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German Pages 240 [247] Year 2014
Peter L. Berger Erlösendes Lachen
Peter L. Berger
Erlösendes Lachen Das Komische in der menschlichen Erfahrung
Übersetzt von Joachim Kalka 2. Auflage
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-035903-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035904-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038670-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Konrad Triltsch, Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dem Andenken meines Vaters, George W. Berger, gewidmet
Inhaltsübersicht Vorwort
IX
Vorbemerkungen, parteiische Erläuterungen in eigener Sache und ein paar XV Komplimente Prolog
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Teil I:
Anatomie des Komischen
Das Eindringen des Komischen in den Alltag
Philosophien des Komischen und die Komödie der Philosophie
Lachende Mönche: Ein ganz kurzes sino-japanologisches Intermezzo 38
Homo ridens: Physiologie und Psychologie
Homo ridiculus: Gesellschaftliche Konstruktionen des Komischen
Zwischenspiel: Gedanken zum jüdischen Humor
Teil II:
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43
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Ausdrucksformen des Komischen
Komik als Ablenkung: Gutmütiger Humor
Komik als Trost: Tragikomik
Komik als Spiel des Intellekts: Jeux d’Esprit
Komik als Waffe: die Satire
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Zwischenspiel: Die ewige Wiederkehr der Narrheit
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VIII
Inhaltsübersicht
Teil III: Auf dem Weg zu einer Theologie des Komischen Die Narrheit der Erlösung
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Zwischenspiel: Von grimmigen Theologen Das Komische als Signal der Transzendenz Epilog
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Anmerkungen zu den Kapiteln
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Vorwort Dieses Buch erschien erstmals 1997 in englischer Sprache. Es war ziemlich erfolgreich und wurde mehrfach übersetzt – ins Deutsche, Italienische, Spanische, Japanische – und Katalanische! Die letztgenannte Übersetzung ist und bleibt eine Quelle enormer Befriedigung für mich: Wie viele Autoren kennen Sie, deren Bücher ins Katalanische übersetzt wurden? Ich weiß freilich nicht, welche Aufnahme das Buch dort erfahren hat, aber ich stelle mir gerne vor, dass eine ganze Subkultur das Buch gelesen hat, deren Mitglieder sich wissend anlächeln, wenn sie irgendwo in den Straßen von Barcelona zufällig aufeinander treffen. Das Buch wurde 1996 vollendet und 1997 veröffentlicht. Also vor 18 Jahren – das ist eine wirklich lange Zeit. Ich habe damals immer augenzwinkernd gesagt, dass ich das Buch schreibe, während ich schon am Rande der Senilität herumstolpere. Nur: Wenn das damals wirklich so gewesen ist, dann sollte ich jetzt schon die Schwelle zur Demenz überschritten haben. Mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen, aber empirische Belege sprechen dagegen. DeGruyter veröffentlicht nämlich im September 2014 wieder ein neues Buch von mir – The Many Altars of Modernity -, das sich mit religiösem Pluralismus befasst. Mögen auch die Schlussfolgerungen in diesem Buch falsch sein, keinesfalls scheint es jedoch das Produkt eines sich auflösenden Intellekts zu sein. Wie auch immer, als ich das „Erlösende Lachen“ zur Vorbereitung dieses Vorworts zur zweiten Auflage wieder gelesen habe, hat mir gefallen, was ich damals geschrieben habe, und manche Stellen haben mich sogar zum Lachen gebracht. Trotzdem ließ mich das unangenehme Gefühl nicht los, dass ich gerade versuchte, die Leidenschaft in einer Liebesbeziehung wieder zu erwecken, die schon vor 18 Jahren erkaltet ist. Nach wie vor bin ich aber der Meinung, dass das Komische zur Essenz des Mensch-Seins gehört. Allerdings habe ich in all diesen Jahren auch nicht mehr systematisch darüber nachgedacht. Ich bin nicht sicher, ob ich etwas Neues dazu zu sagen habe, vielleicht mit Ausnahme einer Frage, die ich am Ende des Buches aufwerfe, ohne weiter auf sie einzugehen – und zwar, ob das Komische eine spezifisch moderne Form hat. Darauf werde ich noch zurückkommen. (Und: Nein, ich erörtere diese Frage nicht in meinem neuesten Buch. Wie Figaro im „Barbier von Sevilla“ singt: „Uno a la volta, uno a la volta“, also ein Kunde nach dem anderen für einen Haarschnitt, respektive für die Antwort auf eine letzte Frage). Ich bin nicht überzeugt davon, dass die Freudianische Sicht der Psyche als eine Art hydraulisches System wirklich valide ist – man drückt etwas hinunter und es springt an anderer Stelle wieder herauf. Aber in seinem Buch über den Witz zieht Freud einen interessanten Vergleich zwischen Witzen und Träumen – beide sind ökonomische Wege, um komplizierte Realitäten in eine sehr verkürzte
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Vorwort
symbolische Form zu komprimieren. Oft genug verdeutlicht dieser Prozess in zugespitzter Form die eigentliche Natur dieser Realitäten. Anders gesagt, Witze – lassen wir die Träume einmal beiseite – haben eine kognitive Funktion: Sie ermöglichen es, Dimensionen der Welt zu erkennen, die einem bis dahin entgangen waren. Um das an einem Beispiel festzumachen (freie Assoziation ist nun einmal Teil meines kognitiven Stils): Einmal fragte ich einen Freund in Barcelona – er war übrigens derjenige, der die eingangs erwähnte Übersetzung ins Katalanische gemacht hat: „Warum wollen sich so viele Ihrer Landsleute von Spanien loslösen? Seit dem Ende der Franco-Diktatur ist Spanien doch eine recht ordentliche Gesellschaft geworden.“ Er antwortete: „Ich erzähle Ihnen einen Witz. Wenn Sie ihn verstehen, dann werden Sie auch die Tiefe unseres Ressentiments gegen die Spanier verstehen.“ Vier Passagiere sitzen in einem Zugsabteil – eine attraktive Katalanin mittleren Alters; ihre sehr attraktive, erwachsene Tochter; ein Katalane, der die beiden Frauen nicht kennt, und ein Spanier. Der Zug fährt durch einen Tunnel und das Abteil ist für ein paar Momente völlig dunkel. Plötzlich hört man eine schallende Ohrfeige. Was denken die vier Passagiere in diesem Moment? Die ältere Frau denkt: „Ich habe meine Tochter wirklich gut erzogen. Sie kann auf sich aufpassen.“ Die Tochter denkt: „Das ist jetzt aber ein bisschen ärgerlich. Die Avancen hätten doch mir gelten sollen!“ Der Spanier denkt: „Diese katalanischen Frauen sind vollkommen verrückt. Du schaust sie gerade einmal an und schon beginnen sie, auf dich einzuschlagen.“ Der Katalane denkt: „Noch vier Tunnel bis Madrid!“ Als ich dieses Buch geschrieben habe, wollte ich herausfinden, wie verschiedene Disziplinen, besonders die Philosophie und die Psychologie, mit dem Komischen umgehen. Die Recherche brachte wenig zufriedenstellende Resultate. Seltener als ich erwartet hätte, haben sich interessante Autoren damit beschäftigt, und sie stimmten inhaltlich auch nur selten überein. Nur eine Idee kam in verschiedenen Varianten immer wieder vor: Wahrnehmung unter dem Gesichtspunkt des Komischen fokussiert speziell auf Inkongruenz – zwischen dem Professor, der eine Vorlesung über ein tiefschürfendes Thema hält und gleichzeitig versucht, seine Erektion zu verbergen, oder dem Politiker, dessen feurige Rede von einem nicht enden wollenden Niesanfall unterbrochen wird, etc. Ich stellte die Behauptung auf, dass in der komischen Erkenntnis eine grundlegende Inkongruenz offenbart wird – die des Menschen – dieses Wesens, das in absurder Weise (um mit Pascal zu sprechen) zwischen dem Nichts und dem Unendlichen angesiedelt ist, der versucht die letzte Bedeutung des Universums zu verstehen. Ich argumentierte weiter, dass die komische Erkenntnis eine kosmische Dimension hat und in dieser Hinsicht, wenn schon nicht direkt religiös, so doch eine Art Andeutung eines religiösen Glaubens ist. Von allem, was ich gelesen habe, kommt Kierkegaard dieser Erkenntnis am nächsten. Man könnte sagen (bevor man noch theologische
Vorwort
XI
Interpretationen vornimmt), dass Religion die atemberaubende Prämisse oder Einsicht ist, dass das Universum nicht sinnlos ist, und dass sein Sinn wohlwollend gegenüber der Menschheit ist. Enid Welsford hat diese Sicht der Dinge als Fazit ihrer wunderbaren Geschichte des Narren in einem Satz zusammengefasst: In der Wahrnehmung des Glaubens ist die Komödie tiefer als die Tragödie. Über all dies habe ich meine Ansichten seit der Zeit, als ich „Erlösendes Lachen“ geschrieben habe, nicht geändert. Um dies noch weiter zu untermauern, kann ich meine ursprüngliche Analyse des Buchs mit aktuelleren Beispielen von Witzen mit kognitivem Effekt belegen: Präsident Obama ruft einen seiner Mitarbeiter zu sich und sagt: „Fliege nach Jerusalem, mach dort, was immer auch notwendig ist, damit ich das Recht bekomme, in der Grabeskirche in Jerusalem begraben zu werden, gleich neben dem Grab, in dem, wie man annimmt, Jesus begraben wurde.“ Nach einer Woche kehrt der Mitarbeiter zurück und berichtet Obama: „Also, der Auftrag ist erfüllt. Sie haben jetzt das Recht, in der Grabeskirche begraben zu werden. Aber ich muss Sie warnen: das wird sehr teuer.“ „Wie teuer?“, fragt Obama. Der Mitarbeiter antwortet: „Eine Milliarde Euro.“ Da schreit Obama auf: „Was? Für nur zwei Nächte?“. Während seine messianische Aura in letzter Zeit etwas verblasst ist, scheint die Hybris überdauert zu haben. In einem anderen Witz aus Mitt Romneys Wahlkampf 2012 sieht ein Barkeeper einen Mann aus dem republikanischen Establishment, einen Tea Party-Aktivisten, einen libertären Republikaner und einen New England-Liberalen in die Bar eintreten. Was sagt der Barkeeper? „Hallo, Mitt!“ Und noch einer: Zwei russische Oligarchen treffen einander am Roten Platz in Moskau. Einer kommt gerade aus Paris zurück und sagt: „Schau. Diese Krawatte habe ich in den Galleries Lafayette um 100 Euro gekauft.“ Sagt sein Freund: „Dafür musst Du nicht nach Paris fahren. Du hättest exakt die gleiche Krawatte hier gleich um die Ecke kaufen können – sogar für 300 Euro!“ In den letzten Jahren habe ich mich intensiv damit beschäftigt, ein neues Paradigma für das Verhältnis zwischen Moderne und Religion zu entwickeln. Dabei spielte das Komische keine besondere Rolle. Allerdings, wenn ich zusammenführe, worüber ich vor 18 Jahren gearbeitet habe und was mich heute am meisten beschäftigt, dann ergibt sich eine faszinierende Frage: Hat die Moderne einen erkennbaren Einfluss auf die Erfahrung des Komischen? Ich würde meinen, dass die kulturelle Globalisierung dabei eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte das mit zwei Erlebnissen aus der letzten Zeit belegen. Als ich vor kurzem in Tokio war, hatte ich etwas freie Zeit und kam bei einem Kino vorbei, wo ein Film mit Woody Allen lief.Weil ich nichts anderes zu tun hatte, ging ich hinein. Der Film hatte keine Untertitel, sondern war zur Gänze japanisch synchronisiert. Zuerst musste ich mit der Inkongruenz zu Recht kommen, Woody Allen Japanisch sprechen zu hören. Aber dann war ich beeindruckt, dass das Publikum vor Lachen
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Vorwort
tobte. Ich hatte davor immer wieder erlebt, dass westlicher Humor bei einem japanischen Publikum nicht ankommt – und umgekehrt. (Für mich ist es extrem schwierig, einen Vortrag zu halten, ohne zumindest einen oder zwei Witze zu erzählen. Und da bringt es einen ziemlich aus der Fassung, wenn man das tut und man trotzdem mehreren Reihen ernster Gesichter gegenübersteht und niemand lacht.) Könnte es sein, dass diese Menschen, die den Woody Allen-Film anschauten, lachten, nur weil es von ihnen erwartet wurde? Das ist ziemlich unwahrscheinlich, da es sich ja um anonyme Zuschauer in einem öffentlichen Kino handelte. Nein, ich kam zur Ansicht, dass die Menschen lachten, weil sie den Film lustig fanden. Woody Allen ist allerdings nicht nur eine unzweifelhaft amerikanische Erscheinung, er ist auch der Vertreter eines spezifisch New Yorker/jüdischen Sinns für Komik. Dieser hat sich in letzter Zeit in Amerika stark verbreitet, zumindest unter Angehörigen der oberen Mittelschicht mit College-Bildung – man könnte dieses Phänomen „Jüdischen Chic“ nennen. Das erinnert mich an einen alten Essay von Leslie Fiedler, in dem er die Ansicht vertritt, dass die Jüdische Kultur (inklusive ihres Humors) das Produkt von sozialer Marginalisierung ist. Jetzt sind in gewisser Hinsicht alle Amerikaner marginalisiert, da die verbindende Leitkultur, der gegenüber die jüdische Kultur marginal war, verschwunden ist; das würde die Verbreitung jüdischer kultureller Züge über ihre alten ethnischen Grenzen hinaus erklären. Das mag für Amerika gelten. Aber für Tokio? Das zweite Erlebnis: Ich hielt einen Vortrag bei einer Konferenz von jungen Führungskräften eines großen internationalen Consulting-Unternehmens. Natürlich war die Konferenz-Sprache Englisch, tatsächlich sogar AmerikanischEnglisch. Mich beeindruckte, wie die Konferenzteilnehmer einander ähnelten. Alles junge Menschen aus vielen verschiedenen Ländern, aus verschiedenen Ethnien, mit unterschiedlichem Akzent, und doch sahen sie alle irgendwie gleich aus. Ihre Kommunikation verlief auf einer Ebene, sie hatten die gleiche Körpersprache; alle zweifellos existierenden religiösen oder kulturellen Unterschiede blieben aus der Kommunikation ausgeblendet und – wobei mich das auch damals ungeheuer beeindruckte – sie lachten über dieselben Witze. Das ist natürlich nur ein Teil eines viel größeren Phänomens – einer weitverbreiteten globalen Kultur, die ursprünglich in Inhalt und Tonalität amerikanisch war, sich aber seither in ein Amalgam verwandelt hat, das von seinem ursprünglichen Entstehungsort vollkommen unabhängig wurde. Samuel Huntington hat es treffend die „Davos Kultur“ genannt. Im Gegensatz zu dem, was sowohl konservative als auch progressive Kulturkritiker gemeint haben, bedeutet das nicht, dass eine synthetische globale Kultur alles andere hinwegfegt. Japaner, die über einen Woody Allen Film lachen, werden sicher den sehr subtilen Humor des traditionellen japanischen Theaters in gleicher Weise schätzen. Das weltweite Spektrum von Kulturen, die sich aneinander reiben,
Vorwort
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schafft ganz eigene Inkongruenzen, von denen manche schon wieder komisch sind. Vor ein paar Jahren habe ich in Hong Kong einen Buddhistischen Tempel besucht.Vor einer großen Buddha-Statue stand dort gebeugten Kopfes ein Chinese mittleren Alters, der in der einen Hand ein Räucherstäbchen hielt, in der anderen ein Mobiltelephon, in das er auch hineinsprach (wie ich annehme, wohl eher nicht zu einem übernatürlichen Wesen). Oder: Nicht weit von meinem Haus in einem Bostoner Vorort kann man in einem Restaurant essen, das sich selbst als „glattkoscher chinesisch“ bezeichnet. Der „Davos Kultur“ gehören die Mitglieder einer globalen Elite an oder auch jene (und das sind viel mehr), die hoffen, dass sie einmal dazu gehören werden. Das globale Pfingstlertum, das ich für die am schnellsten wachsende Religion halte, die es je gegeben hat, ist das weitgehend nicht-elitäre Phänomen einer kulturellen Synthese mit ganz eigenen Inkongruenzen. In Guatemala kann man Gottesdienste besuchen, in denen amerikanische Erweckungshymnen in MayaSprache gesungen werden. Südkoreanische Missionare mit Todestrieb schmuggeln Bibeln und protestantische Schriften nach Afghanistan. Die Hälfte aller Mormonen weltweit lebt heutzutage außerhalb der Vereinigten Staaten, die höchste Dichte gibt es – fragen Sie mich nicht, warum – im Südpazifik. Ein verbindlich gewordener globaler säkularer Diskurs steht in Konkurrenz zu einer Vielfalt von religiösen Diskursen. Moderne Naturalisten schauen hinunter auf angeblich rückschrittliche Supernaturalisten und machen Witze über sie. Aber die Letztgenannten machen auch Witze über jene, die übernatürliche Wirklichkeiten in Abrede stellen. Hier ist ein Beispiel dafür: Eine Kreationist unterhält sich mit einem Darwinisten. Der Darwinist sagt: „Mein Ur-ur-ur-ur-Großvater war ein kleines, fischähnliches Geschöpf, das vor Millionen Jahren aus dem Meer gekrochen ist und die Evolution auf dem Festland begonnen hat.“ Der Kreationist antwortet: „Mein Ur-ur-ur-ur-Großvater hieß Adam und er hätte Deinen Ur-ur-urur-Großvater einfach zertreten sollen.“ Sollte es ein übernatürliches Wesen geben,wird es wohl das letzte Wort haben. Da dies aber mein Vorwort ist, habe das letzte Wort ich – und zwar in Form eines Witzes. Ein Mann kommt zu einem Psychiater und sagt: „Ich leide unter einer schrecklichen Angst, die mein ganzes Leben beeinträchtigt. Ich fürchte, dass ich, wenn ich niese,verschwinden werde. Meistens ist das gar nicht so schlimm; ich bin nicht oft verkühlt. Aber während der Pollensaison bekomme ich Panikattacken. Wir haben jetzt gerade einen sehr intensiven Pollenflug. Können Sie mir helfen?“ Der Psychiater nimmt sich des Patienten an. Zuerst verschreibt er ihm ein schweres Medikament, das Nasenirritationen verhindern soll. Aber er meint, dass man unbedingt zu den Ursachen dieser eigenartigen Phobie durchdringen müsse. So verbringen sie zwei Jahre mit intensiver Psychotherapie, entdecken alle relevanten Kindheitstraumata und landen schließlich genau bei jener Episode, die beide für
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Vorwort
die mögliche Ursache der Neurose halten. Sie arbeiten sie auf. In der letzten Sitzung schließlich fragt der Patient: „Glauben Sie, dass ich von meiner Angst jetzt wirklich befreit bin?“ „Ja, das glaube ich,“ antwortet der Psychiater. Da sagt der Patient: „Wir haben heute ein wirklich schlimmes Pollenwetter. Ich glaube, ich kann absichtlich niesen. Nur um zu sehen, ob ich wirklich geheilt bin: Dürfte ich bitte einmal hier in Ihrer Ordination niesen?“ Der Psychiater nickt ermutigend. Der Patient niest… und verschwindet.
Vorbemerkungen, parteiische Erläuterungen in eigener Sache und ein paar Komplimente Wer in einer Buchhandlung arbeitet, neigt zum Pessimismus, das ergeben jedenfalls meine Beobachtungen. Dies ist auch sehr verständlich, bedenkt man die Quantität und meist auch die Qualität dessen, was dort verkauft werden muß. Und dazu kommt noch das Problem der Klassifikation. Wo genau soll ein bestimmter Titel eingestellt werden? Ich sehe schon voraus, daß sich bei dem vorliegenden Buch diese Frage in besonders irritierender Weise stellen wird, und daß es so noch zur depressiven Stimmung in einem Berufsstand beiträgt, den ich zu den wenigen ehrenwerten unseres trübseligen Zeitalters zähle. Soll dieses Buch in die Kategorie „Humor“? „Religion“? „Soziologie“? Die vielen jüdischen Witze könnten auf „Judaica“ hindeuten, die Verteidigung Oscar Wildes auf „Schwule Literatur“. Folgt man der literarischen Theorie, die augenblicklich en vogue ist, dann wäre allerdings der Autor der letzte, der sagen dürfte, wie man sein Buch verstehen soll. Trotzdem möchte ich, falls eine solche Wahl getroffen werden muß, eine Aufteilung vorschlagen: ein paar Exemplare unter Humor, ein paar unter Religion. Es geht hier sicherlich um Humor, und die dem Buch zugrundeliegende Argumentation und sein Finale sind religiöser Natur, was sein Titel auch von Anfang an klarmachen möchte. Wer Bücher rezensiert, neigt natürlich noch mehr zum Pessimismus als der Buchhändler. Wie einmal jemand bemerkt hat: Unparteiische Bosheit ist die Haupttugend des Kritikers. Dieses Buch läßt der Betätigung dieser Tugend breiten Raum. Es bezieht sein Material aus vielen Bereichen, in denen ich meistens keine besondere fachliche Kompetenz besitze. Ich habe mich bemüht, meine Quellen nicht unverantwortlich zu gebrauchen, und habe mir den einen oder anderen Rat geholt, aber ich bin sicher, daß es an verschiedenen Punkten meiner Argumentation Fehlinterpretationen und (was noch schwerer wiegt) Auslassungen gibt. Diese Gewißheit hat mich häufig bekümmert. Ich habe mich mit zwei Erwägungen getröstet. Einmal ist die Literatur zum Wesen des Komischen zwar groß, aber außerordentlich unbefriedigend, was Antworten auf einige der grundlegenden Fragen zu diesem Phänomen betrifft – teilweise eben deshalb, weil so wenige Autoren bereit gewesen sind, die Grenzen ihrer Fachkompetenz auch einmal zu überschreiten. Mit anderen Worten: Die Komik ist ein Gegenstand, der nach unprofessioneller Behandlung schreit. Und zweitens habe ich ein Alter erreicht, wo ich es mir am Rande der Senilität leisten kann, mit Nonchalance darauf zu reagieren, was die Leute über mich sagen. Ich will allerdings zu meiner Verteidigung anführen: Während ich nicht die Illusion habe, eine Art uomo universale zu sein, verfüge ich andererseits über gewisse Obsessionen. Die Frage nach dem Wesen des
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Vorbemerkungen, parteiische Erläuterungen in eigener Sache
Komischen hat mich mein ganzes Leben lang obsessiv beschäftigt – seit mein Vater, ein unermüdlicher Witzeerzähler, mich ermunterte, meine eigenen Witze zu machen (etwa zu dem Zeitpunkt, als ich in den Kindergarten kam, wo ich, zuverlässigen Quellen zufolge, durch getreuliches Befolgen des väterlichen Gebotes unangenehm auffiel). Früher oder später mußte ich dieses Buch schreiben. Es läßt sich leicht sagen,was dieses Buch nicht ist. Es ist keine Witzsammlung, obwohl ich sehr hoffe, daß die Leser gelegentlich lachen werden. Man könnte sagen, es sei ein Buch über Humor, aber nicht in erster Linie ein humorvolles Buch. Es ist keine Untersuchung im strengen Rahmen einer der Wissenschaften, auf welche es sich bezieht, und meine eigene Disziplin, die Soziologie, ist für die zentrale These gar nicht von entscheidender Bedeutung. Und während ich hauptsächlich Werke der Literatur zitiere, um verschiedene Formen des Komischen zu erläutern, handelt es sich hier nicht um einen literaturwissenschaftlichen Versuch. Dieses Buch ist eine ausgedehnte Reflexion über das Wesen des Komischen als eine entscheidende menschliche Erfahrung. Sein hauptsächlicher Argumentationsgang läßt sich knapp zusammenfassen: Humor – das heißt: die Fähigkeit, etwas als komisch wahrzunehmen – ist universell; es hat keine menschliche Kultur ohne diesen Faktor gegeben. Man kann diesen Zug mit Sicherheit als notwendigen Bestandteil des menschlichen Wesens betrachten. Gleichzeitig gibt es zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gesellschaften enorme Unterschiede in dem, was den Menschen komisch erscheint, und was sie tun, um Komik zu erzeugen. Anders ausgedrückt: Komik ist eine anthropologische Konstante und historisch relativ. Doch hinter aller Relativität liegt etwas, von dem man glaubt, daß der Humor, das Gefühl für Komik, es wahrnimmt. Genau das ist das Phänomen des Komischen (welches sozusagen das objektive Korrelat des Humors, der subjektiven Wahrnehmungsfähigkeit, ist). Von seinen schlichtesten bis zu den komplexesten Verkörperungen wird das Komische als Inkongruenz wahrgenommen. Auch beschwört das Komische eine eigene Welt herauf, die sich von der Welt der gewöhnlichen Realität unterscheidet und anderen Regeln folgt. In der Welt des Komischen sind die Begrenzungen der menschlichen Existenz auf wunderbare Weise aufgehoben. Die Erfahrung des Komischen ist schließlich ein Versprechen von Erlösung. Religiöser Glaube ist die Intuition – einige zu beglückwünschende Menschen würden sagen: die Überzeugung –, daß das Versprechen gehalten werden wird. Selbst wenn die Hauptthese meines Buches in so knapper Form zusammengefaßt wird, ist klar, daß sie sich nicht im Rahmen der Logik einer einzelnen Wissenschaft stützen läßt. Die Philosophie wäre die einzige Kandidatin, die überhaupt in Frage käme, doch zeigt sich rasch, daß die Philosophen bei der Erforschung des Phänomens der Komik nur von bescheidenem Nutzen gewesen
Vorbemerkungen, parteiische Erläuterungen in eigener Sache
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sind. Als ich einmal begonnen hatte, meine These zu formulieren, mußte ich im weiteren Verlauf improvisieren. Ich hatte keine narrensichere Methode zur Hand (das Wort „narrensicher“ ist, wenn man’s bedenkt, hier sehr angemessen). Der erwähnte Kindergarten befand sich in Wien, was methodologisch relevant sein könnte. Wenn ich hier überhaupt eine Methode habe, dann könnte man diese vielleicht als barock bezeichnen. Sie beruht auf der Annahme, daß es verborgene Beziehungen und eine verborgene Ordnung hinter dem fast unendlichen Reichtum der empirischen Welt gibt, und daß die Ordnung letzlich gottgegeben ist und uns zum Heil. Es spielt insofern keine Rolle, wo man mit einer Untersuchung beginnt oder welchen Weg diese nimmt – die zugrundeliegenden Wirklichkeiten werden sich auf die eine oder andere Weise zu erkennen geben. Barock formuliert: Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ist der Kreis. Am Ende, wenn man dort angekommen ist, wird man lachen. Meine Lektoren, die naturgemäß etwas in Sorge sind, haben mir geraten, ich solle wegen des doch komplizierten Charakters meines Buches den Lesern eine Art Ausblick auf den Inhalt, einen Überblick geben. Das scheint durchaus angemessen. Also: Das Buch beginnt naiv (oder, was mehr oder weniger dasselbe ist, phänomenologisch), indem es einfach die Erfahrung des Komischen im Alltag betrachtet, ohne sich dabei der Ressourcen akademischer Disziplinen zu bedienen. Insgesamt zerfällt es in drei Teile. Der Erste Teil befaßt sich quasi mit der Anatomie des Komischen – das heißt mit der Frage, was genau das Komische ist. Um nicht im Leser einen Zustand unerträglicher Spannung aufkommen zu lassen, möchte ich gleich sagen, daß eine schlüssige Antwort nicht gegeben wird (dafür einige vorzügliche Gründe für die Unmöglichkeit einer solchen Antwort).Trotzdem tritt bei der Betrachtung der Resultate und Spekulationen, die sich aus verschiedenen Ansätzen ergeben, ein klareres Bild des Phänomens hervor. Die Ansätze, die durchgenommen werden, sind die der Philosophie, Physiologie (nur ein rascher Blick, da ich auf diesem Gebiet nicht einfach inkompetent, sondern von monumentaler Inkompetenz bin), Psychologie und der Sozialwissenschaften. Es gibt zwei Intermezzi, Abschweifungen von der eigentlichen Argumentation. Während meine Erziehung mich zwang, hauptsächlich auf westliche Quellen zurückzugehen, ist es doch wichtig, die Universalität des Komischen im Blick zu behalten; ein Intermezzo behandelt also den Humor in Ostasien. Das andere ist eine Betrachtung über den jüdischen Humor, der auf einzigartige Weise einige der Schlußfolgerungen illustriert, zu denen ich hier kommen möchte. Der Zweite Teil ist ein tour d’horizon durch verschiedene Genres oder Ausdrucksweisen des Komischen. Diese werden meistens durch Literaturbeispiele erläutert. Natürlich besteht hier nicht die Absicht, die Autoren dieser Texte mit irgendwelcher Gründlichkeit vorzustellen – sie dienen einfach als „klare Fälle“ (um mit Max Weber zu sprechen). Beispielfälle nämlich der verschiedenen ko-
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Vorbemerkungen, parteiische Erläuterungen in eigener Sache
mischen Formen. Diese, soweit sie hier besprochen werden (nicht unbedingt eine erschöpfende Liste), sind: der wohlwollende Humor, das Tragikomische, der Witz (im Sinne nicht der kleinen Erzählform, sondern des Esprit), die Satire sowie – von größter Bedeutung für meine These – die seltsame Gegenwelt dessen, was das Mittelalter das „Närrische“ nannte. Unter den herangezogenen Autoren sind unter anderen P. G. Wodehouse, Scholem Alejchem, Oscar Wilde und Karl Kraus. (Zweifellos eine eigenartige Gruppierung. Wenn es im Jenseits eine Komik-Abteilung gibt, frage ich mich, wie sie wohl miteinander auskommen. Es gibt stupende Möglichkeiten.) Ich bedauere es, daß ich keine visuellen Verkörperungen des Komischen heranziehen konnte, aber das hätte das Buch sehr viel teurer gemacht und meine Lektoren in noch größere Sorge versetzt. Der Dritte Teil ist mein Versuch, die religiösen Implikationen der Argumentation auf einen Nenner zu bringen – sozusagen ein Exerzitium in Laientheologie. (Ich bin Lutheraner recht heterodoxer Art, und ich glaube an die Priesterschaft aller Gläubigen und ipso facto an das Recht aller Gläubigen, theologisch zu denken.) Ein Kapitel behandelt die Beziehung zwischen dem „Närrischen“ und der Erlösung. Ein Intermezzo versucht, sich mit der Frage zu befassen, weshalb die meisten Theologen so humorlos sind. Das letzte Kapitel, welches im Komischen eine Signatur des Transzendenten sieht, entrinnt nur knapp dem Vorwurf, es sei eine Predigt. Ich schließe mit dem wunderbaren Gedicht von Gilbert Keith Chesterton über den Esel, auf dem Jesus in Jerusalem einritt. Einige Danksagungen sind angebracht. Wollte ich all denen danken, die mir geholfen haben, über das Wesen des Komischen nachzudenken (meist indem sie mich zuerst einmal zum Lachen brachten), müßte ich viele Seiten füllen, und die Besorgnis meiner Lektoren würde in Zorn umschlagen. Ich möchte lediglich meinen ältesten Freund, Wolfgang Breunig, erwähnen, der mit mir im Kindergarten war, als ich mich zuerst als Witzeerzähler unbeliebt machte, der immer noch in demselben Haus am Petersplatz lebt wie damals und der seitdem meine Witze mit bewundernswerter Geduld ertragen hat. Den Anstoß zu diesem Buch gab (böswillig, da bin ich überzeugt) Ann Bernstein, die vor einigen Jahren in Boston zu Besuch war und – wie Intellektuelle es zu tun pflegen – mich fragte, woran ich denn arbeite. Als ich antwortete, ich arbeite an gar nichts Besonderem, sagte sie: „Warum schreiben Sie nicht ein Buch über Humor? Sie erzählen so viele Witze.“ Ich erwiderte, das sei eine lächerliche Idee. Einige Stunden später begriff ich, daß ich natürlich genau dies tun sollte. Bei der Arbeit an diesem (buchstäblich) lächerlichen Projekt machten eine Reihe von Freunden und Kollegen hilfreiche Vorschläge. An erster Stelle ist Anton Zijderveld zu nennen, einer der ganz wenigen Soziologen, die wirklich wichtige Arbeiten über Humor geschrieben haben. Ich möchte auch Ali Banuazizi, John Berthrong, Noel Perrin, Christopher Ricks und Ruth Wisse danken. Sehr gerne
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würde ich betonen, daß irgendwelche Fehler oder Unstimmigkeiten in diesem Buch ausschließlich von ihnen zu verantworten sind, während seine Meriten auf mein Konto gehen. Brigitte Berger hat fast so lange geduldig und kritisch meinen Arbeiten gelauscht, wie sie sich meine Witze angehört hat. Dieses Buch schuldet ihrer Aufmerksamkeit und ihren Vorschlägen viel. Diya Berger, deren Lächeln stets wissender wird, hat mich viel über den Ursprung des Humors im Staunen der Kindheit gelehrt (siehe Kapitel IV, Fußnote 9). Schließlich möchte ich meinen Lektoren Bianka Ralle und Richard Koffler danken. Sie haben mich sehr unterstützt.
Prolog Unter den verschiedenen Formen, wie der Mensch die Wirklichkeit erlebt (oder jedenfalls das, was ihm als Wirklichkeit erscheint), nimmt die Erfahrung des Komischen eine besondere Stellung ein. Einerseits ist sie allgegenwärtig. Das Alltagsleben ist voll komischer Episoden, voller Anlässe für Äußerungen von Humor, für kleine oder ausführliche Witze. Und die Erfahrung des Komischen ist universell. Zwar weichen die Ausdrucksformen voneinander stark ab, aber es gibt keine menschliche Kultur ohne Komik. Andererseits ist die komische Erfahrung höchst fragil und flüchtig, es ist manchmal schwierig, sie sich ins Gedächtnis zurückzurufen.Was im einen Moment komisch scheint, mag im nächsten plötzlich eine tragische Qualität annehmen; ein Witz mag so subtil sein, daß er dem Hörer oder Betrachter kaum ganz bewußt wird, und kurze Zeit später kann es schon schwierig sein, sich daran zu erinnern, warum etwas Heiterkeit erregt hat. Dieser fragile Charakter der Komik wird besonders rasch klar, sobald der Versuch unternommen wird, das Komische intellektuell zu analysieren – wie jeder weiß, der je versucht hat, einen Witz zu erklären. All dies bedeutet, daß das Komische etwas Geheimnisvolles hat. Was genau macht diese Erfahrung aus, und in welchem Zusammenhang steht sie mit anderen menschlichen Erfahrungen? Die Menschen urteilen, ob etwas wahr, gut oder schön ist, und die Philosophen haben sich seit drei Jahrtausenden mit dem Problem abgemüht, wie sich solche Urteile letztgültig begründen lassen. Aber das Komische fällt unter keine dieser ehrwürdigen Kategorien. Nehmen wir den Witz, die am stärksten verdichtete Form verbaler Komik. Es ist kaum sinnvoll, zu fragen, ob ein Witz wahr ist. Gewiß mag der Witz Situationen verwenden, die sich – nach dem Maßstab unseres Wissens von der Welt – nicht ereignet haben können: Ein Witz verwickelt etwa einen Politiker in ein Ereignis, das lange vor oder nach der Zeit geschah, als er an der Macht war. Aber diese Irrtümlichkeit, diese „Unwahrheit“ haben wahrscheinlich nur sehr wenig damit zu tun, ob der Witz komisch ist oder nicht – tatsächlich mag die Pointe gerade auf dieser empirisch falschen Verbindung von Person und Ereignis beruhen. Natürlich lassen sich auch moralische Urteile über den Kontext bilden, in dem ein Witz erzählt wird, und über die Absichten des Erzählers. Sprichwörtlicherweise soll man im Hause des Gehenkten nicht vom Strick reden, und die Fühllosigkeit dessen, der es doch tut, verdient moralische Mißbilligung. Dasselbe gilt für Witze, die irgendeine Gruppe von Menschen herabsetzen sollen – rassistische, antisemitische Witze und so weiter. Man kann sogar sagen, daß der Inhalt eines bestimmten Witzes unmoralisch ist – wie bei den soeben erwähnten, vom Haß angetriebenen Witzen oder bei jenen, die Grausamkeit zu feiern scheinen oder auf Blasphemie beruhen. Doch auch wenn man all
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diese moralischen Erwägungen anerkennt, bleibt die beunruhigende Tatsache übrig, daß ein Witz selbst dann, wenn seine moralische Verwerflichkeit ausführlich erläutert worden ist, immer noch komisch sein kann. Mehr noch – eine der wichtigen sozialen Funktionen des Witzes scheint es immer gewesen zu sein, die konventionelle Moral zu empören. Während sich Komik zu guten oder bösen Zwecken verwenden läßt, scheint das Komische als solches auf eigenartige Weise jenseits von Gut und Böse. Und schließlich ist es auch kaum sinnvoll, zu fragen, ob ein Witz schön oder häßlich ist. Es gibt einen Bereich der ästhetischen Erfahrung und einen Bereich der komischen Erfahrung, aber beide scheinen ganz unabhängig voneinander. Es gibt natürlich eine enorme Literatur über verschiedene Manifestationen des komischen Empfindens – Bücher über die Komödie als dramatische Form, über Ironie und Satire, über den Humor verschiedener Nationen und Regionen, über verschiedene Sorten von Witzen, über soziale Rollen, die Komik verkörpern (wie der Hofnarr oder der Clown), und über Feste wie den Karneval, zu denen eine Atmosphäre komischer Fröhlichkeit gehört. Aber es gibt nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Texten über das Wesen des Komischen an sich – gewiß stimmt das im Vergleich mit den Bibliotheken von Schriften über das Wahre, Schöne und Gute. Wenige Philosophen haben sich die Mühe gemacht, ernsthaft über das Komische nachzudenken. Zweifellos hat dies mit der erwähnten Fragilität der komischen Erfahrung zu tun. Versucht man, sie fest in den Griff zu bekommen, zergeht sie. Wieviele Witze würden die Sektion durch einen Philosophen überstehen? Aber es gibt auch die verbreitete Auffassung, daß Ernst und Komik einander ausschließen. Schließlich kann man nicht gleichzeitig beten und einen Witz machen, seine Liebe erklären und einen Witz machen, über die Sterblichkeit nachsinnen und einen Witz machen – jedenfalls würde eine solche Gleichzeitigkeit eine große Anstrengung erfordern, eine, die von den meisten Leuten wohl mißverstanden würde. Es gibt ein gutes Wort für die unangemessene Einschaltung von Humor in einen ernsten Zusammenhang – das Wort frivol. Es ist frivol, während einer religiösen Zeremonie, eines Heiratsantrags oder einer Beerdigung Witze zu machen. Die Konvention scheint also das Komische bei allen wirklich ernsten Anlässen zu verbannen. Diese gesellschaftliche Tatsache hat zu der verbreiteten Meinung geführt, daß das Komische ein oberflächlicher oder marginaler Aspekt des menschlichen Lebens ist, und in diesem Falle wäre es ja auch völlig verständlich, daß sich ernsthafte Denker kaum damit befaßt haben. Das vorliegende Buch entstammt der Überzeugung, daß eine solche Ansicht durchaus irrig ist. Dies ist also ein Buch über das Komische, diesen geheimnisvollen Bestandteil der Wirklichkeit, den man mit Hilfe dessen entdeckt (oder zu entdecken glaubt), was gemeinhin „Sinn für Humor“ genannt wird. Man sagt auch allgemein, jemand
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habe keinen Sinn für Humor, wenn er die Gegenwart des Komischen nicht wahrnehmen kann. Man könnte es als schlagenden Beweis einer solchen Humorlosigkeit auffassen, wenn jemand ein Buch über das Komische schreibt. Umgekehrt kann natürlich der Leser, der Zeuge dieses Unternehmens wird, den Vorgang äußerst komisch finden. Er schreit nach einer komischen Antithese – wie sie sich einstellt, wenn ein über Metaphysik dozierender Philosoph die Hose verliert oder eine deutlich sichtbare Erektion bekommt oder den Schluckauf: nach der komischen Rache des Physischen an den maßlosen Ansprüchen des Metaphysischen. Mit anderen Worten – Autoren von Büchern über Komik sind legitime Ziele der Parodie, der Satire oder anderer aggressiv komischer Antworten auf unerträgliche Ernsthaftigkeit. Das weiß ich alles, und es macht mich nervös. Nicht so sehr deshalb, weil andere sich über das Unterfangen lustig machen könnten. Viel nervöser macht mich der Gedanke, daß mein eigenes Gefühl für Albernheit es mir unmöglich machen wird, mein Vorhaben durchzuhalten. Wie kann man etwas so Zerbrechliches auseinandernehmen wollen? Etwas so Flüchtiges für den prüfenden Blick festnageln? Ist es nicht lächerlich, zu erwarten, man könne die Struktur des komischen Erlebnisses gründlich untersuchen und dann mit ernster Miene der Welt erklären, was das ist? Lassen Sie mich zu meiner (sicherlich vergeblichen) Selbstverteidigung – und das bedeutet hauptsächlich Verteidigung gegen meinen eigenen Humor – von vornherein sagen: Diese Erwartung habe ich gewiß nicht. Es wird sich auch zeigen, daß ich verrückt wäre, diese Erwartung zu hegen, denn falls ich mich mit meinen Intuitionen hinsichtlich des Komischen nicht täusche, dann würde die Möglichkeit, zu sagen: „Dies ist das Komische“, eo ipso bedeuten, daß ich im Besitz des tiefsten Geheimnisses menschlicher Existenz wäre. Dem Komischen mit seiner flüchtigen Natur kann man sich nur auf sorgfältigen Umwegen nähern. Man kann es nicht direkt attackieren, man muß darum herumgehen, immer wieder, herum und herum. Dann flieht es vielleicht nicht verschreckt. Dann bleibt es vielleicht lange genug stehen, daß man ein wenig besser erkennen kann, was es unter seinen vielen Hüllen im Grunde sein mag. Soviel darf ich mit Gewißheit sagen: Gewißheiten werden sich als Resultat meiner Forschungsfahrt nicht ergeben. Zu Beginn des Jahrhunderts wurde ein junger Rabbi nach Abschluß seiner Studien von seiner Talmudschule auf der Lower East Side in New York ausgesandt, um der erste Rabbi einer Gemeinde in Alaska zu werden. Sein alter Lehrer sagte ihm Lebewohl, gab ihm seinen Segen und sprach: „Mein Sohn, denke immer daran: Das Leben ist wie eine Tasse Tee.“ Der junge Rabbi ging nach Alaska und hatte dort viel zu tun, aber immer wieder mußte er an die Worte seines Lehrers denken und fragte sich dann, was dieser Satz wohl bedeuten mochte. Nach sieben Jahren gab ihm seine Gemeinde Urlaub. Er ging nach New York zurück, besuchte die alte Schule und ging zu seinem alten Lehrer. „Ich wollte Euch das immer schon
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fragen“, sagte er. „Als ich die Schule verließ, als Ihr mir Euren Segen gegeben habt, da habt Ihr gesagt: ‘Das Leben ist wie eine Tasse Tee.’ Sagt mir, Rebbe, was habt Ihr da gemeint?“ „Das Leben ist wie eine Tasse Tee?“ sagte der alte Mann. „Das habe ich gesagt?“ „Ja, das habt Ihr! Was habt Ihr damit gemeint?“ Der alte Mann dachte eine Weile nach, und dann sagte er: „Nu – vielleicht ist das Leben nicht wie eine Tasse Tee.“
Es gibt eine sozusagen hinduisierte Version dieser Geschichte. Der Unterschied besteht eigentlich nur in einer Nuance, aber dieser Nuance wegen ist die Variante erzählenswert: Ein junger Amerikaner reist durch Indien, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Er erfährt, daß ganz droben auf einem der unzugänglichsten Gipfel des Himalaya ein Heiliger lebt, von dem es heißt, er kenne die Antwort auf diese Frage. Der junge Amerikaner verbringt viele Wochen auf der Wanderschaft, unter großen Mühen und Strapazen, und erreicht endlich den Ort, wo der Heilige wohnt. Und da sitzt der weise Mann, reglos, den Blick auf den Mount Everest gerichtet. „Ich heiße John P. Shultz“, sagt der junge Amerikaner. „Ich bin aus Cleveland, Ohio, und suche nach dem Sinn des Lebens. Ich habe gehört, Sie wüßten ihn. Könnten Sie mir sagen, was der Sinn des Lebens ist?“ Ohne den Blick vom fernen Gipfel des Mount Everest abzuwenden, intoniert der Heilige feierlich: „Das Leben ist wie die Lotusblüte.“ Der junge Amerikaner sagt nichts und sinnt über diesen dunklen Satz nach. Lange herrscht Schweigen. Dann tritt ein leichtes Stirnrunzeln auf das Antlitz des Heiligen, er wendet den Blick von dem fernen Bergesgipfel ab und fragt den jungen Amerikaner besorgt: „Oder haben Sie einen anderen Vorschlag?“
Und diese Geschichte führt, aus welchem Grund auch immer, zu einer weiteren. Es ist nicht klar, ob es eine Beziehung zwischen beiden gibt. Mrs. Shapiro aus Brookline, Massachusetts, reiste ebenfalls durch den Himalaya, auf der Suche nach einem Heiligen, der auf einem der unzugänglichsten Gipfel dieses gewaltigen Massivs hauste. Nach langen Wochen und vielen Entbehrungen erreichte sie endlich den Ort. Ein Jünger des Heiligen empfing sie und sagte zu ihr: „Der Heilige ist sehr beschäftigt. Heute ist Dienstag. Am Freitag, morgens um drei Uhr früh, kann er dich empfangen. Inzwischen kannst du in dieser Höhle warten.“ Mrs. Shapiro blieb vom Dienstagabend bis zum Freitagmorgen in der Höhle. Es war sehr kalt, sie mußte auf dem Erdboden schlafen, und es gab nichts zu essen außer Beeren und Yakquark. Am Freitag, einige Augenblicke vor drei Uhr morgens, kam der Jünger und holte sie ab. Er führte sie in eine andere Höhle. Und da saß der Heilige. Mrs. Shapiro trat dicht vor ihn hin und sagte: „Marvin, du kommst jetzt sofort nach Haus.“
Ich habe drei Witze erzählt. Zwei davon sind jüdische Witze, der dritte hat, wenn ich es so formulieren darf, einen jüdischen Unterton. Das sollte nicht weiter überraschen. Viele der besten Witze sind jüdisch. Über den jüdischen Humor ist viel geschrieben worden. Warum gibt es so viele jüdische Witze? Viele Gründe
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lassen sich anführen: Witze müssen kunstvoll erzählt werden, und die jüdische Kultur ist (aus tief religiösen Gründen) wahrscheinlich die verbalste der Menschheit. Psychologische Gründe: Witze mildern das Leid, und welches Volk hat im Laufe der Jahrhunderte mehr gelitten als die Juden? Soziologische: Auf langen Strecken ihrer Geschichte haben die Juden am Rand verschiedener Gesellschaften existiert, und die Randposition ergibt immer eine komische Perspektive. Und der tiefste Grund, ein theologischer: Die Juden sind das Volk, das Gott erfunden hat (oder, wenn Sie so wollen, ihn entdeckt hat – oder, wenn Sie den Zusammenhang wirklich theologisch fassen wollen, das von Gott erfunden worden ist). Aber das ist eine Geschichte, die erst viel später in meinen schweifenden Überlegungen auftauchen wird. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich bereits die meisten wichtigen Themen angedeutet, mit denen ich mich in diesem Buch auseinandersetzen möchte. Während ich meinen glitzernden, sich stets entziehenden Gegenstand umkreise, muß ich auf Geschichte eingehen, auf Psychologie, Soziologie und am Ende auf gewisse theologische Fragen. Vielleicht sollte ich hier schon aufhören, sollte es bei den Andeutungen belassen. Dann gälte das Gelächter mir und nicht dem Leser, denn einen Leser würde es dann nicht geben. Ein chinesischer Weiser soll gesagt haben: „Wenn du die Wahl hast, ist es besser, es wird über jemand anderen gelacht als über dich.“ Das nehme ich als Ermutigung fortzufahren. Ich kann allerdings der Versuchung nicht widerstehen, noch rasch einen weiteren jüdischen Witz zu erzählen. Er ist klassisch – der Titel von Irving Howes Autobiographie spielt auf ihn an. In den alten Zeiten, irgendwo im Osten Europas, kam ein Reisender mitten im Winter in einem Schtetl an. Vor der Synagoge saß ein alter Mann zitternd vor Kälte auf einer Bank. „Was macht Ihr denn hier?“ fragte der Fremde. „Ich warte auf den Messias.“ „Das ist wahrhaftig ein wichtiger Beruf“, sagte der Reisende. „Da nehme ich an, daß die Gemeinde Euch ein gutes Gehalt zahlt?“ „Überhaupt nicht“, sagte der alte Mann. „Die zahlen mir gar nichts. Sie lassen mich bloß auf dieser Bank sitzen. Gelegentlich kommt jemand und bringt mir ein wenig zu essen.“ „Das ist dann aber nicht leicht für Euch“, sagte der Reisende. „Aber auch wenn sie Euch nichts bezahlen, dann werdet Ihr doch sicher hochgeehrt, weil Ihr diese wichtige Arbeit tut?“ „Überhaupt nicht“, sagte der alte Mann. „Sie glauben alle, ich sei verrückt.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte der Reisende. „Ihr werdet nicht bezahlt. Ihr werdet nicht geachtet. Ihr sitzt hier draußen in der Kälte, frierend und hungrig. Was soll denn das für ein Beruf sein?“ Der alte Mann antwortete: „Es ist ein Posten auf Dauer.“
Teil I: Anatomie des Komischen
1 Das Eindringen des Komischen in den Alltag Indem wir beginnen, das Phänomen des Komischen vorsichtig zu umkreisen, drängen sich sogleich verschiedene allgemeine Fragen auf: Was ist es? Wo ist es? Wie wird es gebraucht? Was hat es zu bedeuten? Bei unserer zirkulären Annäherung auf Umwegen – die, so scheint es, dem Wesen des untersuchten Phänomens durchaus entspricht – ist es nicht ratsam, streng systematisch zu Anworten auf diese Fragen vordringen zu wollen. Doch scheint es sinnvoll, zumindest auf die erste Frage eine provisorische Antwort zu versuchen: Was ist denn das, worüber wir hier reden? Ein einigermaßen gebildeter Engländer oder Amerikaner wird wahrscheinlich damit beginnen, daß er das Oxford English Dictionary befragt – jenes große Monument der Philologie. Auch wenn man nicht an der Geschichte eines Wortes bis hinauf zu Beowulf und den Canterbury Tales interessiert ist, erhofft man sich doch, daß einem das OED eine Vorstellung vom gegenwärtigen Sprachgebrauch vermittelt. Also sehen wir uns einige einschlägige Definitionen an. Unter „comic“ finden wir: „darauf abzielend, Heiterkeit zu erregen, absichtlich komisch (intentionally funny).“ Und dann eine zweite Definition: „Unfreiwillig Heiterkeit hervorrufend; lachhaft; lächerlich.“ Das scheint einigermaßen unbeholfen – warum nicht einfach das Komische als etwas definieren, das absichtlich oder unabsichtlich Heiterkeit erregt? So oder so führt es uns nicht sehr weit. Es läuft nämlich bloß darauf hinaus, daß das Komische etwas ist, das komisch wirkt. Unter „humour“: „Jene Eigenschaft einer Handlungsweise oder einer sprachlichen Äußerung oder eines Textes, die amüsiert, Befremden hervorruft, Fröhlichkeit, Heiterkeit, Scherzhaftigkeit, Spaß.“ Und eine Definition b): „Die Fähigkeit, das wahrzunehmen, was lächerlich oder amüsant ist, beziehungsweise dieses in Sprache oder Schrift oder anderen Gestaltungsformen auszudrücken; scherzhafte Phantasie oder Behandlung eines Gegenstandes.“ Diesen wunderbar ungenauen, wenn nicht zirkulären Definitionen folgt noch die eigenartige Anmerkung: „Unterschieden vom Witz, da der Humor weniger intellektuell ist und ihm ein Zug von Mitgefühl eignet, was ihn oft mit dem Pathos verbindet.“ Dies alles bringt uns ein kleines Stückchen weiter. Hier wird eine nützliche Unterscheidung getroffen: zwischen einer Eigenschaft bestimmter Teile der Lebenswirklichkeit und einer Fähigkeit, diese Eigenschaft wahrzunehmen. Die Phänomenologie bezeichnet denselben Unterschied, indem sie von den noematischen und noetischen Aspekten eines Phänomens spricht. Der Unterschied wird uns später bei unseren Streifzügen nützlich sein, weil er uns davor bewahrt, das Komische als solches mit seinen physiologischen Voraussetzungen oder seinen sozio-psychologischen Funktionen zu verwechseln. Das OED macht auch klar, daß
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Komik (oder, wie hier, „Humor“) in Handlungsweisen entdeckt werden kann, in gesprochener Sprache oder in Texten. Des weiteren herrscht allerdings nur noch Verwirrung. Was ist der Unterschied zwischen „Scherzhaftigkeit“ und „Fröhlichkeit“ und „Spaß“? Man sollte eigentlich auch annehmen, daß die Adjektive „comic“ und „humorous“ synonym gesetzt werden. Oder vielleicht sollte man formulieren, daß der Sinn für Humor die Fähigkeit ist, das Komische wahrzunehmen. Man könnte noch weiter nachschlagen: „comedy“ – „Jener Zweig des Dramatischen, der einen humorvollen oder intimen Stil pflegt und lachhafte Figuren und Vorfälle schildert.“ „Joke“– „Etwas, das gesagt oder getan wird, um Gelächter oder Heiterkeit zu erregen; Witz; Bonmot; Scherz; Witzelei, Hänselei; auch etwas, das amüsiert, ein lächerlicher Umstand.“ Das ließe sich noch fortsetzen – aber wir wollen es lieber lassen. Ich habe die zweite Auflage des Compact Oxford English Dictionary von 1991 benutzt. Das ist bekanntlich die, die eine Tonne wiegt oder sich doch so anfühlt, und die man nur mit Hilfe einer Lupe lesen kann, die der Verlag liebenswürdigerweise gleich mitliefert. Nach recht kurzer Zeit schon tun einem die Augen weh – meine jedenfalls schmerzten. Das Unbehagen setzte einen Tagtraum frei. Ich weiß ja nicht, wie das OED entsteht. Aber ich stelle mir Redaktionsausschüsse von Gelehrten vor. Halten sie Sitzungen ab? Ich sehe kleine Gruppen von pedantisch zwinkernden Professoren in ausgefransten Tweedjacketts, von Professorinnen mit praktischen flachen Absätzen, die alle nur ein paar Minuten zu Fuß vom British Museum wohnen, jeweils in einem dieser großartig unbequemen Bed-andBreakfast-Zimmerchen in Bloomsbury. Gibt es einen Redaktionsausschuß für Humor und Frohsinn? Wäre es in diesem Fall ausgeschlossen, daß seine Angehörigen sich im Sinne jener boshaften Witzigkeit, die in England den Kern des akademischen Ethos bildet, selbst ein paar Scherze erlauben würden? „Wir zeigen es diesen verdammten Yankees, die das OED kaufen …“ Haha! Lassen wir für den Augenblick die Frage beiseite, was das Komische ist. Wir werden natürlich zu ihr zurückkehren müssen. Aber jetzt wenden wir uns zunächst einmal der zweiten Frage zu, die sich angeboten hat: Wo ist es? Wo in der unübersehbar vielfältigen Fülle des menschlichen Erlebens manifestiert sich das Komische? Nähert man sich dieser Frage, kann man eine nützliche Unterscheidung gebrauchen, die Max Weber für die Religion getroffen hat: Er unterschied zwischen der Religion der „Kenner“ und jener der „Menge“ – also beispielsweise zwischen dem Katholizismus der Teresa von Avila und jenem der gewöhnlichen Kirchgänger, die sonntags bei der Messe erscheinen. So gibt es auch virtuose Kenner des Komischen – nicht nur große komische Schriftsteller (Aristophanes, Shakespeare, Molière), sondern große Narren, Clowns und Kabarettkomiker oder die großen Witzerzähler, die einst die Kaffeehäuser Mitteleuropas bevölkerten.
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Doch gibt es eben auch die „Komik der Menge“, und die sollten wir zuerst einmal betrachten. Dabei stoßen wir sogleich auf eine Tatsache von überwältigender Evidenz: Das Komische ist im Alltag allgegenwärtig. Es ist natürlich nicht ununterbrochen präsent, es kommt und geht immer wieder und begleitet so die gewöhnliche Erfahrung. Dabei geht es jetzt nicht um die Kenner und Liebhaber des Komischen, sondern die ganz normalen Leute – Beispiele, sozusagen, des homme comique moyen. Stellen wir uns einen Tag im Leben solcher Leute vor – nennen wir sie John und Jane Everyperson, ein normales amerikanisches Ehepaar. Morgens wachen sie auf. John gehört zu den Menschen, die gleich ganz wach sind, aus dem Bett hüpfen und loslegen. Jane gehört zu der anderen Sorte, jener, die langsam und zögernd aufwacht, nicht aus Trägheit, sondern weil die Wirklichkeit des Wachzustands bei jeder neuen Begegnung etwas ganz Unwahrscheinliches hat. Sie wacht auf, sieht John herumhüpfen – vielleicht macht er morgendliche Liegestützen, vielleicht widmet er sich auch nur zielbewußt seiner Toilette und der wichtigen Aufgabe, sich anzukleiden –, und der Anblick wirkt auf sie ganz absurd. Vielleicht lacht sie, vielleicht unterdrückt sie ihr Lachen auch aus ehelichem Taktgefühl (dieses absurd aktive Individuum hat schließlich gerade das gemeinsame Bett verlassen, es handelt sich um ihren eigenen Gatten), doch ihr erster bewußter Gedanke an diesem Tag ist eine Wahrnehmung von Komik. John – setzen wir hier einmal voraus – nähert sich dem Komischen langsamer; das ist bei Aktivisten gewöhnlich der Fall. Aber er macht beim Frühstück einen Witz, vielleicht über den Toast, den er soeben hat anbrennen lassen,vielleicht über das Ehepaar in der Wohnung nebenan (die Wände sind recht dünn), das man am frühen Morgen noch einmal bei der Liebe belauschen kann. Dann kommen die kleinen Kinder der Everypersons herein und tun so, als seien sie die Monster, die sie gestern abend im Fernsehen gesehen haben, und jetzt lacht alles. Dann lesen John und Jane die Zeitung, er lacht über eine Karikatur, sie macht eine sarkastische Bemerkung über den jüngsten Blödsinn der Regierung. All dies sind Ausdrucksformen des Komischen – und die Everypersons sind noch nicht einmal mit dem Frühstück fertig. Es wäre leicht, ihren Tageslauf ebenso detailliert weiterzuverfolgen. Johns Chef beschimpft einen Untergebenen bei einer Sitzung mit massiver, sadistischer Ironie; John und seine Kollegen rächen sich, indem sie beim Mittagessen den Chef nachmachen. Jane wiederum ist an ihrem Arbeitsplatz mit Kollegen gesegnet (oder geschlagen), die zwanghafte Witzerzähler sind; während des Mittagessens versuchen sie einander zu überbieten – „Kennst du den schon?“ „Na, da kenn ich noch einen besseren!“ „Habt ihr schon den neuesten Al-Gore-Witz gehört?“ usw. Vielleicht kann Jane selbst Witze erzählen, vielleicht ist sie auch der Traum eines jeden zwanghaften Witzlers: die geduldige Zuhörerin, die lacht, wenn die Pointe kommt, weil sie vergessen hat, daß sie den Witz bereits mehrmals gehört hat.
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Jedenfalls hat sie Teil an einer weiteren Erfahrung dessen, was unsere Wörterbuchkompilatoren „Scherzhaftigkeit“ nennen würden. Natürlich sind Nachmittag und Abend nicht gegen die wiederholten Auftritte des Komischen gefeit.Vielleicht verbringen John und Jane den Abend sogar bei einer Vorstellung eines der augenblicklich regierenden Virtuosen des Komischen: Sie sehen sich einen Film von Woody Allen an oder gehen in einen Klub, wo Jackie Mason auftritt. Ohne weitere Details ist klar, daß in all ihren wachen Stunden das Komische immer wieder erscheint. Im übrigen ist es sogar vorstellbar, daß sie von einem Witz träumen, im Traum lachen und lachend erwachen. Falls John und Jane nicht spekulativ veranlagt sind, haben sie sich wahrscheinlich nie Gedanken über das Wesen des Komischen gemacht. Sie erkennen es, wenn es ihnen begegnet, wenigstens in den meisten Fällen (manchmal läßt sie ihr Sinn für Humor im Stich) und wenigstens in ihrem eigenen sozialen Kontext. Wir können für den Augenblick das Problem beiseite lassen, das entstünde, wenn sie plötzlich in einen ganz anderen Kontext versetzt würden – meinetwegen in ein chinesisches Dorf, wo ein paar Bauern sich komische Anekdoten erzählen. Zu sagen, daß sie das Komische erkennen, wenn es ihnen begegnet, bedeutet: Es gibt eine bestimmte Zone der Realität, die in ihrer Wahrnehmung von anderen Zonen getrennt ist. Dies ist eben die Zone des Komischen, auf das man angemessenerweise lachend reagiert. Man kann längere Zeit in diese Zone eintreten – wenn man zum Beispiel einen entsprechenden Film anschaut oder sich die Vorstellung eines Kabarettisten ansieht, oder selbst wenn man sich längere Zeit enthusiastisch gegenseitig Witze erzählt. (Bis einem vor Lachen schließlich alles weh tut.) Meistens aber ist diese Zone des Komischen zeitlich recht begrenzt, auf kurze Momente beschränkt, oft extrem flüchtig. Das Komische ist zwar erkennbar anders, aber es kommt und geht in der restlichen Wirklichkeit, wie man sie im Lauf des Alltags erlebt. In einer Unterhaltung über Geschäftliches mag jemand einen Witz erzählen; anschließend kehrt er zum ursprünglichen Thema mit Worten wie „Aber jetzt einmal im Ernst…“ zurück. Bei derselben geschäftlichen Sitzung muß einer der Anwesenden plötzlich hörbar rülpsen; die anderen sind erheitert von diesem unpassenden Ausbruch unkontrollierter Körperlichkeit während einer Verhandlung, bei der es um Millionen geht, aber eben weil dieses Geschäft eine sehr ernste Angelegenheit ist, unterdrücken sie rasch ihre Heiterkeit. Im Alltag erscheint das Komische also typischerweise als etwas,was – oft ganz unerwartet – in andere Zonen der Wirklichkeit eindringt. In diesen anderen Bereichen finden, folgt man der Umgangssprache, „ernste“ Angelegenheiten statt. Das macht das Komische zu etwas „Unernstem“. Wir werden später Anlaß haben, diese Interpretation zum ontologischen Status des Komischen in Zweifel zu ziehen; tatsächlich könnte unsere Untersuchung darauf hinauslaufen, daß wir das Komische als die ernsteste Wahrnehmungsform der Welt postulieren, die es gibt.
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Doch behalten wir erst einmal die konventionelle Gegensätzlichkeit bei: Das Komische erscheint als Antithese zu den ernsten Angelegenheiten. Das Bewußtsein von einer solchen Antithese drückt sich häufig in den Versuchen aus, eine humorvoll vorgebrachte Bemerkung abzumildern, die jemanden kränken könnte, weil man mit dem Scherz „zu weit gegangen ist“: Das geschieht dann mit der stehenden Wendung: „Es war doch nur ein Spaß!“ Anders ausgedrückt: Es war nicht ernst gemeint. Der, zu dem man das sagt – also der, welcher die Zielscheibe eines Witzes war –, muß dann bestätigen, daß gewiß keine Verletzung beabsichtigt war und auch nicht von ihm empfunden wurde. Wenn dies nur zögernd und widerwillig eingeräumt wird, dann wird damit indirekt die Tatsache bestätigt, daß die konventionelle Grenze zwischen „ernstem“ und „unernstem“ Diskurs nicht so klar verläuft, wie man allgemein tut. Mit anderen Worten: Der Witz, mit dem man „zu weit gegangen ist“, hat eine sehr empfindliche Realität berührt und ist deshalb weit mehr als „nur“ ein Witz. Um größere Klarheit über die empirische Verortung des Komischen zu gewinnen, können wir zwei Autoren heranziehen: Alfred Schütz und Johan Huizinga. Als Philosoph beziehungsweise Historiker waren diese beiden nicht speziell am Komischen an sich interessiert. Aber manche ihrer Ideen können uns an diesem Punkt unserer Überlegungen nützlich sein. Ein wesentlicher Beitrag von Schütz war seine Abgrenzung verschiedener Sektoren dessen, was die Menschen als Realität erleben; am prägnantesten ist dies in seinem Aufsatz „Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten“ formuliert.1 Sein besonderes Interesse galt der Beziehung zwischen der Alltagsrealität, die er als „dominante Wirklichkeit“ (paramount reality) bezeichnete, und jenen Einschlüssen innerhalb der Alltagswelt, die er „geschlossene Sinnbereiche“ (finite provinces of meaning) nannte. Der Grund für die Bildung des ersten Begriffs ist klar – diese Wirklichkeit ist dominant, weil sie die meiste Zeit für uns die wirklichste ist. Mit Schütz’ Worten ist es „die Welt des täglichen Lebens, die der hellwache erwachsene Mensch, der unter seinen Mitmenschen in ihr handelt und auf sie einwirkt, im Rahmen seiner natürlichen Haltung als Wirklichkeit erlebt.“2 Der zweite Begriff scheint weniger glücklich – vielleicht wäre Schütz besser beraten gewesen, einen Ausdruck von William James zu verwenden, den er zu Beginn seines Aufsatzes zitiert: „sub-universes“, „Nebenwelten“. Solche Nebenwelten oder geschlossenen Sinnbereiche werden jedenfalls erlebt, wenn das Individuum zeitweilig aus der dominanten Realität des Alltagslebens ausschert. Diese wird die meiste Zeit als die „wirklichste“ wahrgenommen, weil es eben die Wirklichkeit ist, in der wir mit spürbaren Folgen handeln und die wir mit der größten Zahl anderer Menschen teilen. Ihr „Wirklichkeitsakzent“ ist am stärksten und dauerhaftesten, so daß die anderen Wirklichkeitszonen sozusagen wie Inseln von ihr umschlossen werden. Doch besitzen diese anderen Erlebnisweisen, während sie erfahren
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werden, ihren eigenen „Wirklichkeitsakzent“. Der Übergang von der dominanten Realität in einen der geschlossenen Sinnbereiche und wieder zurück wird jedesmal als ein kleiner Schock erlebt. Beispiele solcher Bereiche sind der Traum, das Theater, jegliche intensive ästhetische Erfahrung (das „Hineingezogenwerden“ in ein Bild oder ein Musikstück), das Spiel des Kindes, das religiöse Erlebnis oder die leidenschaftliche Konzentration des Wissenschaftlers. Tatsächlich führt Schütz noch ein weiteres Beispiel an (dem er nicht weiter nachgeht): „…daß sich unsere Ratlosigkeit in Gelächter auflöst, wenn wir einen Witz hören und eine kurze Zeit lang bereit sind, die fiktive Welt des Witzes als Realität zu sehen, mit der verglichen unser Alltag töricht erscheint“.3 Ist das Komische ein geschlossener Sinnbereich im Sinne von Schütz, und wenn ja, wie unterscheidet es sich dann von anderen solchen Bereichen? Jede dieser Nebenwelten hat nach Schütz eine Anzahl charakteristischer Eigenschaften: Einen speziellen „kognitiven Stil“, der sich von dem des Alltags unterscheidet; Konsistenz innerhalb ihrer Grenzen; ein exklusives Wirklichkeitsbewußtsein, das sich nicht ohne weiteres in das eines anderen geschlossenen Sinnbereichs oder das der dominanten Realität übersetzen läßt, so daß man den jeweiligen Bereich nur mit einem „Sprung“ erreichen oder verlassen kann (hier bedient sich Schütz des Kierkegaardschen Begriffs für den Übergang von der Ungläubigkeit zum religiösen Glauben); eine abweichende Form von Bewußtheit oder Erwartungshaltung; eine gewisse Suspendierung der Skepsis (oder Epoché, um den phänomenologischen Begriff zu verwenden); ferner bestimmte Formen von Spontaneität, Selbstwahrnehmung, Sozialität und Zeitperspektive (hier verwendet Schütz den Bergsonschen Begriff der durée). Diese Charakteristika mögen zunächst zu abstrakt erscheinen. Konkretisieren wir sie, indem wir sie auf jenen geschlossenen Sinnbereich anwenden, der wohl die größte Universalität besitzt: das Reich der Träume. Wenn wir träumen, bewegen wir uns offensichtlich in einer Welt, deren Regeln sich radikal von denen des alltäglichen wachen Lebens unterscheiden; es herrscht eine andere Logik. Dinge, die in der einen Welt unmöglich sind, werden in der anderen ohne weiteres vorausgesetzt. Wir können zum Beispiel an zwei Orten zugleich sein, in die Gedanken eines anderen eindringen, uns in der Zeit vorwärts und rückwärts bewegen, mit Toten reden und so weiter. All diese Dinge, die in der dominanten Realität als Illusionen verworfen würden, haben im Traum den Charakter des Selbstverständlichen. Solange er andauert, ist der Traum wirklich – in der Tat wirklicher als die wache Welt; wir suspendieren für die Dauer des Traums alle Skepsis. Wir bewegen uns spontan durch die Traumwelt, als wären wir schon immer dort gewesen. Und natürlich unterscheidet sich unser Selbstgefühl, unsere Wahrnehmung anderer und unser Zeiterleben scharf vom Wachzustand. Am bedeutsamsten ist es, daß der Übergang von einer Welt in die andere als Schock, als
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„Sprung“ erlebt wird. Das wird ganz klar, wenn wir aus einem intensiv erlebten Traum erwachen. In deutlich unterscheidbaren Stufen „kehren wir dann in die Wirklichkeit zurück“, die dominante Wirklichkeit des Alltäglichen nämlich. Wenn wir aus dem Traum heraus-„springen“, erscheinen die Umrisse der Alltagswelt zunächst schemenhaft irreal – das Bett, das Mobiliar des Schlafzimmers, die Pläne für den Tag. Wir greifen dann vielleicht zu mehr oder minder ritualisierten Handlungen, um den „Wirklichkeitsakzent“ wieder auf diese andere Welt zu legen.Wir sehen auf die Uhr (es ist Morgen in der „wirklichen Welt“, im Traum war es Abend). Wir sehen aus dem Fenster (das ist Boston, im Traum war es Wien). Wir stehen auf, holen uns vielleicht etwas zu essen, sprechen mit jemandem (das ist meine Frau, nicht der tote Großvater meines Traums). Und so fort. Nach und nach oder auch sehr rasch herrscht wieder die dominante Wirklichkeit (Jane Everyperson kehrt nur langsam zurück, wie wir gesehen haben, John bewältigt den Übergang mit einem einzigen energischen Sprung). Wenn alles gut geht, dann ist am Frühstückstisch die Wirklichkeit des Traumes ganz zerronnen und die geräuschvolle Welt des Alltags (die Zeitung, die lauten Kinder, die Termine des Tages) hat die Herrschaft angetreten. Wir können dann vielleicht – obwohl er oft nur schwer in Worte zu fassen ist – anderen unseren Traum erzählen. Aber wir versichern uns und ihnen, daß es „nur ein Traum“ war. Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Wirklichkeit des Traumes und jener des Komischen sind offensichtlich. Man kann einen Traum etwa mit einem Witz vergleichen, der selbst eine gewisse Traumabsurdität hat. Stellen wir uns einen Dissidenten in der Sowjetunion vor. Er träumt, daß er den mächtigsten Kommunisten gehörig die Meinung sagt – ein Fall von Wunscherfüllung par excellence. Später am Tag sitzt er mit Gleichgesinnten zusammen und erzählt einen Witz. Das von der Sowjetunion beherrschte Europa war sehr reich an Witzen, wie dies in Situationen politischer Unterdrückung häufig der Fall ist (wir werden später einen Blick auf die politische Funktion des Humors werfen). Der folgende Witz. mehr oder weniger zufällig ausgewählt, mag für einen ganzen üppigen Fundus solcher Witze stehen: Gorbatschow erwacht und schaut aus dem Fenster hinaus in die Sonne. „Guten Morgen, Sonne! Hast du eine Nachricht für mich?“ „Jawohl, Genosse Präsident“, erwidert die Sonne. „Es ist Morgen über der Sowjetunion!“ Mittags sieht Gorbatschow wieder aus dem Fenster und sagt: „Na, Sonne, hast du mir wieder etwas zu sagen?“ „Jawohl, Genosse Präsident“, sagt die Sonne. „Es ist Mittag über der Sowjetunion!“ Abends schaut Gorbatschow noch einmal hinaus und stellt dieselbe Frage. Die Sonne entgegnet: „Scher dich zum Teufel, Michail. Ich bin jetzt im Westen.“
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Die Ähnlichkeiten sind da: Traum und Witz sind geschlossene Welten, innerhalb derer die Alltagsrealität der Sowjetunion aufgehoben ist. Es herrschte eine andere Logik, in der Gesellschaft wie in der Natur – der gefügige Bürger wird zum Rebellen, ein Mann kann mit der Sonne reden. Die Kategorien Raum und Zeit, die Beziehungen zum eigenen Ich und zu anderen sind verändert. Und die Rückkehr in die alltägliche Welt ist ein Schock. Der Dissident erwacht, schaut auf die Uhr, frühstückt, liest Zeitung (die alte Prawda, es hat sich leider nichts geändert), und die massive Realität des sowjetischen Alltags regiert wieder. Seine Rebellion gegen die Herrschenden war unglücklicherweise „nur ein Traum“. In ähnlicher Weise sieht sich der Dissident wieder in die dominante Realität zurückgeworfen, wenn er seinen Witz beendet. (Ein Nebeneffekt dieses Schocks mag der plötzlich aufsteigende Verdacht sein, daß einer der Zuhörer ein Spitzel sein könnte.) Vielleicht lacht er entschuldigend und sagt: „Das ist natürlich nur ein Witz.“ Das könnte Eindruck bei der Behörde machen, wenn der Informant seinen Bericht erstattet. Oder auch nicht. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen Traum und Witz. Der offensichtlichste ist der, daß der Traum eine einsame Erfahrung ist, das Erzählen des Witzes eine gesellige. Damit hängt es zusammen, daß die Welt des Traumes deutlicher umgrenzt ist, von größerer Autonomie, mit stärkerem „Wirklichkeitsakzent“ – solange sie dauert. Die kleine Welt des Witzes ist sehr viel lockerer in die Alltagswelt eingehängt, flüchtiger, verletzlicher. Außerdem (das ist allerdings nicht so wichtig) ist der Traum eine passive Erfahrung, er stößt dem Individuum zu. Das Erzählen des Witzes ist eine Tathandlung – das Individuum führt den Vorgang selbst herbei. (Das stimmt in diesem Fall und in allen Fällen des Erzählens von Witzen, aber für ein allgemeines Verständnis des Komischen ist es nicht entscheidend, da es viele Beispiele dafür gibt, daß das Komische dem Individuum „zustößt“, es sozusagen genau wie ein Traum „überwältigt“.) Noch ein Witz, diesmal ohne politischen Bezug (obwohl er in bestimmten Situationen einen politischen Unterton haben könnte): Ein Optimist ist gestorben und erwacht in der Hölle. Er muß feststellen, daß die Hölle ein einziger großer Ozean aus Kot ist, der den Verdammten bis zum Kinn reicht. Der Optimist sieht sich um und spricht den Mann neben sich an, der offensichtlich schon länger hier ist. „Also das ist die Hölle? Ein großes Kotmeer?“ „Ja“, sagt sein Nachbar. „So ist es.“ Der Optimist denkt einen Augenblick lang nach und sagt: „Nun ja, jedenfalls geht es uns nur bis zum Kinn.“ In diesem Augenblick hört man ein eigenartiges Geräusch in der Ferne. Putt-putt putt-putt putt-putt… „Was ist denn das?“ fragt der Optimist. Der Nachbar sagt: „Das ist der Teufel in seinem Motorboot.“
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Hier haben wir in der Tat die Bestandteile eines Alptraums – Tod, Hölle, ein Meer von Kot, das Begrabensein bei lebendigem Leib, den Teufel. Die vorher erwähnten Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen einem Traum von der Hölle und einem Witz über die Hölle gelten auch hier, doch kommt noch ein bedeutsamer Unterschied hinzu. Der Traum von der Hölle – so dürfen wir annehmen – ist ein Traum reinsten Entsetzens. Im Witz jedoch ist das Entsetzen quasi aufgehoben, in Parenthese gesetzt. Der Witz hat eine gutmütige Qualität, die dem Alptraum gänzlich fehlt. Vielleicht ist dies das „Mitgefühl“, das die OED-Lexikographen bei ihrer Definition des Humors erwähnen, die Lexikographen, die in ihren Zimmerchen in Bloomsbury vor sich hinkichern… Man kann nun sagen, daß es verschiedene Arten geschlossener Sinnbereiche gibt,wobei der Unterschied im Grad der Konsequenz von „Auswanderung“ aus der Wirklichkeit des Alltagslebens besteht. Der Traum ist wohl der am dichtesten eingeschlossene Bereich – der Träumer ist aus der dominanten Realität ganz und gar ausgewandert. Es ist unmöglich, gleichzeitig zu wachen und zu schlafen (obwohl es natürlich im Übergangsbereich Zwischenstufen gibt). Es gibt Erlebnisse des Komischen, die eine sehr ähnliche Qualität haben – wenn man beispielsweie in einem dunklen Theater sitzt und sich völlig in die auf der Bühne gespielte Komödie versenkt. Meist aber wird das Komische auf eine weniger totale, weniger eindeutig umgrenzte Art erlebt. Es erscheint im Alltag, verwandelt diesen momentan und verschwindet rasch wieder. Es kann auch eine Art Subtext innerhalb des Alltags sein, eine Pianissimo-Begleitung der ernsthafteren Motive, um die man sich im „wirklichen Leben“ zu sorgen hat. Das Komische ist also unbedingt ein geschlossener Sinnbereich im Sinne von Schütz, doch einer mit durchaus besonderen Zügen. Es mag auch nützlich sein, das Erlebnis des Komischen mit zwei anderen Erfahrungsbereichen zu vergleichen, die ebenso offensichtlich geschlossene Sinnbereiche darstellen – dem ästhetischen Erleben und der Sexualität. Auch sie sind in der Lage, Realitäten zu schaffen, die für eine gewisse Zeit exklusiv und ganz in sich eingeschlossen existieren. Man kann vollkommen in ästhetische Betrachtung versunken sein oder in einer intensiven sexuellen Begegnung aufgehen. Schütz – der aus Wien stammte, dieser theatralischsten aller Städte – bezog sich gerne auf die Erfahrung des Theaterbesuchers: Wenn die Lichter ausgehen und der Vorhang sich hebt, dann verblaßt die Alltagswirklichkeit, und das, was sich oben auf der Bühne abspielt, scheint die einzige Realität zu sein, die es gibt. Wenn der Vorhang fällt und die Lichter wieder angehen, kehrt man in die angeblich wirklichere Welt zurück, gewöhnlich erst nach und nach. Mutatis mutandis könnte man (wobei der Nicht-Theaterbesucher vielleicht „vive la différence!“ rufen würde) dasselbe auch von einem intensiven sexuellen Erlebnis sagen. Man entledigt sich seiner Kleider, und dann scheint es für die beiden (oder – wer
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kann das heutzutage wissen – die mehreren) nackten Leiber eine Weile nichts Wirklicheres zu geben als das, was sie miteinander tun. Wenn man sich wieder anzieht – oder schon früher –, tritt die Alltagswirklichkeit mit ihrem ganzen Repertoire nicht-sexueller Themen und Rollen wieder in ihre Rechte. Das soll nicht heißen, daß diese beiden „Phantasiewelten“ (mit Schütz’ Bezeichnung) nicht rüde unterbrochen werden können. Im Theater kann es plötzlich brennen; ein irritierter Nachbar kann an die Zimmerwand des Liebesnests hämmern. Tatsächlich kann auch ein plötzlicher Ausbruch des Sinnes für Komik die eine wie die andere Aktivität empfindlich stören und ihre Realität plötzlich ihrer Einzigkeit berauben. Ein Schauspieler kann seinen Text vergessen oder sich versprechen; einer der Teilnehmer der Orgie mag vom Bett rutschen. Aber schließlich kann auch der intensivste Traum plötzlich durch ein Ereignis in der „wirklichen Welt“ unterbrochen werden. Trotzdem hat das Komische mit dem ästhetischen und sexuellen Erleben genau jene oben erwähnte flüchtige oder „subtextuelle“ Qualität gemeinsam. Mitten in einer geschäftlichen Besprechung kann man plötzlich von der Schönheit des Blicks aus dem Fenster überwältigt werden, und das „ernsthafte“ Thema verschwimmt. Oder man ertappt sich dabei, wie man das Gegenüber bei der Verhandlung in Gedanken auszieht, und einen Augenblick lang ist dieser Vorgang interessanter als der ganze Deal. Der „ernste“ Geschäftsmensch wird natürlich solche irrelevanten Regungen rasch unterdrücken und seine Aufmerksamkeit wieder auf die Verhandlungen richten. Immerhin gibt es „unernste“ Individuen, die „sich vergessen“ und ihren ästhetischen oder erotischen Impulsen folgen. Solche Individuen werden – falls sie nicht bereits eine hohe Position erreicht haben – wahrscheinlich keine brillante geschäftliche Karriere machen. Wie die ästhetische oder erotische Realität, kann auch die Realität des Komischen sich auf sehr nuancierte Weise zur Alltagswirklichkeit verhalten. Sie kann dazu führen, daß man dem Alltag entflieht, zumindest einen Augenblick lang, vielleicht für längere Zeit, in manchen Fällen auf Dauer. Sie kann auch die Wirklichkeit des Alltags herausfordern: Das Beispiel des politischen Witzes, der seinem Wesen nach subversiv ist, steht für diese Möglichkeit. Sie kann den Alltag auch bereichern, wenn sie in nuancierter, maßvoller Weise erscheint: Ein leiser Scherz kann eine laufende Geschäftsverhandlung erleichtern, ebenso wie das ästhetisch befriedigende Dekor des Besprechungszimmers oder der sanfte frisson sexueller Anziehung. In diesem Fall werden natürlich das Komische, Ästhetische und Sexuelle in stark kontrollierter, „domestizierter“ Form erfahren. Es wird ihnen nicht gestattet, das Alltagsgeschäft zu stören. Die Verhaltensmaßstäbe einer Gesellschaft stehen für eine solche Kontrolle jederzeit zur Verfügung. Die dominante Wirklichkeit des Alltags verteidigt sich stets gegen die immerwährende Gefahr, daß die anderen, hinter ihrer Fassade lauernden Wirklichkeiten sie hinwegfegen.
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In diesem Sinne sind die komische, die ästhetische und die sexuelle Wirklichkeit immer (zumindest potentiell) subversiv. Der Künstler und der Libertin sind potentiell gefährliche Figuren – ebenso der Adept des Komischen. Doch ist die Gefahr der Subversion natürlich wechselseitig gegeben. Der Alltag wird von den geschlossenen Sinnbereichen bedroht und stellt wiederum selbst eine permanente Gefahr für die fragile Realität jedes einzelnen geschlossenen Sinnbereiches dar. Im normalen Gang der Dinge ist der Alltag die stärkere Partei. Ehe wir die vorläufige Erforschung des in den Alltag eindringenden Komischen abschließen, vergleichen wir sinnvollerweise noch das Komische mit einem entfernt verwandten Phänomen, das ebenfalls einen Gegensatz zum „Ernst“ bildet – dem des Spiels. Hierzu nehmen wir als Führer das mittlerweile klassische Werk Homo Ludens des niederländischen Historikers Johan Huizinga. Huizingas Buch enthält eine kühne und weitreichende These – daß die gesamte menschliche Kultur, angefangen mit der Sprache, ihren Ursprung im Spiel hat. Diese These und die Frage, ob sie zutrifft oder nicht, brauchen uns hier nicht zu beschäftigen. Doch Huizingas Darstellung des „ludischen“ Phänomens liegt so nahe bei unserem Gegenstand, daß wir sie berücksichtigen sollten.Von Anfang an hebt Huizinga in seiner Argumentation auf die Autonomie des Spiels ab, auf seine Natur sui generis. Er beginnt zwar tatsächlich damit, das Spiel mit dem Lachen und der Komik zu vergleichen, besteht dann aber darauf, daß es sich von beidem unterscheide. Das Spiel ruft gewöhnlich weder bei den Spielern noch den möglicherweise anwesenden Zuschauern Lachen hervor, und gewöhnlich haben Spielende auch nichts Komisches an sich. Aber das Spiel fügt sich auch nicht ein in andere Kategorien menschlichen Erlebens: „Das Spiel liegt außerhalb der Disjunktion Weisheit-Torheit, es liegt aber auch ebensogut außerhalb der von Wahrheit und Unwahrheit und der von Gut und Böse. Obwohl Spielen eine geistige Betätigung ist, ist ihm an sich noch keine moralische Funktion, weder Tugend noch Sünde gegeben.“4 Und, fügt Huizinga hinzu, das Spiel unterscheidet sich auch vom ästhetischen Erlebnis, obwohl es gewisse Affinitäten gibt. Für uns laufen die wichtigsten Beobachtungen Huizingas darauf hinaus, daß das Spiel – um noch einmal Schütz’ Kategorie zu verwenden – eindeutig ein geschlossener Sinnbereich ist, in welchen die Individuen aus dem Alltag „auswandern“ können: „Spiel ist nicht das ‘gewöhnliche’ oder das ‘eigentliche’ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus diesem in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz.“ Es ist „ein Intermezzo im täglichen Leben“. Und: „Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Ort und seine Dauer. Seine Abgeschlossenheit und Begrenztheit bilden sein drittes Kennzeichen [neben den zuvor erwähnten der Freiheit und der Interesselosigkeit]. Es ‘spielt’ sich innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum ‘ab’. Es hat seinen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst.“5
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Die Ähnlichkeiten mit dem Komischen liegen auf der Hand. Auch das Komische ist ein Intermezzo, ein Zwischenspiel. Zwischen was? Nun, ganz offenbar zwischen den „ernsten“ Betätigungen der Alltagswelt. Diese Eigenschaft kommt, wie Huizinga ausführlich darlegt, allen Formen des Spiels zu, von den einfachsten bis zu den hochkomplizierten: Ob nun ein Kind mit ein paar Steinchen oder mit Spielsachen hantiert, ob eine Gruppe von Kindern miteinander spielt (Jean Piaget und George Herbert Mead haben gezeigt, welche entscheidene Bedeutung das Spielen im Sozialisationsprozeß hat), ob Erwachsene Poker oder Schach, Fußball oder Baseball spielen, oder ob es um die geheiligten Spiele des religiösen und politischen Rituals geht. In jedem Falle treten die Spieler aus dem gewöhnlichen Leben heraus und hinein in eine gesonderte Realität mit eigener Logik, eigenen Regeln, Rollen und Raum-Zeit-Koordinaten. Wenn die Spieler wieder in das gewöhnliche Leben zurückkehren – etwa wenn Gewinner und Verlierer sich die Hand schütteln –, sagen sie vielleicht wie nach einem Traum oder einem Spaß: „Es war nur ein Spiel.“ Aber auch die Unähnlichkeiten sind wichtig. Am wichtigsten vielleicht, daß das Komische sich schärfer auf den Menschen beschränkt als das Spiel. Tiere spielen; Tiere lachen nicht und machen keine Witze. Auch hat der Homo Ludens in stärkerem Maße die Fähigkeit, eine abgeschlossene, in sich ruhende Realität zu schaffen, als der Homo Ridens. Um es noch einmal so zu formulieren: Das Komische ist flüchtiger, stärker mit dem Alltag verwoben; das Spiel dagegen tritt seltener als subtiler Subtext auf und erfordert eher die bewußte, scharfe Trennung von normalen Aktivitäten. Das Spiel, so scheint es, muß immer absichtlich begonnen werden (dies bezeichnet Huizinga als seine „Freiheit“); es wird herbeigeführt. Das Komische kann zwar auch absichtlich konstruiert sein – man erzählt einen Witz, man führt eine Komödie auf. Aber sehr häufig „passiert“ es dem Individuum einfach, es stößt ihm zu. Es ist vorstellbar, daß das Erlebnis des Komischen in der menschlichen Neigung zum Spiel wurzelt. Das Komische mag sich sogar beschreiben lassen als eine Form des Spielerischen – doch wenn das zutrifft, dann handelt es sich jedenfalls um eine ganz einzigartig ausgeprägte Form. Diese Eigenheit zeigt sich in der Tatsache, daß nur Menschen lachen, während sie die Fähigkeit zu spielen mit den Tieren teilen. Schließlich – und das ist sehr wichtig – sind am Spiel zwar die verschiedensten Wahrnehmungen beteiligt, aber es bleibt doch vorwiegend eine Form aktiven Handelns. Hingegen läßt sich das Komische zwar in bestimmten Handlungsweisen ausdrücken, aber überwiegend ist es eine Form der Wahrnehmung, eine ausschließlich menschliche. Das Komische wird wahrgenommen als die Wahrnehmung einer ansonsten verschlossenen Dimension der Wirklichkeit – nicht nur seiner eigenen Wirklichkeit (so, wie ein Spieler die Realität seines Spiels wahrnimmt), sondern der Wirklichkeit an sich. Das
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Eindringen des Komischen bedeutet das Auftreten dieser Art von Wahrnehmung in jedem nur erdenklichen Erfahrungsbereich. Das Komische ist ein ausschließlich menschliches Phänomen. Als solches ist es universell. Selbstverständlich unterscheiden sich die Erfahrungen des Komischen innerhalb verschiedener Kulturen. Um Pascals Satz abzuwandeln: Was auf der einen Seite der Pyrenäen komisch ist, ist es auf der anderen Seite nicht. Das gilt aber auch für das ästhetische Erlebnis und die sexuelle Attraktivität, und in der Tat – um Pascal richtig zu zitieren – für das, was als wahr oder irrig gilt. Die kulturelle Relativität der komischen Erfahrung ist wichtig, aber sie sagt uns wenig oder nichts über die kognitive Gültigkeit seiner angeblichen Wahrnehmung. Und sie läßt die vorher aufgeschobene Frage noch immer unbeantwortet – die Frage, was denn da eigentlich angeblich wahrgenommen wird.
2 Philosophien des Komischen und die Komödie der Philosophie Die Geschichte der westlichen Philosophie beginnt mit einem Witz. Das ist nur wenig übertrieben. Platon legt im Theaitetos dem Sokrates die folgende Anekdote in den Mund: Wie auch den Thales, o Theodoros, als er, um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet, in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thrakische Magd soll verspottet haben, daß er, was im Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe.1
Und Platon fügt die Beobachtung hinzu, daß dieser Spott jedem gelte, der sich mit der Philosophie einlasse. Tatsächlich gibt es noch eine frühere Version der Anekdote. Platon hat sie den äsopischen Fabeln entnommen, wo sie sich auf einen Astronomen bezieht. Warum aber Thales? Und gibt es einen Grund, weshalb die Magd (die nicht nur witzig ist, sondern auch hübsch – „artig“ in unserer Übersetzung) aus Thrakien stammt? Wenn man den archetypischen komischen Sturz mit Thales inszeniert, dann führt diese Anekdote in die früheste Dämmerung der griechischen Philosophie. Thales von Milet war einer der frühen Vorsokratiker; er lebte von der Mitte des siebten bis in die Mitte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. Herodot setzt ihn an die Spitze seiner Liste der Sieben Weisen. Er ist unter anderem für seine Theorie bekannt, daß das Wasser das Urelement aller Dinge ist, und für seinen Satz, daß die Welt voller Götter ist. Er sagte im Jahre 585 v.Chr. eine Sonnenfinsternis voraus (eine Leistung, die gewiß lange Blicke in den Himmel erforderte). Wollte Platon zum Ausdruck bringen, daß das Philosophieren schlechthin gerne zum Gegenstand des Spottes wird, hätte er sich keinen repräsentativeren Philosophen aussuchen können. Weniger eindeutig ist es, weshalb die artige Magd aus Thrakien stammt. Unbelastet vom Gewicht altphilologischer Gelehrsamkeit kann man frei spekulieren: Thrakien ist das Land, wo der Dionysoskult seinen Ursprung genommen haben soll. So könnte man spekulativ interpretieren: Die kleine Geschichte konfrontiert den Ur-Philosophen mit der Ur-Komikerin und wirft Licht auf die Ursprünge der griechischen Komödie ebenso wie auf den Beginn des griechischen Philosophierens. Die klassische Altertumswissenschaft ist sich natürlich in fast allen Fragen uneins. Es gibt aber einen weitreichenden Konsensus, daß sowohl Tragödie wie Komödie im Umkreis des Dionysoskultus entstanden sind.2 Die Tragödie hat dabei wohl die tieferen dionysischen Wurzeln. Aristoteles leitet das Wort „Komödie“,
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kômôdia, als das Lied des kômos ab – der ekstatischen Menge, die an den dionysischen Riten teilnahm. Die klassische Literatur kennt viele Beschreibungen dieser Riten – sie waren rauschhaft, orgiastisch, sie verletzten in Wort und Tat alle Konventionen des Anstands und waren entsprechend gefährlich. Dionysos ist der Gott, der alle gewohnten Schranken zerbricht, und seine Anhänger tun es ihm nach – sie werden satyrische Wesen, groteske Mischungen aus Mensch und Tier. Die Komödie bewahrt diese dionysischen Züge auf, wenn sie auch in späteren Zeiten abgeschwächt werden – domestiziert, sozusagen; es werden der Komödie die Reißzähne gezogen. Die komische Erfahrung ist ekstatisch – wenn nicht im archaischen Sinn einer rasenden Entrücktheit, so doch in der ruhigeren Form von ek-stasis,von einem „außerhalb Stehen“, außerhalb der normalen Meinungen und Gewohnheiten des Alltagslebens. Die komische Erfahrung ist orgiastisch – wenn nicht im alten Sinne sexueller Promiskuität, so doch in dem metaphorischen Sinne, daß sie zusammenbringt, was Konvention und Moral streng getrennt sehen wollen. Sie gibt jegliche ernsthafte Anmaßung der Lächerlichkeit preis – auch die des Heiligen. Insofern ist die Komik aller öffentlichen Ordnung gefährlich. Sie muß unter Kontrolle gebracht und in eine Art Freigehege gesperrt werden. Man könnte sagen, daß die Komödie auf dem Theater schon eine solche Eingrenzung des komischen Erlebens ist, eine Ritualisierung in gesellschaftlich akzeptablen Formen innerhalb der Grenzen der Bühne. Die Zuschauer im Theater lachen, und das mag sie davon abhalten, im Bezirk der Religion und des Staates (und über diese) zu lachen. In der griechischen Mythologie und Religion steht Dionysos gewöhnlich Apollon gegenüber, der Gott der Dunkelheit und der archaischen Leidenschaft dem Gott des Sonnenlichtes und der Vernunft. Diese Entgegensetzung wurde in der modernen Philosophie durch Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik berühmt, und Nietzsches Unterscheidung der „dionysischen“ und „apollinischen“ Elemente in der menschlichen Kultur ist vielfach aufgegriffen worden. Doch sind die beiden Götter, mögen sie auch Gegensätze sein, miteinander verbunden – wie Komödie und Tragödie. In Delphi, dem wichtigsten Heiligtum Apollons, wurden die dionysischen Riten in die Verehrung des Gottes der sonnenhaften Vernunft miteinbezogen. Man kann sich gut vorstellen, wie das geschah: Tatsächlich könnte man sich eine hübsche Komödie über diesen Vorgang ausmalen. Man stelle sich vor, wie die Priester mit den gemessenen Zeremonien zu Ehren des delphischen Apollons beschäftigt waren, und man stelle sich ihren Ärger vor, wenn gelegentlich ein dionysischer kômos hereinstürmte und den wohlgeordneten Ablauf mit obszönem Gekreisch und ekstatischen Konvulsionen unterbrach. Eines Tages aber hatte ein weiser Priester mit einer machiavellistischen Ader eine Idee. „Hört mal“, wird er zu seinen Kollegen gesagt haben, „wir werden dieses entsetzliche Pack so oder so einfach nicht los. Nehmen wir diese
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Figuren lieber gleich unter Vertrag und geben wir ihnen einen festen Platz im Programm.“ So bekamen die dionysischen Komödianten einen Platz im Festkalender des Heiligtums – dienstags und donnerstags von drei bis fünf Uhr nachmittags oder so. Zu diesen Zeiten konnten sie nach Herzenslust kreischen und sich auf dem Boden winden, und während der übrigen Zeit hatte das nicht-dionysische Personal seine Ruhe und konnte seiner ernsten Arbeit nachgehen. Das Grundprinzip ist Beherrschung durch Vereinnahmung. Übrigens eine hervorragende Regel zur Zähmung aller Arten von Revolutionen, aber das ist eine andere Geschichte. Philosophie wie Komödie erlebten eine Blütezeit im Athen des fünften Jahrhunderts. Sokrates lebte wahrscheinlich von 469 bis 399 v.Chr.; das erste Stück des Aristophanes wurde 427 aufgeführt (und natürlich brachte Aristophanes in einem späteren Theaterstück einige massive Gemeinheiten über Sokrates auf die Bühne). Doch ehe sich die Komödie als eigenständige dramatische Form herausbildete, war sie Bestandteil der Tragödienaufführungen – sie gehörte ins tragische „Programm“, und zwar als sogenanntes Satyrspiel, das als eine Art Nachspiel in dionysischem Stil den Abschluß einer Reihe von Tragödien bildete. Im ganz buchstäblichen Sinne brachte es das, was man im Englischen „comic relief“ nennt – Komik, die eine Spannung löst. Welche Spannung? Nun, eben die des tiefen Ernstes der Tragödie. Nach den Tränen kam das Gelächter. Dieses Gelächter verwischte oder leugnete die Gefühle nicht, welche das tragische Schauspiel geweckt hatte. Aber es machte sie vielleicht erträglicher und erlaubte es den Zuschauern, mit einer gewissen Gelassenheit das Theater zu verlassen und wieder zu ihren gewöhnlichen Verrichtungen zurückzukehren. So war die Zähmung der komischen Ekstase psychologisch wie politisch nützlich. Angesichts der Tatsache, daß uns das Komische ständig und überall begegnet, könnte man erwarten, daß die Philosophie sich entsprechend häufig mit ihm befaßt hat. Das ist überraschenderweise nicht der Fall – nicht bei den Griechen, und auch später nicht. Vielleicht fällt hier Thales einfach endlos in den Brunnen. Doch die Art und Weise, wie die Philosophen sich mit dem komischen Erlebnis befaßt – und nicht befaßt – haben, hilft uns beim Verständnis des Phänomens weiter. (Mit anderen Worten: dieses Kapitel hat eine gewisse Berechtigung.) Platons Theaitetos befaßt sich nicht eigentlich mit dem Komischen – die Anekdote von Thales und der thrakischen Magd wird eher beiläufig erzählt. Doch hat Platon einen anderen Dialog verfaßt, den Philebos, in dem die Komödie recht ausführlich behandelt wird.4 Die Hauptfrage, die hier erörtert wird, ist, ob ein Leben des Genusses oder ein Leben der Erkenntnis vorzuziehen sei. Philebos (dessen Name auf Liebesgenuß hindeutet) vertritt die erste Ansicht, Sokrates die zweite. Auf die Komödie kommt man im Zusammenhang von Sokrates’ Argumentation zu sprechen, es gebe Vermengungen von Lust und Unlust. Das Publi-
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kum bei Tragödien und Komödien genießt sowohl seine Tränen wie sein Gelächter. Doch das Vergnügen, das wir an der Komödie haben, ist besonderer Art: Diese Lust beruht sozusagen auf Bosheit und Neid – dem Genuß des Übels, das anderen zustößt. Die Komödie macht diejenigen lächerlich, die sich für reicher, stärker, schöner oder klüger halten, als sie es in Wirklichkeit sind, und das Publikum genießt diesen Widerspruch. Sokrates und Philebos waren sich zuvor einig, daß die Bosheit eine Form der Unlust ist (nicht sehr überzeugend), so daß der Genuß, den das Publikum empfindet, als Bestätigung der sokratischen Behauptung gesehen werden kann, daß sich Lust und Unlust vermengen können. Das mag nicht von besonderem Interesse sein, aber der Philebos deutet auf die große Bedeutung von Herabsetzung und Demütigung in der Komik hin, ein Phänomen, das bei späteren Theoretikern des Komischen großen Stellenwert hat. Der Anblick von jemandem, der ausrutscht und hinfällt, gilt sozusagen als zentrales Element der komischen Erfahrung. Auch die Vorstellung, daß dem komischen Vergnügen Neid und Boshaftigkeit zugrundeliegen, wird noch vielfach auftauchen. Da es sich hier kaum um schätzenswerte Eigenschaften handelt, sind wir bei einer ethischen Frage: Ist am Lachen etwas moralisch Dubioses? Platon, sollte man hinzusetzen, war von der Idee der Ordnung besessen – eine überaus ernste Angelegenheit. So überrascht es nicht, daß er seine Zweifel hat, wenn es um das Lachen geht. Aristoteles hatte einiges zu Tragödie und Komödie zu sagen, vor allem in seiner Poetik. Unglücklicherweise ist das zweite Buch dieses Werkes, in dem die Komödie ausführlich behandelt wurde, verschollen (ein Umstand, der in Umberto Ecos Der Name der Rose eine entscheidende Rolle spielt). Doch hier haben wir einen Abschnitt aus dem erhaltenen Teil der Poetik, dem wir zumindest einen Hinweis auf Aristoteles’ Ansicht entnehmen können: Die Komödie ist, wie gesagt, Nachahmung schlechterer Menschen, aber nicht in bezug auf jegliche Art von Schlechtigkeit überhaupt, sondern nur mit Bezug auf das Lächerliche, das zum Häßlichen gehört. Das Lächerliche ist ein häßlicher Fehler, der aber anderen keine Schmerzen und kein Leid zufügt, wie auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, aber ohne den Ausdruck des Schmerzes.5
Die Komödie wird hier als „Nachahmung“ (Mimesis) gesehen, das heißt als spezifische Darstellung von Realität. Das Häßliche, der Fehler, die Verzerrung – das deutet alles auf eine wesentliche Diskrepanz, eine Unregelmäßigkeit, einen Riß im Material der Wirklichkeit. Die komische Darstellung enhüllt die Diskrepanz. (Man kann auch sagen, daß es eine komische Ur-Erfahrung ist, jemanden auf den Hintern fallen zu sehen.) Diese Themen finden sich auch bei Platon. Aristoteles fügt noch einen anderen Punkt hinzu: daß die Komödie im Unterschied zur Tragödie die Betrachtung dieser Aspekte des Lebens auf schmerzlose Weise ermöglicht. Seine Vorstellung von der reinigenden Wirkung des Tragischen, der
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Katharsis, ist bekannt: Sie „reinigt“ die Zuschauer durch – wie diese problematischen Begriffe traditionell übersetzt werden – Furcht und Mitleid. Gab es für Aristoteles auch eine komische Katharsis? Wenn ja, wäre diese dann eine Reinigung durch Mitleid ohne Furcht gewesen? Eco ist nicht der einzige, der das gerne gewußt hätte. Jedenfalls finden wir hier einen interessanten und wahrscheinlich richtigen Gedanken: Die komische Erfahrung ist schmerzlos, oder zumindest relativ schmerzlos im Vergleich mit der Tragödie, da sie eine größere Abstraktion von der empirischen Realität des Menschenlebens vornimmt. Aristoteles scheint zu glauben, daß die Komödie deshalb harmloser ist als die Tragödie; wenn er wirklich dieser Ansicht war, täuschte er sich. Die Themen, die Platon und Aristoteles anschlugen, hallten anscheinend durch die ganze Antike hindurch noch nach, wann immer sich ein Autor mit dem Phänomen des Komischen befaßte. Cicero kann als typischer Repräsentant dieser Tradition gelten. Hier ist ein Schlüsselsatz aus seinem Traktat über Rhetorik: Der Sitz und sozusagen der Bereich des Lächerlichen… findet sich im Unschicklichen und Mißgestalteten, denn man lacht nur oder doch hauptsächlich über das, was etwas Unschickliches auf schickliche Weise bezeichnet.6
Cicero geht es um die öffentliche Rede und weniger um das Theater (und zwar nicht nur in diesem einen Traktat – er war schließlich in erster Linie ein Rechtsanwalt und Politiker), so daß hier die Betonung etwas anders liegt. Wir haben zwar wieder die Erwähnung des „Mißgestalteten“, Deformierten, es geht um Diskrepanz. Doch ist Ciceros Interesse hier vor allem ein praktisches. Er rät dem Redner zur Vorsicht beim Gebrauch des Lächerlichen, da es die Gefühle der Hörer auf eine Weise verletzen könnte, die den Absichten des Redners zuwiderläuft. Er nimmt eine lange Beispielliste von Witzen aus Reden verschiedener Figuren der römischen Öffentlichkeit durch (die heute fast alle in Fußnoten umständlich erläutert werden müssen, und die der moderne Leser nur in den seltensten Fällen komisch finden wird). Dabei wird wieder die ethische Frage aufgeworfen: Gibt es Umstände, unter denen es sich verbietet, jemanden oder etwas lächerlich zu machen? Abgesehen von solchen moralischen und praktischen Erwägungen weist uns Cicero auf eine neue Facette des Komischen hin: Am häufigsten entsteht ein Witz, behauptet er, wenn wir etwas Bestimmtes erwarten und etwas anderes eintritt. Diese Form von Ambiguität ist also ein wichtiger Bestandteil der Komik. Cicero erörtert auch die „ironische Verstellung“, bei der man das Gegenteil dessen sagt, was man meint. Er hätte gewiß die Ironie in Shakespeares Version der Leichenrede des Antonius auf Caesar zu schätzen gewußt: „Begraben will ich Cäsar, nicht ihn preisen“ (obwohl Cicero, ein entschiedener altrömischer Republikaner, kaum mit den politischen Zielen des Antonius sympathisierte).
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Die Perspektive der Antike auf das Komische, grundsätzlich recht säuerlich und von moralischen Skrupeln geplagt, setzt sich im frühchristlichen und mittelalterlichen Denken fort.7 Weder die Kirchenväter noch die Scholastik wußten viel Gutes vom Lachen zu sagen, das häufig als verwerfliche Abweichung von den eigentlichen christlichen Aufgaben gesehen wurde: die Sünden dieser Welt zu beweinen und sich auf die Freuden der nächsten vorzubereiten. Natürlich heißt das nicht, daß es in dieser ganzen Zeit kein Lachen und keinen Sinn für Komik gab. Es gab auf jeden Fall (neben vielem anderem) die überschwengliche, explosive Komik des Karnevals, eines Festes, das sich in wahrhaftiger apostolischer Sukzession von den Dionysien herleitete. Hierzu später mehr. Die christlichen Philosophen hatten auf diesem Gebiet den Einsichten ihrer heidnischen Vorgänger wenig hinzuzufügen. Erst mit dem Beginn der Moderne erscheinen in der westlichen Philosophie neue Gedanken zum Komischen.8 Direkt am Anfang der modernen Epoche steht ein komisches Meisterwerk, das Lob der Torheit des Erasmus.9 Das Buch, selbst in sich ein langer Witz, leitet seine Form vom mittelalterlichen Karneval ab, der auch als Narrenfest bekannt war. Die Idee zu diesem Buch kam Erasmus im Sommer 1509, als er auf einer Reise von Italien nach England über die Alpen ritt. Er schrieb das Buch während des Aufenthalts bei seinem Freunde Thomas Morus in London (der Titel enthält ein freundschaftliches Wortspiel: Die Narrheit heißt auf Griechisch moria, und Moriae Encomium spielt auf den Namen Thomas More an). Erasmus nahm später eine zwiespältige Haltung zu diesem Werk ein und verteidigte sich gegen seine Kritiker mit der Bemerkung, er habe nicht wirklich gemeint, was er da schrieb, das Buch sei ein unschuldiger Scherz. Wenn dies wirklich sein Ernst war, ergibt es wiederum einen schönen Witz, denn unter all seinen zahlreichen Werken ist es gerade dieses Buch, auf dem sein Ruhm bei der Nachwelt hauptsächlich beruht. Das Buch ist eine lange Predigt, gehalten von der personifizierten Torheit (Stultitia), bekleidet mit der Schellenkappe, die zur Berufstracht des Narren gehörte. Die Torheit verkündet, sie sei göttlich, „Quell und Amme allen Lebens“, und sie legt ausführlich dar, daß alle guten Dinge im Leben von ihr herrühren. Der Torheit wegen können die Menschen spontan und unvernünftig leben, und nur so ist das Leben erträglich. Durch die Worte der Torheit (wenn man so will, kraft ihrer komischen Perspektive) werden alle törichten Anmaßungen der Menschheit entlarvt. Erasmus, der mit Akademikern seine unangenehmen Erfahrungen gemacht hatte, vor allem mit der Universität Paris, genießt es besonders, die Flausen der Philosophen und Intellektuellen (die er beschreibt als „jene, die nach dem ewigen Leben trachten, indem sie Bücher veröffentlichen“) zu verspotten: Die Menschen machen, bei Gott, immer noch viel Wesens von dem berühmten Satze Platons, daß der Staat dann glücklich sein wird, wenn Philosophen Könige oder Könige Philosophen
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geworden sind. Tatsächlich wird man sehen, wenn man die Geschichtsschreiber befragt, daß kein Fürst dem Staat je gar so übel mitgespielt hat, als wenn das Szepter in die Hände eines Winkelphilosophen oder Literaturfreundes fiel.10
Und hier haben wir Erasmus’ Charakteristik der Philosophen: Wie herrlich rasen auch sie, wenn sie zahllose Welten errichten, wenn sie Sonne, Mond, die Sterne und die Sphären berechnen auf Daumenbreite oder Fadendicke, wenn sie die Ursachen von Blitzen, Winden, Finsternissen und anderen unergründlichen Erscheinungen hersagen ohne das geringste Zögern, als seien sie die Geheimsekretäre der Natur selbst, der Architektin aller Dinge, oder als kämen sie geradewegs aus der Ratsstube der Götter. Dabei verlacht die Natur laut sie und all ihre Konjekturen. Denn daß sie tatsächlich rein gar nichts entdeckt haben, geht schon alleine aus der Tatsache hervor, daß sie sich in jedem erdenklichen einzelnen Punkt untereinander aufs Unerhörteste streiten. Obwohl sie gar nichts wissen, geben sie vor, alles zu wissen.11
An derselben Stelle wird bemerkt, die Philosophen würden zwar behaupten, universale Ideen erkennen zu können, sähen aber zuweilen einen Graben oder einen Stein vor ihren Füßen nicht. Der Übersetzer meiner englischen Ausgabe setzt hier in einer Fußnote den Verweis auf Äsop und auf Platons Theaitetos ein: Thales tritt wieder auf (beziehungsweise stürzt wieder ab). Die Torheit durchmißt ein breites Spektrum menschlichen Lebens und Denkens in ihrer Predigt. Ein großer Teil der Satire hat nach über vierhundert Jahren noch Biß, und das Buch ist insofern immer noch ein Vergnügen. In unserem Zusammenhang ist Erasmus’ Werk aber aus einem anderen Grunde wichtig: Vielleicht zum erstenmal war ein umfassend entwickeltes komisches Weltbild entstanden. Es ist dies eine verkehrte Welt, wo alles auf dem Kopf steht und grotesk verzerrt ist – und ebendeshalb enthüllt sich hier mehr von der Wahrheit als in konventionellen Darstellungen, wo oben oben ist und unten unten. Erasmus’ moderner Landsmann Anton Zijderveld hat auf dasselbe Weltbild im Titel seines Buches zur Soziologie des Narren hingewiesen (auf das wir noch eingehen müssen): Wirklichkeit in einem Spiegel. Erasmus hat sozusagen die Weltwahrnehmung einer langen Ahnenreihe von Hofnarren, Vaganten und Komödianten zusammengefaßt und ihr kanonische Form verliehen. Erasmus deutet – vielleicht wirklich zum erstenmal in der Geschichte – an, daß die Erfahrung des Komischen (denn eben dieses wird von der Torheit personifiziert) eine alternative und möglicherweise profundere Weltsicht abgeben kann. Descartes, dessen Werk der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts angehört, gilt meist als der erste moderne Philosoph (es gibt andere Kandidaten für diesen Titel, aber die Beurteilung ihrer jeweiligen Ansprüche gehört kaum in den Rahmen dieses Buches). Er hatte in seinen Leidenschaften der Seele (Les passions de l’âme, 1649) Verschiedenes über das Lachen zu sagen, was nicht ganz unin-
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teressant ist. Descartes glaubte, das Lachen sei eine Art physiologische Fehlfunktion (eine These, die man – würde sie ein wenig umformuliert – auch heute noch vertreten könnte), und es liege dem Lachen eine plötzliche Beschleunigung des Blutstroms zugrunde (was man heute als irrig bezeichnen müßte). Von größerem Interesse als Descartes’ etwas abenteuerliche Physiologie ist seine Ansicht darüber,was diesen Körperzwischenfall des Lachens auslöst: Der Schock nämlich, der entsteht, wenn jemand auf etwas Überraschendes und möglicherweise Gefährliches stößt. Er nennt dies „eine Verblüffung durch großes Erstaunen“ (une surprise d’admiration).12 Hier werden zwei Aspekte der komischen Erfahrung angedeutet, die in späteren Theorien dann ausführlicher behandelt wurden: die spezifische Interaktion von Körper und Bewußtsein beim Lachen sowie die schockartige Empfindung, die den Vorgang auslöst. Das sind gültige Einsichten, was immer man auch von der Wissenschaftlichkeit der Physiologie von Descartes halten mag. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert kam es, aus welchen Gründen auch immer, zu einer hektischen Steigerung des Interesses am Komischen in ganz Europa.13 In Frankreich fiel dies mit dem Erscheinen der Komödien Molières zusammen. Die Premiere seines Tartuffe fand 1664 in Paris statt; es folgte eine erregte Kontroverse. Man griff das Stück als moralisch gefährlich und schädlich für die Religion an, und katholische Kreise verhinderten fünf Jahre lang weitere Aufführungen. Molière verteidigte sich im Vorwort zu einer Neuausgabe 1669. Der Schlüsselsatz dieser Verteidigung besagt: „Die Nützlichkeit der Komödie ist es, daß sie die Laster der Menschen berichtigt.“ In direktem Widerspruch zu einer langen Reihe heidnischer und christlicher Kritiker des Komischen haben wir hier nun eine mit Verve vorgetragene Verteidigung der Komödie als einer moralischen Instanz. Die antike Skepsis gegenüber der Komik, die man im Verdacht der Unmoral hatte, war jedoch noch nicht verschwunden. In England äußert sich Hobbes in Human Nature (1640) und im Leviathan (1651) sehr abfällig über das Lachen. Im Anschluß an Platon sieht er es als eine der schlimmsten Eigenschaften des Menschen; sein Zweck ist die Steigerung des Selbstgefühls auf Kosten der weniger Glücklichen. Diese negative Sichtweise wurde vielerorts kritisiert; eine der wichtigsten Kritiken war die des Earl of Shaftesbury (An Essay on the Freedom of Wit and Humour, 1714), der den Witz (wit, nicht joke) – sofern er dem guten Geschmack folgt – als Mittel sieht, zwischen Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden und zwischen Tugend und Laster. Insofern ist der Witz gesellschaftlich nützlich und besitzt in der Tat eine philosophische und ethische Bedeutung. Die Debatte setzte sich das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch fort.14 1776 gab James Beattie in On Laughter and Ludicrous Composition seiner Ansicht Ausdruck, das Lachen werde hervorgerufen von „einer ungewohnten Mischung aus Bezie-
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hung und Widerspruch, die in einem einzigen Zusammenhang gezeigt oder als vereinigt vorausgesetzt werden.“ Das Lachen, so dachte er, wurde immer eleganter, unter anderem des zunehmenden Einflusses der Frauen in der guten Gesellschaft wegen. Dies hielt er für erstrebenswert. Kurz zuvor hatte Frances Hutcheson in Thoughts on Laughter einen Begriff eingeführt, der in der sich fortentwickelnden Theorie des Komischen größte Bedeutung bekommen sollte – das Lachen, schrieb er, ist die Reaktion auf eine Wahrnehmung von Widersprüchlichkeit (incongruity). Im deutschsprachigen Raum hing die Diskussion ähnlich wie in Frankreich eng mit Auseinandersetzungen über die Moral der Komödie zusammen. Insbesondere ging es um die populären Hanswurst-Stücke, die aus den mittelalterlichen Narrenspielen hervorgegangen waren und Gelegenheit zu mehr oder weniger offener Kritik an Autoritäten und Institutionen gaben. 1770 verbot die österreichische Regierung alle Hanswurstspiele in Wien, mit mäßigem Erfolg. Doch führte die Debatte über die moralischen und politischen Gefahren der Komödie unvermeidlich zu Reflexionen über das Wesen des Komischen. Mit anderen Worten, Ethik führte zu Epistemologie: Ist das komische Erlebnis moralisch gesehen etwas Gutes? Aber zunächst: Was ist es denn überhaupt?15 Moses Mendelssohn (Philosophische Schriften, 1761) glaubte, das Lachen enstehe aus der Wahrnehmung des Kontrastes zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit; er betonte allerdings das subjektive Moment bei solchen Wahrnehmungen – was den einen lachen macht, stimmt den anderen traurig. Justus Möser (Harlequin, oder Vertheidigung des Groteske-Komischen, 1761) sah im Lachen ein fundamentales menschliches Bedürfnis, ausgelöst vom Anblick von „Größe ohne Stärke“: Ein Mann fällt zur Erde, und neben ihm stürzt ein Kind. Man lacht über den ersten, weil man seiner Größe Stärke genug zutraute, um sich vor dem Fall zu bewahren; letzteres im Gegentheil weckt Mitleid.16
Kant, der über alles etwas geschrieben hat, schrieb auch etwas über das Lachen. Bedeutsamerweise geschah dies im Zusammenhang einer Ästhetik – das heißt, einer Theorie vom Wesen des Schönen. Diese Einordnung des Komischen in das Feld der Ästhetik sollte in der Philosophie noch eine Zeitlang üblich bleiben. Es ist dies wichtig, weil auf diese Weise der komischen Erfahrung, wenn auch widerwillig, ein epistemologischer Status zugebilligt wird: Das Komische ist nicht nur ein physiologischer oder psychologischer Prozeß, es beinhaltet eine spezifische Wirklichkeitswahrnehmung. So definiert Kant in der Kritik der Urteilskraft die Schönheit als Gegenstand einer Vorstellung „ohne Begriff“.17 Wahrscheinlich wäre Kant mit der folgenden Umschreibung nicht glücklich gewesen, aber man könnte
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sagen, daß die komische Erfahrung ebenso wie die ästhetische (und vielleicht als eine Variante derselben) eine Wahrnehmung der Wirklichkeit ermöglicht, die anders ist als jene, welche die Vernunft bietet. Mit Pascals berühmter Formulierung könnte man dann das Komische als eine Form der „Vernunft des Herzens“ bezeichnen. In einer längeren Erörterung des Lachens folgt Kant Descartes, was dessen (angebliche) Physiologie betrifft.18 Das können wir hier ohne weiteres übergehen. Er betont auch die medizinische Bedeutung des Lachens: Es entspringt einem Gefühl der Gesundheit, es fördert das „Lebensgeschäft“ des Leibes und zeigt so, daß die Seele der Arzt des Körpers sein kann. Doch als er zu der epistemologischen Frage kommt, der Frage, was es ist, das Lachen hervorruft, schließt Kant an Hutchesons Schlüsselbegriff an: Das Lachen wird von „etwas Widersinnigem“ erregt und ist (dies ist Kants eigener Beitrag) „ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“. Um diese „plötzliche Verwandlung in nichts“ zu illustrieren, führt Kant eine Reihe von Geschichten an, die man auch Witze nennen mag: „Ein Indianer, der an der Tafel eines Engländers in Surate eine Bouteille mit Ale öffnen und alles dies Bier, in Schaum verwandelt, herausdringen sah, [zeigte] mit vielen Ausrufungen seine große Verwunderung an, und auf die Frage des Engländers: Was ist denn hier sich so sehr zu verwundern? antwortete [er]: Ich wundere mich auch nicht darüber, daß es herausgeht, sondern wie ihr’s habt herein kriegen können.“ Ferner: Der Erbe eines reichen Verwandten will ihm ein prächtiges Begräbnis bereiten und mietet ein professionelles Trauergefolge. Er beklagt sich: „Je mehr ich meinen Trauerleuten Geld gebe, betrübt auszusehen, desto lustiger sehen sie aus.“ Jemand erzählt von einem Mann, dessen Haar vor großem Kummer über Nacht grau geworden ist; ein anderer erwidert mit der Geschichte von einem Kaufmann, der bei der Rückkehr aus Indien sein ganzes Vermögen auf See verliert, so daß ihm darüber die Perücke grau wird. Man darf vielleicht schließen, daß das Erzählen von Witzen nicht unbedingt die Stärke des Weisen von Königsberg war. Aber er erfaßt unbedingt ein zentrales Element aller Witze und insofern möglicherweise aller komischen Erfahrung: eine groteske Unangemessenheit oder Widersprüchlichkeit, die man plötzlich auf dem Hintergrund einer ganz anderen Erwartung wahrnimmt. Beim Erzählen von Witzen entsteht diese Wahrnehmung bei der Pointe, die im Englischen „punch line“ heißt – eine Bezeichnung, welche Descartes’ Vorstellung vom Schock, der Lachen auslöst, bekräftigt. Die Pointe ist der Punkt, an dem, nach Kants Auffassung, die Erwartung in nichts zusammenfällt. Eine einflußreiche Kritik der Theorie Kants hat Jean Paul formuliert (Vorschule der Aesthetik, 1804).19 Er hielt Kants Auffassung für allzu eng: Das Komische tritt nicht nur auf, wenn eine gespannte Erwartung zunichte wird, sondern mögli-
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cherweise auch im umgekehrten Falle – wenn plötzlich aus nichts etwas entsteht. Jean Paul steht jedoch auch der sozusagen epistemologischen Stoßrichtung von Kants Argumentation skeptisch gegenüber. Wie Mendelssohn betont er das Subjektive am Gelächter. Der eine weint über das, worüber ein anderer lacht. Das Komische ist immer im Subjekt zu suchen, es hat keine Objektivität. Trotzdem kann Jean Paul der Frage nicht ganz ausweichen, was, von aller Psychologie abgesehen, die komische Wahrnehmung an sich ausmacht. Es ist, meint er, der Kontrast zwischen dem, was einer sein möchte, und was er tatsächlich ist. Wieder wird das Komische als Erlebnis eines Widerspruchs aufgefaßt. Sein gesellschaftlicher Nutzen liegt in seiner entlarvenden Kraft. Jean Paul hat jedoch im Gegensatz zu all den Philosophen das Komische nicht nur analysiert, sondern selbst komische Literatur geschrieben. Es überrascht insofern nicht, daß er sagt, am Ende habe der Humor keinen Zweck außer sich selbst; man solle ihn um seiner selbst willen genießen. Wenn man die Entwicklung der Diskussion im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert verfolgt, sieht man, wie die epistemologische Frage (was das Komische an sich ausmacht) mehr und mehr in den Vordergrund tritt und die moralische Frage, wozu es gut sein könnte,verdrängt.Was letztere Frage betrifft, so setzt sich eine zunehmend positive Auffassung des Komischen durch, die abweicht von der pejorativen Sicht der Antike und der christlichen Tradition. Die Entwicklung der Komödie als dramatischer Form in allen wichtigeren europäischen Ländern erklärt teilweise auch das wachsende Interesse am Komischen. Man könnte darüber spekulieren, ob es so etwas wie einen Zusammenhang mit dem Entstehen des modernen Bewußtseins gibt. Der Genius der Moderne (ob man in ihm nun einen guten oder bösen Geist sieht) liebt es, etwas auseinanderzunehmen, etwas zu enthüllen, hinter die Fassaden der sozialen Ordnung zu schauen. Das führt unweigerlich zu einer Weltsicht, in der es alles mögliche Disparate, Unpassende und Widersprüchliche gibt. Die Verwandtschaft mit der komischen Perspektive ist plausibel. Die gigantische Gestalt Hegels wirft ihren Schatten über die ganze Geschichte der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts. Was er zur Komik zu sagen hatte, ist bedauerlicherweise nicht eben gigantisch. Auch er erörtert das Phänomen im Rahmen seiner Ästhetik.20 Die Komödie, sagt Hegel, zeigt eine Welt ohne Substanz, „eine Welt, deren Zwecke sich deshalb durch ihre eigene Wesenlosigkeit zerstören“.21 Es ist sozusagen eine Parallelwelt – gewichtslos, wie aus Luft, wo man Handlungen leichthin beginnen und beenden kann. Hegel unterscheidet das Lächerliche vom Komischen. Das Lächerliche ist ganz buchstäblich das, was Lachen erregt, und das kann nachgerade alles sein. Man kann aus weisem Verständnis lachen, oder aus Hohn oder aus Verzweiflung. Das komische Lachen – das Lachen, welches vom Komischen hervorgerufen wird – erfährt eine engere Definition. Es ist das Ergebnis von Handlungen in jener Parallelwelt, wo alles geschehen kann, wo an sich kleine und nichtige Zwecke zwar mit dem Anschein von großem Ernst und umfassenden Anstalten zustande
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gebracht werden sollen, dem Subjekt aber, wenn es sein Vorhaben verfehlt, eben weil es etwas in sich Geringfügiges wollte, in der Tat nichts zugrunde geht, so daß es sich in freier Heiterkeit aus diesem Untergange erheben kann.22
Versucht man, diese gewichtige Prosa mit einem Bild zu verbinden, wie sich die „freie Heiterkeit aus dem Untergange erhebt“, so könnte man sich eventuell einen Clown vorstellen, der nach dem Ausrutschen auf einer Bananenschale wieder aufspringt. Dieses Bild hilft jedenfalls beim Verständnis dessen, was Hegel ausdrücken möchte. Hegel folgt aber auch einem Gedankengang, der mittlerweile Tradition hat – er bildet den Begriff des Komischen im Hinblick auf dessen Widersprüchlichkeit. Das Komische entspringt Widersprüchen, die verschiedener Art sein können. Hegel erwähnt den Kontrast zwischen Anstrengung und Ergebnis (vielleicht der clowneske Widerspruch par excellence), zwischen Befähigung und Ehrgeiz, zwischen Absichten und äußeren Zufällen. Sie alle werden als lächerlich wahrgenommen und können zu einer „komischen Auflösung“ führen. Ganz allgemein ergibt sich die Komik aus dem Widerspruch zwischen der menschlichen Subjektivität und der Wirklichkeit, dem „Substantiellen“ – wenn man so will, zwischen der wirklichen Welt, die sehr, sehr schwer ist, und der leichten, gewichtslosen Welt, welcher der Menschengeist entgegenstrebt. Es ist möglich, daß dieser letzte Satz eine Überinterpretation Hegels ist, was nicht unbedingt schlimm wäre. Es ist bekannt (wenn auch vielleicht bedauerlich), daß viele Leute bereits nach einem geringen Quantum Hegelscher Prosa dringend etwas comic relief (oder komische Auflösung) brauchen. Und wenn wir schon von der Widersprüchlichkeit als einer zentralen Kategorie philosophischer Betrachtung des Komischen reden, können wir uns eigentlich dem Elefanten zuwenden. Seit dem Aussterben der Dinosaurier ist der Elefant das größte Tier des Festlandes. Seine Riesengröße ist ehrfurchtgebietend. Doch wie alle riesengroßen Dinge wird er komisch, wenn man ihn mit dem Winzigen konfrontiert. Der Mensch selbst ist natürlich winzig im Vergleich mit dem Elefanten. In der folgenden Geschichte, könnte man sagen, vertritt die Maus (ein in der Tat winziges Tierchen) den Menschen: Eine Maus begegnet einem Elefanten oder, genauer gesagt, ein Mäuserich begegnet einer Elefantin. Die Elefantin ist guter Stimmung und schaut von hoch oben freundlich auf die kleine Maus hinunter. „Hallo, kleine Maus! Ich bin so groß, und du bist so klein! Das ist sehr komisch. Ich mag dich, kleine Maus.“ Der Mäuserich fühlt sich dadurch ermuntert und sagt: „Ach, Fräulein Elefant, darf ich Ihnen etwas sagen, was ich mir schon seit Jahren wünsche? Ich wollte schon immer mit einer Elefantin schlafen. Wie wär’s?“ Die Elefantin lacht schallend und schlägt sich mit dem Rüssel auf die Hinterbeine. „Warum nicht? Nur zu, kleine Maus.“ Die Elefantin legt sich unter eine Kokospalme und läßt der Maus ihren Willen. Und die Maus beginnt, sich ihren alten Traum zu erfüllen, mit großer Anstrengung (vgl. Hegel, supra, über
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Anstrengung und Ergebnis, nicht zu reden von Befähigung und Ehrgeiz). Während die Maus rackert, merkt die Elefantin kaum, was vor sich geht. Tatsächlich schläft sie ein. Doch da fährt ein Windstoß durch die Bäume, eine Kokosnuß fällt herab und trifft die Elefantin auf den Kopf. Sie erwacht und ruft: „Au!“ Die Maus fragt besorgt: „Ach, das tut mir leid – hab ich dir wehgetan?“
Man könnte sagen, daß der Widerspruch zwischen Maus und Elefant, zwischen Mensch und Elefant, den fundamentalen Widerspruch zwischen dem Menschen und der elefantösen Ungeheuerlichkeit des Universums andeutet. In diesem Fall ähnelt der Ehrgeiz des Menschengeistes, das Universum begreifen zu wollen, auf bemerkenswerte Weise dem Ehrgeiz der Maus, die Elefantin zu besteigen. Könnte man sich eine bessere Metapher für die wesentliche Widersprüchlichkeit des Philosophierens überhaupt vorstellen? Auf einem internationalen Philosophenkongreß unterhält sich ein Inder mit einem Amerikaner. „Ihr im Westen habt eine völlig falsche Vorstellung vom Universum. Ihr glaubt, die Erde sei eine Kugel, die sich um die Sonne dreht. Das ist ein Irrtum! Die Erde ist eine flache Scheibe, die auf dem Rücken eines riesigen Elefanten ruht.“ „Sehr interessant“, sagt der Amerikaner. „Aber worauf ruht der Elefant?“ „Unter dem Elefanten steht ein weiterer Elefant“, sagt der Inder. „Und worauf steht der?“ „Nun – ein dritter Elefant stützt den zweiten.“ Und ehe der Amerikaner noch eine weitere Frage stellen kann, beugt sich der Inder zu ihm und sagt: „Begreifen Sie doch – die Elefanten reißen nicht ab bis ganz drunten!“23
Karl Löwith hat die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts als die langsame Verwesung des riesigen Leichnams charakterisiert, den das Hegelsche System darstellt. Das Bild ist nicht sehr schön, aber zutreffend. Löwith zufolge sind die drei wichtigsten Figuren dieses Zersetzungsdramas Marx, Kierkegaard und Nietzsche.24 Von diesen dreien hatte Kierkegaard am meisten zum Komischen zu sagen, in Bemerkungen, die über sein Werk verstreut sind. Das hauptsächliche Interesse Kierkegaards galt natürlich der Religion, und er konzentrierte sich vor allem auf die Ironie als Vorläuferin der religiösen Erkenntnis. „Ironie“ geht auf das griechische Wort für „Verstellung“ zurück: Der Ironiker spielt mit seinem Publikum. Er hat immer etwas anderes im Sinn als das, was er sagt – mehr oder weniger, jedenfalls etwas vom offen Ausgedrückten Verschiedenes. In diesem Sinne ist fast das gesamte Werk Kierkegaards eine gigantische ironische Inszenierung; er läßt ein Werk nach dem anderen unter verschiedenen Pseudonymen erscheinen, die alle eine jeweils andere geistige Position bezeichnen – ein Maskenspiel, oder vielleicht ein „Kuckuck!“-Spiel, bei dem sich der Autor verbirgt, um gelegentlich kurz zu erscheinen. Nur gegen Ende seines Werkes und tatsächlich seines Lebens trat Kierkegaard mit seinen leidenschaftlichen Angriffen auf die dänische Amts-
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kirche hinter den Pseudonymen hervor und veröffentlichte diese Attacken unter seinem eigenen Namen. Eine wesentliche Diskussion des Komischen findet sich in der Unwissenschaftlichen Nachschrift, die unter dem Namen Johannes Climacus erschien.25 Hier sind zwei Schlüsselstellen: Was dem Komischen und Pathetischen [= dem Tragischen] zugrundeliegt, ist das Mißverhältnis, der Widerspruch zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, dem Ewigen und dem Werdenden.26 Das Tragische ist der leidende Widerspruch, das Komische der schmerzlose Widerspruch.27
Beide Aussagen lassen an frühere philosophische Formulierungen denken, die oben in diesem Kapitel erwähnt wurden. Die erste erinnert darüber hinaus an Pascals Beschreibung des Menschen als des Mittelpunkts auf der Strecke zwischen Unendlichkeit und Nichts, und wie bei Pascal ist der Kontext eindeutig religiös. Der Widerspruch ist ein sozusagen kosmischer. Eben aus diesem Grunde kann das Komische als so etwas wie ein Vorhof des religiösen Glaubens gesehen werden. Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, daß der zweiten Aussage eine lange Fußnote folgt, die einen winzigen Essay über das Wesen des Komischen darstellt. Sollte jeder Ironiker mehrdeutige Texte verfassen und seine bündigsten Gedanken in die Fußnoten setzen? Diese hier besteht tatsächlich vor allem aus einer langen Liste von Witzen, die jeweils einen vorgeblich „schmerzlosen“ Widerspruch enthalten. Ein vierjähriges Kind dreht sich zu einem dreieinhalbjährigen um und sagt fürsorglich: „Komm nun, mein Lämmchen.“ Ein Zerstreuter greift mit der Hand in eine vom Diener dargereichte Schüssel Spinat und sagt: „Ach, ich dachte, es wäre Kaviar.“ Ein Bäcker sagt zu einer armen Frau: „Nein, Mutter, Sie bekommen nichts, eben war eine hier, die bekam auch nichts, wir können nicht allen geben.“ Sind diese Geschichten wirklich „schmerzlos“? Vielleicht, doch gibt es Situationen, in denen diese oder ähnliche Witze Licht auf eine sehr schmerzhafte Realität werfen könnten. Die letzte der eben zitierten Pointen erinnert beispielsweise an einen DDRWitz. Ein Mann fragt in der Textilabteilung eines HO-Ladens nach Unterhemden. „Tut mir leid“, sagt die Verkäuferin, „da müssen Sie in den ersten Stock gehen. Dort führen wir keine Unterhemden. Hier haben wir nur keine Hemden.“
Doch Kierkegaard war nicht in erster Linie am Wesen des Witzes interessiert. Er sah im Humor die letzte existentielle Stufe vor dem Glauben, eine Art von Glauben inkognito. Dies sind Einsichten, um die es am Ende dieses Buches gehen wird. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß auch Kierkegaard bei der philosophischen
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Reflexion über die Komik ganz der Richtung zugehört, die wir die Widersprüchlichkeitsschule nennen können. Der wahrscheinlich wichtigste philosophische Text des zwanzigsten Jahrhunderts zum Komischen ist Henri Bergsons Le rire, erschienen im Jahre 1900.28 Ehe Bergson seine zentrale These entwickelt, geht er auf eine Anzahl von Fragen ein, welche mit dem Problem in Zusammenhang stehen. Er betont, daß das Lachen ein rein menschliches Phänomen ist. Andere Tiere mögen dem Lachen ähnliche Symptome zeigen, doch nur der Mensch lacht wirklich. Insbesondere lacht nur der Mensch, weil ihm etwas komisch erscheint – Affen mögen grinsen, doch kaum deshalb, weil ihnen jemand einen Witz erzählt hat. Das Lachen ist Bergson zufolge überdies stets ein Gruppenphänomen und hat insofern soziale Funktion. (Das erscheint fraglich: Es kommt gewiß vor, daß man sich einsam und allein über etwas amüsiert. Doch lassen wir das hier einmal beiseite.) Wichtiger ist es, daß Bergson eine recht verwirrende Seite des Phänomens diskutiert: seinen emotionalen Kontext. Um über das zu lachen, was komisch wirkt, muß man alle anderen starken Gefühle ausblenden, die man in der betreffenden Situation sonst noch haben mag – Mitleid, Liebe, Haß. Anders ausgedrückt: Das komische Erlebnis ergibt sich in einem seltsam antiseptischen Zustand der Wahrnehmung, die von allen Emotionen gereinigt ist, und ähnelt insofern stark der reinen theoretischen Betrachtung. Das Komische verlangt, um ganz zur Wirkung zu kommen, so etwas wie eine momentane Anästhesie des Herzens. Es wirkt einzig und allein auf die Intelligenz.29
Das ist eine bedeutsame Beobachtung. Sie läßt sich leicht mit der Schützschen Kategorie ausdrücken, die im vorangegangenen Kapitel Verwendung fand: Die Erfahrung des Komischen findet in einem „geschlossenen Sinnbereich“ statt. Dies setzt eine Abstraktion von den Bedeutungen voraus, welche dieselben Vorgänge oder Personen im Alltag hätten. In diesem Zusammenhang jedenfalls ähnelt das Komische dem, was Schütz die „theoretische Haltung“ nennt – das heißt die Abstraktion, die man vornehmen muß, wenn ein Phänomen der intellektuellen Analyse unterworfen werden soll. Nehmen wir zwei Fälle: Eine Person, die mir nahe steht, schlägt plötzlich der Länge nach hin. Wenn ich mir hier zu lachen gestatte – das heißt, wenn ich mir erlaube, diesen Vorfall als komisch wahrzunehmen –, dann muß ich für den Augenblick meine Gefühle des Mitleids und der Besorgnis beiseitelassen, denn diese würden ein Lachen verhindern. Wenn wir nun aber annehmen, ich sei ein Arzt, dann ist es mein vorrangiges Interesse, den Zustand meines Freundes zu diagnostizieren, und zu diesem Zweck muß ich ebenfalls alle persönlichen Empfindungen beiseitelassen. Mit anderen Worten: Sowohl der Vorgang der ko-
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mischen Wahrnehmung wie der einer medizinischen Diagnose erfordern eine Abstraktion von den vielfältig verflochtenen Bedeutungen und Emotionen, die das bilden, was Schütz die „dominante Realität“ des Alltags nennt. Übrigens könnte mein Gelächter auch eine Art „Diagnose“ genannt werden – man denke daran, daß das griechische Wort eigentlich ein „Hindurch-Erkennen“ bedeutet: Man sieht durch etwas hindurch. Um das Komische wahrzunehmen oder eine zunächst unsichtbare medizinische Symptomatik festzustellen, muß man durch die Oberfläche der Dinge hindurchsehen. Zwei Bilder illustrieren Bergsons Hauptthese. Das eine ist das Hinfallen, Hinschlagen, Ausrutschen, der Sturz – bereits ausführlich diskutiert, seit Thales in den Brunnen fiel. Das andere ist das beliebte Kinderspielzeug, das Springteufelchen. In beiden Fällen geschieht etwas „automatisch“. Etwas Lebendiges wird auf etwas Mechanisches reduziert, und eben diese Reduktion erscheint komisch. Bergson faßt eine Erörterung verschiedener komischer Gesten zusammen: Die Haltungen, Gesten und Bewegungen des menschlichen Körpers sind in genau dem Maße lachhaft, in dem uns der Körper an einen bloßen Mechanismus denken läßt.30
Anders gesagt: Wir lachen, wenn die reine Körperlichkeit einer Person ihre gesellschaftlichen oder moralischen Ansprüche desavouiert. Der Philosoph fällt in den Brunnen. Der Professor merkt nicht, daß ihm die Nase läuft. Der Prophet pupt. Bergson steht ebenfalls in der Tradition der Erklärung des Komischen aus der Widersprüchlichkeit, aber er definiert diese recht eng. Seine Hauptthese ist es, daß die eigentliche komische Widersprüchlichkeit die zwischen Geist und Körper ist, oder zwischen Leben und toter Materie. Diese Erklärung hat ihren Sinn im weiteren Zusammenhang der Bergsonschen Lebensphilosophie des élan vital, der für ihn den Menschen definiert, doch dies braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Bergsons These erklärt das Phänomen auch ein gutes Stück weit, aber ihre universelle Anwendbarkeit darf bezweifelt werden. Zweifellos umreißt sie sehr genau einen wichtigen Fall komischer Widersprüchlichkeit, doch ist das Phänomen mit diesem Fall noch nicht erschöpft. So hilft uns – um ein bedeutendes Beispiel zu nehmen – der Bergsonsche Ansatz, die im Universum des Humors so breiten Raum einnehmende Sexualkomik zu verstehen. Der Geschlechtstrieb stellt mehr als jeder andere das Eindringen des rein Physischen in die ritualisierte gesellschaftliche Rolle dar – Körper gegen Geist, wenn schon nicht Materie gegen Leben. Dem Philosophen stößt mitten in seinen Darlegungen zu einem komplexen epistemologischen Problem eine unwillkürliche Erektion zu (derer er sich vielleicht nicht einmal bewußt ist). Doch gibt es weite Bereiche des Komischen, die sich nicht in dieses Schema einordnen lassen. Politischer Humor zum Beispiel – was immer hier der Widerspruch ist, es ist nicht der zwischen Geist und Körper,
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Leben und Materie. Dasselbe gilt für den Humor der angeblichen Spezialeigenschaften verschiedener ethnischer oder sozialer Gruppen. Trotzdem hat Bergson die philosophische Diskussion des Komischen vorangebracht. Die Figur des Don Quijote faszinierte ihn, und sie verkörpert auch ausgezeichnet die Qualitäten des Komischen, wie Bergson es sah. Don Quijote bewegt sich in unerschütterlicher Abstraktion von der Alltagswirklichkeit (der Welt Sanchos) durch das Leben. Er ist eine Art Schlafwandler, inspiriert von einer „seltsamen Logik“ (Bergson). Seine Handlungen sind wie geträumt, sie grenzen stets ans Absurde (von der gewöhnlichen Wirklichkeit aus betrachtet), aber sie besitzen auch eine einzigartige Freiheit. Insbesondere sind sie frei von empirischer Überprüfung: Keinerlei Beweise vermögen Don Quijote davon zu überzeugen, daß die edlen Kämpen und unglücklichen Damen seiner Ritterwelt tatsächlich schlichte Bewohner der gewöhnlichsten spanischen Provinz sind. Eben diese Freiheit macht Don Quijote zu einem Heros der Komik. Bergson hat im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen die Grenzen philosophischer Analyse wirklich erkannt. Am Ende seines Buches beschwört er das Bild eines Kindes, das am Strand spielt, wo die verebbenden Wellen Schaum zurückgelassen haben. Das Kind… nimmt eine Handvoll Schaum und ist erstaunt, im nächsten Moment nichts als ein paar Wassertropfen in der Hand zu haben – Wasser allerdings, das viel salziger und bitterer ist als die Wellen, die es herangetragen haben. So entsteht auch das Lachen. Es deutet an der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens leichte Unruhen an… Es ist auch Schaum mit salzigem Konzentrat. Wie der Schaum glitzert es. Es ist fröhlich. Der Philosoph aber, der es aufsammelt, um davon zu kosten, wird vielleicht feststellen, daß die geringe greifbare Quantität, die ihm in der Hand bleibt, eine überraschende Dosis Bitterkeit enthält.31
Abschließend werfen wir einen kurzen Blick auf die Arbeit dreier Philosophen der Gegenwart (im weiteren Sinne) – eines Deutschen, eines Franzosen und einer Amerikanerin. Sie haben jeweils die philosophische Diskussion zur Komik ein Stück weiter gebracht. Joachim Ritter, dessen Essay über das Lachen zuerst 1940 erschien, wird gelegentlich als der Autor zitiert, der die ganze Vorstellung vom Komischen als Widersprüchlichkeit zerstört habe.32 Er betont die große Verschiedenartigkeit des Lachens, vom leisen Lächeln bis zum lauten Lachgebrüll, und die ebenso große Verschiedenartigkeit der Phänomene, die als lachhaft gelten. Am Komischen ist in der Tat das Widersprüchliche beteiligt – aber was man als widersprüchlich betrachtet, ist sehr relativ und hängt davon ab, wie man die Wirklichkeit an sich wahrnimmt. Anders ausgedrückt: Das Komische hängt immer von der Lebenswelt ab, in der es sich ereignet. Man kann nicht über Witze aus Lebenswelten lachen, die man nicht begreift. Deshalb ist es beispielsweise schwierig für den modernen
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Leser, irgendeinen Humor in den vorgeblich komischen Episoden zu entdecken, die Cicero schildert. Die besten jüdischen Witze verpuffen in China. Und was einer Gruppe von Bauarbeitern höchst komisch erscheint, amüsiert Mitglieder der anglistischen Fakultät in Harvard kaum, und vice versa. Ritter hat natürlich ganz recht, was die historische und soziologische Relativität der komischen Widersprüchlichkeit angeht. Doch diese unbestreitbare Tatsache widerlegt noch nicht die Auffassung, daß der Komik wesentlich eine Wahrnehmung von Widersprüchlichkeit zugrundliegt, welche die Relativität von Ort und Zeit transzendiert. Analog ist es zum Beispiel möglich, die der Sprache zugrundeliegende Struktur zu erforschen und die Art und Weise, wie Sprache ganz allgemein Wirklichkeit symbolisiert, obwohl man sich darüber im Klaren ist, wieviele verschiedene Sprachen es gibt, und daß im Chinesischen die Realität anders symbolisiert wird als im Hebräischen. Ritter selbst scheint am Ende seines Essays zu einer Art Widersprüchlichkeitstheorie zurückzukehren. Der Humor, sagt er, ist eine Art Spiel. Doch ist er auch eine Art Philosophie, indem er die Grenzen der Vernunft angesichts der Unübersichtlichkeit von Realität aufzeigt. Dann wird das Spiel ernst, in der Tat gefährlich. Doch wenn dies eine Wahrnehmung ist, die eine thrakische Magd mit einem deutschen Philosophen verbindet (ihrem Wesen nach eine Wahrnehmung von Widersprüchlichkeit), dann sollte man sich nicht allzusehr um die Relativitäten sorgen, die Ritter aufführt. Das Werk von Francis Jeanson über das Lachen erschien im Jahre 1950.33 Er verfolgt einen phänomenologischen und existentiellen Ansatz – das heißt einen Ansatz, der das Phänomen der Komik nicht auf das Ergebnis irgendwelcher unbewußter, mechanischer Prozesse reduziert (hierin ist eine Kritik der Psychoanalyse enthalten), sondern das Komische vielmehr in menschlich bedeutungsvollen – Jeanson sagt „moralischen“ – Kategorien zu fassen sucht. Das Lachen ist ein „intentionaler“ Akt, im phänomenologischen Sinne von Intentionalität – das heißt, das Lachen will immer ein Objekt erreichen. Doch geschieht dies auf ganz eigene Weise. Es ähnelt dem Traum durch seine „spontane Reflexion“, durch die seine Realität in ein und demselben Vorgang hervorgebracht und gerechtfertigt wird. Diese Formulierung erinnert an das „Schlafwandeln“, mit dem Bergson Don Quijotes komische Streifzüge beschreibt. Der wichtigste Aspekt von Jeansons Analyse aber ist seine Beschreibung der befreienden Kraft des Lachens. Jeanson pflichtet Hobbes bei, daß man aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus lacht. Doch entspringt dieses nicht notwendigerweise der Verachtung eines anderen,wie Hobbes meint. Man lacht nicht immer auf fremde Kosten, um einen anderen zu demütigen. Das Lachen kann auch dem souveränen Bewußtsein der eigenen Freiheit entspringen. Das Lächeln ist insofern die höchste Form des Lachens, weil hier ein Subjekt seine Freiheit und die Meisterschaft über sich selbst zeigt. Hier ist es hilfreich, noch einmal das Erscheinungsdatum von Jeansons Veröffentlichung
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zu beachten – das Werk erschien kurz nach der Befreiung Frankreichs, als die Bildwelt der Résistance im Bewußtsein der Franzosen sehr lebendig war.34 Eine der besten Formulierungen des philosophischen Problems der Komik findet sich in einem Werk, das Marie Collins Swabey 1961 veröffentlicht hat.35 Sie betont, wie wichtig es ist, die physischen, psychologischen und sozialen Umstände, unter denen Lachen erregt wird, zu unterscheiden von dem, worüber gelacht wird. Mit anderen Worten: Sie lehnt es ab, die philosophische Forschung nach dem Wesen des Lachens einzustellen, nur weil seine Erscheinungsformen in Raum und Zeit relativ sind. Wie Bergson hält sie daran fest, daß das Lachen nicht nur ein Gefühlsausdruck ist, der den Intellekt unbefriedigt läßt.Vielmehr insistiert sie auf dem kognitiven Charakter des Komischen, auf seinem Potential, zu tieferen Einsichten zu führen. Um dies klar zu machen, unterscheidet Swabey das, was sie das „komische Lachen“ nennt, von anderen Formen. Man lacht etwa, weil man gekitzelt wird, aus Verlegenheit oder vor Freude. Diese Formen des Lachens interessieren Swabey nicht weiter. Sie möchte das ganz besondere Lachen erforschen, das der Wahrnehmung entspringt, daß etwas komisch ist – „komisches Lachen“, unterschieden von allen anderen Möglichkeiten. Die Frage ist, worin denn diese intellektuelle oder kognitive Leistung des Komischen besteht. Swabey stellt fest, daß etwa seit dem achtzehnten Jahrhundert breite Übereinstimmung darüber herrscht, daß das Wesen des Komischen in seiner Widersprüchlichkeit liegt. Doch ist man sich keineswegs einig darüber, wie diese Widersprüchlichkeit zu definieren wäre, das heißt: zwischen was und was hier eigentlich ein Widerspruch herrscht – und, was noch wichtiger ist, ob diese Widersprüchlichkeit nur subjektiv wahrgenommen wird oder einen objektiven Bezug hat. Swabey vertritt eindeutig letztere Position. Die Wahrnehmung, daß ein bestimmtes Element der Wirklichkeit komisch ist, hat ihren Sinn nur vor dem Hintergrund einer allgemeinen Wirklichkeitssicht. Das heißt: Dieser besondere Fall von Komik wird vor einem Hintergrund von – das ist implizit – nichtkomischer Realität gesehen. Man könnte es so sagen (und ich hoffe, die Formulierung widerspricht nicht den Intentionen der Autorin): Die Wahrnehmung des Komischen ist die Wahrnehmuung von etwas, das aus einer Gesamtordnung der Dinge herausfällt. Redet man von Widersprüchlichkeit, so setzt das die Vorstellung einer Normalität von Widerspruchsfreiheit voraus. So hängt die Wahrnehmung des Komischen ab von dem menschlichen Grundbedürfnis, die Realität zu ordnen (sie verhält sich, wenn man so will, zu diesem Bedürfnis parasitär). Das komische Lachen ist quasi der philosophische Instinkt in schwächerer Form. Das kognitive Element des Komischen schließt pure Albernheit oder reinen Nonsens aus (wenn diese natürlich auch Lachen auslösen können – nicht jedoch im Sinne der Autorin ein komisches Lachen). Marie Collins Swabey erörtert die kognitive Fähigkeit des Komischen am Beispiel verschiedener Formen, in welchen
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sich diese Fähigkeit ausdrückt – Ironie und Satire, Witz und Humor (deren einzelne Definitionen im Augenblick keine Rolle spielen). In all diesen Fällen aber handelt es sich bei der Wahrnehmung von Komik nicht nur um den rein subjektiven Ausdruck von Gefühlen oder unbewußten Trieben. Mit größter Bewußtheit geschieht die Wahrnehmung von Komik wohl in jenen Ausdrucksformen, die sich vorwiegend der Sprache bedienen und – etwa als politische Witze – direkt versuchen, die Wirklichkeit zu erläutern. Swabey weist auch die Auffassung zurück, daß die komische Erfahrung vorwiegend „hedonisch“ sei – daß ihr die Suche nach einer lustvollen Empfindung zugrundliege. Natürlich kann Lachen Vergnügen bereiten, aber das ist es nicht, worum es beim Lachen letztlich geht: Der Liebhaber des Komischen wird auf ein Ziel gelenkt, dessen Objektivität vorausgesetzt ist, auf etwas, das jenseits der Subjektivität des Erlebnisses selbst ist… Die Suche nach dem Komischen zielt nicht einfach auf die Erfahrung des Komischen ab – Ziel des Lachens ist nicht nur das Vergnügen am Lachen.36
Das komische Lachen kann eine Waffe sein, insbesondere in der Ironie und der Satire, doch über diese sozialen Funktionen hinaus reicht die komische Intuition einer Ordnung der Dinge, innerhalb derer das menschliche Leben einen Sinn hat. Es gibt noch einen Philosophen der jüngeren Gegenwart, dessen Werk über das Lachen hier berücksichtigt werden muß. Das ist Helmuth Plessner, einer der einfußreichsten Vertreter der Philosophischen Anthropologie. Doch Plessners Werk situiert sich im Grenzbereich zwischen Philosophie und Humanbiologie; es wird deshalb zweckmäßigerweise in einem späteren Kapitel erörtert. Am Schluß dieses Abschnitts wird es nun Zeit, zu fragen, ob der blitzschnelle Durchgang durch die Geschichte der westlichen Philosophie zu irgendwelchen Ergebnissen geführt hat. In der antiken und mittelalterlichen Philosophie sind Erörterungen zum Wesen des Komischen selten, und wenn sie sich finden, geht es meist um die moralische Einschätzung des Lachens (in der Regel eher negativ). Die moderne Philosophie hat dem Thema vor allem in den letzten zweihundert Jahren große Aufmerksamkeit geschenkt. Doch darf man wohl sagen, daß die Resultate nicht gerade überwältigend sind.Vieles wiederholt sich. Das sollte vielleicht niemanden überraschen. Philosophen lassen sich nur von Theologen in der Neigung übertreffen, die eigenen Theorien überaus ernst zu nehmen, und die komische Perspektive stellt alle solche Ernsthaftigkeit radikal in Frage. Doch gibt es wahrscheinlich noch einen tieferen Grund für das distanzierte Verhältnis zum Thema als den Wunsch, die eigenen Größenphantasien nicht zu gefährden. Das philosophische Unternehmen als solches gerät vor dem Phänomen des Komischen in eine gewisse Verlegenheit, und das mag das Zögern vieler Philosophen erklären,
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sich näher mit dem Gegenstand einzulassen. Philosophie ist schließlich der ungeheuerliche Versuch, die gesamte Wirklichkeit mit einer Ordnung der Vernunft zu umfassen. Das Komische entzieht sich seinem Wesen nach dieser Umfassung. Wenn es intellektuell überhaupt zu fassen ist, dann wohl mit irgendeiner Form von Pascals „Vernunft des Herzens“. Deshalb haben viele moderne Philosophen das Thema im Bereich der Ästhetik behandelt, obwohl die ästhetische Erfahrung sich von der komischen deutlich unterscheidet. Wenn der Philosoph das Komische zu fassen sucht, wird es zu Schaum und verdunstet, wie in Bergsons Parabel vom Kind, das am Meer spielt. Trotzdem lassen sich diesem Überblick zwei wichtige Einsichten entnehmen: daß die Erfahrung des Komischen die Wahrnehmung von etwas objektiv „dort draußen“ in der Welt Vorhandenem ist und nicht einfach eine subjektive Erfahrung (obwohl auch dies), die von geschichtlicher und soziologischer Relativität geprägt ist. Mit anderen Worten, diese Erfahrung hat eine kognitive Komponente. Wenn dem so ist, was wird hier „erkannt“? Und dies ist die zweite Einsicht, die mit beträchtlicher Beharrlichkeit von einem Philosophen zum anderen weitergegeben wird: Es ist der Widerspruch zwischen Ordnung und Unordnung und insofern zwischen dem Menschen, der stets nach Ordnung sucht, und den unordentlichen Realitäten der empirischen Welt. Mit anderen Worten – die wahrgenommene Widersprüchlichkeit enthüllt eine entscheidende Wahrheit der menschlichen Existenz: Der Mensch befindet sich in einem Zustand des komischen Widerspruchs zur Ordnung des Universums. Deshalb ist Don Quijote eine so machtvolle und dauerhafte Verkörperung des Geistes der Komik, weit hinaus über die spezielle Situation des spätfeudalen Spanien, die Cervantes satirisch darstellen wollte. Diese Einsicht wird prägnant von Baudelaire ausgedrückt – kein Philosoph, sondern ein Dichter, den es in einem bemerkenswerten Essay über das Komische in der Kunst (1855 veröffentlicht) zu philosophieren drängte. Da das Lachen etwas wesentlich Menschliches ist, ist es auch seinem Wesen nach widersprüchlich, das heißt: gleichzeitig Zeichen unendlicher Größe und unendlichen Elends – unendliches Elend im Vergleich mit dem absoluten Wesen, von dem der Mensch eine Vorstellung hat, unendliche Größe verglichen mit den Tieren. Der permanente Schock, den diese beiden Unendlichkeiten hervorrufen, erzeugt das Lachen.38
Baudelaire nennt das Lachen hier auch „satanisch“. Das Wort hat in seiner Dichtung besondere Bedeutung, aber es deutet auch auf das Dämonische, Unheimliche der Komik, das sich schon in der dionysischen Raserei am Ursprung der griechischen Komödie zeigte. Aber Dionysos und Apollon sind unzertrennlich verbunden. Die Wildheit des einen bezeugt nur die Ordnung des anderen, was Apollons Priester in Delphi offenbar begriffen hatten. Das Komische ist au fond eine Suche nach Ordnung in einer ordnungslosen Welt. Dieses Motiv zieht sich
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durch alle Formen hindurch, in denen die Komik sich ausgedrückt hat, seien es Aktionen, bildliche Darstellungen oder sprachliche. Die komische Erfahrung bietet eine spezielle „Diagnose“ der Welt. Sie „sieht hindurch“ durch die Fassaden der ideologischen und soziologischen Ordnung und enthüllt andere Wirklichkeiten, die dahinter warten. Das Bild vom Springteufel, das Bergson zitiert, sagt mehr aus, als er darlegt. Man sieht zuerst eine gewöhnliche Schachtel – ein vertrauter und harmloser Anblick. Dann springt plötzlich etwas oder jemand durchaus Ungewöhnliches aus der Schachtel heraus. Doch wird sogleich klar, daß dieses oder dieser andere schon die ganze Zeit in der Schachtel gewesen war. Der Springteufel enthüllt, daß die Dinge nicht sind, wie sie scheinen. Es gibt ein (unübersetzbares) deutsches Wort hierfür: Doppelbödigkeit. Hinter diesem Wort steht eine Theaterbühne mit mehr als einer Ebene. Während die Schauspieler auf der einen Ebene agieren, vollziehen sich auf der anderen unsichtbaren Ebene darunter ganz verschiedene und möglicherweise unheimliche Handlungen. Die Trennung der Ebenen ist prekär. Alle möglichen unerwarteten Dinge können plötzlich von „unten“ emporschnellen, wie sich auch Löcher öffnen können, so daß Dinge und Figuren von „oben“ in die fremde Welt drunten verschwinden. Das Komische lehrt, daß alles, was man im gewöhnlichen Leben als selbstverständlich und eindeutig voraussetzt, tatsächlich diesen Charakter der Doppelbödigkeit hat. Aus diesem Grund ist das Komische immer potentiell gefährlich. Wie Kierkegaard klar gesehen hat, begründet dies die Affinität des Komischen mit der religiösen Erfahrung. Der Philosoph sieht gen Himmel und fällt in ein Loch. Dieser Unfall enthüllt den Philosophen als komische Figur. Doch ist sein grotesker Sturz eine Metapher für die menschliche Existenz. In der komischen Erfahrung drückt sich der Geist aus, der in eine anscheinend geistlose Welt geworfen ist. Gleichzeitig deutet das Komische darauf hin, daß die Welt vielleicht doch nicht geistlos ist.
3 Lachende Mönche: Ein ganz kurzes sino-japanologisches Intermezzo Alle im vorhergegangenen Kapitel angeführten Autoren gehören zur Geschichte der westlichen Philosophie. Es wäre aber ein großer Irrtum, daraus zu folgern, daß nur der Westen über das Wesen der Komik nachgedacht hätte. Das Phänomen des Komischen ist universell. Nicht nur lachen alle Menschen (und haben dies auch, wie man annehmen darf, von jeher getan, seit der homo sapiens sich entwicklungsgeschichtlich von seinen Primatenverwandten getrennt hat) – es ist der Wissenschaft auch keine Kultur bekannt, die nicht eine Vorstellung vom Komischen hätte. Mit anderen Worten: Nicht nur die bloße Gebärde des Lachens ist universell, sondern auch das Gelächter über Komisches. Das läßt sich wohl hinsichtlich einer systematischen Reflexion über Komik – durch Philosophen oder andere Theoretiker – nicht sagen. Um so wichtiger ist es, festzuhalten, daß man auch außerhalb der abendländischen Kultur andere Beispiele eines solchen Nachdenkens findet. Eines davon bietet die ostasiatische Kultur. Reisende in Ostasien (China, Japan, Korea) bemerken rasch, daß die Menschen dieser Region bei Gelegenheiten lachen, bei welchen Angehörige westlicher Zivilisationen oder andere Fremde dies nicht tun. Es gibt viele Erklärungsversuche für dieses Phänomen. Ostasiaten lachen, um Augenblicke gesellschaftlicher Peinlichkeit zu überbrücken, um Unterwürfigkeit anzudeuten oder zu signalisieren, daß die Situation als eine freundschaftliche anzusehen ist. Diese Tatsachen sind hier nicht weiter von besonderem Interesse. Die Reisenden stellen auch rasch fest, daß die Menschen dieser Länder gewisse Dinge erheiternd finden, die ihnen selbst nicht so vorkommen (und umgekehrt). Jeder Amerikaner oder Europäer, der versucht hat, einen Vortrag in Tokio oder Hongkong mit kleinen Scherzen zu würzen, hat dies zu seiner Verlegenheit selbst erfahren müssen. Das gehört in die vergleichende Soziologie des Komischen und wird später zu erörtern sein. Aber die ostasiatische Kultur hat auch faszinierende Beispiele einer Philosophie des Komischen hervorgebracht – und kennt in der Tat Philosophen, die von Komikern nur schwer zu unterscheiden sind. Wahrscheinlich sind in diesem Zusammenhang die taoistische Tradition und die von ihr beeinflußten Bewegungen am wichtigsten. Ein Kollege mit reichen Erfahrungen im Dialog zwischen den Weltreligionen hat bemerkt, daß die schwierigsten Partner einer solchen Übung die Taoisten sind.1 Dies nicht deshalb, weil sie intolerant oder dogmatisch wären. Im Gegenteil: weil sie fortwährend lachen und die feierlichen Zeremonien der Verständigung zwischen den Glaubensgemeinschaften als einen einzigen Witz betrachten. Spezialisten für die Geschichte des Taoismus werden beurteilen können, ob diese
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Neigung zur komischen Perspektive zum Wesen dieser Tradition insgesamt gehört oder nur einige der klassischen Figuren auszeichnet. Das wahrscheinlich wichtigste Beispiel bietet Chuang Tzu oder Meister Chuang.2 Er starb um 280 v.Chr., und das unter seinem Namen überlieferte Werk enthält Kapitel, deren Autor er selbst ist, wie auch solche, die von Nachahmern aus seiner Schule stammen (diese Form des freundschaftlichen, in der Tat verehrungsvollen Plagiats ist natürlich keineswegs auf China beschränkt, wie Bibelwissenschaftler wissen). Das Buch beginnt sogar mit etwas,was man eigentlich nur als Witz bezeichnen kann. Natürlich ist es ein sehr chinesischer Witz, und ein zu den fremden Teufeln zählender Leser muß sich einigermaßen anstrengen, ihn zu begreifen. Aber ein Witz ist es doch irgendwie, und einer, den man als philosophischen Witz bezeichnen darf: Im Nördlichen Ozean gibt es einen Fisch, der Kun genannt wird und eine Länge von ich weiß nicht wieviel Li hat. [Ein Li ist etwa eine Drittelmeile.] Er verwandelt sich in einen Vogel namens P’eng mit einem Rücken von ich weiß nicht wieviel Li Länge.Wenn er sich erhebt und auffliegt, verdunkeln seine Flügel den Himmel wie Wolken. Ist das Meer bewegt, begibt sich dieser Vogel zum Südlichen Ozean, dem Himmelssee. Mit den Worten von Ch’i Hsieh, einem Autor, der Wunder aufgezeichnet hat: „Wenn der P’eng sich zum Südlichen Ozean begibt, rührt er dreitausend Li weit das Wasser auf und steigt in einem Wirbelwind zur Höhe von neunzigtausend Li empor und fliegt unablässig sechs Monate lang, ehe er sich niederläßt…“ Eine Zikade und eine junge Taube kicherten zusammen über den P’eng. Die Zikade sagte: „Wenn wir uns anstrengen, zu den hohen Ulmen emporzufliegen, gelingt es uns manchmal nicht, wir sinken zu Boden zurück, und das war es dann auch. Warum sollte jemand neunzigtausend Li in die Höhe fliegen, um nach Süden zu gelangen?“3
Darf ein Nicht-Sinologe eine Interpretation wagen? Man muß sich fragen: Warum kichern Zikade und Taube über diesen kosmischen Vogel? Dann erinnert man sich an Hegels Charakterisierung der komischen Wirkung als Diskrepanz zwischen Anstrengung und Resultat.Wozu dient diese gewaltige Anstrengung – das steckt in den Worten der Zikade –, wenn sie nichts anderes bewirkt, als den Vogel von einem Ort zu einem anderen zu befördern? Diese Erfahrung kann sich nicht sehr unterscheiden von jener, bei der man vom Erdboden zur Krone einer Ulme gelangt, und auch das ist kaum der Mühe wert. Es ergibt sich hier eine wahrhaft Hegelsche „komische Aufhebung“: Der mythische Fisch-Vogel vollbringt Wunder der Verwandlung und des Fluges, und das Ergebnis all dieser rasenden Anstrengungen ist unbedeutend. Man kann genausogut dort bleiben, wo man ist (ein klassisch taoistischer Ratschlag). Zikade und Taube kichern und sagen damit: Laß nur, P’eng – das macht keinen Eindruck auf uns. Die bekannteste Stelle bei Chuang Tzu ist die folgende: Einmal träumte Chuang Tzu, er sei ein Schmetterling und flöge hin und her, ganz so wie ein Schmetterling und in dem Bewußtsein, den Neigungen eines Schmetterlings zu folgen. Der
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Schmetterling wußte nicht, daß er Chuang Tzu war. Plötzlich erwachte er und war nun offensichtlich Chuang Tzu. Aber er weiß jetzt nicht, ob er Chuang Tzu ist, welcher geträumt hat, er sei ein Schmetterling, oder ein Schmetterling, der augenblicklich träumt, er sei Chuang Tzu.4
Dieser Text bietet – laut Kuang-ming Wu, der diesen Autor den englischsprachigen Lesern nahegebracht hat – ein gutes Beispiel für Chuang Tzus Methode. Jener selbst betonte, seine Methode sei „keine Methode“ (wu fang), doch ist das als ironischer Kommentar zu verstehen, so wie die Schmetterlingsgeschichte sowohl Ironie wie ein Beispiel der „Unmethoden“-Methode ist. Und diese Methode ist ihrem Wesen nach komisch. Sie zerstört die als selbstverständlich vorausgesetzte Wirklichkeit, weist deren Fragilität auf und gibt so dem Denken die Freiheit, die Welt neu zu betrachten. Das zweite Kapitel in Chuang Tzus Buch, das oft als unverständlich betrachtet wird, stellt nach Wu tatsächlich eine Parodie verschiedener philosophischer Schulen dar, unter anderem der konfuzianischen Richtungen. Diese komische Philosophie wird von Wu folgendermaßen charakterisiert: Die Komik liegt in einem unmittelbaren Nebeneinander widersprüchlicher Elemente – große Nase und kleiner Hut, kurze Hosen und große Schuhe und dergleichen. Da uns das Leben als Nebeneinander des Widersprüchlichen erscheint, könnte die Komik durchaus eine angemessene Art und Weise sein, uns dem Leben zu nähern. Humor und Ironie befördern die Selbsterkenntnis, um uns aus dem Gefängnis der Selbstzufriedenheit zu befreien.5
Ein weiteres Beispiel für die komische „Unmethode“ von Meister Chuang muß genügen: Ein Mann aus Sung, der mit Zeremonialmützen handelte, reiste in das Land Viet. Doch das Volk von Viet schneidet sich die Haare ab und tätowiert sich am ganzen Körper, so daß die Mützen keinen Zweck hatten. Yao brachte allen Völkern unter dem Himmel die Ordnung und brachte Frieden allen Menschen innerhalb der vier Meere. Er ging zum fernen Berg Kuyeh, um die vier Meister zu besuchen. Als er in seine Hauptstadt am Nordufer des Flusses Fen zurückkehrte, verfiel er in Halbschlaf und vergaß ganz und gar sein Reich.6
Der Taoismus ist, zweifellos eben wegen dieser seiner Natur, nie eine Weltreligion geworden. Doch sein Geist hat einen großen Teil der chinesischen Kultur gesättigt und ist über diese in andere Teile Ostasiens eingedrungen. Wahrscheinlich war seine bedeutendste Wirkung die, welche er auf die chinesische Rezeption des Buddhismus hatte. Als dieser indische Glaube zuerst nach China kam, hielten ihn die chinesischen Intellektuellen für eine Abart des Taoismus. Trotz gewisser Ähnlichkeiten war dies natürlich ein Mißverständnis. Doch durchlief der Bud-
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dhismus eine tiefgreifende Veränderung, als er in die chinesische Kultur aufgenommen wurde. Die Ch’an-Schule des Buddhismus, die in Japan zum Zen wurde, verkörpert diese Sinisierung.Verschiedene Wissenschaftler, darunter Kuang-ming Wu, haben die Theorie vertreten, daß Ch’an/Zen nichts anderes ist als eine Abwandlung des Buddhismus im taoistischen Geiste. Und die Mönche dieses Glaubens sind ja für ihr lautes Gelächter berühmt. Das charakteristische Exerzitium in den Zen-Klöstern ist das, was die Japaner koan nennen. Ein koan ist ein Rätsel oder eine Parabel, die der Meister den Schülern vorlegt, doch wird die Lösung nie direkt oder vernünftig formuliert. Identisch formulierte Lösungsvorschläge können vom Meister wahr oder falsch genannt werden, je nach seiner Einschätzung des spirituellen Zustandes des jeweiligen Schülers. Oder die Lösung kann in einem Schlag oder einer obszönen Geste bestehen. Koan ist der perfekte Ausdruck der taoistischen Unmethode.Viele Beispiele des koan lassen sich als Witze bezeichnen. Der Zweck besteht immer darin, die Realität zu „dekonstruieren“ und so zu einer befreienden Erleuchtung zu gelangen. Der wahrscheinlich berühmteste koan wird Hakuin Ekaku zugeschrieben, einem Zen-Mönch, der von 1685 bis 1768 lebte. Er befahl seinen Schülern, dem Geräusch des „Einhandklatschens“ (sekishu no onio) zu lauschen – was seither stets als klassische Formulierung der Wirklichkeitsauffassung des Zen galt.7 Hier haben wir einen andere typischen koan, diesmal dem Meister Yunmen zugeschrieben: Frage: Wie lautet deine Lehre in bezug auf die Möglichkeit, über die Buddhas hinauszugelangen und die Ahnen zu übertreffen? Antwort: Ein Sesamreiskuchen.8
Oder nehmen wir dieses Beispiel: Butei, der Kaiser von Ryo, befahl Fu-daishi zu sich, damit er die Diamanten-Sutra erkläre. Am festgesetzten Tage kam Fu-daishi in den Palast, erstieg ein Podium, schlug auf den Tisch, der vor ihm stand, stieg wieder hinunter und entfernte sich, immer noch schweigend. Butei saß einige Augenblicke lang reglos da, und Shiku, der alles mitangesehen hatte, ging zu ihm hin und sagte: „Darf ich mir erlauben, Herr, zu fragen, ob Ihr verstanden habt?“ Traurig schüttelte der Kaiser den Kopf. „Wie schade!“ rief Shiko aus. „Noch nie hat Fu-daishi größere Beredsamkeit gezeigt.“9
Die befreiende Absicht dieser Technik gestattet ein großes Maß an Selbstironie. Die Fähigkeit, sich selbst nicht ernst zu nehmen, ist ein guter Prüfstein für die Frage, ob die Erleuchtung stattgefunden hat:
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Ein Mönch fragte Meister Busshin: „Existieren Himmel und Hölle?“ „Nein“, sagte der Meister ohne Zögern. Ein Samurai war in der Nähe und stellte ihm, erstaunt über seine Antwort, dieselbe Frage. Diesmal sagte der Meister, wieder ohne irgendwelches Zögern: „Ja.“ Als ihm der Samurai vorwarf, er widerspreche sich, sagte Busshin: „Nun, wenn ich dir sagte, es gebe keinen Himmel und keine Hölle, woher sollen dann die Almosen kommen?“10
Hakuin, der Meister des Einhandklatschens,war nicht nur ein Zen-Lehrer, sondern auch Maler, Kalligraph und Dichter (wobei er sich oft der vulgären Umgangssprache bediente). Im Alter von einundsiebzig Jahren fügte er einem wenig schmeichelhaften Selbstporträt die Verse bei: Verabscheut von tausend Buddhas im Reich der tausend Buddhas, verhaßt den Dämonen unter den Scharen der Dämonen, so erscheint wieder auf einem Blatt Papier dieser stinkende blinde Glatzkopf. Verdammt!11
Taoismus und Zen enthalten alle Bestandteile einer Philosophie des Komischen: Die Welt wird als eine Anhäufung von Widersprüchen gesehen. Jegliche Ansprüche auf Großartigkeit und Weisheit werden radikal desavouiert. Es herrscht ein Geist spöttischer Ehrfurchtslosigkeit. Und am Ende steht die tiefsinnige Entdeckung einer Freiheit. Erasmus’ Stultitia ist seit vielen Jahrhunderten im gelben Mönchsgewand durch Ostasien gezogen.
4 Homo ridens: Physiologie und Psychologie Wenn man das Phänomen des Lachens ganz begriffe, dann hätte man das entscheidende Geheimnis der menschlichen Existenz begriffen. Dieses Geheimnis besteht darin, daß die Menschennatur in einem Körper begründet liegt, der ganz und gar Produkt der biologischen Evolution ist, und in jener Wesenheit, die sich dem Zugriff immer wieder entzieht und die man Bewußtsein, Seele oder Geist nennt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß das Lachen – ganz gleich, was es darüber hinaus noch sein mag und wie immer es hervorgerufen wird – ein physiologischer Prozeß ist: Als muskulärer Vorgang läßt sich das Lachen leicht beschreiben. Es besteht aus krampfhaften Kontraktionen der Gesichtsmuskulatur und ruckartigen Entspannungen des Zwerchfells, begleitet von Kontraktionen der Larynx und Epiglottis. Lachen unterscheidet sich vom Lächeln lediglich dadurch, daß das Lächeln nicht die Atmung unterbricht.1
Es ist ein reflexähnlicher Vorgang, der vom „Stammhirn“ (Thalamus und Hypothalamus) kontrolliert wird, das auch die anderen Reflexe und rein emotionellen Verhaltensweisen regiert – nicht vom Pallium cerebri, das die kognitiven Fähigkeiten bestimmt. Konrad Lorenz hat das Lachen als einen „Kapitulationsreflex“ bezeichnet: Eine Spannung wird aufgebaut und dann plötzlich gelöst, und an diesem Punkt gibt der Organismus im Gelächter nach oder kapituliert sozusagen. Dieser physiologische Prozeß läßt sich durch rein körperliche Reize auslösen, deren bekanntester das Kitzeln ist. Es gibt auch die Wirkung des sogenannten Lachgases und die Symptomatik gewisser Krankheiten (wie der Alzheimerschen Krankheit und der multiplen Sklerose). Man braucht nur einen Augenblick lang nachzudenken, um sich des höchst eigenartigen Paradoxons innezuwerden: Wie kann derselbe physiologische Vorgang, der auf das Kitzeln folgt, durch einen komplizierten politischen Witz ausgelöst werden? Wie kommt das Stammhirn dazu, sich mit einer hochkomplexen kognitiven Fähigkeit einzulassen, die es dem Individuum ermöglicht, den politischen Witz zu begreifen? Wie wir oben schon gesagt haben: Eine wirklich befriedigende Antwort auf diese Fragen muß auf die endgültige Auflösung des Rätsels der Menschennatur warten – genauer gesagt, auf die Lösung dessen, was viele Philosophen das Leib-Seele-Problem genannt haben. Inzwischen müssen wir einen bescheideneren Schritt vollziehen. Wir müssen den Unterschied akzeptieren, den die oben bereits zitierte Marie Collins Swabey macht – den Unterschied zwischen dem sogenannten komischen Lachen und allen anderen Formen des Gelächters.2
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Menschen lachen, wenn man sie kitzelt, wenn sie ein spontanes Glücksgefühl empfinden, wenn sie plötzlich von Angst oder Spannung befreit sind – oder andererseits, wenn sie zum Beispiel ein subtiles Wortspiel begreifen. Im Rahmen dieses Buches interessiert natürlich im Grunde nur letztere Kategorie. Doch eben weil es gewisse zentrale Fragen über die Natur des Menschen so nahe berührt, muß man das komische Lachen auch mit jenen anderen Formen des Lachens vergleichen. Ein solcher Vergleich will natürlich nicht die alte philosophische Voraussetzung von einem besonderen Wesen des Menschen aufkündigen, aber er wird den besonderen Fall des komischen Lachens in einen weiteren anthropologischen Kontext stellen. Homo ridens ist deshalb erstaunlich, weil sich in ihm das, was im Menschen am stärksten tierischen Charakter hat, und das, was am weitesten entfernt vom Tier ist, berühren. Lachen Tiere? Das ist offenbar eine Frage, in der kein Einverständnis herrscht. Affen grinsen, und das ist als physiologischer Vorgang dem eben für den Menschen beschriebenen Vorgang ähnlich. Affen grinsen bei Ritualen der Begrüßung und Besänftigung, wobei letztere signalisieren, daß keine Gefahr besteht beziehungsweise daß der Besänftigende hofft, es bestehe keine. Die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten im Vergleich mit entsprechenden menschlichen Verhaltensweisen sind zweifellos interessant, doch läßt sich für unsere Argumentation wenig gewinnen, wenn wir diesen Vergleich weiterverfolgen. Eines ist gewiß: Kein Affe hat je gegrinst, wenn man ihm einen politischen (oder anderen) Witz erzählt hat. So können wir mit gutem Gewissen die Frage, ob Tiere lachen oder nicht, der Zoologie und den anderen an ihr interessierten Disziplinen überlassen. Doch müssen wir den besonderen Charakter des menschlichen Lachens weiter untersuchen. Das Lachen ist ganz offensichtlich ein Phänomen, das Körper und Geist gleichermaßen betrifft. Insofern weist es auf die eigenartige Beziehung zwischen der menschlichen Subjektivität und ihrer materiellen Verkörperung hin. Dasselbe gilt für seinen Zwilling, das Weinen. Die wichtigste Behandlung beider Phänomene im Rahmen einer philosophischen Anthropologie ist die von Helmuth Plessner.3 Plessners Werk steht in der Tradition einer kontinentaleuropäischen philosophischen Reflexion über das Wesen des Menschen, deren herausragender Repräsentant im zwanzigsten Jahrhundert wohl Max Scheler war.4 Scheler hat zwar an der Einheit der Menschennatur gegen alle Formen eines Leib-Seele-Dualismus festgehalten, hat aber den Menschen als vom Tier (oder, wenn man so viel,von den anderen Tieren) dadurch unterschieden charakterisiert, daß er sowohl ein Körper ist wie einen Körper hat. Ein Tier ist sein eigener Körper; das hat es mit dem Menschen gemeinsam. Aber dieser hat darüber hinaus seinen Körper noch als etwas, von dem er sich subjektiv distanzieren und das er bewußt zu diesem oder
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jenem Zweck gebrauchen kann. Plessner greift diese Charakterisierung auf und betont, daß dieses besondere Verhältnis zum eigenen Körper immer in prekärem Gleichgewicht gehalten werden muß. Beim Lachen und Weinen wird dieses Gleichgewicht zerstört. Die Kontrolle, die das Individuum gewöhnlich über seinen Körper hat, bricht zusammen – in der Tat bricht sozusagen das Individuum vor Lachen oder Schluchzen zusammen. Zumindest für den Augenblick hat es den Körper nicht länger, es ist der Körper, mit Scheler zu sprechen. Trotzdem lacht oder weint nicht sein Körper, sondern der Mensch tut dies, und zwar über etwas. Mit anderen Worten: Selbst inmitten der hilflos erlebten, unkontrollierbaren Körperreaktion behält der Mensch die Zielgerichtetheit. Wenn man ihn fragt, kann er sagen, warum – das heißt: worüber – er lacht oder weint. Noch der Verlust der Kontrolle zeigt den Menschen als „Doppelwesen“, das sowohl verkörpert ist wie auch auf irgendeine Weise jenseits der Körperlichkeit existiert (wenn sich Plessner auch ebenso wie Scheler eindeutig von einem dualistischen Menschenbild distanziert, das ein Bewußtsein oder eine Seele dem Körper gegenüberstellt). Plessners Schlüsselbegriff, um diesen eigenartigen Zug der menschlichen Existenz zu beschreiben, ist die „exzentrische Position“. Der Mensch ist „exzentrisch“, weil er seinen Körper sowohl als Zustand wie als Objekt wahrnimmt. Normalerweise kontrolliert das Individuum seinen Körper und gebraucht ihn sowohl als materielles Instrument wie als Mittel zum Ausdruck. So können beispielsweise die Hände einerseits zum Gebrauch eines Werkzeugs oder einer Waffe dienen, andererseits zu Gesten gebraucht werden, die Zorn, Begehren, Besänftigung und so weiter ausdrücken. Beide Arten des Gebrauchs setzen Bewußtheit voraus. Das Individuum weiß bei beiden Formen des Gebrauchs der Hände, was es tut. Bereits dieses Wissen schafft eine Distanz zwischen ihm und den Körperhandlungen. Diese Distanz begründet seine „Exzentrizität“. Ein Tier verfügt nicht über dieses Bewußtsein und kennt jene Distanz nicht – mit dem Menschen verglichen ist es „zentriert“. Beim Lachen oder Weinen geht die gewöhnliche Kontrolle des Menschen über seinen Körper verloren. Er „verfällt“ in Lachen oder Weinen. Aber dies ist immer noch ein großer Unterschied zum Tier, das nicht in einen Körperzustand „verfallen“ kann, weil es nie außerhalb dieses Zustands war. Und im Gegensatz zum Tier weiß ein Mensch, wenn er weint oder lacht, und kann einem auch sagen, weshalb er es tut. Eine wichtige Unterscheidung, die Plessner trifft, ist die zwischen dem „echten Lachen“ und dem rein reaktiven (beim Kitzeln oder unter der Einwirkung von Lachgas). Das echte Lachen ist Lachen „über“ etwas, das reaktive Lachen nicht. Auch steht das echte Lachen dem Spiel sehr nahe, tatsächlich hat es immer etwas Spielerisches. Doch ist Plessners „echtes Lachen“ nicht identisch mit dem „komischen Lachen“ bei Swabey. Man kann einfach aus Freude oder Erleichterung lachen, und das ist dann im Sinne Plessners ein „echtes Lachen“, weil man den
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Grund dafür angeben kann: „weil ich so erleichtert bin nach dem, was mir der Arzt gerade gesagt hat.“ Diese Erklärung steht mit dem Komischen nicht in Zusammenhang. Doch ist das komische Lachen eine sehr wichtige Form des „echten Lachens“, und natürlich in unserem Zusammenhang die entscheidende. Plessner stimmt Bergson zu, daß das Komische sich stets auf Menschliches bezieht.Wenn wir über Tiere oder Gegenstände lachen, dann deshalb, weil sie uns an Menschen erinnern. Plessner stimmt auch mit einem – wie wir gesehen haben – Grundgedanken des modernen Philosophierens über das Komische überein, nämlich dem, daß Komik vor allem mit Widersprüchlichkeit zu tun hat. Plessner fügt dem den Gedanken hinzu, daß die „Exzentrizität“ des Menschen jene Eigenschaft ist, die es ihm ermöglicht, das Komische wahrzunehmen und auch selbst Gegenstand einer sich der Komik bewußten Wahrnehmung zu sein. Allein der Mensch gehört verschiedenen Existenzebenen an, und diese mehrfache Wirklichkeitserfahrung ist die Grundlage komischer Wahrnehmung. Dies ist eine fundamentale anthropologische Tatsache, die sich nicht in historische Kontingenz auflöst. Also ist das Komische kein gesellschaftliches Phänomen, obwohl natürlich Inhalt und Anlaß der Komik gesellschaftlich immens variabel sind. Was auf der einen Seite der Pyrenäen komisch ist, ist es auf der anderen durchaus nicht – um Pascal ein wenig abzuwandeln. Anders ausgedrückt: Worüber man lacht und wann man angemessenerweise lachen darf, das sind soziale Variablen, aber die grundsätzliche Widersprüchlichkeit der komischen Erfahrung beruht auf einer anthropologischen Realität, die allen sozialen Varianten zugrundeliegt. Insofern ist sie allgemein (oder, falls man das vorzieht: Sie ist eine transkulturelle Konstante). Die „exzentrische Position“ des Menschen erlaubt es ihm, die Welt sowohl als Zwang wie als Freiheit wahrzunehmen, als vertraut und fremd, als bedeutungsvoll und sinnlos. Man könnte sagen, daß Plessner der Definition des Komischen das hinzufügt, was Scheler die für den Menschen charakteristische „Weltoffenheit“ nennt. Doch Lachen wie Weinen bringen das Individuum in „Grenzlagen“, wo die gewohnte Balance seiner Existenz gestört ist – wobei diese Grenzlagen nicht selten oder außergewöhnlich sind: Eben das Gewöhnliche, Häufige dieser Phänomene zeigt, daß der Mensch wesentlich ein Grenzgeschöpf ist. Plessner hat einen knappen, eleganten Essay über das Lächeln geschrieben, der sein größeres Werk über Lachen und Weinen ergänzt.5 Er betont den Unterschied zwischen Lächeln und Lachen, obwohl die beiden Verhaltensweisen in vielen Sprachen ebenso wie im Deutschen etymologisch verwandt sind – im Französischen etwa „rire“ und „sourire“, vom lateinischen „(sub)ridere“. Wenn Plessner recht hat, so sind diese Etymologien irreführend. Das Lächeln ist kein Unterbegriff des Lachens, wenn es auch mit diesem verwandt ist – und ebenso wie beim Lachen könnte man auch hier ein „komisches Lächeln“ von anderen Formen
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unterscheiden. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß das Lächeln im Gegensatz zum Lachen eine kontrollierte Ausdrucksform ist – es gibt keinen „Zusammenbruch“: „Lachend und weinend ist der Mensch das Opfer seines Geistes, lächelnd gibt er ihm Ausdruck.“6 Das Lächeln zeigt selbst bei jemanden, der voller Scham oder Kummer ist, an, daß ein Mensch über seiner Situation steht, „als trage [das Menschliche] einer Göttin Kuß auf seiner Stirn“. So legen – wenn auch auf verschiedene, wenn nicht geradezu gegensätzliche Weise – Lachen wie Lächeln grundlegende Wesenszüge des Menschen frei. Und natürlich können beide eine Reaktion auf das Komische sein. Wann im Verlauf seiner Evolution hat der Mensch zuerst gelacht oder gelächelt? Wir dürfen annehmen, daß dies der Moment war, als der Mensch zuerst als Mensch hervortrat. Es ist verführerisch, sich die Szene auszumalen: Diese immer noch recht äffisch aussehende Kreatur, die von einem unwiderstehlichen Lachen geschüttelt wird, vielleicht beim Anblick eines Gefährten, den es gerade wuchtig auf den Hintern gesetzt hat. Der Augenblick läßt sich leider nicht mehr einfangen. Vielleicht kann man sich ihm aber per Analogie nähern – mit Bezug auf die spekulative Theorie, daß das Individuum quasi die Stammesgeschichte wiederholt. Der Augenblick, da das Kind zum erstenmal lächelt oder lacht, läßt sich natürlich häufig beobachten – meist zum grenzenlosen Entzücken der Eltern. Das Lachen von Kindern ist von der Psychologie recht eingehend studiert worden, und es ist für unser Thema von gewissem Interesse.7 Das Lächeln des Kindes ist ein wesentliches Zeichen sozialer Interaktion. Es ist ein Schlüsselreiz, ein Lorenzscher „Auslöser“ für eine elterliche Reaktion – die erste Form eines Dialogs zwischen Kind und Erwachsenen. Zuerst lächelt das Kind unterschiedslos verschiedene Personen an und drückt so Zufriedenheit aus, so wie das kindliche Geschrei Unbehagen ausdrückt. Sehr bald aber zeigt das Lächeln ein Wiedererkennen bestimmter Personen an, in der Regel natürlich der Mutter. Normalerweise ist es eine visuelle Reaktion, obwohl blindgeborene Kinder lächeln, wenn sie eine vertraute Stimme hören. Die Entwicklung des Lachens findet später statt und hat eine andere Bedeutung. Das Lachen ist ein Symptom der Erleichterung, der überwundenen Spannung oder Angst. In der psychologischen Entwicklung des Kindes folgen dem ersten Lächeln Schritt um Schritt das Lächeln der Verlegenheit, das freudige Lachen, das Lachen über eine komische Situation, das Lachen in einer Gruppe, das aggressive Lachen über einen Außenseiter und schließlich (eine etwas melancholisch stimmende Klimax) das Lachen der Schadenfreude. Die Chronologie dieses Fortschreitens ist von Psychologen ausführlich studiert worden und braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Bedeutsam ist jedoch, daß auf jeder Stufe das Lachen eine Erfahrung der Erleichterung, der „Entlastung“ bezeichnet, körperlich und psychologisch.
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Die Kinderpsychologie ist sich weitgehend einig, daß eine solche Entlastungserfahrung der ursprüngliche Grund des komischen Lachens ist. In allen möglichen Kulturen reagieren Kinder anscheinend lachend auf ein Spiel, welches die Erwachsenen quasi instinktiv mit ihnen machen – „Kuckuck!“ Der KuckuckEffekt ist etwas ganz Ursprüngliches. Der Erwachsene schaut das Kind an – meist lächelnd –, um sich dann einige Augenblicke zu verbergen und wieder sichtbar zu werden. Das Kind ist zuerst vom Verschwinden des vertrauten Gesichts ein wenig geängstigt und dann erleichtert durch das Wiederauftauchen. Als Reaktion erfolgt ein Lachen. Der Zeitfaktor spielt eine große Rolle. Verschwindet das Gesicht des Erwachsenen zu lange, bekommt das Kind wirklich Angst und beginnt zu weinen; in diesem Fall löst auch die Wiederkehr kein Lachen aus – das Kind muß erst getröstet und beruhigt werden. Mit anderen Worten: Das Verschwinden muß im Rahmen des Spiels bleiben – der Spielcharakter geht verloren, wird es zu lange ausgedehnt; dann ist es nicht mehr komisch, es wird „ernst“. Der Ablauf läßt sich formelhaft etwa so darstellen: Vergnügen/Unterbrechung des Vergnügens/wachsende Angst/kathartische Erleichterung. In den zwanziger Jahren wurde in einem psychologischen Text – vielleicht im Zuge früher psychoanalytischer Begeisterung – diese ursprüngliche Erfahrung des Komischen sogar mit einem Orgasmus verglichen.8 Wie dem auch sei – das „Kuckuck“-Spiel ist nur der Anfang, wenn sich in ihm auch schon vieles von dem andeutet, was später kommt. Ein wirklicher Sinn für Komik im Kinde setzt die Verinnerlichung der Erwachsenenwelt voraus. Wieder sind die Schützschen Kategorien hilfreich. In der Welt eines Erwachsenen gibt es eine klare Grenze zwischen der „dominanten Wirklichkeit“ – der Wirklichkeit des wachen Alltags, den man die meiste Zeit mit den meisten Leuten teilt – und den „geschlossenen Sinnbereichen“ (zu denen Träume und Phantasiewelten gehören), in die man sich gelegentlich zurückzieht. In der Welt des kleinen Kindes sind solche Grenzziehungen sehr viel fließender. Träume und Phantasien gehen in die „wahre Welt“ über, treten in sie ein und verlassen sie wieder. Anders ausgedrückt: Ein kleines Kind kann zwischen verschiedenen Existenzebenen noch nicht unterscheiden und begreift insofern auch nicht die zwischen ihnen herrschenden Widersprüche, jene Widersprüchlichkeit, die erst die komische Erfahrung möglich macht. In dem Maße, in welchem das Kind die verschiedenen Ebenen erlebt, wird die wahre komische Erfahrung möglich. Das Marionettentheater, das die Kinder überall lieben, wo diese Kunstform existiert, bietet ein gutes Beispiel. Auf ganz deutliche, materielle Weise sind die dort gezeigten Ereignisse vom „wirklichen Leben“ getrennt. Was dort geschieht, wäre auch furchterregend, wenn es im wirklichen Leben geschähe – die Marionetten schlagen sich gegenseitig auf die Köpfe, sagen schreckliche Sachen zueinander, verschwinden plötzlich spurlos. Diese Phantasiewelt hat eine gewisse Wirklichkeit (nämlich genau die flüchtige
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Wirklichkeit eines „geschlossenen Sinnbereiches“), und das Kind, das zusieht, empfindet einen ängstlichen Schauer. Aber die Marionettenwirklichkeit ist in der Tat „begrenzt“, die Angst wird durch dieses Bewußtsein eingeschränkt, und bereits diese Beschränkung führt zu einem Gefühl der Entlastung von „wirklicher“ Angst. Der Übergang von einer Ebene zur anderen wird als widersprüchlich und ipso facto komisch wahrgenommen. Man kann leicht erkennen, daß manche Kinder hierfür noch zu jung sind: Sie begreifen nicht, daß die Ereignisse auf dem Marionettentheater „nicht ernstzunehmen“ sind, sie sind „wirklich“ verängstigt, und statt zu lachen, weinen sie. Sehr wahrscheinlich ist die Chronologie dieser Entwicklung bei einzelnen Kindern verschieden. Die meisten Psychologen stimmen darin überein, daß bei den meisten Kindern ein voll ausgebildeter Sinn für Komik im Alter von fünf oder sechs Jahren da ist, wenn Kinder schon selbst Witze machen und daran Vergnügen haben können.9 Während diese Entwicklung ein spontaner Vorgang ist, hat es doch den Anschein, als ließe sich der Sinn für Komik bei Kindern bilden. Eltern mit stark ausgeprägtem Sinn für Humor können offensichtlich ihre Kinder ermuntern. Manchmal kann eine derartige Ermutigung für den Gast, der in eine solche Familie entschlossener Komiker geraten ist, peinlich sein. Man mag sich selbst an Situationen erinnern, wo man, sagen wir, den Auftritt eines endlos kindische Witze erzählenden Sechsjährigen durchstehen mußte, dessen Eltern ihm voll Bewunderung applaudierten. Ein Psychologe hat die Unterscheidung zwischen dem, wie er es nennt, „soziopositiven“ und dem „sozio-negativen“ Lachen getroffen.10 Es gibt harmloses oder „unschuldiges“ Lachen, das die Solidarität einer Gruppe erhöht, und boshaftes Lachen, das auf Kosten von jemandem geht, der dadurch – zumindest momentan – aus der Gruppe ausgeschlossen wird. Das Kind entwickelt sich vom ersten zum zweiten Typus des Lachens.Vielleicht ist die Unfähigkeit kleiner Kinder, boshaften Humor zu entwickeln, einer der Gründe, derentwegen man die Kindheit „unschuldig“ genannt hat. Jedenfalls kann das komische Gelächter von der einen wie von der anderen Art sein. Derselbe Psychologe vertritt die Meinung, daß es eine Möglichkeit gebe, die Fähigkeit zum „unschuldigen“ Lachen im Erwachsenenalter beizubehalten, und daß dies eine große Hilfe bei der Bewältigung der Fährnisse des Lebens sein kann. Die Volksweisheit hat immer behauptet, daß eine solche Fähigkeit (mehr oder weniger das, was man allgemein als „Sinn für Humor“ bezeichnet) gut für die Gesundheit ist. Wie wir gleich sehen werden, gibt es gewisse Indizien, daß das richtig ist. Wenn wir die Physiologie des Gelächters und die lebensgeschichtliche Entwicklung des Sinns für das Komische einmal beiseitelassen, ist die psychologische Hauptfrage die nach dem Zweck der Komik – nach den psychologischen Funktionen der komischen Erfahrung. Die Kategorien, die ich im folgenden gebrauche, sind dem Werk von Avner Ziv entliehen, einem israelischen Psychologen, der es
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fertiggebracht hat, über dieses Thema in klarem, in der Tat witzigem Duktus zu schreiben und den esoterischen Stil zu vermeiden, dem so viele seiner Kollegen anhängen.11 Ziv beginnt seine Liste mit der aggressiven Funktion (und erweist so einer Tradition der Interpretation von Komik seine Reverenz, die, wie oben angedeutet, in der westlichen Philosophie von Platon bis Hobbes reicht). Die moderne Psychologie kommt zu dem Ergebnis, daß diese grimmige Erklärung nicht ganz falsch ist.12 Ziv zitiert Stephen Leacock: „Der Wilde, der seinem Feind den Tomahawk auf den Schädel hieb und ‘Haha!’ schrie, war der erste Humorist.“ Experimente, mit denen man festzustellen versucht, worüber die Menschen lachen, zeigen in der Tat, daß ein gewöhnlicher Anlaß für komisches Lachen darin liegt, daß eine Person oder eine ganze Gruppe herabgesetzt, gedemütigt, verspottet wird. Das trifft natürlich vor allem auf Ironie und Satire zu, die aggressivsten Formen des Humors, doch ist die Aggression auch in anderen Formen des Komischen gegenwärtig. Schlicht gesagt: Humor kann als Waffe gebraucht werden. Ziv erwähnt einen altarabischen Brauch, das hidja. Es ist aus den Zeiten der Stammeskultur überliefert und bezieht sich auf die Übung,vor der Schlacht satirische Gedichte zur Verhöhnung des Feindes zu rezitieren. Doch ist diese Form des Humors nicht nur bei kriegerischen Beduinen zu finden. Der aggressive Gebrauch des Humors reicht von den komisch inszenierten körperlichen Attacken („Streiche“, die man jemandem spielt) über bildliche Darstellungen (wie etwa Karikaturen) zu verbalen Übergriffen – die wiederum von spontanen sarkastischen Bemerkungen bis beispielsweise zu einem Stück von Aristophanes gehen. Der Prototyp der komischen verbalen Attacke ist der Witz, der stereotyp eine bestimmte Gruppe (eine Institution, ein Glaubenssystem) aufs Korn nimmt. Ein klassisches (wenn auch moralisch abzulehnendes) Beispiel ist in Amerika der sogenannte Polenwitz, bei dem vorausgesetzt wird, daß diese Ethnie ungewöhnlich dumm ist. Dazu gibt es die verschiedensten Parallelen – Ostfriesenwitze in Deutschland, Belgierwitze in Frankreich, Irenwitze in England, „Newfie“-Witze (die sich auf die Einwohner von Neufundland beziehen) in Kanada, Portugiesenwitze in Brasilien, „Van der Merwe“-Witze bei den englischsprachigen Südafrikanern (die auf die Afrikaans sprechenden Landsleute zielen). Die Liste ist unvollständig. Die Neigung zu ethnozentrischer Bosheit ist offensichtlich universell. Andere Witztypen setzen eine bestimmte Gruppe wegen anderer imaginierter Eigenschaften als ihrer Dummheit herab – Geldgier, Faulheit, Promiskuität, Frigidität usw. (Die entsprechenden Beispiele wären Witze über Juden, Afroamerikaner, Puertoricaner, Wasps – die weißen Durchschnittsamerikaner.) Zu beachten ist folgendes: Wie bedauerlich die in diesen Witzen sich ausdrückenden Gefühle auch moralisch gesehen sein mögen – die Witze können trotzdem komisch wirken; tatsächlich mag gerade die Tatsache, daß solche Witze
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moralisch abzulehnen sind, ihre Attraktivität als die eines verbotenen Vergnügens erhöhen. Es ist überflüssig, Beispiele dieser Form aggressiven Humors hier anzuführen; die Leser werden sich leider ohne Schwierigkeiten an genügend erinnern können. Stattdessen sollen Witze, in denen sich eine nicht-ethnische Aggressivität ausdrückt, als Exempel dienen. Berufsgruppen mit hohem Prestige sind bevorzugte Zielscheiben komischer Aggression. Hierzu gehören Juristen und Psychiater in Amerika: Die Gesundheitsbehörde hat die Öffentlichkeit informiert, daß in Zukunft bei den von ihr überwachten Forschungsexperimenten keine Ratten mehr verwendet werden, sondern Juristen. Das hat drei Vorteile. Erstens: Davon gibt es mehr. Zweitens: Es besteht nicht die Gefahr, daß man sich mit ihnen anfreundet. Drittens: Es gibt Dinge, die Ratten niemals tun würden.13 In einem Bürogebäude, in dem auch verschiedene Psychiater ihre Praxis haben, begegnen sich zwei davon gelegentlich im Fahrstuhl. Eines Abends fahren sie gemeinsam nach unten, und der eine wendet sich an den anderen: „Ich wollte Sie das schon lange fragen – es gibt da etwas, was ich nicht begreife. Am Abend bin ich immer völlig erschöpft, ausgelaugt, ich wanke nur noch aus meinem Büro. Aber Sie sehen immer noch genau so frisch und energisch aus wie am Morgen. Das verstehe ich nicht… In unserem Beruf, wo man immer bei den entsetzlichsten Geschichten zuhören muß…“ Der andere sagt: „Ja, wenn Sie zuhören…!“
Aggression, die sich gegen Institutionen richtet (der folgende Witz stammt aus Italien, wo die Achtung vor der katholischen Kirche und ihren Würdenträgern – vielleicht wegen sehr alter Vertrautheit – seit langer Zeit nicht besonders groß ist): Um die Jahrhundertwende, als man noch sehr strikt war, lag eine unverheiratete junge Frau in den Wehen. Sie wandte sich an den Arzt und sagte: „Sie müssen mir helfen.Wenn ich mit dem Kind nach Hause in unser Dorf komme, bringt mein Vater mich um.“ Der Arzt sagt ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Zufällig unterzieht sich im selben Krankenhaus der Erzbischof von Bologna einer Blinddarmoperation. Als er aus der Narkose erwacht, sitzt der Arzt an seinem Bett und sagt: „Eminenz, ein Wunder ist geschehen. Ihr habt einen Sohn geboren.“ Der Erzbischof ist entsetzt und bestreitet, daß so etwas möglich ist. Der Arzt besteht darauf und sagt, daß der Erzbischof ja schließlich kaum die Möglichkeit eines Wunders leugnen könne. Endlich fügt sich die Eminenz und nimmt das Kind an. Es wächst im erzbischöflichen Palast heran und wird zu einem kräftigen jungen Mann. An seinem achtzehnten Geburtstag läßt ihn der Erzbischof rufen und sagt zu ihm: „Mein Sohn! Heute wirst du volljährig, und es ist Zeit, daß du deine Herkunft erfährst. Du bist in dem Glauben aufgewachsen, daß ich dein Vater bin. Mein Sohn – das stimmt nicht. Ich bin deine Mutter. Dein Vater ist der Erzbischof von Pisa.“
Aggression gegen ein Glaubenssystem: In der Sowjetunion gab es unzählige Witze vom Typ „Radio Eriwan antwortet“ – angebliche Auskünfte eines fiktiven Senders
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in der Sowjetrepublik Armenien auf Hörerfragen. Diese Witze richteten ihren Angriff geschickt gegen die Grundlagen der kommunistischen Ideologie: Was ist Kapitalismus? Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Was ist Kommunismus? Die Umkehrung dieser Verhältnisse. Wir wissen, wie schlimm die Zarenherrschaft war. Warum war sie trotzdem beliebter als die Sowjetregierung? Sie hat weniger regiert.
Oder nehmen wir diese amerikanische Attacke auf ein typisch amerikanisches Glaubenssystem: Ein katholischer Priester, ein Rabbi und ein Anhänger der Christian Science begegnen einander in der Hölle. Sie fragen sich gegenseitig, wie sie denn hierhergekommen sind. Der Priester sagt: „Nun ja, es war an einem kalten Winterabend. Meine Haushälterin hat mir eine Tasse Tee gebracht… Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ich habe sie in meine Arme gerissen… Ein lauter Donnerschlag, und ich war hier.“ Der Rabbi sagt: „Ich war bei einem Empfang, und auf dem kalten Büffet stand eine Platte mit köstlichen Schinkenbrötchen. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Ich hab heimlich eins davon genommen, ein lauter Donnerschlag, und ich war hier.“ Der Christian Scientist sagt: „Ich bin nicht hier.“
Je nachdem, wer einen solchen Witz erzählt, können sich Gefühle von Unterlegenheit oder Ärger darin ausdrücken, daß man bestimmte Menschen und Institutionen verspottet, die man für die eigenen Probleme verantwortlich macht. Doch wer auch immer solche Witze zum besten gibt – es tritt im Sinne Hobbes’ der Effekt ein, daß man sich denen, die Zielscheibe des Spotts sind, überlegen fühlt, daß man einen Augenblick des Triumphs genießt. Es wird dabei auch das Tabu gegen aggressive Handlungen umgangen, das auf irgendeine Art notwendigerweise in jeder menschlichen Gesellschaft verankert ist (psychoanalytisch gesprochen: es findet eine Sublimation statt). Mit anderen Worten: Man führt einen verbalen Schlag und keinen wirklichen. Dies ist fast immer weniger riskant, und nicht nur unter einem autoritären Regime. Ist das Tabu gegen aggressive Handlungsweisen eine der Stützen jeglicher Gesellschaftsordnung, so ist das Tabu gegen unerlaubte sexuelle Handlungen eine andere, ebenso starke. Und wenn der Humor die sublimierte Umgehung des einen Tabus gestattet, so gilt das ebenso für das andere.14 Natürlich hat Freud den Begriff der Sublimation überhaupt in einem sexuellen Zusammenhang eingeführt. Er hat eine wichtige Funktion in dem hydraulischen Modell der Psyche – wie man es nennen könnte –, das Freud konstruiert hat: einem unsichtbaren System von
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Pumpleitungen, in dem libidinöse Strebungen unterdrückt werden und abwärts verschwinden, um in seltsam deformierter Form wieder aufzutauchen. Man muß, wie ich kaum zu betonen brauche, dies psychologische Modell nicht insgesamt akzeptieren, um bestimmte brillante Einsichten Freuds nützlich zu finden. Das für unsere Zwecke wichtigste Werk ist der lange Essay Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, der zuerst 1905 veröffentlicht wurde.15 Hier findet sich tatsächlich relativ wenig über Sexualität, wenn man vom weiteren psychoanalytischen Kontext absieht. Das zentrale Thema des Textes ist die Erläuterung der zunächst verblüffenden Entdeckung Freuds, daß zwischen Witzen und Träumen eine große Ähnlichkeit besteht. Der Essay erschien einige Jahre nach der „Traumdeutung“, einem der entscheidenden frühen Werke, welche den Begriffsapparat der Psychoanalyse formulierten. Freuds Theorie des Witzes ist ihrem Wesen nach eine Erweiterung seiner Traumtheorie. Der Witz ist bei Freud ein Unterbegriff der Komik (über welche er einige originelle Gedanken vorbringt). Er ist charakterisiert durch ein spielerisches Verhältnis zur Wirklichkeit, durch die Aufdeckung verborgener Ähnlichkeiten und Verbindungen, durch Zusammenbringen des gewöhnlich Getrennten und durch eine Sinngebung dort, wo normalerweise Unsinn wahrgenommen wird. Vom Element des Spielerischen abgesehen ist all dies ebenso charakteristisch für den Traum wie für den Witz. Und sowohl Träume wie Witze sind durch eine äußerste Ökonomie der Mittel, durch Zusammenziehung und Knappheit gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang zitiert Freud den berühmten Satz des Polonius im „Hamlet“ (II, 2): „– weil Kürze denn des Witzes Seele ist.“ In Träumen wie in Witzen gehören diese gemeinsamen Charakteristika allesamt zu einem bestimmten psychologischen Vorgang: Unterdrückte Regungen werden ins Unbewußte verbannt, aus dem sie in verschiedenen Verkleidungen wieder hervorkommen. Auf dieses Wiederauftauchen in Verkleidung bezieht sich natürlich der Begriff der Sublimation. Man könnte die Psychologie des Witzes im Bilde des Schachtelmännchens fassen, des Springteufelchens. Ihre grundlegende Technik nennt Freud „Verdichtung mit Ersatzbildung“. Typisch sind Mehrdeutigkeit und Kalauer. Eins von Freuds Beispielen bezieht sich auf die damals noch nicht lange zurückliegende Dreyfus-Affäre: „Dieses Mädchen erinnert mich an Dreyfus; die Armee glaubt nicht an ihre Unschuld.“ (Hier haben wir gewiß ein Exempel für „Verdichtung“ und für „Ersatzbildung“.Weniger klar ist es, was eigentlich hier der Unterdrückung anheimfällt.) Unter Freuds Witzzitaten herrschen jüdische Witze vor. Das läßt sich ohne weiteres mit Freuds sozialer Stellung erklären. Man hat daran auch Überlegungen hinsichtlich Freuds ambivalenter Haltung zum Judentum geknüpft, aber das läßt sich hier nicht weiterverfolgen.16 Nach Freudscher Auffassung ist der psychologische Mechanismus, der sowohl Träumen wie Witzen zugrundeliegt, die Ersatzbefriedigung oder Wunsch-
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erfüllung: Der Witz „ermöglicht die Befriedigung eines Triebes… gegen ein im Wege stehendes Hindernis… und schöpft somit Lust aus einer durch das Hindernis unzugänglich gewordenen Lustquelle.“17 Wiederum läßt sich sagen, daß man nicht die gesamte Freudsche Theorie akzeptieren muß, um dies im Hinblick auf viele, wenn nicht alle sexuellen Witze für richtig zu halten. Sexualität hat auch eine dunkle, bedrohliche Seite. Im Sexualwitz wird diese Drohung neutralisiert und verharmlost. Nehmen wir die Angst vor Impotenz oder Frigidität (illustriert durch die zwei ersten bei Ziv erzählten Witze): Ein Mann sagt zu der Frau, mit der er gerade geschlafen hat: „Hast du dir schon einmal überlegt, wie das sein würde, wenn du ein Mann wärst?“ Die Frau sagt: „Nein, du?“ Ein Mann in derselben Situation: „Hab ich dir wehgetan?“ Die Frau: „Warum fragst du?“ „Du hast dich bewegt.“
Oder nehmen wir die Angst vor der Homosexualität: Ein Bär rennt auf einen Jäger im Wald zu. Der Jäger schießt und verfehlt den Bären. Der Bär zerbricht ihm das Gewehr, vergewaltigt den Jäger und verschwindet. Der Jäger schäumt vor Wut. Am nächsten Tag durchstreift er mit einem neuen Gewehr wieder den Wald. Wieder rennt der Bär heran, wieder verfehlt ihn der Jäger, wieder zerbricht der Bär das Gewehr und nimmt den Jäger. Der Jäger ist nun völlig außer sich und besorgt sich ein großkalibriges Sturmgewehr. Wieder trifft er auf den Bären – und wieder verfehlt er ihn. Der Bär zerbricht auch die neue Waffe, legt sanft dem Jäger die Tatzen um die Schultern und sagt: „Hör mal, das mit der Jagd ist ja wohl nur ein Vorwand.“
Oder die Angst vor dem Nachlassen der Potenz im Alter: Ein alter Mann geht spazieren und steht plötzlich vor einem Frosch, der ihn anredet: „Heute ist dein Glückstag! Ich bin ein sprechender Frosch, und ich habe hier eigens auf dich gewartet. Sobald du willst,verwandle ich mich in ein wunderschönes Mädchen und tue, was du möchtest.“ Der Mann hebt den Frosch auf, steckt ihn in die Tasche und geht weiter. Nach einer Weile wird der Frosch unruhig: „He, du! Hast du denn nicht gehört, was ich zu dir gesagt habe?“ Der alte Mann sagt: „Hab ich schon. Aber ich glaube, in meinem Alter möchte ich statt eines schönen Mädchens doch lieber einen sprechenden Frosch.“
Der Witz läßt sich als eine Form der Auflehnung gegen Autorität einsetzen. Die meisten politischen Witze haben diese Funktion. Freud aber geht davon aus, daß es sich beim Witz auch um eine tiefere Auflehnung handelt, die Rebellion gegen die Vernunft nämlich. Es geht um eine Art Infantilisierung, eine Rückkehr in die Kindheit, wo Wünsche auf magische Weise wahr werden und wo das Spiel (das Spiel mit Worten eingeschlossen) einen großen Teil des Lebens ausmacht. Witze
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machen heißt in gewisser Weise: für einige Augenblicke wieder zum Kind werden, und das ist in sich eine Quelle der Lust. Aus Gründen seines eigenen theoretischen Interesses macht Freud einen scharfen Unterschied zwischen Komik (die man „findet“) und Witz (den man „macht“). Diese Unterscheidung ist nützlich. Doch behauptet Freud auch: „Der Witz ist sozusagen der Beitrag zur Komik aus dem Bereich des Unbewußten.“18 Diese Formulierung ist sehr viel zweifelhafter. Trotzdem trägt Freud zum Verständnis des Komischen bei. Seine Entdeckung der Parallelen zwischen Träumen und Witzen läßt sich mühelos vom „hydraulischen“ Modell des Bewußtseinsapparats ablösen und in der Tat selbst von seiner Theorie des Unbewußten. Sie paßt gut zu Schütz’ Auffassung von Traum und Humor als „geschlossenen Sinnbereichen“. Der Witz erschafft eine eigene Wirklichkeit, die von magischer Macht leuchtet und ihre eigenen Regeln hat, die von Freud teilweise richtig erkannt worden sind. Und selbst wenn man nicht davon überzeugt ist, daß alle Witze (oder alle Träume) Versuche der Wunscherfüllung sind, so „sublimieren“ doch in der Tat viele ein Begehren, das, sexuell oder nicht, normalerweise von der Gesellschaft frustriert wird Es kommt nun das hinzu, was Avner Ziv die soziale Funktion des Komischen nennt.19 Hier geht es um die verschiedensten makrosozialen Institutionalisierungen (Komödie, Karneval, Hofnarren, Zirkusclowns), die im nächsten Kapitel behandelt werden. Die Psychologen aber haben sich vorwiegend mit der mikrosozialen Dynamik des Humors befaßt, also mit der Art und Weise, wie Humor in kleinen Gruppen funktioniert, und darum soll es nun gehen. Wie schon erwähnt, spielen das Lächeln und das Lachen eine entscheidende Rolle bei der frühen Sozialisation. Auch unter Erwachsenen sind sie von großer Bedeutung – charakteristische Signale der Freundlichkeit, Entspanntheit, Solidarität. Insbesondere ist der Versuch, komisches Lachen hervorzurufen, ein beliebtes Mittel, mit dem Individuen die Akzeptanz anderer suchen. Die meisten tun dies gelegentlich. Es gibt auch noch die spezielle Rolle des Gruppenclowns, einer Person, der ausdrücklich oder stillschweigend die Rolle zufällt, alle zum Lachen zu bringen. Manchmal bewirbt sich jemand von sich aus um diese Rolle, manchmal wird sie auch einer Person ohne ihr Zutun oder gegen ihren Willen aufgezwungen. Die Rolle ist fast universell, sie kommt in den verschiedensten Gruppen und in verschiedenen Kulturen vor. Humor wirkt „soziopositiv“, indem er den Zusammenhalt der Gruppe stärkt, das funktioniert etwa nach dem Motto: „Wer zusammen lacht, gehört zusammen.“ Ein Neuling in so ziemlich jeder denkbaren Gruppe tut gut daran, rasch herauszufinden, worüber man in dieser Gruppe lacht – und, was ebenso wichtig ist, bei welchen Themen Humor als unangemessen gilt. Es ist beinahe unvermeidlich, daß Humor auch sozio-negative
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Folgen hat – er definiert die Umrisse der Gruppe und legt ipso facto fest, wer ein Außenseiter ist. Die grenzziehende Funktion des Humors wird sehr deutlich bei sogenannten „In-group-Witzen“. Nehmen wir zwei Beispiele eines in letzter Zeit unter amerikanischen Intellektuellen aufgetauchten Genres: Was bekommt man, wenn man einen Unitarier mit einem Zeugen Jehovas kreuzt? Jemanden, der von Haus zu Haus geht, und nicht weiß, weshalb. Was bekommt man, wenn man einen Mafioso mit einem Dekonstruktivisten kreuzt? Jemanden, der einem ein Angebot macht, das man nicht verstehen kann.
Vergebliche Liebesmüh, den ersten Witz jemandem zu erzählen, der sich nicht mit den Glaubensformen der amerikanischen Sekten auskennt, oder den zweiten jemandem, der keine Ahnung von der Literaturtheorie der Postmoderne hat. Ein Jude macht Urlaub im Westen und begegnet dort einem Indianermädchen. Er verliebt sich in sie, heiratet sie und nimmt sie mit nach New York. Nach einem Jahr kommt sie auf Besuch zu ihrer Familie zurück. „Bist du glücklich?“ fragen die Verwandten. „O ja, sehr glücklich.“ „Behandelt er dich gut?“ „O ja, wunderbar.“ „Und seine Familie? Wir haben gehört, daß die Juden es nicht so gerne sehen, wenn ihre Kinder Nichtjuden heiraten.Was sagt seine Familie denn dazu, daß ihr Sohn eine Indianerin geheiratet hat?“ „Ach, die sind alle so nett zu mir. Sie haben mir sogar einen neuen Namen gegeben. Sie nennen mich Sitting Shive.“
Um die Komik dieses Witzes zu erfassen, muß man die amerikanische Bezeichnung des jüdischen Trauerrituals, sitting shive, kennen, und diesen Ausdruck sozusagen blitzartig mit dem ähnlichlautenden Namen einer Geschichtsfigur des Wilden Westens in Verbindung bringen, dem legendären Indianerhäuptling Sitting Bull. Kein Witz für Touristen. Humor läßt sich auch einsetzen, um die Strenge einer hierarchischen Beziehung zu mildern. Ziv berichtet von einem Abteilungsleiter, der zu einem Angestellten, welcher schon wieder einen Tag gefehlt hat, sagt: „Vergessen Sie nicht: Ihre Großmutter ist schon zweimal gestorben.“ Solche Humormanöver werden heutzutage feierlich als management tools empfohlen. Aber Humor kann auch („sozio-negativ“) als Instrument sozialer Kontrolle in einer Gruppe eingesetzt werden. Hier wird die Person, die in ihrem Verhalten von dem der Gruppe abweicht oder deren Norm nicht erfüllt, durch Lächerlichkeit bestraft. Dieser weniger benutzerfreundliche Einsatz des Komi-
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schen kommt gerne im japanischen Managementtraining vor und ist dort Teil der sadistischen Initiationsriten, für welche jene Schulungen nachgerade berüchtigt sind. Es gibt auch noch das, was Ziv die defensive Funktion des Humors nennt.20 Dies bildet eigentlich keine separate Kategorie. Es handelt sich um eine andere Variante der Sublimation, die wir bereits im Zusammenhang der Verringerung von Aggressions- und Sexualitätsängsten erwähnt haben. Doch kann Humor allgemeiner gesprochen dabei helfen, mit der Angst vor jeglicher Bedrohung umzugehen. Ziv berichtet von einem Experiment mit kleinen Kindern. Man zeigte ihnen zwei Videofilme, einer ganz harmlos und kuschelig, der andere einigermaßen furchterregend. Darauf folgte eine Spielpause, und dann sagte man den Kindern, sie könnten vor dem Nachhausegehen noch einmal eins von den beiden Videos anschauen. Eine große Mehrheit wählte das zweite, erschreckende. Dieses Experiment zeigt beispielhaft – wie Ziv überzeugend darlegt –, welches Vergnügen Kinder und Erwachsene an Horrorfilmen, Achterbahnfahrten und anderen Erlebnissen haben, bei denen man einen Schauer der Angst verspürt, ohne sich wirklich in Gefahr zu begeben. Das Vergnügen entstammt der Erleichterung nach der Angst – einer Erleichterung, die man in der Angstsituation zuversichtlich abwarten kann. Doch hat Humor auch die Funktion, den Schrecken zu bändigen, der von tatsächlich bedrohlichen Ereignissen ausgeht. Daß im Krieg, im Krankenhaus und in anderen Situationen, wo man sich mit Tod oder schweren Verletzungen konfrontiert sieht, Humor durchaus eine Rolle spielt, ist bekannt. Es mag stimmen, wie Kardinal Spellman im Zweiten Weltkrieg bemerkte, daß es in Schützenlöchern keine Atheisten gibt, aber Humoristen gewiß. Ein Genre von Witzen, das diese defensive Funktion illustriert, ist jenes, das man als „schwarzen Humor“ oder sick jokes bezeichnet. Manche dieser Witze beziehen sich auf bestimmte Schrecknisse, andere in allgemeinerer Form auf die Furcht vor dem Tod, wie in den zwei folgenden Beispielen: Ein Arzt hat die Laborberichte über zwei seiner Patienten bekommen – bei dem einen ist Aids festgestellt worden, bei dem anderen Alzheimer. Unglücklicherweise hat das Labor die Namen auf den Berichten vergessen, so daß der Arzt nun nicht weiß, zu welchem Patienten welcher Bericht gehört. Die Frau von einem der beiden ruft an, sie ist sehr besorgt wegen ihres Mannes, sie will das Testergebnis wissen. Der Arzt überlegt einen Moment. Dann sagt er: „Ich gebe Ihnen jetzt zunächst einmal folgenden Rat: Schicken Sie ihn spazieren. Falls er zurückkommt, gehen Sie nicht mit ihm ins Bett.“ Kind: „Darf ich mit Oma spielen?“ Mutter: „Nein! Ich mach den Sarg jetzt nicht noch einmal auf.“
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Menschen, die von Berufs wegen regelmäßig mit Tod oder großer körperlicher Gefahr zu tun haben, neigen in besonderem Maße zu makabrem Humor. Bestattungsunternehmer beispielsweise: Ein Leichenbestatter hat den Leichnam des Verstorbenen vorbereitet. Er ruft die Witwe herein und fragt, ob es ihren Vorstellungen entspricht, wie ihr Gatte aussieht. „Sehr schön“, sagt sie. „Eines nur: Ich glaube, mein Mann sollte bei der Gelegenheit doch seinen blauen Anzug tragen – den, den ich Ihnen gegeben habe.“ „Kein Problem!“ sagt der Leichenbestatter. „Das dauert nur einen Moment.“ Und tatsächlich ruft er sie schon nach wenigen Augenblicken wieder herein. „Ist es so recht?“ fragt er. „Wunderbar“, sagt die Witwe. „Aber sagen Sie mal, wie haben Sie das denn so rasch hingekriegt?“ „Ach, ganz einfach. Die Köpfe ausgetauscht.“
Die Entlastung, die defensiver Humor schenkt, ist psychologisch. Doch scheint es auch nachweisbar, daß Humor mit physischer Gesundheit in Beziehung stehen kann und daß er bei der Genesung von körperlichen Krankheiten hilfreich ist, wie Kant schon in seiner Diskussion des Komischen bemerkte.21 Nicht aller Humor hat diese Funktion. Es gibt ungesundes Lachen, wahrscheinlich in Verbindung zu sehen mit „sozio-negativem“ Humor. Doch positives, seinem Wesen nach harmloses Lachen scheint die Gesundheit zu befördern. Man hat festgestellt, daß Krankenhauspatienten sich schneller erholen, wenn sie ihre Situation mit Humor betrachten können. Die Fähigkeit zum Humor scheint in positiver Korrelation mit dem Lebenswillen und mit der Fähigkeit zu stehen, mit einer Krankheit fertigzuwerden. Auch erleichtert Humor die Beziehungen zwischen Patienten und Personal (wie auch zwischen den verschiedenen Rangstufen des Personals). Darüber hinaus ist Humor bewußt als therapeutische Strategie eingesetzt worden, vor allem von Psychotherapeuten.22 Hierbei kann es sich um verschiedene Formen des „Aufziehens“ handeln, aber auch um Ironie und Satire. Eine satirische Perspektive kann zu Einsichten des Patienten in seine eigene Lage führen: Er lacht und gewinnt ipso facto einen Einblick in seine Situation. Die folgende Geschichte stammt von einem Psychotherapeuten. Einer seiner Patienten klagte immer wieder über die dreiste Untreue seiner Frau. Sie holte sich ihren Liebhaber regelmäßig ins Haus, die beiden liebten sich auf dem Sofa im Wohnzimmer, ob nun der Ehemann zuhause war oder nicht, sie ließen dabei sogar die Tür offen. Der Psychologe hatte den Mann aufgefordert, er solle sich stärker durchsetzen. Eines Tages kam der Mann mit selbstzufriedener Miene in die Therapiesitzung. „Also, heute habe ich Ihren Rat befolgt. Ich habe mich wirklich einmal durchgesetzt.“ „Was haben Sie gemacht?“ „Ich habe darauf bestanden, daß sie die Tür zumachen.“ Der Psychologe verlor seine professionelle Selbstbeherrschung und fing schallend an zu
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lachen. Der Patient war zuerst beleidigt, lachte dann aber auch. Dies markierte – dem berichtenden Psychotherapeuten zufolge – eine positive Wendung im Therapieverlauf.
In dieser Geschichte hatte es eine positive Wirkung, die „Pointe“, über die gelacht wurde (tatsächlich die der realen Begebenheit), zu begreifen. Dies bringt uns zu dem, was im Kontext unserer Untersuchung von den bei Ziv aufgeführten Funktionen die interessanteste ist – jene, die er als die intellektuelle bezeichnet.23 Mit etwa vier Monaten lachen Kinder, wenn man sie kitzelt. Mit etwa acht Monaten lachen sie, wenn man mit ihnen „Kuckuck“ spielt. Mit etwa einem Jahr lachen sie über unangemessenes Benehmen eines Erwachsenen (wenn dieser zum Beispiel aus dem Fläschchen des Kindes trinkt, auf allen Vieren geht oder Grimassen schneidet). Jeder Schritt im Verlauf dieser Entwicklung schließt eine Erweiterung des kognitiven Vermögens ein, sogar der allererste. Denn während das Kitzeln der Auslöser eines physiologischen Reflexes ist, muß man sich vor Augen halten, daß es nicht nur durch eine andere Person geschehen muß (man kann sich nicht selbst kitzeln), sondern daß dies für die meisten Kinder auch eine vertraute Person zu sein hat. Außerdem muß die kitzelnde Person durch ihr Verhalten zeigen, daß es sich um ein Spiel ohne aggressive Absichten handelt; wenn das Kind wirklich Angst hat, rufen dieselben kitzelnden Bewegungen kein Lachen hervor. Mit etwa zwei Jahren beginnen Kinder mit komplexen Spielen des „So tun, als ob“, darunter Spiele mit Wörtern und sorgfältig ausgekosteten Mißverhältnissen; diese Aktivitäten werden oft mit Lächeln oder Gelächter begleitet.24 Bei jedem Schritt dieser Entwicklung muß auf der jeweils erreichten Ebene von Komplexität der kognitive Akt vollzogen werden können, daß man das, wobei jemand „nur so tut“, von dem unterscheidet, was „echt“ ist. Nach den vorangegangenen Darlegungen, wie die Philosophen die komische Erfahrung zu fassen versucht haben, wird es den Leser nicht überraschen, daß die Psychologen darauf hinweisen, dieser kognitive Akt schließe die Wahrnehmung von Widersprüchlichkeit ein. „Eines der ersten Anzeichen von Erheiterung geht zurück auf Widersprüchlichkeit (incongruity). Widersprüchlichkeit ist die Grundlage eines Verständnisses für die intellektuellen Aspekte des Humors.“25 Die komische Erfahrung ermöglicht schon bei kleinen Kindern eine Erlösung von der Tyrannei des „Realitätsprinzips“ – man entzieht sich dem Diktat der Vernunft und weicht aus auf ein spezielles Terrain der Freiheit. Freud erkannte das völlig richtig. Doch weil er so fasziniert war von der Mechanik des sogenannten Unbewußten (einem irrationalen Gebilde par excellence), übersah er, daß die komische Erfahrung eine kognitive oder intellektuelle Dimension von entscheidender Bedeutung hat. Diese Funktion hängt ab von dem Vermögen, in mehr als einer Dimension zu denken. Sie ist natürlich im Witz, der intellektuellsten Form des Humors, am deutlichsten sichtbar, doch ist sie zumindest als Potential in allen
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Verkörperungen des Komischen vorhanden. Hier bestätigen die psychologischen Untersuchungsergebnisse die philosophische These von Marie Collins Swabey vollkommen. Der interessanteste Beitrag zur kognitiven Psychologie des Humors stammt von einem Nicht-Psychologen. Arthur Koestler, vor allem wegen seiner brillanten Romane über die ideologischen Wahnformen unseres Jahrhunderts bekannt, interessierte sich in seinen späteren Jahren zusehends für den Prozeß der wissenschaftlichen Entdeckung und damit auch für die Psychologie der Kreativität. Der ganze erste Teil seines Hauptwerks zu letzterem Thema handelt vom Humor.26 Er behauptet, daß drei Formen der Kreativität eng verwandt seien, verkörpert jeweils vom Narren (im Sinne des Hofnarren oder des Shakespeareschen Narren; jester), vom Weisen und vom Künstler – schöpferische Tätigkeit im Humor, in der wissenschaftlichen Entdeckung und der innovativen Kunst. Die Grenzen zwischen den drei Erscheinungsformen sieht er als fließend an. Gemeinsam ist allen, daß „eine Situation oder Idee… gleichzeitig in zwei in sich konsistenten, aber gewöhnlich unvereinbaren Bezugssystemen gesehen wird.“27 Als Beispiele dienen zwei Witze (die hier etwas umformuliert werden). Der erste findet sich auch bei Freud in seinem Buch über den Witz: Der Marquis findet seine Frau mit dem Bischof im Bett. Er sagt kein Wort, geht zum Fenster und fängt an, die drunten Vorbeigehenden zu segnen. Seine Frau fragt, was er denn da um Himmelswillen mache, und er erwidert: „Der Herr dort tut meine Arbeit, also übernehme ich die seine.“28
Der andere Witz hat die Psychoanalyse zum Gegenstand: Zwei Jüdinnen unterhalten sich. „Mein Sohn machte eine Psychoanalyse“, sagt die eine. „Er hat, scheint’s, einen Ödipuskomplex.“ „Ach was“, sagt die andere, „Hauptsache, er hat seine Mutter lieb.“
Die beiden Witze schieben jeweils zwei gewöhnlich inkompatible Bezugssysteme ineinander, im ersten Fall Gattenehre und Arbeitsteilung, im zweiten den Begriffsapparat der Analyse und die praktisch-patente Welt der jüdischen Mutter. Der Begriff, den Koestler für diesen speziellen kognitiven Akt geprägt hat, ist „Bisoziation“. Es handelt sich um die Fähigkeit, zwei (oder mehr) zuvor getrennte Aspekte der Realität in eins zusammenzuziehen. Im Deutschen läßt sich das etwa als „mitdenken“, „zusammendenken“ ausdrücken. Wird dieser Vorgang erfolgreich vollzogen, bringt er eine Katharsis mit sich – ein Heureka-Erlebnis oder, wenn man die Formulierung vorzieht, ein Aha-Erlebnis. Dies ist die Grundstruktur eines jeden kreativen Aktes, insbesondere jeglicher intellektuellen Innovation, geschehe sie durch einen Humoristen, einen Wissenschaftler oder einen Künstler.
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Koestler hat hier das angedeutet, was Thomas Kuhn in seinem Werk über die wissenschaftlichen Revolutionen den „Paradigmenwechsel“ genannt hat: Der wissenschaftliche Fortschritt vollzieht sich zunächst in der Tat,wie es der früheren Auffassung entspricht, durch Akkumulation empirischer Daten, aber die großen Schritte vorwärts geschehen dann plötzlich, mit einem Sprung von einem Theoriemodell zu einem anderen. Koestlers These läuft darauf hinaus, daß das Begreifen der Pointe eines Witzes im Grunde dasselbe ist wie das Lösen eines wissenschaftlichen – oder allgemein eines intellektuellen – Problems. Das ist ein kathartischer Vorgang. Doch die emotionale Katharsis hängt von einer kognitiven Wahrnehmung ab. Im Fall der Satire führt die komische Wahrnehmung in die Nähe der Gesellschaftswissenschaften. Weitere Differenzierungen sind möglich – man kann zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Humor unterscheiden, zwischen formellem und informellem Humor. Es gibt gewisse – nicht sehr aufschlußreiche – statistische Angaben, welche Art von Menschen über welche Art von Humor lacht. In direktem Zusammenhang mit der intellektuellen Funktion des Humors steht die Unterscheidung zwischen kreativem und rezeptivem Humor – die zu der Frage führt: Wer sind die Komiker?29 Sowohl professionelle Komiker wie Amateure sind meist kreative Menschen – mit Zivs Worten: Personen „mit der Begabung, mehr zu sehen als das Offensichtliche“. Es scheint, als seien dies häufiger Männer als Frauen (bei denen wiederum der rezeptive Humor stärker ausgeprägt ist – das heißt, sie lachen eher über die Scherze von Komikern). Das besagt sehr wahrscheinlich gar nichts über die jeweilige Kreativität von Männern und Frauen und erklärt sich eher aus den sozial festgelegten Geschlechtsrollen. In Amerika ergibt die Statistik, daß Juden unter den professionellen Komikern sehr stark vertreten sind, was sich leicht mit der, wie Thorstein Veblen es nannte, „herausragenden Intellektualität“ der Juden in Verbindung bringen läßt. Beides läßt sich erklären durch die Auswirkungen einer sehr alten jüdischen Kultur der Schriftgelehrtheit, in deren Tradition subtiles talmudisches Argumentieren eine große Rolle spielt, und durch die gesellschaftliche Marginalisierung der Juden in christlichen Gesellschaften, welche ihnen die skeptische, tendenziell sardonische Perspektive des Außenseiters nahelegte. Die relativ dürren Informationen über die Berufskomiker deuten auch auf eine häufig ungünstige Familiensituation mit Konflikten zwischen den Eltern hin. In einer solchen Situation bildet man oft raschen Witz als Verteidigungsmechanismus aus. Die Frage: Wer sind die Komiker? läßt sich wahrscheinlich sinnvoller in soziologischem als in psychologischem Kontext beantworten. Dann lautet sie: Wie wird Komik institutionalisiert? Das ist unser nächstes Thema.
5 Homo ridiculus: Gesellschaftliche Konstruktionen des Komischen Der Schlüssel zum Verständnis des Ortes, den die Komik in der Gesellschaft einnimmt, liegt darin, daß man die tiefe Affinität des Komischen zu Religion und Magie begreift. Eine Gesellschaftsordnung, die gut funktioniert, hüllt das Individuum in ein Geflecht von Gewohnheiten und Bedeutungen ein, die als selbstverständlich real erfahren werden. Dies ist, wie oben bereits ausgeführt, nach Alfred Schütz die „dominante Wirklichkeit“ des Alltagslebens. Trotz dieser scheinbaren Solidität ist eine Gesellschaftsordnung aber immer durch Brüche gefährdet. Diese Brüche entstehen unter anderem durch das Eindringen anderer Wirklichkeiten. Das Heilige ist ein solcher Eindringling. Ein anderer ist das Komische. Die beiden haben vieles gemeinsam, weshalb Heilige und Narren oft auf unbehagliche Weise einander ähnlich sind. Jede soziologische Analyse des Komischen muß diese zunächst seltsam erscheinende Affinität in Betracht ziehen. Anton Zijderveld, einer der sehr wenigen Soziologen, die sich systematisch mit dem Phänomen des Komischen beschäftigt haben, hat sich dem Problem genähert.1 Bei der Erörterung des Komischen gebraucht Zijderveld den Begriff des fascinans, den Rudolf Otto in seiner klassischen Studie Das Heilige verwendete, um die seltsame Ambivalenz von Attraktion und Schrecknis zu bezeichnen, die das typische religiöse Erlebnis enthält. Das Komische ruft, wenn es sich in seiner ganzen Kraft manifestiert, eine ähnlich ambivalente Faszination hervor. Das gilt natürlich auch für die Magie (die sich von der Religion dadurch unterscheidet, daß sie typischerweise von einzelnen Individuen und nicht von ganzen gesellschaftlichen Gruppen ausgeübt wird). Das Heilige wie das Komische stellen „geschlossene Sinnbereiche“ im Sinne von Schütz dar – Inseln sozusagen innerhalb der Kontinuität der gewöhnlichen Alltagsrealität. Sie sind gleichzeitig anziehend und beängstigend. Wer keinen „Sinn für Humor“ hat oder jedenfalls nicht begreift, was bei einem bestimmten Witz oder einer humorvollen Bemerkung komisch sein soll, ist irritiert, vielleicht sogar zornig. Derjenige aber, der die Pointe begreift und zu lachen beginnt, kann dieses Lachen nicht allzulange durchhalten, ehe eine gewisse Beunruhigung einsetzt. Ein paar Witze können sehr erheiternd sein; eine Flut von Witzen, die weiter erzählt werden und immer weiter, hört auf, angenehm zu wirken. Das Ominöse am Komischen tritt dann in den Vordergrund. Wie im Falle des Heiligen muß auch das Komische eingefriedet werden, gezähmt, wenn seine potentielle Bedrohung der sozialen Ordnung an der Verwirklichung gehindert werden soll. Im Falle des Komischen können wir eine differenzierte Abstufung dieser Bedrohung sehen – von harmlos-unschuldigem Humor bis zur grotesken Um-
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stülpung aller akzeptierten Regeln. Die Skala reicht von einem milden Witz bis zur beißenden Satire. Will man die Skala visualisieren, kann man als Extrempunkte eine Zeichnung von Norman Rockwell mit ihrem sanften Spott und die ätzende Komik eines Goya oder Daumier nehmen. Schließlich gibt es das, was man traditionell als „Narrheit“ bezeichnet, und was die ganze Welt auf den Kopf stellt. Deshalb verwendet Zijderveld die Metapher des Spiegels in seiner Analyse traditioneller Narrheit. In ihrem Spiegel erscheint die normale soziale Realität sowohl verzerrt wie scharf beleuchtet. Das Heilige wie das Komische können durch Räume oder durch Zeiten oder durch beides begrenzt sein. Es gibt heilige Orte und heilige Zeiten. Im Falle der Komik allerdings ist die Bindung an eine bestimmte Zeit sehr viel wichtiger als die an einen besonderen Ort. Wohl mag es Orte geben, die als angemessene Lokalität einer komischen Vorführung eingerichtet worden sind. Sie heißen dann vielleicht „Kabarett“ oder sogar „Opéra Comique“. Andere Orte, die auch anderen Funktionen dienen, können doch derart definiert werden, daß es sich um Lokalitäten handelt, an denen man Witze oder witzige Konversation zu hören erwarten darf – beispielsweise die Salons des achtzehnten Jahrhunderts in Paris oder in jüngerer Vergangenheit die Kaffeehäuser Mitteleuropas. Doch ist das Kaffeehaus nicht wie eine Kathedrale. Diese ist selbst heiliger Raum, jenes ein Raum, der nicht in sich komisch ist, sondern Gelegenheiten des Komischen bietet. Der Unterschied ist interessant und läßt sich nicht so leicht erklären. Vielleicht kann man eine Erklärung in dem ausgesprochen flüchtigen Charakter der komischen Erfahrung suchen. Die Zeit flacht alle Erfahrungen ab, die des Heiligen eingeschlossen. Das ist der Prozeß, den Max Weber als „Routinewerdung“ bezeichnete. Das Außergewöhnliche wird durch die Wiederholung gewöhnlich, wird tatsächlich zur Routine. Das Komische ist diesem Prozeß in besonderem Maße ausgesetzt. Deshalb kann man denselben Leuten nicht dieselben Witze zu wiederholten Malen erzählen. Ein seit kurzem eingesperrter Häftling darf zum erstenmal in den Gefängnishof, um sich etwas Bewegung zu machen. Dort ruft ein Gefangener plötzlich: „Vierunddreißig!“ Alle lachen. Ein anderer schreit: „Zwanzig!“ Wieder lacht alles. So geht es eine Weile weiter. Der Neue fragt einen alten Gefangenen, was hier vor sich geht. „Verstehst du“, sagt der alte Häftling, „die meisten von uns sind schon sehr lange hier. Wir kennen schon alle die Witze, die ein anderer erzählen kann. Also haben wir sie durchnumeriert und erzählen die Witze gar nicht mehr – wir rufen nur noch die Zahlen.“ Dem Neuen leuchtet das ein: eine ausgezeichnete Idee. Er will es auch versuchen. Also ruft er laut: „Einundvierzig!“ Niemand lacht. „Fünfzehn!“ Allgemeines Schweigen. „Was habe ich denn falsch gemacht?“ fragt der Gefangene. „Das sind doch die Nummern von ganz richtigen Witzen!“ „Schon“, sagt der alte Häftling. „Aber erzählen muß man sie halt können.“
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Wie oben bereits erörtert, erscheint das Komische meist in zahlreichen, aber kurzen Intermezzi, in denen es in die gewöhnliche soziale Interaktion eindringt. Damit dieses Eindringen auch tatsächlich als komisch wahrgenommen werden kann, bedarf es dessen, was die Soziologie eine „Situationsdefinition“ nennt. Diese Definitionen bestimmen nicht nur die angemessenen Zeitpunkte für ein komisches Intermezzo, sie legen auch die Parameter für das fest, was als komisch behandelt werden darf. Anders ausgedrückt: Es wird immer konventionelle Signale geben, die das Auftauchen des Komischen ankündigen. Sie können verbal sein. Ein Witz mag mit der Frage: „Schon gehört?“ eingeleitet werden, eine sardonische Bemerkung mit einer entwaffenden Ouvertüre wie „Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, wenn ich sage…“ Doch für gewöhnlich sind die Signale eher nonverbal: Ein Wechsel der Stimmlage, ein verschwörerisches Lächeln, ein den Witz vorwegnehmendes leises Lachen, ein Blinzeln. Diese Signale variieren natürlich je nach sozialer Gruppe und nach Umfeld. Ein Blinzeln mag in einer Gruppe einen Witz ankündigen, in einer anderen dagegen einen Verführungsversuch. Wenn sich ein paar Vertreter treffen, wird die Frage: „Schon gehört?“ einen Witz einleiten; unter Politikern vielleicht den jüngsten Klatsch über den Gouverneur oder irgendwelche inneren Zirkel der Macht. Die Parameter dessen, was als Humor akzeptabel ist, werden differieren, je nachdem, ob es sich um Vertreter, leitende Angestellte, Bauarbeiter oder Nonnen handelt. Es handelt sich hier um eine Mikrosoziologie des Komischen, die zum großen Teil schon im vorangegangenen Kapitel diskutiert wurde.2 Solche Signale sind aber auch gesamtgesellschaftlich institutionalisiert, was im Prinzip eine Makrosoziologie des Humors möglich macht. So gibt es so etwas wie einen „nationalen Sinn für Humor“, der gewöhnlich je nach Landschaft, Ethnie und Klasse ausdifferenziert ist. Hinsichtlich dessen, was vorher über die Notwendigkeit gesagt wurde, die potentiell explosive Kraft des Komischen zu beschränken oder zu zähmen, kann man noch hinzufügen, daß es hier in verschiedenen sozialen Umfeldern verschiedene Grade des Bändigungswillens gibt. So ließen sich zum Beispiel der zurückhaltende, alles herunterspielende Humor der amerikanischen „Wasp“-Bevölkerung (white anglo-saxon protestants) der Oberschicht mit der surrealistischen Witzigkeit des amerikanischjüdischen Humors vergleichen. Vielleicht sind Juden eher bereit als Wasps, der grundsätzlichen Verletzbarkeit sozialer Ordnung ins Gesicht zu sehen; sie verfügen gewiß über die entsprechende historische Erfahrung. Da das Komische typischerweise in kurzen Momenten, oft sozusagen nur in winzigen Zuckungen, in das gewöhnliche gesellschaftliche Leben eindringt, ist es um so wichtiger, daß die Leute genau wissen, wann man lacht und worüber. Jeder Soziologiestudent in Amerika kennt den berühmten Satz von W. I. Thomas: „Wenn man eine Situation als real definiert, hat sie reale Folgen.“ Thomas würde die folgende Paraphrase wohl nicht ablehnen: „Wenn man eine Situation als komisch
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definiert, wird ihre Wirkung eine komische sein.“ Indem die komische Situation sozial definiert wird, wird sie gleichzeitig begrenzt und abgesichert. Jetzt ist es erlaubt, zu lachen, ja, es wird sogar von einem erwartet; ist der komische Moment vorüber, kann man (vielleicht erleichtert) wieder zur „ernsthaften“ Interaktion zurückkehren. Auch hier gehen die entsprechenden Signale voraus. Sie können verbal sein: „Jetzt aber mal im Ernst…“ Häufiger noch werden sie nonverbal sein. Der Tonfall verändert sich wieder, das Lächeln verschwindet, es wird nicht mehr geblinzelt. Doch sind diese Signale nicht einfach ad hoc von den Teilnehmern der jeweiligen Interaktion erfunden.Vielmehr sind sie in einer ganzen sozialen Gruppe oder sogar in der ganzen Gesellschaft verbreitet, und man erlernt sie im Verlauf der Sozialisation zusammen mit den anderen sozial konstruierten Symbolsystemen. Der Begriff „Lachkultur“ ist für dieses Phänomen geprägt worden.3 Jener der „komischen Kultur“ (comic culture) ist dem wahrscheinlich vorzuziehen. Eine spezifische komische Kultur läßt sich ganz einfach als die Summe der Definitionen komischer Situationen, Rollen und akzeptabler komischer Themen in einer Gruppe oder Gesellschaft auffassen. Wieder lassen sich mikro- und makrosoziologische Aspekte unterscheiden. Es gibt Komikkulturen en miniature in Familien, Freundeskreisen oder anderen Gruppen in konstanter direkter Kommunikation. Und dann gibt es die komischen Kulturen von Regionen, verschiedenen (ethnischen, religiösen, professionellen usw.) Subkulturen und ganzen Gesellschaften. Die Komikkultur einer Familie wird häufig von den kleinen Kindern geprägt. Klein-Johnny oder Klein-Jeannie hat mit drei etwas Süßes gesagt, und seither bricht die ganze Familie unweigerlich in manisches Gegacker aus, wenn diese historische Sentenz zitiert wird oder wenn man auch nur auf sie anspielt. Jemand außerhalb der Familie mag gewisse Schwierigkeiten mit der Pointe haben, aber eben darum geht es. Der Außenseiter wird genau dadurch definiert, daß er nicht in der Lage ist, die Komikkultur der In-Group zu begreifen. Damit dient die Komik derselben wichtigen Funktion wie alle anderen Symbolsysteme: Sie zieht die Grenze zwischen Eingeweihten und Außenseitern. Jede Komikkultur ist in- und exklusiv. Das gilt außer für Familien auch für alle anderen intimen Gruppen. Es wird immer einen Fundus gemeinsamer Erfahrung geben, auf den die Angehörigen der Gruppe sich in einem Code beziehen, den der Außenseiter nicht begreift. Soll der Außenseiter in die Gruppe integriert werden, muß er diesen Code erlernen. Das kann ein schwieriger und langwieriger Prozeß sein. Zu begreifen, wann und worüber gelacht wird, ist ein wichtiger Teil des Prozesses, in dessen Verlauf der Außenseiter in die Gruppe sozusagen eingebürgert wird und ihre Geschichte quasi nachträglich verinnerlicht. Wie in dem Witz von den Gefangenen reicht es nicht aus, die Nummern zu nennen – man muß wissen, wie die Geschichten zu erzählen sind. Ein interessantes Beispiel ist das, was bei der Heirat geschieht, jedenfalls in
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modernen Gesellschaften. Die Ehepartner kommen nicht nur aus verschiedenen Familien, sondern oft auch aus stark differierenden sozialen Milieus. Sie fangen an, eine gemeinsame Lebenswelt zu konstruieren, indem sie eine – wie man sagen könnte – permanente „Eheunterhaltung“ führen.4 In deren Verlauf verinnerlichen sie nach und nach die voreheliche Lebensgeschichte des anderen, oft in einer abgewandelten oder uminterpretierten Form. Das schließt die angeblich amüsanten Episoden ein. Nach einigen Jahren kann der Partner die komischen Vorfälle aus dem Leben des anderen ebenso gut oder sogar besser erzählen wie jener, dem sie zugestoßen sind. Alte Ehepaare können wie die Gefangenen im Hof gemeinsam kichern, wenn sie sich mit den kodierten Abkürzungen verständigen, die für jedermann sonst unverständlich bleiben. Über makrosoziologische Komikkulturen könnte man endlos reden, und es gibt über sie auch viele Bücher – über den Humor der Südstaaten oder der verschiedenen deutschen Landschaften, den Witz der Amerikaner irischer Herkunft oder der Afroamerikaner,von Ärzten und Juristen oder auch von ganzen Nationen.5 Während es unterhaltsam wäre, hier Beispiele zu zitieren, würden sie im Argumentationszusammenhang des Buches nicht weiterführen. Man sollte allerdings erwähnen, daß oft ein beträchtlicher Unterschied zwischen einer empirisch zu beobachtenden Komikkultur und ihrer volkstümlichen Legende klafft. So ist es wahrscheinlich richtig, daß die Komikkulturen großer, kosmopolitischer Städte (New York etwa, Paris oder Berlin vor den Nazis) quicker, schärfer, witziger sind als die der jeweiligen tiefen Provinz. Aber es gibt auch komische Stereotypen, die wahrscheinlich kaum eine emprirische Grundlage haben. So werden in der persischen Volkstradition drei Städte mit bestimmten komischen Figuren in Verbindung gebracht – Rascht mit ungetreuen Frauen und ihren dummen Hahnreis von Ehemännern, Täbris mit pastoralen Toren und Isfahan mit Meistern schlagfertiger Antworten.6 Es ist sehr zweifelhaft, ob diese Mythen irgendetwas mit den realen Komikkulturen der Orte zu tun haben. Man sollte auch auf folgendes hinweisen: Es bestand immer ein Unterschied zwischen der Komikkultur der Straße und der formal durchgearbeiteten Komödie – zwischen dem, sagen wir, worüber Pariser Arbeiter lachten, während sie in Les Halles eine Pause machten, und dem, was währenddessen ihre gebildeten Landsleute in der Opéra Comique amüsierte. Der Unterschied ist der zwischen dem Komischen in der Lebenswelt und in einer Fiktion.7 In den meisten Fällen muß das zweite seine Grundlagen im ersten haben, oder es ist nicht komisch oder bleibt schlechtweg unverständlich. Die Ausnahme bilden esoterische ästhetische Eliten, die einen idiosynkratischen Humor kultivieren, der bewußt das verschmäht, was auf andere komisch wirkt. Wenn wir einmal die oben erwähnte Notwendigkeit beiseite lassen, jene Drohung zu bändigen, welche das Komische tendenziell für die Gesellschaftsordnung darstellt, so entsprechen die sozialen Funktionen des Komischen im
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wesentlichen, entsprechend vergrößert, seinen psychologischen. Sie lassen sich mit der im vorangegangenen Kapitel verwendeten Typologie von Avner Ziv beschreiben. Es gibt die erwähnte begrenzende Funktion: Eine Komikkultur zieht die Grenzlinien um eine Gruppe und identifiziert ipso facto auch diejenigen, die ausgeschlossen werden. Ein klassischer jüdischer Witz stellt das mit eleganter Knappheit dar: Ein Jude sagt in irgendeinem Zusammenhang: „Nebbich!“ Ein Goj, der zuhört, fragt ihn: „Sagen Sie, was bedeutet eigentlich dieses ‘nebbich’?“ „Sie wissen nicht, was ‘nebbich’ heißt? Nebbich!“
Dann haben wir die Aggressivität und die Sublimation von Tabuisiertem. Damit steht in enger Verbindung die Rebellion gegen Unterdrückung. Die Beispiele, die oben angeführt worden sind, würden auch hier taugen. Was man unbedingt hervorheben sollte, ist das, was Ziv die intellektuelle Funktion des Komischen nennt. Wie wir schon mehrfach darzulegen versucht haben, ist die Fähigkeit zur komischen Wahrnehmung beim Menschen neben allem anderen auch eine kognitive. Sie führt zu spezifischen und objektiven Wahrnehmungen der Wirklichkeit. Wenn das philosophisch und psychologisch zutrifft, ist es gewiß auch soziologisch richtig. Komische Wahrnehmungen der Gesellschaft enthalten oft brillante Erkenntnisse. Eine gute Karikatur oder ein guter Witz können oft viel mehr über ein bestimmtes Element gesellschaftlicher Realität aussagen als eine ganze Reihe sozialwissenschaftlicher Abhandlungen. So läßt sich das Komische oft als eine Art Volkssoziologie begreifen. Nehmen wir das Phänomen des amerikanischen Kapitalismus und seiner Wirkung auf die amerikanische Kultur – das überall durchschlagende Konkurrenzprinzip, die Exzesse des Konsums, der geschäftliche Erfolg als alles beherrschende Wertvorstellung. Dies ist aus verschiedenen Perspektiven untersucht und kritisiert worden, nicht nur von Seiten der ideologischen Linken. Man könnte komplexe Theorien und unlesbare Wälzer zitieren. Stattdessen könnte man aber auch die folgenden drei Witze erzählen: Zwei Geschäftsleute sind auf Safari. Plötzlich hört man Trommeln in der Ferne. Der eingeborene Führer ruft: „Ein Löwe kommt in unsere Richtung!“ und verschwindet im Dickicht. Der eine der beiden Geschäftsleute setzt sich hin und zieht Laufschuhe an. „Was soll das denn?“ fragt der andere. „Sie können doch nicht schneller laufen als ein Löwe.“ „Ist auch nicht nötig“, sagt der erste. „Ich muß nur schneller laufen als Sie.“ Ein amerikanischer Geschäftsmann ist in Indien. Ein indischer Kollege möchte ihm einen Elefanten verkaufen. „Ich mache Ihnen einen Sonderpreis! Nur tausend Dollar.“ „Begreifen Sie doch, ich lebe in Chicago in einem ganz kleinen Apartment im dreizehnten Stock. Was soll ich da mit einem Elefanten?“ „Okay, okay. Achthundert Dollar.“
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„Nein! Ich hab Ihnen doch gesagt…“ „Also gut. Siebenhundert.“ „Ich erklär’s Ihnen noch einmal. Ich lebe in einer ganz kleinen Wohnung im dreizehnten Stock…“ „Ah, Sie sind ein schwieriger Kunde! Also, ich mache Ihnen ein letztes Angebot: Zwei Elefanten für achthundertfünfzig.“ „Na, das läßt sich doch schon eher hören.“ Zwei Partner im Textilviertel von New York stehen vor dem Bankrott. Sie beschließen, daß der eine Selbstmord begehen und der andere die Versicherungssumme einstreichen und das Geschäft retten wird. Sie ziehen Streichhölzchen. Der Verlierer vergießt ein paar Tränen, schreibt einige Zeilen zum Abschied an seine Frau, geht aufs Dach hinauf und springt. Sein Partner sieht vom Fenster aus zu. Der Selbstmörder schaut im Sturz in die Fenster der Konkurrenten in den höheren Stockwerken. Als er am Fenster der eigenen Firma vorüberkommt, ruft er seinem Partner die letzten Worte zu: „Velours muß runter!“
Die Erfahrung des Komischen ist universell. Komische Kulturen können dagegen sehr stark differieren. Einige Sozialwissenschaftler, vor allem Anthropologen, haben versucht, von gewissen transkulturellen Erscheinungsformen des Komischen ausgehend zu Verallgemeinerungen zu kommen. Darunter waren A. R. Radcliff-Browne und Mary Douglas, zwei bedeutende, verschiedenen Generationen angehörende Vertreter der englischen Sozialwissenschaften. Obwohl er den Begriff nicht selbst prägte, machte Radcliff-Browne die „Scherzbeziehung“ (joking relationship) 8 bekannt. Diese wird definiert wie folgt: „Eine Beziehung zwischen zwei Personen, von denen eine traditionell die Erlaubnis – und manchmal die Pflicht – hat, die andere zu necken oder zu verspotten, von der wiederum erwartet wird, daß sie das nicht übelnimmt.“9 Es gibt dabei zwei Varianten, die symmetrische und die asymmetrische Beziehung. In der symmetrischen Scherzbeziehung können die beiden Personen sich gegenseitig verspotten, entweder gleichzeitig oder bei verschiedenen Anlässen. In der asymmetrischen ist eine Person der Komiker, die andere muß immer die Zielscheibe des Spottes abgeben. Radcliff-Browne führt Beispiele aus Afrika (seinem eigentlichen Forschungsfeld), Asien, Ozeanien und Nordamerika an. Scherzbeziehungen gibt es beispielsweise zwischen verschwägerten Personen oder zwischen Großeltern und Enkeln. Einige Fälle betreffen ganze Stämme oder Clans. Stets sind diese Beziehungen gekennzeichnet durch, wie Radcliff-Browne sagt, „eine eigenartige Kombination von Freundschaftlichkeit und Feindseligkeit“. Seine Theorie über die Funktion solcher Beziehungen faßt er so zusammen: „Sowohl die Scherzbeziehung, die eine Allianz zwischen Clans oder Stämmen darstellt, wie jene zwischen Verwandten durch Heirat sind Formen zur Organisation eines definitiven und stabilen Systems sozialen Verhaltens, in dem verbindende wie trennende Elemente… aufrechterhalten und kombiniert werden.“10 Oder auch: Wenn du sie nicht mehr mit dem Beil treffen darfst, triff sie mit einem Witz.
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Radcliff-Browne gehörte der sogenannten funktionalistischen Schule der englischen Sozialanthropologie an (aus der später in der amerikanischen Soziologie der sogenannte Strukturalismus-Funktionalismus erblühte), und seine Erörterung der Scherzbeziehung leidet unter den Begrenzungen dieser Schule. Die hauptsächliche Beschränkung zeigt sich an einem Begriff, den Talcott Parsons häufig benutzt hat, der einflußreichste amerikanische Soziologe, der den Ansatz von Radcliff-Browne und dessen Kollegen fortführte – am Begriff der „Aufrechterhaltung des Systems“ (system maintenance). Gesellschaftliche Phänomene werden im Hinblick darauf analysiert, was sie zur Stabilisierung der Gesellschaftsordnung, des Systems, beitragen. An diesem Ansatz ist zu recht kritisiert worden, daß er den rationalen, „systemischen“ Charakter menschlicher Gesellschaften überbetone. Mary Douglas kritisiert in ihrem Aufsatz über das Komische Radcliff-Browne, weil er zu abstrakt vorgehe und zu sehr von „systemischer“ Ordnung besessen sei.11 Mary Douglas verwendet ebenfalls verschiedenes ethnographisches Material, das meiste davon aus Afrika. Sie zieht sowohl Bergson wie Freud heran und sieht den Witz als „eine Attacke auf die Kontrollmechanismen“, mit „subversiver Wirkung auf die herrschende Vorstellungsstruktur“. Die skatologischen Aspekte des Humors liefern hier ein gutes Beispiel. Dabei herscht allerdings keine Absicht, die herrschende Kontrollstruktur wirklich umzustürzen. Tatsächlich ist das Komische ein „Spiel mit Formen“, eine momentane Relativierung, die in sich selbst lustvoll ist wie auch die Sublimierung verbotener Wünsche erlaubt. Um diesen harmlosen Charakter des Humors zu bewahren, müssen komische Situationen angekündigt werden: „Schon gehört?“ oder ähnliche Rituale. Es gibt hier ein Paradoxon: Witze richten sich gegen die Rituale der geordneten Welt, und doch ist das Witzemachen selbst ritualisiert – wenn auch antirituell. Wie Douglas sagt: „Der gewöhnliche Ritus sagt aus, daß die vorgegebenen Muster des sozialen Lebens unausweichlich sind. Der Witz sagt, daß man ihnen ausweichen kann. Ein Witz ist seinem Wesen nach ein Anti-Ritus.“12 Mary Douglas nähert sich hier dem Problem der Begrenzung des Komischen, das in diesem Kapitel schon hervorgehoben worden ist, wenn sie es dann auch nicht direkt anspricht. Jedenfalls bietet das Witzemachen Erholung von sozialen Klassifikationen und Hierarchien, es ermöglicht ein Aufweichen von Grenzlinien, „eine zeitweilige Suspendierung sozialer Struktur“. Es kann auch eine Form ritueller Reinigung sein,wie in den Fällen, wo Witzereißen ein Mittel ist, um jemand, der gegen bestimmte Sexualvorschriften verstoßen hat, von seiner Schuld zu säubern. Mary Douglas’ Erörterung des Phänomens der Komik ist vor allem dort profund, wo sie den, der Witze macht, als einen großen Relativierer beschreibt, als „eine Art kleinen Mystiker“. Man könnte auch sagen: Der Witzmacher ist eine Art kleiner Zauberer. Er schwenkt seinen Zauberstab, und die scharfen Konturen der
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gesellschaftlichen Realität zergehen zumindest einen Moment lang, so daß die Phantasie den so entstandenen leeren Raum besetzen kann. Sie zählt eine Reihe von komischen „Joker“-Göttern auf – den griechischen Proteus, den Ganesch der Hindus, den Legba der Yoruba (der in sinisterer Form im haitianischen Voudun weiterlebt). Sie behauptet dann, es sei „nicht zu kühn, die Theorie zu vertreten“, daß einige afrikanische Kulturen mit ihren Scherzriten ihre eigene Philosophie des Absurden entwickelt hätten. Diese Riten versuchen, das Unergründliche zu formulieren, oft in hochpoetischer Form. In diesem Zusammenhang bezieht sich Mary Douglas auf die Studie von Victor Turner über den Chihamba-Kult bei den Ndembu von Sambia.13 Wenn Mary Douglas recht hat (und das hat sie sehr wahrscheinlich), dann stellen Kulte wie der des Chihamba die Universalisierung von Erasmus’ Weltsicht einer Herrschaft der Torheit dar. Thomas Luckmann hat in seinem Buch The Invisible Religion, das mittlerweile ein Klassiker der Religionssoziologie geworden ist, eine sehr nützliche Unterscheidung getroffen.14 Er unterscheidet zwischen institutionell diffuser und institutionell spezifischer Religion. Historisch war das Religiöse meist nicht an spezielle Institutionen delegiert – es verteilte sich diffus auf alle sozialen Institutionen: Verwandtschaft, Gemeinwesen, Wirtschaft. Nur in manchen Gesellschaften hat es Institutionen gegeben, die dadurch definiert waren, daß sie sich speziell mit Religion befaßten – die christliche Kirche war eine solche Institution (die natürlich von enormem Einfluß auf die Entwicklung der westlichen Zivilisation war). Eine ähnliche Unterscheidung ließe sich für das Komische treffen. Die meiste Zeit ist es diffus auf das ganze Spektrum sozialer Institutionen verteilt und taucht buchstäblich überall auf, ohne spezielle eigene Institutionalisierung. Es gibt natürlich eine Art lockerer Institutionalisierung, einen Zwischenzustand. Ein solcher Fall wäre beispielsweise die „Ernennung“ einer Person zum Komiker einer kleinen Gruppe (der Fall wurde oben als Beispiel für die Mikrosoziologie des Komischen erwähnt). Doch hat es auch speziell institutionalisierte Rollen und Rollenkombinationen gegeben, denen die Aufgabe zufiel, das Komische zu repräsentieren. Die wichtigste dieser Rollen war die des Narren; Rollenkombinationen, zuweilen in hochorganisierter Form, finden wir in verschiedenen Varianten von der elegant stilisierten Komödie zur chaotischen Welt des Karnevals.15 Im modernen Sprachgebrauch bezeichnen die Wörter „Narr“ oder „Narrheit“ Dummheit oder Wahnsinn. Traditionell hatten diese Wörter in den europäischen Sprachen eine umfassendere Bedeutung. Die traditionelle Narrheit war, wie Anton Zijderveld sie beschreibt, „jenseits von Vernunft und Wahnsinn“.Wenn wir uns die Berichte über die Narrheit im Mittelalter und in der Renaissance ansehen, dann stellen wir fest, daß sicher einige jener Narren heute als geistig zurückgeblieben oder als psychotisch diagnostiziert würden. Selbst damals erkannte man, daß manche Narren geistesschwach oder verrückt waren. Doch traf man eine inter-
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essante Unterscheidung: zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“ Narren. Erstere waren durch einen angeborenen Defekt dem Narrentum bestimmt; die anderen entschieden sich dafür, den Narren zu spielen – nach heutigem Verständnis eine Berufswahl. In Frankreich bezeichnete man die zweite Variante mit dem schönen Titel fou en titre d’office – ein offiziell anerkannter Narr, ein Narr ex officio. Einige dieser Individuen waren ganz offensichtlich nicht verrückt und gewiß nicht dumm. Sie übernahmen eine institutionell definierte soziale Rolle. Wenn einige darunter zufällig zurückgeblieben oder wahnsinnig waren, so war diese Tatsache genaugenommen für die Rollenperformanz nebensächlich. In der Rolle personifizierte sich eine bestimmte Wirklichkeitssicht, nämlich eben die der „Torheit“. Es war dies eine surreale, eine grotesk umgekehrte Perspektive. Sie umschloß auf jeden Fall die entscheidenden Züge des Komischen, wie Philosophie und Psychologie sie herausgearbeitet haben: Widersprüchlichkeit einerseits, Sublimierung und eine merkwürdige Form von Befreiung andererseits. In der westlichen Ziviliation geht die Narrenrolle bis auf die Antike zurück, insbesondere auf den Dionysoskult und seine spätere römische Adaption, die Saturnalien. Näherliegende Vorbilder finden sich im Mittelalter vor allem unter dem „fahrenden Volk“, das sich jahrhundertelang auf den Straßen Europas drängte. Eine buntscheckige Bande – Pilger, Prediger, Gelehrte, Spielleute, Diebe, aber auch alle möglichen Unterhaltungskünstler – Musiker, Gaukler, Akrobaten. Der mittelalterliche Narr war ein Amalgam all dieser Rollen und trat oft in der Tracht der einen oder anderen auf, so daß er nur an seinem Agieren erkannt werden konnte. Die wandernden Narren waren oft einstige Mönche (in seltenen Fällen auch Nonnen), die aus den Klöstern verstoßen worden waren, die Klosterdisziplin selbst abgeworfen hatten oder Opfer einer wirtschaftlichen Krise geworden waren. Eine französische Bezeichnung für diese entlaufenen Mönche war goliards. Sie stellten eine bizarre Mischung aus Vagabundentum, Verbrechen, Gelehrsamkeit und Unterhaltungskunst dar und lebten, ständig unterwegs, am Rand der Gesellschaft von ihrer geistigen Beweglichkeit. Man könnte sie ironisch mit dem von Karl Mannheim geprägten Begriff der „freischwebenden Intelligenz“ bezeichnen, der für ein sehr viel jüngeres Phänomen gebildet wurde – Mannheim bezog sich damit auf moderne Intellektuelle, die nur sehr selten „freischwebend“ existieren. Zu den goliards paßt diese Vorstellung sehr viel besser. Ein beträchtlicher Teil der Goliardenliteratur hat sich erhalten, wie auch andere Berichte über das Narrentum des Mittelalters und der Renaissance. Zijderveld hat diese Lebensform als eine „üppige und grobschlächtig vergnügte Wirklichkeit“ und als eine „Welt der Freiheit außerhalb der Kirche und der Gesellschaft“ bezeichnet.16 In seiner Randexistenz genoß der Narr eine seltsame Freiheit – die heute noch im Deutschen als Begriff erhaltene Narrenfreiheit. Mit Worten, Liedern und Aktionen durfte er religiöse und weltliche Autoritäten ver-
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spotten (wenn es auch natürlich gelegentlich vorkam, daß der einen oder anderen Autorität die Geduld riß und die Narrheit unterdrückt wurde). Ein Zentralthema der Narrheit war die Umkehrung. Sie wurde buchstäblich an Sprache und Ritual vollzogen – lateinische Sätze wurden rückwärts gesprochen, katholische Zeremonien in umgekehrter Reihenfolge vollzogen. Überhaupt alles wurde bei den Auftritten der Narrheit umgekehrt – alle sozialen Unterschiede (auch der des Geschlechts) und Hierarchien (auch die der Kirche) wurden ausgelöscht, parodiert, umgekehrt. Im Spätmittelalter kam es zu der merkwürdigen Synthese von Narrheit und Tod, die sich in den karnevalistischen Totentänzen ausdrückt. Zijderveld bemerkt, daß Narrheit und Tod hier als die „beiden Gleichmacher“ erscheinen. Die Narrheit, die alle soziale Ordnung relativiert und untergräbt, deutet am Ende auf den Tod hin, der alle soziale Ordnung auslöscht. Die Narrheit als allgemeines Kulturphänomen begann in der frühen Neuzeit langsam zu zerfallen. Zijderveld erklärt dies mit der Weberschen Kategorie der Rationalisierung. Sehr wahrscheinlich trifft das auch zu. Dann wäre der Hauptschuldige das aufsteigende Bürgertum, die rationalste und „ernsthafteste“ Klasse. Doch in dem Augenblick, da die Narrheit von den Straßen zu verschwinden begann, wurde sie in der Literatur unsterblich.17 1494 erschien Sebastian Brants Narren Schyff. Hier wird im Anschluß an eine lange kirchliche Tradition die Narrheit als sündhaft gesehen und verdammt. Doch wenig später, im Jahre 1515, erschien eine Sammlung von Geschichten über die Streiche des großen Narren Till Eulenspiegel, „eine Art Nagel, an dem man alle möglichen komischen Geschichten von Streichen, Scherzen und Witzen aufhängen konnte“.18 Erasmus’ Lob der Torheit, 1511 erschienen, war wahrscheinlich die erste positive Darstellung des Närrischen in der europäischen Literatur (wenn Erasmus, wie oben erwähnt, immer wieder betonte, das Buch sei nicht ernst gemeint, sollte man ihm das nicht glauben). Man könnte allerdings sagen, daß Erasmus sich mit dieser Wertung eher als Repräsentant einer mittelalterlichen Weltsicht erweist als – wie das meist behauptet wird – einer modernen.19 Gleichzeitig wurde das Narrentum professionalisiert. Als Literatur wie als Beruf zog sich die Narrheit von den Straßen zurück. Auf diese Weise verlor sie sowohl ihre Verankerung in der Volkskultur wie ihre Marginalität. Die wichtigste Form der Institutionalisierung war nun die Rolle des Hofnarren.20 Die Narrheit hatte sich an die Höfe des ancien régime zurückgezogen, diese letzte Bastion nichtbürgerlicher Kultur. Auch hier gab es „natürliche“ Narren (Hofzwerge darunter, für welche der Adel, vor allem die Damen, eine bizarre und oft laszive Vorliebe hatte). Meist aber füllten die Hofnarren ihre Rolle en titre d’office aus. Manche beherrschten ihr Fach höchst professionell und übten hie und da beträchtliche Macht aus. Sie waren nicht nur für ihren Witz bekannt (der natürlich die entscheidende Voraussetzung für ihre Rolle war), sondern auch für ihre politische
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Verschlagenheit und persönliche Bosheit. Da er keine andere Stütze hatte, hing der Hofnarr völlig von der Gnade des Monarchen ab, der sich ihn hielt, und zweifellos waren es die Abhängigkeit und die sich daraus ergebende unbedingte Loyalität, weswegen der Monarch die Rolle schätzte. Doch war natürlich auf die Gnade des Monarchen kein Verlaß, so daß die Rolle des Hofnarren stets gefährdet war. Selbst wenn er sich in der Gunst seines Herrn sonnen konnte, war sein Los kaum beneidenswert. Er mußte in absurder Tracht herumlaufen, seinen Witz ständig betätigen und dabei die wechselnden Launen und Vorurteile seines Herrn stets im Auge behalten. In gewisser Weise war er eine Art Schoßtier. Tatsächlich mußten die Narren an manchen Höfen im Hundezwinger schlafen. Es gab Narren an den Höfen Europas vom sechzehnten bis ins achtzehnte Jahrhundert, doch begann der Niedergang der Institution schon um 1700. Zijderveld faßt diesen Zeitabschnitt so zusammen: „Zuerst konnten die absolutistischen Herrscher ihre parasitären Narren entbehren, dann konnte die Gesellschaft, von der jene Herrscher als die wahren Parasiten zehrten, wiederum auf die Monarchen verzichten. In diesem Sinne war der Niedergang des Hofnarren der Prolog zum Niedergang des Absolutismus und damit zur Französischen Revolution.“21 Und diese war natürlich der Moment, da die Göttin der Vernunft den Thron der Torheit usurpierte. So schien es. Blickt man auf die zwei Jahrhunderte seit diesem Thronwechsel zurück, könnte man leicht zu dem Schluß kommen, daß die neue rationale Göttin mehr zerstörerische Narrheit hervorgebracht hat, als man es sich je träumen ließ, da Stultitia durch die Straßen Europas zog und in den Palästen umherstolzierte. Zijderveld meint, daß die Narrheit mit dem Triumph der modernen Rationalität gestorben ist und daß alle Versuche, sie wiederzubeleben, zum Scheitern verurteilt sind. Hier ist er vielleicht zu pessimistisch. Wieder ist die Analogie zum Religiösen nützlich. Ein Grund für Thomas Luckmanns Einführung des Unterschiedes zwischen institutionell diffuser und institutionell spezifischer Religion war es, daß er der damals (in den sechziger Jahren) in der Soziologie verbreiteten Ansicht entgegentreten wollte, der Niedergang der Kirchen müsse als Niedergang der Religion gesehen werden. Demgegenüber insistierte Luckmann auf der fortdauernden Wichtigkeit einer „unsichtbaren Religion“, die diffus in vielen Bereichen der Gesellschaft präsent ist und sich nicht lediglich in spezifischen Institutionen konzentriert. Dasselbe mag auch für die Narrheit gelten. Ihre institutionellen Verkörperungen wie die Goliarden und die Hofnarren sind verschwunden. Aber das Närrische existiert fast mit Gewißheit in institutionell diffuser Weise weiter und kann einem an den unerwartetsten Orten begegnen. Doch gibt es auch eine gewisse institutionelle Kontinuität.Wir lassen für den Augenblick die Entwicklung des komischen Theaters und seiner professionellen Komiker beiseite, um dann bald auf sie zurückzukommen; ebenso die volkstümlichen
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Theater- beziehungsweise Variétéformen wie Vaudeville und Burlesque in Amerika, wo viele Elemente traditioneller Narrheit in unerwartetem Kostüm auftauchen können. Stattdessen konzentrieren wir uns auf eine moderne Institution: den Zirkus mit seinen Clowns.22 Der Zirkus als Institution entwickelt sich im späten achtzehnten Jahrhundert, was mehr oder weniger mit dem Abgang des Hofnarren zusammenfällt. Er war eine betont nicht-aristokratische Institution, zuerst vom Bürgertum besucht und dann von einem sehr viel breiteren Publikum der unteren Schichten geschätzt. Der Zirkus begann als eine Arena für Reiterspiele, die Philip Astley 1768 am Rande von London einrichtete. In der Manege zeigte er Reitkunststücke, Akrobatik auf dem Pferderücken, die er mit komischen Nummern abwechseln ließ. Diese wurden zur Domäne des Clowns, der sich über die Harlekine und Pierrots des frühneuzeitlichen Theaters in direkter Linie vom mittelalterlichen Narren herleitet. Nach einem Vierteljahrhundert hatte Astleys Gründung, nun unter dem Namen „Circus“, ganz Europa und Nordamerika erobert. Sie hat bis heute überlebt. Hier haben wir eine Beschreibung des Zirkusclowns aus dem Jahre 1802: „…bäuerliche Erscheinung, leerer oder starrer Blick, baumelnde Arme, aber bei hochgezogenen Schultern, einwärts gedrehte Füße, schlurfender Gang mit schwerem Tritt, große Begriffsstutzigkeit und scheinbare Dummheit des Geistes und Auftretens.“23 Die Figur hat sich seither kaum verändert. Ebensowenig der größte Teil ihres Repertoires mit seinem Hinschlagen, seinen Kuckuck!-Szenen und seinen Nummern magischer Unverletzlichkeit. Eine typische Clownsszene braucht den Antagonisten des Clowns, eine „ernste“ Figur, die ihn oft mit einem Hammer oder einer anderen Waffe verfolgt. Der Clown entwischt ihr mit verschiedenen gewandten Manövern (trotz seiner scheinbaren Unbeholfenheit), und wenn er am Ende doch gestellt und auf den Kopf geschlagen wird, daß er umfällt, so springt er gleich wieder auf, unverletzt und unbesiegbar. Wie der Narr ist auch der Clown zauberisch begabt. Und wie die Welt der Narrheit schafft die Zirkuswelt eine Oase des Zauberischen in der Wirklichkeit moderner Rationalität. Die meisten modernen Erwachsenen, jedenfalls diejenigen mit einer gewissen „höheren“ Bildung, sind durch die Possen des Zirkusclowns nur schwer zu erheitern, Kinder dagegen unweigerlich. Das ist bezeichnend. Denn selbst wenn – wie Max Weber meinte – die moderne Welt eine der radikalen Entzauberung ist, so erschafft doch jede Generation von Kindern den Zaubergarten wieder neu, aus dem die Göttin der Vernunft die Menschheit dem Vernehmen nach befreit hat. Kinder identifizieren sich unmittelbar mit dem Clown und seiner Welt. Man könnte die These aufstellen, daß sie etwas wissen, was ihre Eltern vergessen haben. In der Geschichte des Zirkus läßt sich wie bei anderen Verkörperungen komischer Kultur auch eine Dialektik zwischen volkstümlichen und „hohen“ Kulturformen beobachten. Der Clown als solcher wird selten zum Gegenstand der
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Aufmerksamkeit „ernsthafter“ Kulturkritik, obwohl sie einigen der großen Meister des Clownesken ihre Aufmerksamkeit gewidmet hat – Grock (1890 – 1959) etwa, einem Schweizer Clown, der im europäischen Zirkus viele Jahre lang führend war, oder Oleg Popow, dem Star des Moskauer Staatszirkus in den fünfziger Jahren. Es ist von diesen Zirkusartisten nicht weit zu Schauspielern und Mimen wie Chaplin, Marcel Marceau und Jean-Louis Barrault. Allein die Karriere Chaplins im Verlauf der Entwicklung des Kinos scheint zu beweisen, daß es verfrüht war, den Tod des Narren zu verkünden. Auch ist der Narr keine Rolle, die es nur in der westlichen Zivilisation gibt.24 Es gibt Berichte über festbestallte Narren an den Höfen der Inkas und der shogun der Tokugawa-Epoche. Clowns (vidusaka) treten in den Theaterstücken des alten Indien auf, und diese Bühnenkonvention setzt sich bis ins gegenwärtige javanische Drama fort.25 Für bestimmte afrikanische Kulturen hat man die zeremonielle Rolle von Clownsfiguren studiert.26 Das vielleicht interessanteste Beispiel ritualisierter Narrheit außerhalb des Westens findet sich in gewissen Kulturen der nordamerikanischen Indianer. Man trifft hier Zeremonialnarren an, denen es obliegt, ein „Umkehrverhalten“ zu zeigen. Dazu gehören Transvestismus, Rückwärtsreden, Verspottung heiliger Rituale und widerwärtiges Benehmen (Urintrinken beispielsweise). Die Ähnlichkeit mit den oben beschriebenen Praktiken des mittelalterlichen Europa ist auffallend. Der Narr hat auch einen festen Platz in der Mythologie dieser Indianervölker. Die bekannteste Beschreibung einer solchen Gestalt ist Paul Radins Studie des sogenannten Trickster-Mythenkreises der Winnebagos.27 Der mythische Trickster Wakdjunkara ist ein Narr klassischer Prägung, dessen Taten stark an Till Eulenspiegel erinnern und an dessen (vermutliche) Vorgänger im Orient. Diese transkulturellen Erscheinungen der Narrenfigur sind besonders interessant, da es unwahrscheinlich ist, daß sie sich alle als kulturelle Entlehnungen erklären lassen. Vertreter einer diffusionistischen Kulturtheorie könnten zu der Hypothese neigen, daß der Narr in – sagen wir – Indien erfunden worden ist und von dort aus in alle Richtungen davonwanderte. Gewiß gab es solche Wanderungen von Schwankmotiven (definitiv im Falle Eulenspiegel). Doch strapaziert es die Erklärungskraft einer diffusionistischen Theorie allzusehr, wollte man annehmen, daß sie Phänomene erklären kann, die im mittelalterlichen Europa wie im Tokugawa-Japan, in Ostafrika wie in den Prärien Nordamerikas zu finden waren, lange vor dem Zeitalter moderner Kommunikationstechnik. Eine eher funktionalistische Interpretation scheint nahezuliegen. Es scheint plausibel, daß Narrheit und Narren – wie Religion und Magie – bestimmten tiefverwurzelten Bedürfnissen der menschlichen Gesellschaft entsprechen. Die transkulturell einheitlichen Züge des Phänomens deuten an, um welche Bedürfnisse es sich handeln könnte – die Verletzung von Tabus, die Verspottung heiliger und profaner
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Autoritäten und Symbole, die Umkehrung von Sprache und Benehmen sowie eine universale Obszönität. All dies läßt sich mit jenem Begriff des „Umkehrverhaltens“ aus der Kultur der nordamerikanischen Indianer sehr schön zusammenfassen. Was könnte nun die gesellschaftliche Funktion dieses Phänomens sein? Die psychologische Funktion liegt, wie schon erwähnt, auf der Hand. Zijderveld gebraucht den Ausdruck von der „Sicherheitsventil-Hypothese“, um sie zu beschreiben. Die Gesellschaft gestattet den sorgsam begrenzten Ausdruck verbotener Triebe und verhindert dadurch, daß sie die gesellschaftliche Ordnung „im Ernst“ stören. Daran ist sicherlich etwas. Doch wird darüber hinaus die soziale Ordnung auch bereichert, wenn sie es zuläßt, daß man innerhalb ihrer selbst Gegenthemen, Gegenwelten einen Ort einräumt. Zijderveld zitiert den holländischen Soziologen W. F. Wertheim, der das Phänomen der Narrheit als „Kontrapunkt der dominanten Melodie“ bezeichnet hat, so daß es am Ende zu den Integrationskräften der Gesellschaft zählt.28 Damit ist wohl die Reichweite funktionalistischer Interpretationen erschöpft.Wie Mary Douglas in ihrer Kritik an A. R. Radcliff-Browne zum Ausdruck brachte: Das reicht nicht weit genug. Zijderveld begreift das; er sieht in der Narrheit des Element der Magie, die „numinose“ Eigenart einer Gegenwelt, die als Phantom die Welt des normalen Lebens schreckt und sie dadurch gefährdet. Dieser quasi magische, quasi religiöse Zug des Komischen eignet seinem Wesen und ist insofern universell. Er schreckt alle Gesellschaften, und alle müssen Mittel und Wege finden, sich zu schützen. Angesichts dessen ist es nicht überraschend, daß man dem Narren an so vielen Orten begegnet. Die theatralisch formalisierte Komödie ist seit Aristophanes eine wichtige Form der Hochkultur im Westen.29 Doch ließ sich die für die Aristokratie oder für das Bürgertum aufgeführte Komödie immer wieder von der komischen Kultur der Volksmassen inspirieren (und hat ihrerseits wiederum diese beeinflußt, vor allem natürlich im Zeitalter der Massenmedien). Die mittelalterlichen Narren erscheinen verwandelt in den Stücken Shakespeares (und nicht nur in denen, die der Kategorie „Komödie“ zugewiesen werden), im Don Quijote und – ihre wohl eleganteste Umformung – in der commedia dell’arte, wo dann vor allem die Figuren Harlekin und Pierrot wiederum die Gestalt des Zirkusclowns mitprägen halfen. Pantalone, der lüsterne Alte der commedia mit den unförmig weiten Hosen erlebte im amerikanischen Variété, dem „Burlesque“-Theater, und in den Jahrmarktsbuden der USA seine Auferstehung. Geschäftige Literaturwissenschaftler könnten wahrscheinlich mit genügender Hartnäckigkeit manche der obszönen Witze, über die man in diesen amerikanischen Lokalitäten betont „niederer“ Kultur immer gelacht hat, bis zur orgiastischen Verbalkomik der Goliarden zurückverfolgen. Das Theater, als Gebäude wie als Organisationsform, ist der Ort der formalisierten Komödie. Es umfaßt sowohl Schauspieler wie Publikum in einer fortlau-
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fenden Interaktion. Das Publikum ist ein wesentlicher Teil der Veranstaltung, bei der eine Antiphonie von Vorführung und lachender Reaktion stattfindet. So stellt die Komödie, ihren kultischen Ursprüngen treu, eine Art Zeremonie dar, sogar in ihren modernsten Erscheinungsformen. Das gleiche gilt für das Kabarett. Der zeremonielle Aspekt geht natürlich verloren, wenn ein Leser sich allein in den gedruckten Text einer Komödie versenkt – wie er auch bei der Übertragung durch die modernen Medien Radio, Film und Fernsehen fehlt. Es läßt sich auch kaum bezweifeln, daß die Erfahrung des Komischen dadurch abgeschwächt wird. Dementsprechend wird die Aufgabe des Schöpfers von Komik (des Komödienautors oder –schauspielers) schwieriger, wenn das unmittelbare Publikum fehlt. Es ist bezeichnend, daß die Produzenten von TV-Komödien dazu übergegangen sind, ein reales Publikum ins Studio zu holen, wenn gedreht wird, und bei der Ausstrahlung Gelächter einzublenden. Das Theater war immer ein magischer Ort; diese seine Eigenschaft ist oft bemerkt worden. Es ist ein Ort, wo alles geschehen kann, ein Ort des Geheimnisses und der Faszination. Die Magie des Theaters drückt sich natürlich ebenso in der Tragödie aus wie in der Komödie; sie ist der aristotelischen Katharsis wesentlich, die idealerweise von beiden hervorgerufen wird. Die komische Katharsis ist, wie oben angedeutet, von der tragischen verschieden. Sie wiederholt, wenn auch manchmal in sehr gedämpften Tönen, die urtümliche Katharsis der dionysischen Orgie. Das Theater als Institution begrenzt dieses Element des Chaotischen streng – räumlich, zeitlich und durch die künstlerische Form. Das moderne Theater ist ein Gebäude. Was innerhalb dieses Gebäudes plausibel ist, ist es draußen nicht. Die komische Aufführung wird zu bestimmten Stunden an bestimmten Tagen angesetzt – zu anderen Zeiten kann ihre phantastische Wirklichkeit ignoriert werden. Die Komödie im Theater folgt sehr speziellen Regeln und Konventionen: Das stellt sicher, daß nicht geradezu „alles geschehen kann“. Ist die Vorstellung zu Ende, verläßt man das Gebäude und kehrt, einigermaßen erfrischt, wieder in die „Standardzeit“ (mit der Bezeichnung von Alfred Schütz) und zu den Routinehandlungen des normalen sozialen Lebens zurück. Bernhard Greiner, ein Historiker der Komödie, vertritt die These, daß die Komödie durch einen Akt der „Dopplung“ entsetht. Das heißt, daß die Komödie eine Gegenwelt zur Welt des Alltags setzt. Das tut natürlich auch die Tragödie, doch ließe sich argumentieren, daß die Dopplung der Komödie radikaler ist. Die Tragödie beruht schließlich stets auf den Wirklichkeiten der menschlichen Existenz. Insofern muß das theatralisch notwendige Sich-Einlassen des Publikums auf die Illusion (die Epoché der Phänomenologen) bei der Komödie radikaler sein. Der tragische Held wird schuldig, seine Versuche, das Schicksal abzuwenden, sind zum Scheitern verurteilt, die Folgen seiner Handlungen verkehren sich ironisch, und am Ende stirbt er in der Regel. Das tragische Drama komprimiert und stilisiert
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diese Vorgänge auf eine Art und Weise, die eine gewisse Epoché verlangen, doch sind alle diese Bestandteile des tragischen Spannungsbogens tatsächlich in der empirischen Wirklichkeit des menschlichen Lebens ohne weiteres nachzuweisen. Im Gegensatz hierzu ist der komische Held ewig unschuldig, er triumphiert über alle Hindernisse, die ironischen Folgen seiner Handlungsweisen schlagen ihm am Ende zum Guten aus, und zum Schluß heiratet er in der Regel oder triumphiert als Liebhaber. Um sich auf diese Gegenwelt einzulassen, bedarf es gewiß einer viel radikaleren Epoché. Der Komödienautor und sein Schauspieler müssen das Publikum zu dieser Epoché verführen, eine Aufgabe, die schwieriger als die der Kollegen vom tragischen Fach sein dürfte. Das Eingehen in die spezifisch komische Illusion wird von den kunstvollsten Werken Shakespeares und Molières ebenso gefordert wie von der unbeholfensten Operette oder dem derbsten Witz eines Variété-Komikers. Die commedia dell’arte war die vollständigste Neubelebung des Dionysischen und seiner Magie im modernen Theater.30 Es ist unmöglich, dies bei bloßer Lektüre der Texte zu erkennen. Zwischen Wort und Handlung besteht eine sehr enge Verbindung, die im gedruckten Text nicht wiederzugeben ist. Man kann versuchen, sich durch das Betrachten von Bildern dieser Erfahrung anzunähern – der berühmten Gemälde von Watteau beispielsweise. Der commedia dell’arte lag eine Dramatik in durchaus starren, fast sozusagen liturgischen Formen zugrunde. Es gab festgelegte Charaktere, Kostüme und Masken, stereotype Bewegungen und schematische Handlungsabläufe. Doch innerhalb dieser festen Formen herrschte große Variabilität durch improvisiertes Sprechen und Agieren. Dem Publikum wurde eine reiche, dicht bevölkerte Gegenwelt geboten. Die Hauptfiguren erschienen als zeitlose, mythopoetische Gestalten, angeführt von Harlekin (Arlecchino), dem prototypischen Narren, der seine Laufbahn als stolpernder Bauerntölpel begann und in Frankreich zum Pierrot wurde, einer witzig philosophierenden Figur. (Seither wechseln Narren und Clowns zwischen diesen beiden typischen Verkörperungen hin und her.) Dazu traten Colombine, Harlekins kecke Freundin (musikalisch wurden die beiden als Papageno und Papagena in der Zauberflöte unsterblich), der schon erwähnte Pantalone, der Dottore, die zeitlose Karikatur des schwindulösen Fachmanns, der umherstolzierende Capitano, ein soldatischer Macho mit stets versagendem Mut (ursprünglich als Spanier dargestellt), und die schlauen Diener (zanni), zu denen Harlekin ursprünglich selbst gehörte (als ein solcher Diener erscheint er in Gestalt von Cervantes’ Sancho Pansa und von Leporello im Don Giovanni). Wenn man Jungianer wäre (was ich nicht geradezu empfehlen möchte), würde man sagen, daß diese Figuren Archetypen sind, die aus den tiefsten Gründen des kollektiven Unbewußten der westlichen Zivilisation auftauchen; wer keiner ist, kann trotzdem über ihre fortdauernde Faszinationskraft erstaunen.
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Die commedia dell’arte hatte drei Quellen – die commedia erudita (die formalisierte Theaterkomödie) der Renaissance, die volkstümlichen Schauspiele und die Tradition des Karnevals. Die Dialektik von „hoher“ und volkstümlicher komischer Kultur läßt sich hier deutlich studieren. Und wie in den volkstümlicheren Komödienformen bot sich auch in der commedia dell’arte bei den Improvisationen Gelegenheit zu scharfer Satire gegen alle Formen von Autorität. Dies führte verschiedentlich zu politischen Schwierigkeiten, zum Beispiel zur zeitweiligen Schließung des Théâtre Italien in Paris 1697.Viele Jahre später verlieh im Wien der restaurativen Metternichzeit der Komödienschauspieler und Komödienautor Johann Nestroy dieser Tradition von Satire elegante Form, zeitweise behindert durch das Zensurverbot aller extemporierten Bemerkungen auf der Bühne. Allen Polizeistaaten macht Improvisation natürlich Sorgen. Doch gehört der Wechsel von strenger Stilisierung und spontaner Improvisation geradezu zum Wesen der Komödie. Greiners Charakterisierung der commedia dell’arte ließe sich auf die Komödie allgemein beziehen: Er hebt hervor, daß nichts auf der Welt gewiß ist, alles könnte sich schon im nächsten Augenblick als Illusion herausstellen. Eine solche Welt ist allein dann erträglich, wenn nur der Augenblick zählt. Was vorher geschah, darf nicht zu einem bedrückenden „Erfahrungsschatz“ erstarrt sein, die Zukunft darf nicht als mögliche Bedrohung antizipiert werden. So erlöst dieses Theater von der Schwere des Lebens.31 Schließlich müssen wir noch einen Blick auf eine andere gesellschaftliche Konstruktion des Komischen werfen. Hier findet die Begrenzung nur in der Zeit statt; räumlich ist sie unbegrenzt, mit relativ fließenden Formen von Benehmen und Sprache und ohne Schranke zwischen den Agierenden und dem Publikum. Hier sind wir auch in der Moderne dem dionysischen komos noch am nächsten. Der allgemeine Begriff für diese Institution ist „Karneval“.32 Dieses ursprünglich europäische Konstrukt hat mittlerweile etwa in Brasilien oder in der Karibik sehr verschiedene kulturelle Elemente in sich aufgenommen. Es gibt auch analoge Phänomene in nicht-westlichen Kulturen. Ursprünglich bezog sich natürlich das Wort „Karneval“ (wörtlich: Leb wohl, o Fleisch) nur auf die Festivitäten am Dienstag vor dem Aschermittwoch, auf die letzten Stunden der Lebensfreude vor der Fastenzeit. Die Fixierung dieses Ereignisses im christlichen Kirchenjahr ist aufschlußreich. Die ausgelassene Feier aller Fleischesfreuden wird schon von der Düsternis der heraufziehenden Fastenzeit überschattet, das Leben wird im Schatten des Todes gefeiert. Der verallgemeinerte Gebrauch des Wortes geht vor allem auf den russischen Wissenschaftler Michail Bachtin zurück (hierüber gleich mehr). Diese Verallgemeinerung ist nützlich, da sich der Geist des Karnevals nicht auf den Fastnachtsdienstag beschränkt. Es hat eine ganze Reihe von Festen mit einem solchen Ausbruch von Narrheit gegeben, insbesondere den Narrentag, der in Westeuropa an Neujahr begangen und von der
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niederen Geistlichkeit organisiert wurde (derselben unzufriedenen Gruppe, aus der die Goliarden hervorgingen). Es gab noch andere solche Feiern, die meist in den Tagen zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag begangen wurden. Alle wurden von bestimmten Organisationen geplant und geleitet, die sozusagen Narrenausschüsse oder Narrenbruderschaften waren. Diese Form sozialer Organisation hat bis heute beispielsweise in New Orleans überdauert, wo die Zugehörigkeit zu jenen Gruppen in der weißen wie in der schwarzen Bevölkerung in engem Zusammenhang mit der allgemeinen Statuszuweisung steht. Um sich ein Bild solcher Vorgänge machen zu können, taugt folgende Beschreibung aus einer Verlautbarung der Theologischen Fakultät zu Paris aus dem Jahre 1444; der Erlaß beschrieb das Narrenfest und sollte eigentlich diesen Umtrieben ein Ende setzen, was ihm nicht gelang. „Priester und Kleriker mag man da sehen, wie sie Masken und monströse Gesichter zu den Stunden des Offiziums zeigen. Sie tanzen im Chor der Kirche, gekleidet als Frauen, Kuppler oder Spielleute. Sie singen wollüstige Lieder. Sie essen Blutwurst am Altar, während die Messe gelesen wird. Sie würfeln dort. Sie räuchern mit stinkendem Qualm aus alten Schuhsohlen. Sie rennen und hüpfen durch die Kirche, ohne vor Scham zu erröten über ihr Tun. Schließlich fahren sie auf alten Karren und Wagen durch die Stadt und über alle öffentlichen Plätze und erregen das Gelächter ihrer Genossen und der Umherstehenden mit unanständigen Aufführungen, unzüchtigen Gesten und grotesken und unkeuschen Versen.“33 Eine der folgenreichsten Interpretationen des Karnevals ist, wie erwähnt, die von Michail Bachtin, der 1940 ein Buch veröffentlichte, mit dem Rabelais in den Kontext der „Volkskultur des Humors“ gestellt werden sollte.34 Die wichtigsten Ausdrucksformen jener Volkskultur des Humors waren nach Bachtin erstens die rituellen Abläufe bei dem, was unter den Allgemeinbegriff „Karneval“ fällt, zweitens verschiedene poetische Formen (teilweise parodistischer Natur) und drittens das Jahrmarktsidiom der volkstümlichen Flüche, Beschimpfungen und Scherzlieder. In all diesem entdeckt Bachtin eine gemeinsame Formensprache, die sich über Jahrhunderte hinweg herausgebildet hat und bis zu den komischen Ritualen der Antike zurückreicht. Es ist das Idiom des „karnevalistischen Lachens“. Dieses war und ist gekennzeichnet durch eine tiefgreifend egalitäre Perspektive (die offiziellen Hierarchien werden ignoriert oder auf den Kopf gestellt). Es war festiv – nicht individuell, sondern das „Lachen des ganzen Volkes“; es war universell, indem es die ganze Welt als Narretei wahrnahm; es war ambivalent, indem es sowohl verachtungsvoll wie triumphierend war. Bachtin gebraucht auch den Begriff des „grotesken Realismus“, um dieses Idiom zu bezeichnen. Es spottete aller Idealisierungen und betonte die gröbsten Körperfunktionen: Das Lachen degradiert und materialisiert (verkörperlicht) alles.35
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Das liest sich teilweise so, als sei der karnevalistische Geist eine Art dialektischer Materialismus avant le lettre gewesen. Wenn wir einmal die Frage beiseite lassen, ob Bachtin das wirklich selbst glaubte oder ob diese marxistischen Tönungen eine Mimikry waren, welche die stalinistische Zensur beruhigen sollte, so bleibt doch die quasi revolutionäre Interpretation des Karnevals wenig überzeugend. Wie Zijderveld in seiner Diskussion derselben Phänomene betont, gab es beim Karneval kaum jemals die Absicht, weltliche oder geistliche Autoritäten tatsächlich zu stürzen. Doch tangiert dieser Einwand weder die Präzision von Bachtins Beschreibungen noch nimmt er dem Dionysisch-Komischen irgendetwas von seiner zutiefst subversiven Kraft – wenn auch diese Subversion metapolitisch verstanden werden will. Das wird in der Tat sehr gut in Bachtins Formulierung der Auffassung ausgedrückt, welche die Renaissance vom Lachen hatte: „Das Lachen hat eine tiefe philosophische Bedeutung, es ist eine Form der Wahrheit über die Welt im Ganzen, die Geschichte und den Menschen; es vermittelt eine besondere Sichtweise der Welt, sieht sie anders, aber nicht weniger richtig als der Ernst. Deshalb ist das Lachen in der großen Literatur (auch wenn sie universale Probleme anspricht) ebenso gerechtfertigt wie der Ernst; wesentliche Bereiche der Welt sind überhaupt nur dem Lachen zugängig.“36 Ein solches Lachen ist in der Tat subversiv, jedoch in einem Sinne, der weit entfernt ist von einer irgendwie marxistischen Theorie des revolutionären Bewußtseins. Bachtin betont auch etwas, das in den bisherigen Erörterungen schon wiederholt herausgestellt wurde: daß die „Lachkultur“ des Mittelalters und der Renaissance eine Gegenwelt errichtete. „Es [das Gelächter des Mittelalters] schafft sich seine eigene Welt, seine eigene Kirche und seinen eigenen Staat in Opposition zur offiziellen Welt und zur offiziellen Kirche. Das Lachen zelebriert Messen, bekennt sich zu seinem Glauben, es hält Trauungen und Beerdigungszeremonien ab, schreibt Epitaphe und wählt Könige und Bischöfe. Bezeichnenderweise ist auch die kürzeste mittelalterliche Parodie immer so angelegt, als sei sie ein Bruchstück einer vollständigen und geschlossenen komischen Welt.“37 Man könnte hinzufügen, daß diese „Dopplung“ charakteristisch ist für alle Schöpfungen des Geists der Komik, wenn auch selten mit der umfassenden Kraft des traditionellen Karnevals. Diese Art von Gelächter befreit (es entsteht die erwähnte Narrenfreiheit). Sie ermöglicht zumindest zeitweilig den Sieg über die Angst, die Todesfurcht eingeschlossen (der spätmittelalterliche Totentanz nimmt, wie erwähnt, die Symbole und Gesten des Karnevals auf). Die groteske, obszöne, skatologische Behandlung des Körpers gehört wesentlich zu dieser Überwindung der Angst – die verletzbarsten, am wenigsten spirituellen Aspekte der menschlichen Existenz werden in solchen Parodien auf magische Weise harmlos. Hierher gehört ein Hinweis darauf, daß Rabelais an der Medizinschule von Montpellier studierte und später auch lehrte, wo ausgedehnte akademische Diskussionen zur thera-
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peutischen Kraft des Lachens stattfanden. Hierher hat Rabelais seinen Begriff des „fröhlichen Arztes“. Vielleicht darf man eine kleine Phantasie vom fröhlichen Soziologen spinnen, bei dem die komische Weltsicht Rabelais’ in das Bewußtsein von der prekären Stabilität der Gesellschaft eingegangen ist. Der Karneval läßt sich als letztes Stadium jenes Prozesses sehen, in dem das Komische von einer kurzen Unterbrechung der sozialen Ordnung zur vollständig durchgeführten Schöpfung einer Gegenwelt voranschreitet. Diese Einbrüche der Komik in die gewöhnliche Realität sind zeitlich begrenzt, aber als verlockendbedrohliche Möglichkeiten sind sie immer gegenwärtig, mit befreiender Wirkung auf die Individuen, besorgniserregend für die Ordnungshüter. Die Institutionen, welche die Einbrüche des Komischen umgrenzen und in vorgezeichnete Bahnen lenken, sind der soziologischen Analyse zugänglich, auch wenn wir hier nur einige wenige kursorisch mustern konnten. Immerhin sollte der Grundcharakter dieser Institutionen jetzt einigermaßen klar sein. Entgegen Zijdervelds Pessimismus ist die Narrheit aus der modernen Welt nicht verschwunden, ebensowenig wie Religion und Magie. Bestimmte institutionelle Formen erscheinen und verschwinden, aber die Erfahrung des Komischen beruht auf anthropologischen Notwendigkeiten, und die Komik wird sich neue Ausdrucksformen suchen, sobald die früheren obsolet geworden sind. Die Prozession der Narrenfiguren geht weiter, buchstäblich in den Karnevalsfeiern unserer Tage (Venedig, Köln, New Orleans, am üppigsten in Rio de Janeiro), doch auch in der immerwährenden komischen Phantasie. Die Narrenprozession zieht durch die Jahrhunderte weiter, auf allen Kontinenten. Es ist ein trostreicher Gedanke: Sie wird nicht enden, solange die Menschheitsgeschichte fortdauert.
6 Zwischenspiel: Gedanken zum jüdischen Humor Nicht zufällig (wie Marxisten zu sagen pflegten) sind viele der in den vorangegangenen Kapiteln zitierten Witze jüdisch. Die besten Witze sind überhaupt jüdisch. Das ist – zumindest unter amerikanischen Collegeabsolventen, ganz gleich, wie ihre ethnische oder religiöse Herkunft sein mag – allgemein bekannt. Das Collegestudium ist hier nur insofern von Bedeutung, als der jüdische Humor zu einem hohen Niveau von sophistication, von intellektueller Komplexität und „Gewitzheit“ neigt; wozu auch immer ein Collegestudium heutzutage noch gut sein mag (das ist ein sehr kontroverses Thema, das hier nicht verfolgt werden kann), es führt meist zum Erwerb eines gewissen Grades solcher sophistication. Mindestens seit den Fünfzigern ist der jüdische Humor sowohl in seiner expliziten Form wie in, sozusagen, gewissen Unterwanderungen (der Tenor eines Witzes kann jüdisch sein, auch wenn der Inhalt nichts Jüdisches hat) ein zentraler Bestandteil der komischen Kultur Amerikas. Nicht nur, daß so viele Autoren komischer Texte und Komiker Juden gewesen sind – wichtiger ist die Tatsache, daß ein spezifisch jüdischer Humor, eine spezifische komische Sensibilität, die Kultur allgemein eingefärbt hat. So lernen beispielsweise Studenten aus dem Mittleren Westen oder dem Süden, die von ihrer Herkunft her dem Judentum ganz fremd sind, jiddische Ausdrücke zu verwenden oder sogar einen jiddischen Tonfall nachzuahmen, wenn sie komisch wirken wollen. Der Humor spielte eine wichtige Rolle beim kulturellen Aufstieg der Juden in Amerika. Diese Entwicklung ist bereits in sich interessant. Und es hat natürlich eine Reihe von Werken gegeben, welche die historische Entwicklung des jüdischen Humors erforscht haben. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, diese Werke heranzuziehen oder die Art und Weise zu analysieren, in der jüdische Einflüsse die amerikanische Kultur der jüngsten Vergangenheit beeinflußt haben. Doch ist das Beispiel des jüdischen Humors insofern wichtig, als es uns hilft, die Dynamik zu klären, nach deren Gesetzen sich eine komische Kultur sozial konstruiert, und die folgenden knappen Überlegungen sollen zu dieser Klärung beitragen. Wo immer auch die alten Wurzeln des jüdischen Humors liegen mögen, in der Talmudliteratur beispielsweise – für die jüngere Vergangenheit ist sein Ursprung in der jiddischen Kultur Osteuropas zu suchen, sowohl in ihren volkstümlichen Erscheinungen wie in den „höheren“ literarischen Ausdrucksformen. Für letztere stehen solch klassische jiddische Autoren wie Scholem Alejchem oder Isaac Leib Perez, aber diese Literatur ist wiederum inspiriert vom vitalen Puls der jiddischen Kultur, wie die gewöhnlichen Leute sie lebten. Sie blühte innerhalb der Grenzen des schtetl und war für die nichtjüdische Welt draußen unzugänglich (nicht, daß
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besonders viele Gojim ein Interesse daran gezeigt hätten, Zugang zu ihr zu finden). Doch mit dem Eintreten der Emanzipation im neunzehnten Jahrhundert brach diese Kultur aus ihren jahrhundertealten Schranken aus, und es ergab sich eine sehr viel kompliziertere Synthese. Diese fand großenteils in bestimmten Metropolen Ost- wie Westeuropas statt, in welche eine große Zahl von Juden zog. Vor allem in den Städten der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie entwickelte sich eine komische Kultur eigener Art, die nicht ohne ihren jüdischen Zug denkbar war. Das Kaffeehaus, das sich als eine strategische Institution der Urbanität dieser Regionen herausbildete, war auch ein Zentralort dieser komischen Kultur. Sie blühte mit besonderem Glanz in den drei großen Hauptstädten Wien, Budapest und Prag, war aber auch in solchen kleineren städtischen Zentren wie Zagreb, Brünn oder Czernowitz zu finden. Dort, in jener spezifischen, vom Duft zu vieler Tassen Kaffees und vom Qualm zu vieler Zigaretten durchzogenen spätabendlichen Atmosphäre, wurde eine Form des Witzes entwickelt, die für den Außenseiter so unzugänglich war wie die Komik des schtetl. Nun aber waren Eingeweihte und Außenseiter nicht länger ethnisch-religiös definiert, denn viele Nichtjuden nahmen an diesen esoterischen Pointenwechseln teil. Es ist herzzerreißend, wenn man manchmal noch heute in diesen Gegenden, wo buchstäblich kein jüdischer Witzeerzähler mehr übrig ist, schwache Echos dieser ganz besonderen Komikkultur belauschen kann. Es ist ein Zeichen für die unbesiegbare Überlebenskraft des jüdischen Volkes, daß die jüdische Kultur, die in Europa zum größten Teil durch die Nazibarbarei zerstört wurde, neue Verkörperungen in Amerika und in Israel gefunden hat. Die komische Kultur Israels ist ihrem Wesen nach eine innerjüdische Angelegenheit. In Amerika aber ist eine große Zahl von Nichtjuden in die zauberische Welt des jüdischen Humors assimiliert worden. Der spezifische Charakter des jüdischen Humors läßt sich nicht durch seine Themen erklären. Natürlich gibt es einige auffällige Lücken in seiner Thematik. So enthält der jüdische Humor fast nichts Skatologisches und bemerkenswert wenig Sexuelles (selbst bei den Witzen, die Sexualsituationen schildern, geht es gewöhnlich um etwas anderes – um Geld oder die Komplexität von Familienbeziehungen). Man kann sagen, daß sich der jüdische Humor in großer Entfernung vom schallend-derben Karnevalsgelächter Bachtins befindet. Das trifft allerdings auch auf den Humor anderer Kulturen zu – auf den der Iren zum Beispiel. Die Herausgeber einer Anthologie jüdischen Humors beschreiben die Gegenstände dieses Humors wie folgt: „Essen (das Futtern ist sakrosankt), Familie, Geschäft, Antisemitismus, Reichtum und sein Fehlen, Gesundheit und Überleben.“1 Mit der offensichtlichen Ausnahme des Antisemitismus finden sich jedoch diese Themen auch in anderen komischen Kulturen. Es scheint also eher um die Form zu gehen. Der moderne jüdische Humor hat in Europa wie in Amerika die Form des Witzes verfeinert. Während das Komische, wie in diesem Buch immer wieder betont
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worden ist, ein universelles menschliches Phänomen ist, ist es der Witz als Form komischer Kreativität nicht. Es gibt Kulturen mit reicher komischer Tradition, wo die Menschen selten oder nie Witze erzählen (das scheint beispielsweise in Ostasien der Fall zu sein). Für unsere Zwecke können wir den Witz einfach als eine sehr kurze Geschichte mit überraschendem Schluß (der Pointe) beschreiben. Der jüdische Humor hat seit sehr langer Zeit eine große Fülle von Witzen hervorgebracht. Zweifellos hat das tiefe Wurzeln in der jüdischen Kulturgeschichte und geht zurück auf talmudische Zeiten und auf die rabbinische Neigung, eine Argumentation durch das Erzählen einer gewöhnlich kurzen Geschichte zu illustrieren. Doch wiederum ist der Witz keine ausschließlich jüdische komische Ausdrucksform. Er wurzelt ebenso in der komischen Kultur des Mittelalters und der Renaissance; seine Ursprünge liegen wahrscheinlich im Orient (wie in den Geschichten von Nasreddin Hodscha), möglicherweise in Indien. Die spezifische Qualität des jüdischen Humors liegt also weder in seinen Themen noch in der Ausdrucksform. Vielmehr ist sie in einer besonderen Sensibilität zu suchen, einer Perspektive, einem Tonfall. C’est le ton qui fait la musique. Und es handelt sich um einen scharfen, schneidenden Ton. Er ist stark intellektuell, was an urbane Gewitzheit erinnert. Er hat auch eine surreale Dimension, bei der man versucht ist, an einen religiösen Ursprung zu denken. Ein Beispiel muß hier ausreichen. Das Geschäftsleben ist schon als häufiges Thema jüdischen Humors genannt worden. Insbesondere wird gern von der überlegenen Schläue des jüdischen Geschäftsmannes erzählt. (Ironischerweise wird eben jener Topos, der in nichtjüdischen Witzen über Juden herabsetzende Bedeutung hat, in den jüdischen Witzen Anlaß zur Selbstzufriedenheit – es geht eben nicht nur darum, wie man einen Witz erzählt, sondern auch darum, wer ihn wem erzählt.) Dieses Thema ist auch nicht spezifisch jüdisch, es war im amerikanischen Humor schon lange verbreitet, ehe er jüdische Züge in sich aufnahm. Es gab die komische Figur des Yankee-Hausierers, des schlauen Städters, der stets irgendwelche Bauerndeppen oder andere Leute mit gering entwickeltem Geschäftssinn übertölpelte. Hier haben wir eine Geschichte dieses Typus, die noch aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt: Ein Yankee-Kapitän sitzt in einem Londoner Wirtshaus und trinkt. Ein paar Einheimische fordern ihn vergeblich zu einem Kartenspiel auf. Er bleibt fest, und sie gehen. Der Wirt sagt, er müsse nun für alle die Zeche zahlen, da dies in London so Brauch ist, wenn jemand die Einladung zu einem Kartenspiel ablehnt. Der Yankee schneidet ein betrübtes Gesicht, zieht ein paar Silbermünzen hervor und bestellt noch eine weitere Flasche. Als der Wirt sie holen geht, schreibt der Yankee rasch seinen Namen an den Kaminsims und darunter den Satz: „I leave you a Yankee handle for your London blades“, rennt durch die Tür und ist fort.2 Hier haben wir ein witziges Wortspiel („handle“ bedeutet „Griff“ und „Name“; „blade“ bedeutet „Klinge“ und „‘scharfer’ Bursche“), eine gewisse intellektuelle
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Pointierung. Doch ist das kaum mit der Schärfe jüdischer Witze zum selben Thema zu vergleichen. Man mag sich hier an den Witz aus dem letzten Kapitel erinnern – von dem Mann, der Selbstmord begeht, damit sein Partner die Versicherungssumme kassieren kann, und dessen letzten Worte im Sturz am Bürofenster vorbei der Hinweis sind, daß Velours runter muß. Oder nehmen wir den folgenden Witz: Zwei Partner im Textilgeschäft stehen vor einer Krise. Sie haben einen großen Posten MadrasBaumwollhemden auf Lager und finden keinen Interessenten. Da taucht wunderbarerweise ein auswärtiger Einkäufer auf und bestellt tausend Stück. Nur eines wäre da noch: Er muß sich den Auftrag von der Zentrale bestätigen lassen. Wenn er aber bis Ende der Woche kein Telegramm schickt und die Bestellung storniert, dann ist sie endgültig. Die Partner sind höchst nervös. Die Tage vergehen. Am Freitag kommt kurz vor Büroschluß der Telegrammbote. Die beiden erbleichen. Der eine überwindet sich, reißt den Umschlag auf und ruft: „Abe! Wunderbar! Deine Schwester ist tot!“3
Läßt sich dieser durchaus eigentümliche komische Stil irgendwie erklären? Eine erschöpfende Erklärung mag unmöglich bleiben, aber einige Hinweise sind möglich. Zwei lassen sich mit großer Gewißheit geben – auf die historischen Faktoren jüdischer Randgruppenexistenz und jüdischer Intellektualität. Mit größerer Vorsicht kann man auf gewisse Züge des Judentums als religiöser Tradition verweisen. In der westlichen Zivilisation waren die Juden jahrhundertelang eine marginale Gruppe. Dies führte per se sehr wahrscheinlich zu einer gewissen scharfsichtigen Perspektive auf die Gesellschaft. Mit der Emanzipation hörte die Marginalität nicht ganz auf, sie nahm aber stärker nuancierte Formen an. Auf eigenartige Weise standen die Juden sowohl innerhalb wie außerhalb der europäischen Gesellschaften, die ihnen das Bürgerrecht zugebilligt hatten. Man darf vermuten, daß es genau diese Ambivalenz des Zugehörigen und Außenseiters ist, die zu einem desillusionierten, skeptischen Blick auf die Gesellschaft führt. Der berühmte amerikanische Soziologe Thorstein Veblen hat damit den seit ihrer Emanzipation außerordentlich großen Beitrag der Juden zur westlichen Intellektualität erklärt.4 Er charakterisiert den jüdischen Intellektuellen als „einen notgedrungen skeptischen Menschen“. In der Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts aber wird diese Einsicht am präzisesten in zwei Aufsätzen dargelegt, die zwar jeweils einen Juden zum Verfasser haben, sich jedoch nicht direkt mit der Lage der Juden befassen. Es sind die Aufsätze zur gesellschaftlichen Rolle des Fremden von Georg Simmel und Alfred Schütz.5 Simmel erwähnt in der Tat das „klassische Beispiel“ der Geschichte der Juden in Europa, aber sein Ziel war es, den gesellschaftlichen Typus des Fremden allgemein und transkulturell zu definieren. Der Fremde verkörpert eine spezifische Einheit von Nähe und Ferne, und dieser Zustand führt zu einer speziellen Haltung der distanzierten Objektivität. So
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sieht der Fremde vieles, was der Einheimische als gegeben voraussetzt und deshalb gar nicht oder sehr viel blasser wahrnimmt. Schütz schrieb seinen Aufsatz als Nachtrag zu Simmels Text. Er betont vor allem, daß die Welt, die der Fremde jeweils als selbstverständlich voraussetzen kann, sehr viel prekärer ist als die des Einheimischen. Auch er hebt auf die Objektivität ab, die sich dadurch ergibt, daß man als Außenseiter die Spielregeln der Gruppe erst lernen muß. Dazu kommt aber,wie Schütz es bewegend formuliert, „seine bittere Erfahrung mit den Grenzen des ‘gewohnten Denkens’, die ihn gelehrt hat, daß sein Status, seine Verhaltensregeln, selbst seine Geschichte und seine normale Existenz stets sehr viel unsicherer sind, als es den Anschein hat.“6 Die Pilgerschaft der Juden durch die Geschichte des Westens als halbe Außenseiter, halbe Zugehörige erklärt großenteils ihre Stellung „herausragender Intellektualität“ in der Moderne, um Veblen zu zitieren. Sie erklärt auch den spezifischen Charakter der modernen jüdischen Komik, von ihrer Blüte im Jiddischen bis zu ihrem erstaunlichen Wiederaufleben in Amerika.Wie oben dargelegt, dringt das Komische in die vorausgesetzten Normalitäten des sozialen Lebens ein und subvertiert sie. Es zeigt ihre Widersprüche und ihre Verletzbarkeit auf. Das ist eine Perspektive, die dem Fremden näher liegt. Es ist eine sehr beunruhigende, in der Tat gefährliche Perspektive. Das ist zumindest ein Grund dafür, weshalb das moderne jüdische Bewußtsein eines ewiger Beunruhigung ist. Der jüdische Satz, es sei „schwer zu sejn a jid“, findet selbst in den erlesensten Produkten des modernen jüdischen Geistes seine Bestätigung. Unglücklicherweise hat eben diese skeptische, implizit gefährliche Gesellschaftsperspektive auch die antisemitische Mentalität genährt. Jedenfalls trifft man hier wieder die „Dopplung“ des Blicks, die Bernhard Greiner als Wesen der Komödie bezeichnet hat. Die Juden mußten in dieser ambivalenten Situation überleben, und viel jüdischer Witz dient dieser Überlebenskunst. Das hat eine speziell jüdische Version des „Galgenhumors“ oder „schwarzen Humors“ hervorgebracht. Die folgenden Witze mögen das illustrieren: Drei Juden haben sich ahnungslos dem Harem des Sultans allzuweit genähert und verbotenerweise die wunderschönen, leichtbekleideten Bewohnerinnen in den Gärten erblickt. Sie werden gefangen und vor den Sultan gebracht. Er fordert die drei auf, sich eine Frucht aus seinen Gärten auszusuchen. Verwundert holt sich der erste eine Banane, der zweite Weintrauben… Da befiehlt der Sultan, ihnen diese Früchte zur Strafe in den Hintern zu stecken. Die Sklaven gehen ans Werk, doch der erste Jude lacht schallend. „Was gibt’s denn da zu lachen?“ fragt der zweite verzweifelt. „Schau nur!“ ruft der erste. „Da kommt Moische mit seiner Melone!“7 Unter irgendeiner tyrannischen Regierung stehen drei Juden vor dem Hinrichtungskommando. Der Offizier bietet ihnen eine letzte Zigarette an. Die beiden ersten nehmen sich eine, der dritte lehnt ab. Der zweite dreht sich zu ihm und sagt: „Moische, forder nix heraus!“
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Der folgende noch nicht sehr alte amerikanische Witz hat keinen ausdrücklich jüdischen Bezug. Doch kann man, glaube ich, in ihm eine typisch jüdische Würze entdecken – genau den „Tonfall“, von dem vorher die Rede war: Ein Arzt sagt zu seinem Patienten: „Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte Nachricht. Was wollen Sie zuerst hören?“ „Bitte sagen Sie mir zuerst die schlechte.“ „Also, die schlechte Nachricht lautet: Das Röntgenbild zeigt bei Ihnen deutlich einen Tumor.“ „Und was ist die gute Nachricht?“ „Die Röntgenassistentin hat mich endlich rangelassen.“
Selbst wenn die marginale gesellschaftliche Position zu den Ursachen für die Herausbildung des speziellen jüdischen Humors zählt, kann sie nicht der einzige Faktor sein. Es hat andere Randgruppen gegeben, in Europa und anderswo, die nichts auch nur im Entferntesten Vergleichbares hervorgebracht haben – die Sinti und Roma beispielsweise. Ein weiterer wesentlicher Faktor war fast mit Sicherheit die typische intellektuelle Tradition des Judentums, insbesondere in der Form, in der sie sich in der talmudischen Epoche entwickelt hat. Diese Tradition wurzelt natürlich im eigentlichen Wesen des rabbinischen Judentums und in der zentralen Bedeutung des Gesetzes. Andere religiöse Traditionen haben wohl auch dem Gesetz große Bedeutung zugeschrieben – der Katholizismus mit der Entwicklung der scholastischen Kasuistik, der Islam mit seinen verschiedenen Rechtsschulen, welche die Scharia interpretieren. Doch ist es wohl nicht falsch, wenn man sagt, daß das Judentum unter den Weltreligionen einzig dasteht, was die überragende Bedeutung betrifft, welche es dem Gesetzesdenken zumißt, den endlosen intellektuellen Anstrengungen, die Forderungen der Halacha zu begreifen und zu differenzieren. Christliche Autoren haben dies oft als einen trockenen, dürren Legalismus mißverstanden und die religiöse Leidenschaft überhört, die in all diesen Disputen mitschwingt – eine Leidenschaft, die der hingebungsvollen Entschlossenheit entspringt, den Willen Gottes in sämtlichen Bereichen menschlicher Existenz zu erkennen und zu befolgen. Trotzdem bleibt natürlich das rabbinische Judentum vor allem anderen eine Religion des Gesetzes, eines Gesetzes, das fortwährend studiert, disputiert und auf neue Situationen angewandt werden muß. Keine andere religiöse Tradition hat ihren Ort des Gottesdienstes je als schul bezeichnet, oder hat Studium und Gelehrsamkeit als die wesentliche Form par excellence der religiösen Berufung gesehen. Eine Anekdote erzählt von einem berühmten Rabbi, der von seinen Schülern gefragt wird, womit sich Gott in der Ewigkeit beschäftigt. „Er studiert“, antwortet der Rabbi. Diese Antwort war, so darf man annehmen, nur halb scherzhaft. Beim Talmudstudium hat sich eine bestimmte intellektuelle Methode herausgebildet, die des pilpul, einer Form dialektischer Argumentation. Lehrer und
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Schüler begegnen sich in einer Interaktion ständigen Fragens und Antwortens, sie definieren ein Gesetzesproblem auf verschiedene Weisen, zitieren Autoritäten der Vergangenheit, versuchen zu Lösungen zu kommen, die neuen Situationen gerecht werden. Es kann kaum ein Zweifel bestehen, daß dieser einzigartige Erkenntnisstil (um noch einen Schützschen Begriff zu verwenden) in den Zeitraum hineinreicht, da der jüdische Geist sich mit weltlichen Problemen zu befassen begann. Es ist ein Stil, der sehr feine Unterscheidungen trifft, der die Dinge zusammenfügt und wieder auseinandernimmt – ein Erkenntnisstil, der, wie sich herausstellen sollte, den Erfordernissen der Modernität hervorragend angepaßt war.8 Der selbe Erkenntnisstil läßt sich im jüdischen Witz beobachten. Die Frage, ob gewisse Talmudabschnitte absichtlich komisch waren, muß den Spezialisten überlassen werden. Doch ist es schwierig, sich des Eindrucks zu erwehren, daß die alten Rabbis in sich hineinlachten, wenn sie das debattierten, was in jüngerer Vergangenheit ein Autor „seltsame und bizarre Fragen“ genannt hat – das Problem zum Beispiel, ob eine bestimmte Anzahl von Brosamen, die eine Maus oder Ratte in ein für den Sabbat gereinigtes Haus hineinschleppt, die rituelle Reinigung ungültig macht, oder die Frage, ob ein Golem, ein magisch erschaffenes künstliches Wesen, das Recht hat, am gemeinsamen Gebet teilzunehmen.9 Wie dem auch sei – man darf annehmen, daß der mit jener Methodologie geschliffene Intellekt bereit war für den jüdischen Humor. Die Gewohnheiten des pilpul lassen sich noch in den modernen jüdischen Witzen erkennen. Der folgende ist ein ideales Exempel: Ein Jude sitzt in der alten Heimat in einem Eisenbahnabteil. Ein sehr viel jüngerer Mann, offensichtlich ebenfalls ein Jude, steigt ein und setzt sich mit flüchtigem Gruß ihm gegenüber. Als der Zug sich in Bewegung setzt, sagt der Jüngere: „Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie spät es ist?“ Der alte Mann gibt keine Antwort. „Verzeihung! Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?“ Der Alte sieht aus dem Fenster. Der junge Mann wird ärgerlich: „Hören Sie mal, ich habe Sie höflich um etwas gebeten. Warum antworten Sie denn nicht?“ Der alte Mann sagt: „Also gut. Ich werde Ihnen antworten.Wenn ich Ihnen sag,wie spät es ist, fangen wir auch eine Unterhaltung an. Sie werden dies und das über mich herausfinden: daß ich Rabbi in der Stadt Soundso bin, daß ich zwei Töchter habe, daß die eine davon noch nicht verheiratet ist. Sie werden die Photos von meiner Familie sehen wollen. Sie werden entdecken, daß meine unverheiratete Tochter wunderschön ist. Sie werden uns besuchen. Sie werden sich in meine Tochter verlieben. Sie werden sie heiraten…“ „Nun, wär das am Ende so schlimm? Ich bin ein anständiger Mann, ich bin ein Jud…“ „Vielleicht“, sagt der ältere Mann. „Aber ich will keinen Schwiegersohn, der sich keine Uhr leisten kann.“10
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Schließlich gibt es noch einen weiteren Zug des Judentums, der dazu beigetragen haben könnte, die komische Kultur der Juden zu formen – eine dem Jüdischen eigene Auffassung der Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Mehr als die Angehörigen irgendeines anderen religiösen Glaubens haben die Juden sich mit Gott gestritten. Hinweise hierauf finden sich schon im Alten Testament: Jakob ringt mit dem Engel, Hiob hadert mit Gott. In späteren jüdischen Texten findet sich noch viel mehr dergleichen, im chassidischen Schrifttum beispielsweise. Es wäre eine Fehlinterpretation, hierin fehlende Ehrfurcht zu erblicken. Tatsächlich muß man darin die zutiefst gläubige Überzeugung von Gottes moralischer Vollkommenheit sehen: Wenn Gott moralisch vollkommen ist, kann er dem Menschen nicht in seiner Zugänglichkeit für moralische Argumentationsweisen unterlegen sein. Wie dem auch sei – diese eigenartige Nähe des jüdischen Gottes steigert die kasuistischen Neigungen des Talmuds ins Kosmische. Das gesamte Universum wird sozusagen Gegenstand von Streitgesprächen. Das scheint eine fast surreale Weltsicht zu ergeben; man sieht die Welt erfüllt von immensen Widersprüchen, die bis an Gottes Thron reichen – eine Vision, die der komischen Perspektive sehr nahe ist. Ein letzter jüdischer Witz mag gestattet sein, um dieses (zugegebenermaßen bestreitbare) Argument zu bekräftigen: Drei Chassidim prahlen mit der Größe ihres jeweiligen Rabbis. Der erste sagt: „Mein Rabbi ist so fromm, daß er unablässig an Gott denkt, und deshalb zittert er die ganze Zeit.“ Der zweite sagt: „Mein Rabbi ist so fromm, daß Gott die ganze Zeit an ihn denkt, und deshalb zittert Gott die ganze Zeit.“ Der dritte Chassid sagt: „Mein Rabbi kennt das alles beides gut. Und so hat er letzte Woche zu Gott gesagt: Ist das denn wirklich notwendig, daß wir zwei die ganze Zeit zittern?“11
Teil II: Ausdrucksformen des Komischen
7 Komik als Ablenkung: Gutmütiger Humor Bis jetzt hat dieses Buch versucht, eine Anatomie des Komischen mit Hilfe verschiedener Perspektiven zu umreißen – Philosophie, Psychologie und Sozialwissenschaften. Natürlich konnte dieser Versuch nur zum Teil gelingen. Man (das heißt: der nervöse Autor wie der skeptische Leser) sollte sich immer wieder an Bergsons Beschreibung des Lachens erinnern: Schaum, der sich auflöst, wenn man ihn festzuhalten versucht. Wie ich zu Beginn meines Unternehmens – das ja zugegebenermaßen eine Donquichotterie darstellt – gesagt habe: Man kann nichts besseres versuchen, als lange genug um das Phänomen herumzugehen und zu hoffen, es so am Ende klarer in den Blick zu bekommen. Und mehr kann dieses Buch auch weiterhin nicht tun. Sein größter restlicher Teil wird sich mit verschiedenen Erscheinungsformen des Komischen befassen, die meist literarischen Charakter haben. Hier gibt es ein besonderes Problem. Das einschlägige Material ist von überwältigender Fülle. Die Literatur jeder menschlichen Kultur enthält große Ansammlungen komischer Texte. Das Unternehmen, auch nur einen ganz kursorischen Überblick über all dies zu geben, ließe den schamlosesten Megalomanen erblassen – es müßte zur Einrichtng einer großen Zahl wissenschaftlicher Ausschüsse führen, deren Arbeitsvolumen auf Jahrzehnte aufzuteilen wäre. Alles, was ein einsamer Autor ohne Größenwahn tun kann, ist der Blick auf ein paar „klare Fälle“ (ein Ausdruck, den Max Weber in die Sprache der Soziologie eingebracht hat) – das heißt Fälle, an denen man jene verschiedenen Manifestationen des Phänomens Komik in scharfem Umriß erkennen kann.1 „Gutmütiger“ Humor (benign humor), wie ich das Phänomen nennen möchte, mit dem dieses Kapitel es zu tun hat, ist am einfachsten ex negativo zu definieren. Im Gegensatz zum Esprit, zum prononcierten Witz, stellt er keine großen intellektuellen Ansprüche. Im Gegensatz zu Ironie und Satire greift er nichts an. Im Gegensatz zu den extravaganten Schöpfungen der Narrheit errichtet er keine Gegenwelt. Er ist harmlos; unschuldig sogar. Er dient dazu,Vergnügen zu machen, Entspannung zu verschaffen, gute Laune und eben Gutmütigkeit zu verbreiten. Er übergoldet eher das dahinfließende Alltagsleben, als daß er es unterbräche. Er bildet sozusagen den fernsten Ausläufer der dionysischen Ekstasen, in denen die Erfahrung des Komischen ursprünglich wurzelte. Man könnte vielleicht sagen, daß jene dunklere Seite immer da ist, unter der Oberfläche der harmlosesten Witze, aber sie ist hier fast ganz verborgen, sie ist, wenn überhaupt, gegenwärtig nur als leiseste Ahnung. In dieser Verkörperung also funktioniert das Komische als sanfte und ganz und gar gesunde Ablenkung. In dieser Form ist „Lachen die beste Medizin“, wie es im Reader’s Digest heißt.
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Gutmütiger Humor ist die häufigste Ausdrucksform des Komischen im Alltag. Er bietet das behagliche Vergnügen, mit dem man leichter durch den Alltag kommt und dessen kleinen Irritationen besser standhält. Er ist gemeint, wenn man manchen Leuten vorwirft, sie hätten keinen Sinn für Humor – ein Charakterdefekt (vielleicht sogar ein moralischer Mangel), der es ihnen erschwert, sich durchs Leben zu bringen, und sie schwieriger für die Mitmenschen macht. Nehmen wir an, daß es in einer Arbeitssituation zu einer Abfolge kleinerer Mißgeschicke kommt. Der Chef ist gerade mit allen Anzeichen schlechter Laune ins Büro gekommen, das Computersystem ist abgestürzt, die Kaffeemaschine ist auch defekt, und nun stellt sich noch heraus, daß die Putzkolonne in der Nacht einen Stapel wichtiger Papiere, die der Chef durchsehen sollte, weggeworfen hat. Die bloße Häufung dieser Mißgeschicke wird bei denen, die den sogenannten Sinn für Humor besitzen, zu Gelächter führen und es ihnen insofern erleichtern, die Schwierigkeiten zu meistern, während jene, denen es an diesem Sinn mangelt, frustriert vor sich hin kochen. Lachen – könnte der Reader’s Digest fortfahren – ist auch die beste Managementstrategie. (Es sei en passant vermerkt, daß eben diese Behauptung schon häufig – und oft höchst humorlos – von Managementexperten aufgestellt worden ist.) Gutmütiger Humor zeigt sich in solchen Fällen als momentane Unterbrechung der nüchternen Lebenstätigkeiten. Er ist eine spontane Reaktion auf die Widersprüchlichkeiten einer Alltagssituation. Diese Komik wird von niemandem geplant oder inszeniert. Es kann nun auch ganz kleine Episoden geben, die, geplant oder zufällig, eine solche Reaktion auslösen. Nehmen wir eine häufig zu beobachtende Episode aus dem Familienleben: Ein kleines Mädchen zieht sich die Kleider der Mutter an. Sie steigt in ein Kleid oder legt eine Bluse an, die ihr viel zu groß sind, so daß sie buchstäblich darin verschwindet. Sie klettert in ein paar Stöckelschuhe und setzt vielleicht einen Hut auf, der ihr auf die Nase herabrutscht. So stolpert sie durchs Zimmer und parodiert dabei souverän ihre Mutter. Ob sie diese Nummer nun vorher geprobt hat oder ob es zum erstenmal geschieht – man darf voraussetzen, daß die Familie (die parodierte Mutter eingeschlossen) die ganze Episode höchst amüsant finden wird. Doch selbst ein Außenseiter, der unfreiwillig Zeuge dieser kleinen Komödie wird, mag sie sehr komisch finden und entsprechend reagieren. Das kleine Mädchen wird wahrscheinlich ihren Auftritt unter einhelligem Gelächter und Beifall beenden (was, darf man weiter schließen, sie dazu ermuntern wird, ihn ständig zu wiederholen, und sie vielleicht sogar davon überzeugt – eine Idee, an der sie bis ins Erwachsenenalter festhalten kann –, sie sei die geborene Schauspielerin). Im Gegensatz zu anderen Formen des Komischen muß diese Art Humor nicht bewußt geschaffen oder explizit formuliert werden. Sie kann „einfach so“ auftreten. Auch kann man sie alleine genießen, mit einem leisen Lachen, das nie-
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mand sonst hört. Im Gegensatz dazu sind Witz oder Satire immer bewußte Hervorbringungen, und ihre Produktion hängt von einer sozialen Situation ab, in welcher der Produzent ein Publikum hat. Doch kann offensichtlich auch der gutmütige Humor bewußt produziert oder inszeniert werden, sei es von Amateuren wie dem erwähnten Mädchen oder von Leuten, die dies professionell tun. Erst wenn der gutmütige Humor bewußt produziert wird, kann er einen „geschlossenen Sinnbereich“ schaffen, wenn auch einen ganz spezieller Art. Er ist dem Alltagsleben sehr nahe, wenn er aus ihm auch alles entfernt, was schmerzhaft oder bedrohlich ist. Er ruft eine flüchtige Welt leichter, glücklicher Stimmung hervor. Seine Wirkung ist die eines kurzen, erfrischenden Urlaubs von der Ernsthaftigkeit der Existenz. Fast jedes Medium der Kreativität kann derartiges schaffen. Die Weltliteratur steckt voller Beispiele, und sogar Shakespeare, der uns in anderen Werken in jeden erdenklichen Abgrund menschlicher Qual blicken läßt, hat Komödien geschrieben, aus denen aller Schmerz, alle Sorge verbannt sind. Der Amerikaner unserer Tage, der diese Form von Humor sucht, mag sie in den Limericks von Edward Lear oder den Versen von Ogden Nash finden, in den Kabarettnummern von Bob Hope (der mit seinen heroischen neunzig Jahren immer noch auftritt), in einem alten Marx-Brothers-Film oder in den Bildern von Norman Rockwell. Das eine oder andere Produkt des gutmütigen Humors mag natürlich von manchen als süßlich, als kokett, als allzu simpel abgelehnt werden oder mag einfach eine Form von Komik darstellen, die als zu fremd empfunden wird, als daß man sie genießen könnte. Wie dem auch sei – niemand, wie intellektuell anspruchsvoll oder ethnozentrisch orientiert auch immer, wird sich je über einen Mangel an Quellen gutmütigen Humors beklagen müssen, sollte dieser gebraucht werden. Im folgenden werden wir drei „klare Fälle“ betrachten. Sie sind voneinander ganz verschieden, sie entstammen verschiedenen Ländern und verschiedenen Medien, wenn auch ihre drei Schöpfer Zeitgenossen waren – der englische Erzähler P. G. Wodehouse, der amerikanische Komiker Will Rogers und Franz Léhar, im zwanzigsten Jahrhundert der Meister der Wiener Operette. P. G. (Pelham Grenville – kein Witz) Wodehouse (1881– 1975) dürfte einer der produktivsten Autoren der Literaturgeschichte gewesen sein.2 Je nachdem, wie man Anthologien einstuft, hat er etwas mehr oder etwas weniger als hundert Bücher zu Lebzeiten veröffentlicht. Zum neunzigsten Geburtstag machte er sich das Geschenk, einen weiteren Roman zu beenden. Und er schrieb sein ganzes Leben lang, mehr oder weniger die ganze Zeit. Er stammte aus einer Familie von Kolonialbeamten (durchaus nicht aus der Aristokratie oder dem saturierten Großbürgertum, von denen er in so vielen Büchern schrieb) und wandte sich früh dem Schreiben zu; der immense Erfolg seiner Romane verschaffte ihm ein komfortables Einkommen. Trotz des prononciert englischen Ambientes seiner meisten
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Texte hatte Wodehouse schon früh eine treue amerikanische Lesergemeinde, und er verbrachte einen großen Teil seines Lebens in den USA, wo er bei der Entwicklung des Broadway-Musicals eine nicht unwichtige Rolle spielte und eine Zeitlang Drehbücher für Hollywood schrieb. Er war glücklich verheiratet, lebte in stabilen Verhältnissen und arbeitete hart und penibel in seinem Handwerk als Schriftsteller. Allen Zeugnissen zufolge war er ein liebenswürdiger, freundlicher und angenehmer Mensch. Tatsächlich findet sich in seiner Biographie nur eine einzige peinliche Episode, die erwähnenswert ist, weil sie eine Unschuldigkeit ahnen läßt, die direkt aus einem Wodehouse-Roman stammen könnte.3 Er war mit seiner Frau 1940 in Frankreich und wurde von der deutschen Invasion überrascht. Als Angehöriger einer feindlichen Nation wurde er interniert; man behandelte ihn gut, und er konnte während dieser Zeit viel schreiben. Als ihn ein amerikanischer Journalist besuchte (die USA waren noch nicht in den Krieg eingetreten), erklärte er sich bereit, in einigen Radioauftritten seinen amerikanischen Lesern die eine oder andere komische Geschichte aus der Internierung zu erzählen. Der Gedanke, daß die Deutschen, die ihn ihre Sendeanlage benutzen ließen, dies als Propagandacoup buchen könnten, kam ihm nicht. Diese Sendungen lösten in England natürlich große Empörung aus, und nach der Befreiung Frankreichs wurde Wodehouse festgenommen und blieb auch eine gewisse Zeit in Haft, während man eine Untersuchung wegen Verratsverdachtes führte. Er hatte insofern Glück, als der erste britische Offizier, der ihn verhörte, kein anderer war als der Literat Malcolm Muggeridge, der von Wodehouse ganz bezaubert war und ihn in seinem Bericht von allen Vorwürfen außer dem der politischen Dummheit entlastete.4 Obwohl sie nur einen Teil des Wodehouseschen Œuvres darstellen, sind seine berühmtesten und langfristig erfolgreichsten Romane diejenigen, die von den Abenteuern Bertie Woosters handeln, eines liebenswert beschränkten jungen Dandys, und von seinem allwissenden „gentleman’s gentleman“ (ein Begriff wie „manservant“, „Diener“ oder dergleichen wäre irgendwie unter seiner Würde) Jeeves. Man darf sagen, daß die beiden Figuren mittlerweile fast mythischen Status haben. Zwei Geschichten müssen hier ausreichen, um die inspirierte Torheit zu skizzieren, die Bertie und Jeeves umgibt. Die erste hat den Titel „Jeeves in the Springtime“.5 Bertie spürt den Lenz, und es ergibt sich folgender Dialog mit Jeeves: „Es ist Lenz, Jeeves, da hell der Taube funkelndes Gefieder gleißt.“ „Genau so ist es, Sir.“ „Alles klar! Dann bringen Sie mir meinen Dingus, meine gelbsten Schuhe und den alten grünen Homburg. Ich gehe in den Park und lege dort ein bukolisches Tänzchen hin.“ „Sehr wohl, Sir.“
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Das funkelnde Gefieder der Taube (eine der vielen konfusen Lesebuch-Erinnerungen Berties, hier an Tennysons „Locksley Hall“), der „Dingus“ – Berties Spazierstock – und so weiter: Alles summiert sich zu törichtem Charme. Die kleine Szene ist typisch für das Verhältnis der beiden Charaktere – Bertie rennt energischbewußtlos los, Jeeves steht mit ironischer Distanz dabei und hält sich bereit, seinen Herrn aus den Verwicklungen zu erlösen, in die er unweigerlich geraten wird. Die Interaktion folgt einer mehr oder weniger festen Formel. Das Erstaunliche ist Wodehouses Genialität: die Formel wirkt stets frisch. So erlebt Bertie den Frühling: „Ein irgendwie gehobenes Gefühl. Romantisch, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Doch damit niemand auf den Gedanken kommt, es stehe ein Ausbruch lenzlicher Erotik bevor, fügt er hinzu: „Ich bin ja nun nicht der größte Freund der Damenwelt, doch an diesem speziellen Morgen schien es mir, als bräuchte ich zu meinem Glück nur noch so etwas wie ein reizendes Mädchen, das auf mich zueilt und sagt, ich soll es doch bitte vor irgendwelchen Würgern retten oder dergleichen.“ Auch das ist sehr typisch für Berties Beziehung zum anderen Geschlecht. Wenn es sich nicht darum handelt, den Nachstellungen grimmiger Tanten oder heiratslustiger energischer Mädchen zu entgehen, folgen Berties Vorstellungen von Romantik vorpubertären Klischees. Jeeves scheint in der Tat gelegentlich die eine oder andere Liaison zu pflegen, gewöhnlich mit weiblichen Bediensteten des Bekanntenkreises von Bertie, aber keinerlei erotische Einzelheiten werden berichtet oder auch nur angedeutet. Das ist nicht unwichtig: Wodehouses Welt ist auffallend frei von jeder Form von Sexualität, sie ist auf buchstäbliche Weise unschuldig.6 Was sich im Park begibt, stellt „schon ein bißchen sowas wie ein Nachlassen des Spannungsbogens“ dar. Bertie begegnet seinem Freund Bingo Little, einem jungen Herrn von vergleichbarer intellektueller Statur. Bingo schleppt ihn in ein einigermaßen schäbiges Restaurant und stellt ihn der dort beschäftigten Kellnerin Mabel vor, dem „wunderbarsten Mädel, das du je gesehen hast“. Bingo ist in Mabel verliebt und will sie heiraten. Das Problem ist sein Onkel, der alte Mortimer Little, von dem er finanziell abhängig ist und der ihm vielleicht kein Geld mehr gibt, wenn es zu einer derartigen Mésalliance käme. (Diese finanzielle Lage ist wiederum typisch für Berties Freunde. Bertie selbst besitzt zwar ein nebulöses Privatvermögen, doch diese jungen Männer haben weder Arbeit noch Geld, bekommen es aber fertig, einen opulenten Lebensstil mit Hilfe irgendwelcher unklarer und prekärer Unterstützungen durch andere zu finanzieren. Man fühlt sich hier daran erinnert, wie jemand die Figuren in den Romanen Dostojewskijs einmal beschrieben hat: arbeitslos, und auch nicht vermittelbar. Doch fühlt sich keine Figur in der Welt von Bertie und Jeeves durch die ökonomische Lage je stärker irritiert, als daß es zu mürrischen Jeremiaden käme, und gewiß verspürt keine im entferntesten irgendwelche dostojewskijschen Leidenschaften.)
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Die Geschichte entwickelt sich in einer Reihe von Vorfällen, die nirgendwo außerhalb eines Romans von Wodehouse je plausibel wären. Bingo bittet Bertie, Jeeves um Rat zu fragen (der „sozusagen das Gehirn der Familie ist“). Jeeves, so stellt sich heraus, ist als Berater in diesem Fall in einer idealen Position, da ihn „eine Beziehung von einer gewissen Intimität“ – praktisch ein Verlöbnis – mit der Köchin des alten Mortimer, einer Miss Watson, verbindet. So weiß er, daß der schreckliche Onkel gerade eine schmerzhafte Gichtattacke durchmacht und sich zur Ablenkung gerne im Bett von seinem Bedienten vorlesen läßt; und Jeeves schlägt vor, daß Bingo diese Aufgabe übernehmen und dabei aus den Werken einer gewissen Rosie M. Banks lesen soll, einer Verfasserin von Romanen, in denen es stets um die noble romantische Liebe zu Mädchen aus niederem Stande geht. Nicht lange, und Bertie wird zum Abendessen bei Mortimer eingeladen. Er entdeckt zu seinem Entsetzen, daß Bingo seinem Onkel erzählt hat, sein Freund Bertie sei der wahre Autor der pseudonymen Banks-Romane. Als Bertie nun zögernd auf Bingos klassenübergreifende Heiratspläne zu sprechen kommt, ist Mortimer voll und ganz einverstanden. Tatsächlich ist er, inspiriert von den leidenschaftlichen Banks-Romanzen, gerade dabei, eine Ehe mit Miss Watson einzugehen (eine Heirat, die allerdings weitere Zuwendungen an den Neffen unmöglich machen wird). Als Bertie dies Jeeves erzählt, bleibt der ungerührt. Er war schon vor einiger Zeit zu dem Schluß gekommen, daß Miss Watson doch nicht das Richtige war, und es gibt mittlerweile ein anderes „Einverständnis“ – mit Mabel, der Kellnerin, die Bingo so faszinierte. Wieder erweist sich Jeeves als Mini-Machiavelli in der Mini-Welt von Bertie Wooster. Die zweite Geschichte – mehr oder weniger zufällig ausgewählt, man könnte auch fast jede andere heranziehen – heißt „Without the Option“.7 Der Titel bezieht sich auf ein Gerichtsurteil, bei dem eine Haftstrafe „without the option of a fine“, ohne die Alternative der Zahlung einer Geldstrafe, verhängt wird. Bertie und sein Freund Sippy (Oliver Randolph Sipperly) sind verhaftet worden. Sie hatten in der Nacht nach der traditionellen Oxford-Cambridge-Ruderregatta gefeiert und beschwipst die Stadt unsicher gemacht. Sippy war deprimierter Stimmung gewesen, weil seine Tante Vera – in der Tat, so ist es, die Tante,von der er finanziell abhängig ist – ihn mit unangenehmen Anliegen belästigt hatte, und Bertie hatte hilfreich vorgeschlagen, er solle sich doch dadurch etwas aufheitern, daß er einem Polizisten den Helm vom Kopf zieht. Bertie kommt mit der Geldstrafe davon, aber Sippy, der eigentliche Angreifer, bekommt dreißig Tage „without the option“. Das wäre nicht allzu schlimm – doch hat Tante Vera ihm befohlen, er müsse Freunden von ihr einen Besuch abstatten, der Familie eines gewissen Professor Pringle in Cambridge. Wenn er dort nicht erscheint, wird sie von seinem beschämenden Zusammenstoß mit dem Gesetz erfahren, und (in der Tat) ihm möglicherweise sein Geld streichen. Wie üblich fragt man Jeeves um Rat. Er schlägt die einzig mögliche
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Lösung vor: Bertie muß als Sippy zu den Pringles nach Cambridge gehen, die den richtigen Sippy seit seiner Kindheit nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Bertie weigert sich, doch als er hört, daß seine eigene Tante Agatha angerufen hat, offensichtlich informiert über seinen Auftritt vor Gericht, will er nur so schnell wie möglich fort. Wie gewöhnlich hat Jeeves alles vorausgeplant: „Jeeves“, sagte ich, „nun ist es Zeit, zu handeln, nicht zu reden. Packen Sie – und packen Sie mit flinker Hand.“ „Ich habe bereits gepackt, Sir.“ „Stellen Sie fest, wann ein Zug nach Cambridge geht.“ „Es geht einer in vierzig Minuten, Sir.“ „Rufen Sie ein Taxi.“ „Ein Taxi wartet unten an der Tür, Sir.“ „Gut!“ sagte ich. „Dann geben Sie mir das Geleit.“
Die „Maison Pringle“ ist so furchterregend, wie Bertie es befürchtet hat. Professor Pringle ist „ein eher dünner, eher kahler, sehr verkniffener Mensch mit dem Blick eines Schellfischs“, und Mrs. Pringle macht den Eindruck einer Frau, „die zu Beginn des Jahrhunderts eine sehr schlechte Nachricht bekommen hat und darüber eigentlich nie richtig hinweggekommen ist“. Und dann gibt es noch „ein Paar von Kopf bis Fuß in Umschlagtücher eingewickelter alter Frauenspersonen“, Mutter und Tante des Professors. Letztere erinnert sich an Bertie/Sippy als an einen unartigen Jungen, der vor vielen Jahren ihre Katze geplagt hat. Doch das Schlimmste kommt noch: Heloise Pringle, die Tochter des Professors, tritt auf. Sie ähnelt verblüffend Honoria Glossop, mit der Bertie einmal drei katastrophale Wochen lang verlobt war, bis ihr furchterregender Vater, Sir Roderick Glossop („der Beklopptendoktor“), dem ein Ende setzte. Heloise spricht sogar wie Honoria. Kein Wunder, denn – Jeeves weiß es – die beiden sind Kusinen. Heloise wird auf Bertie aufmerksam und weiß sofort mit dem Blick „einer Tigerin, die sich für ihr Beutetier entschieden hat“, daß er einen attraktiven Heiratskandidaten abgibt. Bertie ist natürlich entsetzt. Diesmal weiß selbst Jeeves keine Lösung. Die Möglichkeit, daß Bertie die furchtgebietende Heloise einfach abweist, existiert weder für Bertie noch für Jeeves; das widerspräche dem tief viktorianischen „Code of the Woosters“. Doch Herr und Diener führen eine fast philosophische Unterhaltung über das Rätsel, weshalb Bertie immer wieder junge Frauen anzieht, die so gescheit sind wie Honoria und Heloise: „Jeeves, es ist eine allgemein bekannte wissenschaftliche Tatsache, daß es eine spezielle Sorte Weib gibt, die sich ganz eigenartig angezogen fühlt von der Art Mann, wie ich’s bin.“ „Sehr wahr, Sir.“ „Ich meine, ich weiß genau, daß ich grob geschätzt nur etwa die Hälfte von dem Hirn habe, das ein normales Individuum eigentlich mitbringen müßte. Und wenn ein Mädchen daher-
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kommt, das etwa das Doppelte der normalen Dosis hat, setzt sie leider nur allzuoft sofort mit leuchtendem Blick zum Sprung an. Ich weiß nicht, wie ich mir das erklären soll, aber so ist es.“ „Dies könnte die Methode der Natur sein, Sir, für Ausgleich innerhalb der Spezies zu sorgen.“
Bertie versucht verzweifelt, der schrecklichen Miss Pringle aus dem Weg zu gehen, bleibt meistens auf seinem Zimmer und verläßt es nur über die Regenröhre (was die alte Tante Pringle in ihrer Meinung bestätigt, daß er ein verrückter Krimineller ist). Die Situation platzt durch das Erscheinen von keinem anderen als Sir Roderick, der zum Abendessen eingeladen ist. Er erkennt Bertie natürlich, und als er erfährt, daß dieser sich als Sippy eingeschlichen hat, pflichtet er der Tantendiagnose bei: Der Mann ist komplett verrückt. Bertie flieht in größter Konfusion und sucht (natürlich) Schutz bei Jeeves: „Die Hölle sendet ihre Boten aus, ich bin geliefert.“ Auf diesen cri de cœur kann Jeeves nur erwidern: „Mit dieser Kontingenz war immer zu rechnen, Sir, und nun ist die Möglichkeit leider Realität geworden.“ Nur eines bleibt übrig: Zu Sippys Tante Vera zu fahren und alles zu beichten. Bertie tut es. Zu seiner Überraschung ist Tante Vera rein entzückt, zu erfahren, daß ihr Neffe einen Polizisten mißhandelt hat. Jeeves weiß den Grund: Sie hatte in jüngster Zeit eine Reihe unliebsamer Zusammenstöße mit dem lokalen Schutzmann, der sie plötzlich mit Anzeigen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und wegen Halten eines Hundes ohne Halsband überzogen hat, und ist deshalb voller Zorn auf alle Polizisten. Woher weiß Jeeves das? Der Schutzmann ist sein Vetter. In seinem ganzen Werk hat sich Wodehouse stets in einer unmittelbar wiedererkennbaren, eigenen, von ihm erschaffenen Welt bewegt, die vollkommen irreal ist, wenn man sie mit dem zeitgenössischen England vergleicht, und von rundester Wirklichkeit für den Leser, der sich ihrer Illusion anvertraut. Es ist eine fortdauernde edwardianische Welt, die Wodehouse noch lange, nachdem das edwardianische England Geschichte geworden war, weiterleben ließ, ein fast mythisches England, das unter anderem auch allen Klischeevorstellungen der amerikanischen Leser entsprach. Es ist eine Welt sorgfältig geschilderter Individuen in großer Zahl – darunter dreiundfünfzig namentlich genannte Mitglieder von Berties Klub („The Drones“) und dreiundsechzig Butler. Ein geniales Stilgefühl steht hinter dieser – wenn man es paradox formulieren darf – profund trivialen Welt. Hilaire Belloc hat Wodehouse einmal den besten lebenden englischen Schriftsteller genannt, und Auberon Waugh nannte ihn den einflußreichsten Romancier seiner Zeit. Sein Biograph hat es so formuliert: „Wodehouse hat in seinem Leben eine unendliche Zahl amüsanter Bemerkungen gemacht, er hat eine Welt mit einer wimmelnden Bevölkerung komischer Figuren geschaffen. Der Traum, den er von jenem England träumte, das er dem wirklichen vorzog, ist ein
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vergnüglicher Traum, ein lebhaft vorgestellter, präzis konstruierter Traum, vor allem aber ist es ein gutmütiger Traum.“8 So ist Wodehouse ein ungewöhnlich klar ausgeprägter Fall des gutmütigen Humors. Er zeigt seinen Lesern eine Welt ohne Dunkel, ohne wirklichen Schmerz, ohne alle starken Leidenschaften. Man betritt sie wie einen verzauberten Kindergarten. Der Humor liegt natürlich in den Figuren und der Handlung, vor allem anderen aber im Stil (nicht so sehr in der Sprache der Dialoge wie in den beschreibenden Abschnitten). Niemand außer Wodehouse hätte beispielsweise schreiben können, daß bei einer Familienkrise „die Tanten einander die neusten Skandale mitteilen, wie Mastodone über urzeitliche Sümpfe röhren“, oder hätte eine peinliche Situation in dem Satz zusammenfassen können: „Eis bildete sich in den oberen Lagen des Butlers.“ David Cecil, ein anderer Bewunderer, faßte Wodehouses Werk so zusammen: „Wir beginnen seine Bücher in der Gewißheit, daß wir nichts finden werden, was uns erschauern macht, uns nachdenken läßt, uns zum Weinen bringt – nur etwas zu lachen. Ein Lachen, das ein Lachen reinen Glücksgefühls ist.“9 Oberflächlich betrachtet könnte es keine zwei Autoren geben, die verschiedener wären als Will Rogers und P. G.Wodehouse – auf der einen Seite ein typisch amerikanischer, heimeliger common-sense-Standpunkt, auf der anderen die penibel konstruierten, manierierten Understatements einer quasi aristokratischen Kultur im letzten Verfallsstadium. Bei näherem Hinsehen jedoch erkennt man verwandte Seelen durch alle Unterschiede von Nationalität, Klasse und Stil hindurch. Nicht nur waren beide enorm produktiv, sehr erfolgreich und mit ihrem Leben, alles in allem, glücklich und zufrieden (wenn auch das von Rogers im Alter von sechsundfünfzig Jahren durch einen Flugzeugabsturz beendet wurde). Wichtiger noch für unsere Erwägungen ist es, daß beide eine große Gutmütigkeit, eine unüberwindliche Unschuld sowohl in all ihren Texten zeigten wie anscheinend auch im persönlichen Umgang ausstrahlten. Will Rogers (1879 – 1935) wurde im heutigen Oklahoma geboren und war teilweise indianischer Herkunft (Cherokee), worauf er sehr stolz war – wie er den Zuhörern angelsächsischer Herkunft im Publikum zu sagen pflegte: Als Ihre Familien auf der Mayflower ankamen, war meine Familie schon da, um sie zu begrüßen.10 Er lernte auf der Ranch seines Vaters alle Fertigkeiten eines Cowboys und arbeitete in der Tat auch eine Zeitlang in diesem Beruf. Er konnte besonders geschickt mit dem Lasso umgehen, und das führte ihn zuerst in die Welt des Showgeschäfts – in jene spezielle Branche, wo man das Publikum durch seine Fähigkeit begeistert, alles und jedes mit dem Lasso einzufangen. Man ist sich nicht ganz einig, zu welchem Zeitpunkt genau Rogers anfing, während dieser athletischen Darbietungen zum Publikum zu sprechen. Er begann damit zunächst, um mißlungene Tricks zu überspielen, und einer seiner ersten Scherze war es, die
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Direktion würde es ihm nicht erlauben, das zu sagen, was er bei einem solchen Anlaß eigentlich gerne sagen würde. Er stieg von der Cowboyshow ins Variété auf, tat den großen Sprung zu den Ziegfeld Follies in New York, trat dann rasch auch im Radio auf, im Film, und schrieb schließlich sogar eine Zeitungskolumne (die eine Zeitlang sogar in der New York Times erschien).11 Rogers sprach im Tonfall seiner Heimat im Westen. Sein Humor spiegelte die typische „cracker barrel“-Philosophie des alten Westens wider (nach dem CrackerFaß in den Dorfläden, auf dem traditionell ein kluger Müßiggänger saß, Tabak kaute und vor sich hin räsonnierte) – robust und locker, mit gesundem Menschenverstand und gesunder Skepsis, aber nie verletzend oder allzu witzig. Man hat im Falle Rogers’ die Authentizität dieser Haltung bezweifelt, aber die meisten Zeugen bestätigen, daß Rogers als Mensch ziemlich genau denselben gutmütigen Charakter hatte wie als Figur der Öffentlichkeit. Wie auch immer, als solche Verkörperung gutmütiger Klugheit wurde er von Millionen von Amerikanern geliebt und bei seinem frühen Tod betrauert. Er erhob keinen Anspruch auf intellektuelle Überlegenheit (mit seinem bekannten Satz: „Ich weiß bloß das, was in der Zeitung steht“), und so bewunderte ihn sein Publikum, ohne Scheu vor ihm zu haben. Seine berühmteste Formulierung war natürlich: „Ich hab noch nie einen Mann getroffen, der mir nicht gefallen hat“, was er oft wiederholte. Es ist bemerkenswert, daß er den Satz zuerst mit Bezug auf Trotzki gebrauchte.12 Er erregte selten Anstoß, auch wenn er jemanden kritisierte, und er war gewöhnlich bereit, eine Bemerkung zu streichen, wenn jemand behauptete, sie könne einen Dritten verletzen: „Ich glaub nicht, daß ich je die Gefühle von irgendjemand mit meinen Scherzchen verletzt hab. Ich weiß, daß ich’s nie absichtlich getan habe. Wenn ich das machen muß, um mein Geld zu verdienen, dann hör ich auf.“13 Ein paar Auszüge aus Rogers Zeitungskolumne mögen seinen Stil illustrieren. Der erste stammt aus einer Folge mit dem Titel „Männchen oder Weibchen (Im Reich der Stechmücke)“14: Erst neulich hat da einer in Atlantic City, New Jersey, eine Statistik rausgebracht, die uns sehr zu denken geben sollte… . Der Mann ist Professor und Ober-Entomologe. Bei diesem Wort werdet ihr Ignoranten Pech haben. Aber ihr kommt noch mal halbwegs davon, ich weiß nämlich auch nicht, was das heißen soll. Also dieser Professor hat bei einer Tagung einen Vortrag gehalten – es tagte der Verband der Stechmückenvertilger von New Jersey, der sich sinnvollerweise im Herzen des Moskito-Gürtels getroffen hat. Dem entnehme ich also, daß ein Entomologe jemand sein muß, der sein Leben gewissen Studien gewidmet hat, bei denen irgendwie dieses typische Produkt von New Jersey eine Rolle spielt. Er hat sein Lebenswerk entweder der Stechmücke verschrieben oder ihrer Bekämpfung. Es ist überraschend, daß es eine Organisation in New Jersey geben soll, die den schönen Namen „Verband der Stechmückenvertilger von New Jersey e. V.“ führt. Wer diesen Staat einmal besucht hat, wird nicht begreifen können, wie es eine Organisation geben kann, die sich der Vertilgung dieser heiteren kleinen Wesen widmet. Wenn es diesen Verein gibt, wen hat der dann bitte schön
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vertilgt, und wann? Aber man muß das verstehen – die geben halt lieber ein Festessen. In Amerika heutzutage machen alle nichts anderes: Man denkt sich einen Namen für irgendeine Vereinigung aus, und dann hält man erstmal ein großes Essen ab. Eine Organisation ohne Festessen ist einfach unmöglich. Also wurden nur beim Essen irgendwelche Stechmücken vertilgt. Und während des Kratzens und Klatschens und des Summens der Moskitos hat unser Mann die folgende voll abgesicherte Statistik verlesen. „Die normale Produktivität einer einzelnen weiblichen Hausstechmücke in einem Jahr ist auf 159 875 000 000 Nachkommen zu beziffern.“
Dieser Anfang ist reinster Rogers: langsam, gelassen weitschweifig, ohne eilig auf irgendeine Pointe zuzusteuern. Sogleich erfolgt die Beteuerung, daß der Autor über kein spezielles Wissen verfügt – Rogers muß sich aus dem Kontext zusammenreimen, was ein Entomologe ist („Ich weiß bloß das,was in der Zeitung steht“). Dann eine Reihe milder Frotzeleien – gegen den Staat New Jersey, gegen die vielen amerikanischen Organisationen, die keinem rechten Zweck dienen. Und dann ein sicher und knapp gezeichnetes Bildchen: Eine Versammlung von Moskitovertilgern, die hilflos die Stiche von Schwärmen von Stechmücken über sich ergehen lassen müssen. Darin liegt natürlich ein satirisches Moment, doch ist es so sanft, daß man sich kaum vorstellen kann, jemand könnte sich hier wirklich getroffen fühlen, nicht einmal berufsmäßige Ungeziefervertilger oder stolze Bürger von New Jersey. Nach der erstaunlichen Statistik macht Rogers weitschweifig weiter. Er rechnet aus, daß man mit all diesen Nullen auf Milliarden von kleinen Moskitos kommt. Dann kommt er mit der hilfreichen Information, daß wir uns nur wegen der Hälfte dieser Zahl Sorgen machen müssen, weil nur die Weibchen den Menschen stechen. Die Männchen sind ganz harmlos: Also, ihr Frauen, was habt ihr dazu zu sagen? Merkt euch das bitte gut, die Männchen sind ganz harmlos. Sie stechen nicht, sie summen nicht und legen keine Eier. Das ist doch großartig. Es macht mich stolz, daß ich ein Mann bin. Dieser Kipling hat doch recht gehabt, als er (oder vielleicht war’s Shakespeare, oder Lady Astor) geschrieben hat: „Tödlicher in jedem Falle ist das weibliche Geschlecht.“ Damals haben die Frauen das bestritten, und es gab ein großes Hallo. Aber unser Entomologe in New Jersey hat endlich die entscheidenden Beweise vorgelegt.
Würde dies Feministinnen kränken? Englischlehrer? Vielleicht, wenn Rogers seine Bemerkungen zu regelrechter Satire ausbauen würde. Aber das tut er nicht. Trotz seines Titels folgt keine satirische Behandlung der Beziehungen zwischen Männern und Frauen. (Man möge sich einmal vorstellen, was James Thurber aus diesem Ansatz gemacht hätte.) Rogers fährt fort mit dem, was der gelehrte Herr in Atlantic City zu sagen vergessen hat: Die Stechmückenvertilger sollten sich auf die
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Weibchen konzentrieren. Oder sie sollten ihnen Geburtenkontrolle beibringen. Vielleicht sollte man sie von New Jersey nach New York in die Fifth Avenue holen, wo sie begreifen würden, daß ihre überschwengliche Fruchtbarkeit ausgesprochen proletarisch ist. Und so endet der kleine Text: Natürlich ist die ganze Sache recht mysteriös. Ich seh das einfach nicht, wie das Weibchen diejenige sein kann, die all die Eier legt, die ganzen Kinder aufzieht, die ganze Stecherei übernimmt und dann noch Zeit zum Summen hat. Wann ziehen die denn all diese Kinder auf? Offenbar gibt es da gewisse Zeiten, wo sie weder singen noch stechen. Nach dem, was uns der Entomologe beigebracht hat, bleibt Ihnen eigentlich nur eine Wahl. Sie müssen den Moskito beobachten, bis er Sie sticht, und ihn – ich meine sie – dann vernichten. Mit anderen Worten, wenn er Sie sticht, ist er eine sie, und wenn er summt, ist er eine sie. Schauen Sie ihm genau zu, und wenn er ein Ei legt, ist er eine sie. Wenn er aber den ganzen Tag bloß rumhockt und überhaupt nichts tut, dann müssen wir zwangsläufig zu dem Schluß kommen: Das ist ein er. Schlagen Sie ihn nicht tot, er tut Ihnen nichts, er sitzt bloß da und ist stolz auf all das, was seine Frau kann. Wenn Sie also ein Männchen finden – dann warten Sie am besten, bis die Gattin ihren Mann zwischen einem Stich und dem nächsten kurz besucht. Wovon lebt eigentlich das Männchen? Wird das beim nächsten Festessen besprochen?
Worauf will Rogers nun damit hinaus? Man kann mit Sicherheit sagen, daß die Frage irrelevant ist. Hier gibt es keine tiefere Absicht, keine satirische Strategie. Es ist ein Spiel mit Situationen, mit Worten, mit absurden kleinen Widersprüchlichkeiten. Rogers will auf reine Unterhaltung hinaus. Nun sind nicht alle Texte von Rogers derart harmlos. Er kommentierte die Lebensumstände und die Politik in Amerika ausführlich und mit deutlicher satirischer Absicht. Aber auch hier ist der Ton mild, versöhnlich. Man kann nachlesen, daß die meisten der Individuen, die in Rogers’ Texten namentlich verspottet wurden, sich nicht darüber ärgerten, und daß sie über ihr Porträt von Rogers wirklich lachen konnten (Calvin Coolidge war offenbar eine Ausnahme, aber der war für seine Humorlosigkeit berühmt). Das Folgende, aus einem Artikel mit dem Titel „Untersuchungen, Anhörungen, Vertuschungen“ scheint heute ebenso aktuell wie zu Rogers’ Zeiten.15 So fängt der Text an: Sagen Sie mal, haben Sie das auch gelesen, was da dieser Schriftsteller im Tagebuch von George Washington ausgegraben hat? Ich hab mich so geschämt für den Mann, ich hab die ganze Nacht hindurch drin gelesen. Das sollte allen Präsidenten eine Warnung sein, sich entweder anständig zu benehmen oder kein Tagebuch zu führen. Können Sie sich vorstellen, wie nach hundert Jahren ein zukünftiger Schriftsteller sich auf das Tagebuch von Calvin Coolidge stürzt? Was soll dann diese Generation von uns denken? Calvin,verbrenn bloß alles!
Im Kongreß gibt es wieder einmal einen Untersuchungsausschuß, über geheime Wahlkampffonds. Rogers sagt dazu:
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Jetzt muß man sich das mal vorstellen – der Kongreß, der Milliarden verplempert, möchte rausfinden, ob ein Kandidat ein paar Tausend zuviel ausgegeben hat! Aber die Jungs in Washington haben eben den größten Spaß an solchen Untersuchungen. Man muß das verstehen, ein Senator ist nie glücklicher, als wenn er einem anderen eine Frage stellen kann, und der darf nicht zurückfragen. Das Problem ist nur – wenn einer sagt, der oder das müßte mal gründlich untersucht werden, dann kann es immer auch passieren, daß jemand kommt und sagt, daß dieser eine eigentlich auch mal untersucht werden sollte. Und wenn ich mir die ganzen Untersuchungen bisher so anschaue, dann sieht’s doch so aus, als käme da niemand mit ganz reiner Weste raus. Ist mir ganz egal,wer oder was Sie sind: Man kann einfach nicht in seine mittleren Jahre kommen, ohne daß man eine Menge blöder Sachen gemacht und gesagt hat. Ich sag’s Ihnen also gleich, wenn ich sehen würde, wie ein Untersuchungsausschuß in meine Richtung marschiert, dann würde ich mich lieber gleich schuldig bekennen und mich der Milde des Gerichts empfehlen.
Rogers hat einige Vorschläge, wie man solche Untersuchungen effizienter gestalten könnte. Es sollte bestimmte Tage für bestimmte Dinge geben – die Montage sollten für Geständnisse da sein, Dienstage für Bezichtigungen, die anderen Wochentage für das Leugnen.Was Rogers aber am meisten beschäftigt, ist, daß die Leute im Zeugenstand so eine alberne Figur machen. Sie murmeln verlegen vor sich hin, sie bestreiten offensichtliche Tatsachen, sie behaupten, sich an nichts erinnern zu können. Je gebildeter die Leute sind, desto blöder wirken sie als Zeugen. Hier hat Rogers eine wirklich gute Idee: Da in Amerika Leute, die im öffentlichen Leben stehen, über die Hälfte ihrer Zeit mit Aussagen vor Untersuchungsausschüssen verbringen, wird er nun eine Schule eröffnen, die ihnen beibringt, wie man aussagt (sie wird in Claremore, Oklahoma, „dem Mittelpunkt von allem“, stehen). Die Studenten bekommen dort beigebracht, wie man Nervosität vermeidet, sich nicht aus der Ruhe bringen läßt, vor allem aber, wie man über alles Aufzeichnungen anlegt. Was immer sie dann auch gefragt werden, sie werden eine Aufzeichnung mit der präzisen Antwort vorliegen haben. Das wird die Ausschußarbeit stark beschleunigen. Und die Absolventen von Rogers’ Schule werden sich vor solchen Untersuchungen nicht nur nicht mehr fürchten, sie werden ihnen sehnsüchtig entgegensehen. Und das ist Rogers’ eigentlicher Grund für seinen Vorschlag: Eigentlich will ich das alles aus patriotischen Gründen machen, weil ich hab einfach Angst, daß andere Nationen gelegentlich mal in unsere Zeitungen schauen und dort die Aussagen von unseren Leuten finden, die Kabinettsposten haben und wichtige Ämter bekleiden. Und die werden sie dann nach ihren Aussagen beurteilen. Sie werden glauben, die wären nicht klüger als ihre Aussagen. Na, das würde einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen, und wenn ich das ändern kann und es hinkriege, daß sie so schlau aussagen, wie sie wirklich sind, hab ich mich um das öffentliche Leben verdient gemacht.
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Das ist Satire, ein „bescheidener Vorschlag“ à la Swift, wenn man will. Aber es fehlt jede swiftsche Schärfe. Rogers zieht die Politiker und ihre Albernheiten ein wenig durch den Kakao. Er flachst. Und er schließt sich dabei immer selber ein. Während Wodehouse und Rogers das Gutmütige ihres Humors gemeinsam haben, sind ihre komischen Strategien ganz verschieden. Wodehouse erschafft eine eigene Welt, die in sich geschlossen ist und fern von der empirischen Realität; dort agieren seine Figuren im Sinne ihrer typischen Torheiten. Rogers geht anders vor. Sein Humor befaßt sich mit der realen Welt Amerikas, doch dabei verwandelt er diese Welt und hüllt sie in eine Wolke von grundsätzlich gutmütigem Kommentar. Beide Autoren verspotten sanft alle Autoritäten und alle großen Ansprüche.Wenn es eine Tugend gibt, die beide lehren, ist es Toleranz, doch würden beide kaum einen solchen didaktischen Zweck eingeräumt haben. Der letzte „klare Fall“ gutmütigen Humors, der hier zu besprechen ist, ist von den beiden vorangegangenen ganz verschieden: Franz Lehár (1870 – 1947), der Meister dessen, was man das „Silberne Zeitalter“ der Wiener Operette genannt hat.16 Die Operette als musiktheatralische Form hat eine komplexe Herkunftsgeschichte – ihre Ursprünge liegen wohl in der italienischen opera buffa, die wiederum als komische Einlage der opera seria begann. Doch der eigentliche Beginn der Operette findet im neunzehnten Jahrhundert statt, mit den Zentren Paris,Wien und London, wo jeweils Offenbach, Johann Strauss’ Sohn (das war das „Goldene Zeitalter“ der Wiener Operette) und Gilbert und Sullivan die bedeutendsten Figuren waren. Die Operette gelangte bald nach Amerika, wo später dann das Broadwaymusical aus ihr hervorging. Lehárs Werk insgesamt und sein Meisterwerk „Die lustige Witwe“ (1905 uraufgeführt) insbesondere sind eine Spätblüte dieser Tradition. Das Werk verkörpert mehr als jede andere künstlerische Schöpfung die joie de vivre des verdämmernden habsburgischen Mitteleuropa. Die ältere Tradition der Operette enthielt Elemente von Parodie und Satire, manches davon recht politisch (man kann hier wiederum an den Versuch der österreichischen Zensur erinnern, jegliche Improvisation auf den volkstümlichen Bühnen zu unterbinden). Es gibt in Strauss’ Musik auch einen dunklen, melancholischen Unterton. Lehár reinigte die Operette von allen satirischen und tragischen Zügen. Er ließ viel Gefühl zu, doch neigte dieses immer zur Sentimentalität. Trotzdem war Lehár ein musikalisches Genie, und die Pracht seiner Musik transzendiert immer wieder die recht dürftige Handlung auf der Bühne.Vielleicht entdeckt man erst im Nachhinein, im Bewußtsein dessen, was bald mit der habsburgischen Welt geschehen sollte, im sentimentalen Hedonismus der Wiener Operette jener Zeit ein Gefühl der Resignation.Wie dem auch sei – bis auf den heutigen Tag repräsentiert Lehárs Musik den Geist der letzten großen Blüte eines jetzt untergegangenen Reichs.
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Lehár als Person ist ebenfall durchaus repräsentativ für jenes Reich mit seiner kosmopolitischen Bevölkerung. Er wurde in Ungarn geboren und war auch ungarischer Abstammung, doch war er das Kind eines Militärkapellmeisters und lebte so in einer langen Reihe von Garnisonstädten an allen Enden der österreichisch-ungarischen Monarchie.Während der Jahre seines Militärdienstes leitete er selbst eine Militärkapelle. Wie Wodehouse und Rogers war Lehár zu Lebzeiten enorm erfolgreich, sowohl finanziell wie hinsichtlich des Ruhms, den er genoß. Manche Kulturkritiker verachteten sein Schaffen dessentwegen, was sie als oberflächliche Sentimentalität sahen – so schrieb zum Beispiel Karl Kraus, der große Wiener Satiriker, die erste Aufführung einer Lehár-Operette im osmanischen Reich sei das klare Anzeichen des bevorstehenden Endes der Zivilisation. Das breite Publikum aber liebte ihn. Zu seinen Bewunderern zählte, ach! auch Adolf Hitler, so daß Lehárs Werke im Dritten Reich weiter aufgeführt wurden, obwohl er eine jüdische Frau hatte und seine beiden bevorzugten Librettisten Juden waren. In allen Operetten (und das trifft wahrscheinlich auch auf die Oper zu) gibt es eine gewisse Spannung zwischen der Musik und dem Libretto. Die komische Wirkung der Operette mag sich durchaus dieser Spannung verdanken. Die Musik selbst ist leicht, kann aber selten als komisch beschrieben werden. Die Bühnenhandlung, wie sie das Libretto vorschreibt, wäre die meiste Zeit ohne Musik (wenn man sie als einfaches Theaterstück aufführen oder lesen würde) viel zu dürftig, um komisch zu sein. Beaumarchais, der Verfasser der „Hochzeit des Figaro“ (der Vorlage für Mozarts Oper), hat einmal bemerkt, daß man das singen kann, was zu dumm ist, als daß man es sprechen könnte. Im folgenden wird es also hilfreich sein, wenn man die Musik als wesentliche Begleitung der dramatischen Handlung hören kann (innerlich, wenn schon nicht tatsächlich).17 Die Handlung der Lustigen Witwe spielt „heute“ (also um 1905) in Paris. Im Mittelpunkt steht die Botschaft von Pontevedro, einem vage balkanischen Staatswesen. (Ursprünglich hieß dieser Staat in der Operette tatsächlich Montenegro, doch das war damals ein realer autonomer Staat, und dessen Botschaft in Wien protestierte. So wurde Montenegro zu Pontevedro, und die Hauptstadt Cetinje zu Letinje – wenn diese Stadt auch nur einmal im ganzen Libretto erwähnt wird.) Nach der raschen, fröhlichen Ouvertüre beginnt der erste Akt mit einem Empfang in der pontevedrinischen Botschaft zu Ehren des Geburtstags des Landesvaters. Zwei Handlungsstränge verflechten sich. Der Botschafter Mirko Zeta gibt seinem Helfer Njegus (einer Art Leporello-Figur) Anweisung, es müsse sichergestellt werden, daß Graf Danilo Danilowitsch auch bestimmt die reiche pontevedrinische Witwe Madame Glawari heiratet, da ohne deren Vermögen der Staatsbankrott bevorsteht. Inzwischen umwirbt der charmante Franzose Camille Roussillon leidenschaftlich Valencienne, die Frau des Botschafters. Politische und erotische Intrigen vermengen sich also. Das letztere Element erlaubt es Valenci-
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enne, eine der melodiösesten Arien der Operette zu singen: „Ich bin eine anständ’ge Frau“, beteuert sie, während sie den amourösen Franzosen spielerisch abwehrt. Sie warnt ihn vor den Gefahren der Leidenschaft, die man zähmen muß – eine Warnung, könnte man sagen, welche die Operette stets beherzigt hat.18 Madame Hanna Glawari tritt auf, umgeben von Bewunderern. Valencienne würde es gerne sehen, wenn Camille sich auch für die reiche Witwe zu interessieren begänne, damit sie die Versuchung los ist. Was Danilo angeht, so ist er ein stets pflichtbewußter Diplomat, doch die ihm abverlangte Heirat macht ihn nicht besonders glücklich. Er singt eine ebenfalls berühmte Arie, in der er die Reize des Cabarets „Maxim“ preist, wo er mit allen Damen sehr intim ist – den leichtlebigen Grisetten der Pariser demi-monde, die ihm helfen, sein geliebtes Vaterland zu vergessen. Doch ist es offensichtlich, daß Hanna und Danilo, die sich schon früher kannten, sich tatsächlich wieder zueinander hingezogen fühlen. Danilo singt eine andere Arie in ganz anderem Ton, die das Erwachen der Liebe feiert, die aufblüht wie die Blumen im Frühling. Schließlich ist das Fest soweit vorangeschritten, daß es Zeit wird für die Damenwahl. Hanna wählt Danilo, der aber, um die ganzen Hanna umdrängenden Bewunderer los zu werden, dem Saal das provozierende Angebot macht, „seinen“ Tanz an jeden zu verkaufen, der zehntausend Francs bietet. Niemand meldet sich. Hanna ist zornig. Alle entfernen sich, und sie bleibt mit Danilo allein; nun beginnen sie zu tanzen. Hanna: „Sie schrecklicher Mensch! Sie tanzen wundervoll!“ Danilo: „Man tut, was man kann.“ Ohne Musik, man braucht es kaum zu wiederholen, ist diese Handlung so dumm, wie es Beaumarchais’ Bemerkung nahelegt. Die Figuren sind papierdünn, die Voraussetzungen der Handlung so unwahrscheinlich wie möglich, und die Handlung selbst nimmt einen altbekannten Ablauf (der wahrscheinlich bis auf die commedia dell’arte zurückgeht, wenn nicht noch weiter): Im ersten Akt begegnen sich die Liebesleute, im zweiten Akt werden sie durch Schwierigkeiten getrennt, im dritten kriegen sie sich. Mit anderen Worten, es bedürfte einer sehr massiven Dosis von Illusionsbereitschaft (Epoché), wenn man in diesem kleinen Stück aufgehen wollte. Natürlich können gute schauspielerische Leistungen und phantasievolle Bühnenbilder dabei eine Hilfe sein, aber vor allem ist es Lehárs triumphal fröhliche Musik, die Generationen von Theaterbesuchern zu diesem Sprung in die Illusion überredet hat. Manche werden ihn immer ablehnen. Wer sich fügt, wird durch ein paar Stunden vollkommen bewußtloser Unterhaltung belohnt. Alles kompliziert sich im zweiten Akt, der auf einem Gartenfest bei Madame Glawari spielt, die als Pontevedrinerin ebenfalls den herrscherlichen Geburtstag begehen möchte „wie zuhaus in Letinje“. Ein irgendwie slawischer Tanz eröffnet das Fest. Dann singt Hanna eine weitere berühmte Arie: „Vilja, o Vilja“, ein romantisches Liebeslied, das, wie es heißt, auf eine pontevedrinische Sage von ei-
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nem Jäger und einem „Waldmägdelein“ zurückgeht. Danilo und Hanna führen einen ausladenden Flirt vor, und sie macht sich in einer diesmal irgendwie ungarischen Arie über ihn lustig – über den „dummen Reitersmann“, der nicht merkt, wenn eine Frau ihn liebt. Die Männer stimmen in einen Marschchor ein, der beklagt, wie schwer es ist, zu wissen, was die Frauen wirklich wollen (las Lehár Freud? besuchte Freud Lehársche Operetten?) – „Weiber, Weiber, Weiber!“ Kein Studium kann erklären, wie Frauen sich verhalten werden. Inzwischen kommt Camille bei der Verführung von Valencienne voran, während das Orchester den berühmten Lehár-Walzer mit dem Refrain „Hab mich lieb“ spielt. Camille singt die lockende Arie „Komm in den kleinen Pavillon“. Valencienne kapituliert, und sie folgt ihm tatsächlich in das Gartenhaus. Unglücklicherweise hat sich dort auch der Botschafter mit Danilo verabredet, um die große Heiratsintrige zu besprechen. Er erkennt seine Frau und bricht in eifersüchtige Wut aus. Njegus (eine Art balkanischer Jeeves, möchte man sagen) rettet rasch die Situation. Er läßt Valencienne zur Hintertür hinaus und holt Hanna herein, die dann vortritt und ihre Verlobung mit Camille verkündet. Der Botschafter läßt sich zögernd überzeugen, daß er doch nicht seine Gattin im Gartenhaus gesehen hat, aber er ist verzweifelt über das Scheitern seines Plans, Hannas Vermögen für die pontevedrinische Dynastie zu gewinnen. Danilo, der nicht begreift, daß Hanna nur so gehandelt hat, um Valenciennes Ruf zu retten, ist tief verletzt, stellt sich aber gleichgültig. Er und Hanna singen ein Duett, in dem die Ehe als veralteteter Standpunkt beschrieben wird, falls sie nicht eine Ehe „ganz nach Pariser Art“ ist, bei der beide Partner tun, was ihnen gefällt. Natürlich werden alle diese Komplikationen im dritten Akt aufgelöst. Die Szene spielt immer noch bei Hanna Glawari, später am selben Abend. Sie hat in ihrem Palais eine Nachbildung des Maxim errichten lassen, und Danilos Lieblingsgrisetten sind alle da und treten auf, unter ihnen Valencienne, die sich entsprechend verkleidet hat (aus Gründen, über die man nur rätseln kann). Der Botschafter besteht darauf, daß Danilo Hanna heiraten muß, ganz gleich, wie seine persönlichen Neigungen auch sein mögen. Hanna erklärt Danilo den Vorfall im Gartenhaus, worauf sie einander ihre Liebe in einem Duett gestehen, welches das frühere Liebeslied aufgreift („Hab mich lieb!“ – „Ich hab dich lieb“). Der Botschafter findet den Fächer seiner Frau im Gartenhaus, begreift, daß sie ihn doch getäuscht hat und erklärt sich auf der Stelle für geschieden. Er macht nun Hanna selber einen Antrag. Diese erklärt ihm, daß sie leider nach einer Klausel des Testaments ihres verstorbenen Mannes bei einer Wiederheirat kein Geld mehr haben wird… Der Botschafter zieht seinen Antrag zurück. Doch jetzt hält der verliebte Danilo um Hannas Hand an,Vermögen hin oder her. Hanna beendet nun den angefangenen Satz: – weil ihr Gatte dann ihr gesamtes Vermögen verwalten wird. Allgemeine Freude: Pontevedro ist vor dem Ruin bewahrt, Danilo und Hanna
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bekommen einander, und (setzen wir das einmal voraus) Valenciennes Ruf ist gerettet. Die Grisetten werden ihr Leben in reizender Sünde fortsetzen. In diesem Kapitel wurden drei Beispiele des „gutmütigen“ Humors kurz erläutert. Trotz der großen Unterschiede eignet ihnen – würde ich behaupten – eine wesentlich ähnliche komische Ausdrucksform. Sie sind weit entfernt von der dionysischen Narrheit. Sie bedrohen weder die soziale Ordnung noch die dominante Wirklichkeit des Alltagslebens. Sie schenken dem Rezipienten eine Erholung von dessen Sorgen, eine harmlose Ablenkung, von der man erfrischt zu den Geschäften des Lebens zurückkehren kann. Doch herrscht auch hier eine Art Magie, vor allem da, wo diese Komik eine eigene zauberische Welt erschafft, wie Wodehouse dies mit seinen Geschichten und Lehár mit seiner Musik gelingt. Dieser Zauber hat seinen eigenen Wert, vielleicht sogar seinen eigenen moralischen Status. Die vielen Menschen, die sich ihm überlassen haben (sei es, weil sie schon immer unkomplizierte Naturen waren, sei es, weil sie ihre Komplexitäten, ihre sophistication, eine Zeitlang ablegten) haben das begriffen. Sie hatten recht. Und diejenigen, welche diese Ferien vom Ernst verachtet haben, hatten unrecht – man könnte paradox formulieren: Sie hatten profund unrecht.
8 Komik als Trost: Tragikomik Oben habe ich vorgeschlagen, das Komische als eine Parallelform zur Magie zu begreifen.Wie diese führt das Komische eine plötzliche und rational unerklärliche Verschiebung des Wirklichkeitsgefühls herbei. Doch gibt es verschiedene Formen der Magie. Es gibt kleine Magie und große Magie: Ein Kaninchen springt aus dem Zylinder; ein Schwarm Hexen reitet über den Himmel. Es gibt weiße Magie, die auf wunderbare Weise heilt, und schwarze Magie, die verflucht und zerstört. Der gutmütige Humor, wie wir ihn im letzten Kapitel behandelt haben, hat gewöhnlich kleine Wirkungen und ist offensichtlich eine Manifestation weißer Magie. Das Komische tritt aber auch, wie wir schon gesehen haben, in sehr viel massiveren, dunkleren Formen auf. Das Tragikomische ist ein eigenartiges Zwischenstück. Als solches verdient es eine gewisse Aufmerksamkeit. Das Tragikomische läßt sich beschreiben als das, was Lachen unter Tränen weckt. Die Tragikomödie ist abgeklärt, verzeihend. Sie führt keine profunde Katharsis herbei, doch ist sie trotzdem bewegend. Vor allem ist sie trostreich. Dieser Trost mag religiöse Züge haben oder auch nicht. Der aufmerksame Leser – und an welchen anderen sollte sich dieses Buch wenden! – wird schon bemerkt haben, daß die Kategorien, in welchen die Erfahrung des Komischen hier erfaßt wird, sich unvermeidlicherweise in gewissem Maße überschneiden. Es gibt wenige absolut klare Fälle. Doch läßt sich eben kein Phänomen begreifen, ohne daß man gewisse kategorielle Unterscheidungen trifft. Die Tragikomödie unterscheidet sich vom gutmütigen Humor: Der verbannt, so weit es irgend möglich ist, das Tragische aus seinen fragilen Konstruktionen einer künstlichen Realität (obwohl manche von diesen Konstrukten, wie die Welt von Wodehouse zeigt, auch recht robust sein können). Der sogenannte schwarze Humor trotzt dem Tragischen, wie es seine synonyme Bezeichnung „Galgenhumor“ drastisch zum Ausdruck bringt. Dann gibt es den grotesken Humor, wo das Tragische in einem absurden Universum aufgeht, wie in den Totentänzen des Spätmittelalters. In der Tragikomödie wird das Tragische weder verbannt, noch wird ihm Trotz geboten, noch geht es in etwas anderem auf. Es bleibt sozusagen momentan in der Schwebe. Das Tragikomische drängt sich oft ebenso wie der gutmütige Humor in kleinen, flüchtigen Quantitäten in den Fluß des Alltagslebens. Es löscht realen Kummer, reale Traurigkeit nicht aus, aber es macht diese Emotionen erträglicher. Wie der gutmütige Humor erscheint auch das Tragikomische oft in Kindern. Deren unbekümmerte Vitalität steht offensichtlich im Widerspruch zu jedweder tragischen Situation. Dieser Widerspruch ist komisch, aber er bekräftigt auch die – trotz allem Dunkel, das die menschliche Existenz bedroht – unerschöpfliche
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Lebenskraft. Das hat der große mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart beredt zum Ausdruck gebracht: „Wäre ich in einer Wüstenei allein, wo es mich graute, und hätte ich da bei mir ein Kind, so verginge mir alles Grauen und ich fände Kraft: so edel und froh ist das Leben.“1 Im letzten Kapitel wurde das Beispiel eines kleinen Mädchens angeführt, das eine komische Wirkung erzielt, indem es sich als seine Mutter verkleidet.Versetzen wir die kleine Szene in den Rahmen eines Begräbnisses. Sie muß natürlich etwas abgewandelt werden, denn kleine Mädchen werden, wenn man sie überhaupt zur Beerdigung mitnimmt, dort nicht in einer solchen Verkleidung erscheinen dürfen. Aber Kinder nehmen an Begräbnissen teil, und sie sind dabei förmlich, quasi als Erwachsene gekleidet. Die tragikomische Wirkung kann allein durch diesen Widerspruch hervorgerufen werden. Um sich weitere solche Wirkungen vorzustellen, braucht man gar nicht davon ausgehen, daß die Kinder ungezogen sind. Gehen wir im Gegenteil davon aus, daß sie gut erzogen sind und sich bemühen, sich angemessen zu verhalten. Und trotzdem könnte sich irgendetwas ereignen, das ihr feierliches Benehmen unterbricht – vielleicht fangen sie plötzlich zu kichern an, weil etwas an der Trauerfeier komisch auf sie wirkt, oder sie schneiden einander Grimassen, weil sie sich langweilen, oder sie machen einen kleinen Fehler bei dem Ritual, dem sie zu folgen hätten. Die Trauergäste ärgern sich natürlich möglicherweise über dieses Eindringen von kindischem Verhalten in die Feierlichkeit. Andererseits sind sie vielleicht auch erheitert, und der kleine tragikomische Auftritt macht den Anlaß weniger schmerzhaft. Ein solcher tragikomischer Trost im Angesicht des Todes ist durchaus verschieden von anderen komischen Reaktionen auf die Gegenwart des Todes. Der schwarze Humor bezieht sich natürlich häufig auf den Tod (wenn er auch bei einer Beerdigung kaum als angemessen empfunden würde). Und es gibt Ausdrucksformen des Komischen bei solchen Anlässen, die sich dem Tod in oft grotesker Weise stellen, wie es zum Beispiel bei einer irischen Totenwache (die sich vielleicht als späte Variante des Totentanzes bezeichnen ließe) leicht geschehen kann. Das Tragikomische bietet viel milderen Trost. Die Tragikomödie hat ihre Grenzen. Wenn die bei einem Begräbnis Versammelten von den Possen der anwesenden Kinder erheitert und getröstet sind, dann wird es sich wahrscheinlich nicht um die unmittelbar betroffenen Hinterbliebenen handeln. Es gibt Schrecken, vor denen die bestgemeinten Versuche komischer Tröstung versagen müssen (und in der Tat gar nicht erst unternommen werden sollten). Es gibt Anlässe, bei denen niemand lachen kann oder lachen sollte, Gelegenheiten, da die Tränen zu bitter sind. Es wäre wohl sinnlos, diese Anlässe definieren oder aufzählen zu wollen, um einen moralischen Kanon für das Tragikomische zu bekommen. Dies sind Definitionen, die der „Vernunft des Herzens“
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überlassen werden müssen oder doch jener Annäherung an diese Vernunft, zu der ein Mensch jeweils fähig ist. Es gibt tragikomische Rollen im Leben wie in der Kunst. Hier begegnet man wieder der Rolle des Narren, wenn auch in sanfterer Verkörperung. Traurige Clowns und Mimen treten auf. Die Tragikomödie im engeren Sinne ist natürlich eine Form des Dramas; in der Filmgeschichte dürfte Chaplin ihr hervorragendster Vertreter sein. Doch es ist die Prosaliteratur, welche die Tragikomödie des Alltags am besten einfängt. In der europäischen Literatur ist der Don Quijote des Cervantes wohl die paradigmatische Verkörperung des tragikomischen Helden. Es gibt auch jüngere Beispiele. Der Fall, den ich für unseren Zweck ausgewählt habe, ist Scholem Alejchem (1859 – 1916), der allgemein als bedeutendste Figur der jiddischen Literatur gilt. Man könnte aber auch diese ganze Literatur oder doch einen großen Teil davon zur Erläuterung der Kategorie des Tragikomischen heranziehen. In amerikanischen Ohren klingen bestimmte jiddische Wörter und Intonationen, die ins amerikanische Englisch eingedrungen sind, bereits an sich komisch, aber das geht wahrscheinlich auf ihre Verwendung durch bestimmte beliebte jüdische Komiker und deren Nachahmer zurück; die jiddische Sprache an sich hat nichts spezifisch Komisches oder Tragikomisches. Das Element der Tragikomödie wurzelt in den Lebensumständen der Menschen, welche diese Sprache gebraucht haben, der Juden Osteuropas und insbesondere derer, die unter unerträglichen Verhältnissen in Rußland lebten. Die jiddische Kultur hat demzufolge ein Gefühl für komische Widersprüchlichkeit ausgebildet, das wahrscheinlich seinesgleichen sucht. Der Widerspruch klaffte zwischen der grandiosen Bestimmung des jüdischen Volkes, wie sie die Religion lehrte, und den elenden Zuständen, in denen die Juden in der wirklichen Welt Osteuropas lebten. Sowohl in der Alltagssprache wie in der Literatur (sehr stark im Falle von Scholem Alejchem) diente das Jiddische als ironischer Kommentar zu den großartigen Versprechungen des Hebräischen. Eine verbreitete Redensart benutzt diese hebräisch-jiddische Antiphonie, um eine zutiefst ironische Weltsicht zum Ausdruck zu bringen: Auf Hebräisch wird gesagt: „Du hast uns auserwählt unter den Völkern“ (eine in den täglichen Gebeten wiederkehrende Formulierung), und dann folgt auf Jiddisch: „Warum hast du dir ausgerechnet die Juden aussuchen müssen?“2 Viele der Figuren bei Scholem Alejchem benutzen diese hebräischjiddische Antiphonie, um ihre sardonische Perspektive zum Ausdruck zu bringen. Nehmen wir ein konkretes Besipiel aus dem jüdischen Festkalender, das Laubhüttenfest oder Sukkot, im Herbst gefeiert zum Andenken an den Auszug aus Ägypten.3 Man stelle sich eine Gruppe von russischen Juden bei diesem Ritual vor – Menschen, die keinerlei Land besitzen dürfen, lesen Texte, die sich auf ein altes Ackerbaufest des Nahen Ostens beziehen; sie sitzen vor ihren Häusern in zugigen, wackligen Hütten, erschauernd, denn der
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russische Winter ist nicht mehr fern; sie haben kaum genug zu essen und loben Gott für alles, was er ihnen reichlich schenkt. Kein Wunder sahen sie sich veranlaßt, zu fragen, weshalb Gott ausgerechnet sie unter allen Völkern als sein eigenes Volk auserwählte! Doch steckten sie noch zu tief in ihrem Glauben, um solch rebellische Gedanken auf Hebräisch auszudrücken; auf Jiddisch stand es ihnen frei. Die Struktur des Jiddischen enthält an sich schon die Geschichte der jüdischen Diaspora – eine Grundstruktur von mittelalterlichem Deutsch, auf die sich Schichten von Hebräisch und von slawischen Sprachen gelagert haben. Ein anderer jiddischer Schriftsteller, Isaac Leib Perez, hat es so formuliert: Jiddisch, die Sprache, die ewig Zeugnis ablegen wird für Gewalt und Mord, die man uns angetan hat, trägt die Spuren unserer Vertreibung von einem Land zum anderen, die Sprache, die das Wehgeschrei unserer Väter in sich aufgenommen hat, die Klagerufe der Generationen, das Gift und die Bitternis der Geschichte, die Sprache, deren kostbare Juwelen… jüdische Tränen sind.4
Diese Vorstellung von der Sprache als einer Ablagerung von Geschichte findet einen hübschen Ausdruck in dem israelischen Witz von der Frau, die darauf besteht, mit ihrem Sohn nur Jiddisch anstatt Hebräisch zu reden, und als Grund auf Befragen angibt: „Ich will nicht, daß er vergißt, daß er ein Jude ist.“5 Unter all diesen Tränen wohnte ein nicht zu erstickendes Gelächter. Es gibt einen weiteren Widerspruch, den man hier anführen sollte – den zwischen der Welt der Männer und der Welt der Frauen: Die erste ist durch Gelehrsamkeit gekennzeichnet, in der zweiten steht im Mittelpunkt die Verwaltung der praktischen Familienangelegenheiten. Und natürlich gebrauchte die erste Welt vorwiegend Hebräisch, die zweite Jiddisch. Der Begriff „Muttersprache“ findet sich im Deutschen und in anderen westlichen Sprachen, wenn aber das Jiddische von der Muttersprache redet, mamme-loschen, hat das eine spezielle soziologische Bedeutung. Frauen lehrte man gewöhnlich kein Hebräisch, ausgenommen das Wenige, was für gewisse Gebete notwendig war. Jiddisch war insofern eine Frauensprache par excellence, die Sprache, in der die Mütter zu ihren Kindern redeten – dieselben Mütter, die oft von morgens bis abends in einem kleinen Laden arbeiteten, um ausreichend Geld zu verdienen, damit die Familie existieren konnte und damit ihre Ehemänner in der schul sitzen und der höchsten Berufung eines jüdischen Mannes nachkommen konnten, der Berufung zum Studium der Schriften, auf Hebräisch. Die Antiphonie Hebräisch/Jiddisch ist so tatsächlich auch eine Antiphonie zwischen der überweltlichen Spekulation und dem harten, praktischen Geschäft dieser Welt. Wenn man die hochliterarischen Erzeugnisse dieser Sprache betrachtet, dann ist die Geschichte der jiddischen Literatur herzzerreißend kurz. Das Jiddische
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wurde erst im späten neunzehnten Jahrhundert eine Literatursprache, zuerst in den Schriften von Mendele Moicher-Sforim (1836 – 1917), den Scholem Alejchem den Großvater, sejde, des jiddischen Schrifttums nannte.Vorher war das Jiddische schriftlich nur für Übersetzungen biblischer Texte und für Gebetbücher (vor allem zum Gebrauch der Frauen) verwendet worden, für ein paar Märchen und Dramen und einige chassidische Schriften. Scholem Alejchem veröffentlichte seine ersten Geschichten auf Jiddisch im Jahre 1883 (als er auch den Schriftstellernamen annahm, unter dem er heute bekannt ist). 1978 ging der Literaturnobelpreis an Isaac Bashevis Singer (der 1991 starb), den aller Wahrscheinlichkeit nach letzten bedeutenden jiddischen Autor. 1883 bis 1978: Weniger als ein Jahrhundert für eine blühende Literatur, die zusammen mit den meisten Menschen, welche ihre Sprache sprachen, von der größten Tragödie der jüdischen Geschichte dahingerafft worden ist. Scholem Alejchem wurde als Scholem Rabinowitsch in einem ukrainischen schtetl geboren.6 Obwohl er später als Autor und als Geschäftsmann in Kiew und Odessa lebte, blieb die Welt des schtetl, des kleinen jüdischen Dorfs in der Provinz, der Schauplatz des größten Teils seiner Werke. Er verließ Rußland im Jahre 1906 und kam über Genf in die Vereinigten Staaten. Er starb in Brooklyn. Gegen Ende seines Lebens war er eine hochverehrte Figur, und sein Begräbnis war ein großes Ereignis. Da das Werk von Scholem Alejchem so voll ist von komischen Charakteren und Situationen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, unter welch entsetzlichen Bedingungen die russischen Juden im sogenannten Ansiedlungsrayon lebten (den Gebieten, die sie bis zum Ersten Weltkrieg praktisch nicht verlassen durften). Sie waren nicht nur hinsichtlich der Niederlassung, sondern auch mit Bezug auf die Berufswahl scharfen Restriktionen unterworfen, sie wurden offiziell als geringwertigere Untertanen des Zaren eingestuft, sie wurden regelmäßig vom antisemitischen Mob brachial attackiert und ebenso von den Behörden mißhandelt. Die meisten lebten in drückender Armut. 1881 wurde eine Reihe blutiger Pogrome direkt von der Regierung unter dem notorischen Minister K. P. Pobedonostschew angestachelt, dessen erklärtes Ziel es war, daß von Rußlands Juden ein Drittel getötet werden, ein Drittel sich bekehren und ein Drittel auswandern sollte. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, doch ließ es die zaristische Regierung an Bemühungen nicht fehlen. 1882 beschränkten die sogenannten Maigesetze noch drastischer die Gebiete, in denen Juden wohnen durften, und verboten ihnen ländliche Bezirke, wo sie seit Generationen gelebt hatten. Es gab zahlreiche Vertreibungen. 1905 kam es nach der gescheiterten Revolution zu weiteren Pogromen. Zu dieser Zeit gab es natürlich eine massive jüdische Auswanderung aus Rußland, teilweise nach Österreich-Ungarn und Deutschland, hauptsächlich in die USA. Scholem Alejchem selbst wurde Teil dieser Migrationswelle.
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Scholem Alejchem betrachtete es als seine Aufgabe, einem, wie er sagte, „verwaisten Volk“ seine Stimme zu leihen, folks-schtimme zu werden. Und er formulierte auch sein Ziel, in einer elenden Welt („e paskudne welt“; das Adjektiv leitet sich von den ukrainischen und polnischen Wörtern für Schmutz her) Lachen zu erschaffen. Scholem Alejchems bekannteste Geschichten sind die von Tewje dem Milchhändler (sie waren es schon lange vor dem Erfolg des amerikanischen Musicals Fiddler on the Roof, dessen Handlung auf diesen Geschichten beruht). Sie sind in Tewjes eigener Stimme erzählt, in der sich unvergeßlich Resignation, Ironie und die Entschlossenheit, trotz aller Widerstände zu überleben, vermengen. Die Geschichten handeln von einer endlosen Reihe von Unglücksfällen und Mißgeschicken, die meist mit Tewjes Töchtern zu tun haben (deren Zahl manchmal mit sieben, manchmal mit fünf angegeben wird). Jede davon könnte als Beleg für Scholem Alejchems einzigartige Form des Tragikomischen dienen. Nehmen wir die von Tewjes Tochter Hodel.7 Wie bei den früheren Geschichten erzählt Tewje auch diese Scholem Alejchem, den er mit dem polnischen Ehrentitel „Pane“ anredet: „Wann immer etwas fehlschlägt auf dieser Welt, dann ist es Tewje, dem es fehlschlägt.“ Hodel ist die zweite Tochter, schön wie Königin Esther und klug dazu, und sie kann Jiddisch und Russisch lesen und schreiben. Tewje war auf dem Nachhauseweg von Bojberik, einem Weiler in der Nähe, wo er seine Milchprodukte verkauft hat. Es war ein guter Tag gewesen. Ich sitze in meinem Wägelchen und denke, wie es schon meine Gewohnheit ist, über himmlische Dinge nach und über die reichen Leute von Jehupez, denen es, unberufen, so gut geht, und über den Pechvogel Tewje, dem es so schlecht geht, und über mein Pferdchen und ähnliche Dinge. Es ist ein heißer Sommertag; die Sonne brennt, die Fliegen stechen, und die Welt um mich herum ist so erquickend groß und offen, daß man Lust bekommt, sich aufzuheben und davonzufliegen, oder sich auszuziehen und davonzuschwimmen!
Hier haben wir nebenbei eine Glossierung von Tewjes Weltsicht – selbst wenn die Welt so wunderbar ist, stechen die Fliegen einen. Als Tewje weiterfährt, sieht er einen jungen Mann die Straße entlangwandern und nimmt ihn mit. Sie unterhalten sich miteinander (und angesichts dessen, was aus dieser Begegnung wird, fühlt man sich lebhaft an den in einem früheren Kapitel zitierten Witz erinnert, in dem der Jude sich nicht mit seinem Mitreisenden unterhalten möchte, weil er keinen Schwiegersohn ohne Uhr will). Der Wanderer heißt Pertschik, auf Jiddisch wird er „Pfefferl“ genannt. Dieser unansehnliche junge Mann geht aufs Gymnasium und ist auch, wie sich herausstellt, ein Revolutionär. Tewje lädt ihn in sein Haus ein. Eines kommt zum anderen (gerade so, wie der widerwillige Eisen-
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bahnreisende es sich vorgestellt hat). Pfefferl besucht Tewjes Familie immer wieder. Er bringt sich währenddessen mit Hauslehrerstunden zu achtzehn Kopeken durch. Er beginnt, auch Tewjes Töchter zu unterrichten (es ist nicht klar, worin, doch zumindest in Hodels Fall nicht ausschließlich in den akademischen Fächern). Einige Zeit darauf erfährt Tewje von einem lokalen Heiratsvermittler (einem Schadchen – ein sehr wichtiger Beruf in der Kultur des schtetl), daß ein reicher Junggeselle sich für Hodel interessiert. Tewje phantasiert hoffnungsvoll: Und es kommen mir schon allerlei süße Gedanken in den Sinn. Ich stelle mir vor, wie meine Hodel in einer Equipage mit feurigen Rossen spazierenfährt und wie die ganze Welt mich beneidet; weniger wegen der Equipage und der Rosse als wegen der guten Taten, die ich der Welt erweise, habe ich nur erst eine reiche Tochter: weil ich ein richtiger Wohltäter werde, dem einen Bettler zwanzig, dem anderen fünfzig und dem dritten dort sogar hundert Rubel gebe, denn schließlich sind die Armen sind ja auch Menschen.
Es besteht keine Gefahr, daß der Leser von Tewjes Phantasien allzu tief gerührt wird: Wenn er reich wäre, würde er sich ungeheuer großzügig zeigen, doch zumindest teilweise geschähe dies aus dem Bedürfnis, Neid zu erregen und endlich all den reichen Juden, die Tewje all die Jahre wenig Achtung erwiesen haben, etwas voraus zu haben. Ein Heiliger ist Tewje nicht. Während er diese Phantasien seinem Pferdchen erzählt („auf Pferdisch“), wieder auf dem Nachhauseweg von einer Verkaufsfahrt, sieht er, wie Pfefferl und Hodel aus einem Waldstück hervorkommen. Sie sagen ihm, daß sie heiraten werden. Noch schlimmer: Sie teilen ihm mit, daß sie „schon längst Bräutigam und Braut“ sind (dahin ist Hodels Ähnlichkeit mit der jungfräulichen Königin Esther!), und daß sie es nun offiziell machen wollen, weil Pfefferl abreisen muß, in einer Angelegenheit, die ein „Geheimnis“ ist. Tewjes Phantasie zergeht zu Rauch. Er sträubt sich und argumentiert, wie er nur kann, es nützt alles nichts. Endlich stimmt er der Hochzeit zu, wagt es aber nicht, seiner Frau Golde die Wahrheit zu sagen: Ihr redet er ein, Pfefferl habe eine große Erbschaft gemacht und müsse in dieser Angelegenheit fortreisen. Bald nach der Hochzeit fährt Tewje Pfefferl zum Bahnhof, wo er die Freunde seines Schwiegersohns sieht. Sie sehen eher wie Russen aus als wie Juden, mit langem Haar und mit Hemden, die ihnen aus der Hose hängen. Hodel bleibt zurück und verzehrt sich in Sehnsucht. Dann kommt die Nachricht, daß Pfefferl im Gefängnis ist; dann die, daß er nach Sibirien verbannt wird. Hodel beschließt, mit ihm dorthin zu gehen. Wieder versucht Tewje, ihr das auszureden: Und ich führe ihr, wie es meine Gewohnheit ist, einen passenden Text an. „Ich sehe“, sage ich, „meine Tochter, daß du nach den Worten der Schrift handelst, al kejn ja’asojf isch es owiw we’es imoj 8, ‘So soll ein Kind Vater und Mutter verlassen…’“, sage ich, „so verläßt also auch
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du Vater und Mutter und hängst dich an deinen Pfefferl und fährst mit ihm an einen Ort, den niemand kennt, der irgendwo in weiten Wüsten liegt oder auf einem Eismeer, wohl in jenem Land“, sage ich, „wo sich vormals Alexander von Mazedonien auf einer einsamen Insel unter Kannibalen verirrt hat… Glaube nicht, daß ich mir das ausdenke, das habe ich neulich in einem Büchlein gelesen.“ So spreche ich zu ihr wie im Scherz, doch mein Herz weint. Aber Tewje ist kein Frauenzimmer, Tewje kann sich beherrschen.
Hier haben wir das Wesen Tewjes als eines tragikomischen Helden: Er versucht, im Scherz zu sprechen, während sein Herz weint. Natürlich nützen seine Argumente nichts, nicht einmal mit den Zitaten aus der Schrift (dieses hier unterminiert sogar ironisch seine Anstrengungen) und den Anspielungen auf antike Wunder. Hodel ist entschlossen, fortzugehen. Wieder belügt Tewje seine Frau und sagt ihr, auch Hodel müsse nun wegen des fingierten Erbes verreisen. Am Bahnhof, wo er sich von Hodel verabschiedet, weint Tewje dann doch „wie ein Frauenzimmer“. Die Geschichte endet mit einem Beispiel großartiger Ironie: Wißt ihr was, Pane Scholem Alejchem? Wollen wir doch besser von etwas Lustigerem reden. Was hört man Neues von der Cholera in Odessa?
Die letzte der Tewje-Geschichten, „Fort, zieh fort“, handelt von den infamen Maigesetzen, die neben anderen Unterdrückungsmaßnahmen auch befahlen, daß die Juden ländliche Distrikte verlassen mußten.9 Tewje erzählt die Geschichte mit Bezug auf Genesis XII, 1, wo Gott Abraham sagt, er solle fortziehen aus seiner Heimat in das Land, das Gott ihm zeigen wird.Wieder ist der Schriftbezug ironisch – Abraham geht ins gelobte Land, gehorsam dem Befehl des Herrn; Tewje muß ins Nichts wandern, gehorsam den grausamen und korrupten Behörden des zaristischen Rußland. Und das geschieht nach all dem anderen Unglück – Hodel ist mit ihrem verrückten Revolutionär auf und davon, Bejlkes reicher Ehemann mußte nach seinem Bankrott nach Amerika fliehen, der Tod des tugendsamen, aber armen Gatten von Zejtel hat Tewje gezwungen, sich um sie und die Kinder zu kümmern und seinen geplanten Umzug ins heilige Land aufzugeben, und das Schlimmste: Chawe ist zum Christentum übergetreten. Wieder kommt Tewje von einer Fahrt nach Bojberik heim. Er findet das ganze Dorf vor seinem Haus versammelt. Der Dorfälteste, Iwan Poperilo, teilt ihm mit, daß ein Pogrom stattfinden muß: „Die Sache, Tewje, ist die. Wir haben eigentlich nichts gegen dich persönlich… Aber ein Pogrom muß sein, der Gemeinderat hat das so beschlossen, da ist nichts zu machen. Wir werden dir“, sagt er, „wenigstens die Fenster einschlagen, denn sonst fährt vielleicht jemand durchs Dorf und sieht, daß es hier noch keinen Pogrom gegeben hat, und dann sind wir selbst dran.“
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Schließlich darf Tewje, nachdem er mit Poperilo Tee getrunken und diskutiert hat, welche Form von Pogrom am besten wäre, seine eigenen Fensterscheiben einschlagen – „es sind ja deine Fenster… und du kannst sie gradsogut persönlich einschlagen.“ Es kommt noch schlimmer. Eben als Tewje daran denkt, wie der Messias auf weißem Pferd kommt, um die Juden von ihren Unterdrückern zu befreien, reitet der Dorfpolizist heran. Er überbringt einen Vertreibungsbefehl. Tewje weiß, daß hier kein Argument etwas nützt. Er verkauft sein Haus für eine lächerliche Summe an Poperilo, redet sich jedoch ein, daß er den Dorfältesten überlistet hat. Doch wie die von Tewjes Familie Übriggebliebenen das Dorf verlassen, wo sie als die einzigen Juden ihr Leben lang gewohnt haben, ereignet sich ein großer Trost. Chawe, die Konvertitin, hat beschlossen, zum Judentum zurückzukehren und mit ihnen fortzugehen: Ich frage euch, Pane Scholem Alejchem, Ihr seid doch jemand, der Bücher schreibt – hat Tewje recht oder nicht, wenn er sagt, daß es einen großen Gott droben gibt und daß ein Mensch nie die Hoffnung aufgeben darf, solange er lebt? Und das gilt besonders für einen Juden, und ganz besonders für einen Juden, der einen hebräischen Buchstaben erkennt, wenn er ihn sieht… nein, da kann man sich den Kopf zerbrechen und so schlau sein, wie man nur will, es nützt nichts, es ist Tatsache: Wir Juden sind das beste und klügste Volk. Mi ke’amcho jisro’ejl goj echod, wie der Prophet sagt – wie kann man einen Goj und einen Juden auch nur vergleichen wollen? Ein Goj sein kann jeder, aber ein Jude muß so geboren sein.
Ist dies Ausdruck eines genuinen religiösen Glaubens im Angesicht der Gefahr? Oder ist auch das ironisch? Vielleicht war sich Scholem Alejchem selbst nicht ganz sicher. Tewje erklärt, er hätte tatsächlich Glück gehabt, daß man ihn vertrieben habe. Das, glaubt er, ist die Lektion von Gottes Befehl an Abraham – daß er sich nun frei bewegen kann und an kein Heim mehr gebunden ist. Das ist schon in Ordnung – falls Gott sich natürlich nicht dazu entschließt, den Messias zu senden. „Es macht mir nicht einmal was aus,wenn er das bloß uns zum Tort tut, solang er’s nur rasch macht, unser alter Gott!“ Zwei weitere Beispiele aus Texten außerhalb des Tewje-Zyklus sollen das Bild von Scholem Alejchems eigentümlicher Version des Tragikomischen abrunden. Das erste stammt aus den sogenannten Eisenbahngeschichten. Die Eisenbahnen haben in Rußland immer eine wichtige Rolle gespielt, nicht nur bei den russischen Juden, und es gibt ein ganzes Literaturgenre, das sich mit ihnen befaßt. Ihre Bedeutung entspricht wahrscheinlich der Weite dieses Landes. Eisenbahnreisen dauerten lange, und die Passagiere hatten Gelegenheit, sich kennenzulernen, im Guten wie im Schlechten. Die Geschichte „Zwei Antisemiten“ ist unverkennbarer Scholem Alejchem.10 So beginnt sie:
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Max Berljant, das ist ein schwerer Fall. Er reist mehrmals im Jahr von Lodz nach Moskau und von Moskau nach Lodz. Er kennt alle Bahnhofsrestaurants, alle Wartesäle auf der Strecke, ist mit allen Schaffnern gut Freund und war schon in allen fernen Provinzen – auch da, wo die Juden nur vierundzwanzig Stunden bleiben dürfen. Er hat an allen Grenzübergängen geschwitzt, alle Arten von Demütigungen über sich ergehen lassen, und mehr als einmal hat er sich entsetzlich geärgert, ist fast erstickt, und alles nur wegen der Juden. Nicht deshalb, weil das Volk der Juden existiert, sondern weil er selber – schreit nicht, flüstert es nur: – auch ein Jude ist. Und sogar nicht so sehr deshalb, weil er einer ist, sondern weil er, wenn ihr mir den Ausdruck gestattet, so ungeheuer jüdisch aussieht. Das kommt davon, wenn man den Menschen nach Gottes Bild erschafft! Und was für ein Bild! Die Augen von Max sind dunkel und glänzen, sein Haar ebenso. Richtiggehend semitisches Haar. Er spricht Russisch wie ein Krüppel und, Gott steh uns bei, mit jiddischem Singsang. Und zu allem anderen hinzu hat er noch eine Nase! Eine Nase, um allen Nasen ein Ende zu setzen.
Hier haben wir wieder, wenn auch ohne direktes Schriftzitat, eine bizarre, an Tewje erinnernde Anspielung auf die Thora: Es ist, als habe Gott, nach dessen Bilde Max Berljant geschaffen wurde, dunkle Augen und dunkles Haar und eine große jüdische Nase! Vielleicht spricht auch er mit jiddischem Singsang? Von diesen theologischen Spekulationen einmal abgesehen – Max ist ein Handlungsreisender, immer auf Achse, er ißt sogar nicht-koscheres Essen. Diesmal ist er in Bessarabien unterwegs. Er hat eine lange Reise vor sich und überlegt, wie er es anstellen kann, mehrere Plätze so zu belegen, daß er sich bequem ausstrecken kann. Hier bedarf es einer Erläuterung: Die russische Eisenbahn hatte drei Klassen. Die russische Oberschicht fuhr erster Klasse, die Bauern nahmen die dritte, die zweite, „bürgerliche“ Klasse wurde hauptsächlich von Juden benutzt. Das erklärt Max’ ingeniöse Taktik. Kurz ehe der Zug in die Region einfährt, steigt Max an einem Halt aus und kauft sich ein Exemplar des Bessarabiers, einer rabiat antisemitischen Zeitung. Er geht wieder in sein Abteil, streckt sich aus und legt sich die Zeitung übers Gesicht. Er ist sich gewiß, daß das alle Juden fernhalten wird, die sonst vielleicht in das Abteil kommen und ihn daran hindern würden, sich komfortabel auszustrecken. Solcherart als gefährlicher Antisemit getarnt, schläft Max ein. Unglücklicherweise rutscht ihm im Schlaf die Zeitung von der Nase, welche nun in ihrer ganzen semitischen Pracht freiliegt. Ein anderer jüdischer Reisender kommt in das Abteil, ein gewisser Patti Njemtschik, berüchtigt für seine Streiche. Er mustert rasch die Szene, lächelt und geht noch einmal hinaus, um sich eine Nummer derselben Zeitung zu kaufen. Auch er zieht sie sich übers Gesicht und schläft ein. Ein Weilchen schlafen die beiden vorgeblichen Antisemiten ruhig; sie haben das Abteil für sich. Man darf annehmen, daß ein weiterer jüdischer Fahrgast beim Öffnen des Abteils angesichts nicht eines, sondern zweier offensichtlicher Antisemiten rasch den Rückzug angetreten hätte. Max erwacht als erster. Er bemerkt seinen Mitreisenden.
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Er fragt sich: Wo ist der Bursche hergekommen, warum liegt er dort drüben auf der Bank? Und warum hat er sich mit einem Bessarabier zugedeckt?… Er fängt an, sich zu regen, er raschelt mit seiner Zeitung, bis er hört, daß der andere drüben sich auch regt und raschelt. Er hält einen Augenblick still, dann schaut er rasch hinüber und sieht, wie der andere ihn mit einem leichten Lächeln anschaut. Unsere beiden Bessarabier-Leser liegen einander gegenüber, starren sich an, sagen aber nichts, obwohl beide sterben vor Neugier, wer der andere sein mag, verbergen sie ihr Interesse und bleiben ganz still.
Dann fängt Patti ganz leise an, ein bekanntes jiddisches Kinderlied zu pfeifen. Ebenso leise fällt Max ein. Dann setzen sich langsam beide Antisemiten auf, werfen die Bessarabier ab und beginnen den vertrauten Refrain. Den pfeifen sie aber nicht, sie singen den Text laut und voll Hingabe: Der Rebbe sitzt mit kleinen Kindern und sagt mit ihnen das Alphabet.
Im griechischen Drama der Antike sind die Wiedererkennungsszenen berühmt, die Szenen der Anagnorisis. In seiner Geschichte hat Scholem Alejchem dieser Tradition eine wunderbar tragikomische Variante entlockt – eine Anagnorisis in jiddischem Singsang. Das letzte Beispiel aus dem Werk von Scholem Alejchem, eine Geschichte mit dem Titel „Die ewige Seligkeit“, steht irgendwo auf der Grenze zwischen dem Tragikomischen und dem Makabren und könnte fast als eine Art Totentanzszene beschrieben werden.11 Die Hauptfigur ist ein junger Mann, der von seiner Schwiegerfamilie lebt, „wie es Brauch war“, immer mit seinen Studien beschäftigt. Er muß in seine alte Heimatstadt fahren, um sich dort eine Freistellung vom Militär und einen Paß zu besorgen, und zu diesem Zweck mietet er einen Schlitten mit einem schweigsamen Bauern als Fahrer. Er bereitet sich auf die Reise vor – „Gebetsschal und Gebetsriemen, Küchlein, mit Butter gebacken, und drei Kissen: eins, darauf zu sitzen, eins, sich daran zu lehnen, und eins für die Füße“. So ausgerüstet bricht er gutgelaunt auf. Nachdem schon einige Zeit vegangen ist, beschließt er, an einem Landgasthaus halt zu machen. Hier nimmt die Geschichte eine abrupte Wendung. Eine Szene des Schreckens erwartet den jungen Mann. Eine Leiche liegt auf dem Boden, die Frau des Wirts, umringt von weinenden Kindern. Der Wirt ist verzweifelt. Wie kann er seine tote Frau zum Begräbnis in die Stadt fahren und die Kinder unbeaufsichtigt lassen? Der junge Mann (der Erzähler der Geschichte) erbarmt sich des ganz gebrochenen Mannes und bietet ihm an, den Leichnam auf seinem Schlitten mitzunehmen. Der Witwer ist unendlich dankbar.
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Er warf die Arme um mich und küßte mich fast. „Ach, langes Leben dir für diese gute Tat! Du wirst die ewige Seligkeit bekommen! So wahr ich Jude bin, die ewige Seligkeit!“
Man bricht wieder auf. Der Erzähler hat sich den Namen der Toten eingeprägt: Chawe Nechama, Tochter des Raphael Michael. Er wiederholt den Namen immer wieder, doch dabei vergißt er schließlich den Namen des Ehemannes. Es wird dunkler, ein Schneesturm setzt ein. Sie verlieren den Weg. Der Bauer flucht. Nach längerer Zeit kommen sie in ein Dorf. Alles schläft. Der Erzähler klopft an die Tür eines Wirtshauses, aber der Wirt weigert sich, die Ankömmlinge mit der Leiche einzulassen. Die Szene ist makaber: Der Erzähler verbringt die Nacht draußen im Schneesturm, zitternd vor Kälte, mit einem wütenden Bauern und einer Leiche zur Gesellschaft. Bei Tagesanbruch weist sie der Wirt zum Vorstand der Bestattungsbruderschaft. Wieder müssen sie in der Kälte warten, während diese frommen Herren ihre Gebete beenden. Endlich darf der Erzähler mit dem obersten Vorsteher reden, einem Reb Schepsel, der Bezahlung fordert. Der Erzähler bittet ihn, die Leiche ohne Geld zu übernehmen, er erwerbe sich so die ewige Seligkeit. Das führt zu einem zornigen Ausbruch: „So? Ihr seid ein junger Mann, der die ewige Seligkeit zu vergeben hat? Dann seht euch einmal unsere Stadt an und schaut zu, daß die Leute nicht Hungers sterben, dann habt Ihr euch die ewige Seligkeit erworben! Die ewige Seligkeit! Ein junger Mann, der mit der ewigen Seligkeit handelt! Geht mit eurer Ware zu den Faulen und den Gottlosen, die können sie brauchen.“
Andere Mitglieder des Vorstands der Bestattungsbruderschaft sind eher geneigt, zu helfen, und diskutieren nun mit Reb Schepsel – man zitiert die Schrift und führt juristische Argumente an, ob die Armen der eigenen Stadt unbedingt Vorrang vor den Bedürfnissen von Fremden haben müssen oder nicht. Endlich kommt man zu dem Ergebnis: Die Leiche wird übernommen, aber nur gegen Bezahlung und gegen ausreichende Papiere. Die Tote könnte ja schließlich die Frau des Erzählers selbst sein, die er ermordet hat. Dieser bietet desperat sein ganzes Geld, siebzig Rubel, nur damit die Bruderschaft die Leiche nimmt und er endlich weiterfahren kann. Man wird sich einig, und ein prächtiges Begräbnis findet statt. Im schtetl verbreitet sich das Gerücht, ein reicher Mann sei gekommen, seine Schwiegermutter zu beerdigen. Ein Schwarm von Bettlern heftet sich an seine Fersen. Das erregt die Aufmerksamkeit des lokalen Polizeiinspektors. Damit verschlimmert sich die Sache noch einmal. Als diese furchteinflößende Verkörperung zaristischer Autorität ihn zu verhören beginnt, rät ihm ein Vorstandmitglied der Bestattungsbruderschaft, lieber bei der Geschichte von der Schwiegermutter zu bleiben. Der Erzähler erfindet also verschiedene Namen, stockt aber, als er gefragt wird, woran die Frau gestorben ist.
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Er sagt, was ihm als erstes in den Kopf kommt – sie starb vor Schreck. Was für ein Schreck? fragt der Polizist. Ich dachte, da ich nun mit Lügen begonnen hatte, könnte ich geradesogut mit Lügen fortfahren, und erfand eine lange Geschichte, wie meine Schwiegermutter alleine dasaß und an einem Strumpf strickte und ganz vergessen hatte, daß ihr Sohn Ephraim noch im Zimmer war, ein großer Dreizehnjähriger bereits, aber ein ganz und gar dummes Kind. Der spielte mit seinem Schatten, er schlich zu ihr hin, schwenkte die Hände und warf einen Schatten wie eine Ziege an die Wand und schrie dann ganz laut: Määh! Da fiel die Schwiegermutter vor Schreck vom Stuhl und starb.
Diese Geschichte ist selbst für den gojische kop eines russischen Polizisten zuviel. Er erlaubt, daß man mit der Beerdigung fortfährt, aber den Erzähler setzt er fest, damit weitere Untersuchungen angestellt werden können. Nach einer Zeit im Gefängnis kommt er unter Mordverdacht vor Gericht. Durch das Zeugnis des verwitweten Wirts kommt er frei, und durch das seiner eigenen Schwiegerleute. Die sind wütend, vor allem seine Schwiegermutter: „Warum hast du mich denn bei lebendigem Leib begraben wollen?“ Der Erzähler schließt: „Seit dieser Zeit fliehe ich die ewige Seligkeit.“ Es ist nicht notwendig, das zu wiederholen, was oben über den jüdischen Humor gesagt worden ist. Er hat in Europa und Amerika verschiedene Formen angenommen, obwohl seine ganz besondere komische Eigenart sehr wahrscheinlich in der jiddischen Kultur Osteuropas entstanden ist. Der jüdische Humor dürfte quer durch alle Kategorien des Komischen nachweisbar sein, doch seine zentrale tragikomische Motivik bildet getreu die schlimmen Lebensbedingungen der Juden in Rußland und anderenorts in jenem Teil Europas ab. Er mag Lachen unter Tränen erweckt haben, aber es gab sicherlich genügend Grund zum Weinen. Doch gibt es, wie oben bemerkt, Grenzen für die Tragikomödie und ihren Trost. Es gibt Kummer, angesichts dessen keine Form des Lachens möglich ist, wo sogar die Sprache versagt. Es ist unmöglich, heute einen Autor wie Scholem Alejchem und seine Beschreibungen des ostjüdischen Lebens zu lesen, ohne an das Entsetzliche zu denken, das nicht lange danach die osteuropäische Judenheit verschlingen sollte. Ist nach diesem Schrecken noch irgendein Lachen möglich? Bezeichnet er nicht das Ende dieser speziellen komischen Empfindung? Es gehört zu den Triumphen des jüdischen Überlebens, daß die Antworten auf diese beiden Fragen offenbar lauten können: Ja; nein. In diesem Zusammenhang ist es interessant, das Werk von Isaac Bashevis Singer zu betrachten, der wohl der letzte jiddische Autor von größerer Bedeutung gewesen sein dürfte.12 Man sollte zwar vermerken, daß Singer selbst dieser Charakterisierung nicht zugestimmt hätte. Als man ihn einmal fragte, warum er fortfahre, in einer Sprache zu schreiben, die bald niemand mehr sprechen, geschweige denn lesen würde, gab er zur Antwort, daß am Tag der
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Auferstehung Zehntausende erwachen und sich sofort nach den Neuerscheinungen auf Jiddisch erkundigen würden. Singer (1904 – 1991) ist im russischen Polen geboren, und verbrachte die ersten Jahrzehnte seines Lebens in Warschau, wo sein Vater ein chassidischer Rabbi war, und in Bilgoroj, dem schtetl seiner Mutter. Er arbeitete als Hebräischlehrer, Übersetzer und Korrektor und begann in den zwanziger Jahren zu schreiben. Er war stark von seinem Bruder Israel Joschua beeinflußt, der ebenfalls ein vielgelesener Autor wurde. Isaac Bashevis Singer wurde durch seinen Roman Der Satan in Goraj weithin bekannt, der zuerst in Fortsetzungen in einer jiddischen Zeitung erschien und dann 1935 als Buch in Warschau. Während seiner ganzen Laufbahn hielt Singer daran fest, seine Werke zuerst in Fortsetzungsfolgen erscheinen zu lassen. 1935 folgte er seinem Bruder nach Amerika, wo er zuerst große Schwierigkeiten hatte, sich anzupassen. Eine Periode literarischer Inaktivität kam in den vierziger Jahren wieder an ihr Ende. Singers Werke wurden nun in der jiddischen Tageszeitung Vorwärts veröffentlicht. 1953 übersetzte Saul Bellow seine Erzählung „Gimpel der Narr“, die dann in der Partisan Review erschien. Damit war Singer zu einer wichtigen Figur der amerikanischen Literatur geworden; eine Übersetzung folgte der anderen. Der Nobelpreis 1978 war eine – bittersüße – Anerkennung nicht nur für diesen einen Autor, sondern für die ganze verschwundene Kultur, deren Stimme er geworden war. Er litt schließlich an der Alzheimerschen Krankheit und starb in Miami. Vergleicht man Singer mit Scholem Alejchem, ergeben sich eine Reihe von Unterschieden. Dazu gehören natürlich die amerikanischen und israelischen Schauplätze vieler seiner späteren Werke. Auch spielt die Sexualität eine starke Rolle (man könnte Singer, was diesen Teil seines Werkes angeht, als Updike mit Jarmulke bezeichnen) – ein Element, das bei Scholem Alejchem weitgehend fehlt. Es gibt eine offenere Rebellion gegen Gott. Vor allem aber zieht sich eine immer tiefere Düsternis zusammen – der alles überwältigende Schatten des Holocaust. Das spielt natürlich in den Werken die größte Rolle, unter deren Figuren Überlebende des Holocaust sind. Bemerkenswerterweise findet man aber selbst dort Ausbrüche von Tragikomik, die früherer jiddischer Literatur sehr stark ähneln. Tewjes Stimme klingt erstickter, doch ist sie nicht ganz verstummt. Der Roman Feinde. Eine Liebesgeschichte ist ein gutes Beispiel.13 Es ist die Geschichte eines gewissen Herman Broder und seiner Frauen, als da sind die Ehefrau Jadwiga (ein einstiges polnisches Bauernmädchen, das Dienstmagd war und ihm während der deutschen Besetzung das Leben gerettet hat, indem es ihn auf dem Heuboden versteckte); Mascha, eine weitere Überlebende, seine unruhige Geliebte; und schließlich Tamara, seine erste Frau und die Mutter seiner ermordeten Kinder – die Frau, die er für tot gehalten hatte und die nun plötzlich wieder auftaucht. Schon vor Tamaras Erscheinen ist Broders Leben eines hektischer
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Täuschungen. Er bewegt sich ständig quer durch New York, von Coney Island, wo er mit Jadwiga lebt, in die Bronx, wo Mascha mit ihrer Mutter wohnt, nach Manhattan, wo er für einen bekannten und im Grunde betrügerischen Rabbi arbeitet. Der Roman ist voll absurder Szenen. Broder lebt in einem Netz komplizierter Lügen. Er erzählt Jadwiga, daß er als Verlagsvertreter reisen muß und ruft sie von Maschas Wohnung aus an, als ob er von außerhalb der Stadt telephonieren würde. Seine Lügen brechen auf einer Party in Manhattan zusammen, wo seine Bigamie (wenn nicht Polygamie) offenkundig wird. Singer beschreibt die grotesk rührenden Schritte von Jadwigas Versuch, Jüdin zu werden. Es kommt zu einer surrealen Begegnung mit Maschas ehemaligem Mann. Oberflächlich betrachtet haben wir hier das Material einer großartigen Schlafzimmerfarce. Doch wird diese eingeholt von sich steigernden tragischen Geschehnissen – Maschas Mutter stirbt; Mascha (schwanger von Broder) begeht Selbstmord; auch Jadwiga ist schwanger (Broders Fruchtbarkeit ist in sich eine Absurdität) – Jadwiga, eine ahnungslos Unschuldige, gefangen in zwei gleichermaßen fremden Welten, der des Judentums und der Amerikas, in denen sie sich mit Mut und Würde zurechtzufinden versucht. Broder flüchtet vor all diesen amourösen Verwicklungen und verschwindet, so daß Jadwiga und Tamara allein zurückbleiben, um sein einziges überlebendes Kind aufzuziehen. Doch überschattet all diese Gegenwartstragödien die alles durchdringende Tragik des Holocaust, die dazu führt, daß verschiedene Figuren mehrmals Gott verwerfen. Trotzdem bleibt die Farce auch angesichts dieser düsteren Untertöne eben eine Farce, und der Roman läßt sich auch als ein trotziger Hinweis auf die eigene Geltung sexueller Leidenschaft lesen. Das Ende ist absurd und „gutmütig“: Tamara beschließt, zu Jadwiga zu ziehen und ihr mit dem Kind zu helfen. Es gibt ganz ähnliche Themen in dem posthum veröffentlichten Roman Meschugge.14 Hier haben wir wieder die Geschichte eines Überlebenden, Aaron Greidinger, der mit seiner Geliebten Miriam in einer ménage-à-trois zusammen mit dem alten Spekulanten Max Aberdam lebt. Wieder ist der Roman voller absurder Szenen, viele in einem sexuellen Kontext – die absurdeste jene, wo Miriams Ehemann mit einem Revolver bei dem Paar eindringt und sie zu einem langen Gespräch zwingt, währenddessen sie nackt bleiben. Wieder eine Schlafzimmerfarce mit tragischem Unterton. Doch mag eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Bruder Käfer“ Singers tragikomische Sicht am deutlichsten illustrieren.15 Sie spielt nicht in New York, sondern in Tel Aviv. Der Erzähler, fünfzig Jahre alt und auch er ein Überlebender des Holocaust, ist zum erstenmal in Israel, er wohnt sonst in Brooklyn. Er trifft alte Freunde und Bekannte aus Warschau und erledigt all das, was er sich vorgenommen hat. Aber „nach einer Woche, in der ich alles angeschaut hatte, was der Tourist im Heiligen Land gesehen haben muß, hatte ich
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von der Heiligkeit genug und fing an, mich nach einem unheiligen Abenteuer umzusehen.“ Er muß nicht weit suchen. In einem Café begegnet er Doscha, einer alten Geliebten aus Warschau. Beide fühlen sich wie einst zueinander hingezogen. Doscha beklagt sich über ihren gegenwärtigen Geliebten (sie hat auch einen Ehemann, den dritten, der in Paris lebt). Dieser Geliebte, ein Ingenieur, ist sehr emotional und ungeheuer eifersüchtig. Im Augenblick ist er glücklicherweise verreist. Nachdem sie zusammen zu Abend gegessen haben, gehen der Erzähler und Doscha zu Fuß zu ihr nach Hause. Das gibt Doscha Gelegenheit, sich über Israel zu beklagen, und der Erzähler kann ebenfalls einige sardonische Bemerkungen anbringen. Doscha: Dieses Klima macht mich krank. Die Männer hier werden impotent; die Frauen verzehren sich vor Leidenschaft. Wieso hat Gott gerade dieses Land für die Juden ausgesucht? Wenn der Chamsin einsetzt, klappert mir das Hirn im Kopf.
Hier haben wir eine hübsche israelische Version der jiddischen Frage, weshalb Gott von allen Völkern der Welt sich ausgerechnet die Juden ausgesucht hat. Und weshalb ausgerechnet dieses Land? Doschas Klage erinnert an den israelischen Witz, daß Gott, der guten Grund hatte, sich über die Juden zu ärgern, ihnen das einzige Land im Nahen Osten ohne Ölvorkommen gegeben hat. Und hier sind einige der Gedanken des Erzählers zur Stadtlandschaft von Tel Aviv: Wir gingen durch dämmrige Straßen, deren jede den Namen eines hebräischen Schriftstellers oder Gelehrten trug. Ich las die Aufschriften an den Modegeschäften. Die Kommission zur Modernisierung des Hebräischen hatte eine Terminologie für Büstenhalter, Nylons, Korsetts, Damenfrisuren und Kosmetik entwickelt. Sie hatte die Quellen dieser weltlichen Bezeichnungen in der Bibel, im Babylonischen Talmud, im Jerusalemer Talmud, im Midrasch und sogar dem Sohar aufgespürt.
Nun aber beginnt wieder ein Stück Schlafzimmerfarce. Im Verlauf des Abends muß der Erzähler auf die Toilette. Die ist, wie sich herausstellt, oben auf dem Dach des Hauses. Der Erzähler steigt hinauf, immer noch nackt (Singer scheint ein Faible dafür zu haben, seine Figuren in Situationen peinlicher Nacktheit hineinzumanövrieren). Die Toilette ist eine primitive Angelegenheit – kein Licht; statt Toilettenpapier hängen zerrissene Zeitungen an einem Haken. Dann sieht der Erzähler die Silhouette eines Mannes in Doschas Zimmer. Offensichtlich ist der verrückt eifersüchtige Liebhaber zurück! Der Erzähler sitzt auf dem Dach fest – nackt, frierend, im Gefühl totaler Lächerlichkeit. Ein großer Käfer krabbelt vorüber. Auch er scheint sich auf dem Dach verirrt zu haben.
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Ich hatte mich noch nie einer solchen krabbelnden Kreatur so nahe gefühlt wie in diesen Augenblicken. Ich teilte ihr Schicksal. Wir wußten beide nicht, wozu wir geboren waren und weshalb wir sterben mußten. „Bruder Käfer“, murmelte ich, „was will man denn von uns?“
Wollte Singer mit dieser „Bruder Käfer“-Formulierung auf das franziskanische Ethos anspielen? Ein jüdischer Franziskus von Assisi, der alle Geschöpfe der Welt als Brüder und Schwestern anspricht? Man fühlt sich auch an Scholem Alejchems Tewje erinnert, der mit seinem Pferdchen „Pferdisch“ redet. Jedenfalls hat der Erzähler kurz nach dem Erscheinen dieses philosophisch bedeutsamen Käfers ein quasi religiöses Erlebnis: Ich fühlte mich von einer Art religiöser Verzückung ergriffen. Ich stand auf dem Dach in einem Land, das Gott jener Hälfte seines Volkes zurückgegeben hatte, die nicht vernichtet worden war. Ich fand mich im unendlichen Raum stehen, zwischen Myriaden von Galaxien, zwischen zwei Ewigkeiten, von denen eine schon vergangen war und die andere sich noch ereignen würde. Oder vielleicht war gar nichts vergangen, und alles, was je war oder sein würde, war über das ganze Universum hinweg aufgerollt wie ein riesiges Pergament… Ich bat Gott um Vergebung.
Vergebung wofür? Das wird nicht klar gesagt. Doch ehe der Autor weitere mystische Ekstasen erleben kann, kommt Doscha aufs Dach. Sie bringt ihm seine Kleider und öffnet eine Falltür zum Treppenhaus. Der Erzähler zieht sich hastig an (Doschas Liebhaber mit seinem mörderischen Temperament könnte jeden Augenblick aufwachen). Er findet seinen amerikanischen Paß und sein Geld in den Taschen, er geht die Treppe hinunter. Als er einen älteren Mann auf Englisch fragt, wie er jetzt zu seinem Hotel kommt, erhält er nur die grobe Antwort: „Sprich Hebräisch!“ Er steht auf der Straße, wieder verirrt. Dann spürt er, wie sich etwas im Aufschlag seines Hosenbeins bewegt. Ein großer Käfer kriecht heraus und läuft rasch davon. War es der Käfer, den ich auf dem Dach gesehen hatte? Zwischen meinen Kleidern eingezwängt, hatte er sich nun befreien können. Wir hatten beide von den Mächten, die das Universum regieren, noch eine Chance bekommen.
9 Komik als Spiel des Intellekts: Jeux d’Esprit Wenn man eine Argumentation eine Zeitlang fortentwickelt, ergeben sich Einsichten, die zuerst sehr klar scheinen, von denen sich dann aber herausstellt, daß sie der Modifizierung bedürfen. Das gilt ganz besonders bei einem so flüchtigen, sich der präzisen Definition entziehenden Phänomen wie der Komik. Immer wieder findet man sich – sozusagen – an Bergsons Strand wieder und hat nur ein wenig Schaum in Händen. Und doch ist diese Übung nicht überflüssig. Es entzieht sich nicht alles völlig dem Zugriff. Einige Erkenntnisse bleiben einem, und sie sind überraschend substantiell. Und natürlich ist die Entdeckungsreise ein Vergnügen in sich, von allen Ergebnissen, die man am Ziel erwarten darf, ganz abgesehen. In einem früheren Abschnitt wurde darauf hingewiesen, daß Komik ein wichtiges kognitives Element enthält. Das heißt: Die komische Perspektive erschließt Realitätsaspekte, die über die Subjektivität der jeweiligen Person hinausreichen, welche diese Perspektive einnimmt. Und zwar enthüllt, genauer gesagt, die komische Perspektive Widersprüchlichkeiten, die von der „ernsten“ Haltung nicht wahrgenommen werden. Es ist allerdings wichtig, dem die weitere Feststellung hinzuzufügen, daß nicht alle Wahrnehmungen, die sich aus der komischen Haltung ergeben, gleichermaßen Gültigkeit besitzen. Das Lachen kann der Wahrheit einen Weg öffnen, doch gibt es auch Fälle, da dieser Weg eine trügerische Sackgasse ist. Der Intellekt ist stets bei der komischen Erfahrung beteiligt.Wenn man Witz – im Sinne von Esprit, von geistvoller Pointierung, von Witzigkeit (nicht im Sinne einer komischen Geschichte) – als intellektuell anspruchsvollen Humor versteht, dann ist ein Anteil von Witz an allen Erfahrungen des Komischen beteiligt. Er kommt natürlich bei besonders raffiniertem, intellektuellem Humor am deutlichsten zum Ausdruck, doch ist die Intelligenz durchaus auch bei ganz primitivem Humor beteiligt. Nehmen wir die folgende Witzgeschichte, die – man wird mir zustimmen – die Bezeichnung „primitiv“ durchaus verdient: Da war einmal ein Mann, der hatte einen Papagei, und der sagte immer unanständige Sachen. Als alle Versuche nichts nützten, dem Vogel das abzugewöhnen, da nahm der Mann den Papagei, steckte ihn in den Eisschrank und sagte zu ihm: „Da bleibst du drin, bis du gelernt hast, anständig zu reden.“ Nach einer Stunde macht der Mann den Eisschrank wieder auf. Der Papagei hockt zitternd in der Kälte. „Na“, sagt der Mann, „willst du in Zukunft reden, wie es sich gehört?“ „Ja, ja, ich verspreche es“, antwortet der Papagei. „Aber was hat denn das Huhn hier Schlimmes gemacht?“
Dieser Witz wurde zwei fünfjährigen Kindern erzählt. Das eine verstand ihn und lachte, das andere war nur verblüfft und verstand die Pointe nicht. Das erste Kind
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war das intelligentere und war insofern schon in der Lage, diese Form von Witzigkeit zu begreifen. Das Interesse wird sich in diesem Kapitel auf mehr oder weniger „reinen“ Witz richten – das heißt auf Witz als ein Spiel von Intellekt und Sprache, möglicherweise auch als spielerisches soziales Verhalten. In dieser Form verfolgt der Witz kein Interesse, das über ihn selbst hinausginge, er ist neutral, abgelöst von irgendwelchen konkreten Anliegen. Insofern läßt sich diese Form von Witz immer unterscheiden von der witzigen Satire, die stets einem bestimmten konkreten Motiv entspringt – ein Individuum, eine Gruppe oder eine Institution zu verletzen. In der Satire dient die Komik als Waffe, im interesselosen Witz als Spielzeug. Der Witz verwendet immer das Paradoxon und die Ironie. Er fügt paradox solche Elemente der Wirklichkeit zusammen, die in der „ernsten“ Auffassung als separat gelten. Er verbirgt seine Intentionen ironisch – sagt etwas und meint damit etwas anderes. Paradox und Ironie müssen nicht notwendigerweise komisch sein, doch sind sie unvermeidlich an der Erfahrung des Komischen beteiligt, um so mehr in dem Maße, in dem diese Erfahrung sich intellektualisiert.1 Freud hat, wie erwähnt, zu Recht die große Bedeutung des knappen Ausdrucks beim Witz hervorgehoben. Der effektivste Witz gebraucht sparsamste Mittel, um eine große Wirkung hervorzurufen. Witz ist scharf, prägnant, pointiert, lakonisch – alle diese Bezeichnungen beziehen sich auf die ökonomische Konstruktion seines Ausdrucks. Das gilt für das beiläufigste Bonmot, für guterzählte Witzgeschichten und besonders für den Aphorismus – eine knappe Formulierung mit dem Anspruch, eine überraschende Einsicht zu enthalten. Bonmots, im Sinne witziger Bemerkungen in alltäglicher Unterhaltung, sind die häufigsten Ausdrucksformen des Witzes. Es hat Virtuosen dieser Form gegeben, die zum Teil weit über ihre Epoche hinaus berühmt geblieben sind, beispielsweise Samuel Johnson oder Winston Churchill. (Zum letzteren Fall muß man sagen: Wenn Churchill alle die ihm zugeschriebenen witzigen Formulierungen tatsächlich geprägt hätte, dann wäre ihm kaum Zeit für irgendeine andere Tätigkeit geblieben.) Doch weniger ehrfurchterregende Vertreter dieser Kunstfertigkeit lassen sich in fast jedem Bekanntenkreis finden. Je nach dem Maße von Bosheit, das ihrem Witz beigefügt ist, werden sie entweder mit Vorliebe eingeladen, weil man sich gute Unterhaltung verspricht, oder sie werden gemieden, weil sie eine Bedrohung jeder gesellschaftlichen Gemütlichkeit darstellen. Der witzige Kopf ist also je nachdem für die Gastgeberin, die ein Abendessen plant, eine Kostbarkeit oder ein Alptraum. Der Witz – hier nun wieder als witzige Geschichte verstanden – ist eine der häufigsten Ausdrucksformen des Esprit, jener Witzigkeit, mit der wir es hier zu tun haben – zumindest in den westlichen Kulturen.2 Witze lassen sich als sehr kurze Erzählungen mit einer komisch verblüffenden Schlußaussage definieren. Im Englischen deutet der Ausdruck punch line für die Pointe drastisch den Hieb, das
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rasche Zuschlagen dieser komischen Strategie an, während auch das Wort „Pointe“ ja die zustoßende Spitze (eines Dolches?) bezeichnet. Knappheit ist hier entscheidend. Gewiß begegnen wir in Witzen einer kognitiven Intention: Die Pointe erhebt den Anspruch, eine Einsicht zu vermitteln. Ist diese Einsicht notwendigerweise eine gültige? Offensichtlich nicht. Man muß nur an die zahllosen Witze auf Kosten der einen oder anderen Ethnie, Rasse oder Religion denken, die jenen Gruppen ganz offensichtlich falsche oder irreführende Eigenschaften zuschreiben. Schlicht gesagt: Es ist ebenso möglich, witzig eine Lüge zu erzählen wie die Wahrheit durch Witz zu enthüllen. Das Vermögen einer Aussage, eine komische Wirkung zu erzielen, kann die Frage nach ihrer Gültigkeit nicht entscheiden. Nach dieser Mahnung zur Vorsicht kann trotzdem festgehalten werden, daß Witze oft eine komplexe Situation auf wunderbar präzise Art knapp zusammenfassen können – sie vereinfachen und erhellen etwas und haben eindeutig Erkenntniswert. Diese Erkenntnisfunktion läßt sich gut erläutern, indem man die Witze betrachtet, welche die Angehörigen einer Gruppe über sich selbst erzählen. Darauf sind wir oben schon am Beispiel des jüdischen Humors eingegangen. Die folgenden Witze bieten weitere Exempel aus verschiedenen Teilen der Welt. Zur berühmten „stiff upper lip“, dem ungerührten Stoizismus der Engländer: In den Zeiten des britischen Herrschaft in Indien wird ein Spähtrupp der englischen Armee von wilden Stammeskriegern an der Nordwestgrenze überfallen. Ein junger Offizier liegt verwundet am Boden; aus seiner Brust ragt ein langer Speer. Als man ihn auf eine Bahre hebt, beugt sich einer der Träger über ihn: „Tut es weh, Herr Lieutenant?“ – „Nur wenn ich lache.“
Zur tragischen Widersprüchlichkeit der afroamerikanischen Existenz. Ein Schwarzer ruft zu Gott: „Herr, warum hab ich schwarze Haut?“ „Das ist wegen der heißen Sonne in Afrika. Mit deiner dunklen Haut bekommst du keinen Sonnenbrand. Die Weißen mit ihrer hellen Haut leiden ständig darunter.“ „Herr, warum hab ich so lange Beine?“ „In Afrika im Urwald kannst du mit deinen langen Beinen den wilden Tieren entkommen. Der Weiße mit seinen kurzen Stummelbeinen wird gefangen und gefressen.“ „Herr, warum hab ich krauses Haar?“ „Das hat denselben Grund. Wenn dich die wilden Tiere in Afrika verfolgen, kannst du entkommen. Der weiße Mann mit seinem langen glatten Haar bleibt an den Zweigen hängen und wird aufgefressen.“ „Herr, was mach ich hier in Cleveland?“
Zu den Empfindungen der Quebécois auf ihrer französischen Sprachinsel im Meer der Englischsprachigkeit: Ein kleines Mädchen aus einem Dorf in Québec ist im Wald Pilze sammeln gegangen. Da begegnet ihr die Mutter Gottes. Das kleine Mädchen fällt auf die Knie und sagt: „Ah,vous êtes
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Notre Dame! Vous êtes si belle. Vous êtes magnifique. Je vous adore. Je vous aime.“ Die Madonna sagt: „I’m sorry. I don’t speak French.“
Zur Sehnsucht der Schweizer nach einer ordentlichen Welt: Um Mitternacht klingelt in einer Apotheke in Chur das Telephon. Eine Männerstimme fragt: „Ist dort die Apotheke Amann?“ „Ja, Apotheker Amann am Apparat.“ „Haben Sie Schnuller?“ „Jawohl.“ „Rote Schnuller? “Ja. „Gut, dann nehmen Sie einen von Ihren Schnullern und stecken Sie ihn sich in den Hintern!“ Am nächsten Tag um acht Uhr in der Früh klingelt es wieder. Eine andere Männerstimme fragt: „Ist dort die Apotheke Amann?“ „Ja, Apotheker Amann am Apparat.“ „Hier spricht die Kantonspolizei! Haben Sie gestern nacht einen Anruf erhalten, ob Sie rote Schnuller führen?“ „Jawohl.“ „Und hat man Ihnen dann gesagt, Sie sollten sich einen von Ihren roten Schnullern in den Hintern stecken?“ „Ja“. „Sie können ihn wieder herausnehmen. Wir haben festgestellt, daß es sich hier um einen dummen Streich handelt.“
Zum Ärger der Katalanen über ihre Lage in Spanien: Im Abteil eines Zuges, der aus Barcelona kommt, sitzen vier Leute: eine ältere Katalanin mit einer hübschen Tochter, ein mit den beiden nicht bekannter Katalane und ein Spanier. Während der Zug durch einen Tunnel fährt, ist das Abteil einige Augenblicke völlig dunkel. Dann hört man ein lautes Klatschen. Was denken die Passagiere anschließend? Die Frau: Nun, ich habe meine Tochter gut erzogen, sie weiß ihre Ehre zu verteidigen. Die Tochter: Schade – da ist einer aus Versehen an meine Mutter geraten. Der Spanier: Diese katalanischen Frauen sind verrückt, man schaut sie nur an, schon schlagen sie auf einen ein. Der Katalane: Noch vier Tunnel bis Madrid!
In noch stärkerem Maße als der Witz bildet der Aphorismus eine sehr knappe Formulierung einer bestimmten – zumindest vorgeblichen – Erkenntnis. Oscar Wilde und H. L. Mencken sind die Meister dieser Technik in der englischen beziehungsweise der amerikanischen Literatur. Wildes berühmter Roman Das Bildnis des Dorian Gray beginnt mit einem Vorwort, das aus einer Reihe von Aphorismen besteht.3 Hier sind zwei davon:
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Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht. Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der nicht sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht. Wir können einem Mann verzeihen, daß er etwas Nützliches erschafft, wenn er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung dafür, etwas Nutzloses zu schaffen, ist die, daß man es zutiefst bewundert. Alle Kunst ist ganz und gar nutzlos.
Wildes Stücke sind voller witziger Formulierungen, viele davon in aphoristischer Form, andere so ausgedrückt, daß sie sich leicht in einen Aphorismus verwandeln ließen. Ich zitiere ein paar Äußerungen von Figuren in „Lady Windermeres Fächer“, einem der bekanntesten Stücke Wildes.4 Die Herzogin von Berwick, eine der beeindruckend-beängstigenden alten Damen der Upperclass, an denen die moderne englische Literatur so reich ist (Wodehouse hat ein ganzes Regiment davon erschaffen): Ich fürchte, meine Liebe, es ist die alte, alte Geschichte. Liebe – nun, nicht auf den ersten Blick, aber Liebe am Ende der Ballsaison, was so viel befriedigender ist.
Mrs. Erlynne nimmt den Heiratsantrag von Lord Augustus, dem Bruder der Herzogin, an: Lord Augustus hat sehr viele gute Eigenschaften. Glücklicherweise rein oberflächlich. Genau dort, wo alles Gute hingehört.
Die beiden Dandys Graham und Dumby, die das ganze Stück hindurch ihre witzigen Bemerkungen machen: Graham: „Klatsch ist reizend. Die Weltgeschichte besteht nur aus Klatsch. Aber ein Skandal ist bloß Klatsch, der durch Moral langweilig geworden ist. Ich moralisiere niemals. Ein Mann, der das tut, ist gewöhnlich ein Heuchler, und eine Frau, die es tut, ist unweigerlich unansehnlich. Nichts auf der Welt steht einer Frau so schlecht wie ein evangelisches Gewissen.“ Dumby, etwas später: „Wie die Ehe einen Mann ruiniert! Sie ist so schädlich wie das Rauchen und sehr viel kostspieliger.“
Die folgenden Formulierungen stammen von Mencken5: Das Gewissen ist die innere Stimme, die uns mahnt, daß uns jemand beobachten könnte. Alimente: das Lösegeld, das die Glücklichen dem Teufel zahlen. Der Ehebruch ist die Anwendung demokratischer Prinzipien auf die Liebe. Puritanismus: Die nagende Angst, daß irgendwo irgendwer glücklich sein könnte. Um zu glauben, Rußland habe die Übel des Kapitalismus überwunden, bedarf es eines besonderen Gehirns – eines, das auch glauben kann, eine sich in Ekstase wälzende HallelujaGemeinde habe die Sünde überwunden.
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Die Leser dieser Formulierungen werden sich wohl einig sein, daß sie witzig sind. Zweifellos werden sie aber sehr verschiedener Meinung sein, wenn es darum geht, ob die Pointen dieser aphoristischen Bemerkungen wahr sind, ob sie richtige Einsichten zu unserer Wirklichkeit enthalten – ob sie witzige Wahrheiten oder witzige Lügen sind. Am Beispiel der beiden erwähnten Autoren läßt sich das Wesen des „reinen“, interesselosen Witzes untersuchen. Trotz großer Unterschiede in Temperament, Stil und natürlich im historischen Inhalt gibt es signifikante Übereinstimmungen zwischen beiden. Beide nahmen eine antagonistische Haltung gegenüber ihrer eigenen Gesellschaft ein (oder vielleicht, genauer gesagt, gegenüber dem, was sie als Gesellschaft wahrnahmen). Witzige Distanziertheit war ein zentrales Element dieser Haltung – in Wildes Fall die Persona des Dandy, zu deren Legitimierung eine einigermaßen nebulöse Philosophie des Ästhetizimus herhalten mußte; im Falle Menckens die Persona des unerbittlichen Skeptikers, eines Außenseiters im bourgeoisen Amerika (er gebrauchte die Bezeichnung „Tory“ für seinen Dissens mit der amerikanischen Demokratie), legitimiert durch die dubiose Berufung auf das Philosophieren von Nietzsche. Im Werk beider Autoren finden sich stark satirische Färbungen, aber die eigentliche Satire fehlt – die moralische Leidenschaft, die einen satirischen Angriff begründen könnte.Wilde und Mencken setzten beide ihren Stolz darein, daß ihnen jedes Gefühl moralischer Empörung abging; beide verachteten Moralisten jeder Couleur. Die Frage, ob sie – beide oder einer von ihnen – als moralische Nihilisten eingestuft werden können, führt über den Rahmen unserer Untersuchung hinaus. Doch das Fehlen einer moralischen Argumentation macht Wilde und Mencken zu angemessenen Beispielen des desinteressierten Witzes, des Komischen als eines reinen Spiels des Intellekts.6 Oscar Wilde (1854 – 1900) hat vielleicht mehr als irgendjemand sonst in der modernen englischen Literatur die Kultivierung des Witzes um des Witzes willen verkörpert. In dieser Hinsicht herrscht große Übereinstimmung zwischen seinem Werk und seinem Leben.7 Er stammte aus einer protestantischen Familie der irischen Mittelschicht und wurde in London zu einer literarischen Berühmtheit. Sein Ruhm verbreitete sich bis nach Amerika, das er dann auf einer ungeheuer publikumswirksamen Vortragsreise besuchte. Seine Schriften – Essays, Erzählungen, ein Roman und vor allem Theaterstücke – waren elegante, bewußte Herausforderungen aller Werte der viktorianischen Gesellschaft, und sein Leben war dies ebenfalls. Tatsächlich ist es zunächst ein Beweis für die beträchtliche Toleranz dieser Gesellschaft, daß sie diese Provokationen nicht nur ertrug, sondern ihren Autor feierte und reich belohnte. Sein tragischer Sturz hing weniger mit seiner Homosexualität zusammen, welche das viktorianische England bei diskreter Ausübung ebenfalls toleriert hätte, als mit der Tollkühnheit, mit welcher er das Thema öffentlich machte, indem er den Marquess of Queensbury wegen
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Verleumdung verklagte – den Vater seines Liebhabers Lord Alfred Douglas. Der Marquess hatte ihn öffentlich als „Sodomiten“ bezeichnet, und als Wilde einen Prozeß gegen ihn anstrengte, mußte die unaufhaltsame Maschinerie der britischen Justiz in Aktion treten, was den Nachweis ergab, daß diese Bezichtigung nur allzu genau zutraf. Die Anklage gegen Wilde und seine Verurteilung folgten automatisch, den Gesetzen der Zeit entsprechend. Wilde kam ins Gefängnis, zunächst unter barbarischen Bedingungen, und nach seiner Entlassung ging er ins Ausland und kehrte nie wieder nach England zurück. Abgesehen von der außerordentlichen „Ballade vom Zuchthaus zu Reading“, einem cri de cœur gegen die Brutalität des Gefängnisses und der Todesstrafe, gelang es Wilde nach seiner Haft nicht mehr, etwas von besonderer Bedeutung zu schreiben. Er starb in Frankreich, krank und gebrochen, in äußerster Armut. Der Fall Wilde ist zum klassischen Beispiel der Verfolgung von Homosexualität in westlichen Gesellschaften geworden, mit Recht. Das gehört jedoch nicht zu unserer Untersuchung, und ebensowenig die ein wenig puerile Philosophie des Ästhetizismus, die Wilde in Aufsätzen und Vorträgen als revolutionäre Weltanschauung vortrug. Hier muß es um den besonderen Charakter seines Witzes gehen, wie er sich am deutlichsten in seinen Stücken ausdrückt. Ein Kritiker hat das Wesentliche hier folgendermaßen zusammengefaßt: Weder die Charakterisierung der Figuren noch die Handlungskonstruktion geben den Komödien Wildes ihr einzigartiges Gepräge, das sich vor allem der Sprache und dem Dialog verdankt… Diese Beobachtung gilt vor allem für die Konversation der Dandys. Anstatt Ideen mitzuteilen, indem sie einen Standpunkt vertreten, Meinungen austauschen oder Probleme diskutieren, formulieren sie um der Formulierung willen. Ihr Widerwille, sich auf irgendeinen Inhalt festlegen zu lassen, ist Ergebnis wie Beweis ihres Gebrauchs der Sprache als eines intellektuellen Spiels.8
Die Figuren der Stücke sind flach, die Handlung ist völlig unglaubwürdig. Die luftige Unwahrscheinlichkeit dieser Produktionen erinnert an die bewußtloseste Wiener Operette. Doch wo diese durch die Musik gerettet wird, werden Wildes Stücke durch den funkelnden Dialog gerechtfertigt, vor allem durch die Konversation eines allgegenwärtigen Schwarms von Dandys. Die zeitgenössische Kritik war verärgert und fasziniert. Shaw hat die kritische Reaktion auf die Premiere eines Stücks von Wilde in London so beschrieben: Sie lachen ärgerlich über die Aphorismen, wie ein Kind, das man in eben dem Augenblick, da es vor Wut und Pein losbrüllen möchte, amüsiert und besänftigt.9
Wilde selbst hat sein Credo als Dramatiker so formuliert:
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Kein Künstler will irgendetwas beweisen… Kein Künstler hat ethische Sympathien… Alle Kunst ist gänzlich nutzlos.10
Will man Wildes Witz am Werke sehen, wirft man am besten einen Blick in sein erfolgreichstes Stück, das noch immer überall auf den englischsprachigen Bühnen aufgeführt wird: The Importance of Being Earnest, auf deutsch meist unter dem Titel Bunbury gegeben.11 Das Stück erlebte seine Uraufführung im Februar 1895 im St. James’s Theatre und feierte sofort Triumphe. Wenige Wochen danach begann Wildes katastrophales Justizduell mit dem Marquess of Queensbury (den man daran hindern mußte, bei der Premiere ins Theater zu kommen und eine Szene zu machen). Der Titel des Stücks war ironisch: Das Letzte, was hier oder in einem anderen Theaterstück Wildes zählte, war der Ernst, die earnestness. Tatsächlich handelt es sich um ein Wortspiel, das sich auf den Namen Ernest und dessen Rolle im Stück bezieht. Ein Kritiker schrieb, eine ernsthafte Besprechung des Stückes wäre wie die Analyse der Bestandteile eines Soufflés nach dem Abendessen. Die Handlung ist gleichzeitig sehr komplex und höchst trivial. Sie dreht sich um die amourösen Unternehmungen von zwei törichten jungen Dandys, Jack Worthing und Algernon Moncrieff, die sich um zwei ebenso leichtfertige junge Damen bemühen, welche es sich in den Kopf gesetzt haben, nur einen Mann namens Ernest zu heiraten. Es würde wenig bringen, die Handlung im einzelnen zu verfolgen.Wie immer bei Wilde liegt alles im Dialog – c’est le ton qui fait la musique. Einige Beispiele müssen ausreichen; das folgende ist ein Wortwechsel zwischen Algernon und seinem Diener Lane aus dem Anfang des ersten Aktes: Algernon: Warum trinkt in einem Junggesellenhaushalt unweigerlich die Dienerschaft den Champagner? Ich frage lediglich zum Zweck der Information. Lane: Ich führe es auf die überlegene Qualität des Weines zurück, Sir. Ich habe oft beobachtet, daß in ehelichen Haushaltungen der Champagner selten ein erstklassiges Produkt ist. Algernon: Liebe Zeit! Wirkt die Ehe derart demoralisierend? Lane: Ich glaube, sie ist eine durchaus angenehme Lebensform, Sir. Ich selbst habe damit bisher nur geringe Erfahrungen. Ich war nur einmal verheiratet. Das ergab sich aus einem Mißverständnis zwischen mir und einer jungen Frauensperson. Algernon: Ich glaube nicht, daß mich Ihr Familienleben sehr interessiert, Lane. Lane: Nein, Sir, es ist kein sehr interessantes Thema. Ich denke selbst nie daran.
Als Lane nach dieser Unterhaltung abgeht (bei der Herr und Diener also darin übereinstimmen, daß die Qualität des Champagners ein angemessener Maßstab für die Bewertung der Ehe als Institution ist), bemerkt Algernon bei sich:
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Lanes Ansichten über die Ehe kann man kaum als sehr strikt bezeichnen. Also wirklich – wenn die Unterklasse uns kein gutes Beispiel gibt, wozu ist sie dann eigentlich da? Ihre Angehörigen scheinen nicht den geringsten Sinn für moralische Verantwortung zu haben.
Etwas später erklärt sich Algernon noch einmal zum Ehestand. Er erläutert Jack, weshalb er nicht bei seiner Tante Augusta dinieren möchte: Ich weiß genau, neben wen sie mich heute abend setzen wird. Sie wird mich neben Mary Farquahar setzen, die stets quer über den Tisch mit dem eigenen Ehemann flirtet. Das ist sehr unangenehm. Eigentlich ist es unanständig… und so etwas nimmt mehr und mehr überhand. Die Zahl der Frauen in London, die mit den eigenen Männern flirten, ist einfach skandalös. Das macht einen so schlechten Eindruck. Man wäscht nicht seine saubere Wäsche in aller Öffentlichkeit.
Algernon hat einen kränklichen Freund erfunden, den er Bunbury nennt – immer, wenn Algernon sich irgendeiner Verabredung entziehen möchte, muß er angeblich ans Krankenbett von Bunbury eilen. Hier kommentiert Lady Bracknell, eine von Wildes imposanten älteren Aristokratinnen, einen Rückfall Bunburys: Ich möchte meinen, es wäre wirklich an der Zeit, daß sich dieser Mr. Bunbury einmal entscheidet, ob er leben oder sterben will. Das Hin und Her ist lächerlich. Und ich billige keineswegs diese moderne Sympathie für kränkelnde Personen. Krankheit ist wohl kaum etwas, worin man andere Leute ermutigen sollte. Gesundheit ist die erste Lebenspflicht. Das sage ich immer deinem armen Onkel, aber er scheint es nie wirklich zu beachten… was eine Besserung seines Zustands anginge. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du Mr. Bunbury von mir ausrichten würdest, sein Zustand solle sich gefälligst am Samstag nicht wieder verschlechtern, weil ich mich ganz darauf verlasse, daß du dich da um die Musik kümmerst.
Zu den prägnanten Bemerkungen von Lady Bracknell über das Leben gehören ihre Äußerungen während des Verhörs von Jack Worthing, als sich dieser als Bewerber um die Hand ihrer Tochter Gwendolyn herausstellt. Als er zugibt, daß er raucht: Es freut mich, das zu hören. Ein Mann sollte immer irgendeine Beschäftigung haben. Es gibt schon viel zu viele Müßiggänger in London.
Sie vertritt dann die Ansicht, ein Mann solle entweder alles wissen oder nichts.Wie ist es bei Jack? Nach kurzem Zögern gibt er zu, er wisse nichts. Lady Bracknell: Es freut mich, das zu hören. Ich schätze es nicht, wenn die natürliche Ignoranz irgendwie verdorben wird. Ignoranz ist wie eine zarte exotische Frucht: eine Berührung, und der Schimmer ist dahin. Die ganze Theorie moderner Erziehung ist von Grund auf verkehrt. Glücklicherweise hinterläßt zumindest in England die Erziehung nie irgendwelche Spuren.
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Auch alle anderen Antworten Jacks sind ebenso zufriedenstellend – auf die Fragen nach seinem Einkommen, seinem Besitz in London und auf dem Lande, seinen politischen Sympathien. Dann aber fragt Lady Bracknell nach seinen Eltern. Er räumt ein, daß er sie verloren hat („Beide?… Das zeugt doch wohl von einer gewissen Nachlässigkeit“); genauer: daß sie ihn verloren haben. Er ist von dem verstorbenen Thomas Cardew aufgezogen worden, einem Herrn, der ihm den Namen Worthing gab, weil das Kind Jack in einer ledernen Reisetasche an der Victoria Station gefunden wurde, als Cardew auf der Reise nach Worthing war. Lady Bracknell: Ich muß gestehen, daß es mich einigermaßen erstaunt, was Sie mir da erzählen. In einer Reisetasche geboren oder zumindest aufgewachsen zu sein, ob diese nun Griffe hatte oder nicht, das scheint mir eine Verachtung für ein geregeltes Familienleben an den Tag zu legen, die an die schlimmsten Exzesse der Französischen Revolution erinnert, und wozu dieses unglückselige Unternehmen geführt hat, das dürfte Ihnen ja wohl bekannt sein.
Unter diesen Umständen kann sie ihrer Tochter, „einem mit äußerster Sorgfalt erzogenen Mädchen“, nicht erlauben, „in einen Wartesaal einzuheiraten und eine Verbindung mit einem Gepäckstück einzugehen“. Algernon, der sich als Jacks Bruder Ernest ausgibt (wie Bunbury eine erfundene Figur), erscheint bei Cecily, dem Mündel Jacks. Dieser hat stets erzählt, daß sein Bruder ein höchst dissoluter Charakter sei, so daß Cecily sagt, als „Ernests“ Ankunft gemeldet wird: Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der wirklich böse ist. Ich habe doch recht Angst. Ich fürchte mich so davor, daß er aussehen könnte wie alle anderen Leute.
Als sie Algernon als „meinen bösen Vetter Ernest“ begrüßt, beteuert er, eigentlich sei er gar nicht böse, was Cecily erwidern läßt: Wenn nicht, dann haben Sie uns wirklich alle auf das Schändlichste hintergangen. Ich hoffe doch sehr, Sie haben kein Doppelleben geführt und so getan, als seien Sie böse, um gleichzeitig die ganze Zeit in Wirklichkeit gut zu sein. Das wäre Heuchelei.
Als Algernon später die Täuschung eingestehen muß, fragt Cecily, warum er das getan hat. Er antwortet wahrheitsgemäß, daß er sie kennenlernen wollte. Gwendolyn (die junge Dame, um die sich Jack bemüht) fragt sie, ob sie diese Erklärung glaubt. Cecily: Nein. Aber das nimmt seiner Antwort nichts von ihrer wunderbaren Schönheit. Gwendolyn: Das ist wahr. In wichtigen Angelegenheiten ist Stil und nicht Aufrichtigkeit das wirklich Entscheidende.
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Vielleicht rundet sich das Bild mit ein paar Lady-Bracknell-Zitaten hinreichend. Kurz vor der Klimax, bei der sich herausstellt, daß Cecilys Gouvernante Miss Prism diejenige ist, die vor langer Zeit den kleinen Jack in der Victoria Station verloren hat, fragt Lady Bracknell den Ortsgeistlichen, Reverend Chasuble, nach Miss Prism: Lady Bracknell: Ist diese Miss Prism ein weibliches Wesen von abstoßendem Äußeren, das in irgendeiner entfernten Beziehung zur Pädagogik steht? Chasuble: Sie ist eine hochgebildete Dame, ein Bild der Ehrbarkeit. Lady Bracknell: Es handelt sich offensichtlich um dieselbe Person.
Als es immer klarer wird, daß Jack der Sohn von Lady Bracknells Schwester ist, der unter den beschriebenen Umständen einst verlorenging, will er nun seinen Namen wissen. Lady Bracknell nimmt an, daß er nach seinem Vater genannt worden ist, dem General, doch dessen Name fällt ihr augenblicklich nicht ein: Ich kann mich im Moment nicht an den Vornamen des Generals erinnern. Aber er hatte einen, da bin ich sicher. Zwar war er exzentrisch, das gebe ich zu. Aber erst in seinen letzten Lebensjahren. Und das war dann die Folge des indischen Klimas und der Ehe und der Magenbeschwerden und anderer Dinge in dieser Art.
Ein Militärhandbuch wird konsultiert, und siehe: Der Name des Generals war Ernest John – Ernest „Jack“. Das beseitigt natürlich das letzte Hindernis einer Ehe mit Gwendolyn – Cecilys Sehnsucht nach einem Mann mit Namen Ernest bleibt am Schluß des Stückes allerdings unbefriedigt. Jack Worthing heißt eigentlich Ernest. Jack:
Gwendolyn, es ist schrecklich, wenn ein Mann entdecken muß, daß er sein ganzes Leben lang die Wahrheit gesagt hat. Kannst du mir verzeihen? Gwendolyn: Ich kann. Denn ich bin mir gewiß: Du wirst dich ändern.
In der Tat ein Theatersoufflé!12 Bei H. L. Mencken (1880 – 1956) scheint auf den ersten Blick der Fall ganz anders zu liegen als bei Wilde.13 Doch war, wie schon behauptet, ihre komische Haltung (wenn man es so formulieren darf) recht ähnlich – in ihrer Distanz zu der Gesellschaft,welche Zielscheibe ihres Witzes war, in ihrer Freiheit von moralischer Leidenschaft und nicht zuletzt in einer gewissen Bösartigkeit. Menckens literarische Produktion war weit größer als die Wildes, was damit zusammenhängt, daß er vor allem als Journalist arbeitete und mehr kreative Lebensjahre zur Verfügung hatte. Er schrieb nicht fürs Theater, verfaßte aber journalistische Arbeiten, Aufsätze und Rezensionen, die viele Bände füllten, sowie Bücher über diverse Themen von einer Abhandlung zum Wesen des religiösen Glaubens bis zu seinem
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wiederholt überarbeiteten Meisterwerk The American Language. Er war auch ein unermüdlicher Korrespondent und Tagebuchschreiber und legte testamentarisch fest, daß seine Briefe und Tagebücher nach seinem Tode mit sorgfältig gestaffelten Erscheinungsdaten veröffentlicht wurden – mit der Wirkung einer genau kalkulierten Serie von Giftkapseln. Jüngst veröffentlichtes Tagebuchmaterial hat eine Diskussion ausgelöst, ob Mencken wirklich ein derartiger Antisemit war, wie es diese Eintragungen nahelegen, doch war der Katalog seiner Antipathien ökumenisch umfassend. Er notierte böse Bemerkungen nicht nur über die Juden, sondern über jede andere ethnische Gruppe in Amerika (mit der möglichen Ausnahme der Deutschstämmigen, zu denen er gehörte). Er hatte nichts als Verachtung für den Süden (nur dessen sogenannte Aristokratie ausgenommen) und den Mittleren Westen, und er haßte alle amerikanischen Städte außer Baltimore (seiner Heimatstadt) und San Francisco. Er verabscheute England. Er kultivierte das Image eines Mannes, der philosophisch gesehen ein Skeptiker und politisch ein radikal Unabhängiger war. Mit den Worten eines Biographen: Mencken spielte – wenn er auch im Privatleben einem recht exklusiv auf Familie und enge Freunde beschränkten Ehrenkodex folgte – die „Rolle eines öffentlichen Immoralisten, der die Heiligtümer Amerikas systematisch mit faulen Eiern bewarf“.14 Mit seinen eigenen Worten: Nachdem ich mein ganzes Leben in einem Land verbracht habe, das von Messiassen wimmelt, bin ich nun selbst irrtümlicher-, wenn auch vielleicht verständlicherweise für einen gehalten worden,vor allem von jenen anderen. Etwas Lächerlicheres ist kaum vorstellbar. Ich bin tatsächlich ganz und gar der Anti-Messias, und ich verabscheue Konvertiten fast so sehr wie Missionare. Meine Schriften, so wie sie nun einmal vorliegen, haben nur einen einzigen ausschließlichen Zweck gehabt: für H. L. Mencken jenes Gefühl nachlassender Spannung und vollzogener Funktion herbeizuführen, das eine Kuh genießt, wenn sie Milch gibt. Darüber hinaus habe ich an der Angelegenheit nicht das geringste Interesse.15
Das Studium von Menckens Werk gibt dem Leser keinen Grund, diese Selbsteinschätzung in Zweifel zu ziehen. Während Wildes Witz sich vorwiegend in den Dialogen seiner erfundenen Figuren verkörpert, war Mencken am besten in Beschreibungen, ob nun von einzelnen Personen, Gruppen oder komplizierteren Situationen. Der folgende Auszug stammt aus einer Buchbesprechung. Dr. Henrik Willem van Loon schildert in seinem klugen und unterhaltenden Geschichtswerk Der Fall der holländischen Republik mehr als einmal (manchmal, ach ja, mit einem kaum verhehlten Naserümpfen) den hervorstechenden Zug seiner holländischen Landsleute. Es handelt sich dabei um eine anomale Fähigkeit, die Achtbarkeit zu achten. Ihr Ideal, so stellt sich heraus, ist nicht der flotte Militär, der dem Ruhme hinterher mutig durchs Feuer galoppiert, nicht der erhabene und unfaßliche Künstler, schönheitstrunken. Nein, der Mann,
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den sie am meisten bewundern, ist der tugendhafte Bürger und Haushaltsvorstand, politisch und theologisch solide, glücklich frei von allen orgiastischen Neigungen und mit Geld auf der Bank. Mit anderen Worten, das Ideal Hollands ist das Ideal von Kansas… Man denkt an diese Parallele, wenn man The Americanization of Edward Bok liest, die Autobiographie des einstigen Herausgebers von The Ladies’ Home Journal. Edward ist in Holland geboren, und seine Eltern brachten ihn erst nach Amerika, als er schon lange Hosen trug. Aber er war noch kein Jahr hier, als er schon ein absolut typischer amerikanischer Junge der siebziger Jahre war. Mehr noch: Er war der typische amerikanische Junge der Sonntagsschulbücher der siebziger Jahre. Tagsüber fronte er mit unvorstellbarem Fleiß an zehn oder zwanzig verschiedenen Arbeitsplätzen. Nachts kultivierte er die Gesellschaft aller moralischen Magnifizenzen des Zeitalters von Ralph Waldo Emerson bis Henry Ward Beecher und mühte sich mit allen ihm verbleibenden Kräften, hinter das Geheimnis ihrer Ehrwürdigkeit zu kommen, auf daß auch er eines Tages leuchten mochte, wie jene leuchteten und ein Vorbild sein könnte, das man guten kleinen Jungen auf dem Weg in den Konfirmandenunterricht zeigte und bösen kleinen Jungen auf dem Weg zum Galgen. Nun, seine Wünsche erfüllten sich. Mit dreißig war er politisch und theologisch solide, glücklich frei von allen orgiastischen Neigungen und hatte Geld auf der Bank. Mit vierzig war er Millionär und der größte amerikanische Presseprophet. Mit fünfzig war er eine nationale Institution.16
Der Abschnitt zeigt,wie Menckens rhetorische Artillerie aus allen Rohren feuert. In einem einzigen Abschnitt macht er die holländische Kultur fertig und läßt eine seiner unzähligen Breitseiten gegen die amerikanische Moral los (Mencken war es, der den Begriff „puritanisch“ auf Dauer zu einer abwertenden Bezeichnung machte), ehe er sich den unglücklichen Mr. Bok zur Brust nimmt. Im Rest der Rezension zerfleddert er die von Bok herausgegebene Zeitschrift – und rühmt ihn schließlich wegen seines einzigen unamerikanischen Charakterzuges, nämlich seiner Leidenschaft für künstlerische Qualität. Man fühlt sich hier an die Frage erinnert, die der Kabarettist Mort Sahl regelmäßig bei seinen Auftritten in den fünfziger und sechziger Jahren stellte: „Gibt es noch irgendeine Gruppe, die ich nicht beleidigt habe?“ Doch läßt sich der Witz in Menckens Rundumschlag nicht leugnen. Das ist Menckens Beschreibung des Lehrerberufs: Es gab eine Zeit, da war der Schulunterricht eine relativ simple und leichte Sache, und jede junge Frau, die für die Hausarbeit nicht so begabt war, galt als geeignet. Aber diese Zeiten sind vorbei. Der Pädagoge heutzutage, ob Mann oder Frau, muß nicht nur eine lange und mühselige Ausbildung absolvieren; er (oder sie) muß sich auch nach der festen Anstellung ständig weiterbilden. Die pädagogische Wissenschaft ist unglaublich kompliziert geworden und verändert sich ständig. Ihre Prinzipien heute sind nie die Prinzipien von morgen – diese werden unablässig modifiziert, verbessert, revidiert, ornamentiert. Man borgt dazu bei Psychologie und Metaphysik, Soziologie und Pathologie, Gymnastik und Chemie, Meteorologie und Ökonomie, Psychiatrie und Sexualhygiene. Und durch all dies weht Tag für Tag der heiße Wind des moralischen Eifers. So muß der arme Goge (oder die Gogin) immerzu schwitzen. Im Sommer, wenn wir anderen in kühlen Flüsterkneipen herumlungern, muß er in
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einer Ferienakademie schmoren und versuchen, die jüngsten Mysterien zu enträtseln, welche die Columbia University ausgegeben hat… Es ist ein schreckliches Leben.17
Wenn Mencken sagt, daß irgendeine Aktivität von starkem moralischem Eifer angetrieben wird, kommt dies selbstverständlich einem Verdammungsurteil gleich. Der Text entstand 1931, und die kühlen Flüsterkneipen, die Mencken den verschwitzten Torturen der Sommerakademie entgegensetzt, waren natürlich die illegalen Refugien, in denen man Zuflucht suchte vor jener unüberbietbaren moralischen Anstrengung, die als Prohibition bekannt war – eine Übung in Puritanismus, die Mencken mit besonderer Giftigkeit kommentierte. Es wäre interessant, könnten wir erfahren, was Mencken – der nur selten ohne seine Zigarre irgendwo auftauchte – dazu gesagt hätte, daß sein geliebtes Maryland 1995 eine der strengsten Anti-Raucher-Verordnungen im Lande erließ. Die Gogen und Goginnen dieses Abschnitts müssen, so lächerlich sie erscheinen, immer noch eher als Opfer denn als Schurken betrachtet werden. Mencken, der nie ein College besuchte, hatte nur Verachtung für jede höhere Bildung. Die wahren Schufte sind die Professoren, die in Columbia und anderswo jene Mysterien fabrizieren, die dann als letzte Weisheit den Grundschullehrern verabfolgt werden. Hier nimmt sich Mencken diesen Berufsstand liebevoll vor: Immer mal wieder wird ein weiterer radikaler Professor aus einer staatlichen Universität rausgeworfen, stets zur Melodie bitterer Proteste der liberalen Wochenzeitungen. Gewöhnlich rechtfertigt sich das Kuratorium der Uni dann damit, die Theorien, die der Mann unterrichtet habe, seien gefährlich für die Jugend. Das ergibt eine Parallele zu Sokrates und ist insofern wohl doch etwas zu hoch gegriffen. Der wahre Einwand gegen solche Ideen müßte in neun von zehn Fällen lauten, daß nur Idioten so was selber glauben. Doch darüber geht man behutsam hinweg, denn es spricht ja zunächst nicht gegen einen Professor an der durchschnitlichen staatlichen Universität, wenn man ihm nachweisen kann, daß er ein Idiot ist.18
Auch das stammt aus den frühen dreißiger Jahren. Jetzt, etwa sechzig Jahre später, werden radikale Professoren nicht aus amerikanischen Universitäten hinausgeworfen, in der Regel leiten sie diese. Unwahrscheinlich, daß Mencken eine bessere Meinung von ihren Theorien gehabt hätte. Wahrscheinlich ist das berühmteste Stück Journalismus Menckens sein Bericht vom sogenannten „Affenprozeß“ in Dayton, Tennessee, wo 1925 einer jener „Gogen“ names Scope vor Gericht gestellt wurde, weil er (wider die Bundesstaatsgesetze) die Evolutionstheorie im Unterricht behandelte. Mencken machte einen recht kurzen Besuch in Dayton, als Reporter der Baltimore Sun. Der Prozeß erreichte bekanntlich seinen dramatischen Höhepunkt mit der Konfrontation zwischen William Jennings Bryan und Clarence Darrow, die für die Anklage beziehungsweise die Verteidigung auftraten. In seinem Bericht gab Mencken seiner
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Überraschung Ausdruck, daß Dayton nicht so leidenschaftlich „puritanisch“ war, wie er erwartet hatte: Auf dem Rasen vor dem Gericht debattierten zwanzig schwitzende Theologen Tag und Nacht die dunkleren Passagen der Heiligen Schrift, aber ich erfuhr bald, daß das alles Freiwillige von außerhalb waren – die lokalen Gläubigen interessierten sich zwar für ihre Exegesen (als intellektuelle Übung), gestatteten ihnen aber nicht, die örtlichen Ausschweifungen zu behindern. Genau zwölf Minuten nach meiner Ankunft nahm mich ein Christenmensch ins Schlepptau, und ich wurde mit dem Lieblingsschlückchen der Cumberlandberge bekannt gemacht – halb Maisschnaps und halb Coca-Cola. Mir kam’s wie eine fürchterliche Mixtur vor, aber die Illuminaten von Dayton kippten sie aufgeräumt weg, rieben sich den Bauch und rollten die Augen. Ich darf unter sie auch die wichtigsten örtlichen Vertreter der mosaischen Kosmogonie rechnen. Sie standen treu zur Genesis, aber ihre Gesichtsfarbe war viel zu blühend, als daß man in ihnen Abstinenzler hätte sehen dürfen, und wenn ein hübsches Mädchen die Hauptstraße heruntergetrippelt kam, was sehr oft der Fall war, dann wanderte ihre Hand mit der erotischen Entschlossenheit eines Filmschauspielers an jene Stelle, wo eigentlich der Krawattenknoten hätte sitzen müssen.19
Mencken reiste in den Süden mit der Haltung eines Anthropologen der alten Schule, der zu den Wilden aufbricht, doch im Gegensatz zu den meisten Anthropologen empfand er keinerlei einfühlsames Interesse für die eingeborenen Sitten und Gebräuche. Schließlich erklärte ihm ein Journalist aus Chattanooga, er dürfe Dayton nicht als repräsentativ für die lokale Kultur nehmen: Dayton war eben eine „große Hauptstadt wie all die anderen“, „es verhielt sich zu Rhea County wie Atlanta zu Georgia oder Paris zu Frankreich“, es war eben hedonistisch und sündig: Ein Mädchen aus irgendeinem entlegenen Dorf im Landkreis, das wegen seiner halbjährlichen Flasche mit Lydia Pinkhams Kräutertinktur in die Stadt kam, erschauerte beim Weg zu Robinsons Drugstore gerade so, wie ein Landmädchen von ganz hinten im Staate New York erschauern mochte, wenn sie sich der Metropolitan Opera näherte. In jedem Bauerndeppen sah sie einen potentiellen Mädchenhändler. Das harte Gehsteigpflaster tat den Füßen weh. Versuchungen des Fleisches dräuten rechts und links und lockten sie in die Hölle.
Mencken wurde dann eingeladen, mit in die Berge zu kommen, wo die alte Religion noch in authentischer Form blühte. Man brachte ihn aus Dayton in ein Waldgebiet, wo ein echtes nächtliches Evangelisierungstreffen stattfand, ein revival. Mencken beschrieb es in ethnographischem Detail: den Prediger („ein erstaunlich hochgewachsener und hagerer Mann aus den Bergen, in Bluejeans und einem am Hals offenen kragenlosen Hemd, das Haar ein verworrener Flederwisch“), die Gemeinde, wo die Älteren auf Bänken saßen, die Jüngeren vorne standen – eine junge Frau stillte ihr Kind, zwei verängstigte kleine Mädchen umklammerten einander, ein Dutzend Babys schlief auf einem Bett. Nach der
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Predigt und einigen Chorälen standen einige Personen in der Gemeinde auf, um Zeugnis abzulegen. Dann kamen andere nach vorne und baten, man solle ihnen die Hand auflegen und für sie beten; Prediger und Gemeinde begannen in Zungen zu reden. Aus der sich windenden und plappernden Menge löste sich schließlich eine junge Frau – eine nicht unschöne Frau, mit einer rührend häßlichen selbstgemachten Mütze. Ihr Kopf fuhr zuckend zurück, die Adern an ihrem Hals schwollen an, und sie hob ihre Fäuste an die Kehle, als ringe sie nach Atem. Sie beugte sich rückwärts, bis ihr Körper einen Halbkreis bildete. Dann fuhr sie plötzlich wieder hoch. Man sah das aufblitzende Weiße ihrer Augen. Ihr ganzer Körper geriet nun in Konvulsionen – massive Krämpfe, die an den Schultern begannen und an den Hüften verebbten. Sie sprang auf, riß die Arme hoch und warf sich dann auf den Menschenhaufen. Ihr Gebet ging in ein delirierendes Maunzen über. Ich beschreibe den Vorgang diskret und als strikter Behaviorist. Die subjektiven Empfindungen der Dame überlasse ich den Psychopathologen der Ungläubigen, die sich mit den Werken von Ellis, Freud und Moll auskennen.
In dieser Art geht es weiter. Hier war Mencken tatsächlich auf authentische Südstaatenreligiosität gestoßen, die „an der Brücke über den Fluß der Stadt begann, wo die Straße in die Berge abgeht“. Er ließ seine Leser nicht im Zweifel darüber, was er davon hielt. Unvermeidlicherweise muß jener Teil dieses Buches, in dem versucht wird, verschiedene Ausdrucksweisen des Komischen zu umreißen, eine recht große Anzahl von Texten zitieren und kommentieren. Doch dürfen wir dabei den eigentlichen Zweck nicht aus den Augen verlieren: das Gesamtphänomen des Komischen schärfer zu erfassen. Haben die explications des textes dieses Kapitels – abgesehen davon, daß sie die Kategorie „Witz“ definieren helfen – zur allgemeinen Argumentation des Buches etwas beigetragen? Der Leser muß das entscheiden. Der Autor würde meinen, daß zwei nicht unerhebliche Einsichten hinzugekommen sind, von denen sich eine auf die Erkenntnisfunktion des Komischen bezieht, die andere auf seine moralische Dimension. Wie bereits zu Beginn des Kapitels erwähnt, muß die früher formulierte These, daß dem Komischen eine kognitive Dimension zukommt, insofern präzisiert werden, als entschieden witzige Aussagen über die Welt auch die Wirklichkeit verzerren oder schlicht falsch sein können. Die Beispiele Wilde und Mencken lassen das recht klar erkennen. Natürlich hätte man auch witzige Texte wählen können, in denen nicht so häufig boshaftes Gelächter aufklingt. Witz ist nicht notwendigerweise das Produkt von Bosheit. Der erwähnte Kabarettist Mort Sahl beispielsweise zog enthusiastisch über jedweden Aspekt der zeitgenössischen amerikanischen Kultur her, doch ohne eine Haltung distanzierter Verachtung; darin stand er wahrscheinlich Will Rogers näher als Mencken. Das bedeutet nicht, daß Sahls Nummern ein akkurates Bild von Amerika zu Zeiten Eisenhowers und
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Kennedys abgeben – ebensowenig wie Menckens Kommentare das Amerika seiner Zeit verläßlich beschreiben. Und wer Wildes Stücke als historisch akkurate Schilderungen Englands im späten neunzehnten Jahrhundert läse, fiele dem Irrtum des deutschen Agenten zum Opfer, der im zweiten Weltkrieg in England mit Gamaschen à la Wodehouse in den Einsatz ging (und, wie erwähnt, sofort verhaftet wurde). Genauer: Wenn der Witz Ironie verwendet (was die meiste Zeit geschieht), dann will er entlarven, herabsetzen, demaskieren. Er will die Illusionen (oder meinetwegen das falsche Bewußtsein oder die Verlogenheit) der Gesellschaft aufzeigen. Doch führt diese Prozedur nicht notwendigerweise zu einer Weltsicht, die gültiger wäre als die entlarvte. Diese Beobachtung gilt natürlich auch für nicht komische, „ernste“ Entlarvungsstrategien. Der eben verwendete Begriff des „falschen Bewußtseins“ stammt aus dem Vokabular des Marxismus. Man kann Marx und viele seiner Schüler mit großem Nutzen lesen, da sie die Illusionen der bürgerlichen Gesellschaft präzise entlarven. Doch wie die Geschichte ausführlich gezeigt hat, war das angeblich gültigere Weltbild, das die Marxisten stattdessen einführen wollten, mindestens so verzerrt wie das kritisierte. Es mochte ein bürgerliches falsches Bewußtsein gegeben haben, doch gab es gewiß auch ein marxistisches falsches Bewußtsein, angefangen mit Marx’ eigenen Thesen zur Dynamik des Kapitalismus, die ausnahmslos von der Empirie reichlich widerlegt worden sind. H. L. Mencken entlarvte mit wütendem Hohn die intellektuellen Illusionen von William Jennings Bryan.20 Clarence Darrow hingegen machte er nicht zum Gegenstand einer solchen ironischen Dekonstruktion. Natürlich deswegen, weil Mencken Darrows Ansichten zu den im Prozeß Scopes aufgeworfenen Problemen teilte, aber für die Ansichten Bryans nichts als Verachtung hatte. Darin ist Mencken ein Vorläufer der amerikanischen Intellektuellen heutzutage, die mit ihm eine fast vollkommene Verständnislosigkeit angesichts der Glaubenssätze und Werte des evangelikalen Protestantismus gemeinsam haben. Ich bin gewiß kein Evangelikaler, doch teile ich ebensowenig Darrows und Menckens oberflächlich rationalistische Weltanschauung. Es wäre nicht schwierig, ein ironisches Porträt von Darrow zu entwerfen, das ebenso gnadenlos entlarvend wäre wie das,welches Mencken von Bryan zeichnet. Ein gutes Beispiel wäre dabei für den Anfang einmal Darrows Verteidigungsstrategie im Leopold/Loeb-Prozeß, wo er in seiner Schlußansprache an die Geschworenen viel Zeit damit verbrachte, zu erläutern, daß das Leben nichts anderes sei als ein Kampf ums Überleben der Besten im darwinistischen Sinne, um dann mit einem leidenschaftlichen Angriff gegen die Todesstrafe zu schließen. Diese großartig beziehungslose Argumentation würde den komischen Widerspruch zwischen Darrows seichter Philosophie und seinem bewundernswert leidenschaftlichen Mitgefühl illustrieren. Was den Scopes-Pro-
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zeß selbst betrifft, so mag es nach siebzig Jahren – alle Fragen der biologischen Wissenschaft hier beiseite gelassen – nicht ganz so einfach sein, Bryans Überzeugung zu verspotten, daß die Ansicht, der Mensch sei nur eine Subspezies der Affen und insofern nichts Besonderes, gewisse moralische Folgekosten hat. Witzige Definitionen der Realität haben also gegenüber nicht-witzigen Definitionen keineswegs bereits per se privilegierten Status. Der witzige Kommentator wie der ernsthafte Analytiker müssen ihre Aussagen denselben Gültigkeitsprüfungen unterwerfen (wie diese nun auch im Einzelfall aussehen mögen). Und der witzige Kopf, dem es gleichgültig ist, ob er Wahrheit oder Unwahrheit vertritt, ist moralisch und kognitiv gesehen ein Nihilist (Wilde kam einer „Philosophie“ dieser Art sehr nahe). Trotzdem wäre es ein Fehler, gänzlich zu bestreiten, daß das Komische eine spezielle Erkenntnisfunktion haben könnte. Doch muß diese seine Dimension enger definiert werden. Wenn die vorgeblich besondere Erkenntnis, die der Witz vermittelt, tatsächlich Gültigkeit besitzt, dann kann diese Vermittlung durch ihre konzise, überraschende Form besondere Überzeugungskraft haben. Die Ökonomie des Ausdrucks, die Freud bei seiner Analyse des Witzes hervorgehoben hat, ist für dieses Potential komischer Erkenntnis entscheidend. Doch läßt sich darüber hinaus noch ein Weiteres über die Erkenntnisfunktion von Witz sagen: Während dieser (oder auch jede andere Erscheinungsform von Komik) nicht unbedingt über bestimmte Erfahrungsbereiche gültige Erkenntnisse vermittelt, ermöglicht er eine Einsicht in die Wirklichkeit insgesamt. Auf der einfachsten Ebene ist es die Erkenntnis, daß die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen, was impliziert, daß sie ganz anders sein könnten, als man gemeinhin annimmt. Das Komische allgemein und der Witz als seine intellektuell anspruchsvollste Form im besonderen markieren eine Distanz zur Welt und zu deren offiziellen Legitimierungen. Das intellektuelle Spiel des Witzes läßt sich am besten aus sozialer Marginalität heraus spielen, sei diese nun zugewiesen (wie im Falle des jüdischen Humors) oder frei gewählt (im Falle des Dandys als eines sardonischen Beobachters). Diese Marginalisierung hat jedoch eine eigenartige Dialektik. Das marginale Individuum vermag durch die Magie seines Witzes die Welt, die es aufs Korn nimmt, wiederum zu marginalisieren. Sie ist nun nicht länger die Welt, nur noch eine Welt, und dazu eine lächerliche. Diese Marginalisierung (oder, wie man auch sagen könnte, Relativierung) der Welt ist es, die den Witz gefährlich und tendenziell subversiv macht, selbst wenn die Person, die ihn hervorbringt, das zunächst gar nicht im Sinn hat. Das Komische allgemein und der Witz auf seine intellektuelle Manier im Besonderen enthüllen die Doppelbödigkeit der Welt – ihre vielfältigen Wirklichkeiten, ihre Dichotomie von Fassade und Hintergrund, tatsächlich überhaupt die Fragilität dessen, was uns als Realität erscheint.
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Witz entlarvt und gibt preis. Meist ist dies eine sozusagen soziologische Übung. Das heißt: Der Witz richtet sich gegen die Einbildungen und Eitelkeiten bestimmter sozialer Institutionen, Konventionen oder Gebräuche. Wie nun wohl klar geworden ist, kann sich daraus gute oder schlechte „Soziologie“ ergeben – in ersterem Falle ergibt sich sicherlich ein Erkenntnisgewinn dadurch, daß die Einsicht in witziger Form präsentiert wird. (Man könnte es so formulieren: Wenn ansonsten keine Unterschiede bestehen, das heißt, wenn die Gültigkeitskriterien jeweils erfüllt werden, dann würde man sich über das Amerika der fünfziger Jahre lieber bei Mort Sahl informieren als bei, sagen wir, Talcott Parsons.) Wie dem aber auch sei – diese entlarvende, herabsetzende Funktion des Witzes reicht über das konkret Soziologische hinaus in… wie soll man es nennen? In den Bereich des Metaphysischen. Die Gesellschaft ist nicht das, was sie scheint. Die ganze Welt ist nicht das, was sie scheint. Unter seinem soziologischen Aspekt mag das Komische zu einer ironischen Weltsicht führen. Unter seinem metaphysischen Aspekt bewegt sich diese Ironie zumindest vorbereitend in Richtung auf eine religiöse Erfahrung. Kierkegaard hat dies – wie in einem früheren Kapitel vermerkt – sehr gut verstanden. Für ihn war die Ironie eine Stufe hin zum Glauben. Diese Überlegungen werden wir später noch weiter verfolgen müssen. Es folgt aus all diesem, daß Humorlosigkeit ein kognitives Handicap ist. Sie verhindert die Möglichkeit gewisser Einsichten, vielleicht sogar den Zugang zu einer ganzen Sphäre von Wirklichkeit. Aus diesem Grund muß man den humorlosen Menschen bedauern. Könnte diese Humorlosigkeit auch ein moralisches Gebrechen sein? Wenn sie ein tiefsitzender Charakterzug ist, so ist sie wohl angeboren. In diesem Fall kann man einem Individuum ebensowenig seine Humorlosigkeit vorwerfen wie seine Farbenblindheit, mangelnde Musikalität oder fehlende mathematische Begabung. Umgekehrt muß die Fähigkeit, die Dinge im Lichte der Komik zu sehen, nicht unbedingt eine moralisch schätzenswerte Eigenschaft sein. Diese komische Befähigung kann für alle möglichen moralisch tadelnswerten Zwecke gebraucht werden. Tatsächlich läßt sich – wie dieses Kapitel illustriert haben dürfte – Witz auf boshafte Weise verwenden; er kann sich mit einer Haltung des moralischen Nihilismus verbinden. Andererseits könnte der Mensch, der die komische Begabung eigentlich besitzt, sich aber weigert, sie bei seiner Wahrnehmung bestimmter Aspekte der eigenen Existenz zu gebrauchen, durchaus moralisch schuldig sein. Es gibt den Egomanen, der sich weigert, den eigenen Größenwahn komisch zu finden, den Fanatiker, der keine komische Relativierung seiner prekären Dogmatik erträgt, den Tyrannen, der alle unterdrücken muß, die es wagen, einen Witz über sein Regime zu machen. In diesen Fällen und in anderen, an die man noch denken könnte, ist die Humorlosigkeit kein Schicksal, sondern das Ergebnis einer freien Wahl, und diese Wahl hängt aufs engste zu sammen mit der selbstgerechten Verlogenheit, auf
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der jenes jeweilige Leben beruht. Egomanie, Fanatismus und Tyrannei sind moralisch zu verurteilen; das gilt dann auch für die absichtliche Humorlosigkeit, mit welcher man sie verteidigt. Im Deutschen (und im Englischen) spricht man davon, daß manche Menschen gewisse Dinge „todernst“ (deadly serious, in deadly earnest) nehmen. Manche sind vielleicht so geboren; die muß man bedauern. Andere haben sich selbst zu jemandem gemacht, der diese Haltung einnimmt; sie können deswegen moralisch verurteilt werden. Wie andere Formen der Erkenntnis ist die komische Kognition in sich moralisch neutral. Darin ähnelt sie – wie eine Reihe von Philosophen bemerkt hat – der ästhetischen Wahrnehmung.21 Das Schöne ist nicht notwendigerweise gut; das Gute nicht unbedingt schön. Doch kann die Art und Weise, wie die komische Wahrnehmung im Leben von Individuen, Gruppen oder Gesellschaften gebraucht wird, signifikante moralische Konsequenzen haben. Manchmal kann sie moralisch neutral sein – „good clean fun“ und weiter nichts. Sie kann wiederum auch moralisch abzulehnen sein – wenn sie grausam verwendet wird oder im Dienste von etwas Bösem. Sie kann moralisch bewundernswert sein, wenn sich beispielsweise Witz gegen die Ungerechtigkeiten und Heucheleien eines bestimmten Gesellschaftssystems wendet… … Wir gehen um das Komische herum und herum, und dabei tritt es etwas deutlicher hervor. Es wird auch komplizierter.Wer aber hat je behauptet, daß diese Reise einfach sein würde?
10 Komik als Waffe: die Satire Die Satire ist, grob gesagt, der Gebrauch von Komik für Angriffszwecke.Wenn man von dieser groben Definition ausgeht, dann ist Satire in fast allen komischen Ausdrucksweisen gegenwärtig. Sie kann als Färbung komischer Kommunikation zeitweise hervortreten und wieder verblassen, und sie kann zumindest momentan in den harmlosesten Formen von Komik auftauchen. So lassen sich satirische Elemente bei P. G. Wodehouse, Will Rogers und Scholem Alejchem finden, und ganz gewiß bei Wilde und Mencken. Angesichts dessen wäre es plausibel, die Satire enger zu definieren – nämlich als Komik, die einem Angriff dient, der Teil eines weltanschaulichen Programms des Satirikers ist. Will man es anders ausdrücken, könnte man auch sagen, daß in der Satire die aggressive Absicht zum zentralen Motiv komischen Ausdrucks wird. Alle Elemente des Komischen werden sozusagen zusammengeschmolzen, so daß sich eine Waffe aus ihnen formt. Meist richtet sich der Angriff gegen Institutionen und deren Repräsentanten, vor allem gegen politische und religiöse Mächte. Er mag sich auch gegen ganze gesellschaftliche Gruppen und deren Kultur richten – etwa gegen die Bourgeoisie und ihre Sitten. Oder er kann sich gegen Individuen wenden, gegen Theorien oder literarische Moden. Der Gefühlstenor ist typischerweise boshaft, selbst wenn das Motiv des Angriffs dieses oder jenes hohe Prinzip ist. Darin unterscheidet sich die Satire klar vom Witz. Man kann witzig und gütig zugleich sein, vielleicht sogar witzig und unschuldig. Gütige Satire ist ein Oxymoron. Es gibt einige literaturwissenschaftliche Theorien über die Satire.1 Es wäre kaum sinnvoll, sie hier ausführlicher zu diskutieren. Für unsere Zwecke reicht es aus, wenn wir der Begriffsbildung bei Northrop Frye folgen, die in der Philologie weite Zustimmung gefunden hat.2 Frye charakterisiert die Satire als „militante Ironie“. Das kommt der eben vorgeschlagenen Definition sehr nahe. Militanz ist ein Ausdruck, der dem Kriegshandwerk entlehnt ist – eine angriffslustige Haltung bei einer Kampagne gegen jemanden oder etwas. Ironie (so definiert, daß man eines sagt, aber das andere meint) muß nicht militant sein – sie kann ganz sanft sein. Man kann natürlich auch bei der Satire verschiedene Grade von Schärfe unterscheiden, aber eine allzu sanfte Satire würde sich selbst aufheben. Frye nennt eine Reihe von wesentlichen Elementen der Satire: phantastische, oft groteske Verfremdung; ein auf Grund moralischer Normen gewonnener Standpunkt; ein konkretes Ziel des Angriffs. Er betont auch, daß Satire immer von einem speziellen Publikum abhängt, in einem speziellen sozialen Kontext: Satiriker und Publikum müssen sich einig sein können in der Ablehnung des Gegenstands des Angriffes. Natürlich muß dabei ein gemeinsamer gesellschaftlicher Zusammenhang Satiriker und Publikum verbinden. Eine satirische Attacke beispielsweise auf
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bestimmte Einzelheiten des politischen Geschehens in Amerika würde von einem ausländischen Publikum, das die Anspielungen nicht begreift, nicht verstanden werden. Dagegen ist es nicht notwendig, daß das Publikum von vornherein die Meinung des Satirikers teilt. Satire kann quasi erzieherisch wirken – das Publikum mag erst als Ergebnis der satirischen Anstregung erkennen, daß das, worauf der Angriff zielt, verwerflich ist. Trotzdem ist die Satire mehr als jede andere Form von Komik durch ihren gesellschaftlichen Kontext begrenzt, was ihr etwas Flüchtig-Vergängliches gibt. Eine große Anstrengung, ja eine Übung in philologischer Exegese ist erforderlich, wenn ein moderner Leser die Satire von Aristophanes oder Rabelais begreifen will. Sogar ein Amerikaner, der in den neunziger Jahren eine Aufnahme von Mort Sahl aus den Fünfzigern anhört, wird selbst dann, wenn er alt genug ist, um damals schon erwachsen gewesen zu sein, viele Stichwörter nicht mehr mitbekommen. Ist so die Satire zeitgebunden, führt sie doch in ihren besten Leistungen über das unmittelbare Angriffsobjekt hinaus und vermittelt ein Gefühl der Befreiung, das nicht an den spezifischen historischen Augenblick gebunden ist. Hierauf spielt Frye an, wenn er den satirischen Aspekt hervorhebt, der sich aus Dantes Beschreibung des auf dem Kopf stehenden Satans ergibt, als der Dichter aus dem Inferno heraufsteigt und die Sterne wieder sieht. Tragödie und tragische Ironie führen uns in eine Hölle aus immer enger werdenden Kreisen und kulminieren in einem visionären Bild von der Quelle alles Bösen, das als Person dargestellt wird. Die Tragödie kann uns dann nicht mehr weiterführen, doch wenn wir bei der Logik des mythos von Ironie und Satire bleiben, so werden wir einen toten Mittelpunkt durchqueren und schließlich den Fürsten der Finsternis auf dem Kopf stehen sehen.3
Es gibt keinen wissenschaftlichen Konsensus über die Etymologie des Begriffs „Satire“.4 Konventionellerweise wird er von den Satyrn abgeleitet, den halb menschlichen, halb tierischen Wesen, die eine wichtige Rolle im Dionysosmythos spielen. Die Ableitung ist verführerisch, da sie die Satire mit der magischen „Narrheit“ in Verbindung setzt, die zumindest in der Tradition des Westens ihren Ursprung im orgiastischen Bacchanal hat. Es gibt noch eine andere mögliche Etymologie. Ihr läge das lateinische satura zugrunde, ein Ausdruck für ein Gericht mit vielen Bestandteilen. Diese Etymologie gestattete es den römischen Schriftstellern, die Satire als originär römische, nicht griechische Erfindung für sich zu beanspruchen. Man könnte darauf hinweisen, daß die beiden Etymologien einander nicht unbedingt widersprechen. Schließlich ist der römische Bacchus mit seinem Kultus so etwas wie der Nachfolger des griechischen Dionysos. Wie dem auch sei – die Satire hat im Westen wie anderswo ein hohes Alter. „Narrheit“ enthält fast immer ein satirisches Element, und die Diskussion dieses Phänomens in einem früheren Kapitel hat schon gezeigt, daß diese Manifestation des Komi-
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schen nahezu universell ist. So waren beispielsweise die „Trickster“, die Paul Radin in seinem Werk über eine amerikanische Indianerkultur beschrieben hat, durchaus auch Satiriker, und ebenso waren es Hofnarren und Narrenfiguren in Asien. Der früheste griechische Satiriker, den wir kennen, war Archilochos, der im siebten vorchristlichen Jahrhundert auf der Insel Paros lebte.5 Er war mit der Tochter des Adligen Lykambes verlobt. Als bekannt wurde, daß Archilochos der Sohn einer Sklavin war, verbot Lykambes die Heirat. Archilochos verfaßte daraufhin satirische Gedichte gegen Lykambes und trug sie immer wieder öffentlich vor. Sie kränkten und beschämten Lykambes so, daß er und seine Tochter sich den Tod gaben. Robert Elliott sieht diese Geschichte in seiner Interpretation der satirischen Gattung als paradigmatisch. In ihren Ursprüngen war die Satire reine Beleidigung, mit einer bis zum Fluch gesteigerten Intensität – Beleidigung, LeidZufügung mit magischer Wirkung. Der Gegenstand der Invektive wurde lächerlich gemacht, doch reichte die Wirkung weit über gesellschaftliche Peinlichkeit hinaus – sie entfaltete die Destruktivität schwarzer Magie. Elliott sieht dieses Phänomen transkulturell weit verbreitet und führt an, daß es häufig bestimmte fixe Rituale gegeben habe, innerhalb derer diese Verfluchungen ausgesprochen wurden. Ein ausführliches, von ihm erläutertes, Beispiel ist das der filid genannten altirischen Barden, die rühmten wie verhöhnten. Segnungen und Flüche hatten magische Kraft, und jene Barden waren verständlicherweise sehr gefürchtet. Anscheinend hatten sie eine Art professionellen Ehrenkodex, der zumindest theoretisch festlegte, wie sie ihre Macht gebrauchen durften. Wie bei allen Professionen aller Zeiten hielten sie sich nicht immer daran. So reiste einer der berühmtesten filid, der nicht umsonst Aithirne der Dreiste genannt wurde, durch ganz Irland und drohte den Königen und Machthabern mit schändlichen Versen, bis sie seine Forderungen erfüllten. Bei einem Anlaß forderte Aithirne das Beilager mit der Königin; der König, voll Angst vor den Folgen einer Weigerung, gewährte es ihm. Am Ende ereilte Aithirne die Strafe: Er und seine ganze Familie wurden von empörten Opfern seiner Satire ermordet. Elliott zufolge hat sich die Satire in der westlichen Kultur zunehmend von ihren magischen und rituellen Ursprüngen entfernt. Man könnte von einer Art Säkularisierung sprechen. Im Verlauf dieses Prozesses wurde die Satire zur Kunstform, doch hat sie als solche nie ganz ihre alten Eigenschaften verloren. In gewissem Sinne ist Satire immer ein Fluch, und ihre Wirkungen auf die angegriffenen Personen können zerstörerisch genug sein. Diktatoren haben gute Gründe, die gegen sie gerichteten Satiren zu verbieten. Als Kunstform kann sich Satire ganz verschiedener Mittel bedienen.6 Sie ist nicht unbedingt verbal. Satire kann auch in stummen Aktionen bestehen, wenn etwa Clowns jemanden imitieren – aber auch wenn beispielsweise verärgerte Angestellte den pompösen Gang und
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die Gestik des Chefs nachahmen. Satire kann visuell sein. Die Karikatur zeigt dies in reiner Form; sie ist in der Moderne zu einem effektiven Werkzeug des politischen Angriffs geworden. Vor allem aber tritt Satire verbal auf und als Literaturform. Sie enthält, wie gesagt, stets Ironie. Wie die asiatischen Kampfsportformen kehrt sie immer die Stärken des Gegners gegen diesen selbst und verwandelt sie so in Schwächen. Auf besonders effektive Weise geschieht dies bei der Parodie, wo die eigenen Worte des Gegners gegen ihn verwendet werden. Ein Überblick über die satirische Literatur würde, auch wenn er sich auf die westlichen Kulturen beschränkte, ein Buch vom vielfachen Umfang des unsrigen erfordern. Begnügen wir uns mit dem Hinweis, daß die Satire viele verschiedene Formen annehmen kann. Eine klassische Form ist die des Dramas, wobei der Beginn vielleicht bei Aristophanes zu suchen ist; das setzt sich dann fort bis zu modernen Meistern wie Shaw. Satire kann in Form einer Fabel erscheinen und Tierfiguren verwenden, um die Menschen bloßzustellen – das reicht von Äsop bis zu Orwells Animal Farm. Es hat vielleicht nie eine bissigere, treffendere Kritik der sozialistischen Egalität gegeben als Orwells satirischen Satz: „Manche Tiere sind gleicher als andere.“ Es gibt den satirischen Roman von Cervantes bis zu Evelyn Waugh und zu Tom Wolfes Meisterwerk Das Fegefeuer der Eitelkeiten. Wolfe hatte natürlich seinen satirischen Stil lange vor diesem Roman in zahlreichen Essays ausgebildet. Man könnte vielleicht sogar sagen, daß sich der politische Radikalismus der späten Sechziger nie ganz von Wolfes Essay „Radical Chic“ erholt hat, in dem er satirisch eine Party behandelt, die Leonard Bernstein für die Black Panthers gab. Tatsächlich ist der Titel dieses Essays zu einem Begriff geworden, mit dem eine ganze politisch-kulturelle Bewegung desavouiert wurde. (Daß politisch-kulturelle Bewegungen fortexistieren, obwohl sie längst desavouiert sind, braucht uns hier nicht zu beschäftigen.) Essays und Flugschriften sind schon von altersher Instrumente der Satire. Swifts „Bescheidener Vorschlag“, in dem er den Export irischer Säuglinge zu kannibalistischen Zwecken als Lösung für das Problem der irischen Hungersnot vorschlug, ist wahrscheinlich das berühmteste Beispiel in der englischen Literatur. Doch die Satire kann noch kürzer sein als ein Essay – es gibt den Aphorismus oder die aphoristische Bemerkung, zu deren Meistern etwa Samuel Johnson zählt, dem wir etwa die Beobachtung verdanken, daß eine zweite Heirat den Triumph der Hoffnung über die Erfahrung zeigt. Die vielleicht knappste Form von Satire wird häufig von Engländern gebraucht, um einen aufgeblasenen Gesprächspartner zum Verstummen zu bringen. Hat dieser weitschweifig etwas besonders Törichtes vorgetragen, schweigt man selbst einen langen Augenblick und sagt dann nur: „Ah ja.“ („Quite.“) Der Rest dieses Kapitels befaßt sich mit einem einzigen Autor, der die Satire in seinem Werk wie in seinem Leben sozusagen total verkörpert. Es handelt sich um den österreichischen Schriftsteller Karl Kraus (1874– 1936). Der gesellschaftliche
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Kontext, in dem Kraus lebte und arbeitete, ist nun recht fern gerückt (selbst für einen österreichischen Leser), aber eben diese Entfernung erlaubt eine objektivere Einschätzung des Satirikers als Idealtypus.7 Karl Kraus wurde in Jicin in Böhmen als Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes geboren. Im Hinblick auf Kraus’ spätere Laufbahn liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, daß sein Vater eine Papierfabrik hatte. Wie es bei bürgerlichen Juden in dieser Region der Habsburgischen Monarchie üblich war, sprach die Familie deutsch. Als Kraus drei Jahre alt war, zog die Familie nach Wien, in jene Stadt, in der er sein ganzes Leben lang wohnte und der er in einer (für einen Wiener) atypischen Haßliebe verbunden war. Er entwickelte früh eine Leidenschaft für das Theater. Es gibt eine hübsche Geschichte aus seiner Kindheit: Als die Familie nach Wien gekommen war, brachte man ihn und seinen Bruder zum Spielen auch in die öffentlichen Parkanlagen. Die beiden kleinen Jungen hatten Angst, sie könnten sich in der großen Stadt verlaufen und nicht mehr nach Hause finden. Für diesen Fall hatte sich der Bruder mit einem Vorrat an Butterbroten ausgerüstet; der kleine Karl nahm seinen größten Schatz mit, ein MiniaturPuppentheater. Kraus studierte eine Weile an der Universität, verbrachte aber den größten Teil seiner Zeit im Theater und in den literarischen Kaffeehäusern. Er trat einige wenige Male als Schauspieler auf und entschied sich dann für den Journalismus. Eine Zeitlang arbeitete er als Korrespondent der Neuen Freien Presse, der führenden liberalen Tageszeitung, im modischen Kurort Bad Ischl. 1898 bot der Herausgeber Moritz Benedikt ihm eine regelmäßige Kolumne in der Zeitung an. Kraus – es war der entscheidende Entschluß seines Lebens – lehnte dieses sehr attraktive Angebot ab und gründete 1899 seine eigene Zeitschrift, Die Fackel. Er gab sie bis zu seinem Tode 1936 heraus. Ab 1911 war er ihr einziger Autor. Er begann später auch, aus eigenen Werken und aus denen der – nicht zahlreichen – von ihm bewunderten Autoren öffentlich zu lesen. Es war eine ungewöhnliche, vielleicht einzigartige Karriere. Ihr Zentrum war Satire. Ebenso ungewöhnlich war die Fackel. Sie erschien unregelmäßig immer dann, wenn Kraus genügend Material für eine neue Folge zu haben glaubte. Das Erscheinen eines solchen dunkelroten Bändchens hatte immer etwas von der Explosion einer Bombe. Zeitgenossen berichten, wie am Erscheinungstag der Fackel in Straßenbahnabteilen jeder zweite Passagier die Zeitschrift las und Rufe des Vergnügens oder Ärgers ausstieß. Die Fackel war keine leichte Lektüre, hatte aber trotzdem von Anfang an einen großen Leserkreis – die Intelligenz in Wien und anderen Zentren der Doppelmonarchie, aber auch einen großen Teil des gebildeten Bürgertums. Unter den jungen Intellektuellen wurde Kraus rasch zur Kultfigur, und der Besuch seiner öffentlichen Lesungen hatte rituellen Charakter. Die meisten seiner Texte erschienen zuerst in der Fackel. Ein großer Teil seines Le-
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benswerks besteht aus Polemik und Satire, wenn er auch zustimmende Besprechungen der Werke anderer Autoren veröffentlichte. Er hatte großen Anteil an der Wiederentdeckung der Thaterstücke Nestroys und der Operetten Offenbachs. Er hat auch ein lyrisches Werk hinterlassen – Gedichte, die überraschend zart sind, gelegentlich sentimental. Die Polemik von Kraus scheint in zwei verschiedene Richtungen zu zielen – die sprachkritische und die gesellschaftskritische. Er griff die Korrumpierung der Sprache an, und die Korruption in allen wichtigen Institutionen der ihn umgebenden Gesellschaft. Er war aber der leidenschaftlichen Überzeugung, daß diese beiden Formen von Korruption aufs Intimste zusammenhingen – ja, daß sie wesentlich ein und dasselbe waren. Beide, glaubte er, waren Symptome einer tiefgreifenden Entmenschlichung. Auf der sozusagen soziologischen Ebene griff er kulturelle und soziale Institutionen an. Literarische Figuren wurden sowohl wegen ihrer sprachlichen Sünden angegriffen – fehlerhafte Grammatik, sogar fehlerhafte Interpunktion, schlampiger Ausdruck, ganz allgemein schlechtes Deutsch – wie wegen ihrer politischen Ziele, etwa der Verherrlichung des Krieges und eines bewußtlosen Patriotismus. Kraus behielt der Presse seinen besonderen Abscheu vor, die er als Verkörperung der Sprachverderbnis wie der Korruption des öffentlichen Lebens sah. Er führte einen lebenslangen Kampf gegen die Neue Freie Presse, ihren Herausgeber und wichtige Mitarbeiter. Die Neue Freie Presse antwortete mit eiserner Nicht-Nennung seines Namens. Andere Zeitungen folgten diesem Beispiel, mit der bedeutenden Ausnahme der Arbeiterzeitung, des Organs der 1890 gegründeten Sozialdemokratischen Partei. Kraus griff auch den korrupten Kommerz und die Unmenschlichkeiten der Justiz an. Für die damals in Wien modische Psychoanalyse empfand er besondere Abneigung, er definierte sie als „jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält“. Kraus schuf sorgfältig ein Bild seiner selbst als eines unerbittlichen Polemikers, fast eines Propheten. Er gab an, den größten Teil des Tages zu schlafen und nur nachts zu arbeiten (was der Wahrheit nahekam, aber nicht völlig stimmte). Er behauptete, Kritik wie Schmeichelei ließen ihn ungerührt (wiederum nicht ganz wahr). Dieses Bild war im wesentlichen das des Außenseiters, der freundlos ist und keiner Freunde bedarf, der ganz und gar seinem Werk zur Verteidigung der Kultur hingegeben lebt. Er nahm auch für sich in Anspruch, in unnachsichtigem Antagonismus zu der Wiener Kultur zu stehen, innerhalb derer er lebte. Daran ist etwas Wahres, doch war sein Lebensstil nach Wiener Maßstäben so außergewöhnlich nicht, und man kann sich Kraus schwer vorstellen ohne jene höchst Wienerische Institution – das Kaffeehaus.Wie andere Wiener Literaturgrößen hielt Kraus in einem bevorzugten Café Hof, und alle halbwegs Eingeweihten wußten, daß er dort zu finden war. Die ihn gut kannten (und er hatte enge, lebenslange Freunde), schildern ihn als einen von der kalten, sardonischen Kunstfigur des
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Polemikers sehr verschiedenen Menschen – einen warmherzigen, rücksichtsvollen Mann, den das Leiden anderer tief bewegte und der große Anstrengungen unternahm, ihnen zu helfen. Er verteidigte allerdings kompromißlos seine Privatsphäre und schrieb niemals über seine persönliche Existenz. Er hatte eine Reihe intensiver Liebesbeziehungen, die längste davon mit einer böhmischen Adligen, Sidonie von Nádherný, für die er einige seiner bewegendsten Gedichte schrieb und deren Familiensitz ihm ein Zufluchtsort war. Kraus hatte ein kompliziertes und sich wandelndes Verhältnis zu Religion und Politik. Als junger Mann schied er offiziell aus der jüdischen Gemeinde aus, später wurde er als Katholik getauft, doch nach dem Ersten Weltkrieg verließ er die katholische Kirche wieder – im Grunde, weil ihn die passive Unterstützung der Kirche für den mörderischen Patriotismus beider Kriegsparteien abstieß (obwohl der unmittelbare Anlaß charakteristischerweise die wohlwollende Reaktion der Kirche auf die Begründung der Salzburger Festspiele durch Reinhardt und Hofmannsthal war, die Kraus als kulturlose Geschmacklosigkeit verachtete). Er schrieb eine Satire gegen den Zionismus, dessen Begründer Theodor Herzl unverzeihlicherweise Mitarbeiter der Neuen Freien Presse war. Juden waren oft Zielscheibe von Kraus’ Polemiken und Satiren – unter anderem registrierte er unnachsichtig die typischen fehlerhaften Wendungen im Deutsch der österreichischen Juden. Das hat begreiflicherweise zu dem Vorwurf geführt, Kraus biete ein Beispiel des „jüdischen Selbsthasses“, und es stimmt, daß manche seiner Texte in problematischer Nähe zum Antisemitismus stehen (einige davon wurden tatsächlich in der antisemitischen Presse nachgedruckt). Doch nahm Kraus stets gegen jegliche Form des Antisemitismus Stellung und schrieb mit tiefer Achtung über das Judentum als Religion und über die jiddische Kultur Osteuropas (die normalerweise von den assimilierten Juden in Österreich eher verachtet wurde). Er führte zu seiner Verteidigung an, daß es nicht seine Schuld sei, wenn Juden in den Institutionen, die anzugreifen er für notwendig hielt, eine prominente Rolle spielten – insbesondere in der Presse. Was seine Beziehung zum Judentum anging, so schrieb er einmal: „…daß ich mit der Entwicklung des Judentums bis zum Exodus noch mitgehe, aber den Tanz um das goldene Kalb nicht mehr mitmache“. Seine Beziehung zur Religion allgemein kommt am besten in einer anderen Formulierung zum Ausdruck: „Die wahren Gläubigen sind es, welche das Göttliche vermissen.“ Vor dem Ersten Weltkrieg war das Werk von Kraus weitgehend unpolitisch. Das änderte sich mit Kriegsausbruch. Kraus war ein leidenschaftlicher Gegner des Krieges, dessen Brutalitäten ihn schockierten, und er verachtete insbesondere jene Intellektuellen (die überwältigende Mehrheit auf beiden Seiten), die den Krieg in ihren Schriften verteidigten und verherrlichten. Er wurde zum entschiedenen Pazifisten und blieb es auch. Im Krieg spielte er mit der Militärzensur Katz und Maus, doch ließ er in seinen Texten wie in seinen öffentlichen Äußerungen kaum
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einen Zweifel darüber, wo er stand. Wahrscheinlich rettete ihn der Zusammenbruch der Mittelmächte vor dem Gefängnis. Nach dem Krieg veröffentlichte er sein riesenhaftes Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit, das man als eines der größten Manifeste wider den Krieg in unserem Jahrhundert bezeichnet hat. 1918 begrüßte er enthusiastisch den Sturz der habsburgischen Dynastie, der er Schuld am Krieg gab, und begrüßte die Republik. Er unterstützte die Sozialdemokratie, welche die erste republikanische Regierung bildete, war aber rasch enttäuscht von ihrer Unfähigkeit, die tiefgreifenden Änderungen durchzuführen, die er herbeiwünschte. In den dreißiger Jahren unterstützte er sehr zum Entsetzen seiner Freunde auf der Linken das autoritäre Regime Dollfuß/Schuschnigg, das ihm als das letzte Bollwerk gegen die deutschen Nazis erschien. Daß Hitler in Deutschland an die Macht kam, war ein solcher Schock für Kraus, daß er längere Zeit nichts dazu veröffentlichte. Er schrieb dann einen langen, eigenartigen Text, Die Dritte Walpurgisnacht (der erst 1955 erschien). Es ist sehr charakteristisch, daß diese Schrift sich vorwiegend mit der Sprache der Nazis auseinandersetzt, die er mit viel Berechtigung als vollkommenen Spiegel ihrer Barbarei sah. Kraus verkörpert die Satire als Organisationsprinzip eines Lebens wie eines Lebenswerkes. Wenn ihm eine andere Figur der europäischen Literaturgeschichte ähnelt, dann wäre dies Søren Kierkegaard, dessen Werk Kraus kannte und bewunderte. Beide hatten eine Lebensperspektive, die alles inspirierte, was sie schrieben und taten. Im Falle Kierkegaards war diese natürlich religiös, und seine Hauptangriffsziele waren die lutherische Kirche Dänemarks und das verkommene Christentum, das er in jener verkörpert sah. Kraus’ Perspektive war nicht religiös, jedenfalls nicht explizit. Sie umfaßte zweierlei: die Verteidigung der Sprache und die Verteidigung der leidenden Menschheit. Dies beides war, wie gesagt, für Kraus’ Denken ein einziges Anliegen. Man hat mittlerweile viel über Kraus’ sogenannte Sprachmystik geschrieben. Hier sei nur gesagt, daß es schwierig ist, Kraus hinsichtlich dieser engen Verbindung von Sprachkritik und Moral zu folgen. (Daß seine Auffassung von der Sprache sich außerhalb des Deutschen kaum formulieren läßt, wirft immerhin ein eigenartiges Licht auf den Anspruch seiner Sprachtheorie.) Manche der bewunderungswürdigsten Menschen, die zu Kraus’ Zeiten in Mitteleuropa lebten, sprachen und schrieben entsetzliches Deutsch; manche Nazis beherrschten leider die deutsche Sprache perfekt. Im folgenden geht es jedenfalls vor allem um Kraus’ Gebrauch der Satire zur Verteidigung des leidenden Menschen, insbesondere in seinem großen Theaterstück gegen den Krieg. Fragt man sich, auf welcher Seite Kraus hier stand, könnte man am besten mit den Worten des englischen Kraus-Biographen Edward Timms antworten: Er stand auf der Seite der Menschenwürde. Um dies zu illustrieren, folgen nun Beispiele aus Die letzten Tage der Menschheit. Auszüge aus diesem Drama waren schon während des Krieges her-
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ausgebracht oder vorgetragen worden, aber der größte Teil ließ sich nicht veröffentlichen, solange noch die Militärzensur in Kraft war. Das Stück wurde 1922 vollständig publiziert; in der Nazizeit verboten, wurde es dann gleich nach dem Ende des zweiten Weltkriegs neu aufgelegt.8 Es ist sehr umfangreich; in der von mir benutzten Ausgabe füllt es mehr als siebenhundert Seiten. Man hat es nie in seinem gesamten Umfang aufgeführt, und das wäre auch unmöglich; abendfüllende Fassungen mit ausgewählten Szenen sind an verschiedenen deutschsprachigen Bühnen inszeniert worden. Die Szenen blenden hin und her zwischen der „Heimatfront“ und den verschiedenen Kampfgebieten; Hunderte von Figuren treten auf, viele nur einmal. Die dramatischen Szenen wechseln ab mit langen Zeitungszitaten und mit Kraus’ eigener Lyrik. Das Entsetzen verstärkt sich mit dem Voranschreiten des Stücks und kulminiert in apokalyptischen Schlußszenen im Untergang der ganzen Welt. In einem kurzen Vorwort schreibt Kraus, das Stück, das „nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Tage umfassen würde“, sei für ein Marstheater bestimmt – offensichtlich nach der Selbstzerstörung der Menschheit. „Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten.“ Doch der Autor muß Zeugnis ablegen für diese „in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten“. In der Erstausgabe des Stücks war als Frontispiz die Reproduktion einer während des Weltkriegs tatsächlich verkauften Postkarte abgebildet. Es war ein Photo von der Hinrichtung Cesare Battistis, eines österreichischen Staatsbürgers italienischer Herkunft, der desertierte, sich der italienischen Armee anschloß, gefangengenommen und als Verräter gehängt wurde. Die Photographie zeigt den baumelnden Leichnam Battistis, umringt von lächelnden österreichisch-ungarischen Offizieren, während der Henker oben über dem Galgen steht und jovial über das ganze Gesicht grinst. Das Bild trägt bei Kraus den Titel „Das österreichische Antlitz“. Die Szene wird auf den letzten Seiten des Stücks noch einmal beschworen, gefolgt von einem Gedicht von Kraus, der hier die wahre Natur jener Gemütlichkeit enthüllt sieht, auf die Österreich immer so stolz war. Das Battisti-Photo ist ein Beispiel für die Schärfe und Hellsichtigkeit der Satire von Karl Kraus, für ihren beinahe unerträglichen Protest gegen die Unmenschlichkeit. Doch das Stück enthält Beispiele für jede erdenkliche andere Form von Satire – direkte satirische Abbildung in Szenen, die tatsächliche Vorfälle nur ganz wenig, aber um so bedeutsamer verfremden; Parodie; Zitate realer Texte; kontrastierende Montage von zwei Zitaten nebeneinander; Erfindung satirischer Prototypen – schließlich (vor allem gegen Ende des Stückes) eine sozusagen apokyalyptische Satire. Ganz abgesehen von seinem Inhalt kann das Buch als eine Art Handbuch der satirischen Formen dienen. Das Stück beginnt mit einer Szene an der berühmten Sirkecke in Wien, einer Straßenecke der Oper gegenüber, die bei Flaneuren und Vergnügungssuchern
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besonders beliebt war. Ein Zeitungsverkäufer ruft die Nachricht aus, daß der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet worden ist. Vier idotische Offiziere treffen sich und führen ihre übliche Unterhaltung – wohin man zum Essen gehen soll, was von den vorübergehenden Huren zu halten ist. Das Ereignis in Sarajewo wird in ihrer Konversation beiläufig auf eine Weise berührt, die – wenn auch völlig konfus – den offiziellen Standpunkt wiedergibt. Diese Sirkeckenszene wiederholt sich jeweils zu Beginn der nächsten vier Akte, und dieselben Offiziere – die Namen wie Nowotny, Pokorny, Powolny tragen – wiederholen ihre bewußtlose Konversation, während die Welt immer weiter in den Abgrund sinkt.Verschiedene Figuren kommen vorüber. Mit nie versagender Sicherheit gibt Kraus bei allen den diversen Gestalten jedes Detail von Tonfall und Dialekt wieder. Dieselbe ethnographische Präzision kennzeichnet eine andere frühe Szene, die Ankunft der Särge mit den Leichen des ermordeten Erzherzogs und seiner Gattin am Bahnhof, wobei die Repräsentanten verschiedener Gruppen und Interessen grotesk unangemessene Unterhaltungen führen. Der Gottesdienst beginnt. „Man sieht, wie der gesamte im Trauersaal versammelte Hofstaat im Gebete kniet, vorne schluchzend die drei Kinder der Ermordeten. Zeitweise wird die Stimme des Priesters hörbar.“ Ein Redakteur fragt laut: „Wo ist Szomory? Wir brauchen die Stimmung!“ In einer Pause stummen Gebets, da man nur das Schluchzen der Kinder hört, sagt der Redakteur zu seinem Nachbarn: „Schreiben Sie, wie sie beten!“ Im Vorwort erhebt Kraus den Anspruch, daß „die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, …wörtlich gesprochen worden [sind].“ Dieser Anspruch ist nicht strikt glaubhaft. Doch ist es oft schwierig, zu entscheiden, welche Texte Parodien sind und welche tatsächliche Zitate. In einer frühen Szene erscheint ein Text, der fast mit Sicherheit ein Zitat ist, im Kontext eines fiktiven Dialogs. Es handelt sich um eine weitere Straßenszene, kurz nach Kriegsausbruch. Der Mob verwüstet einen Friseurladen, dessen Inhaber einen serbisch klingenden Namen hat. Die Historiker Friedjung und Brockhausen (historische Figuren) treten auf. Während die Menge im Hintergrund den Friseur zusammenschlägt und sein Geschäft ausplündert, spricht Brockhausen: Just heute habe ich in der Presse eine treffende Anmerkung zu diesem Thema beigesteuert, die mit zwingender Logik einen Vergleich unseres Volkes mit dem französischen oder englischen Gesindel von vornherein ablehnt. Vielleicht können Sie den Passus für Ihre Arbeit brauchen, Herr Kollege, ich stelle ihn zu Ihrer Verfügung, hören Sie: „Was den historisch Gebildeten als aller geschichtlichen Weisheit letzter Schluß tröstend und aufrichtend beseelte, daß nämlich niemals der Barbarei ein endgültiger Sieg beschieden sein kann, das teilte sich instinktiv der großen Menge mit. In den Wiener Straßen hat sich allerdings nie das schrille Johlen eines billigen Hurrapatriotismus vernehmbar gemacht. Hier flammte nicht das vergängliche Strohfeuer der Eintagsbegeisterung auf. Dieser alte deutsche Staat hat seit
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Kriegsbeginn sich die schönsten deutschen Volkstugenden zu eigen gemacht: das zähe Selbstvertrauen und die tiefinnere Gläubigkeit an den Sieg der guten und gerechten Sache.“9
Viele Szenen haben die Tätigkeit der Kriegsberichterstatter zum Gegenstand. Kraus widmete sich dabei mit besonderem Haß der Journalistin Alice Schalek (ebenfalls eine reale Person), die sehr bewundert wurde, da sie als erste Frau die Front besuchte. Wieder sind direkte Zitate aus den Berichten der Schalek in den Text verwoben. In einer Szene10 erscheint sie an der italienischen Front. Sie besteht darauf, ganz nach vorn zum Ausguck zu gehen. Die feindliche Artillerie beginnt zu arbeiten, und die Schalek zieht einen widerwilligen Offizier ins Gespräch: …also jetzt sagen Sie mir Herr Leutnant, ob eines Künstlers Kunst spannender, leidenschaftlicher dieses Schauspiel gestalten könnte. Jene, die daheim bleiben, mögen unentwegt den Krieg die Schmach des Jahrhunderts nennen – hab’ ich’s doch auch getan, solange ich im Hinterlande saß – jene, die dabei sind, werden aber vom Fieber des Erlebens gepackt. Nicht wahr Herr Leutnant, Sie stehen doch mitten im Krieg, geben Sie zu, manch einer von Ihnen will gar nicht, daß er ende!
Der Offizier bestreitet dies und sagt, jeder wünsche dies. Feindliche Geschosse schlagen ein. Die Schalek entschuldigt sich, daß sie die verschiedenen Kaliber noch nicht auseinanderhalten kann und bedauert dann, daß die Artillerie nun schweigt. Der Offizier fragt: „Sind Sie zufrieden?“ Die Schalek: Wieso zufrieden? Zufrieden ist gar kein Wort! Nennt es Vaterlandsliebe, ihr Idealisten; Feindeshaß, ihr Nationalen; nennt es Sport, ihr Modernen; Abenteuer, ihr Romantiker; nennt es Wonne der Kraft, ihr Seelenkenner – ich nenne es freigewordenes Menschentum. Der Offizier: Wie nennen Sie es? Die Schalek: Freigewordenes Menschentum. Der Offizier: Ja wissen Sie, wenn man nur wenigstens alle heiligen Zeiten einmal einen Urlaub bekäme! Die Schalek: Aber dafür sind Sie doch durch die stündliche Todesgefahr entschädigt, da erlebt man doch was! Wissen Sie, was mich am meisten intressiert? Was denken Sie sich, was für Empfindungen haben Sie?… Eine Ordonnanz (kommt): Melde gehorsamst, Herr Leutnant, Zugführer Hofer ist tot. Die Schalek: Wie einfach der einfache Mann das meldet! Er ist blaß wie ein weißes Tuch. Nennt es Vaterlandsliebe, Feindeshaß, Sport, Abenteuer oder Wonne der Kraft – ich nenne es freigewordenes Menschentum. Ich bin vom Fieber des Erlebens gepackt! Herr Leutnant, also sagen Sie, was denken Sie sich jetzt, was für Empfindungen haben Sie?
In einer ähnlichen Szene besucht ein Feldgeistlicher die Front.11 Ein Infanterieoffizier: Da schauts nach rückwärts, unser guter Feldkurat kommt zu uns. Das is schön von ihm.
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Der Feldkurat Anton Allmer: Gott grüß euch, ihr Braven! Gott segne eure Waffen! Feuerts tüchtig eini in die Feind? Der Offizier: Habe die Ehre Hochwürden – wir sind stolz, einen so unerschrockenen Feldkuraten zu haben, der trotz feindlicher Feuerwirkung, der drohenden Gefahr nicht achtend, sich unserer Feuerstellung nähert. Der Feldkurat: Gehts, laßts mich auch a wengerl schießen. Der Offizier: Wir freuen uns alle, einen so tapfern Feldkuraten zu haben! (Er reicht ihm ein Gewehr. Der Feldkurat feuert einige Schüsse ab.) Der Feldkurat: Bumsti! Rufe: Bravo! Ist das aber ein edler Priester! Hoch unser lieber Feldkurat!
Selbst dort, wo Kraus nicht direkt aus der Presse zitiert, stellt er Texte her, die leicht dort hätten veröffentlicht werden können. Die Parodie wird schwierig, wenn die Realität die erfindungsreichste satirische Phantasie hinter sich läßt. In den immer wieder stattfindenden Unterhaltungen zwischen zwei satirischen Typen, dem Abonnenten und dem Patrioten, zitieren sich die beiden meist gegenseitig Pressemeldungen, manchmal unterhalten sie sich in Schlagzeilen: Der Abonnent: …Entmutigung in Frankreich! Der Patriot: Verdrossenheit in England! Der Abonnent: Verzweiflung in Rußland! Der Patriot: Zerknirschung in Italien! Der Abonnent: Überhaupt, die Stimmungen in der Entente! Der Patriot: Es rieselt im Gemäuer. Der Abonnent: An Poincaré nagt die Sorge. Der Patriot: Grey ist mißmutig. Der Abonnent: Der Czar wälzt sich im Bett. Der Patriot: Beklemmung in Belgien. Der Abonnent: Das erleichtert! Demoralisation in Serbien. Der Patriot: Da fühlt man sich! Verzweiflung in Montenegro.12
Zwei andere typische Figuren, deren lange Gespräche das ganze Stück durchziehen, sind der Optimist und der Nörgler; letzterer ist die Persona, in der Kraus selbst auftritt. In einer dieser Unterhaltungen zieht der Nörgler eine Reihe von Pressemeldungen hervor, die derartige Geschmacklosigkeiten schildern, daß der Optimist immer wieder ruft, das sei unmöglich.13 Zuerst kommt der Bericht über eine Theateraufführung in Wien zum Gedenken an eine Schlacht an der Ostfront, bei Uszieczko. Es sollen damit alle geehrt werden, die in der Schlacht gefallen sind. Als Schauspieler treten die realen Überlebenden des Regiments auf, das jene Schlacht geschlagen hat; manche tragen Auszeichnungen, die sie sich dort verdient haben. Ein Teil des Publikums besteht aus den Witwen und Waisen der Gefallenen. Die Schlacht von Uszieczko wird auf der Bühne nachgespielt, wo die Landschaft der betreffenden Region sorgfältig rekonstruiert worden ist. Zum
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Schluß des Stückes knien die Soldaten auf der Bühne nieder und stimmen die Nationalhymne an; das Publikum, in dem hohe militärische Würdenträger und zivile Beamte sowie „Vertreter der vornehmsten Gesellschaft“ sitzen, fällt ein. Ein anderer Text ist eine Großhandelsreklame aus Deutschland. Ein Gedenkblatt „Er starb den Heldentod fürs Vaterland“ wird zum Endverkaufspreis von einer Mark angeboten. Eine Photographie des Toten kann in der Mitte dieses Wandschmucks befestigt werden. Um das Photo herum sieht man Schlachtenszenen, das Eiserne Kreuz und Bilder von Wilhelm I., Bismarck und Moltke. Der Optimist ruft angesichts dieses „glänzenden Verkaufsartikels“ wieder, das könne nicht wahr sein – „Sagen Sie, daß es – von Ihnen ist – daß das alles von Ihnen ist!“ Der Nörgler sagt zwar: „Es ist von mir“, doch der Leser bleibt im Zweifel, was genau das heißen soll. Die Reklame kann durchaus echt zitiert sein; es gab vieles in dieser Art. Man begegnet auch der Technik einer Kontrastierung von (realen oder erfundenen) Zitaten, die Kraus in der Fackel oft verwendete. In einer Szene erscheinen zwei Benedikte – zuerst der betende Papst, dann der diktierende Herausgeber der Neuen Freien Presse, Moritz Benedikt.14 Man hört die Stimme des betenden Benedikt. Im heiligen Namen Gottes, unseres himmlischen Vaters und Herrn, um des gesegneten Blutes Jesu willen, welches der Preis der menschlichen Erlösung gewesen, beschwören wir Euch, die Ihr von der göttlichen Vorsehung zur Regierung der kriegführenden Nationen bestellt seid, diesem fürchterlichen Morden, das nunmehr seit einem Jahre Europa entehrt, endlich ein Ziel zu setzen. Es ist Bruderblut, das zu Lande und zur See vergossen wird. Die schönsten Gegenden Europas, dieses Gartens der Welt, sind mit Leichen und Ruinen besät. Ihr tragt vor Gott und den Menschen die entsetzliche Verantwortung für Frieden und Krieg. Höret auf unsere Bitte, auf die väterliche Stimme des Vikars des ewigen und höchsten Richters, dem Ihr werdet Rechenschaft ablegen müssen… Man hört die Stimme des diktierenden Benedikt. Und die Fische, Hummern und Seespinnen der Adria haben lange keine so guten Zeiten gehabt wie jetzt. In der südlichen Adria speisten sie fast die ganze Bemannung der „Leon Gambetta“. Die Bewohner der mittleren Adria fanden Lebensunterhalt an jenen Italienern, die wir von dem Fahrzeug „Turbine“ nicht mehr retten konnten, und in der nördlichen Adria wird den Meeresbewohnern der Tisch immer reichlicher gedeckt. Dem Unterseeboot „Medusa“ und den zwei Torpedobooten hat sich jetzt der Panzerkreuzer „Amalfi“ zugesellt…
In einer späteren Unterhaltung zwischen Abonnent und Patriot wird dieser Leitartikel als Beleg für die humane Haltung Österreichs zitiert, wo man selbst in Kriegszeiten sich Sorgen um das Wohlergehen der adriatischen Meeresfauna macht. Einige der wichtigsten satirischen Figuren, die immer wiederkehren (und übrigens in gewisser Weise an die festen Figuren der commedia dell’arte erinnern), sind bereits erwähnt worden – Nörgler und Optimist, Abonnent und Patriot, die
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Militärkretins von der Sirkecke. Eine weitere solche Figur ist der alte Biach, der in gewisser Weise schon in der ersten Szene des Stücks als der „älteste Abonnent der Neuen Freien Presse“ erscheint und als Typus die aufgeklärte jüdische Bourgeoisie repräsentiert. Biach spricht streckenweise ausschließlich in Leitartikelzitaten. Zuletzt erscheint er auf der Esplanade in Bad Ischl, zusammen mit dem Abonnenten und dem Patrioten. Biach taucht dort sehr erregt auf, weil er eine Diskrepanz zwischen den letzten Communiqués aus Wien und Berlin entdeckt zu haben meint. In Wien heißt es über die jüngste Begegnung der beiden Staatsoberhäupter, „daß die erlauchten Monarchen an ihren bündnisvertiefenden Beschlüssen festhalten“, während im Berliner Communiqué „die gleiche und treueste Auslegung des Bündnisses“ festgestellt wird. Könnte sich darin eine Meinungsverschiedenheit ausdrücken? Biach zitiert in zunehmender Erregung verschiedene Zeitungskommentare, die dieses Problem umständlich umkreisen. Er bricht zusammen, als man ihm sagt, dieser ganze Aufwand sei gegenstandlos. Mit größter Anstrengung stößt er einige berühmte Benediktsche Phrasen hervor. Seine letzten Worte sind: „Das ist der Schluß vom Leitartikel.“ Er stirbt, umgeben von tief gerührten Mitabonnenten. Im Fortgang des Stücks werden die Szenen immer brutaler, schließlich makaber. Szene: Eine Polizeiwachstube.16 Eine Prostituierte wird hereingebracht. Sie ist verlaust, syphilitisch, wegen Diebstahl und Vagabundage bereits notorisch. Sie ist siebzehn. Verächtlich fragt der Inspektor nach ihrer Familie. Der Vater ist beim Militär, die Mutter ist gestorben.Wie lange ist sie schon auf der Straße? Seit 1914. – Szene: Ein Militärgericht im österreichisch besetzten Serbien.17 Ein dem Gerichtshof angehörender Oberleutnant fragt den Schriftführer, ob die drei Todesurteile schon ins Reine geschrieben sind – Urteile, die über junge Burschen verhängt worden sind, bei denen Gewehre gefunden wurden. Der Schriftführer: Jawohl, aber (zögernd) da – möchte ich auf einen Umstand aufmerkam machen, da – hab ich die Entdeckung gemacht – daß sie erst achtzehn Jahre alt sind – Der Oberleutnant-Auditor: Nun und? Was wollen Sie damit sagen? Der Schriftführer: Ja – da dürfen sie aber – nach dem Militärstrafgesetz nicht hingerichtet werden – da muß das Urteil auf schweren Kerker abgeändert werden – Der Oberleutnant-Auditor: Gebn S’ her! (Er liest.) Hm. Da wern wir nicht das Urteil, sondern das Alter abändern. Es sind sowieso stattliche Burschen. (Er taucht die Feder ein.) Da schreiben wir halt statt achtzehn einundzwanzig. (Er schreibt.) So, jetzt kann man sie ruhig aufhängen.
Kraus schrieb auch eine Reihe von Szenen, die den Größenwahn und die Stupidität des deutschen Kaisers verhöhnen, andere, die Mitglieder des Hauses Habsburg als hoffnungslos vertrottelt schildern. Er verschonte den alten Kaiser Franz Joseph I. weitgehend, obwohl er auch ihm nach dem Krieg ebenso wie der
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gesamten Dynastie Schuld am Kriege gab. Auch legte Kraus nicht den Gedanken nahe, daß Kriegsgreuel nur auf Seiten der Mittelmächte begangen wurden. In zwei aufeinanderfolgenden Szenen befiehlt ein deutscher Offizier namens Niedermacher die Tötung verwundeter Kriegsgefangener, darauf berichtet ein französischer Offizier namens de Massacre, wie er seine Soldaten einhundertachtzig Gefangene hat bajonettieren lassen.18 Das Stück endet mit einem Bankett, einem „Liebesmahl“, in einem Offizierskasino.19 Deutsche und österreichische Offiziere feiern, die Kapelle spielt, in der Ferne hört man Geschützfeuer. Die Offiziere schwatzen Banalitäten und Klatsch daher, versichern sich gegenseitig sentimental ihrer Wertschätzung und tauschen gutgelaunt Geschichten über die von ihnen begangenen Greueltaten aus. Die immer wieder eintreffenden Nachrichten von militärischen Katastrophen halten den Verlauf des Fests nicht auf; schließlich bricht der Feind durch, es entsteht ein Tumult, dem Stille folgt. Hinter den erstarrten Anwesenden erscheint eine lange Reihe von Bildern an der Wand, jedes erfüllt vom Entsetzen des Krieges – Flüchtlinge in Schneewüsten, ein Militärgericht, das Minderjährige zum Tod verurteilt, Hinrichtungen, Massaker an Kriegsgefangenen und so weiter. Verschiedene Figuren treten auf und rezitieren Gedichte – ein Chor von Gasmasken, erfrorene Soldaten, die letzten Worte eines alten serbischen Bauern, dem man die Kinder an die Wand gestellt hat, und so weiter. Hier mündet die Satire in eine unerbittliche Klage ein. Das vielleicht beste Gedicht Kraus’ in dieser Reihe ist „Der tote Wald“, in dem die Natur selbst ihre Anklage gegen die Menschen vorbringt, welche sie zerstört haben. Die Bilder enden, und der Horizont wird zu einer Flammenwand. Es folgt die letzte Eskalation der apokalyptischen Prophetie: ein Epilog mit dem Titel „Die letzte Nacht“.20 Weitere Szenen des Grauens; Gedichte, die einer geschändeten Menschheit gelten. Hyänen mit Menschengesichtern erscheinen und tanzen um Leichenberge. Geheimnisvolle Zeichen erscheinen am Himmel, feurige Sterne, Kreuze und Schwerter. Während die Welt in einem Flammenmeer versinkt, wiederholen immer noch Stimmen die Banalitäten der Leitartikel. Die Erde endet in Weltendonner. Eine Stimme von oben verkündet die Zerstörung von Gottes Ebenbild. Ein großes Schweigen tritt ein. Dann hört man die Stimme Gottes: „Ich habe es nicht gewollt.“ Das ist die letzte Ironie: Es sind dies die Worte, die Kaiser Franz Joseph bei Kriegsausbruch gesprochen haben soll. Kraus’ Stück ist ein klares Beispiel für die oben vorgetragene These, daß alle Satire im Grunde ein Akt der Verfluchung ist. Das Stück zeigt die Größe und nahezu prophetische Gewalt, zu denen Satire fähig ist, wenn eine moralische Leidenschaft sie treibt. Niemand wird die Zielrichtung der. moralischen Verdammung kritisieren wollen, die Kraus unternimmt: zielend auf die Bestialität, zu der Menschen fähig sind. Dies war schon zu Friedenszeiten Gegenstand von Kraus’ Satire, wie seine Angriffe auf die Justiz und den Strafvollzug zeigen, der Krieg
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bringt aber notwendigerweise eine gigantische Vermehrung aller bereits in einer Gesellschaft angelegten Grausamkeiten. Doch zeigt das Stück – zeigt in der Tat Kraus’ gesamtes Werk – auch die Grenzen der Satire. Die Erkenntnis dieser Grenzen trägt zum Verständnis von Kraus’ politischer Unsicherheit nach dem Kriege bei und verleiht auf merkwürdige Weise den Einwänden des Optimisten gegen den Nörgler (gegen Karl Kraus also) ein gewisses Gewicht. Denn worauf zielt hauptsächlich der Fluch von Karl Kraus? Man müßte antworten: auf die österreichische Gesellschaft seiner Zeit insgesamt, und insbesondere auf das politische System der letzten Jahre der Monarchie. Die Einwände des Optimisten lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Sie übertreiben! Hat Kraus übertrieben? Eine abgewogene Antwort würde wohl lauten: Nein und Ja. Einerseits hat Kraus nicht übertrieben. Die entsetzlichen Schrecknisse, die er darstellt, haben stattgefunden, es gab viele Individuen in den herrschenden Schichten von Österreich-Ungarn und Deutschland, die so stupid und unmenschlich waren, wie er sie schilderte, und die Presse spielte tatsächlich die jämmerliche Rolle, die er beschrieb. Andererseits hat er doch übertrieben – zumindest in dem Sinne, daß seine satirischen Angriffe vom Standpunkt einer absoluten Moral vorgetragen werden, die keinen Raum für die Widersprüchlichkeiten und Relativitäten der Geschichte läßt. Man kann hier die moralischen Absurditäten beiseitelassen, zu denen ihn seine Sprachmystik führte – wie in dem bekannten Fall, als er nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland eine Emigrantenzeitung in der Tschechoslowakei verklagte, weil in einem zitierten Text von ihm ein Komma fehlte. Wir können auch von der einigermaßen grandiosen und humorlosen Auffassung absehen, die Kraus von seiner eigenen Aufgabe hatte. Das allgemeinere Problem ist hier das, was man vielleicht die moralische Präzision von Satire nennen könnte. Im Rückblick erscheint der österreichisch-ungarische Staat humaner als die meisten auf ihn folgenden Regierungen Mitteleuropas. Im Rückblick sehen wir in der sozialen Gruppe, die Kraus am unnachgiebigsten satirisch bekämpft hat, der liberalen jüdischen Bourgeoisie und ihrer Presse (insbesondere der Neuen Freien Presse), eine der Stützen dieses relativ humanen Staates. Man kann einen Autor nicht deswegen kritisieren, weil er die im Rückblick einer späteren Epoche zutagetretenden Einsichten nicht vorweggenommen hat, aber Kraus hielt noch Mitte der dreißiger Jahre mehr oder weniger an seinen Meinungen fest. Doch geht es noch um eine grundsätzlichere Frage. Jede menschliche Gesellschaft hat ihre Schrecken und Greuel, auch die anständigste in Friedenszeiten. Es gibt überall die Linie, die – mit den Worten der Dreigroschenoper – diejenigen, die im Dunkeln sind, von jenen im Licht trennt. Die moralisch inspirierte Satire muß sich notwendigerweise auf diesen Bezirk des Dunkels konzentrieren. In diesem Sinne sind Kraus’ Angriffsziele in der Strafjustiz, die von Anbeginn der Fackel an attackiert
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wurde, gut gewählt: Das Gesetz und die Institutionen, welche ihm Geltung verschaffen, sind die Mechanismen, mit denen die Gesellschaft ihre Regionen der Dunkelheit verwaltet – oder, besser gesagt, mit denen sie jene kontrolliert, die gezwungen sind, diese Regionen zu bewohnen. Der Widerspruch zwischen der Sentimentalität der Wiener Operette und den Grausamkeiten der Wiener Polizei findet in jeder Gesellschaft, entsprechend modifiziert vom genius loci, sein Äquivalent. Doch muß die Satire, strebt sie moralische Genauigkeit an, abwägen, was diese Dunkelzonen gegen den Status der Gesellschaft insgesamt aussagen. Dies ist gewiß nicht einfach, aber auch nicht unmöglich. Diese Überlegungen führen zurück zu den Bemerkungen, die im letzten Kapitel über den Witz gemacht wurden. Auch die Satire ist sozusagen epistemologisch neutral. Ihre rhetorische Macht bedeutet nicht unbedingt, daß ihre Wiedergabe der Wirklichkeit richtig ist. Die Satire kann wie der Witz die Realität verzerren, kann sogar lügen. In unserem Fall können wir die Eloquenz und die moralische Leidenschaft bewundern, mit welcher Kraus die liberale Presse seiner Zeit attackiert hat, können sogar einräumen, daß manche seiner moralischen Verdammungsurteile (etwa das über die Journalisten, die sich der blutrünstigen Kriegspropaganda verschreiben) Gültigkeit besitzen. Und doch kann man zu dem Schluß kommen, daß Kraus’ Angriff im Letzten ungerecht war.
11 Zwischenspiel: Die ewige Wiederkehr der Narrheit Es ist an der Zeit, wieder einen Blick auf die Narrheit zu werfen, deren Hinscheiden so oft verkündet worden ist. Anton Zijderveld, wie gesagt einer der wenigen Soziologen, die sich konzentriert mit dem Phänomen des Komischen befaßt haben, zitiert ein französisches Gedicht, das um das Jahr 1513 entstanden ist und in dem dieser Tod geleugnet wird. Frei übersetzt: „Du sagst mir, daß Frau Torheit tot ist? Meiner Treu, du lügst. Nie war sie so groß und so mächtig wie jetzt!“1 Doch auch Zijderveld dachte, nur ein paar Jahrhunderte später, die Narrheit sei gestorben. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß er sich da getäuscht hat. Er konnte natürlich den Nachweis führen, daß gewisse soziale Rollen wie etwa die des Hofnarren verschwunden sind. Doch die Narrheit tritt immer und immer wieder hervor, in stets neuen Verkörperungen. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn die zentrale These dieses Buches irgendeine Berechtigung hat, denn die Wahrnehmungen, die zu dem umgekehrten Weltbild der Narrheit führen, wo alles auf dem Kopf steht, ergeben sich aus der menschlichen Existenz als solcher. Anders gesagt: Narrheit ist anthropologisch notwendig. Ein starkes Beispiel für diese Wiederkehr der Narrheit ist das sogenannte absurde Theater, le théâtre de l’absurde, das in Paris nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Stücken von Beckett, Ionesco, Genet und anderen explodierte (es gibt kein anderes Wort). Martin Esslin, der das Standardwerk über diese Episode der Theatergeschichte geschrieben hat, spricht darüber hinaus jedoch auch von der „Tradition des Absurden“.2 Hierzu gleich mehr. Was aber soll der Ausdruck „absurd“ eigentlich bedeuten? Die Etymologie ist für eine begriffliche Klärung nicht immer hilfreich: in diesem Fall ist sie es. Das lateinische absurdus bedeutet „mißtönend“ und von daher „ungereimt“, „widersinnig“. Selbst die gelegentlich begegnende küchenlateinische Auflösung ab-surdus, „von der Taubheit her“, führt auf den interessanten Gedanken, daß es sich um eine Weltsicht handelt, bei der aus der Welt die Sprache verschwunden ist und die Handlungen dementsprechend sinnlos erscheinen. Wer über ein normales Gehör verfügt, kann dieses Erlebnis einfach nachvollziehen, indem er den Fernseher ohne Ton laufen läßt: Die Schauspieler auf dem Bildschirm sind geschäftig wie zuvor, aber es ist die meiste Zeit nicht möglich, festzustellen, was ihre Handlungsweisen bedeuten. Die Wirkung ist gewöhnlich eine komische. So erscheint für den Tauben all das, was sprachlich vermittelt selbstverständlich ist, problematisch. Taubheit problematisiert die Welt. Manche Psychologen glauben festgestellt zu haben, daß taube Menschen besonders mißtrauisch sind. Sie müssen sich eben unwillkürlich das aneignen, was
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Nietzsche als philosophische Disziplin empfiehlt: die „Kunst des Mißtrauens“. Wenn Nietzsche recht hat, dürfen wir schließen, daß die Taubheit wegen ihrer Problematisierung der normalen Wirklichkeit einen gewissen Erkenntnisgewinn mit sich bringt (der natürlich das Unglückselige des Zustandes nicht mildert). Das Absurde stellt eine bizarre, groteske Wirklichkeit dar – eine Gegenwelt genau in dem Sinne, in welchem Zijderveld den Titel für seine Untersuchung der Narrheit gewählt hat: „Wirklichkeit in einem Spiegel“. Die Etymologie von „grotesk“ ist auch einen kurzen Blick wert: Grotesken, grottesche, nannte man die seltsamen ornamentalen Wandmalereien, die man im Rom der Renaissance bei der Wiederentdeckung antiker Palastanlagen tief unter der Erde fand. Es ist, als verließe man die sonnenbeschienene Welt der Realität und käme in eine dunkle Grotte, in der man plötzlich vor verblüffend seltsamen Bildern steht. Wenn eine solche Erfahrung hinreichend intensiv ist, wird man von dieser anderen Wirklichkeit umschlossen, und die normale Außenwelt verliert zumindest zeitweilig ihren „Wirklichkeitsakzent“. Das Bild einer solchen Höhle paßt hervorragend zu Schütz’ Begriff des „geschlossenen Sinnbereichs“. Die meisten Verbindungen, die Esslin in seinen Ausführungen zur Tradition des Absurden herstellt, sind im Verlauf dieses Buches schon berührt worden – es geht vorwiegend um die, sagen wir, apostolische Sukzession von der dionysischen Orgie über die mittelalterlichen Narrenfeste zu den Hofnarren und Clowns jüngerer Vergangenheit. Untersucht man diese Tradition mit spezifischem Bezug auf die Bühne, so führt sie von der griechischen Komödie der Antike über die commedia dell’arte zum modernen Vaudeville und den heroischen Clowns des Kinos wie Charlie Chaplin (dessen Absurdität übrigens, ganz im Sinne der oben beschworenen Taubheits-Etymologie, in den Stummfilmen stärker zum Vorschein kommt). In der langen Geschichte des Absurden gibt es einen besonders wichtigen wiederkehrenden Zug: die Attacke auf die Sprache. Die Erfahrung des Absurden hämmert gegen die Grenzen der normalen, als selbstverständlich vorausgesetzten Sprache, die einfach nicht in der Lage ist, das Absurde auszudrücken. Hier ähnelt das Absurde als Verkörperung des Komischen wieder Religion und Magie. Die normale Sprache kann die Wirklichkeit religiöser Erfahrung nicht ausdrücken, und wir stellen in der Religionsgeschichte fest, daß wieder und wieder Sondersprachen – wie die Glossolalie, das Zungenreden der Pfingstbewegung zum Beispiel – erfunden worden sind, um diese Schwierigkeit zu überwinden. Diese Spezialsprachen erscheinen wie die Sprache der Magie dem Uneingeweihten typischerweise als barer Unsinn. Esslin zählt dementsprechend zur „Tradition des Absurden“ solche Phänomene wie das deformierte Latein der Goliarden und die Spracherfindungen von Rabelais und Villon, aber auch moderne Schöpfungen wie die „Spiegel“-Logik von Lewis Carrolls Alice-Büchern, die Nonsense-Lyrik von
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Edward Lear und die Galgenlieder von Morgenstern, sowie auch Texte von Kafka. Als unmittelbare Vorläufer des théâtre de l’absurde in Frankreich muß man die literarischen und bildnerischen Produktionen des Surrealismus und Dadaismus sehen. Über jene Bewegung hinaus, die sich so nannte, dürfen auch alle Ausdrucksformen des Absurden „surreal“ genannt werden – das heißt, sie transzendieren (buchstäblich) das, was in der normalen Alltagswirklichkeit als gegeben vorausgesetzt wird. Ein wichtiger Vorläufer des absurden Theaters in Frankreich war Alfred Jarry (1873 – 1907), ein exzentrischer Bohémien, dessen Werke während seines kurzen und unglücklichen Lebens Aufmerksamkeit erregten, aber auch in der Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg wieder viel Beachtung fanden.3 Er war wegen seiner Neigung zu komplizierten Streichen berüchtigt; sein ganzes Œuvre ließe sich in gewisser Weise als ein gigantischer Streich beschreiben, ausgeführt mit den Mitteln einer beeindruckenden Gelehrsamkeit. Am bekanntesten ist Jarrys Theaterzyklus um die Figur des unförmigen Ubu, der seine Laufbahn als Usurpator von Polen beginnt, umgeben von anderen grotesken Gestalten. Doch könnte man sagen, daß Jarrys spätere Werke eigentlich interessanter sind, insbesondere seine Entwicklung der revolutionären neuen Wissenschaft der „Pataphysik“. Die Wirkung von Jarrys Stücken ist vom gedruckten Text kaum zu vermitteln. Alles hängt von der dramatischen Realisierung auf der Bühne ab.Wie im späteren absurden Theater beruht die Wirkung auf der todernsten Zelebrierung völlig lächerlicher Handlungen und Dialoge (einer Technik, die nicht zufällig auch bei den großen Clowns oder bei manchen Kabarettkomikern zu finden ist). Das gilt beispielsweise für den vollkommen absurden Dialog zwischen Ubu und seinem Gewissen, einem langen, dünnen Burschen, der nur ein Hemd trägt und in einem Koffer wohnt. Es ist bedeutsam, daß die Gestalt des Ubu auf einen frühen dramatischen Versuch Jarrys zurückgeht, der als parodistische Verhöhnung eines Lehrers am lycée entworfen wurde; damals war Jarry fünfzehn. Ein amerikanischer Kritiker spricht von Jarrys „ungehemmtem pubertärem Nihilismus“.4 Seine nichtdramatischen Texte, die meist als sogenannter „spekulativer Journalismus“ in Zeitungen veröffentlicht wurden, enthalten solche Arbeiten wie Ubus Antrag auf Patente für den angeblich von ihm erfundenen Regenschirm, den Pantoffel und den Handschuh (alle sorgfältig und akkurat beschrieben), detaillierte Anweisungen zum Bau einer Zeitmaschine und den Vorschlag eines Priesters, alle Statuen der Madonna mit dem Jesuskind in Automaten umzuwandeln, bei denen nach dem Vorbild des Brüsseler Manneken-Pis der kleine Jesus Weihwasser urinieren würde. Jarrys magnum opus jedoch war der sogenannte neowissenschaftliche (néo-scientifique) Roman Taten und Meinungen des Doktor Faustroll, Pataphysiker. Das Werk läßt sich am ehesten als eine Art Enzyklopädie des Nonsens beschreiben, zum größten Teil sehr schwer verständlich. Nach Jarrys Tod wurde
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eine Universität der Pataphysik gegründet, in deren Veröffentlichungen einige von Frankreichs bedeutendsten Autoren an der Interpretation der neuen Wissenschaft weiterarbeiteten, nur halb im Scherz. So wird der Held des neowissenschaftlichen Romans eingeführt: Dr. Faustroll wurde 1898 (das zwanzigste Jahrhundert war –2 Jahre alt) in Zirkassien geboren, im Alter von dreiundsechzig Jahren. In diesem Alter, das er sein ganzes Leben lang beibehielt, war Dr. Faustroll ein Mann von mittlerer Größe,… von goldgelber Hautfarbe, glattrasiert bis auf einen meergrünen Schnurrbart, wie ihn König Saleh trug; die Haare seines Kopfes waren Stück für Stück abwechselnd aschblond und pechschwarz, eine rötlichbraune Relativität, die sich je nach Sonnenstand veränderte; seine Augen waren zwei Kapseln gewöhnlicher Tinte, angerichtet wie Danziger Goldwasser mit goldenen Spermatozoen darin.5
So wird Dr. Faustrolls „neue Wissenschaft“ definiert: Ein Epiphänomen ist das, was sich einem Phänomen hinzufügt. Die Pataphysik… ist die Wissenschaft dessen, was sich der Metaphysik hinzufügt, innerhalb derselben oder jenseits ihrer Begrenzungen, wobei die Pataphysik so weit über die Metaphysik hinausreicht wie diese über die Physik. Z. B.: Da ein Epiphänomen oft akzidentiell ist, wird die Pataphysik vor allem die Wissenschaft des Besonderen sein, der verbreiteten Auffassung zuwider, daß eine Wissenschaft es immer mit dem Allgemeinen zu tun hat. Die Pataphysik wird die Regeln erforschen, welchen die Ausnahmen folgen, und wird das Universum beschreiben, welches sich zu diesem supplementär verhält – oder sie wird (weniger ehrgeizig) ein Universum beschreiben, das man sich an Stelle des traditionellen Universums vorstellen könnte beziehungsweise vielleicht vorstellen sollte, da die Gesetze, die man im traditionellen Universum entdeckt zu haben vermeint, auch nur Korrelationen von Ausnahmen sind, wenn auch von häufiger vorkommenden, jedenfalls aber akzidentielle Fakten, die, weist man ihnen den Status von wenig exzeptionellen Ausnahmen zu, nicht einmal mehr die Faszination der Originalität besitzen. Definition: Pataphysik ist die Wissenschaft imaginärer Lösungen, die symbolisch den Umrissen die Eigenschaften der von ihrer Virtualität beschriebenen Objekte zumißt.6
Ist dies nur ein Nonsensscherz? Vielleicht. Und doch ist es begreiflich, daß einige sehr intelligente Kritiker versucht haben, genuine Erkenntnisse dort zu finden, wo man auf den ersten Blick nur einen Wust witzigen Unsinns wahrnimmt. Schließlich ist Dr. Faustroll nicht der erste große Denker, der aufbricht, um ein Universum zu suchen, „welches sich zu diesem supplementär verhält“. Jedenfalls sind die Möglichkeiten des pataphysischen Denkens unbegrenzt. So wird Dr. Faustroll auf seinen Reisen (in einem Boot, das ein Sieb ist) von einem Pavian namens Bosse-de-Nage begleitet, dessen einzige sprachliche Äußerung „Ha ha“ (A-A) ist. Dieser Ausdruck wird genau analysiert, und es wird versucht, daraus die Weltanschauung des Pavians zu rekonstruieren:
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Wird es rasch genug ausgesprochen, daß die einzelnen Laute verschmelzen, so gibt [Ha ha] die Idee der Einheit wieder. Langsam ausgesprochen ist es die Idee der Dualität, des Echos, der Ferne, der Symmetrie, der Größe und der Dauer, der beiden Prinzipien des Guten und Bösen. Doch diese Dualität beweist auch, daß die Wahrnehmung von Bosse-de-Nage notorisch diskontinuierlich war, um nicht zu sagen diskontinuierlich und analytisch, und insofern für jegliche Synthese und Adäquanz ungeeignet. Man kann mit Zuversicht behaupten, daß er den Raum nur in zwei Dimensionen wahrzunehmen vermochte und sich der Idee des Fortschritts gegenüber abweisend verhielt, welche bekanntlich eine Spiralform impliziert. Es wäre im übrigen ein kompliziertes Problem, zu studieren, ob das erste A die effiziente Ursache des zweiten war. Begnügen wir uns mit der Feststellung, daß Bosse-de-Nage gewöhnlich nur AA und nichts weiter aussprach (AAA wäre die medizinische Notation für Amalgam), insofern offenbar keine Vorstellung von der heiligen Dreifaltigkeit hatte noch von allen dreifachen Dingen noch von dem Unbestimmten noch von dem Universum, das man als die Mehreren definieren kann.7
Es gibt sogar eine pataphysische Theologie. Ein Abschnitt „Über die Oberfläche Gottes“ beginnt: Gott ist per definitionem ohne Ausdehnung, doch ist es um der Klarheit unserer Darlegungen willen gestattet, obgleich er keine Dimensionen besitzt, ihm eine beliebige Zahl davon über Null beizulegen, sofern diese Dimensionen auf den beiden Gleichungsseiten unserer Identität verschwinden. Wir werden uns mit zwei Dimensionen begnügen, damit die geometrischen Figuren ohne weiteres auf der Fläche eines Blatts Papier gebildet werden können.
Im Weiteren wird auf dem Hintergrund einer Vision der Mystikerin Anna Katharina Emmerich, die das Kreuz in Form eines Y sah, postuliert, daß Gott die Form dreier gleicher Geraden der Länge a hat, die vom selben Punkt ausgehen und in einem Winkel von 120 Grad zueinander stehen. Es folgt eine Reihe undurchdringlicher algebraischer Formeln, die in der Definition kulminieren: „Gott ist die kürzeste Strecke zwischen Null und Unendlich“, beziehungsweise „der Tangentialpunkt von Null und Unendlich“.8 Jarrys Pataphysik ist, kurz gesagt, die Konstruktion einer Gegenwelt mittels einer Gegensprache und einer Antilogik. Darin ist sie eine getreue Nachbildung der entscheidenden Züge klassischen Narrentums. Und genau dies suchte auch das absurde Theater ein halbes Jahrhundert später zu leisten. Eugène Ionesco (1912– 1994) hat nicht nur einige der bekanntesten Stücke dieses Genres verfaßt, er hat auch wiederholt erklärt, wie er dazu kam und wie seine Absichten zu verstehen sind. In die Welt der Narrheit beziehungsweise die Welt des Absurden tritt man ein, indem die gewöhnliche Welt durch eine Art Schock relativiert wird (man denke hier noch einmal an das, was Schütz über den Eintritt in die „geschlossenen Sinnbereiche“ sagt). Ein plötzlicher Verlust des
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Vertrauens in die Verläßlichkeit der Sprache ist ein solcher Schock. 1948 begann Ionesco Englisch zu lernen. In seinem Lehrbuch „erfuhr“ er so erstaunliche Tatsachen wie die, daß die Woche sieben Tage hat oder daß der Fußboden unten, die Decke oben ist. Er erlebte seinem eigenen Bericht zufolge eine plötzliche Verschiebung seines Realitätsgefühls: Was bis dahin gedankenlos vorausgesetzt worden war, erschien nun im Medium der neuen Sprache als problematisch. Er schrieb darauf sein erstes Stück über die „Tragödie der Sprache“, Die kahle Sängerin (ein Titel, der mit dem Inhalt des Stückes bis auf zwei kurze Sätze nichts zu tun hat). Das gesamte Stück besteht aus einer Anzahl absurder Unterhaltungen zwischen zwei Ehepaaren, den Smiths und den Martins, dem Dienstmädchen Mary und einem zu Besuch kommenden Feuerwehrhauptmann. Nach einer langen Konversation zwischen den Smiths (einem englischen Middleclass-Ehepaar, das an einem englischen Abend in englischen Sesseln sitzt) erhalten diese Besuch von den Martins, die dann alleingelassen werden, während die Smiths sich umziehen gehen. Eine Weile sitzen die Martins da und lächeln einander schüchtern an. Dann beginnt der Dialog: Mr. Martin: Mrs. Martin: Mr. Martin: Mrs. Martin:
Mr. Martin: Mrs. Martin: Mr. Martin: Mrs. Martin: Mr. Martin: Mrs. Martin:
Entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber mir scheint, daß ich Ihnen schon einmal begegnet bin, wenn ich mich nicht sehr täusche. Mir auch, mein Herr. Es scheint mir, ich bin Ihnen schon einmal begegnet. War es nicht zufällig in Manchester, daß ich Sie zu Gesicht bekommen habe, gnädige Frau? Das ist sehr gut möglich. Ich komme aus Manchester. Aber ich erinnere mich nicht sehr genau, mein Herr. Ich kann es Ihnen nicht sagen, ob ich Sie dort schon einmal gesehen habe oder nicht! Liebe Zeit, das ist ja merkwürdig! Auch ich komme aus Manchester, gnädige Frau! Das ist aber merkwürdig! Ist das nicht merkwürdig? Nur habe ich, gnädige Frau, Manchester vor etwa fünf Wochen verlassen. Wie merkwürdig! Was für ein bizarrer Zufall! Ich, mein Herr, habe ebenfalls Manchester vor etwa fünf Wochen verlassen. Gnädige Frau, ich habe den Morgenzug um halb neun genommen, der in London um 16.45 ankommt. Das ist merkwürdig! Wie überaus bizarr! Und was für ein Zufall! Ich habe genau denselben Zug genommen, mein Herr, ich ebenfalls.
Sie „erfahren“ dann, daß sie im selben Abteil gereist sind, daß sie in London an derselben Adresse wohnen, in derselben Wohnung, und daß sie beide eine kleine Tochter namens Alice haben, die zwei Jahre alt ist und ein weißes und ein rotes Auge hat. Am Ende dieser langen Unterhaltung steht Mr. Martin nach einer Pause des Nachdenkens langsam auf und verkündet („mit derselben ausdrucklosen Stimme“):
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Dann, meine liebe gnädige Frau, glaube ich, daß kein Zweifel bestehen kann: Wir sind uns schon begegnet, und Sie sind meine Gattin…Elizabeth, ich habe dich wiedergefunden!9
Hier ist eine Art wahnwitziger kartesianischer Logik am Werk, die mit komplizierten Mitteln das beweist, was von Anfang an offensichtlich ist. Das ist natürlich komisch. Doch schleicht sich gleichzeitig ein Zweifel ein, ob das Offensichtliche denn wirklich gar so offensichtlich ist. Tatsächlich erklärt das Dienstmädchen Mary, nachdem die beiden einander auf die Entdeckung ihres Ehestandes hin glücklich umarmt haben, sie täuschten sich durchaus, sie seien tatsächlich zwei ganz andere Leute und ihr eigener Name sei Sherlock Holmes. Man fühlt sich an die Übungen erinnert, die Harold Garfinkel, der Begründer der ethnomethodologischen Schule in der amerikanischen Soziologie, seinen Schülern auftrug. Ein Schüler wurde beispielsweise aufgefordert, nach Hause zu gehen und seine Eltern oder seine Frau zu fragen, wie man zur Toilette gelangt, wie man den Eissschrank benutzt oder dergleichen. Das irritierte natürlich die Angesprochenen, doch war nicht dies der Zweck der Übung.Tatsächlich ging es darum, das Netz der impliziten Voraussetzungen zu enthüllen, die der „normalen“ sozialen Interaktion zugrundeliegen. Ob in der Ethnomethodologie oder im absurden Theater, die grundlegende Voraussetzung ist hier ganz einfach: Das Offensichtliche wird weniger und weniger offensichtlich, wenn man es wiederholt behauptet (vor allem, wenn dies stets „mit derselben ausdruckslosen Stimme“ geschieht). Ionesco hat diese Erfahrung beredt geschildert: Alle meine Stücke haben ihren Ursprung in zwei fundamentalen Bewußtseinszuständen: Einmal ist der eine, dann der andere dominant, und manchmal vermengen sie sich. Diese Grundzustände sind das Bewußtsein der Flüchtigkeit und das der Schwere – der Leere und der allzugroßen Gegenwärtigkeit, der unwirklichen Transparenz der Welt und ihrer Undurchsichtigkeit, der Helle und des dichten Dunkels. Jeder von uns hat gelegentlich einmal das Gefühl gehabt, daß die Welt insubstantiell ist wie ein Traum, daß die Wände nicht mehr massiv sind, daß wir durch alles hindurchsehen können in ein raumloses Universum aus Licht und Farbe. In einem solchen Moment wird das ganze Leben, die ganze Weltgeschichte nutzlos, sinnlos und unmöglich. Wenn man nicht über diese erste Stufe des dépaysement hinauskommt – denn man hat tatsächlich das Gefühl, in einer unbekannten Welt zu erwachen –, dann ist die Empfindung des Verschwimmens so groß, daß man ein Angstgefühl spürt, einen Schwindel. All das kann aber ebensogut zur Euphorie führen: Die Angst wird plötzlich zur Befreiung; nichts zählt nun außer dem Wunder der Existenz, dem neuen und erstaunlichen Bewußtsein vom Leben im Leuchten eines neuen Morgens, in der wiedergefundenen Freiheit.10
Er sagt ferner, in dieser neuen Freiheit sei es möglich, über die Welt zu lachen. Und in einem anderen Abschnitt formuliert Ionesco die Beziehung zwischen dem
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Komischen und dieser Erfahrung des „Auswanderns“ (dépaysement) aus der gewöhnlichen Wirklichkeit: Wenn man die Absurdität des Gewöhnlichen und der Sprache empfindet, ihre Falschheit, dann hat man sie schon überwunden. Um sie zu überwinden, müssen wir uns zunächst in sie hineingraben. Das Komische ist das Ungewöhnliche in seinem reinen Zustand; nichts wirkt überraschender auf mich als das Banale; das Surreale ist hier, in Reichweite unserer Hände, in unserer Alltagskonversation.11
Die Erfahrung des Absurden und die des Komischen sind nicht kongruent. Sie überschneiden sich. Doch da, wo sie sich überschneiden, wird der tiefste Aspekt des Komischen enthüllt – nämlich eine magische Transformation der Wirklichkeit. Um dies zu erreichen, muß die gewöhnliche Realität zuerst problematisiert – wenn man es vorzieht: dekonstruiert – werden. So wie die Sprache die Ordnung der Wirklichkeit konstruiert, kann man sie auch dazu verwenden, diese Konstruktion einzureißen oder an winzigen Stellen aufzubrechen. Nonsense-Aktionen und Nonsense-Sprache sind so Vehikel einer anderen Weltsicht. Dies ist eine Methodik, die jedem vertraut ist, der sich mit der Mystik auseinandergesetzt hat. Vielleicht ist die engste Analogie zum absurden Theater im Bereich des Religiösen die Art und Weise, wie die Zen-Techniken der Meditation die gewöhnliche, normale Weltwahrnehmung zerstören. Die absurde Komödie setzt eine seltsame Dialektik in Gang. Sie stellt einem eine Realität vor, welche gleichzeitig fremd und vertraut ist und welche die Reaktion auslöst: Das ist unmöglich. Doch indem man ausruft: „Das ist absurd!“ – das, die magische Gegenwelt nämlich, in die man eingetreten ist –, beginnen sich schon die Gewichte zu verschieben, und in dem Satz „Das ist absurd“ bedeutet das bereits die Welt der gewöhnlich-alltäglichen Erfahrung. Diese Dialektik wird von Zijdervelds Charakterisierung der Narrheit als „Wirklichkeit im Spiegel“ erfaßt. In den Veden wird der Ausdruck „neti, neti“ – „nicht dies, nicht jenes“ gebraucht, um die Unmöglichkeit einer Beschreibung der letzten Wirklichkeit zu bezeichnen. Man könnte sagen, daß die absurde Komödie diesen Ausdruck auf die normale Realität anwendet: Nicht dies, nicht jenes. Und dadurch wird, wie zögernd auch immer, die Möglichkeit angedeutet, daß es eine Realität jenseits der gewöhnlichen geben könte. Dadurch ist das Absurde noch kein religiöses Phänomen. Es kommt dem aber gefährlich (das Adjektiv ist durchaus angemessen) nahe. Martin Esslin trägt im Schlußkapitel seines Buches über das absurde Theater eine Argumentation vor, die zunächst in sich widersprüchlich erscheint.12 Einerseits bringt er die Erfahrung, die das absurde Theater zu vermitteln versucht, in Zusammenhang mit dem Niedergang der Religion: Eine Welt ohne irgendeine göttliche Gegenwärtigkeit muß absurd und sinnlos erscheinen. Andererseits aber, sagt Esslin, eröffnet
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die Erfahrung des Absurden die Möglichkeit der Transzendenz – das heißt, einer Wirklichkeit jenseits der absurden Realitäten dieses Lebens. Der lateinische Kirchenvater Tertullian ist wegen seines Satzes „credo quia absurdum“ berühmt – „ich glaube es, weil es absurd ist“. Dieser Satz hat für Apologeten wie für Kritiker des Christentums große Bedeutung, die mit ihm entweder die Macht des Glaubens oder seine Irrationalität demonstrieren wollen. Die richtige Interpretation dieses Satzes muß den Kennern der Patristik überlassen bleiben. Doch möchte ich eine laienhafte – vielleicht eine pataphysische – Exegese wagen:Vielleicht hat Tertullian hier mehr ausgedrückt, als er eigentlich sagen wollte. Denn es geht nicht so sehr darum, daß man etwas glaubt, weil es absurd ist, sondern darum, daß man durch die Wahrnehmung des Absurden zum Glauben geführt wird. Ich brauche nicht zu betonen, daß in diesem Fortschreiten vom einen zum anderen keine Notwendigkeit liegt. Es bleibt eine verlockende Möglichkeit. Mit anderen Worten (und ganz gleich, was Tertullian wirklich meinte): Nicht der Gegenstand des Glaubens ist absurd. Die Welt ist absurd. Insofern ist Glaube möglich.
Teil III: Auf dem Weg zu einer Theologie des Komischen
12 Die Narrheit der Erlösung In vielen Zonen der Erde hat man Wahnsinn als Zeichen besonderer Heiligkeit aufgefaßt. Die Narrheit ist,wie wir gesehen haben, ein weitverbreitetes,wenn nicht universelles Phänomen. Das gilt auch für die Gestalt des heiligen Narren. Und wie bei den – sozusagen – weltlichen Narren hat es bei den Heiligen sowohl wirkliche Narren gegeben (Menschen, die man heute als geisteskrank oder geistesschwach bezeichnen würde) wie Individuen, die ihre Narrheit spielten (heilige Narren ex officio). Es gibt wichtige Elemente von religiös privilegierter Narrheit im Taoismus und im Zen-Buddhismus, unter den wandernden sanyasin Indiens und in den alten Religionen Afrikas und Nord- und Südamerikas. Heilige Narren sind im Judentum, Christentum und Islam aufgetreten und haben oft ein sehr ähnliches Verhalten an den Tag gelegt, selbst wenn die Begründung eines solchen Verhaltens von Religion zu Religion eine andere war. Es gibt Beispiele heiliger Narrheit im Alten Testament. Ein typisches Exempel ist das von König David (2. Samuel 6, 14 ff.): Als die Bundeslade nach Jerusalem gebracht wurde, geriet David in eine Art Ekstase und tanzte vor ihr, offenbar nackt oder halbnackt. Seiner Frau Michal (der Tochter Sauls) war dieses sehr unkönigliche Gebaren peinlich, und sie machte ihm Vorwürfe, daß er sich „vor den Mägden seiner Knechte“ entblößt habe. David erwiderte: „Ich will noch geringer werden und will niedrig sein in deinen Augen und will dafür bei den Mägden, von denen du geredet hast, zu Ehren kommen.“ Der Text spricht nicht davon, was David noch Peinliches tat, wenn er uns auch mitteilt, daß Michal zur Strafe für ihre Kritik an David Zeit ihres Lebens mit Unfruchtbarkeit geschlagen blieb – eine harte Strafe, möchte man meinen, für Humorlosigkeit. Eine Anzahl wichtiger Elemente der heiligen Narrheit (jedenfalls im Judentum und Christentum) klingt bereits in dieser Geschichte an: die ekstatische Absurdität des Verhaltens (wozu die Nacktheit gehört), das bewußte Ablegen von Würde, die Fähigkeit der Niedrigen (hier der Mägde), mehr zu begreifen als die Mächtigen und Weisen (für die hier Michal steht). Bei den Propheten finden wir eine Reihe von Fällen, die man als heilige Narrheit bezeichnen könnte. Im Buch Jesaja heißt es, der Prophet sei drei Jahre lang nackt und barfuß gegangen (Jesaja 20). Jeremia legte sich ein hölzernes Joch um den Nacken (Jeremia 27). Und Hesekiel wurde befohlen, mit Menschenkot verunreinigte Speise zu essen (Hesekiel 4). In jedem dieser Fälle diente das scheinbar verrückte Verhalten der Symbolisierung bestimmter Prophezeiungen, doch läßt sich schließen, daß derartige Verhaltensweisen nicht auf den unmittelbaren prophetischen Kontext beschränkt waren. Das sollte uns nicht überraschen, wenn wir bedenken, was wir über die Ursprünge der israelischen Prophetie
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wissen – die mit ziemlicher Sicherheit bei wandernden Ekstatikern zu suchen sind, zu deren Aktionen stets bizarre und scheinbar absurde Züge gehörten. Wie wir in einem früheren Kapitel sahen, hängen Narrheit, Absurdität und das Groteske eng zusammen. Die Geschichte der Religionen ist in vielen Teilen der Welt voller grotesker Gestalten – Götter, Dämonen und andere. Man mag hier an die grotesk geformten Gottheiten denken, an denen der Hinduismus oder der tibetanische Buddhismus so reich sind – unter denen als typische Figur Kali Durga hervorragt, die Göttin der Zerstörung, dargestellt als eine Frau von monströsem Äußerem, die auf einem Berg von Schädeln tanzt. Der religiöse Aspekt des Grotesken ist erklärbar. Wie Rudolf Otto es klassisch in seiner Studie Das Heilige formuliert hat, gehört zum religiösen Erlebnis eine Begegnung mit Wirklichkeiten und Wesenheiten, die „ganz anders“ sind, totaliter aliter. Diese Andersheit läßt sich nicht mit gewöhnlicher Sprache und gewöhnlichen Bildern fassen, sie kann nur angedeutet werden. Sie zerbricht die Voraussetzungen der gewöhnlichen, alltäglichen Erfahrung. Genau dies symbolisiert das Groteske sehr wirkungsvoll. Menschen, die versuchen, dieses Andere wahrzunehmen, sind wie jemand unter Wasser, der hinaufsieht zu dem, was über der Wasseroberfläche ist: Er wird dies unweigerlich grob verzerrt wahrnehmen. Das Groteske bringt diese Verzerrung zum Ausdruck. Die heilige Narrheit macht durch ihre grotesken Züge deutlich, wie die Andersheit in das gewöhnliche Leben einbricht, zeigt aber auch die Unmöglichkeit, dieses Andere in den Kategorien der normalen Realität zu fassen. In der Lehre Jesus’, wie sie in den Evangelien berichtet wird, gibt es keine direkten Bezüge auf irgendetwas, das sich als heilige Narrheit bezeichnen ließe. Aber seine wiederholte Äußerung, daß man versuchen solle, wie ein Kind zu sein, und seine Seligpreisung derer, die „arm im Geiste“ sind, formulieren doch die verwandte Idee, daß es eine geistige Einfalt gibt, die der Weltweisheit überlegen ist. Am nächsten kommen wir der heiligen Narrheit in zwei Episoden, die sich gegen Ende von Jesus’ Leben ereignen – beim Einzug in Jerusalem (Matthäus 21) und bei den Ereignissen nach Jesus’ Auftritt vor Pontius Pilatus (Matthäus 27). Jesus entscheidet sich dafür, auf einem Esel in Jerusalem einzureiten. Es stimmt, daß der Evangelist als Grund hierfür die Erfüllung einer Prophetie bei Jesaja angibt (daß der König von Zion auf einem Esel geritten kommen würde – „sanftmütig“ und gering). Trotzdem bleibt die alte Verbindung zwischen dem Esel und der Narrheit. Wir können nicht wissen, ob Jesus selbst beziehungsweise der Autor des Matthäusevangeliums von dieser – eher griechisch-römischen denn jüdischen – Vorstellung einer solchen Verbindung wußten. Sie wäre gewiß vielen bekannt gewesen, welche die Evangelien in griechischer Sprache kennenlernten. Diese Hörer oder Leser, so muß man annehmen, erinnerte der Einzug Jesu in die Stadt seines Kreuzestodes an das Verhalten eines Narren. Die zweite Episode ist noch bedeutsamer. Nachdem der römische Statthalter die Verantwortung für das
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Schicksal Jesu von sich gewiesen hatte und unmittelbar bevor Jesus zur Kreuzigung geführt wurde, ergriffen ihn die römischen Soldaten und stellten eine Spottkrönung mit ihm an. Er wurde in einen Purpurmantel gekleidet, man setzte ihm eine Dornenkrone auf, gab ihm ein Schilfrohr in die Hand und grüßte ihn als den König der Juden. Hier wird Jesus verspottet, indem man ihn wie den Scheinkönig eines Bacchanals behandelt, den Vorläufer des mittelalterlichen Narrenkönigs. Tatsächlich könnte man sagen, daß Jesus unmittelbar vor der Kreuzigung zum König der Narrheit gekrönt wurde. Die klassischen Textstellen zur Narrheit im Neuen Testament finden sich allerdings bei Paulus, insbesondere in den Briefen an die Korinther. Der Apostel sagt wiederholt, er spreche „als Narr“, und er verkündet, daß dies in der Tat ein Beruf für Christen sei – „wir sind Narren um Christi willen“ (1. Korinther 4, 10). Dieser Ausdruck „Narren um Christi willen“ diente seither in der Geschichte des Christentums den heiligen Narren zur Selbstbeschreibung. Hier haben wir zwei Textstellen, wo Paulus die Bedeutung dieser Narrheit erläutert: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die selig werden, ist’s eine Gotteskraft.“ (1. Kor. 1, 18). Und bei der Beschreibung dessen, den der Apostel predigt, spricht er von „…[dem] gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (1, 23). Schließlich die klimaktische theologische Erklärung: „Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er zu Schanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, und das da nichts ist, daß er zunichte mache, was etwas ist, auf daß sich vor ihm kein Mensch rühme.“ (1, 27– 29) Es gibt viele Bedeutungsschichten in diesen Abschnitten. Zum einen ist da der ausdrückliche Bezug auf Paulus’ eigene Schwäche, elliptisch als „Pfahl im Fleische“ beschrieben (2. Kor. 12, 7), die Gott ihn hinzunehmen hieß. So werden auch die Korinther aufgefordert, die Schwäche des Apostels hinzunehmen und zu begreifen, daß die Kraft seiner Botschaft von Gott kommt, nicht aus seiner eigenen Stärke. Es hat verschiedene Theorien (unbewiesen und unbeweisbar) gegeben, daß Paulus’ Leiden die Epilepsie war. Träfe dies zu, würde es Paulus zu einer Figur heiliger Narrheit machen, die man in der Antike im Epileptiker verkörpert sah. Darüber hinaus weist Paulus aber auch auf dasselbe Mysterium der Inkarnation hin, das in den oben erwähnten Episoden aus dem Evangelium berührt wurde. Dieses Mysterium ist die Selbsterniedrigung Gottes, die kenosis. Gott steigt aus der unendlichen Majestät der Allmacht herab und nimmt nicht nur Menschengestalt an, sondern die Form eines verachteten, verhöhnten und schließlich unter den schimpflichsten Umständen getöteten Menschen an. Doch ist dieser gedemütigte Jesus derselbe, der als triumphaler Sieger in der Auferstehung erscheint. Das zentrale Paradoxon der christlichen Botschaft, wie Paulus sie predigt, ist die
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immense Spannung zwischen dem kenotischen Christus der Passion und dem Christus Victor des Ostermorgens. Dieses Paradoxon zu verkünden ist in den Augen der Weltweisen närrisch. Indem er „als Narr“ spricht, tut der Apostel zumindest zweierlei: Er ist der außerordentlichen Botschaft treu, die ihm anvertraut wurde, ohne falsche Zugeständnisse an die Weltweisheit zu machen. Und in seiner eigenen Schwäche tritt er die Nachfolge des kenotischen Erlösers an, der als königlicher Narr (oder genauer: als Narr, der sich für einen König hielt) gekrönt und gekreuzigt wurde. Von da an symbolisiert jeder „Narr um Christi willen“ die kenosis Gottes und hat Teil an ihr, die zur Erlösung der Welt führt.1 Man muß nicht Russe sein, um heilige Narren zu schätzen zu wissen. Es scheint aber hilfreich. Es gibt eine lange Tradition der „Narren um Christi willen“ im westlichen wie im östlichen Christentum, die sowohl genuine Narren wie Narren ex officio einschließt.2 Im Westen wies zum Beispiel Franziskus von Assisi einige der Züge heiliger Narrheit auf, wie auch der von ihm gegründete Orden. Doch ist es die östliche Orthodoxie, vor allem in Rußland, welche die reichste Sammlung heiliger Narren hevorgebracht hat.3 Im Falle Rußlands könnte man tatsächlich die These vertreten, daß die heilige Narrheit ein bedeutendes Thema der Nationalkultur wurde, auf volkstümlicher wie auf literarischer Ebene (wobei Dostojewskijs Roman Der Idiot den unbestrittenen literarischen Höhepunkt der Tradition bildet). Die heilige Narrheit in der Ostkirche könnte auf die frühe Zeit der heiligen Wüsteneinsiedler in Ägypten zurückgehen, doch wurde das Phänomen im sechsten Jahrhundert von Bedeutung. Berühmte Fälle sind der von Theophilos und Maria von Antiochia sowie der von St. Symeon von Emesa. Theophilos und Maria entstammten aristokratischen Familien. Sie waren verlobt, entschieden sich aber dafür, „Narren um Christi willen“ zu werden. Sie zogen durch die Straßen der syrischen Metropole, er als Narr gekleidet, sie als Prostituierte, und erregten den Zorn der Bevölkerung durch ihr bizarres und oft obszönes Verhalten. Nach und nach erkannte man, daß sich in diesem Verhalten eine ungewöhnliche Frömmigkeit ausdrückte. St. Symeon war ein Einsiedler, der östlich des Jordan lebte. Auch er begann die Städte und Dörfer dieser Landschaft zu durchstreifen. Er bewarf die Leute in der Kirche mit Walnüssen, stürzte die Stände der Straßenhändler um, tanzte auf der Straße mit Prostituierten, drang in die Badehäuser der Frauen ein und aß demonstrativ reichlich an Fastentagen. Zuerst reagierte man natürlich mit Zorn auf sein Verhalten. Dann kam man zu dem Schluß, daß es tiefe religiöse Mysterien symbolisiere, und man verehrte Symeon als einen Mann von heiliger Lebensführung. Dies beunruhigte ihn, da der Ruf der Heiligkeit sein ganzes (wie wir es nennen könnten) kenotisches Programm gefährdete, das eine fortlaufende Übung in Demut und Demütigung darstellte. Um zu beweisen, daß er
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kein Heiliger war, gab Symeon vor, die Frau des Kaufmanns, für den er gelegentlich arbeitete, verführen zu wollen. Der Kaufmann schlug Lärm, und Symeon wurde verprügelt und fortgejagt. Paradoxerweise festigte dies später nur seinen Ruhm als heiliger Narr. Es ist wohl unmöglich, zu entscheiden, ob Symeon „wirklich“ verrückt war oder nur so tat – oder auch, ob er tatsächlich ehebrecherische Pläne hatte oder dies nur vorgab. Entscheidend ist es, daß er allgemein als „Narr um Christi willen“ galt und als solcher von der orthodoxen Kirche auch kanonisiert wurde. Eine wichtige Figur in der weiteren Entwicklung dieser Tradition war St. Andreas der Narr, der Ende des neunten und Anfang des zehnten Jahrhunderts in Konstantinopel lebte. In Skythien geboren, anscheinend slawischer Abstammung, wurde er als Sklave in die Hauptstadt gebracht. Auch er praktizierte das mittlerweile zu einem festen Repertoire standardisierte Narrenverhalten, dem er als persönliche Züge das nackte Umhergehen und das Schlafen bei herrenlosen Hunden hinzufügte. Er wurde ebenfalls heiliggesprochen. Die Geschichten über ihn kamen im Verlauf der Christianisierung Rußlands dorthin, und er genoß hier als slawischer Landsmann besondere Verehrung. Der erste bedeutende Fall in Rußland selbst war im elften Jahrhundert der von St. Isaak dem Eremiten, einem Einsiedler aus dem berühmten Kiewer Höhlenkloster. Die Blüte der heiligen Narren fiel ins sechzehnte Jahrhundert. Das Phänomen der heiligen Narrheit verband sich besonders eng mit der Stadt Nowgorod. Vielen ausländischen Reisenden fiel es auf. Folgendermaßen beschrieb der Engländer Giles Fletcher, was er sah: Sie haben gewisse Einsiedler, so sie heilige Männer nennen, welche in ihrem Leben und Verhalten wie die Gymnosophisten sind, wenn auch gewißlich nicht in Wissen und Bildung. Sie gehen gewöhnlich bis auf ein Lendentuch ganz nackt einher, die Haar hängen ihnen lang und wirr auf die Schultern und viele tragen einen eisernen Ring oder eine Kette um Hals oder Leib – so gehen sie selbst im tiefsten Winter herum. Diese gelten als Propheten und als Männer von großer Heiligkeit, und man läßt ihnen die Freiheit, zu sagen, was sie wollen, ohne Beschränkung, und gelte es dem Höchsten im Land…. Nimmt einer von ihnen im Vorbeigehen eine Ware aus irgendeinem Laden und verschenkt sie, an wen er mag, so hält sich der Besitzer für sehr von Gott geliebt und ist dem heiligen Mann dankbar, daß er sein Gut solcherart fortgenommen hat. Von dieser Sorte gibt es nicht viele, denn es ist ein gar harter und kalter Beruf, in Rußland nackt zu gehen,vor allem im Winter. Unter anderen haben sie zu dieser Zeit einen in Moskau, der nackt durch die Straßen gehet und für gewöhnlich gegen den Staat und die Regierung schreit, besonders gegen die Godunows, die in diesen Tagen für große Unterdrücker des Gemeinwesens gelten.4
Einer der berühmtesten Praktikanten dieses „gar harten und kalten Berufes“ war St. Basilius der Einfältige (Wassilij Blaschennyj), der gegen 1550 starb.5 Er heißt in anderen Sprachen auch St. Basilius der Selige, da bedeutsamerweise das russi-
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sche blaschennyj sowohl „einfältig“ (im Sinne von „kindlich“ oder auch „blöd“) als auch „selig“, „glücklich“ bedeuten kann. Man hat ihn mit Iwan dem Schrecklichen in historische Verbindung gebracht. Obwohl er starb, ehe Iwans blutige Herrschaft in der rebellischen Stadt Nowgorod ein Regiment des Schreckens errichtete, versetzt die Legende Basilius zu jener Zeit dorthin. Angeblich wohnte er in einer Höhle unter der Wolchowbrücke. Er hieß Iwan zu ihm kommen, und als der Zar dem Befehl seltsamerweise gehorchte, reichte er ihm rohes Fleisch und Blut. Iwan lehnte ab, und Basil legte den Arm um ihn und deutete gen Himmel, wo man die Seelen von Iwans unschuldigen Opfern ins Paradies aufsteigen sah. Der Zar war entsetzt und befahl, mit den Hinrichtungen einzuhalten, worauf sich Blut und Fleisch in Wein und Wassermelone verwandelten. Diese Verbindung von heiliger Narrheit und politischer Kritik mag nicht allzu häufig gewsen sein, doch selbst ihr nur gelegentliches Auftreten erklärt, weshalb die Autoritäten in Moskau irgendwelchen heiligen Narren gegenüber zunehmend mißtrauisch waren. Die Institution wurde in Moskau und anderen städtischen Zentren unterdrückt, überdauerte aber an entlegeneren Orten. Doch die russische Kirche hörte mit der Heiligsprechung zusätzlicher „Narren um Christi willen“ auf. Eine Anzahl von Themen kehren in dieser orthodoxen Tradition immer wieder. Von zentraler Bedeutung ist natürlich das Thema der völligen Demütigung – zuerst die Selbstdemütigung, dann die bewußt provozierte Demütigung durch andere. Darin ahmt der „Narr um Christi willen“ die Demütigung Christi nach. Die schlimmste Sünde ist der Stolz; alles muß getan werden, um sie zu vermeiden. Der Umgang mit krassen Sündern und – ein Schritt weiter – ein Verhalten, mit dem man vorgibt, selbst zu sündigen, sollen den Stolz unmöglich machen. Es ist nicht schwierig, zu erkennen, daß es von hier aus nur noch einen weiteren Schritt geben kann: den, tatsächlich zu sündigen, worauf der Stolz dann wirklich unmöglich wird. Es entstand tatsächlich eine untergründige Strömung russischer Spiritualität, in der die Selbsterniedrigung durch Sünde, vor allem durch sexuelles Sündigen, als Übung in christlicher Demut verstanden wurde. Diese Untergrundtradition fand noch einmal eine späte und sinistere Verkörperung in Rasputin am Hof des letzten Zaren. Der wiederkehrende Topos der Nacktheit ist ebenfalls wichtig. Die Nacktheit verletzt nicht nur die Normen des gewöhnlichen Anstandes, sie symbolisiert auch die Zurückweisung aller sozialen Rollen und eine künstliche Kindlichkeit. Auch lädt sie natürlich zu Reaktionen des Ekels und der Schmähung ein – was die heiligen Narren eben anstrebten. Religiös motivierte Nacktheit ist in verschiedenen Kulturen (an hervorragender Stelle in Indien) zu finden, doch hier hat sie eine speziell kenotische Bedeutung. Die „Narren um Christi willen“ waren meistens Wanderer, Pilger. Dieses heilige Vagabundieren ist auch bedeutsam. Es symbolisiert die Zurückweisung
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weltlicher Bindungen und Sicherheiten. Der heilige Narr ist ein ewiger Fremder, ein Mann ohne Zuhause und festen Wohnsitz – auch hierin folgt er Jesus. Schließlich ist der heilige Narr, obwohl typischerweise ein Mann ohne jegliche Bildung (oder aber einer, der die einst erworbene Bildung bewußt verworfen hat), Gefäß einer höheren Weisheit. Ihm werden Geheimnisse enthüllt, die den Weisen dieser Welt verborgen bleiben. Das Thema wird durch folgende Legende hübsch illustriert: Irgendwo in den russischen Weiten leben drei Einsiedler, berühmt für ihre Frömmigkeit, doch ohne jede Kenntnis religiöser Lehren und Riten. Als der zuständige Bischof erfährt, daß sie nicht einmal ein einziges kirchliches Gebet kennen, reist er zu ihnen und lehrt sie das Vaterunser. Sie lernen es auswendig und verabschieden sich dankbar von dem Bischof, der wieder in seine Residenz aufbricht und dazu die Fähre über einen großen See besteigt. Auf halbem Wege über den See am Abend sieht der Bischof voller Staunen, wie die drei Einsiedler in großer Eile über das Wasser gegangen kommen, um ihn einzuholen. Sie sagen, sie hätten eine Zeile des Gebets vergessen, und bitten ihn, diese noch einmal zu wiederholen. Voll Ehrfurcht sagt der Bischof ihnen, sie bedürften des Gebetes nicht. In früheren Ausführungen zum Thema der Narrheit haben wir betont, daß diese eine magische Verwandlung der Welt bedeutet, oder genauer: einen Akt der Magie, der eine Gegenwelt erscheinen läßt. Diese Gegenwelt dient dazu, die Realität der gewöhnlichen Welt in überraschendes Licht zu setzen, gewöhnlich auf entlarvende oder kritische Weise. Deshalb spricht, wie gesagt, Zijderveld von der Narrheit als von der „Wirklichkeit im Spiegel“. Wird die Narrheit sozusagen „getauft“ zur heiligen Narrheit, dann ergibt sich eine epistemologische Umkehrung: Der Status der Gegenwelt wird radikal umdefiniert. Um bei Zijdervelds Bild zu bleiben: Der Spiegel wird zum Fensterglas. Das heißt: Anstatt daß die närrische Gegenwelt als eine deformierte Spiegelung dieser Welt aufgefaßt würde, kann sie nun als verzerrter Anblick einer anderen Welt gesehen werden. Der Apostel Paulus benutzt tatsächlich das Bild des Spiegels in letzterem Sinne, wenn er sagt, im gegenwärtigen Zeitalter „sehen wir undeutlich in einem Spiegel“ (1. Korinther 13, 12 – Luther übersetzt „durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“; in der King James’ Bible heißt die berühmte Formulierung poetisch „through a glass, darkly“), und erst in einem künftigen Zeitalter sehen wir „von Angesicht zu Angesicht“. Wenn wir diese Bilder buchstäblich nehmen – Spiegel und Fenster –, so drücken sie einen Gegensatz aus. Doch richtig verstanden haben wir hier eine Metapher, die den scheinbaren Gegensatz auflöst. Denn man kann die Welt nacheinander auf zwei verschiedene Weisen betrachten, was zwei Perspektiven ergibt, die nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen. Die erste Perspektive ergibt sich aus einer Haltung, die zumindest vorläufig die religiöse Möglichkeit, daß es eine andere Welt als diese geben könne, beiseiteläßt oder
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ausklammert. Die Scholastik faßt dies als einen Ansatz zusammen, der durch die Formulierung „etsi deus non daretur“ gekennzeichnet ist – „wenn Gott nicht vorausgesetzt wird“. In diesem Falle ist es vollkommen plausibel, die Narrheit als Spiegelung der gewöhnlichen gesellschaftlichen Realität zu betrachten und als nichts anderes, und diese Perspektive führt in der Tat zu fruchtbaren Einsichten. Wenn man dann die Haltung des Gläubigen einnimmt, die in der Tat die Existenz Gottes voraussetzt, ist die Narrheit auch etwas anderes – nämlich eine ungewisse Spiegelung dessen, was jenseits oder hinter dieser Welt liegt, ein Schattenspiel göttlicher Wirklichkeit. Kierkegaard hat den Ausdruck „Glaubensritter“ für jenes Individuum verwendet, welches es wagt, zu glauben. Darin liegt eine bewußte Anspielung auf Don Quijote, der als der großartigste Narr der Weltliteratur gelten kann.Weiter liegt darin auch die Implikation, daß in der Sicht des Glaubens Don Quijote am Ende gerechtfertigt ist: Er ist hinsichtlich des Wesens der Wirklichkeit viel mehr im Recht als der Empiriker Sancho Pansa oder all die anderen, die Don Quijotes Narrheit verspotten. Aus christlicher Perspektive hat der protestantische Theologe Thielicke zum Don Quijote bemerkt: „Der Narr hat recht; nur der Narr hat recht in dieser Welt.“6 Cervantes’ „Ritter mit der traurigen Miene“ und Kierkegaards Glaubensritter haben die Verwerfung der gewöhnlichen Realität gemeinsam, die Weigerung, ihre Regeln und Grenzen hinzunehmen. Etsi deus non daretur, muß diese Weigerung, wie heroisch sie auch ist, mit der Niederlage enden (wie bei Cervantes’ Helden, der auf dem Sterbebett seinen Idealen edler Ritterlichkeit abschwört). Doch wenn man Gott voraussetzt, ist die Weigerung ganz und gar gerechtfertigt; sie enthält eine Wahrheit, die größer ist als alles weltliche Wissen. Die Narrheit wird nun erkennbar als ein Vorspiel zur Überwindung der empirischen Welt.Wie Miguel de Unamuno es in seiner Würdigung des Don Quijote sagt: „Denn indem er sich lächerlich machte, erlangte er seine Unsterblichkeit, er – Don Quijote.“7 Man könnte es mit größerem Nachdruck formulieren: Don Quijote bezeugt die Unsterblichkeit. Vom Standpunkt des Glaubens aus kreuzen sich in der Narrheit die absolute und die kontingente Realität, die jenseitige Welt und diese Welt. So formuliert es Thielicke: So ist Don Quijote das – gleichwohl siegende – Opfer eines Lebensgesetzes: Das Unbedingte ist immer am Rande der Lächerlichkeit, wenn es mit dem Bedingten zusammenstößt. Darum gehört der, der das Unbedingte vertritt, nicht in diese Welt hinein, jedenfalls nicht ganz. Während er im Handgemenge mit ihr ist, steht er zugleich aus ihr heraus, keinesfalls aber geht er in ihr auf. Gerade um dieses Herausstehens willen, wegen seiner Unangepaßtheit, erscheint er ihr im Narrenkostüm, in der Verkleidung des Clowns.8
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Das Phänomen läßt sich auch mit der von Alfred Schütz entwickelten Terminologie beschreiben. Der Glaubensakt bringt eine Verschiebung des „Wirklichkeitsakzents“ mit sich. Die „dominante Realität“ des alltäglichen Lebens wird relativiert; umgekehrt wird der spezielle „geschlossene Sinnbereich“ des Glaubens verabsolutiert. „Geschlossen“ ist dieser Bereich natürlich nur von der Perspektive der dominanten Realität aus gesehen. Tritt die epistemologische Umkehrung ein, öffnet sich dieser Bereich im Gegenteil ins Unendliche, und die empirische Welt, die ihre Dominanz verliert, schrumpft zu einem lokalen geschlossenen System. Die Verrücktheit des Narren wird als die unendlich tiefere Wahrheit erkennbar. Bei seiner Analyse des Don Quijote interessierte sich Schütz dafür, wie die beiden Wirklichkeiten – die Phantasiewelt des Don und die gewöhnliche Welt aller anderen – miteinander in Beziehung standen.9 Schütz sah diese beiden Wirklichkeiten durch eine Art Umschaltsystem verknüpft – die „Zauberer“, von denen Don Quijote immer spricht, mächtige Magier, lassen die Wirklichkeit seiner Welt seinen Mitmenschen als etwas ganz anderes erscheinen. Mit anderen Worten: Die Zauberer sorgen dafür, daß die von Don Quijote wahrgenommene Wirklichkeit von den anderen als Phantasie wahrgenommen wird. In Quijotes Universum ist natürlich das, was die anderen sehen, das bloß Eingebildete; die wahre Wirklichkeit ist seine eigene Ritterwelt. Schütz war an religiösen Fragen nicht interessiert, doch dieser Wechsel von Realität und Phantasiewelt in der jeweiligen Wahrnehmung der Skeptiker und Gläubigen entspricht genau jeder beliebigen religiösen Weltsicht: Was dem Glauben das Wirklichste überhaupt ist, das ens realissimum, ist dem Nicht-Gläubigen eine Phantasie; umgekehrt ist die „harte“ Realität der empirischen Weltsicht in den Augen des Glaubens vergänglich-phantastisch. Don Quijote glaubt, daß die fahrenden Ritter „Gottes Diener auf Erden“ sind. Manchmal aber hat auch er Zweifel und fragt sich, ob er nicht doch verrückt ist. Darin ähnelt er sehr Kierkegaards „Ritter“, der seinen Sprung in den Glauben immer und immer wiederholen muß. Allgemeiner gesagt läßt sich die Frage nach dem epistemologischen Status der Narrheitswelt nur durch den Entschluß entscheiden, den „Sprung“ in den Glauben zu tun – oder nicht. Ohne den Glauben, etsi deus non daretur, ist der Narr am Ende eine tragische Figur, wie Don Quijote auf dem Sterbebett: „Er findet sich am Ende als Heimkehrer in einer Welt wieder, in die er nicht gehört, in der Alltagsrealität eingeschlossen wie in einem Gefängnis und gequält von dem grausamsten Gefangenenwärter: dem gesunden Menschenverstand, der sich seiner Grenzen bewußt ist. Das Eindringen der Transzendenz in diese Welt des Alltags wird vom Verstand entweder verleugnet oder verdeckt.“10 Aus der Sicht des Glaubens sehen die Dinge anders aus. Hier gibt es keine Tragödie. Im Gegenteil – der Narr ist glorreich gerechtfertigt. Das ist die Erkenntnis, mit der Enid Welsford ihre Geschichte des Narren beschloß: „Für diejenigen, welche die religiöse Einsicht der Menschheit nicht verwerfen, ist der Menschen-
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geist in dieser Welt so ruhelos, weil er anderswo seine Heimat hat, und weil ein Entrinnen aus dem Gefängnis nicht phantasiert werden kann, sondern tatsächlich möglich ist. Der Theist glaubt an eine mögliche Glückseligkeit, weil er nicht an die würdevolle Isolation der Menschheit glauben mag. Für ihn ist deshalb die romantische Komödie ernsthafte Literatur, weil sie einen Vorgeschmack der Wahrheit enthält: Der Narr ist weiser als der Humanist, und die Clownerie weniger frivol als die Vergottung der Menschheit.“11
13 Zwischenspiel: Von grimmigen Theologen Gewisse Religionen haben mehr Humor als andere. Manche Götter lachen mehr als andere. Besonders in Ostasien: Zen-Mönche und taoistische Weise scheinen die meiste Zeit unbezwingbarem Gelächter preisgegeben, und jeder Souvenirladen in Hongkong oder Taipeh bietet eine umfangreiche Auswahl lachender Buddhas an. Die griechischen Götter lachten häufig – meist mit einem unangenehmen Unterton. Die sogenannten abrahamischen Religionen, die aus den monotheistischen Erfahrungen des westlichen Asiens hervorgingen – Judentum, Christentum und Islam – sind einigermaßen unterprivilegiert, was das Lachen angeht. Nietzsche formulierte den bekannten Satz, er würde das Christentum glaubhafter finden, wenn nur die Christen erlöster aussähen. Er hatte gewiß dasselbe im Sinn, als er seine antichristliche Philosophie „Die fröhliche Wissenschaft“ nannte. Hier wird eine Perspektive vergleichender Religionswissenschaft berührt, die natürlich weit über den Rahmen dieses Buches hinausführte. Doch ergibt sich aus der Tatsache, daß in den heiligen Schriften und in der Theologie des Christentums offensichtlich der Humor fehlt, ein unbequemes Problem für einen christlichen Autor, der eine Argumentation verfolgen möchte, die auf die religiösen Implikationen des Komischen zielt. Ich sollte mich dem Problem stellen, auch wenn ich nur kurz darauf eingehen kann. Wer die Bibel – das Alte wie das Neue Testament – und die Geschichte der christlichen Theologie auf der Suche nach dem Komischen durchstreift, wird enttäuscht werden.1 Vom Gott des Alten Testaments hören wir zwar gelegentlich ein Gelächter, doch handelt es sich ausnahmslos um ein Lachen der Verachtung für die törichten Pläne der Menschen (wie in Psalm 2 und Psalm 59). Die bedeutsamste Erwähnung des Lachens im Alten Testament ist der Augenblick, da Gott dem greisen Paar Abraham und Sara sagt, sie würden noch ein Kind bekommen. Beide lachen bei dieser Verkündigung (jeweils Genesis 17, 15 – 21 und 18, 1– 15). Die Vorstellung erscheint ihnen begreiflicherweise lächerlich. Ihr Gelächter drückt mangelnden Glauben aus, obwohl wir nichts davon hören, daß Gott ihnen dies übelgenommen hätte. Als das Kind dann tasächlich zur Welt kam, nannten sie es Isaak (Jizchak, auf Hebräisch: „er lachte“), und gedachten so ihres eigenen zweifelnden Lachens (falls nicht ausgedrückt werden soll, daß Gott über ihr Lachen wiederum lachte – gewiß lachte der israelitische Gott stets zuletzt). Man könnte vielleicht mit gewisser Anstrengung eine biblische Legitimation des Humors darin finden, daß das Lachen den Namen des zweiten der drei großen Patriarchen der jüdischen Tradition abgibt. Im Neuen Testament ergeht es einem nicht viel besser. Der griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomos behauptete, Jesus habe niemals gelacht. Das
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läßt sich bezweifeln. Es muß doch gewiß beispielsweise bei der Hochzeit zu Kanaa gelacht worden sein. Aber es wird jedenfalls nirgendwo in den Evangelien erwähnt, daß Jesus gelacht habe. In den von ihm überlieferten Äußerungen kommt zwar das Lachen vor, doch nur negativ als Tadel für diejenigen, „die ihr hier lachet, denn ihr werdet weinen und heulen“ (Lukas 6, 25). Jesus war natürlich wiederholt Gegenstand sündhafter Verhöhnung, selbst während des Leidens am Kreuz (Lukas 23, 35). Doch stellt, wie oben dargelegt, die Narrheit die überzeugendste Manifestation des Komischen im Neuen Testament dar – Jesus als der größte heilige Narr,von seinem Einzug in Jerusalem bis zu der Spottkrönung durch die römischen Soldaten. Auf dieselbe Weise – über die Metapher der Narrheit – erscheint das Komische in den Briefen des Paulus. Was man im Neuen Testament wiederholt antrifft, ist eine Betonung der Freude als Segensgabe der Erlösung. Man darf davon ausgehen, daß die Freude der Erlösten das Lachen einschließt. Doch ist – wie schon zu Beginn unserer Untersuchung dargelegt – das komische Lachen nicht dasselbe wie ein Lachen, das nur Freude ausdrückt. Insgesamt muß man sagen, daß die Suche nach dem komischen Lachen in der Bibel nur um den Preis sehr mühseliger Interpretationskünste an ein Ziel gelangt. Die Komik ist hier bestenfalls implizit. Die negative Haltung dem Lachen gegenüber setzt sich in der Patristik und im christlichen Mittelalter fort. Es gibt eine lange Traditionsreihe grimmiger Theologen. Wiederholt wird das Lachen kritisiert – man sieht in ihm Weltlichkeit, sündhafte Dreistigkeit und mangelnden Glauben. Umgekehrt gilt es als löblich und als christliche Tugend, über diese elende Welt zu weinen. Christliche Heilige lachen selten – anscheinend nur, um dem unmittelbar bevorstehenden Martyrium zu trotzen. Ordensregeln in Klöstern verboten das Lachen. Man muß kein Nietzscheaner sein, um in der Geschichte der christlichen Theologie eine deprimierend weinerliche Angelegenheit zu sehen. Betrachtet man die christliche Verhaltenspraxis anstatt der christlichen Theorie, dann wird das Bild positiver. Michail Bachtins Begriff von der „Lachkultur“ (besser: der „komischen Kultur“) des Mittelalters ist oben dargelegt worden.Während wir einige spezifische Interpretationen Bachtins in Frage gestellt haben, kann es keinen Zweifel geben, daß im mittelalterlichen Europa eine üppige komische Kultur blühte, und daß diese – wenn auch die kirchlichen Autoritäten die Stirnen runzeln mochten – eindeutig christlichen Charakter hatte.2 Eine ihrer interessantesten Manifestationen war liturgischer Natur. Das war das sogenannte Osterlachen, der risus paschalis. Im Verlauf der österlichen Messe ermunterte man die Gemeinde zu lautem, anhaltendem Gelächter, um die Freude über die Auferstehung auszudrücken. Zu diesem Zweck erzählten die Priester Witze und komische Geschichten, oft mit durchaus obszönen Elementen. An manchen Orten hielt sich diese Praxis bis in die modernen Zeiten.
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Betrachtet man die großen Figuren der Kirchengeschichte, könnte man vielleicht sagen, daß diejenige mit dem ausgeprägtesten Sinn für Humor Luther war.3 Humor durchwirkt seinen Briefwechsel und seine Tischgespräche. Als er gefragt wurde,was Gott in der Ewigkeit vor der Erschaffung der Welt getan habe, gab er zur Antwort, er habe im Busch gesessen und Ruten geschnitten für die, welche solch törichte Fragen stellen. Als ein junger Pfarrer um Rat fragte, wie er bei der Predigt seine Angst vor der Gemeinde überwinden könne, schlug ihm Luther vor, er solle sie sich alle nackt vorstellen. Gelegentlich hat Luthers Humor zu starke rabelaissche Züge – das heißt, er wurzelt zu tief in der mittelalterlichen komischen Kultur –, um für den modernen Leser ganz genießbar zu sein. So beschreibt Luther – bei der Erklärung der Doktrin von Christi Höllenfahrt – den Teufel als ein Ungeheuer, das in der Hölle sitzt und alle dort eintreffenden Sünder verschlingt. Als Christus in der Hölle erscheint, frißt ihn der Teufel ebenfalls. Doch Christus, der einzige sündlose Ankömmling, schmeckt ganz anders und macht dem Teufel arges Bauchgrimmen. Der Teufel speit ihn also wieder aus. Doch die sozusagen purgative Kraft der Sündenreinheit Christi ist so groß, daß der Teufel mit ihm auch alle anderen Sünder wieder herauskotzt, die er zuvor gefressen hatte.4 Als Luther den Erzbischof von Mainz angriff, der verkündet hatte, er würde jährlich seine Reliquiensammlung ausstellen, schrieb Luther, diese Sammlung habe soeben einige Neuzugänge erhalten – beispielsweise drei Flämmlein von Moses’ brennendem Dornbusch, ein Stück von der Kreuzesfahne, die Jesus in die Hölle getragen hat, ein halber Flügel vom Erzengel Gabriel und fünf Saiten von Davids Harfe.5 Derselbe robuste Humor läßt sich selbst in einem der berühmtsten Sätze Luthers entdecken, der die Rechtfertigungslehre in nuce enthält: Luther riet dem allzu skrupulösen Melanchthon, er solle „kräftig sündigen, doch noch kräftiger glauben“ – pecca fortiter sed crede fortius. Diesen Satz haben humorlose katholische Kritiker oft angeführt, um Luther zu diskreditieren; ebenso humorlose Protestanten haben versucht, ihn umzuinterpretieren, um ihn zu entschärfen. Von den wichtigen theologischen Denkern der Moderne hat Kierkegaard, wie schon bemerkt, am meisten über das Komische zu sagen. Seine Ansichten zu Ironie und Humor als Grenzbegriffen der ästhetischen, ethischen und religiösen Haltung sind kompliziert und brauchen hier nicht weiter entwickelt zu werden. Seine grundlegende Einsicht in die religiöse Dimension des Komischen ist in höchst lapidarer Form in einer Tagebucheintragung enthalten: „Aber Humor ist auch die Freude, welche die Welt überwunden hat.“6 Ähnliche Aussagen lassen sich im Werk verschiedener anderer Theologen finden, wenn auch typischerweise eher in Form beiläufiger Bemerkungen als ausführlicher Erörterungen. Karl Barth sagte kurz vor seinem Tode, gute Theologie solle immer fröhlich und mit Humor betrieben werden. Dietrich Bonhoeffer, der protestantische Theologe, den die Nazis wegen seiner Teilnahme am Widerstand gegen Hitler hinrichteten, schrieb
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aus dem Gefängnis, daß Humor den christlichen Glauben in der Not stärke. Alfred Delp, ein katholischer Priester, der ebenfalls ein Opfer der Nazis wurde, machte auf dem Gang zur Hinrichtung in der besten Tradition des christlichen Märtyrertums einen Scherz: Er fragte den ihn begleitenden Pfarrer nach den letzten Neuigkeiten von der Front und sagte dann: „In einer halben Stunde weiß ich mehr als Sie.“7 Helmut Thielicke, einer der wenigen Theologen der jüngeren Zeit, die dem Komischen ein ganzes Buch gewidmet haben, hat diese Erkenntnisse wie folgt zusammengefaßt: „Die Botschaft, die im Humor steckt und von der er selber lebt, ist das Kerygma [= die Verkündigung] der Weltüberwindung.“8 Reinhold Niebuhr, der bekannteste Theologe des amerikanischen Protestantismus in diesem Jahrhundert, schrieb einen Essay über „Humor und Glaube“. Der folgende Auszug faßt seine Ansicht zusammen: Die intime Beziehung zwischen Humor und Glaube ergibt sich aus der Tatsache, daß beide sich mit der Widersprüchlichkeit unserer Existenz befassen. Der Humor hat es mit den unmittelbaren Widersprüchen des Lebens zu tun, der Glaube mit den letzten. In beiden drückt sich die Freiheit des menschlichen Geistes aus, seine Fähigkeit, sich außerhalb des Lebenszusammenhanges zu stellen, außerhalb des Menschen selbst, und die Wirklichkeit insgesamt zu überblicken. Doch jeder Blick auf das Ganze wirft sogleich das Problem auf, wie man mit den Widersprüchen des Lebens umgehen soll; denn die Anstrengung, das Leben und unseren Ort im Leben zu verstehen, konfrontiert uns mit Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten, die in kein säuberlich geordnetes Bild vom Ganzen passen. Das Lachen ist unsere Reaktion auf unmittelbare Widersprüche, solche, die uns nicht wesentlich berühren. Glaube ist die einzig mögliche Reaktion auf die letzten Widersprüche der Existenz, die den Sinn unseres Lebens selbst bedrohen… Glaube ist der endgültige Triumph über die Widersprüchlichkeit, die endgültige Bestätigung der Sinnhaftigkeit unserer Existenz. Einen anderen Triumph gibt es nicht und wird es nicht geben, wie sehr auch das menschliche Wissen erweitert werden mag. Glaube ist die letzte Bestätigung der Freiheit des menschlichen Geistes, aber auch die letzte Hinnahme der Schwäche des Menschen und die letzte Lösung des Lebensproblems dadurch, daß man den Gedanken an irgendeine letzte Lösung aufgibt, die in der Macht des Menschen läge.9
Das Komische als Phänomen muß vom Spiel unterschieden werden. Doch hängen beide zusammen. Der katholische Theologe Hugo Rahner hat ein sehr hübsches kleines Buch über die religiöse Bedeutung des Spiels geschrieben. Was er dort sagt, ist auch für die religiöse Bedeutung des Komischen relevant: Spiel ist Verzauberung, Darstellung des ganz Anderen, Vorwegnahme des Kommenden, Leugnung des lastend Tatsächlichen. Das Irdische wird im Spiel auf einmal zum Vorläufigen, bald Überwundenen, demnächst endgültig Erledigten: und der Geist wird bereitet, das Unerhörte aufzunehmen, in die Welt ganz anderer Gesetze einzugehen, entschwert zu sein und frei und königlich ungebunden, göttlich. Der spielende Mensch erwartet, wie wir schon
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einmal sagten, jene wundersame Gelöstheit, die selbst den von Erdenlast befreiten Körper zu einem himmlischen Reigen beschwingt10
Wenn man also versucht, aus christlicher Sicht den Nachweis zu führen, daß die Komik religiöse Implikationen hat, kann man eine gewisse Unterstützung in der Tradition finden. Trotzdem gibt es zu denken, wie spärlich diese Unterstützung ist. Was das völlige oder nahezu völlige Fehlen von ausdrücklichem Humor in der Bibel betrifft, so müssen wir uns vergegenwärtigen, um was für eine Form von Literatur es sich hier handelt. In traditionellem jüdischem oder christlichem Verständnis hat sich Gott durch diese Texte offenbart. Man kann dies nüchterner formulieren, indem man mit einem Begriff von Mircea Eliade sagt: Die Bibel berichtet von verschiedenen Hierophanien, das heißt machtvollen Manifestationen heiliger Realität, und von ihren Folgen für die Menschen – den moralischen beispielsweise. Darüber hinaus dienten viele biblische Texte dem Gottesdienst – das heißt, sie wurden bei Handlungen verwendet, die an diese Hierophanien erinnern oder sie sogar wiederholen sollten. Wenn das Heilige aus solcher Nähe erlebt wird – oder wenn zumindest die Absicht besteht, ein solches Erlebnis zu vermitteln –, muß alle Reflektion enden. Das gilt gewiß für die theoretische Reflektion. Es gibt kaum irgendwelche Theologie in den hebräischen Schriften der Bibel, wie Juden gerne betonen, und moderne Konstruktionen einer „Theologie des Alten Testaments“ sind theoretische Übungen ex post facto, gewöhnlich von Christen. Beim Neuen Testament kann man mit größerer Plausibilität von Theologie sprechen, vor allem in den paulinischen und johanneischen Texten. Doch auch hier gibt es kein theologisches Interesse als solches – das Interesse ist stets „kerygmatisch“, es richtet sich auf die authentische Verkündigung des Evangeliums. Mit anderen Worten: Damit man sich mit der systematisch-intellektuellen Tätigkeit befassen kann, die wir als Theologie bezeichnen, bedarf es erst einmal einer gewissen Distanz zur überwältigenden Gegenwärtigkeit des Heiligen. Ein theologisch gefärbter Sinn für Humor – das heißt: eine Wahrnehmung des Komischen als eines religiös bedeutsamen Aspekts der Wirklichkeit – braucht ebenfalls eine gewisse Distanz. Al-Ghazali, der große muslimische Theologe, der der Mystik einen Platz innerhalb der „göttlichen Wissenschaften“ des Islam schuf, war der Überzeugung, daß die Vernunft im mystischen Erlebnis selbst keinen Ort habe. Das heißt: Ein Mensch kann nicht gleichzeitig eine religiöse Ekstase erleben und systematischintellektuell reflektieren. Doch kann niemand unbegrenzt in einem Zustand der Ekstase verharren. Die Vernunft nimmt im Gefolge der Ekstase ihren Platz wieder ein, wenn sich das Individuum fragen kann (und nach al-Ghazali auch fragen soll), was dieses Erleben in der gesamten Ordnung der Dinge bedeutet. In diesem Zusammenhang prägt al-Ghazali den wunderbaren Satz: „Die Vernunft ist die Waage
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Gottes auf Erden.“ Vielleicht ließe sich etwas ganz Ähnliches über die Wahrnehmungsform der Komik sagen. Diese Reflektion löst natürlich nicht das etwas peinliche Problem der weinerlichen Geschichte christlicher Theologie. Hier nämlich, wenn schon nicht in den kanonischen Texten, würde man etwas mehr freundliche Aufmerksamkeit für das Komische erwarten. Man kann sich ein wenig damit trösten, daß die Philosophen – wie wir gesehen haben – zumindest in der westlichen Tradition hier kaum mehr geleistet haben als die Theologen, wenigstens nicht vor Beginn der Neuzeit. Die Philosophie der Antike von Platon bis Cicero neigte zu einer säuerlichen Kritik des Lachens. Man kann vielleicht davon ausgehen, daß ihre christlichen Nachfolger einfach diese Haltung übernahmen, wobei sie sie allerdings noch durch eine religiöse Geringschätzung dieser Welt und der menschlichen Existenz vertieften. Nur im Untergrund der volkstümlichen komischen Kultur hielt sich eine andere Erfahrung, die komisch und christlich war. Gelegentlich brach sie wie beim Osterlachen in die Liturgie der Kirche ein. Es ließe sich mit großer Vorsicht noch eine weitere Hypothese formulieren. Wie wir oben gesehen haben, geschah die Wendung in der Philosophie von einer negativen zu einer positiven Einschätzung des Komischen erst in der Neuzeit. Erasmus bezeichnet mit seinem Lob der Torheit diesen Wendepunkt (und dient gleichzeitig als Verbindung zwischen der „komischen Kultur“ des Mittelalters und den modernen Auffassungen von Komik). Dann folgte vor allem im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eine Phase des intensiven und im allgemeinen positiven Interesses der Philosophen am Komischen. Es ist möglich, daß das moderne Bewußtsein sowohl in seiner vortheoretischen Form wie in seinem entwickelten Theoretisieren eine ganz eigene komische Sensibilität entwickelte. Die Moderne pluralisiert die Welt. Sie bringt Menschen mit verschiedenen Werten und Weltanschauungen eng zusammen; sie unterminiert die als selbstverständlich vorausgesetzten Traditionen; sie beschleunigt alle Veränderungsprozesse.11 Das bringt die verschiedensten Widersprüche mit sich – und die Wahrnehmung von Widersprüchlichkeit ist es, die der komischen Erfahrung zugrundeliegt. In der Soziologie hat man den Begriff der „Rollendistanz“ benutzt, um die distanzierte Haltung moderner Individuen gegenüber ihren eigenen Aktionen in der Gesellschaft zu bezeichnen. Dies impliziert auch Erkenntnisdistanz – Helmut Schelsky hat es „Dauerreflektion“ genannt. Diese Distanz mag sehr wohl auch die Grundlage eines spezifisch modernen Humors sein. Wenn das zutrifft, hat die moderne Theologie trotz ihrer gelegentlich hektischen Versuche, mit der Zeit zu gehen, das Phänomen noch nicht wirklich eingeholt. Das Komische neigt wie das Heilige dazu, in die unwahrscheinlichsten Situationen einzubrechen. Thielicke erzählt die schöne Geschichte von einem Erlebnis, das er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte, als er in einer Dorfkirche
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bei Stuttgart predigte. Plötzlich begann ohne Vorwarnung ein Bombenangriff, und ein furchterregender Lärm von angreifenden Flugzeugen, Maschinengewehren und feuernder Flak entstand. Thielicke rief von der Kanzel: „Alles hinlegen! Wir singen ‘Jesu, meine Freude’!“ Organist und Gemeinde folgten dieser Anweisung. Thielicke konnte von der Kanzel aus niemanden mehr sehen, da alle zwischen den Bänken kauerten und sangen. Trotz des ungeheuerlichen Lärms und der großen Gefahr erschien ihm die Situation nun als durchaus komisch. Er begann laut zu lachen. In der Rückschau dachte er, daß dies gewiß ein gottgefälliges Gelächter war.
14 Das Komische als Signal der Transzendenz Der Begriff der Transzendenz ist im philosophischen und theologischen Diskurs schwer mit verschiedenen Bedeutungen belastet, und es wäre nicht sinnvoll, sie alle hier zu entwirren. Doch ist die Vorstellung von einer Transzendenz einige Male im Verlauf der in diesem Buch angestellten Überlegungen aufgetaucht, am deutlichsten in den letzten beiden Kapiteln. Insofern ist es nützlich, zumindest zwei Bedeutungen des Begriffs zu klären, die für das Phänomen des Komischen wichtig sind. Zuerst einmal transzendiert das Komische die Wirklichkeit der normalen alltäglichen Existenz – es stellt, wenn auch meist nur ganz kurz, eine andere Realität vor uns hin, in der die Annahmen und Regeln des gewöhnlichen Lebens aufgehoben werden. Das ist sozusagen die niedere Transzendenz; sie hat keine notwendigerweise religiösen Implikationen. Doch deuten zweitens zumindest bestimmte Manifestationen des Komischen darauf hin, daß diese andere Realität erlösende Eigenschaften hat, die durchaus nicht zeitweilig sind, sondern auf jene andere Welt verweisen, die immer Gegenstand und Ziel der religiösen Haltung war. Man spricht gelegentlich auch umgangssprachlich von „erlösendem Lachen“. Jeder Witz kann ein solches Lachen hervorrufen, und es kann erlösend in dem Sinne sein, daß es uns das Leben zumindest eine kurze Zeit erleichtert. Aus der Sicht des religiösen Glaubens aber liegt in dieser flüchtigen Erfahrung ein intuitiv zu erfassendes Anzeichen, ein Signal wahrer Erlösung – das heißt: einer Welt, die geheilt und in der das Elend der menschlichen Existenz ausgelöscht worden ist. Dies impliziert die höhere Transzendenz, es ist religiös im ganzen, wahren Sinne des Wortes. Es gibt keinen unvermeidlich vorgezeichneten Weg von der ersten zur anderen Transzendenz. Natürlich nicht – sonst wäre jeder Kabarettist ein Diener Gottes (wie Don Quijote das von sich dachte). Es gibt einen säkularen und einen religiösen Modus des komischen Erlebens, und der Übergang vom einen zum anderen erfordert einen Glaubensakt. Als wir zuerst versuchten, das Phänomen des Komischen zu umreißen, beschrieben wir es als ein Eindringen in die gewöhnliche Welt. Mit der Begrifflichkeit von Alfred Schütz gesagt: Das Komische bricht in das Bewußtsein der „dominanten Realität“ ein, die jene gewöhnlich-alltägliche Welt ist, in der wir die meiste Zeit existieren, die wir mit den meisten unserer Mitmenschen teilen und die uns deshalb als massiv real erscheint. Diese Wirklichkeit ist dicht, schwer, zwingend. Verglichen damit ist die Wirklichkeit der Komik dünn, flüchtig, sie wird oft nur mit einigen anderen Menschen geteilt und manchmal mit gar niemand anderem. Solange es andauert, statuiert das Komische eine andere Realität, die sich wie eine Insel in den Ozean der Alltagserfahrung schiebt. So ist sie das, was Schütz einen „geschlossenen Sinnbereich“ nennt. Als solcher ist sie keineswegs einzigartig.
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Eine ganze Reihe menschlicher Erfahrungsweisen kann solche „Inseln“ hervorbringen: der Traum, das intensive sexuelle oder ästhetische Erlebnis, die in sich versunkene theoretische Spekulation (die reine Mathematik ist hier das Idealbeispiel) oder – auf ganz andere Weise – der intensive körperliche Schmerz. Doch die religiöse Erfahrung ist, vom Standpunkt der Alltagsexistenz aus betrachtet, ein weiterer solcher „geschlossener Sinnbereich“. Der Vergleich mit dem komischen Erlebnis ist instruktiv. Beide Erfahrungen haben gewisse Grundzüge mit allen anderen „geschlossenen Sinnbereichen“ gemeinsam – separate Realitätsstrukturen, eigene Raum-Zeitlichkeit, „Schwellen“-Empfindungen beim Betreten und Verlassen der Inselwelt, spezifische Wahrnehmung anderer Menschen und spezifische Eigenwahrnehmung. So hat man zum Beispiel in der Welt der Komödie das Empfinden, daß man in einer anderen Ordnung der Dinge angelangt ist, man wird an andere Orte und in andere Zeiten versetzt, es findet eine Art Ruck statt (in diesem Fall markiert durch Gelächter oder durch dessen Erwartung), wenn man in die Komödienwelt eingeht, und eine Art umgekehrter Ruck (man hört zu lachen auf), wenn man sie verläßt. Andere Menschen werden anders erlebt (der bedrohliche Tyrann wird zum Beispiel eine lächerliche oder tragikomische Figur), und das gleiche gilt für die Selbstwahrnehmung (das Opfer wird zum Sieger über die Lebensumstände). Mutatis mutandis gelten diese Charakteristika für alle „geschlossenen Sinnbereiche“, die religiöse Erfahrung eingeschlossen. Diese hat jedoch auch einige Züge, die mehr oder weniger einzigartig sind. Es handelt sich hierbei um die Qualitäten des Heiligen – das mysterium tremendum, wie Rudolf Otto es beschrieben hat, die Erfahrung einer vollkommenen Andersheit, eine Ambiguität von Schrecken und Faszination (das „Numinose“, mit Ottos Begriff) und eine Haltung der Ehrfurcht, die von diesen Erfahrungen hervorgerufen wird. Diesen Charakteristika nähert man sich auch bei einigen Manifestationen des Komischen bis auf eine gewisse Distanz, insbesondere bei denen, die zur Kategorie der „Narrheit“ gehören, doch gibt es weite Bereiche von Komik, die keine solchen Züge zeigen. Wie die bisherigen Kapitel gezeigt haben, ist der Bereich des Komischen weitgefächert – vom heulenden Wahnsinn des Dionysos bis zur diskreten Ironie von Jeeves. Doch zeigt sich das ganze Potential des Komischen am deutlichsten in der erstgenannten Verkörperung, und damit zeigt sich auch die Nähe zur religiösen Sphäre. Zumindest in der Geschichte des Westens (und sehr wahrscheinlich auch anderswo) sind die Ursprünge des Komischen in großer Nähe zu der Begegnung mit dem Numinosen zu suchen. Beide Phänomene führen die Wahrnehmung einer magisch verwandelten Welt herbei, und aus diesem Grund sind beide gefährlich, sobald sie einen gewissen Grad von Intensität erreichen. Gefährlich wofür? Gefährlich eben für die Fortdauer der gewöhnlichen Alltagsrealität – wenn man so will, für das Geschäft des Lebens. Beide Phänomene führen Ek-
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stasen herbei – was wörtlich heißt: Erfahrungen des „außerhalb Stehens“, außerhalb der gewöhnlichen Realität. Solche Ekstasen sind psychologisch wie soziologisch hinnehmbar, ja nützlich, falls sie zeitlich begrenzt bleiben und sorgfältig kontrolliert werden. Die Gefahr liegt darin, daß sie der Kontrolle entgleiten und damit die soziale Ordnung untergraben könnten. Robert Musil widmet in seinem großen Roman Der Mann ohne Eigenschaften dem, was er den „anderen Zustand“ nennt, große Aufmerksamkeit – einer Art mystischer Erfahrung, die ohne theologische Interpretation präsentiert wird. In kleinen Dosen (etwa als Anhauch, wenn man von einer Theateraufführung tief bewegt ist) ist diese Erfahrung wie ein Urlaub vom normalen Leben. Die Gefahr liegt darin, daß jemand versucht sein könnte, permanente Ferien zu machen (wie eben auch Ulrich, der Protagonist des Romans, gerne „Urlaub von seinem Leben“ nähme). Um diese Gefahr zu mildern, sind Religion wie Komik auf bestimmte Orte oder Zeiten beschränkt worden. Religionssoziologisch gesehen könnte man formulieren, daß die primäre gesellschaftliche Funktion religiöser Institutionen die Domestizierung der religiösen Erfahrung ist. So mag ein Prediger am Sonntagmorgen in der Kirche die unerhörtesten Dinge sagen und sich beispielsweise so äußern, als sei es möglich, Tag für Tag nach den Maximen der Bergpredigt zu leben. Einige Augenblicke lang mag die behagliche bourgeoise Gemeinde durch dieses lachhafte Ansinnen beunruhigt sein. Doch wenn sie wenig später die Kirche verläßt und in die vertraute Welt des Alltags zurückkehrt, kann sie erleichtert aufatmen und sich sagen (wenn auch vielleicht nicht in genau diesen Worten): „Nun ja, das war doch nur in der Kirche“, um wieder zu ihren vertrauten Gewohnheiten zurückzufinden. Hier haben wir eine direkte Analogie zu der Formel: „Das war doch nur Spaß“; nachdem man einen Witz belacht und genossen hat, kehrt man – „jetzt aber mal im Ernst“ – in die nicht-witzige Welt zurück. Die Magie läßt man auch hier hinter sich. Das Komische führt, wenn auch nur für kurze Zeit, das herbei, was wir als „niedere Transzendenz“ bezeichnet haben – das heißt, es relativiert die „dominante Realität“. Plötzlich erscheint das Vertraute in neuem Licht und wird seltsam unvertraut. Ionesco hat dies als dépaysement bezeichnet – eigentlich: der Verlust des eigenen Landes, die Vertreibung; im übertragenen Sinne bedeutet dépayser auch alltagssprachlich im Französischen „verwirren“, „befremden“. Zeitweilig verliert man das Bürgerrecht in der gewöhnlichen Welt, man wird aus dem Alltag exiliert. Anders gesagt – was natürlich erschien, wirkt nunmehr unnatürlich. Darauf läuft im wesentlichen auch Brechts Theatertechnik des Verfremdungseffekts hinaus. Dieser Vorgang ist offensichtlich nicht (oder noch nicht) religiös. Aber er stellt einen Schritt in diese Richtung dar, eine winzige Bewegung hin zu der Möglichkeit einer religiösen Wahrnehmung der Welt.
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Das Komische stellt uns in seinen intensivsten Formen wie etwa der Narrheit eine Gegenwelt vor, eine verkehrte Welt. Diese Gegenwelt wird enthüllt als etwas, das hinter oder unter jener Welt verborgen ist, wie wir sie gewöhnlich kennen (wir haben oben eine andere Bühnenmetapher für dieses Erlebnis verwendet, die „Doppelbödigkeit“). Solange dieses Erleben andauert, hat es natürlich den „Wirklichkeitsakzent“. Tatsächlich scheint dann die Gegenwelt wirklicher als die gewöhnliche, empirische Welt. Am Morgen danach – um es so auszudrücken – muß man dann über den empirischen Status dieser Gegenwelt nachdenken. Gegenwärtigkeit oder Abwesenheit eines religiösen Glaubens werden entscheiden, was dieses Nachdenken ergibt. Angesichts des flüchtigen Charakters des Komischen haben wir in diesem Buch scharf begrenzende Definitionen vermieden. Doch haben wir, grob gesagt, eine Unterscheidung zwischen den subjektiven und den objektiven Aspekten des Phänomens angedeutet. Der subjektive Aspekt ist mit dem gemeint, was man allgemein den Sinn für Humor nennt, oder auch einfach kurz den Humor. Es ist dies die Fähigkeit, etwas als komisch wahrzunehmen. Doch wird bei dieser Wahrnehmung auch eine Objektivität unterstellt. Das heißt: Man geht davon aus, daß es „da“, dort draußen, außerhalb des eigenen Bewußtseins, etwas gibt, das komisch ist. Diese angenommene Objektivität erlaubt es, vom Phänomen des Komischen zu sprechen. Wie wir gesehen haben, gibt es verschiedene Versuche von Philosophen und anderen, zu bestimmen, was dieses objektive Phänomen sein könnte. Natürlich kam man dabei zu keiner Übereinkunft (Philosophen kommen niemals zu einer Übereinkunft – sonst käme das Geschäft des Philosophierens an sein Ende). Doch haben wir der unter anderen von Henri Bergson und Marie Collins Swabey vorgetragenen Ansicht, daß es einen realen Erkenntnisgewinn durch Humor gibt, Plausibilität zuerkannt. Das heißt, anders ausgedrückt, daß der Sinn für Humor nicht bloß der Ausdruck eines subjektiven Gefühls ist (vergleichbar etwa der Aussage, man sei depressiver Stimmung), sondern es vielmehr mit Wahrnehmungen zu tun hat, die sich auf die Wirklichkeit der Welt außerhalb des eigenen Bewußtseins beziehen. Es ist ganz offensichtlich, daß diese Wahrnehmung stark von der Geschichte und der sozialen Lokalisierung beeinflußt ist: Es fällt uns schwer, über Ciceros Beispiele für witzige Bemerkungen zu lachen, und wir wissen, daß unsere Pointen nicht unbedingt funktionieren, wenn wir die Witze in einem sozialen Milieu erzählen, das von dem unseren stark unterschieden ist. Trotz dieser zeitlichen und gesellschaftlich-räumlichen Relativität stimmt man allgemein darin überein, daß der Sinn für Humor wesentlich zu einer Wahrnehmung von Widersprüchlichkeit führt. Dann läßt sich fragen: Zwischen welchem Einen und Anderen wird denn ein Widerspruch wahrgenommen? Im Prinzip kann ja jegliche Widersprüchlichkeit komisch wirken – der Widerspruch zwischen dem Lebendigen und dem Mechanischen (Bergsons Zentralkategorie), zwischen den
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Forderungen der zensierenden Moral und den blinden Trieben unserer Libido (Freud), zwischen den gewaltigen Ansprüchen politischer Herrschaft und ihrer geheimen Schwäche (häufiges Thema politischer Satire), und so fort. Wiederum wirkt das, was man in einer bestimmten Situation als widersprüchlich wahrnimmt, in einer anderen durchaus nicht so. Trotzdem kann man fragen, ob es nicht einen all diesem zugrundeliegenden Zentralwiderspruch gibt, den man immer wieder jenseits aller Relativierungen feststellen kann. Zwei Antworten sind möglich. Eine anthropologische, die sich auf die Menschennatur bezieht, und eine ontologische, bei der es um die Stellung des Menschen im Universum geht. Die anthropologische Antwort ist jene, die brillant von Helmuth Plessner formuliert wurde: Der Mensch ist in sich widersprüchlich. Die menschliche Existenz ist ein ständiger Balanceakt zwischen den beiden Modi, daß man einerseits ein Körper ist und andererseits einen Körper hat. Der Mensch ist das einzige Tier, das sich außerhalb seiner selbst stellen kann – Plessner nennt dies seine „exzentrische“ Natur. Anders gesagt, er ist das einzige Wesen, das in der Lage ist, zu handeln und sich nicht lediglich zu verhalten.Wenn dieser permanente Balanceakt zusammenbricht, übernimmt der Körper das Handeln: Lachen und Weinen zeigen diesen Zusammenbruch an. Dies ist ein physischer wie ein psychologischer Prozeß. Es ist aber auch möglich, daß der Sinn für Humor immer wieder diesen eingebauten Widerspruch des menschlichen Seins wahrnimmt. In diesem Sinn gibt es einen kognitiven Gewinn des Humors durch seine anthropologische Bezogenheit: Indem man sich dem komischen Lachen überläßt, hat man eine gültige Einsicht in einen zentralen Aspekt der menschlichen Natur. Obwohl Plessner aus bestimmten Gründen betont, er beziehe sich nicht auf die traditionelle Unterscheidung von Körper und Geist, kommt der Widerspruch, den er analysiert, doch dem sehr nahe, was viele Philosophen als das „Leib-Seele-Problem“ erörtert haben. Wie dem auch sei, wir sind alle vertraut mit den komischen Konsequenzen eines kleinen Ausbruchs dieser Widersprüchlichkeit im Alltag: Der Politiker muß sich bei einer patriotischen Feierlichkeit übergeben. Der große Intellektuelle, der über den Sinn der Tugend doziert, bekommt eine Erektion. Umgekehrt mag der Don Juan auf dem Wege zum erotischen Triumph von Gedanken an die Sterblichkeit befallen werden; vielleicht schwindet sogar im Verlauf einer Verführung seine Erektion, weil ihm die Lösung eines irritierenden philosophischen Problems einfällt. Nichts von all dem könnte einem Hund oder einem Schimpansen zustoßen. Jede dieser Widersprüchlichkeiten ist auf unverkennbare und vielleicht irgendwie sympathische Weise menschlich. Es gibt noch einen anderen Widerspruch, der nicht auf der Natur des Menschen beruht, sondern auf seiner Stellung im Universum. Pascal hat ihn damit zum Ausdruck gebracht, daß er den Menschen in die Mitte zwischen Nichts und
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Alles stellt. Die moderne Wissenschaft hat uns die Möglichkeit gegeben, diesen Widerspruch sehr einfach zu erleben: Wir schauen in die Welt, die das Mikroskop enthüllt, und fühlen uns riesenhaft; wir sehen durch das Teleskop und nehmen uns als winzige Nichtigkeiten in der Weite der Galaxien wahr. Die komische Erfahrung verweist auf diese ontologische Widersprüchlichkeit: Der Mensch als bewußtes Wesen baumelt lächerlich zwischen den Mikroben und den Sternen. Alle menschlichen Ansprüche auf Weisheit und Macht werden komisch entlarvt, wird diese grundsätzliche Widersprüchlichkeit einmal wahrgenommen. Trotz der erwähnten Ähnlichkeiten mit einem religiösen „geschlossenen Sinnbereich“ führt das, was hier über die „niedere Transzendenz“ des Komischen gesagt wurde, nicht unbedingt zur religiösen Interpretation einer solchen Erfahrung. Es kann dies alles mit der Prämisse etsi deus non daretur formuliert werden – das heißt: ohne die Annahme Gottes (oder, im übrigen, irgendwelcher Götter oder übernatürlicher Wesen). Schließlich weisen auch die intensiven sexuellen oder ästhetischen Erfahrungen ähnliche Züge auf; auch sie transzendieren die selbstverständlich vorausgesetzte Realität des Alltagslebens, und doch braucht man diese Transzendenz nicht religiös zu interpretieren. Um von der – wie wir es genannt haben – niederen zur höheren Transzendenz fortzuschreiten, bedarf es eines Glaubensaktes, einer Art „Sprung“ (mit Kierkegaards Wort). Lassen wir für den Augenblick die Frage beiseite, warum man einen solchen Sprung tun sollte. Hier geht es nur darum, daß das Komische – hat man jenen Sprung einmal getan – einen ganz anderen Aspekt annimmt. Um es noch einmal so zu nennen: Eine epistemologische Umkehrung hat stattgefunden. Damit nehmen einige der Hauptzüge der komischen Erfahrung neue Bedeutung an. Insbesondere stellt die komische Erfahrung eine Welt ohne Schmerz dar. Einige der Interpreten, die in diesem Buch zu Wort gekommen sind, haben auf den hohen Abstraktionsgrad hingewiesen, der bei der komischen Wahrnehmung vorausgesetzt wird. Es handelt sich vor allem um eine Abstraktion von der tragischen Dimension der menschlichen Existenz. Es gibt hier Ausnahmen, vor allem im sogenannten schwarzen Humor, doch selbst dort werden die schmerzlichen Realitäten, auf die angespielt wird, bei der Übersetzung in die komische Ausdrucksform irgendwie neutralisiert. Alles in allem findet von den Welten des gutmütigen Humors bis zu den Gegenwelten der Narrheit eine Aussetzung tragischer Wirklichkeit statt. Das läßt sich schlaglichtartig mit der Figur des Clowns illustrieren, der verprügelt wird, niedergeschlagen, mit Füßen getreten und überhaupt gequält. Und doch geht man dabei davon aus, daß er diese Schmerzen nicht wirklich fühlt. Tatsächlich ist der Auftritt des Clowns mit seinem fortwährenden Lachen im Verlauf dieser Plagen nur auf Grund jener Logik möglich. Läßt man die Voraussetzung der Schmerzlosigkeit fallen, dann wird die Komödie zur Tragödie: Der Bajazzo mag noch so tun, als lache er, aber wir wissen, daß er in
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Wahrheit weint, und sein Auftritt ist nicht länger komisch. Allgemein wird jede Komödie dann tragisch, sobald wirkliche Schmerzen, wirkliches Leiden Einlaß in sie finden. Etsi deus non daretur, ist jedes Beispiel des Komischen eine Flucht aus der Realität – physisch, psychologisch und soziologisch durchaus gesund, doch nichtsdestoweniger eine Flucht. Die wahre Welt empirischer Existenz muß sich am Ende wieder in den Vordergrund der Wahrnehmung schieben; die Gegenwelt der Komik muß als Illusion erscheinen. Die Komödie ist ihrem Wesen nach antifaktisch – die Tragödie enthüllt die unerbittliche Faktizität der menschlichen Existenz. Sobald dies jedoch im Lichte des Glaubens gesehen wird – etsi deus daretur –, kehren sich die Zuordnungen von Realität und Illusion um. Die harten Fakten der empirischen Welt werden nun, wenn nicht als Illusion, so doch als als eine nur zeitweilige Wirklichkeit gesehen, die schließlich aufgehoben wird. Umgekehrt kann man jetzt die schmerzlose Welt der Komik als eine Andeutung einer Welt jenseits dieser Welt sehen. Das Erlösungsversprechen ist in der einen oder anderen Form immer das Versprechen einer Welt ohne Schmerz. Empirisch gesehen ist die Komik ein begrenztes und endliches Spiel innerhalb einer ernsten Welt, die gekennzeichnet ist durch unseren Schmerz und unausweichlich zu unserem Tod führt. Der Glaube aber stellt die Empirie in Frage und bestreitet, daß sie wesentlich ernsthaft ist. Darin ist er meta-empirisch. Er stellt uns nicht eine Illusion, aber eine Vision einer Welt vor Augen, die unendlich wirklicher ist als alle Wirklichkeit dieser Welt. Der Charakter dieser epistemologischen Umkehrung läßt sich illustrieren, indem wir einige der Ur-Erfahrungen des Komischen betrachten, jener Erfahrungen, welche die Psychologie schon bei ganz kleinen Kindern festgestellt hat: das Hinfallen, das Schachtelmännchen (der Springteufel) und – wahrscheinlich das ursprünglichste Erlebnis – das Kuckuck!-Spiel. Das plötzliche Hinschlagen drückt am Klarsten den Widerspruch zwischen den menschlichen Ansprüchen und der menschlichen Realität aus.Thales von Milet glaubte, er begreife die Sterne am Himmel, doch fiel er dabei in einen Brunnen, und im Lachen der Thrakerin drückte sich eine Erkenntnis über das Wesen des Menschen aus, die weit hinausging über die momentane Peinlichkeit der Lage eines einzelnen Philosophen. Das Stolpern und Stürzen stellt ein anthropologisches Paradigma mit jener wundervollen Knappheit dar, die (wie Freud entdeckte) Witze mit Träumen gemeinsam haben. Das Schachtelmännchen, das an einer Feder aus der geöffneten Schachtel hervorspringt, kehrt diese Erkenntnisfigur um. Es ist eine mechanische Wiederholung jener Leugnung des menschlichen Falles, wie sie jeder Clown im Repertoire hat, der lang hinschlägt, nur um sofort wieder aufzuspringen – ganz gleich, wie oft man ihn stürzen läßt. (Dem enstpricht die Logik des Stehaufmännchens – eines Spielzeugs, das immer wieder von selbst in die aufrechte
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Position zurückkehrt.) Wenn das Hinschlagen ein anthropologisches Paradigma ist, so ist das Schachtelmännchen (in einer Art Gegentheologie auch „Springteufel“ genannt) ein soteriologisches Paradigma – ein Symbol der Erlösung.Wenn man Erlösung im christlichen Sinne auffaßt (es ist wichtig, dessen eingedenk zu sein, daß es auch andere Auffassungen gibt), dann liegt eine einigermaßen kühne Formulierung nahe: Schachtel- und Stehaufmännchen sind überraschende, doch durchaus angemessene Symbole der Auferstehung. Christus war das erste „Männchen“, das wieder aufstand, und wie der Apostel Paulus erläuterte, ist dies der Grund für unsere eigene Hoffnung, wieder aufstehen zu dürfen, wenn wir (auf der Bananenschale des Lebens) ausgerutscht und hingefallen sind. Doch ist es das Kuckuck!-Spiel, das in der Folge der epistemologischen Umkehrung, welche der Glaube mit sich bringt, eine noch erstaunlichere Bedeutung bekommt. Erinnern wir uns daran, worum es bei diesem Spiel geht: Das Kind sieht die Mutter; die Mutter verschwindet, was das Kind ängstigt; wenn die Mutter nach kurzer Zeit wieder erscheint, lächelt oder lacht das Kind; dieses Lachen drückt eine große Erleichterung oder, wie manche Psychologen es bezeichnen, Entlastung aus. Hier haben wir in wundervoll konzentrierter Form das Drama der Erlösung, wie es im Licht des Glaubens erscheint. Etsi deus daretur, können Gottes Beziehungen zu den Menschen als ein kosmisches Versteckspiel gesehen werden. Wir erhaschen ganz kurz Seinen Anblick, und dann ist Er prompt wieder verschwunden. Seine Abwesenheit ist das zentrale Faktum unserer Existenz, und der letzte Grund all unserer Ängste. Religiöser Glaube ist die Hoffnung, daß Er einmal wieder erscheinen wird und uns jene letzte Erleichterung schenkt, die eben die Erlösung ist. In der Ostkirche gibt es tatsächlich eine Liturgie, die visuell das kosmische Kuckuck! inszeniert. Jede orthodoxe Kirche hat eine sogenannte Ikonostasis – eine Art Lettner, der den Altar vom Rest des Sanktuariums trennt. Die Ikonostasis hat mehrere Türen, durch welche die Geistlichen und ihre Helfer im Verlauf des Gottesdienstes kommen und gehen. In jener speziellen Liturgie intoniert der Diakon, während der den Gottesdienst haltende Priester durch die Ikonostasis hin und her geht: „Jetzt seht ihr ihn, jetzt sehet ihr ihn nicht.“ Jemand hat einmal bemerkt, daß sich jede junge Mutter in einer moralisch privilegierten Lage befindet: Sie weiß genau, was Gott von ihr erwartet. Das heißt natürlich: daß sie sich um ihr Kind kümmert. Ein universell verständliches menschliches Zeichen ist das Bild einer ihr Kind schützend in den Armen wiegenden Mutter. Dazu tritt die Urszene der Mutter, die ein weinendes Kind tröstet. Das Kind – nehmen wir einmal an – ist aus einem beängstigenden Traum erwacht und beginnt zu weinen. Die Mutter wiegt es und sagt beruhigend: „Weine nicht – es ist alles gut, es ist alles gut.“ Während diese Szene ein universelles menschliches Mitgefühl auslöst, können wir sie nun auf zwei verschiedene gegensätzliche Weisen interpretieren, je nachdem, ob wir vom Glauben ausgehen wollen oder
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nicht. Ohne Glauben lügt die Mutter das Kind an. Natürlich nicht in jenem besonderen Augenblick, und es geht auch nicht daraum, daß es moralisch zu verurteilen wäre, was sie tut. Aber diese beruhigenden Gesten und Worte bauen – wie die moderne Kinderpsychologie hinreichend nachgewiesen hat – im Kind ein Grundvertrauen in die Welt auf. Empirisch betrachtet ist ein solches Vertrauen allerdings unangemessen – eine Illusion. Die Welt ist ganz und gar nicht vertrauenswürdig. Es handelt sich um eine Welt, in welcher das Kind alle möglichen Formen von Schmerz erfahren wird, eine Welt, die es am Ende töten wird. Es ist nicht alles gut, ganz im Gegenteil. Die Versicherung der Mutter ist also letztlich ein Akt falschen Bewußtseins. Doch wenn man gläubig ist, hat diese kleine Szene eine völlig andere Bedeutung. Dann spielt die Mutter eine geradezu priesterliche Rolle. Ihre beruhigenden Worte wiederholen das göttliche Versprechen der Erlösung: Am Ende wird alles gut sein. Falsches Bewußtsein oder Erlösungsversprechen: Je nach dem Blickwinkel ist die eine oder die andere Interpretation gültig. Wir müssen in eine der beiden Richtungen springen. Natürlich soll hier nicht angedeutet werden, daß Mütter das alles wissen, und sei es auch nur unbewußt. Und natürlich wird damit auch nicht gesagt, daß Kinder, die über einen Clown oder ein Schachtelmännchen lachen, dies in ihrer Eigenschaft als kleine Kindergartentheologen tun. Wir müssen uns vielmehr fragen, was diese Vorgänge für uns als Beobachter bedeuten, die wir Glauben besitzen oder nicht. Vielleicht sind aber Jesus’ Äußerungen, die uns nahelegen, daß wir werden sollen „wie die Kinder“, hier von Bedeutung. Das glückliche Kind, jenes, das hinreichende Versicherungen der eben beschriebenen Art bekommen hat, vertraut der Welt wirklich. Luther hat den Glauben (fides) eben als Vertrauen (fiducia) beschrieben. Das kindliche Vertrauen geht davon aus, daß der Clown immer wieder aufspringt, daß die Mutter immer wieder auftaucht, daß man deshalb einfach lachen kann. Erwachsene sind in der Lage, zu einem kindlichen Glauben „wiedergeboren“ zu werden, durch den die Welt wieder vertrauenswürdig wird. Ein solcher Glaube läßt sich nicht auf rationale Beweise bauen, doch steht er auch nicht im Widerspruch zur Vernunft. Man kann und muß sogar über ihn nachdenken. Ein Ergebnis solcher Reflektion ist die intuitive Erkenntnis, daß die Komödie tiefer ist als die Tragödie. Im ganzen neunzehnten Jahrhundert und über weite Strecken des zwanzigsten Jahrhunderts hinweg war das moderne Denken über Religion sehr stark von der Idee der „Projektion“ beeinflußt. Diese Idee geht auf Ludwig Feuerbach zurück, dessen Programm einer – wie er es nannte – Verwandlung von Theologie in Anthropologie auf der Vorstellung beruhte, daß die von der Religion angenommenen Welten nichts als Spiegelungen von oder Projektionen aus der empirischen Welt des gewöhnlichen menschlichen Lebens sind. Diese Idee hat ihre einflußreichsten Anschlußformulierungen im Werk von Marx (Religion als Teil des
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„Überbaus“, der die zugrundeliegende gesellschaftliche Wirklichkeit spiegelt), Nietzsche (die Religion, insbesondere das Christentum, als Projektion der Verlierer im Spiel der Macht) und Freud (Religion als die große Illusion, die es erlaubt, die unterdrückten libidinösen Wünsche zu „sublimieren“) erlebt. Doch viele andere moderne Denker, darunter eine beträchtliche Zahl von Theologen, haben ebenfalls mit dem Begriff der Projektion gearbeitet. Nimmt man diesen als die einzig mögliche Beschreibung von Religion, so beruht die Vorstellung von Projektion auf atheistischen Voraussetzungen und stärkt diese ihrerseits: Die Götter sind Symbolisierungen der Wechselfälle des menschlichen Lebens und haben davon abgesehen keine Existenz. Das ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, dieses Konzept zu verstehen. Man kann darin auch eine Aussage über die Religion innerhalb der Parameter der empirischen Humanwissenschaften sehen (Geschichte, Psychologie, Sozialwissenschaften, vielleicht auch bestimmte Varianten philosophischer Anthropologie). Bleibt man innerhalb dieser Parameter, ist vieles von dem, was über Projektion gesagt worden ist, vollkommen gültig. Das bedeutet natürlich nicht, daß man den konsequent marxistischen oder psychoanalytischen Religionstheorien zustimmen müßte (die übrigens in rein empirischer Hinsicht einigermaßen dubios sind). Doch ist es empirisch gesehen völlig berechtigt, religiöse Erfahrung und Tradition in ihren historischen, sozialen und psychologischen Kontexten zu betrachten. Wenn man dies tut, erkennt man, daß diese religiösen Phänomene unweigerlich bestimmte menschliche Realitäten symbolisieren – wenn man so will: diese Realitäten spiegeln oder projizieren. Es wäre töricht, wenn ein Theologe diese Erkenntnisse prinzipiell bestritte. Noch einmal führt der Glaubensakt zu einer neuen Perspektive. Es handelt sich in diesem Falle nicht um eine völlige epistemologische Umkehrung, da die Auffassung der Religion als Projektion innerhalb der Grenzen des Empirischen gültig bleibt. Doch der Glaube eröffnet die Möglichkeit einer anderen, meta-empirischen Sichtweise auf dieses Phänomen. In dieser Perspektive ist der Mensch nur deshalb in der Lage, die Götter zu projizieren, weil er zunächst einmal selbst mit den Göttern verwandt ist. Monotheistisch ausgedrückt: Gott schuf ihn nach seinem Bilde – was zumindest bedeutet, daß der Mensch fähig ist, sich Gott vorzustellen. In den Akten solcher Projektion streckt der Mensch die Hand nach der Unendlichkeit aus. Doch das vermag er nur deshalb, weil zuerst das Unendliche ihn berührt hat. Knapp gesagt: Der Mensch ist der Projektor, weil er am Ende selbst das Projektil ist. Der Symbolisierer ist selbst ein Symbol. Die empirischen Disziplinen werden legitimerweise alles, was beansprucht, tranzendent zu sein, auf Projektionen diesseitiger Realität untersuchen. Eine theologische Disziplin (womit hier nicht mehr gemeint ist als eine systematische Reflektion über die Implikationen des Glaubens) wird umgekehrt nach Andeutungen des Transzendenten in der diesseitigen Realität forschen. Hat der Glaube einmal diesen spe-
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ziellen Blickwinkel eröffnet, so enthüllen sich verschiedene solcher Andeutungen. Es muß betont werden, daß dies keine „Beweise“ für die Existenz Gottes oder irgendeine übernatürliche Wirklichkeit sind. Solche Beweise, die den Akt des Glaubens überflüssig machen würden, gibt es nicht. Hier sprechen wir nicht von Beweisen, sondern von Signalen der Transzendenz – oder, wenn man so will, von kurzen, plötzlich erhaschten Blicken auf Ihn, der mit uns das kosmische Versteckspiel spielt. Warum sollte man nach solchen Signalen Ausschau halten? Hier ist nicht der Ort, um eine Argumentation für den religiösen Glauben allgemein vorzutragen oder für den christlichen Glauben im besonderen. Soviel aber sei hier gesagt: Es gibt Menschen, die – mit welchen Gründen auch immer – eine absolute Gewißheit ihres religiösen Glaubens für sich beanspruchen. Vielleicht sind manche von ihnen tatsächlich für solche Selbstoffenbarungen des Göttlichen auserwählt worden, die in ihrer überwältigenden Wirklichkeit die Bestätigung ihrer selbst auf Dauer in sich tragen. Hat man vom bitteren Wein des modernen Denkens getrunken, wird man solchen Ansprüchen gegenüber zur Skepsis neigen. Die Fähigkeit der Menschen, zweifelhafte Gewißheiten zu erfinden, ist ungeheuer, und durchaus nicht nur auf dem Gebiet der Religion.Wie dem auch sei – diejenigen von uns, die keiner Erfahrung teilhaftig geworden sind, welche an die Stelle des Glaubens die Gewißheit setzte, haben keine Wahl – wollen wir aufrichtig sein –, als aus den Ungewißheiten, die uns bleiben, das beste zu machen.Wer eine solche Gewißheit zu besitzen vermeint, muß sich nicht auf die Suche nach Signalen der Transzendenz begeben.Wir anderen müssen es, falls wir nicht bereit sind, uns mit stoischem Gleichmut damit abzufinden, daß die Welt im Letzten hoffnungslos ist. Die hier vorgetragene Argumentation versucht zu zeigen, daß die Erfahrung des Komischen ein solches Signal von Transzendenz ist, und zwar ein wichtiges. Mit christlicher Begrifflichkeit ausgedrückt heißt dies, daß das Komische eine Manifestation eines sakramentalen Universums ist – eines Universums, das (um hier das Book of Common Prayer zu paraphrasieren) „sichtbare Zeichen unsichtbarer Gnade“ enthält. Sakramente sind keine Magie. Sie verwandeln nicht die empirische Realität der Welt, die nach wie vor voll ist von all den Leiden, die den Menschen heimsuchen. Sakramente sind auch nicht logisch zwingend: Die Gnade, welche sie vermitteln, läßt sich nicht empirisch oder rational demonstrieren, nur durch einen Akt des Glaubens wahrnehmen. In unserem Fall entfernt die Erfahrung des Komischen nicht auf wundersame Weise Leid und Bosheit aus der Welt, noch liefert sie hinlängliche Beweise, daß Gott in dieser Welt handelt und sie zu erlösen beabsichtigt. Doch wird das Komische, vom Glauben wahrgenommen, zu einem großen Trost und einem Zeugnis für die Erlösung, die noch kommen soll. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie sich diese Auffassung theologisch weiter entwickeln ließe. Helmut Thielicke hat angedeutet, wenn dem
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Komischen ein Platz in der christlichen Theologie eingeräumt würde, dann müßte dies unter dem Oberbegriff der Eschatologie geschehen – das heißt der Lehre von den letzten Dingen, von der schlußendlichen und klar sichtbaren Errichtung des Reiches Gottes in dieser Welt. Ein anderer deutscher protestantischer Theologe, Wolfhart Pannenberg, hat den Begriff des „Proleptischen“ (der Vorwegnahme) gebraucht, um das Wesen des Glaubens in dieser Welt zu beschreiben. Das heißt: Der Glaube antizipiert jene Erfüllung, die erst kommen wird, und handelt kraft dieser Antizipation so, als sei die Erfüllung schon eingetreten. Wir möchten meinen, daß das Komische in diesem präzisen Sinne „proleptisch“ ist. Das sogenannte Osterlachen der mittelalterlichen Kirche war ein machtvoller liturgischer Ausdruck dieser Sichtweise. Schließlich wollen wir auf einige sehr hypothetische Bemerkungen zurückkommen, die oben über eine spezifisch moderne Färbung des Komischen gemacht wurden. Diese moderne Komik ließe sich als witzig, sardonisch, sehr distanziert beschreiben – und insofern in Verbindung bringen mit anderen charakteristischen Zügen von Modernität: vor allem ihrer Intellektualität (der Neigung, ständig alles zu reflektieren) und ihrer Gefühlskontrolle (dem psychologischen Korrelat der „Rollendistanz“). Es ist in diesem Zusammenhang interessant, an zwei eng beieinanderliegende Augenblicke in der Geschichte des westlichen Denkens zu erinnern – an die Zeit, da die mittelalterliche Narrheit zu verschwinden begann, und jene, da die Philosophen anfingen, das Komische positiver einzuschätzen. Beide Zeitpunkte lassen sich nicht präzisieren, aber sie fallen, grob gerechnet, mit dem Beginn des modernen Zeitalters in Europa zusammen. Erasmus ist hier eine entscheidende Übergangsfigur: Er rühmte die Narrheit in jenem Moment, da ihre überschwenglicheren Verkörperungen nach und nach von den Straßen verschwanden, um in den Institutionen des Hofnarren und der Theaterkomödie domestiziert zu werden. Und sein Buch, das die Narrheit pries, ist das erste wesentliche Werk eines westlichen Denkers, welches das Komische sympathisierend würdigt. Ist das Zufall? Vielleicht. Es ist aber auch möglich, daß die beiden Ereignisse in Zusammenhang stehen. Die Modernität schaffte einen großen Teil des Zaubers ab, mit dem der mittelalterliche Mensch noch gelebt hatte. Die Gegenwelt der Narrheit begann zurückzuweichen und wurde, mit vielem anderem zusammen, säkularisiert, angepaßt an ein Zeitalter, das sich in zunehmendem Maße früheren Epochen wegen der von ihm beanspruchten Rationalität überlegen fühlte. Aber die illusionslose, allzu rationale Welt der Moderne schuf ihre eigenen Widersprüchlichkeiten. Der moderne Humor mag eine Folge dieser Entwicklung sein, sowohl als ihr Ausdruck wie als eine Reaktion dagegen. Solange der moderne Mensch noch über sich lachen kann, wird seine Entfremdung von den Zaubergärten früherer Zeiten nicht vollständig sein. Die neue Wahrnehmung des Komischen mag die Achillesferse der Modernität sein und ihre mögliche Rettung.
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The Donkey When fishes flew and forests walked And figs grew upon thorn, Some moment when the moon was blood Then surely I was born. With monstrous head and sickening cry and ears like errant wings, The devil’s walking parody On all four-footed things. The tattered outlaw of the earth, Of ancient crooked will; Starve, scourge, deride me: I am dumb, I keep my secret still. Fools! For I also had my hour; On far fierce hour and sweet: There was a shout about my ears, And palms before my feet. [Gilbert Keith Chesterton]
Epilog Der Esel Als Feigen trug der Dornenknick, Es flog der Fisch, es schritt der Hag – Blutrot der Mond, den Augenblick Begann ich meinen Lebenstag. Mit Monsterkopf und Wackelohr, Wenn meine Stimme gellt, Wie Parodie komm ich mir vor, Vierfüßer, eurer Welt. Ein Wille wollte, alt und krumm; Man striemte mich, man femte mich. So prügelt, höhnt nur: ich bin stumm, Und mein Geheimnis wahre ich. Ihr Narren! Weiß den Tag ich doch, Die große, süße Stunde noch, Die Palmen streute meinem Huf Und in mein Ohr den Jubelruf. [Gilbert Keith Chesterton] Übersetzt von Wilhelm Lehmann [Der Abdruck des Gedichtes „Der Esel“ von Wilhelm Lehmann erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klett-Cotta, Stuttgart]
Anmerkungen zu den Kapiteln Kapitel 1 1. 2. 3. 4. 5.
Alfred Schütz, „On Multiple Realities“, Collected Papers, Bd. I, The Hague 1962, S. 207 ff. ebd., S. 208 ebd., S. 231 Johan Huizinga, Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 1956, S. 14 ebd., S. 17
Kapitel 2 1. Platon, Theaitetos, 174a, nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Eine detaillierte Geschichte des Nachlebens dieser Anekdote findet sich bei Hans Blumenberg, „Der Sturz des Protophilosophen“, in: W. Preisendanz/R.Warning (Hg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik VIII), sowie: Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt/Main 1987. 2. Bernhard Greiner, Die Komödie, Tübingen 1992, S. 25 ff. 3. Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart usw. 1977, S. 342 f. 4. vgl. Platon, Philebos, 49a ff. 5. Aristoteles, Poetik, 1449a, Üb. J. K. 6. Cicero, De oratore, LVIII, 236, Üb. J. K. 7. vgl. Karl-Josef Kuschel, Laughter: A Theological Essay, New York 1994, S. 43 ff. 8. Das Folgende ist ein Auszug aus einer unveröffentlichten (möglicherweise sogar ungeschriebenen) Rezension des vorliegenden Buches durch Dorothy Hartmund, emeritierte Distinguished Professor of Classical Studies der Southern Illinois A&M University: „Bergers beiläufig hingestreute Bemerkungen über das mittelalterliche Denken sind ebenso unverantwortlich wie seine absurd unangemessene Behandlung der Antike – man fühlt sich hier in seiner wohlerwogenen Meinung nur bestätigt, daß Sozialwissenschaftler mit nichts als den kärglichen Resten einer humanistischen Erziehung solche Themen denen überlassen sollten, die als Geisteswissenschaftler dafür qualifiziert sind. Es ist natürlich denkbar, daß Berger nie von Duns Scotus’ Werk De ridenda gentium gehört hat oder von Abaelards elegant knappem Essay Sie et fortasse. Doch selbst er hätte schon einmal auf die massiven Risibilia des Thomas von Aquin stoßen müssen, die im übrigen in meiner englischen Übersetzung vorliegen (Risibilities, Centralia, Ill., 1957). Ich darf ihn auch auf die souveräne Analyse dieses Werkes durch Dominic O’Malley SJ in seinem Werk Scholastic Humor (Notre Dame, Ind., 1985, S. 2033 ff.) hinweisen. Es ist offensichtlich, daß Berger kein Latein kann (von Griechisch zu schweigen), doch wenn man seinen Fußnoten Glauben schenken darf,vermag er zumindest etwas Deutsch und Französisch zu lesen. Insofern könnte er mit großem Gewinn die lebhafte wissenschaftliche Auseinandersetzung nachvollziehen, die Edith O’Malley OSB mit ihrem brillanten Aufsatz ‘The Woman behind Thomas’ ausgelöst hat (Journal of Feminist History, III/1990, S. 68 ff.), der zu zeigen versucht, daß die Risibilia wie auch andere Werke des großen Scholastikers ein Plagiat aus den Schriften von Schwester Placida, der gelehrten Äbtissin von Rimini, seien. Vgl. Dorothy Hartmund, ‘Die lachende Nonne aus Rimini’ (Zeitschrift für die
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Wissenschaften des Altertums, CX/1991, S. 65 ff.), Jean-Jacques Abukassim, ‘Le mythe de l’abesse Placida’ (Annales médiévales, LI/1992, S. 2 ff.) und meine Antwort auf Abukassim in der folgenden Nummer der Annales.“ 9. Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Zweiter Band, Darmstadt 1975 10. a.a.O., S. 52 (Üb. J. K.) 11. a.a.O., S. 128 (Üb. J. K.) 12. Descartes, Œuvres et Lettres, Paris 1949, S. 613 f. – (Üb. J. K.) 13. Vgl. Paul Haberland, The Development of Comic Theory in Germany During the Eighteenth Century, Göppingen 1971 14. ebd., S. 48 ff. 15. Zum Zusammenhang zwischen der Komödie auf dem Theater und den Theorien des Komischen in dieser Epoche vgl. Greiner, a.a.O., S. 47 ff. 16. Möser, „Harlequin, oder Verteidigung des Groteske-Komischen“, in: L. Rohner (Hg.), Deutsche Essays, Bd. 1, München 1972, S. 110 17. Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/Main 1977, S. 124 18. ebd., S. 272 ff. 19. Haberland, a.a.O., S. 80 ff. 20. Vorlesungen über die Ästhetik, Frankfurt/Main 1970, S. 520 ff. 21. Na, Mrs. Hartmund, wollen sie nicht das ins Lateinische übersetzen? [Ich schlage vor: mundus cum finibus sese itaque destruentibus inessentia propria – J. K.] 22. a.a.O., S. 529 23. Diese elefantastische Geschichte und das Vorhergegangene stammen aus meinem Essay „A Lutheran View of the Elephant“, zuerst veröffentlicht im Inter-Lutheran Forum, Advent 1978 (wo sonst?) und dann in einer erweiterten Fassung in meinem Buch Auf den Spuren der Engel (Freiburg 1996). Wie Rabbi Meir, der Talmudist aus Wilna, gesagt hat: „Wenn ein Autor nichts von sich selber borgen kann, bei wem dann kann er borgen?“ 24. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Hamburg 91986 25. Kierkegaard, Philosophische Brosamen, und: Unwissenschaftliche Nachschrift. Deutsch von B. und S. Diderichsen. Köln 1959 26. ebd., S. 219 27. ebd., S. 709 ff. 28. Henri Bergson, Le rire. Essai sur la signification du comique, Paris 471940 29. ebd., S. 5, Üb. J. K. 30. ebd., S. 26, Üb. J. K. 31. ebd., S. 105 f., Üb. J. K. 32. Joachim Ritter, „Über das Lachen“, in: Subjektivität, Frankfurt/Main 1974, S. 62 ff. 33. Francis Jeanson, Signification humaine du rire, Paris 1950 34. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte David Rousset, der in der Résistance gewesen war, ein Buch über seine Erfahrungen in den Konzentrationslagern der Nazis. Das Werk ist mir gerade nicht zugänglich, aber ich erinnere mich an einen interessanten Abschnitt, wo Rousset sich die Frage vorlegt, ob er aus diesen Erfahrungen irgendetwas gelernt habe. Er beantwortet sie selbst: Sehr wenig, was er nicht schon vorher wußte. Doch unter den wenigen Dingen, die er dort in der Tat gelernt hatte, war die Einsicht, daß das Komische ein objektives Element der Wirklichkeit ist, ohne Ansehung der Umstände, unter denen man ihm begegnet, seien sie noch so fürchterlich. 35. Marie Collins Swabey, Comic Laughter: A Philosophical Essay, New Haven 1961 36. ebd., S. 162
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37. ebd., S. 247 38. Baudelaire, „De l’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques“, in: Œuvres complètes, Paris 1961, S. 975 ff., hier: S. 982, Üb. J. K.
Kapitel 3 1. Ich verdanke diese Beobachtung John Berthrong, der mich auch mit Meister Chuang bekannt machte. Ich gebe meiner Dankbarkeit unter schallendem taoistischem Gelächter Ausdruck. 2. Vgl. E. R. Hughes (Hg.), Chinese Philosophy in Classical Times, London 1942, S. 165 ff.; Kuangming Wu, Chuang Tzu: World Philosopher at Play, New York 1982; ders., The Butterfly as Companion, Albany 1990 3. Hughes, a.a.O. 4. ebd., S. 184 5. Wu, Butterfly, S. 264, 374 6. Victor Mair (Hg./Üb.), Wandering on the Way: Early Taoist Tales and Parables of Chuang Tzu, New York 1994, S. 7 7. Vgl. Kazuaki Tanahashi, Penetrating Laughter: Hakuin’s Zen and Art, Woodstock, N.Y., 1982 8. ebd., S. 84 9. Lucien Stryk und Takashi Ikemoto (Hg.), Zen, Chicago 1981, S. xxxii 10. Tanahashi, a.a.O., S. 121 11. ebd., S. 19
Kapitel 4 1. Norman Holland, Laughing: A Psychology of Humor, Ithaca, N. Y., 1982, S. 76 2. Marie Collins Swabey, Comic Laughter: A Philosophical Essay, New Haven 1961 3. Helmuth Plessner, „Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens“ (1941), in: Gesammelte Schriften VII: Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/ Main 1982, S. 201 ff. 4. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), München 1949 5. Plessner, „Das Lächeln“ (1950), a.a.O., S. 419 ff. 6. ebd., S. 432 7. J. Y. T. Greig, The Psychology of Laughter and Comedy (1923), New York 1969, passim; Paul McGhee, „Human Development: Toward a Life Span Approach“, in: Paul McGhee/Jeffrey Goldstein (Hg.), Handbook of Humor Research, New York 1983, Bd. I, S. 109 ff.; Reinhard Lempp, „Das Lachen des Kindes“, in: Thomas Vogel (Hg.), Vom Lachen, Tübingen 1992, S. 79 ff. 8. Von dem oben angeführten Autor J. Y. T. Greig (oder handelt es sich um eine Autorin?). Er oder sie war am Armstrong College der University of Durham. Man ist versucht, sich auszumalen, wie seine – oder ihre – Hypothese an einer englischen Provinzuniversität in den zwanziger Jahren aufgenommen wurde. 9. Ich fühle mich allerdings veranlaßt, das Folgende zu berichten (wenn es auch angebracht erscheint, solch großväterliches Prahlen in eine Fußnote zu verbannen und damit nicht in den Text eindringen zu lassen): Als meine Enkelin Diya drei Jahre alt war, machte sie ihren ersten belegbaren Witz. Sie kam die Treppe herunter und zeigte stolz ein neues Kleid. Ihr Vater sagte: „Hallo, du Schöne!“ Sie lächelte (sie wußte, was sie tat) und antwortete: „Hallo, du Biest!“
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10. Lempp, a.a.O. 11. Avner Ziv, Personality and Sense of Humor, New York 1984. Im folgenden bediene ich mich weitgehend Zivs Argumentation. Ich darf noch einmal den legendären Rabbi Meir von Wilna zitieren: „Wenn du etwas Gutes findest, schäm dich nicht, es zu genießen!“ 12. ebd., S. 4 ff.; C. R. Gruner, Understanding Laughter, Chicago 1978; Lawrence La Fave u. a., „Superiority, Enhanced Self-Esteem, and Perceived Incongruity“, in: Antony Chapman/Hugh Foot (Hg.), Humor and Laughter: Theory, Research and Applications, London 1976, S. 63 ff.; Dolf Zillman, „Disparagement Humor“, in: McGhee/Goldstein, a.a.O., Bd. I, S. 85 ff. 13. Der Klatsch von Washington vermeldet, daß dies einer der Lieblingswitze von Ronald Reagan war. 14. Ziv, a.a.O., S. 15 ff. 15. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: Studienausgabe Bd. IV, Psychologische Schriften, Frankfurt/Main 1970 16. Vgl. John Murray Cuddihy, The Ordeal of Civility, New York 1974. Cuddihy meint, Freud habe tatsächlich den Konflikt zwischen der modernen Zivilisation und dem unassimilierten (Ost‐) Judentum behandelt (beziehungsweise diesen Zusammenhang verdrängt), was er in der lapidaren Formel „the id is the yid“ zusammenfaßt. Möglich. Se non è vero… 17. Freud, a.a.O., S. 96 18. ebd., S. 193 19. Ziv, a.a.O., S. 26 ff.; Antony Chapman, „Social Aspects of Humorous Laughter“, in: Chapman/ Foot, a.a.O., S. 155 ff.; ders., „Humor and Laughter in Social Interaction“, in: McGhee/Goldstein, a.a.O., Bd. I, S. 135 ff. 20. Ziv, a.a.O., S. 44 f. 21. Vera Robinson, „Humor and Health“, in: McGhee/Goldstein, a.a.O., Bd. II, S. 109 ff. 22. Harvey Mindess, „The Use and Abuse of Humor in Psychotherapy“, in: Chapman/Foot, a.a.O., S. 331 ff. 23. Ziv, a.a.O., S. 70 ff.; Thomas Shultz, „A Cognitive-Developmental Analysis of Humor“, in: Chapman/Foot, a.a.O., S. 11 ff.; Jerry Sals, „Cognitive Processes in Humor Appreciation“, in: McGhee/Goldstein, a.a.O., Bd. I, S. 39 ff. 24. Jean Piaget, Nachahmung, Spiel und Traum (La formation du symbole chez l’enfant, 1945), Stuttgart 1975 (Gesammelte Werke V), passim 25. Ziv, a.a.O., S. 71 f. 26. Arthur Koestler, The Act of Creation, New York 1964, S. 27 ff. 27. ebd., S. 35 28. Dies ist eine Anekdote, die Chamfort vom Hofe Ludwigs des Vierzehnten berichtet. Witze kommen weit herum. 29. Ziv, a.a.O., S. 130 ff.; Howard Pollio und John Edgerly, „Comedians and Comic Style“, in: Chapman/Foot, a.a.O., S. 215 ff.; Maurice Charney, „Comic Creativity in Plays, Films and Jokes“, in: McGhee/Goldstein, a.a.O., Bd. II, S. 33 ff.
Kapitel 5 1. vgl. Anton Zijderveld, Reality in a Looking-Glass: Rationality through an Analysis of Traditional Folly, London 1982, S. 39 f. Meine Ausführungen in diesem Kapitel verdanken diesem überaus nützlichen Buch sehr viel. Vgl. auch Zijdervelds früheres Werk Humor und Gesellschaft. Eine Soziologie des Humors und des Lachens (Graz 1974) und die von ihm herausgegebene kom-
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mentierte Bibliographie zur Soziologie des Humors in Current Sociology, XXXI, 3 (Winter 1983). Es hat eine gewisse mythopoetische Plausibilität, daß Zijderveld in Rotterdam Soziologie lehrt, an der nach Erasmus benannten Universität. 2. Zur Mikrosoziologie des Humors vgl. Zijderveld, Humor und Gesellschaft, S. 67 ff. 3. Vgl. Hermann Bausinger, „Lachkultur“, in: Thomas Vogel (Hg.), Vom Lachen, Tübingen 1992. Der Begriff ist keine Prägung Bausingers, sondern die deutsche Übersetzung eines entsprechenden Ausdrucks bei Bachtin (s. u.). 4. Vgl. Peter Berger/Hansfried Kellner, „Marriage and the Construction of Reality“, in: Berger, Facing up to Modernity, New York 1977, S. 5 ff. 5. Als kleines Beispiel dieses Genres sei Herbert Schöffler, Kleine Geographie des deutschen Witzes erwähnt (Göttingen 1955, mit einer Einleitung von keinem Geringeren als dem Philosophen Helmuth Plessner, dessen Arbeit zum Lachen und Weinen oben erwähnt wurde). Das Buch behandelt die wichtigsten deutschsprachigen Landschaften und gibt Beispiele für den vorgeblich charakteristischen Humor einer jeden. Es gibt ähnliche Werke für die meisten, wenn nicht für alle westlichen Länder. 6. Ich verdanke dieses Beispiel Ali Banuazizi. 7. Vgl. die Sammlung kurzer Beiträge unter dem Titel „Das Lebensweltliche und das fiktionale Komische“ in: W. Preisendanz/R. Warning (Hg.), Das Komische, München 1976, S. 361 ff. 8. A. R. Radcliff-Browne, Structure and Meaning in Primitive Society, New York 1968, S. 90 ff. – Diese Essays wurden ursprünglich in den vierziger Jahren veröffentlicht. 9. ebd., S. 90 10. ebd., S. 95 11. Mary Douglas, Implicit Meanings, London 1975, S. 90 ff. 12. ebd., S. 103 13. vgl. Victor Turner, Chihamba, the White Spirit, Manchester 1962 14. Thomas Luckmann, The Invisible Religion, New York 1967 15. Das definitive soziologische Werk über den Narren ist Anton Zijdervelds bereits zitiertes Buch Reality in a Looking-Glass. Sehr nützliche historische Darstellungen sind Barbara Swain, Fools and Folly, New York 1932; Enid Welsford, The Fool: His Social and Literary History (1935), Gloucester, Mass., 1966; William Willeford, The Fool and his Scepter, Evanston, Ill., 1969. Das Werk eines anderen Soziologen, Orrin Klapps Heroes, Villains and Fools (Englewood Cliffs, N.J., 1962), ist von geringerem Nutzen für unsere Zwecke, enthält aber einige interessante Daten. 16. Zijderveld, Reality in a Looking-Glass, S. 52 17. vgl. Barbara Koenneker, Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus, Wiesbaden 1966 18. Zijderveld, a.a.O., S. 83. – Die Vorläufer von Till Eulenspiegel haben Generationen von Literaturwissenschaftlern beschäftigt. Viele der Geschichten lassen sich in den Orient zurückverfolgen, von wo aus sie als Schwänke mit der türkischen Hauptfigur Nasreddin Hodscha nach Europa kamen. Einige könnten letzlich auf persische und indische Ursprünge zurückgehen. Wieder zeigt sich der Narr als eine transkulturell bedeutsame, wenn nicht universelle Figur. 19. Zur Rolle von Erasmus’ Buch bei der Entwicklung der Narrenidee vgl. Koenneker, a.a.O., S. 248 ff. 20. Zijderveld, a.a.O., S. 92 ff. 21. ebd., S. 126 22. vgl. John Towsen, Clowns, New York 1976 23. ebd., S. 88 f.
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24. vgl. Zijderveld, a.a.O., S. 131 ff. 25. Clifford Geertz hat dies in verschiedenen Werken über die javanische Kultur erörtert. Vgl. aber auch als jüngst erschienene lebendige Beschreibung des komischen Theaters auf Bali: Ron Jenkins, Subversive Laughter, New York 1994. Jenkins, der am Emerson College lehrt, kann sich rühmen, Absolvent des Ringling Brothers Clown College in Florida zu sein. Sein Buch beweist, daß dieses Studium ihm dabei geholfen hat, Komödianten auf Bali und anderswo zu begreifen. 26. vgl. Geoffrey Gorer, Africa Dances, London 1949, S. 125 27. Paul Radin, The Trickster: A Study in American Indian Mythology, New York 1956 28. vgl. Zijderveld, a.a.O., DS. 146 ff. 29. vgl. Bernhard Greiner, Die Komödie, Tübingen 1992 30. vgl. a.a.O., S. 69 ff. 31. a.a.O., S. 73 32. vgl. Zijderveld, a.a.O., S. 60 ff. 33. a.a.O., S. 61 f. 34. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/Main 1987. – Bachtin ist in den letzten Jahren wiederentdeckt worden – man will in ihm einen Vorläufer der zeitgenössischen Literaturtheorie sehen. Wie dem auch sei, es gab in den zwanziger Jahren in Rußland eine „Bachtinschule“, welche die sogenannte Semiologie von de Saussure und Roman Jakobson weiterverfolgte. Dies ist für unsere Erörterung nur am Rande relevant, wenn es auch Bachtins Analyse des komischen Idioms in eine umfassendere Perspektive rückt. Das zitierte Buch wurde in den vierziger Jahren geschrieben, konnte jedoch wegen der politischen Schwierigkeiten des Autors erst in den Sechzigern veröffentlicht werden. Man kann leicht begreifen, daß die stalinistischen Autoritäten mit Bachtins Darstellung des aufrührerischen Wesens des Karnevals und des komischen Lachens nicht sehr glücklich waren. 35. ebd., S. 70 f. 36. ebd., S. 117 37. ebd., S. 138
Kapitel 6 1. William Novak/Moshe Waldoks (Hg.), The Big Book of Jewish Humor, New York 1990, S. xx. Dies ist eine sehr schöne Sammlung, die literarische Texte mit einer reichen Auswahl von Witzen und humorvollen Aussprüchen mischt. Bei den Witzen wird natürlich jeder mit einer gewissen komischen Bildung immer wieder alte Bekannte treffen; wie der neue Gefangene im Hof wird er versucht sein, die Zahlen zu rufen. Aber hier wie dort ist die Frage eben, wie man die Witze erzählt. Novak und Waldoks machen ihre Sache sehr gut. 2. Vgl. Constance Rourke, American Humour, Garden City, N. J., 1953, S. 17. Der ehrwürdigen Tradition des Witzeerzählens getreu habe ich die Geschichte mit meinen Worten wiedergegeben. 3. Der Witz findet sich bei Novak/Waldoks, a.a.O., S. 188. Ich erzähle ihn hier in meiner Version. 4. „The Intellectual Pre-Eminence of Jews in Modern Europe“, in: Max Lerner (Hg.), The Portable Veblen, New York 1948. Der Aufsatz erschien ursprünglich 1919. Veblen wußte, wovon er sprach, wenn es um gesellschaftliche Marginalität ging. In einer norwegischen ethnischen Enklave des amerikanischen Westens aufgewachsen, konnte er kein Englisch, bis er in die
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Schule kam. Auf sehr grundsätzliche Art war er in seinem ganzen Leben in der amerikanischen Gesellschaft immer ein Außenseiter und ein Zugehöriger zugleich. 5. Georg Simmel, „Exkurs über den Fremden“, in: Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, bzw. „Der Fremde“, in: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt/Main 1968; Alfred Schütz, Collected Papers, Bd. 2, The Hague 1964, S. 91 ff. 6. a.a.O., S. 194. Simmel schrieb seinen Aufsatz lange vor dem Zweiten Weltkrieg. Schütz schrieb über den Fremden, nachdem er vor den Nazis nach Amerika geflohen war; die „bittere Erfahrung“ war seine eigene. 7. Ich weiß nicht mehr, wann oder wo ich diesen Witz gehört habe. Angesichts des Kontexts sagt mir meine „Witznase“, er könnte sephardischen Ursprungs sein. Der Begriff der „Witznase“ würde übrigens genauere Ausprägung verdienen. Nicht hier, nicht jetzt. 8. Vgl. Peter Berger, Brigitte Berger und Hansfried Kellner, The Homeless Mind: Modernization and Consciousness, New York 1973, insbesondere die Erörterung von Abstraktion und „Komponentialität“. Mit dem Voranschreiten der Modernisierung, die eine zunehmende Zahl von Menschen in ihrem Bewußtsein „heimatlos“ macht, öffnen sich jene Menschen ipso facto auch stärker den Formen jüdischer kultureller Sensibilität. In einem solchen Sinne könnte man den Satz Pius’ XI. paraphrasieren – „Wir sind alle Juden geworden.“ Damit ließe sich wohl der Aufstieg der Juden und der jüdischen Themen in der zeitgenössischen amerikanischen Kultur ein gutes Stück weit erklären. 9. Adin Steinsaltz, The Essential Talmud, New York 1976, S. 235. Man könnte auch das Problem erwähnen, das kürzlich einen amerikanischen Professor befiel: Wenn ein Mann aus dem Fenster fällt, auf einer Frau landet und mit ihr Verkehr hat, ist er der Vergewaltigung schuldig? Die Feministinnen, die den Professor, welcher dieses Beispiel in einem Vortrag erwähnte, der sexuellen Belästigung bezichtigten, waren eindeutig nicht amüsiert. 10. Aus Gründen, die zu begreifen ich nicht behaupten will, beginnen viele europäisch-jüdische Witze mit dem Satz: „Zwei Juden sitzen in einem Zugabteil.“ Anscheinend unterbrach einmal ein Zuhörer den Beginn eines solchen Witzes: „Wissen Sie, ich habe jetzt wirklich diese Geschichten satt, wo zwei Juden im Zug sitzen. Kennen Sie eigentlich keine anderen Witze?“ „Also gut, also gut“, sagt der Erzähler. „Zwei Ungarn sitzen in einem Zugabteil…“ 11. Meine Witznase sagt mir, daß jetzt in diesem Buch der Punkt erreicht sein könnte, wo ein Übermaß an Witzen die Aufnahmebereitschaft meiner Leser für Komik nachgerade erschöpft haben mag. Ich sollte also hier das Versprechen ablegen, mich von nun an zurückzuhalten. Doch darf ich noch einmal den legendären Rabbi Meir aus Wilna zitieren: „Wenn ein Witzerzähler sagt, daß er jetzt keinen Witz mehr macht – glaub ihm nicht.“
Kapitel 7 1. Der legendäre Rabi Meir von Wilna soll nach der Lektüre dieses Absatzes in seinem himmlischen Arbeitszimmer gesagt haben: „Genug jetzt mit all den Entschuldigungen. Mach deine Knedel.“ (Ich habe mir lange überlegt, ob ich den großen Weisen nicht von den Fußnoten in den Haupttext umziehen lassen soll.) 2. Vgl. Benny Green, P. G. Wodehouse: A Literary Biography, New York 1981 3. Ebd., S. 181 ff. 4. Muggeridge hat darüber in einem Aufsatz berichtet, der sich findet bei Thelma Cazalet-Keir (Hg.), Homage to P. G. Wodehouse, London 1973, S. 87 ff. Es gibt noch eine frühere, wahrhaft
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wodehousische Volte in dieser Geschichte: Der deutsche Geheimdienst, dem es völlig an einem englischen Sinn für Humor mangelte, las Wodehouses Bücher im Glauben, sie gäben ein ethnographisch akkurates Bild des Lebens in seiner Heimat. Sie flogen einen Agenten nach England ein, der Gamaschen trug. Er wurde sofort durchschaut und verhaftet. 5. P. G. Wodehouse, The World of Jeeves, New York 1989, S. 22 ff. 6. Anscheinend haben einige Kritiker die Hypothese formuliert, die Beziehung zwischen Bertie und Jeeves habe homosexuelle Züge. Das ist etwa so plausibel wie eine Theorie, die in Jeeves einen proletarischen Revolutionär sehen wollte. Wie er selbst vielleicht gesagt hätte: „Eine durchaus unüberlegte Einlassung, Sir.“ 7. Wodehouse, a.a.O., S. 300 ff. 8. Green, a.a.O., S. 237. Hervorhebung von mir. 9. Cazalet-Keir, a.a.O., S. 6 10. Vgl. Ben Yagoda, Will Rogers, New York 1993 11. Wodehouse hatte, als er für Broadway-Musicals als Librettist arbeitete, auch Kontakt mit Ziegfeld (einem anscheinend sehr humorlosen Menschen). Ich habe nicht herausfinden können, ob Wodehouse und Rogers einander in New York je begegnet sind. Möglich wäre es. Wie hätten sie die Begegnung beschrieben? 12. Tatsächlich ist er Trotzki nicht begegnet. Bei einem Besuch in der Sowjetunion kam ein solches Treffen dann doch nicht zustande. Rogers bedauerte das und schrieb: „Ich wette, wenn ich ihn getroffen und mich ein bißchen mit ihm unterhalten hätte, dann hätte ich festgestellt, daß das ein sehr interessanter und menschlicher Bursche ist, weil ich hab noch nie einen Mann getroffen, der mir nicht gefallen hat“ (Yagoda, a.a.O., S. 234). Anscheinend hatte Rogers für den Kommunismus denselben scharfen Blick wie Wodehouse für den Nationalsozialismus. – Die intuitive Einsicht, daß zwischen allen Dingen verborgene Beziehungen bestehen (Rabbi Meir versteht mich), läßt mich noch hinzufügen, daß Trotzki auch in der erwähnten Geschichte von Wodehouse, „Without the Option“,vorkommt. Sippy gibt bei der Verhaftung seinen Namen als „Leo Trotzki“ an. Der Haftrichter gibt bei der Urteilsverkündung seiner „starken Vermutung“ Ausdruck, daß es sich hier um ein Alias handelt. 13. Yagoda, a.a.O., S. 190 14. Bryan Sterling (Hg.), The Will Rogers Scrapbook, New York 1976, S. 71 15. a.a.O., S. 113 f. 16. Vgl. Richard Traubner, Operetta: A Theatrical History, Garden City, N. J., 1983 17. In meinem Fall höre ich eine Aufnahme der Deutschen Grammophon von 1973 mit dem Chor der Deutschen Oper Berlin. Die englische Übersetzung des Texthefts der CD ist übrigens entsetzlich. 18. „Sehr gefährlich ist des Feuers Macht, wenn man sie nicht bezähmt, bewacht! Wer das nicht kennt, sich leicht verbrennt, Nimm vor dem Feuer dich in acht.“
Kapitel 8 1. Meister Eckhart, Ein Breviarium aus seinen Schriften, Wiesbaden 1961, S. 60 2. Zitiert bei Ruth Wisse, The Schlemiel as Modern Hero, Chicago 1972, S. 47 3. Ich verdanke dieses Beispiel Ruth Wisse (die in Harvard jiddische Sprache und Literatur unterrichtet). 4. Zitiert bei Leo Rosten, The Joys of Yiddish, New York 1970, S. xxi f. 5. Ebenfalls bei Rosten, a.a.O.
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6. Vgl. Joseph Butwin/Frances Butwin, Sholom Aleichem, Boston 1977. Der erste Teil dieses Schriftstellernamens wird gelegentlich wie hier (vgl. auch Fußnote 10) als „Sholom“ wiedergegeben, häufiger als „Sholem“ oder „Scholem“. Da das Jiddische mit hebräischen Buchstaben geschrieben wird, hat die Transliteration einen gewissen Spielraum. 7. Hillel Halkin (Hg., Übersetzung), Sholem Aleichem: Tevye the Dairyman and the Railroad Stories, New York 1987, S. 53 ff. – Vgl.: Scholem Alejchem, Tewje der Milchhändler. Übersetzung von Alexander Eliasberg. Berlin 1977, S. 95 ff. – Die Eliasbergsche Übersetzung ist unzulänglich und lückenhaft. Die deutsche Version hier berücksichtigt die beiden angegebenen Quellen (A. d. Üb.). 8. Tewje verwendet natürlich die askenasische Ausprache, nicht die sephardische, wie sie heute in Israel üblich ist. 9. Halkin, a.a.O., S. 116 ff. 10. Irving Howe /Ruth Wisse (Hg.), The Best of Sholom Aleichem, Washington 1978, S. 115 ff. 11. ebd., S. 43 ff. Die englische Übersetzung ist von Saul Bellow. – Vgl. „Die ewige Seligkeit“, in: Eine Hochzeit ohne Musikanten, Frankfurt/Main 1988, S. 82 ff., Übersetzung von Alexander Eliasberg. Die Textzitate hier sind aus dem Englischen übersetzt, unter Heranziehung der erwähnten deutschen Übertragung. 12. vgl. Paul Kresh, Isaac Bashevis Singer: The Magician of West 86th Street, New York 1979; Lawrence Friedman, Understanding Isaac Bashevis Singer, Columbia, South Carolina, 1988; Israel Zamir, Journey to my Father, Isaac Bashevis Singer, New York 1995. 13. Singer, Enemies, A Love Story, New York 1972. Deutsch als: Feinde. Die Geschichte einer Liebe, München 1975 14. Singer, Meshugah, New York 1994 15. The Collected Stories of Isaac Bashevis Singer, New York 1982, S. 497 ff.
Kapitel 9 1. Man hat die Ironie gelegentlich als eine Subkategorie des Komischen interpretiert. Das ist wohl falsch. Man kann ironisch sein, ohne komisch zu sein, wenn es auch schwierig ist, sich Komik ohne gewisse Elemente von Ironie vorzustellen. Vgl. Uwe Japp, Theorie der Ironie, Frankfurt/ Main 1983. 2. Wenn aus den historischen und sozialwissenschaftlichen Erforschungen des Komischen eines klar hervorgeht, dann seine Universalität: Komisches Gelächter läßt sich in jeder menschlichen Kultur finden. Wie oben dargelegt, ist das Komische eine anthropologische Konstante; homo sapiens ist stets auch homo ridens. Der Witz aber, so wie er hier definiert wird, ist wahrscheinlich nicht universell. So ist es mein Eindruck, daß die ostasiatischen Kulturen zwar voller Komik sind, aber den Witz bei weitem nicht so kultiviert haben wie die Kulturen Europas und des Nahen Ostens. (Vor einiger Zeit bekam ich das Buch eines Autors namens Lu Yunzhong geschenkt, das den Titel trug: 100 Chinesische Witze aus alter und neuer Zeit. Einige der kurzen Episoden in diesem Buch haben gewiß die Form von Witzen, doch wird nicht klar, ob sie ursprünglich in dieser Form erzählt wurden oder aus einem größeren erzählenden Kontext herausgelöst sind.) Gibt es Witze in den traditionellen Kulturen Afrikas? Gab es sie in den altamerikanischen Kulturen? Die kulturelle Verbreitung des Witzes als Form wäre ein wichtiges Thema für Historiker und Ethnographen. Diese Form der Komik muß irgendwo entstanden sein. Ich besitze keine wirklichen Kenntnisse hierzu, doch wenn ich raten sollte, so würde ich den Ursprung im Nahen Osten oder in Indien suchen. Mein Kollege Ali Banuazizi
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schlägt den Iran vor. Ich wünschte mir, daß diese Fußnote eine Lawine von Dissertationen auslöst. 3. The Complete Oscar Wilde, New York 1995, S. 11 4. ebd., S. 364 ff. 5. Alistair Cooke (Hg.), The Vintage Mencken, New York 1956, S. 231 f. 6. Ich kann geradesogut gleich damit herausrücken, daß ich beide Autoren nicht mag. Beide haben, wie ich es sehe, stolz eine zynische Weltanschauung zelebriert, die mich abstößt.Wilde war anscheinend persönlich der Liebenswürdigere von beiden. Für mich hatten sie allerdings jeweils einen bestimmten Zug, der das Abstoßende ihrer Persönlichkeit mildert und teilweise aufhebt. Damit meine ich nicht – füge ich hastig hinzu – ihren unbestreitbaren Witz; wie ich gerade darzulegen versuche, ist der eine moralisch neutrale Qualität. Wildes sardonische Distanz, seine Pose eines unverletzlichen Dandys, war von Anfang an durch das Doppelleben in Gefahr, das ihm sein sexuelles Begehren aufnötigte. Das macht ihn sehr viel menschlicher. Menckens ebenso sardonische Distanziertheit und seine ostentative Verachtung für die einfachen Leute in Amerika bekommen einen Riß durch seine Leidenschaft für die amerikanische Sprache. Hier, wenn nirgendwo anders, wird der pseudo-nietzscheanische Antidemokrat fast zum sentimentalen Populisten. Auch das ist ein menschlicher Zug. Auf die Gefahr hin, diese oder jene Gruppe zu beleidigen (hallo, Mort Sahl!), würde ich sagen, daß Wilde am Ende von seiner Homosexualität gerettet wird und Mencken von seiner Liebe zur Sprache Amerikas. 7. Vgl. Richard Ellmann, Oscar Wilde, New York 1988; Norbert Kohl, Oscar Wilde: The Works of a Conformist Rebel, Cambridge 1989. 8. Kohl, a.a.O., S. 227 9. ebd., S. 245 10. Ebenfalls aus dem Vorwort zum Bildnis des Dorian Gray, a.a.O., S. 11 11. ebd., S. 315 ff. 12. Man hat die Frage aufgeworfen, ob es eine innere Verbindung zwischen Wildes komischem Stil und seiner Homosexualität gibt. Es stimmt, daß es zumindest eine Weile und zumindest in englischsprachigen Gesellschaften eine Verbindung zwischen Homosexualität, einem gewissen ästhetizistischen Dandysmus und treffendem, sardonischem Witz gab. Doch scheint mir diese Verbindung eher zufälliger als wesentlicher Natur. Der Dandysmus ist in England sehr viel älter als Wilde; die Bezeichnung „Dandy“ bezog sich auf elegante junge Herren in London Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Beau Brummel war ein früher Idealtypus. So weit ich weiß, gab es damals bei der Figur des Dandy nicht notwendigerweise irgendeine Verbindung mit Homosexualität. Umgekehrt hat es seither und anderenorts homosexuelle Subkulturen gegeben, die keinerlei ästhetizistische Züge hatten. Der Dandy-Stil ist historisch mit der englischen Oberschicht verbunden (zumindest mit ihrer urbanen Lebenswelt), zu der Wilde nicht gehörte, wenn er dieses Leben auch anstrebte. Ein Kritiker hat überzeugend argumentiert, daß Wilde selbst sehr wichtig war für die Konstruktion eines kulturellen Typus von queerness, der die homosexuelle Subkultur in England und Amerika den größten Teil dieses Jahrhunderts beeinflußte. Also: Nicht Wildes Stil entstammt einer homosexuellen Subkultur, au contraire, eine spezifische Form dieser Subkultur ist zumindest teilweise von seinem Einfluß geprägt. Derselbe Kritiker vertritt die Auffassung, daß diese Form des „homosexuellen In-der-Welt-Seins“ (seine Formulierung) seit der Herausbildung von gayness in der jüngeren Vergangenheit (nach Stonewall) im Verschwinden begriffen ist. Vgl. Alan Sinfield, The Wilde Century: Effeminacy, Oscar Wilde and the Queer Moment, New York 1994 13. Vgl. Fred Hobson, Mencken: A Life, New York 1994 14. Ebd., S. 478
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15. Terry Teachout (Hg.), A Second Mencken Chrestomathy, New York 1995, S. 490 f. 16. ebd., S. 439 f. 17. ebd., S. 378 f. 18. ebd., S. 392 19. Die Reportage trug den Titel „The Hills of Zion“. Vgl. Huntington Cairns (Hg.), H. L. Mencken: The American Scene, New York 1968, S. 259 ff. 20. Mencken schrieb einen brutal herabsetzenden Nachruf auf Bryan.Vgl. Cairns, a.a.O., S. 227 ff.; De mortuis nil nisis bene war keine Maxime, die Mencken akzeptiert hätte. 21. Es gibt hier noch die weitere Frage, ob Moral nicht in sich eine Form von Wahrnehmung oder Erkenntnis darstellt. Diese Frage läßt sich hier leider nicht verfolgen. Doch stellt jedenfalls ein moralisches Urteil, auch wenn es auf einer spezifischen Wahrnehmung beruht, eine andere Wahrnehmung als die komische oder die ästhetische dar.
Kapitel 10 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Vgl. Brian Connery/Kirk Combe (Hg.), Theorizing Satire, New York 1995 Northrop Frye, Anatomy of Criticism, Princeton 1957, S. 223 ff. ebd., S. 239 Vgl. Gab Sibley, „Satura from Quintilian to Joe Bob Briggs“, in: Connery/Combe, a.a.O., S. 58 ff. Vgl. Robert Elliott, The Power of Satire: Magic, Ritual, Art, Princeton 1960, S. 3 ff. Vgl. Matthew Hodgart, Satire, New York 1969 Zum Leben und Werk von Karl Kraus vgl. Caroline Kohn, Karl Kraus, Stuttgart 1966; Frank Field, The Last Days of Mankind: Karl Kraus and His Vienna, London 1967; Edward Timms, Karl Kraus: Apocalyptic Satirist, New Haven 1986. 8. Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Zürich 1945 (Pegasus) 9. ebd., S. 76 f. (Akt I, sechste Szene) 10. ebd., S. 174 ff. (I, 26) 11. ebd., S. 230 ff. (II, 6) 12. ebd., S. 105 (I, 11) 13. ebd., S. 644 ff. (V, 44) 14. ebd., S. 177 f. (I, 27) 15. ebd., S. 565 ff. (V, 9) 16. ebd., S. 520 (IV, 34) 17. ebd., S. 518 (IV, 32) 18. ebd., S. 574 ff. (V, 14 und 15) 19. ebd., 678 ff. (V, 55) 20. ebd., 725 ff.
Kapitel 11 1. Anton Zijderveld, Reality in a Looking-Glass, London 1982, S. 70: Me dis tu que dame Folie Est mort? Ma foy, tu as menty; Jamais si grands j’ai ne la vu, Ny si puissants come elle est.
Anmerkungen zu den Kapiteln
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2. Martin Esslin, The Theater of the Absurd, Garden City, New York, 1961, S. 229 ff. 3. Vgl. Roger Shattuck/Simon Taylor (Hg.), Selected Works of Alfred Jarry, New York 1965; Keith Baumont, Alfred Jarry, New York 1984 4. Shattock/Taylor, a.a.O., S. 13 5. Jarry, Œuvres complètes I, Paris 1972 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 658 f. (Üb. J.K.) 6. ebd., S. 668 f. (Üb. J.K.) 7. ebd., S. 704 f. (Üb. J.K.) 8. ebd., S. 731 ff. (Üb. J.K.) 9. Eugène Ionesco, „La cantatrice chauve. Anti-pièce“, in: Théâtre I, Paris 1954, S26 f., 30 (Üb. J.K.) 10. ders., „Mes pièces et moi“, in: Notes et contre-notes, Paris 1966, S. 226 ff. (Üb. J.K.) 11. Zitiert bei Esslin, a.a.O., S. 93 12. ebd., S. 291 ff.
Kapitel 12 1. Es gibt nicht-christliche Analogien zur Idee der kenosis. Eine bedeutsame Parallele läßt sich in der jüdischen Mystik finden, in der Schule von Isaak Luria, die nach der Vertreibung der Juden aus Spanien blühte (vgl. Gershom Scholem, Hauptströmungen der jüdischen Mystik, Frankfurt/ Main 1967, S. 267 ff.). Ihre Lehre vom „Bruch der Gefäße“ (die Wurzeln in früherer gnostischer Spekulation hat), besagt, daß Funken des göttlichen Glanzes in die niederen Realitätsebenen hinabsanken, wo das Böse wohnt. Die Erlösung der Welt, ihre „Wiederherstellung“ (tikkun), besteht darin, daß diese Absplitterungen des göttlichen Glanzes gerettet und an ihren richtigen Ort zurückgebracht werden. Das Erscheinen des Messias wird den Prozeß der „Wiederherstellung“ vollenden und nicht nur Israel erlösen, sondern die gesamte Wirklichkeit. Diese Lehre ist vielschichtig. Sie enthält gewiß quasi eine Interpretation des Exils, das die spanische Judenheit vor kurzem erfahren hatte. Doch weit darüber hinausgehend ist sie auch kosmisch in ihrer Reichweite und deutet ein selbstverhängtes Exil der Gottheit an – mit anderen Worten ihre kenosis. Die Lehre erfuhr eine bizarre Umwandlung in der Ketzerbewegung des Sabbatianismus (a.a.O., S. 315 ff.; vgl. auch: Scholem, Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt/Main 1992). Diese hatte ihren Ursprung im Auftreten des „falschen Messias“ Sabbatai Zwi, der eine unruhige Massenbewegung anführte, von den türkischen Behörden inhaftiert wurde und unter Zwang zum Islam übertrat. Diese Konversion, in den Augen des orthodoxen Judentums ein Akt verachtungswürdiger Apostasie, wurde von einigen Sabbatianern als der Schlüssel zum messianischen Mysterium interpretiert: Das messianische Licht muß in die tiefste Dunkelheit hinabsteigen, damit sich das Werk der Erlösung vollende. Diese paradoxe kenosis wurde das erklärende Prinzip nicht nur für Konversionen zum Islam und zum Christentum, sondern auch für krasse Verletzungen aller moralischen und rituellen Gebote des Judentums. Isaac Bashevis Singer hat ein eindrückliches Bild dessen, was das konkret bedeutete, in seinem Roman Satan in Goraj gegeben. Dies ist also eine jüdische Entsprechung zu dem Antinomianismus, den die verschiedenen „Narren um Christi willen“ in der russischen Christenheit repräsentierten, auf durchaus dramatische Weise übrigens im Falle des „wahnsinnigen Mönchs“ Rasputin. 2. Vgl. John Saward, Perfect Fools: Folly for Christ’s Sake in Catholic and Orthodox Spirituality, Oxford 1980.
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Anmerkungen zu den Kapiteln
3. Vgl. Christos Yannaras, The Freedom of Morality, Crestwood, New York, 1984, S. 65 ff.; G. P. Fedotov, The Russian Religious Mind, Cambridge, Mass., 1966, Bd. II, S. 316 ff. 4. Zitiert bei Saward, a.a.O., S. 22 f. 5. vgl. Fedotov, a.a.O., S. 338 6. Helmut Thielicke, Das Lachen der Heiligen und Narren, Stuttgart 1988, S. 167 7. Miguel de Unamuno, Das tragische Lebensgefühl; Übertragung von Robert Friese, München 1925, S. 381. – In seinem 1912 veröffentlichten Werk Sentimiento trágico de la vida interpretiert Unamuno den Don Quijote als Quintessenz einer „spanischen Seele“, die sich im Gegensatz zum Rationalismus Europas befindet. Dieses ideologische Exerzitium ist hier nicht von Interesse. 8. Thielicke, a.a.O., S. 168 f. 9. Alfred Schütz, „Don Quixote and the Problem of Reality“, in: Collected Papers, Bd. II, The Hague 1964, S. 135 ff. 10. ebd., S. 157 11. Enid Welsford, The Fool, Garden City, New York, 1956, S. 326 f.
Kapitel 13 1. Es scheint keine umfassende historische Darstellung des Humors im Christentum zu geben. Ich muß gestehen, daß ich nicht sehr gründlich gesucht habe, da ich mit guten Gründen das negative Ergebnis schon voraussetzte. So oder so – wollte dieses Buch Vollständigkeit anstreben, bräuchte ich die Lebenserwartung eines jener unangenehm lachenden griechischen Götter (wie heißt es bei Homer? „Wer aber die Rezensenten überlebt, der lachet als letzter“). Die folgenden Bücher habe ich einigermaßen hilfreich gefunden: Werner Thiede, Das verheißende Lachen: Humor in theologischer Perspektive, Göttingen 1986; Helmut Thielicke, Das Lachen der Heiligen und der Narren (1974), Stuttgart 1988; Franz-Josef Kuschel, Laughter: A Theological Essay, New York 1994, im Erscheinungsjahr der deutschen Originalausgabe. – Ich sollte wohl auch Harvey Cox’ Feast of Fools (Cambridge 1969) erwähnen. Hier finden sich einige interessante Beobachtungen zur Beziehung zwischen der christlichen Glaubenshoffnung und dem Phantasieren, aber das Hauptanliegen des Buches ist eine theologische Legitimierung des Lebensgefühls der counterculture der späten Sechziger – eine Generation später kein besonders faszinierendes Projekt mehr. Ein neueres Buch eines amerikanischen protestantischen Theologen – A. Roy Eckardt, How to Tell God from the Devil: On the Way of Comedy – enthält ebenfalls einige wesentliche Erkenntnisse, doch ist Eckardts Ansatz so idiosynkratisch, daß es oft schwierig ist, dem Verfasser zu folgen. 2. Vgl. Gerhard Schmitz, „Ein Narr, der da lacht“, in: Thomas Vogel (Hg.), Vom Lachen, Tübingen 1992, S. 129 f. 3. Dies wird in allen Luther-Biographien deutlich, so in Heiko Obermans meisterlichem Luther (New Haven 1989). Eine dieser Biographien, die von Eric Gritsch, trägt tatsächlich sogar den Titel Martin – God’s Court Jester (Philadelphia 1983), doch greift der Text dann die Programmatik des Titels nicht sehr konsequent auf. Ein wichtiges Werk scheint das von Fritz Blanke zu sein: Luthers Humor (1954); ich war nicht in der Lage, es mir zu beschaffen. 4. Vgl. Thielicke, a.a.O., S. 98 5. Vgl. Wiede, a.a.O., S. 120 6. Howard Hong/Edna Hong (Hg.), Søren Kierkegaard’ Journals and Papers, Bloomington 1950, Bd. II, S. 262 ff.
Anmerkungen zu den Kapiteln
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7. Vgl. Wiede, a.a.O., S. 127 ff. 8. Thielicke, a.a.O., S. 96 9. Reinhold Niebuhr, Discerning the Signs of the Times, New York 1946, S. 111 ff. Niebuhr glaubte, Humor führe in den „Vorhof des Tempels“, doch im Allerheiligsten müsse das Lachen enden. Dies war – wohl nicht zufällig – auch Kierkegaards Ansicht. Ich glaube eher, daß sich hier beide täuschten. 10. Hugo Rahner, Der spielende Mensch, Einsiedeln 1952, S. 59 11. vgl. mein mit Brigitte Berger und Hansfried Kellner verfaßtes Buch The Homeless Mind: Modernization and Consciousness, New York 1973. Wir sind damals leider nicht auf den Humor eingegangen.