen, geschweige denn ein ganzes gesellschaftliches Klima prägen oder zum Ausdruck bringen könnten. Zwar gehörte ein gewisses Maß an Selbstüberschätzung seit jeher zu den bestimmenden – und aus der Perspektive einer liberalen Demokratie auch begrüßenswerten – Merkmalen des öffentlichen Intellektuellen. Deshalb hielt Dahrendorf in seiner letzten großen Monographie auch selbstironisch fest, es habe „schon seinen Grund, dass öffentliche Intellektuelle gerne das an sich Normale dramatisieren, denn das hilft ihrem Selbstbild und gibt ihren Worten erhöhte Bedeutung“⁷. Doch wird eine solche intellektuelle Exzentrik – der Nonkonformismus eines Hofnarren, wie er von Dahrendorf in den 60ern zur Tugend erhoben wurde – zur Farce, sobald die schwindende Wirkmacht des öffentlichen Intellektuellen auf handfeste strukturelle Gründe zurückgeführt werden kann. Deshalb hat Habermas in einer knappen Wiederauflage seiner These vom Strukturwandel der Öffentlichkeit die Rolle des öffentlichen Intellektuellen – und folglich auch sein eigenes Wirken als Demokratisierungsagent in der Bundesrepublik – nachträglich selbst relativiert. Während „die Umstellung der Kommunikation von Buchdruck und Presse auf Fernsehen und Internet zu einer ungeahnten Ausweitung der Medienöffentlichkeit und zu einer beispiellosen Verdichtung der Kommunikationsnetze geführt“ habe und die Öffentlichkeit somit „inklusiver, der Austausch intensiver geworden“ sei, drohten die Intellektuellen, die sich im öffentlichen Raum einst „wie Fische im Wasser“ fortbewegt hätten, „am Überborden dieses lebensspendenden Elements wie an einer Überdosierung zu ersticken. Der Segen scheint sich in Fluch zu verwandeln.“⁸ Einen Grund zu übertriebener Sorge sah Habermas in dieser Entwicklung jedoch nicht, solange eine funktionierende „Qualitätspresse der überregionalen Tages- und Wochenzeitungen“ – die er ja stets für wichtiger gehalten hatte als einen einsamen intellektuellen Solipsismus – existiere, um „die politische Öffentlichkeit im

 Ebd. S. 75.  Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit, S. 26.  Habermas, Ach, Europa, S. 81.

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Idealfall mit einschlägigen Themen, scharf geschnittenen Problemen, zuverlässigen Informationen und aufschlussreichen Kommentaren“⁹ zu versorgen. Am Ende müsse sich auch der engagierteste Intellektuelle in seinem „Streit für unterdrückte Wahrheiten oder vorenthaltene Rechte“ auf „ein mehr oder weniger liberal gesinntes Publikum“, „einen halbwegs funktionierenden Rechtsstaat“: eben auf „eine politische Kultur des Widerspruchs“ verlassen, „in der die kommunikativen Freiheiten der Bürger entfesselt und mobilisiert werden“¹⁰ könnten. Nur unter diesen Bedingungen könne der öffentliche Intellektuelle sein Pfund, einen „avantgardistische[n] Spürsinn für Relevanzen“, überhaupt in die Waagschale werfen: eine „argwöhnische Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens, die ängstliche Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung der gemeinsamen politischen Lebensform drohen, den Sinn für das, was fehlt und ‚anders sein könnte‘, ein bisschen Phantasie für den Entwurf von Alternativen und ein wenig Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung, zum Pamphlet“¹¹. Bezeichnenderweise verspürte Dahrendorf in seinen späten Lebensjahren ebenfalls den Drang, sein Wirken als öffentlicher Intellektueller rückblickend kleinzureden, und ordnete seine Schaffenszeit implizit einem historischen Zeitfenster zu, in dem „die Dinge ihren normalen Gang“ genommen hätten und „Worte nicht gerade Zierrat, aber doch vornehmlich Verständnishilfen oder Anleitungen zu gelegentlichen Korrekturen“ gewesen seien: „nicht mehr“¹². In seinem liberalen Vermächtnis über die Versuchungen der Unfreiheit schrieb er deshalb auch vornehmlich über eine „Zeit der grossen Umbrüche“ in der turbulenten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Intellektuelle noch „movers and shakers“ gewesen seien und „erkennbar und erinnerbar die Umstände ihrer Zeit bewegt und aufgerüttelt“¹³ hätten. Für Dahrendorf hatten sich, so lautete der Untertitel seines Buchs, die Intellektuellen vor allen Dingen „in Zeiten der Prüfung“ zu bewähren. Seine Sympathie galt den standfesten Liberalen und „Erasmiern“ Karl Popper, Isaiah Berlin und Raymond Aron, die angesichts der totalitären Versuchungen, denen viele andere kluge Köpfe im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) erlegen seien, „einen klaren Kopf“¹⁴ bewahrt hätten.

 Habermas, „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“, S. 186.  Habermas, Ach, Europa, S. 80 f.  Ebd. S. 84.  Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit, S. 25.  Ebd.  Ebd. S. 88.

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Unbestritten hat sich Habermas im Zuge der Ausarbeitung seines Modells der deliberativen Demokratie¹⁵ seit Ende der 80er dem politischen Liberalismus angenähert und seine politikphilosophische Auseinandersetzung mit John Rawls schließlich auch nicht zufällig „in den engen Grenzen eines Familienstreits“¹⁶ angesiedelt. Diese vorsichtige liberale Wende lässt einen intellektuellen Vergleich mit Dahrendorf unter dem politiktheoretischen Bezugspunkt des Liberalismus abschließend aussichtsreich erscheinen, zumal Dahrendorf seinen Marktliberalismus, wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit nachgewiesen werden sollte, nach dem Ende der trente glorieuses relativierte und gelegentlich, wenn auch inkonsequent, Kritik an der neoliberalen Wende in westlichen Demokratien äußerte. Freilich darf diese Beobachtung nicht dazu führen, Ungleiches gleich zu machen. Der Historiker Jörn Leonhard hat diesbezüglich vor einer beliebten quasigeschichtsphilosophischen Konstruktion einer liberalen Ahnengalerie gewarnt, die „allzu leicht zu einer geradlinigen Vorgeschichte der Gegenwart“ verkümmere, „in der [der Liberalismus] als ideologischer Erfüllungsgehilfe der Moderne“ erscheine. Eine solche „politisch-konstitutionelle ‚Heilsgeschichte‘ des Liberalismus“ könne „bis zu einer modellhaften Konstruktion einer ungebrochenen Erfolgsgeschichte des liberalen Ideenvorrats reichen, die zwar eindeutige Pioniere, Nachzügler und Verlierer“ produziere, „aber angesichts der vermeintlich ungebrochenen positiven Kontinuitäten die bruchreiche Entwicklungsgeschichte politischer Emanzipation und Partizipation“¹⁷ übersehe. Um dieser Gefahr vorzubeugen, soll im Folgenden die These vertreten werden, dass sich mit dem späten Dahrendorf und dem späten Habermas seit dem Epochenbruch von 1989/90 Spuren eines verfassungspatriotischen, liberalen Oszillierens zwischen den Prinzipen des Rechtsstaats und der Demokratie freilegen lassen, dessen politische Implikationen zu dem abgenutzten geschichtswissenschaftlichen Konzept der Westernisierung konträr laufen. Pointiert formuliert: Als die liberale Demokratie in Deutschland mit Leben erfüllt worden war – als Deutschland seinen „langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) erfolgreich zurückgelegt hatte –, mussten die liberalen Intellektuellen Dahrendorf und Habermas in einer multipolaren Welt fortan verteidigen, was sie in der Auseinandersetzung mit ihren konservativen Gegenspielern in den Jahrzehnten zuvor hart erkämpft hatten. Dahrendorf stellt die entscheidende Frage zu Beginn der 90er offen selbst: „[W]ie können wir eine offene Gesellschaft mündiger Bürger

 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 349 ff.  Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 65 f.  Leonhard, Liberalismus, S. 29 f.

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schaffen, die die Herzen der Menschen ebenso wie ihre Köpfe ergreift, ohne doch durch Emotionen zu zerstören, was durch Vernunft geschaffen worden ist?“¹⁸ Währenddessen erreichte die große (neo‐)liberale Erzählung vom segensreichen Dreiklang aus freier Marktwirtschaft, individueller Selbstverwirklichung und technologischem Fortschritt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und in der Globalisierungseuphorie der 90er zwischenzeitlich den Höhepunkt ihrer Strahlkraft.¹⁹ Diese Entwicklung hinterließ auch im Denken der beiden ungleichen Weggefährten Dahrendorf und Habermas Spuren. Als Mitte der 90er ein fragwürdiger „neuer Ökonomismus […] den öffentlichen Diskurs zu beherrschen“²⁰ begann, prognostizierte Dahrendorf bereits ein politisches Folgeproblem sozialer Ungleichheiten, sobald diese „Privilegien oder Ausschlüsse begründen, was nämlich bedeutet, dass sie zu Fragen der Anrechte oder ihres Fehlens werden und nicht mehr lösbar sind durch graduelle, quantitative Verbesserungen oder Verringerungen“²¹. Folglich hielt er den „neue[n] Ökonomismus von Kapitalisten“ für „nicht weniger illiberal als de[n] alte[n] von Marxisten. Er mag nicht die Gefahr des Totalitarismus beschwören, aber sein autoritäres Potential gibt Anlass zur Sorge.“²² Mittlerweile hatte Dahrendorf im Rückgriff auf den späteren Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen den Kampf gegen das Fortwirken „traditionelle[r] Anrechtsstrukturen“ zum Herzstück seines politischen Denkens auserkoren. Diese gelte es – wie er in seiner Studie Der moderne soziale Konflikt ausführte – gegen den Widerstand einer besitzstandswahrenden „Mehrheitsklasse“ aufzubrechen, da „makroökonomisches Wachstum“ allein nur noch „wenig für die vielen“ bedeute, „so sehr der Internationale Währungsfonds sich über die Globalstatistik freuen mag“²³.  Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 53.  Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael den Durchbruch des Neoliberalismus auch auf die handfesten Gründe zurück, „dass auf der Ebene der internationalen Entwicklung die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation nach der Einführung des world wide web 1995 mit den neuen Regeln des Finanzmarktkapitalismus zusammenwuchsen und die daraus entstehenden Märkte für Kapital, Dienstleistungen und Waren beflügelt haben. Auf der Ebene der Unternehmen konvergieren nach einer Phase vielfältiger Experimente seither neue Tendenzen in der Organisation von Arbeit und Produktion in Richtung einer Vermarktlichung und Beschleunigung. Politisch etablierte sich in diesen Jahren der neue neoliberale Konsens aller großen Parteien in der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik, und lebensweltlich fand die neue Welt digitaler Kommunikation über das Internet Eingang in den Alltag der meisten Westeuropäer. Eine Schwelle war überschritten, die Weichen für den Weg in eine neoliberale Zukunft waren gestellt.“, DoeringManteuffel/Raphael, „Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche“, S. 12.  Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 91.  Ebd. S. 93.  Ebd. S. 101.  Dahrendorf, Der modernde soziale Konflikt, S. 35.

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Ausgehend von Habermas’ Zeitdiagnose aus der Mitte der 80er sah auch Dahrendorf die moderne Gesellschaft an einem Scheideweg, nachdem „Jahrzehnte des Wirtschaftswachstums und des sozialen Fortschritts in einer Periode der Unübersichtlichkeit“ geendet und die „Erfolge der Vergangenheit“ eine Reihe von Problemen geschaffen hätten, „die sich mit den bewährten Methoden nicht mehr lösen“²⁴ ließen. Paradoxerweise ging es ihm nach dem Ende des sozialliberalen Zeitalters „um die Formulierung einer sozialliberalen Position im Zeitalter der Globalisierung“²⁵. Damit entpuppte sich Dahrendorf – wie viele seiner Zeitgenossen seit den 90ern – als Vertreter einer aus neo- und sozialliberalen Versatzstücken zusammengesetzten, inkonsequenten und daher letztlich auch zum Scheitern verurteilten Form der „progressiven Nostalgie“²⁶. Obwohl ihn dabei selbst „das Gefühl“ beschlich, „dass die grosse Zeit der liberalen Ordnung vorbei, zumindest aber bedroht ist“, bezeichnete er die Verwirklichung der „Quadratur des Kreises von Wohlfahrtsentwicklung, sozialem Zusammenhalt und politischer Freiheit“ in den durch die BRICS-Staaten massiv unter Wettbewerbsdruck geratenden westlichen Führungsnationen in Nordamerika, Europa und Japan dennoch als die „vornehmste Aufgabe der Ersten Welt im kommenden Jahrzehnt“²⁷. Dieses Ziel sei zwar „unerreichbar“, eine Annäherung war nach Dahrendorf aber wünschenswert – und „wahrscheinlich alles, was ein realistisches Projekt des sozialen Wohlbefindens zu erreichen hoffen kann“²⁸. In der Entstehung einer „neue[n] Ungleichheit“, die „steile Wege nach oben für manche“ schaffe, „aber tiefe Löcher für andere“ grabe, und in dem „Auseinanderklaffen der Lebenschancen grosser sozialer Gruppen“²⁹ sah er jedoch schon auf dem Höhepunkt des neoliberalen Rausches die größte Gefahr für eine gegen die Zumutungen der Globalisierung gewappnete neue Bürgergesellschaft. Seinen „liberalen Radikalismus“³⁰ steckte Dahrendorf inzwischen anhand eines äußerst klassisch anmutenden liberalen Dreiecks aus traditioneller Herrschaftsbegrenzung im Geiste Lockes, einer funktionierenden Marktwirtschaft mit ethischer Schlagseite, wie sie von Adam Smith vor allem in der Theorie der ethischen Gefühle vorgedacht worden war, und einer starken Bürgergesellschaft freier

 Ebd. S. 207.  Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 104.  Zum Begriff der „progressiven Nostalgie“ vgl. Haffert, „Wie aus Progressiven Nostalgiker wurden“.  Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 109.  Ebd.  Ebd. S. 117.  Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 251.

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Assoziationen im Sinne Alexis de Tocquevilles und James Madisons ab.³¹ Als die Sowjetunion gerade in sich zusammengefallen war, warnte er die Nachfolgestaaten im Osten inständig vor „der Belebung eines Nationalismus, der Nation nicht als staatliche Ordnung des Rechts versteht, sondern als unduldsamen Begriff der Zugehörigkeit und der Ausschliessung“³². Nur zwei Jahre später musste er ernüchtert feststellen: „Die Herrschaft des Rechts und der Marktwirtschaft trifft auf mächtige Hindernisse in den neuen Demokratien Ostmittel- Südosteuropas, und es wird noch lange dauern, bevor sie fest in Bürgergesellschaften verankert ist.“³³ In dieser Region, die Dahrendorf nach dem Ende des Ost-West-Konflikts besonders am Herzen lag, erwies sich als besonders schwierig, die „in ihrer Wirkung liberale[n] Verbindungen von Optionen und Ligaturen“ zu etablieren, die nach seinem Dafürhalten das Lebenselixier der liberalen Demokratie waren und ein neoautoritäres Politikmodell und eine wiedererstarkende Religion in Schach halten – mit Dahrendorfs Worten: „der Macht und dem Glauben ihren je eigenen Raum“³⁴ – zuweisen konnten. An der politischen Begleitmusik der deutschen Wiedervereinigung hatte ihn ebenfalls die nationale Überschwänglichkeit des christdemokratischen Einheitskanzlers Kohl gestört, dem er die gänzlich unromantische Pointe entgegenhielt, dass die Demokratie immer noch „eine Regierungsform und kein Dampfbad für das Volksempfinden“³⁵ sei. Dahrendorf argwöhnte, Kohl möge „kaum ein Wort so gerne wie das Wort ‚Vaterland‘. Wenn er vom Vaterland spricht, vibriert sein ganzer mächtiger Körper unter dem tiefen, fast Wagnerischen Klang des Wortes, so daß er es zuweilen, wie das seine Art ist, ein wenig zu versüßen sucht, indem er ein Adjektiv wie ‚wunderschön‘ hinzufügt. ‚Unser wunderschönes Vaterland‘ beschreibt seine deutsche Thematik gut.“³⁶ Zur gleichen Zeit warnte auch Habermas vor einer „Sogwirkung des nationalen Syndroms“³⁷ in Deutschland und Europa. Nachdem das politische Planungsdenken in den 70ern und 80ern endgültig „auf Grund gelaufen“³⁸ war, priesen die beiden ungleichen Weggefährten in ihren späten Schriften nun im Gleichschritt die Segnungen des Rechtsstaats.³⁹ Diese

 Ebd. S. 258 ff.  Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 38 f.  Ebd. S. 57.  Ebd. S. 67.  Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, S. 14.  Ebd. S. 120.  Habermas, Die nachholende Revolution, S. 164.  Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 72.  Die folgenden Überlegungen finden sich in stark verkürzter Form bereits in Hansl, „Ungleiche Weggefährten“.

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Entwicklung war auch beim unzweifelhaften Liberalen Dahrendorf insofern überraschend, als er die notorisch schwache Stellung des liberalen Prinzips in Deutschland in den 60ern noch maßgeblich auf die historische Ausnahmestellung der „deutschen Juristen“ zurückgeführt hatte. Dieser wahrheitsverliebte und konfliktscheue Berufsstand habe, so Dahrendorf in seinem Buch über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, „den Rechtsstaat durch alle Versionen und Perversionen seiner Gestalt in den letzten hundert Jahren begleitet“⁴⁰. Von diesem Vorbehalt des einstigen Demokratisierungsagenten gegen die Bremswirkung des Rechtsstaats und den Dogmatismus seiner akademischen Ausleger war ein gutes Vierteljahrhundert später nichts mehr zu spüren. Vielmehr war Dahrendorf mittlerweile zu der „melancholischen Schlussfolgerung“ gelangt, „dass wir manche Probleme, die sich heute stellen, eher durch die internationale Ausweitung des Rechtsstaates lösen können als durch den Aufbau scheinbar demokratischer Institutionen in neuen, größeren politischen Räumen“⁴¹. Noch zu Habermas’ 60. Geburtstag im Jahr 1989 hatte es Dahrendorf nicht lassen können, seinem späten Freund das Laster vorzuhalten, „[a]us seinem Kant […] immer wieder ein[en] kleine[n] Rousseau“⁴² herauszulassen. Allerdings war auch aus dem sozialistischen Radikaldemokraten längst ein liberaler Radikaldemokrat geworden, wenn auch kein glühender Liberaler. Demnach hatte Habermas im Vorwort zur Neuauflage des Strukturwandels der Öffentlichkeit auch seine frühere Kritik am Liberalismus Tocquevilles und J. St. Mills relativiert, indem er die beiden nachträglich doch in ihr Recht setzte, „wenn sie in der frühliberalen Vorstellung einer diskursiven Meinungs- und Willensbildung nur die verschleierte Macht der Majorität wiederzuerkennen glaubten“ und „die öffentliche Meinung allenfalls als gewalteinschränkende Instanz zulassen [wollten], keineswegs als ein Medium der möglichen Rationalisierung von Gewalt überhaupt“⁴³. Sicher fühlte sich Habermas durch die von der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Ellen Kennedy Mitte der 80er auf Anregung von Habermas’ neokonservativem Gegenspieler Hennis erneuerte These der politischen Verwandtschaft zwischen Schmitt und der Frankfurter Schule noch einmal zu einer offensiven Klarstellung seines Verhältnisses zum Liberalismus angespornt.⁴⁴ In der Theorie des kommunikativen Handelns hatte er noch gefordert, „[a]n die Stelle des als Medium benutzten Rechts“ müssten angesichts der fortschreitenden Bü    

Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 260. Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie, S. 12. Dahrendorf, „Zeitgenosse Habermas“, S. 482. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 32. Vgl. zu der Kontroverse auch Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 314 f.

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rokratisierung und Monetarisierung der Lebenswelt flexiblere „Verfahren der Konfliktregelung treten, die den Strukturen verständigungsorientierten Handelns angemessen“⁴⁵ seien. Vom anonymen Rechtsstaat sah der enttäuschte Sozialist zum damaligen Zeitpunkt, als er noch in den neomarxistischen Kategorien des Spätkapitalismus dachte, keine emanzipatorische Sogwirkung ausgehen. Doch seit Ende der 80er setzte in Habermas’ Denken eine rechtsstaatliche Wende ein, und er zitierte auf einmal Dolf Sternbergers alten Begriff des „Verfassungspatriotismus“, um die Deutschen einen gewissen „Stolz darauf“ zu lehren, „daß es uns gelungen ist, den Faschismus auch auf Dauer zu überwinden, eine rechtsstaatliche Ordnung zu etablieren und diese in einer halbwegs liberalen politischen Kultur zu verankern“⁴⁶. Dahrendorfs neue Nähe zu Habermas’ Denken offenbarte sich gleichsam nicht nur an der Bekräftigung der Einsicht, „daß es beim Nationalstaat um die Verfassung und die Herrschaft des Rechts“ und die „Schaffung, Erhaltung und Entwicklung von Institutionen“ gehe, „lange bevor das Nationaleinkommen aufgerechnet wird und die Dämpfe des Nationalgefühls hochsteigen“⁴⁷, sondern auch an seinem Plädoyer für eine „Weltbürgergesellschaft“, die von der Schaffung effektiven internationalen Rechts und der Stärkung internationaler Organisationen mit Anrechtscharakter abhänge⁴⁸. Dabei gehört die Forderung nach einem globalen Konstitutionalismus seit der Epochenschwelle 1989/90 vor allem zu Habermas’ wichtigsten demokratietheoretischen Grundanliegen. Gegen die Vertreter des realistischen Denkansatzes in den internationalen Beziehungen wandte er deshalb auch lapidar ein: „Gegenüber der pubertären Phantasie, Freund-Feind-Verhältnisse außerrechtlich zu ritualisieren, ist der energische Versuch eines ersten Schrittes zur effektiven Verrechtlichung des Naturzustandes zwischen den Staaten der pure Realismus. Was sonst?“⁴⁹ Trotz aller impliziten und expliziten Überreste kritisch-theoretischen Denkens eröffneten Habermas’ rechts- und politikphilosophische Komplementärschriften über Faktizität und Geltung und Die Einbeziehung des Anderen in den 90ern eine eindeutig affirmative Perspektive auf den liberalen Rechtsstaat. Dass die deliberative Demokratie allein innerhalb rechtsstaatlicher Strukturen verwirklicht werden konnte, steht für ihn spätestens seit den 90ern außer Frage. Oder wie er es selbst ausdrückte: „Die demokratische Idee der Selbstgesetzgebung muß sich im Medium des Rechts selbst Geltung verschaffen.“⁵⁰ Weil die „unvermittelte

     

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2, S. 544. Habermas, Die nachholende Revolution, S. 152. Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, S. 124. Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 284 ff. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 115. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 301.

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Anwendung“ seines Diskursbegriffs „auf den demokratischen Prozeß […] Skeptikern Vorwände“ geliefert habe, „um den Entwurf einer Diskurstheorie des Rechts und der Politik schon im Ansatz zu diskreditieren“⁵¹, nahm Habermas innerhalb seines Theoriebaukastens nun auch eine Differenzierung zwischen pragmatischen, ethisch-politischen, moralischen und juristischen Diskursen vor, die ihrerseits wiederum von den letztlich alternativlosen strategischen Verhandlungen und Kompromissbildungen in der politischen Arena abgegrenzt werden müssten.⁵² Seine Kreuzung von Kant und Rousseau, „von praktischer Vernunft und souveränem Willen“⁵³, hatte sich also merklich in Richtung Königsberg verschoben.⁵⁴ Fortan rückte die Idee von der „Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie“ – von Rechtsstaat und Demokratie –, der zufolge „die Adressaten zugleich die Urheber ihrer Rechte“⁵⁵ seien, ins Zentrum der Habermas’schen Politiktheorie. Dahrendorfs Bekenntnis zum liberalen Rechtsstaat fiel als Primat des Rechtsstaats vor der Demokratie demgegenüber noch viel klarer aus: „Sowohl die Demokratie als auch die Marktwirtschaft setzen die Herrschaft des Rechts als ihre notwendige Funktionsbedingung voraus.“⁵⁶ Allerdings klingt diese löbliche Hoffnung auf eine funktionale Verbindung von Rechtsstaat und Demokratie seit dem Ablauf der Blütezeit des internationalen Völkerrechts, allerspätestens aber seit den Erschütterungen der Weltwirtschaftsund Weltfinanzkrise von 2008 nicht mehr allzu überzeugend. Insofern ist die ökonomische Krise des liberalen Kapitalismus, die im letzten Jahrzehnt immer deutlichere Konturen angenommen hat, immer auch eine Krise der politischen Theorie des Liberalismus in all ihren Varianten. Anders formuliert: Die Forderungen nach gleichen Lebenschancen in der Weltbürgergesellschaft (Dahrendorf) und nach demokratischer Selbstbestimmung in der postnationalen Konstellation (Habermas) müssen umso hohler klingen, je mehr sich die gesellschaftliche Realität gleichzeitig in die entgegengesetzte Richtung entwickelte. So konnte Thomas Piketty in seinem bahnbrechenden Werk über Das Kapital im 21. Jahrhundert mittels belastbarer vergleichender Daten zur Einkommens- und Vermö-

 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 196.  Ebd. S. 197 ff.  Ebd. S. 611.  Allerdings neigte Habermas im Hinblick auf die Auslotung „verallgemeinerungsfähiger Interessen“ – also des Gemeinwohls – in der politischen Öffentlichkeit weiterhin zu der kontraintuitiven Annahme: „Während die Laienorientierung eine gewisse Entdifferenzierung bedeutet, wirkt sich die Abkoppelung der kommunizierten Meinungen von konkreten Handlungsverpflichtungen in Richtung einer Intellektualisierung aus.“, ebd. S. 437.  Ebd. S. 135; vgl dazu auch ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 91.  Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 268.

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gensentwicklung in Europa und den USA etwa nachweisen, dass sich seit Marx’ Kritik der politischen Ökonomie an den Tiefenstrukturen des Kapitals und den Ungleichheiten nichts geändert [hat] – jedenfalls nicht in dem Maße, wie man es sich in den optimistischen Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vorstellen konnte. Wenn die Kapitalrendite dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate von Produktion und Einkommen, was bis zum 19. Jahrhundert der Fall war und im 21. Jahrhundert wieder zur Regel zu werden droht, erzeugt der Kapitalismus automatisch inakzeptable und willkürliche Ungleichheiten, die das Leistungsprinzip, auf dem unsere demokratischen Gesellschaften basieren, radikal infragestellen.⁵⁷

Auf der Grundlage dieses Befunds warnte der Soziologe Sighard Neckel in Anlehnung an den frühen Habermas sogar vor einer „Refeudalisierung des modernen Kapitalismus“ in westlichen liberalen Demokratien, die „im Zuge einer neoliberalen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wieder vormoderne Sozialformen, Rangordnungen oder Herrschaftsstrukturen“⁵⁸ habe entstehen lassen: eine „neue Pauperisierung von Arbeit, die Wiederkehr extremer Formen von Ausbeutung sowie die Entstehung neuer Reichtumsoligarchien und das Anwachsen dynastischer Macht“⁵⁹. Neckel betont im gleichen Atemzug, dass diese Entwicklung in westlichen Industriestaaten „nicht in die Vergangenheit zurück[führt], sondern […] eine gesellschaftliche Dynamik der Gegenwart [bezeichnet], die Modernisierung als Abkehr von den Maximen einer bürgerlichen Sozialordnung vollzieht“⁶⁰. Demnach gestaltet sich sozialer Aufstieg in westlichen Industriestaaten nach Ablauf der trente glorieuses immer schwieriger: „Nicht bürgerlich-kapitalistische Prinzipien wie Leistung und Wettbewerb entscheiden […] über Einkommen und Vermögen, sondern gesellschaftlicher Status, wirtschaftliche Stärke und die Gunst der politischen Macht.“⁶¹ Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt wiederum Nachtwey, wenn er den Eintritt der liberalen Demokratien des Westens in ein Zeitalter der „regressiven Modernisierung“ beobachtet, das Mitte der 70er begonnen habe. Manche Kritiker der neoliberalen Wende neigen zweifellos dazu, die Vergangenheit – und damit auch das stahlharte Gehäuse der patriarchalen Deutschland-AG der 50er und 60er – im Spiegel einer wachsenden sozialen Ungleichheit zu romantisie-

    

Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, S. 13 f. Neckel, „Die Refeudalisierung des modernen Kapitalismus“, S. 160 f. Ebd. S. 172. Ebd. S. 161. Ebd. S. 170.

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ren.⁶² Dabei kommt in der Regel zu kurz, dass der Neoliberalismus, der von der Chicago School um Milton Friedman entwickelte Ansatz der supply-side economics, zunächst ja tatsächlich einen Ausweg aus der tiefgreifenden Profitabilitätskrise des Nachkriegskapitalismus versprach. Zudem wurden die hochfliegenden Revolutionsideale der 68er in westlichen Demokratien oft erst in den 80ern und 90ern in konkrete Emanzipationserfolge diskriminierter Minderheiten übersetzt. Die lange neoliberale Wende in Politik und Gesellschaft ist für viele Menschen in westlichen liberalen Demokratien also mit handfesten Zugewinnen an individueller Selbstbestimmung und -entfaltung einhergegangen. Allerdings ist Nachtweys These von der „regressiven Modernisierung“ gerade auch auf solche Erfolgsgeschichten gemünzt: „Es ist ein Fortschritt, der den Rückschritt in sich trägt, und dieser Rückschritt trifft meistens, freilich nicht immer, die Unterklassen.“⁶³ Bettet man die gesellschaftspolitischen Errungenschaften seit den 70ern demzufolge in eine dialektische Gesamtbetrachtung des neoliberalen Zeitalters ein, entsteht sogleich ein unfreundlicheres Bild. In diesem Sinne weist Nachtwey in seinem Beitrag zu einer an den Habermas’schen Stichworten zur geistigen Situation der Zeit aus den späten 70ern angelehnten internationalen Debatte über Die große Regression am Ende der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts darauf hin, dass regressive Modernisierung in der Regel als „horizontale Gleichstellung von Gruppen mit unterschiedlichen Merkmalen (zum Beispiel Geschlecht oder Ethnie)“ auftritt, die „mit neuen vertikalen Ungleichheiten und Diskriminierungen einhergeht“. Diese Dialektik habe „normative Zivilisationszumutungen und vermeintliche Verlierer produziert, die sich in regressive Affekte der Entzivilisierung flüchten“⁶⁴:

 Die Haltung, wonach an allen Übeln der kleinen Leute der Neoliberalismus schuld sei, trägt folglich bereits den Keim der Gegenaufklärung in sich. Ihren Anhängern kann es nämlich passieren, eine äußerst luzide politikökonomische Kritik mit der impliziten Absage an den liberalen Universalismus und auf die Nation gerichteten Schließungsphantasien zu konterkarieren. Solche Tendenzen zeigten sich kürzlich bei Wolfgang Streeck, der in der ZEIT das Referendum für den Brexit als Ohrfeige für „die Öffnung der Grenzen zur Schließung der deutschen demografischen Lücke“ feierte und die „kulturelle Geringschätzung der ortsfesten Anhänger lokaler Traditionen durch eine sich kosmopolitisch gebende Ober- und Mittelschicht, die ihr Land und seine Leute nach ihrer ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ beurteilt“(Streeck, „Ist der Brexit denn wirklich so schlimm?“), verteufelte. Völlig zu Recht verglich Jürgen Habermas Streecks Flirt „mit der ziellosen Aggression eines selbstdestruktiven Widerstandes, der die Hoffnung auf eine konstruktive Lösung aufgegeben hat“ (Habermas, Im Sog der Technokratie, S. 144), deshalb auch mit einer Rückkehr „in die nationalstaatliche Wagenburg“, ebd. S. 142.  Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 75 f.  Nachtwey, „Entzivilisierung“, S. 217.

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Sie fühlen sich abgewertet und ausgenutzt – von den Eliten, von der Globalisierung, von den Frauen, von den Flüchtlingen. Sie haben den Eindruck, sie würden zu sozialen Außenseitern gemacht, zu einer Minderheit im eigenen Land, der niemand zuhört und für die sich niemand interessiert. Diesen gefühlten Statusverlust versuchen sie durch ‚negative Klassifikationen‘ anderer Gruppen auszugleichen. Materielle und kulturelle Statusängste sind die Treiber von Ressentiments, negativen Affekten, identitärer Schließung und von Verschwörungstheorien – Aspekte, die schon früh [von Adorno in den 50er Jahren; MH] als Kennzeichen autoritärer Persönlichkeitsstrukturen ausgemacht wurden. Möglicherweise ist es vor diesem Hintergrund gerade die Unterwerfung unter die vermeintliche ökonomische Alternativlosigkeit des Marktes, die ‚autoritäre Aggressionen‘ freisetzt.⁶⁵

Der Liberalismus scheint diesen Menschen nicht mehr viel zu bieten zu haben. Vielmehr gibt es gute Gründe, das „Überleben des Neoliberalismus“ in Zeiten seiner ideologischen Erschöpfung nicht nur „befremdlich“⁶⁶, sondern auch gefährlich zu finden. Der damit zusammenhängende „Anstieg[ ] eines Rechtspopulismus, wie wir ihn seit den zwanziger und dreißiger Jahren nicht erlebt haben“⁶⁷, indiziert laut Ivan Krastev vor allem in Mittel- und Osteuropa, aber zunehmend auch in Westeuropa die Ersetzung der „Demokratie als eine[r] Staatsform, welche die Emanzipation von Minderheiten fördert (Schwulenparaden, Frauenmärsche, Minderheitenförderung), durch Demokratie als ein[es] politische[n] Regime[s], das die Vorurteile von Mehrheiten stärkt“⁶⁸. Während Krastev jedoch das „Versagen des Liberalismus bei der Bewältigung des Migrationsproblems und nicht die Wirtschaftskrise oder die wachsende soziale Ungleichheit“⁶⁹ zur Ursache des neuen „demokratischen Illiberalismus“⁷⁰ erklärt, erkennt Arjun Appadurai in der oft mit xenophoben Motiven geführten Migrationsdebatte gerade „ein Paradebeispiel für die Übersetzung von Fragen der ökonomischen Souveränität in Fragen der kulturellen Souveränität – eine Übersetzung und Verschiebung, die […] zu den wesentlichen Ursachen des weltweilten Erfolgs des Rechtspopulismus gehört“. Grundsätzlich bestehe eine „tiefe Widersprüchlichkeit zwischen der zumeist neoliberalen Wirtschaftspolitik“ der neuen autokratischen Fürsten vom Schlage Trumps, Putins, Erdogans oder Orbans „und ihrer gut dokumentierten Vetternwirtschaft einerseits und den realen Finanznöten und existenziellen Ängsten ihrer Gefolgschaft andererseits“, die sich aber durch die gemeinsame Beschwörung eines nationalen, ethnischen oder religiösen

     

Ebd. S. 226 ff. Vgl. Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Krastev, Europadämmerung, 95. Ebd. S. 31 f. Ebd. S. 32. Ebd. S. 86.

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Sendungsbewusstseins und eine grassierende Demokratiemüdigkeit aufseiten der Regierten „scheinbar in Wohlgefallen“⁷¹ auflöse.Wenn man noch einen Schritt weitergeht, sind jedoch nicht nur die bedrohten Mittel- und Arbeiterklassen der Demokratie überdrüssig geworden, indem sie – wie Appadurai schreibt – „die Wahlpolitik als willkommene Gelegenheit [sehen], um sich aus der Demokratie gleich ganz zu verabschieden“⁷². Eine ganz andere Form der Demokratiemüdigkeit lokalisiert Christoph Möllers selbstkritisch im eigenen Milieu des liberalen Bürgertums. Nach Möllers’ Ansicht „gäbe es den Vormarsch des Rechtsautoritarismus nicht ohne eine politisch schwach mobilisierte bürgerliche Mitte, die erschrocken zusieht, wie die Welt zerfällt, an der sie hängen sollte, weil sie in ihr ordentlich bis sehr gut, jedenfalls überdurchschnittlich, lebt“⁷³. Deshalb empfiehlt er demjenigen, der „die Ordnung so, wie sie ist, für schützenswert hält, […] in politische Parteien einzutreten und einen relevanten Teil seiner Zeit in diesen zu verbringen. Wer Demokratie und Freiheit für Lebensformen hält, wird sie nicht an das System delegieren und sich über dieses beklagen dürfen.“⁷⁴ All diese Zeitdiagnosen aus unterschiedlichen Lagern verdeutlichen, dass die liberalen Demokratien des Westens heute erneut ernsthaften Anfechtungen ausgesetzt sind.⁷⁵ Nicht zufällig erlebt der späte skeptische Liberale Dahrendorf in dieser globalen Krise der liberalen Demokratie eine wirkungsgeschichtliche Renaissance als Prophet eines drohenden autoritären 21. Jahrhunderts.⁷⁶ Schon in den frühen Nullerjahren hatte er die (rechts‐)populistische Welle in Europa, wie sie sich etwa in den Wahlsiegen der FPÖ Jörg Haiders in Österreich oder des Front National Jean-Marie Le Pens in Frankreich zeigte, mit einem Versäumnis der  Appadurai, „Demokratiemüdigkeit“, S. 30.  Ebd. S. 29.  Möllers, „Wir, die Bürger(lichen)“, S. 5.  Ebd. S. 16.  In einer Reihe zeitdiagnostischer Memoires findet sich zudem die These bestätigt, dass aufgrund der Erschöpfung des erfolgreichen Klassenkompromisses zwischen Arbeit und Kapital mittlerweile auch das Kernland des westlichen Liberalismus endogenen populistischen Anfechtungen ausgesetzt ist, vgl. Vance, Hillbilly-Elegie; Eribon, Rückkehr nach Reims.  Folgt man Nachtwey, hat Dahrendorf im Gegensatz zu optimistischeren Soziologen wie Ulrich Beck, der als Hauptcharakteristikum westlicher Industriegesellschaften in seiner Modernisierungstheorie in den 80ern noch den kollektiven „Fahrstuhleffekt“ aller Gesellschaftsschichten diagnostiziert hatte, bereits Ende der 70er erkannt, dass mit dem damit einhergehenden Abbau der sozialen Moderne „auch Klassenfragen wieder für soziale Konflikte relevant werden“, Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 37. Und Neckel führt liberalen Paradeintellektuellen Dahrendorf heute gar als einen frühen Mahner ins Feld, der die drohende Gefahr eines unheilvollen Zusammenhangs zwischen neuen sozialen Ungleichheiten im postbürgerlichen Zeitalter und rechtspopulistischen Anfechtungen der Demokratie schon Ende der 90er prognostiziert hatte, vgl. Neckel, „Aus Scham wird Rache“.

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christ- und sozialdemokratischen „Traditionsparteien“ erklärt. Diese hätten „die neoliberale Antwort auf die Herausforderungen globaler Märkte missverstanden als Förderung eines Kapitalismus ohne Regeln und Grenzen“⁷⁷. Märkte mussten aber, so Dahrendorfs damalige Mahnung, „immer Regelwerke“ bleiben: „Nie darf es einigen erlaubt sein, die Grundchancen anderer zu beschneiden; Privilegien und Marktkonkurrenz sind unvereinbar.“⁷⁸ Doch hatte er den neoliberalen Strukturreformen, deren Auswüchse er nun kritisierte, zuvor ja selbst oft genug das Wort geredet. Dahrendorfs späte Abrechnung mit dem „Pumpkapitalismus“ und seine Klage über Die verlorene Ehre des Kaufmanns im Zeitalter der globalen Finanzindustrie⁷⁹ glichen deshalb auch einem Kampf gegen die bösen Geister, die er selbst herbeigerufen hatte. Nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 stimmte er insgesamt wieder pessimistischere Töne an. Wie seine Biografin anmerkt, beurteilte Dahrendorf den „Prozess der Globalisierung, den er Mitte der neunziger Jahre noch als Chance gesehen hatte“, nun „zunehmend skeptischer“⁸⁰. Seine Sorge galt im Kontext des Irakkriegs und eines auf globaler Ebene wiedererstarkenden Antiamerikanismus jedoch weniger dem drohenden Zerfall Europas als vielmehr der Gefahr einer dauerhaften Relativierung des westlichen Universalismus, die aus seiner Sicht für die Funktionsfähigkeit liberaler Demokratien konstitutiv war: „Der kulturelle Relativismus, der heutzutage um sich greift, ist ein Zeichen des geschwächten Vertrauens in die Werte der liberalen Ordnung.“⁸¹ In seinen letzten Lebensjahren ließ er deshalb keinen Zweifel, sich „eher als Vertreter des Westens denn als Europäer“⁸² zu betrachten: als überzeugter Transatlantiker, den der Zeitgeist im Stich zu lassen schien. In dieser Haltung unterschied er sich doch noch einmal grundsätzlich vom glühenden Kontinentaleuropäer Habermas, der sich kurz nach Ende des Irakkriegs zusammen mit Jacques Derrida als Verfechter eines von den Vereinigten Staaten unabhängigen „Kerneuropa“ hervortat.⁸³ Als die westliche Welt Ende der 90er in die, um mit Habermas zu sprechen, „postnationale Konstellation“ eingetreten war und Ostasien und Südamerika gleichzeitig von schweren Finanzkrisen heimgesucht wurden, stellte sich Habermas bereits „die Frage, ob sich die Globalisierung auch auf das kulturelle Substrat staatsbürgerlicher Solidarität

      

Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 317. Ebd. S. 318. Dahrendorf, „Die verlorene Ehre des Kaufmanns“. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 283. Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 335. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 286. Vgl. Habermas, Der gespaltene Westen, S. 43–51.

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auswirkt, das sich im Rahmen von Nationalstaaten herausgebildet hat“⁸⁴. Folglich war er vergleichsweise früh der Ansicht, dass „Anzeichen der politischen Fragmentierung erste Risse im Gemäuer der ‚Nation‘“⁸⁵ verrieten. Nach seiner Einschätzung mehrten sich in den westlichen Wohlstandsgesellschaften zu diesem Zeitpunkt „ethnozentrische Reaktionen der einheimischen Bevölkerung gegen alles Fremde – Haß und Gewalt gegen Ausländer, gegen Andersgläubige und Andersfarbige, aber auch gegen Randgruppen und Behinderte und, wieder einmal, gegen Juden“⁸⁶. Deshalb müsse sich die „zur nationalen Kultur aufgespreizte Mehrheitskultur“ in den unter ökonomischen Druck geratenen europäischen Nationalstaaten „aus ihrer geschichtliche begründeten Fusion mit der allgemeinen politischen Kultur lösen, wenn sich alle Bürger gleichermaßen mit der politischen Kultur ihres Landes sollen identifizieren können“⁸⁷. Angesichts der „Verdrängung der Politik durch den Markt“⁸⁸ im globalisierten Finanzmarktkapitalismus wusste Habermas jedoch um die Schwierigkeiten dieser – um es zugespitzt zu formulieren – Überführung nationaler Leitkulturen in abstrakte verfassungspatriotischen Projekte, die er nicht zuletzt unter Bezugnahme auf Dahrendorfs Losung von der „Quadratur des Kreises“ zu verdeutlichen versuchte. Gegen eine „Politik des Einigelns“ und den „postmodernen Neoliberalismus“, wie ihn laut Habermas smarte Managertypen wie Bill Clinton oder Tony Blair repräsentierten, legte seine Analyse am Übergang zum 21. Jahrhundert hingegen eine großangelegte „Strategie nahe, die der perspektivlosen Anpassung an Imperative der Standortkonkurrenz mit dem Entwurf einer transnationalen Politik des Einholens und Einhegens globaler Netzwerke begegnet“⁸⁹. Demzufolge musste es gelingen, „in der postnationalen Konstellation neue“ – das hieß über den Nationalstaat hinausweisende – „Formen einer demokratischen Selbststeuerung der Gesellschaft zu entwickeln“⁹⁰. Ein erster wichtiger Schritt war in dieser Hinsicht weniger die vorerst unwahrscheinliche Verwirklichung der Weltbürgergesellschaft, sondern die Ingangsetzung eines Lernprozesses, „der zu einer europäisch erweiterten Solidarität von Staatsbürgern führen soll“⁹¹. Deshalb beschwört Habermas seit Beginn der 90er im Prinzip ja auch gebetsmühlenhaft die demokratische Vertiefung der Europäischen Union und hat

       

Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 110. Ebd. Ebd. S. 111. Ebd. S. 114. Ebd. S. 120. Ebd. S. 124. Ebd. S. 134. Ebd. S. 155.

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im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise zuletzt folgerichtig erklärt, die Umstellung der „europäischen Einigung von einem Elitenprojekt auf den Bürgermodus“ sei mittlerweile „seit mehr als zwei Jahrzehnten“⁹² sein politisches Lebensprojekt. Im Unterschied zum „skeptischen Europäer“⁹³ Dahrendorf, der „die zu sehr nach innen gewandte Politik, das schwerwiegende Fehlen demokratischer Verantwortlichkeit, die zunehmend unerträgliche Lücke zwischen Aspirationen und Realitäten“⁹⁴ am Prozess der Europäischen Integration seit dem Vertrag von Maastricht für irreparabel hielt, hatte Habermas schon im Jahr der Deutschen Einheit in einer idealistischen Vorwärtsverteidigung einen „europäische[n] Verfassungspatriotismus“ gefordert, der „aus verschiedenen nationalgeschichtlich imprägnierten Deutungen derselben universalistischen Rechtsprinzipien zusammenwachsen“⁹⁵ solle. Neu klang daran vor allem auch das implizit mitgeführte elitentheoretische Argument: Habermas erhoffte sich im Geiste Tocquevilles von einer verfassungsmäßigen institutionellen Vertiefung der Europäischen Union „eine induzierende Wirkung“⁹⁶, damit sich auf lange Sicht ein inklusions- und integrationsfreundlicher Sozialcharakter innerhalb der Mitgliedsstaaten kollektiv ausbreiten werde. An dieser Idee einer demokratischen Konstitutionalisierung Europas hält er bis heute demonstrativ fest. Habermas’ Kritik zielte zuletzt vor allem auf die Krisenpolitik der europäischen Staats- und Regierungschefs unter Führung Angela Merkels, durch die die südeuropäischen Schuldenstaaten in einen „technokratischen Sog“ geraten seien und einem „zweifelhaften Ideal einer marktkonformen Demokratie“ hätten Folge leisten müssen, „die ohne Verankerung in einer politisch mobilisierbaren Gesellschaft den Imperativen der Märkte umso widerstandsloser ausgesetzt“⁹⁷ sei. Bereits 2011 hat Habermas in seinem Essay Zur Verfassung Europas die „technokratische Selbstermächtigung eines kerneuropäischen Rates, der mit seinen informellen Beschlüssen an den Verträgen“⁹⁸ vorbeiregiere, als „‚Exekutivföderalismus‘ der besonderen Art“ kritisiert, weil sich darin „die Scheu der politischen Eliten“ spiegele, „das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der breiten Öffentlichkeit umzupolen“⁹⁹.

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Habermas, Im Sog der Technokratie, S. 86, Fn. 2. Dahrendorf, „Warum EUropa? Nachdenkliche Anmerkungen eines skeptischen Europäers“. Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte, S. 157. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 651. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 191. Habermas, Im Sog der Technokratie, S. 92. Habermas, Zur Verfassung Europas, S. 42. Ebd. S. 43.

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Während Dahrendorf allein in der globalen Absicherung rechtsstaatlicher Strukturen ein letztes Bollwerk gegen die Anfechtungen des westlichen Universalismus erblickte – und damit inhaltlich paradoxerweise in die Nähe des späten Horkheimer rückte –, vertraut Habermas seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geradezu blind auf die Vernunft einer europaweiten demokratischen Öffentlichkeit. Allerdings scheint dem Demos die Fähigkeit zur Abwägung guter Gründe im Strudel der Globalisierung abhanden gekommen zu sein.¹⁰⁰ Der versierteste Frankfurter Schüler hat die dialektische These seiner Lehrmeister Horkheimer und Adorno also womöglich ein wenig zu voreilig verabschiedet. Im Philosophischen Diskurs der Moderne lautete Habermas’ Verdikt, dass „die Dialektik der Aufklärung dem vernünftigen Gehalt der kulturellen Moderne, der in den bürgerlichen Idealen festgehalten […] worden ist, nicht gerecht“¹⁰¹ werde. Damit spielte er, der während des Positivismusstreits der 60er noch im Gleichschritt mit Adorno den Kritischen Theoretiker gegeben hatte, nun aber längst in die Rolle des idealistischen Demokratie- und Diskurstheoretikers geschlüpft war, auf die Segnungen der „universalistischen Grundlagen von Recht und Moral“ an, „die in den Institutionen der Verfassungsstaaten, in Formen -demokratischer Willensbildung, in individualistischen Mustern der Identitätsbildung auch eine (wie immer verzerrte und unvollkommene) Verkörperung gefunden“¹⁰² hätten. So optimistisch dieser kantische Republikanismus auch klingen mochte, setzte mit ihm und dem „Godesberg der Kritischen Theorie“¹⁰³ unverkennbar Habermas‘ liberales Rückzugsgefecht ein. Aus dem Abstand eines Vierteljahrhunderts lässt sich heute nur mehr mit Wehmut verfolgen, wie sich nicht nur seine, sondern auch Dahrendorfs demokratietheoretische Hoffnungen „im Dampfbad des Volksempfindens“ (Dahrendorf) auflösen.

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Vgl. dazu bereits die Überlegungen in Hansl, „Lüge, Bluff & Co.“. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 137 f. Ebd. S. 138. Vgl. Fischer/Ottow, „Das ‚Godesberg‘ der Kritischen Theorie“.

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Register Abelshauser, Werner 175 Abendroth, Wolfgang 32, 39, 69, 85, 109 ff., 133, 141, 180, 184, 186, 194, 238, 241 Adenauer, Konrad 5, 38 ff., 48 f., 62, 73, 81, 84, 87 ff., 95, 97 ff., 104 ff., 118, 120, 126, 129, 132, 141, 143, 149, 156, 159, 166, 181, 186, 194, 267, 297, 309 Adorno, Theodor W. 5, 7, 16 ff., 21 ff., 25, 30 ff., 38, 42 ff., 62, 64 f., 70, 76 ff., 83, 85, 95 f., 106, 116, 119, 132, 163, 171 ff., 178 f., 185 f., 189 ff., 196, 248, 305, 328, 333 Agartz, Viktor 109 Albers, Gerd 241 Albert, Hans 80 Altmann, Rüdiger 133 f., 149, 168 Altvater, Elmar 207 Anders, Günther 116 Anderson, Perry 18 Appadurai, Arjun 328 f. Arendt, Hannah 306 Arndt, Adolf 236 Arndt, Klaus-Dieter 161 Aron, Raymond 138 f., 318 Arrow, Kenneth 50 Augstein, Rudolf 182 Bachmann, Josef 163 Bahrdt, Hans Paul 35 Baring, Arnulf 167 Bebel, August 240 Bell, Daniel 86 Benjamin, Walter 95 Benn, Tony 225 Bentham, Jeremy 100 Bergmann, Joachim 173 Berlin, Isaiah 138 Bernstein, Eduard 240 Besson, Waldemar 166 Beveridge, William Henry 311 Biebricher, Thomas 230 Bismarck, Otto von 144 Blair, Tony 312 https://doi.org/10.1515/9783110711615-006

Blüm, Norbert 301 Bohrer, Karl Heinz 182, 315 f. Bolte, Karl Martin 57 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 260, 280 ff. Böhm, Franz 106 Böll, Heinrich 267 Bösch, Frank 263 Brandt, Gerhard 173, 179 Brandt, Willy 4, 11, 110, 158, 165 f., 194, 199 ff., 211 ff., 228 ff., 235 ff., 245, 255, 261, 267 f., 270, 276, 297, 308, 312 Braun, Siegfried 35 Breschnew, Leonid 300 Buchanan, James 273 Burke, Edmund 100, 118, 121 Burnham, James 59 Callaghan, James 225, 227 f., 295 Carter, Jimmy 258 Cassirer, Ernst 152 Clinton, Bill 331 Crosland, Anthony 225 Dahrendorf, Gustav 93 Dahrendorf, Ralf passim Derrida, Jacques 320 Descartes, René 96 Doering-Manteuffel, Anselm 9 Dregger, Alfred 276 Dutschke, Rudi 85, 163 f., 180 ff., 194 f. Ehmke, Horst 212 f., 219, 223, 265 f. Eichmann, Adolf 88 Engels, Friedrich 29, 36, 40, 49, 204, 278 Ensslin, Gudrun 182 Enzensberger, Hans Magnus 92 Eppler, Erhard 267 Erhard, Ludwig 84, 109, 133 f., 141, 144, 148 ff., 153, 159 ff., 166 ff., 187, 267, 272, 309 Erler, Fritz 110 Forsthoff, Ernst

111 ff., 116, 118, 255

Register

Frank, Hans 97 Freud, Sigmund 20, 22, 38 Freyer, Hans 116 Friedeburg, Ludwig von 35 Friedman, Milton 9, 50 f., 216, 274, 327 Fukuyama, Francis 313 Gadamer, Hans Georg 36 Gehlen, Arnold 150 ff., 155, 191, 277 Geiger, Theodor 59 Geißler, Heiner 301 Genscher, Hans-Dietrich 285, 300, 306 Globke, Hans 166 Grass, Günter 267 Greiffenhagen, Martin 230 Guevara, Ernesto „Che“ 194 Guillaume, Günther 230 Guizot, François 100 Gumbrecht, Hans Ulrich 84 Günther, Frieder 88 Habermas, Jürgen passim Hahn, Wilhelm 166, 241 Hacke, Jens 5, 85, 137 f., 151, 167, 201 f. Haider, Jörg 329 Hausner, Siegfried 276 Hayek, Friedrich A. 6, 51, 137, 139, 146, 265, 291, 313 Healey, Denis 227 Heath, Edward 220, 224 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3, 27 ff., 36 f., 65, 78, 88, 147, 153, 191 Heidegger, Martin 25, 43, 85, 89, 95 ff., 150 Heinemann, Gustav 267 Heller, Hermann 112 Hennis, Wilhelm 92 f., 118, 127 ff., 228, 231, 234 ff., 250, 252 ff., 259, 263, 265 ff., 273 f., 323 Herbert, Ulrich 15 Hertfelder, Thomas 310 Heuss, Theodor 32 Hirsch, Joachim 207 Hobbes, Thomas 7, 61, 70, 84, 119 ff., 155 Hobsbawm, Eric 318 Hochhuth, Rolf 150 Hodenberg, Christina von 91, 116, 146 Hofstätter, Peter 48

351

Horkheimer, Max 5 ff., 16 ff., 30 ff., 42 ff., 47 ff., 71, 82 f., 95, 109, 119, 132, 147, 173, 333 Höhn, Reinhard 97 Huxley, Aldous 81 Jay, Martin 18, 21 Jochimsen, Reimut 212 f. Johnson, Lyndon B. 199 Jünger, Ernst 89, 95 Jüres, Ernst August 35 Kaden, Wolfgang 218 Kalmbach, Peter 246 Kant, Immanuel 29, 73, 75, 77, 92, 115, 124 ff., 147, 290, 323, 325, 333 Kennedy, Ellen 323 Kennedy, John F. 160 Kesting, Hanno 35, 119 Keynes, John Maynard/Keynesianismus 9, 13, 41, 55, 110, 160 ff., 166 f., 170 f., 173 ff., 188 f., 192 f., 197, 199 ff., 203, 205 f., 208, 211, 216 ff., 223 f., 226, 228, 244, 262, 265, 282, 294 f., 300, 311 Kielmansegg, Peter Graf 85, 263, 281 f. Kiesinger, Kurt Georg 162, 165 ff., 212, 214 Kirchheimer, Otto 110, 173 Klaue, Magnus 34 Koellreutter, Otto 97 Kohl, Helmut 4, 11, 218, 267, 274, 297 f., 300, 311, 322 Kolb, Walter 32 Kołakowski, Leszek 185 Koselleck, Reinhart 92 f., 116 ff., 121 ff. König, Helmut 146 König, Josef 80 König, René 63, 77 Körber, Klaus 173 Krahl, Hans-Jürgen 172, 181 f., 185, 194 f. Krastev, Ivan 328 Kurras, Karl-Heinz 180 Lambsdorff, Otto Graf 246, 297, 301, 308 Landshut, Siegfried 55 Lassalle, Ferdinand 140, 240 Lazarsfeld, Paul 45 Le Pen, Jean-Marie 329

352

Register

Lenin, Wladimir Iljitsch 29, 103 Leonhard, Jörn 319 Lepsius, Rainer 35 Liebknecht, Karl 240 List, Friedrich 146 Locke, John 8, 101, 254, 321 Lockwood, David 31 Lorig, Wolfgang 277 Löwenthal, Richard 251 Luhmann, Niklas 2, 52, 66, 202, 207, 233 f., 240, 252, 283, 286 Lukács, Georg 5, 16, 26 f., 37 Lutz, Burkart 35 Lübbe, Hermann 231, 241 f., 268 Macmillan, Harold 224 Madison, James 322 Maier, Hans 241 Mandel, Ernest 207 Mann, Golo 241 Mannheim, Karl 45, 53 Marcuse, Herbert 83, 172, 188, 194 Marshall, Thomas H. 50, 58 f., 137 Marx, Karl/Marxismus 5, 7, 16 ff., 22 ff., 33, 35 ff., 43, 48 f., 51, 57 ff., 62, 68 ff., 75, 78, 83, 103, 109 f., 125, 157, 159, 172, 174 ff., 182, 185, 189, 192 f., 195, 202, 207 f., 235, 256, 263, 266, 271, 278, 282, 286, 288, 292, 301, 306, 320, 324, 326 Matz, Ulrich 263 Mayntz, Renate 214 Mehring, Reinhard 99, 102 Meifort, Franziska 12 f., 88 Mende, Erich 166, 168 Merkel, Angela 332 Merton, Robert K. 52 Michels, Robert 53 Mill, John Stuart 100 f., 135, 290, 323 Missfelder, Jan-Friedrich 124 Mohl, Ernst Theodor 173 Moses, A. Dirk 92 Möller, Axel 161, 200 Möllers, Christoph 329 Mussolini, Benito 103 Müller, Jan-Werner 97, 118, 231

Müller-Armack, Alfred Müller-Doohm, Stefan

160, 272 90, 173, 185 f.

Nachtwey, Oliver 55, 316, 326 f. Neckel, Sighard 326 Negt, Oskar 180, 183 Neumann, Franz 115 Nietzsche, Friedrich 22, 38 Oakeshott, Michael 255, 265 Oertzen, Peter von 245 f., 266 Offe, Claus 173 ff., 188 f., 194 ff., 202 ff., 211, 246, 248, 250, 263, 269 ff., 274 f., 280, Ohnesorg, Benno 180 Ollenhauer, Erich 267 Orwell, George 81 O’Connor, James 199 Parsons, Talcott 67 f., 72, 76, 286 Piketty, Thomas 325 Pirker, Theo 35 Popitz, Heinrich 27, 35 Popper, Karl 6, 23 f., 42, 49 ff., 54, 63, 74 ff., 84, 134, 138 ff., 214, 271, 313, 318 Preuß, Ulrich K. 194 Raphael, Lutz 9 Rawls, John 319 Reagan, Ronald 11, 300, 307, 311 Ritsert, Jürgen 78 Rohrmoser, Günther 301 Ross, Jan 3 Roosevelt, Franklin D. 51 Rousseau, Jean-Jacques 7, 61, 100, 115, 121, 126, 237, 323, 325 Scharpf, Fritz W. 214 Schäfer, Gerhard 65, 153 Scheel, Walter 12, 168 f., 219, 308 Scheler, Max 46 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 35 Schelsky, Helmut 2, 7, 9, 32, 55 ff., 63 ff., 77, 82, 88, 91, 116, 134, 150, 152 ff., 174, 191, 215, 228, 234 ff., 238 ff., 261 f., 270 f., 277 ff., 282 f. Scheuerman, William 104

Register

Schiller, Karl 110, 160 ff., 166, 175, 187, 193, 200, 205, 215, 218, 223, 248 Schlak, Stephan 92, 118 Schleyer, Hanns Martin 276 Schmid, Carlo 110 Schmidt, Helmut 4, 94, 214 ff., 228 f., 245, 250, 255, 257, 261, 265, 267, 270, 285, 296, 300, 309, 312 Schmitt, Carl 7, 87 ff., 95, 97 ff., 108, 110 ff., 114, 116 ff., 129, 132 ff., 149, 154 f., 252 f., 255, 260, 323, Schopenhauer, Arthur 38 Schröder, Gerhard 312 Schumacher, Kurt 109, 267 Schumpeter, Joseph A. 58, 72, 151 Schwarzschild, Leopold 26 Sen, Amartya 320 Sinzheimer, Hugo 112 Skarpelis-Sperk, Sigrid 246 Smend, Rudolf 108, 129, 133, 252, 254, 266 Smith, Adam 146, 321 Sontheimer, Kurt 279 Söllner, Alfons 6 Spaemann, Robert 240 f. Starbatty, Joachim 272 f. Stern, Fritz 141 Sternberger, Dolf 324

353

Stigler, George 50 f. Strauß, Franz-Josef 108, 160, 162, 268, 276, 296 Streeck, Wolfgang 202 f., 206, 211, 247 f. Thatcher, Margaret 11 ff., 138, 218, 224 f., 255, 291, 296, 301, 307, 311, 313 Thoma, Richard 102 Tocqueville, Alexis de 52, 68, 134 f., 292, 322 f., 332 Tullock, Gordon 273 Vesper, Bernward

182

Watrin, Christian 273 f. Weber, Klaus 170 Weber, Max 21 f., 53, 60, 68, 74 f., 81, 99, 103, 124, 151, 196, 253, 293, 299, 307 Weber, Werner 112 Wehner, Herbert 110, 228, 245 Weil, Felix 31 Weizsäcker, Carl-Friedrich von 279 Wiggershaus, Rolf 31 ff. Wilson, Harold 220, 222 f., 225 ff. Winkler, Heinrich August 319 Wolfrum, Edgar 148

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Florian Meinel und Lutz Raphael. Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revisionpolitik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: – – –

vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen.

Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: – – – –

den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert, die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.

Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: – – –



Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte Produktion besonders beachtet. Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.

Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

Band : Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen .  S. ISBN ---- Band : Thomas Sauer Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises . VII,  S. ISBN ---- Band : Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichenWerten und deutschen Denktraditionen .  S. ISBN ---- Band : Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der er Jahre . VIII,  S. ISBN ---- Band : Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im . und . Jahrhundert .  S. ISBN ---- Band : Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation  –  .  S. ISBN ----

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Band : Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands  –  .  S. und  S. Bildteil ISBN ---- Band : Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR  –  .  S. ISBN ---- Band : Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach  . VIII,  S. ISBN ---- Band : Martina Winkler Karel Kramář ( – ) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers .  S. ISBN ---- Band : Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den er Jahren .  S. ISBN ---- Band : Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland .  S. ISBN ----

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Ordnungssysteme

Band : Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB .  S. ISBN ---- Band : Christoph Weischer Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘ Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland . X,  S. ISBN ---- Band : Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration  –  .  S. ISBN ---- Band : Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung  –  .  S. ISBN ---- Band : Anuschka Albertz Exemplarisches Heldentum Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart .  S., zahlreiche Abb. ISBN ---- Band : Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des . Jahrhunderts .  S. ISBN ----

Band : Lorenz Erren „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin ( – ) .  S. ISBN ---- Band : Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte .  S. ISBN ---- Band : Thomas Großbölting „Im Reich der Arbeit“ Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen  –  .  S., zahlreiche Abb. ISBN ---- Band : Wolfgang Hardtwig (Hrsg.) Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands  –  .  S. ISBN ---- Band : Marcus M. Payk Der Geist der Demokratie Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn .  S. ISBN ---- Band : Rüdiger Graf Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland  –  .  S. ISBN ----

Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

Band : Jörn Leonhard Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten  –  . XIX,  S. ISBN ---- Band : Ruth Rosenberger Experten für Humankapital Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland .  S. ISBN ---- Band : Désirée Schauz Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge  –  .  S. ISBN ---- Band : Morten Reitmayer Elite Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik .  S. ISBN ----

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Band : Susanne Stein Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China,  –  . VIII,  Seiten,  Abb. ISBN ---- Band : Fernando Esposito Mythische Moderne Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien .  Seiten,  Abb. ISBN ---- Band : Silke Mende „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ Eine Geschichte der Gründungsgrünen . XII,  Seiten,  Abb. ISBN ---- Band : Wiebke Wiede Rasse im Buch Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik . VIII,  S.,  Abb. ISBN ----

Band : Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus Emel’jan Jaroslavskij ( – ) Band : .  S.,  Abb. ISBN ---- Rüdiger Bergien Die bellizistische Republik Band : Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Klaus Gestwa Deutschland  –  Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus .  S. ISBN ---- Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte,  –  Band : .  S.,  Abb. Claudia Kemper ISBN ---- Das „Gewissen“  –  Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen .  S. ISBN ----

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Ordnungssysteme

Band : Daniela Saxer Die Schärfung des Quellenblicks Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft  –  .  S.,  Abb. ISBN ----

Band : Malte Rolf Imperiale Herrschaft im Weichselland Das Königreich Polen im Russischen Imperium ( – ) .  S.,  Abb. ISBN ----

Band : Johannes Grützmacher Die Baikal-Amur-Magistrale Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev . IX,  S.,  Abb. ISBN ----

Band : Sabine Witt Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei  –  Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung .  S. ISBN ----

Band : Stephanie Kleiner Staatsaktion im Wunderland Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation ( – ) .  S.,  Abb. ISBN ----

Band : Stefan Guth Geschichte als Politik Der deutsch-polnische Historikerdialog im . Jahrhundert . VII,  S. ISBN ----

Band : Patricia Hertel Der erinnerte Halbmond Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im . und . Jahrhundert .  S.,  Abb. ISBN ---- Band : Till Kössler Kinder der Demokratie Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien,  –  .  S.,  Abb. ISBN ---- Band : Daniel Menning Standesgemäße Ordnung in der Moderne Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland  –  .  S.,  Abb. ISBN ----

Band : Gregor Feindt Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft Oppositionelles Denken zur Nation im ostmitteleuropäischen Samizdat  –  . XII,  S. ISBN ---- Band : Juri Auderset Transatlantischer Föderalismus Zur politischen Sprache des Föderalismus im Zeitalter der Revolution,  –  . XI,  S.,  Abb. ISBN ---- Band : Silke Martini Postimperiales Asien Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglophonen Weltöffentlichkeit  –  . XI,  S. ISBN ----

Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

Band : Sebastian Weinert Der Körper im Blick Gesundheitsausstellungen vom späten Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus . X,  S.,  Abb. ISBN ---- Band : D. Timothy Goering Friedrich Gogarten ( – ) Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege . XI,  S.,  Abb. ISBN ---- Band : Andrés Antolín Hofrichter Fremde Moderne Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft und nationale Narrative unter dem FrancoRegime,  –  . X,  S. ISBN ---- Band : Fabian Thunemann Verschwörungsdenken und Machtkalkül Herrschaft in Russland,  –  . X,  S. ISBN ---- Band : Anselm Doering-Manteuffel Konturen von Ordnung Ideengeschichtliche Zugänge zum . Jahrhundert . XVI,  S. ISBN ----

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Band : Almuth Ebke Britishness Die Debatte über nationale Identität in Großbritannien,  bis  . X,  S. ISBN ---- Band : David Schulz Die Natur der Geschichte Die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit und die Geschichtskonzeptionen zwischen Aufklärung und Moderne . VIII,  S. ISBN ---- Band : Christian Sammer Gesunde Menschen machen Die deutsch-deutsche Geschichte der Gesundheitsaufklärung,  –  .  S. ISBN ---- Band : Matthias Hansl Erschöpfte Utopien Dahrendorf, Habermas und das Ende der trente glorieuses .  S. ISBN ----