297 127 10MB
German Pages 183 [184] Year 1921
ERKENNTNIS von
ERNST HORNEFFER
2. Band
Die Wiedergeburt des deutschen Volkes
München und Berlin 1921
V e r l a g von R. Oldenbourg
Die Wiedergeburt des deutschen Volkes von
Ernst Horneffer
Zweite Auflage
München und Berlin 1921
V e r l a g von R. Oldenbourg
Alle Rechte, einsdiließlidi des Gbersetzungsredites, vorbehalten Copyright 1921 by R. Oldenbourg, München
Vorwort. Es gibt Bücher, welche in höherem Grade als andere geschrieben werden m ü s s e n , die aus einem unbezwingbaren Bedürfnis hervorgehen. Ist die innere Kraft aber, die ein geistiges Werk erzeugt, ganz echt und stark, dann bestimmt sie sogar die G e s t a l t , die dieses Werk annimmt. Der Schöpfer hat dann gar keine Macht und Freiheit, dem von ihm hervorgebrachten Gebilde eine beliebige, von ihm gewünschte Form zu geben. Die unerbittliche Notwendigkeit, die das Ganze hat entstehen lassen, erstreckt sich bis in alle Einzelheiten, Anordnung, Verteilung des Stoffes, Stil, ja bis in die Prägung jedes Ausdrucks, jeder sprachlichen Wendung. Mit leichter Umbildung einer Äußerung Nietzsches könnte man sagen: nicht e r schafft, sondern e s schafft in ihm, irgend ein Unbekanntes und Übermächtiges. Ich spreche das aus, um den Charakter der nachfolgenden Arbeit, die, wie ich selbst weiß, schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich ihrer Form und Haltung unterliegt, zu entschuldigen. Ich hatte sie selbst nicht so gewollt. S i e ist geworden, wie sie nun vorliegt, aus einem unüberwindlichen Zwange, dem ich weder im Ganzen noch im Einzelnen gebieten konnte. Als unser Volk das unermeßliche Unglück des verlorenen Krieges und der inneren Umwälzung erlitt, hatte ich nichts weniger im Sinn als eine Schrift zu verfassen, die auf die Zeit einwirken sollte. Im Gegenteil, aus einer langjährigen philosophischen Erziehertätigkeit in der Öffentlichkeit hatte ich mich in die Einsamkeit zurückgezogen, um für länger mich rein theoretisch-wissenschaftlicher Arbeit zu widmen. Wer aber hätte dem Schicksal unseres Volkes gegenüber kalt bleiben können! Es drängte mich, nun alles so anders gekommen als wir gehofft hatten, nun unser Volk doch schließlich von der Übermacht erdrückt erlegen war und seine schlimmste Stunde durchlebte, mit meinen schwachen Kräften dazu beizutragen, daß es trotz des erfahrenen Unheils nicht verzweifle, sondern in ungebeugter und unbeugsamer Kraft in schwärzester Zeit tatfroh den Grund V
zu einem Neubau seines Lebens und Schaffens lege. Ich setzte mir vor, einen kurzen Grundriß und Aufriß zu entwerfen, wie ich mir denke, daß das deutsche Volk unter dem Einfluß des unabwendbar Geschehenen sein ferneres Schicksal bestimmen und gestalten sollte. Aber jene von mir gekennzeichnete, geheimnisvolle Macht verfügte nach eigenem Ermessen. Aus der kurz gefaßten Programmschrift für die nähere Zukunft wurde etwas gänzlich anderes. Es entstand das Buch: „ E r k e n n t n i s , d i e T r a g ö d i e d e s d e u t s c h e n V o l k e s . " Aus einem zwingenden Bedürfnis heraus mußte ich, bevor ich die gestellte Aufgabe des Entwurfs für den künftigen Arbeitsplan unseres Volkes zu lösen suchte, das Geschehene unbefangen anschauen, mußte mir ein reines Bild von dem unbegreiflich Gewaltigen und Furchtbaren, das das deutsche Volk betroffen, zu verschaffen suchen. Und daß dieses Bedürfnis, wenigstens in der von mir gewählten Art der Betrachtung, die sich merklich von der sonst angewandten der Staatsmänner, Feldherrn, Parteiführer unterscheidet, nicht nur meinen persönlichen Erfahrungen und Gesinnungen entsprungen war, daß ich damit an ein allgemeineres Verlangen rührte, die schicksalsschweren Ereignisse in anderer Beleuchtung aufzufassen, beweist der unerwartete Erfolg des Buches. Um so zuversichtlicher glaubte ich, nachdem ich diesem Bedürfnis Genüge getan, nunmehr zu der eigentlich vorgefaßten Aufgabe schreiten zu können: den neuen Staat, das neue Leben des deutschen Volkes, wie es mir vorschwebt, zu schildern. Aber gewaltiger als ich je gedacht, türmte sich diese Aufgabe vor mir empor. Wieder erfuhr ich, daß die geistigen W e r k e ihr eigenes Gesetz in sich selbst tragen, daß keine Willkür ihnen eine bestimmte Form, auch keine feste Grenze auferlegen kann. Um- und umgewühlt ist das deutsche Volk, sein Staat zerstört, seine Kultur zerrüttet und in voller Auflösung begriffen. Da ist wahrlich mit einer kurzen Skizze nichts getan. Ein zersprengtes Blatt unter zahllosen anderen würde es werden. Von Grund aus, einheitlich und mit weitem Ausmaß müssen wir die Gesetze und Bedingungen, Ideen und Ziele unseres Volks- und Staatslebens durchdenken und ausgestalten. Etwas Ganzes soll aus den zerstreuten Trümmern unserer einst so glanzvollen, nun so elenden Geschichte wieder aufgebaut werden. Da muß VI
schon der Entwurf zu diesem gewaltigen Bau etwas Ganzes und Geschlossenes, Umfangreiches und in sich fest Gebundenes sein, ein reichhaltiges Gebilde — denn es soll das gesamte deutsche Leben einfangen — und doch wieder aus einem Guß — denn es soll diese Vielfältigkeit zu einer einheitlichen, starken Kraft zusammenfassen. Auf einmal stand ein ungeheures geschichtliches Beispiel und Vorbild für diese Aufgabe vor meinem geistigen Auge: der Platonische Staat. Ich erschrak bis ins Tiefste. Hemmend, warnend drängte sich dieses Bild zwischen mich selbst und die Ausführung. Den Leser wird Staunen und Entrüstung zugleich befallen, daß ich eine derartige Größe nur zu erwähnen wage, als dürfte sich überhaupt irgend ein Mensch der Gegenwart anmaßen, auf ein derart unerreichbares Vorbild hinzuschauen. Diese sehr begreifliche Empfindung nötigt mich zu einer allgemeinen Bemerkung über ein gefährliches Gebrechen unserer gesamten gegenwärtigen Kultur. Wenn wir nicht den Mut finden, trotz der Gefahr, in die wir uns damit nach außen wie unserm eigenen Innern gegenüber begeben, nach dem Höchsten zu streben, die größten weltgeschichtlichen Muster vor uns aufzurichten, d a n n w e r d e n wir n i e m a l s a u s dem d ü r f t i g s t e n E p i g o n e n t u m h e r a u s k o m m e n . Ich will durch ein Beispiel zu verdeutlichen suchen, was ich im Sinne habe. Als unser Volksgeist Von der leidenschaftlichsten Sehnsucht nach Dichtung, nach Gestaltung seiner Gefühlswelt ergriffen wurde, in jener wunderbaren, jugendlich aufquellenden Epoche, die man „Sturm und Drang" nennt, als für diese herrliche Aufgabe „die Zeit erfüllet War", da war der Name Homers in aller Herz und Mund. Denn in ihm, dem vollkommenen Urbilde aller Dichtung, glaubte man das Höchste verkörpert zu finden: die echte, unverfälschte, wahrhafte Natur und doch zugleich die reine und strenge Form. Gewiß, e r r e i c h t hat dieses unvergleichlich hohe Vorbild damals nur einer, der einzige Goethe, der es sogar wohl übertroffen hat. Aber dieses Vorbild hat ein ganzes Dichtergeschlecht erzogen. Auch alle geringeren Kräfte hoben sich an ihm empor und schufen in ihren Maaßen Echtes und Unvergängliches in großem Umfange. Und dieser hohe Wille, sich an den bedeutendsten, glänzendsten Mustern zu bilden und VII
emporzuringen, dauerte auch noch Ober die eigentliche Hochblüte unserer Klassik hinaus. Solange unsere Dramatiker sich noch an Shakespeare, der griechischen Tragödie und dann auch an Goethe und Schiller maßen, mit Aufbietung der letzten Kraft den Wetteifer mit diesen Heroen aufnahmen, wurde immer noch Bedeutendes, ja Großes geleistet. Das beweisen Männer wie Hebbel und Otto Ludwig, namentlich ersterer. Erst als man den Vorbildern a u s w i c h , kam der Verfall, aus dem wir uns noch nicht wieder erhoben haben. Diese Erfahrung nötigt uns eine allgemeine Einsicht und Lehre auf. Nichts furchtbarer als die Qual des Epigonentums, wenn ein Zeitalter, Von überwältigenden Vorbildern erdrückt, jenen nicht mehr gleichwertige Schöpfungen hervorzubringen vermag, worüber das Leben, das nun einmal dank seiner späten und reifen Entwicklung auf höchste Leistungen angewiesen ist, zerfallen muß. Niemals aber ist diesem Übelstande abzuhelfen, das Epigonentum niemals abzuschütteln, dadurch daß man den Wettkampf mit den großen Vorbildern und Meistern der Menschheit aufgibt, daß man ihrem mahnenden und drückenden Vorbilde gänzlich zu entfliehen sucht, indem man sich gleichsam auf ein ganz neues Gebiet rettet, ganz neue, mit den alten, ehrwürdigen, klassischen Schöpfungen garnicht vergleichbare Gebilde und Methoden zu schaffen sucht, ganz neue Lebensund Gestaltungsformen anstrebt, die mit jenen unerreichbaren klassischen Mustern garnicht in eine Reihe zu stellen sind. Diesen Versuch hat das letzte Zeitalter in Deutschland unternommen, auf diesem Wege suchte man sich des lästigen Druckes jeder Art Klassik, jeder großen Leistung der Vergangenheit zu entledigen und zu entwinden. Man war des Epigonentums in Gestalt matter, schwächlicher, hoffnungsloser Nachahmung herzhaft überdrüssig geworden. Mit Recht. Nun aber hoffte man mit einem Schlage sich aus dieser unerträglichen Lage befreien zu können, indem man den Blick überhaupt abwandte von dem einstmals Großen, das die Menschheit geschaffen, und sich entschlossen in seine eigene „Natur" stürzte, nur dem ungestümen, zügellosen Drange des eigenen Innern folgte und meinte, durch dieses Sich-hingeben an das eigene Selbst, seine unmittelbaren Bedürfnisse und zum Teil wüsten Triebe ganz neue Lebensund Kunstformen erringen zu können. Was aber ist der Erfolg VI»
dieser Versuche? Man wird ins Absonderliche, Spielerische, Verschrobene, Sinnlose, schließlich in das ganz Verrückte und Irrsinnige abgedrängt. Das ist die unabwendbare Folge, wenn man einmal die einfache grade Linie der Klassik, d. h. der gestalteten Wahrheit und Echtheit aufgegeben hat. Dann gibt es kein Halten mehr, bis man beim Gipfel der Unvernunft und des Verkehrten, beim gänzlich Sinnwidrigen und Unverständigen angelangt ist, bei Gebilden, von denen man nicht mehr weiß, ob sie überhaupt noch ernst gemeint sind, ob man über sie lachen oder weinen soll. Das ist offenbar der Zustand des geistigen Lebens der augenblicklichen, jüngsten Gegenwart. Es gibt keinen anderen Weg, sich mit den Werken der Klassik, den überragenden Schöpfungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen, als daß man eben doch immer wieder in ihrem Geiste den Wettbewerb mit ihnen aufnimmt, so schwer es uns fallen mag, so gern wir bei solchem Wettkampfe schon v o r Beginn die Waffen strecken möchten. Erliegt hierbei ein Zeitalter epigonenhaft schwächlicher Nachahmung, die nichts Eigenes und Ursprüngliches in ihre Schöpfungen hineinzutragen Weiß, so ist diesem Epigonentum durch keinen Kunstgriff abzuhelfen. Als die Abwendung von der Klassik in voller Blüte stand, als es für vollkommen entschieden galt, ein für allemal ausgemacht schien, daß jene Meisterschöpfungen der Vergangenheit fUr uns und die fernere Zukunft nichts mehr bedeuteten, keine vorbildliche Kraft mehr besäßen, gab ich gemeinsam mit meinem Bruder ein Buch mit der auf das gerade Gegenteil abzielenden Aufschrift heraus: »Das klassische Ideal". Das Buch hat manche Freunde gefunden, im ganzen aber ist es spurlos an der Zeit vorübergegangen, die umgekehrt den einmal eingeschlagenen Weg hemmungslos bis zu Ende gegangen ist, bis zu Erscheinungen, auf die ich eben anspielte, die die vollkommene Lächerlichkeit, ja den reinsten Unsinn streifen oder gar erreichen. Schon dies ist wohl Beweis genug, daß man seine Gedankenwelt dem Urteil einer solchen Zeit wahrhaftig nicht zu unterwerfen braucht, sondern umgekehrt, man kann es der Entwicklung getrost anheimstellen, ob sie sich nicht endlich, nach heillosem Irren und völligem Sich-Verlieren in ödeste und unfruchtbarste Wüste zum Ewiggültigen, zum klassischen Ideal zurückbewegt. IX
Allerdings muß ich für meine Person bekennen, daß ich selbst dem durchaus antiklassischen, allgemein die Zeit beherrschenden Zuge des E x t r e m s meinen Tribut gezollt habe. Denn klassisch ist die gezähmte Kraft, das Maß und Gesetz in der Kraft, wie ich es einmal ausdrückte, der Dämon, aber der ruhige Dämon oder die dämonische Ruhe. Wer unterliegt nicht den Schwächen seiner Zeit, auch wenn er sie erkannt hat? Ungerechtigkeiten und Übertreibungen finden sich in dem erwähnten Werke, was meinen Anteil daran betrifft, genug. Aber wenn man auch zunächst notwendig den Schwächen seiner Zeit erliegt, sie zu erkennen ist doch der erste Schritt sich über sie zu erheben und sie abzustoßen. Das gänzlich Unbeherrschte, das Unklassische des Extrems, ist das nicht die Krankheit, an der unsere Zeit aus tausend Wunden blutet? Wenn etwas die Notwendigkeit des klassischen Ideals beweisen kann, so alles inzwischen Geschehene, das bis zum äußersten Gegensatz angelangt ist, dorthin, wo der Umschlag eine Unvermeidlichkeit und in dieser seiner Eigenschaft auch für jeden erkennbar wird. Aber wozu diese ganzen Auslassungen an dieser Stelle? Weil vorher der Name Piatons, des großen klassischen Philosophen, gefallen ist. Die Philosophie nämlich hat einen ähnlichen Weg eingeschlagen, wie die gesamte Kultur der letzten Epoche. Man suchte dem Vorbilde der großen systematischen Philosophen, denen man mit ebenbürtigen Leistungen nicht mehr gegenüberzutreten vermochte, auszuweichen, indem man die ganze Philosophie gleichsam auf ein anderes Geleise schob, indem man ihr eine ganz andere Aufgabe und Zielbestimmung gab. Von Entartungen und Absonderlichkeiten, wie sie die gegenwärtige Kunst zeigt, ist allerdings die Philosophie dank der strengen wissenschaftlichen Zucht unserer Kultur glücklicherweise frei geblieben. Und doch unterlag auch sie der gefährlichen Krankheit der Zeit, nämlich der Ausschweifung, dem Extrem, nur nach einer anderen, der entgegengesetzten Richtung hin. S i e überbot sich in der Forderung und dem Ideal der unbedingten logischen Strenge und Wissenschaftlichkeit. Der Einbildungskraft wurde im Bereich der philosophischen Arbeit nicht der geringste Raum mehr gelassen und damit jede kühnere Hypothese und Idee verbannt. Ist diese Überspannung der logischen Strenge nicht auch eine Ausschweifung? Wie soll
X
Philosophie ohne kühnen Aufschwung der Einbildungskraft, die Ideen zu ergreifen und zu gestalten sucht, noch möglich sein? In der Kunst nur der dumpfe, düstere, zügellose Trieb, und beim philosophischen Geist nur das überstrengste Denken, das vor lauter Reinheit und Strenge jeden Inhalt einbüßt, in leeren Formalismus mündet. Ist die schrankenlose Betätigung der logischen Funktion nicht auch eine Art „Expressionismus", der gar kein selbständiges Objekt mehr anerkennt, das Objekt glaubt schlechthin „erzeugen" zu können? Das haben allen Ernstes die gefeiertsten Denker der Gegenwart gelehrt. Man denke über diesen Zusammenhang nach. Beide Bestrebungen, ob nach der Gefühls- oder nach der Gedankenseite hin, sind extrem, sind antiklassisch. Wie soll bei der hemmungslosen, einseitigen „Ausbildung" will ich nicht sagen, aber Verfolgung der menschlichen Gemütskräfte und Anlagen noch ein G l e i c h g e w i c h t der Seelen entstehen können, die klassische Sicherheit und Festigkeit, Wie soll hierbei K u l t u r noch möglich sein, die Nietzsche sehr treffend als die Einheit des Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes bestimmt hat? Darf man sich bei so extremer, ausschweifender, rücksichtsloser Entfaltung, dort des Gefühls und hier des Gedankens, wundern, daß dann auch der W i l l e , welcher Von innen nach außen führt, zur Lebensgestaltung drängt, sich emanzipiert, gleichfalls hemmungslos und unbeherrscht dahinstürmt und sich überschlägt? Es ist ja jeder Zusammenhang in der menschlichen Seele aufgehoben, jede gegenseitige Hemmung, Beeinflussung, Mäßigung der seelischen Triebkräfte untereinander ausgeschaltet worden. Die menschliche Seele ist z e r f a l l e n . Tiefsinnig hat Piaton den Staat in seiner Zusammensetzung mit der Einzelindividualität verglichen. Die gegenwärtige Lage Deutschlands scheint das Recht dieses Vergleichs zu bestätigen. Unser Gemeinwesen ist zerfallen, weil die Individualität mit ihren Urkräften zerfallen ist, weil diese Urkräfte sich voneinander geschieden haben. Auch die Philosophie wird nicht umhin können den Blick wieder auf die großen klassischen Muster zu richten, mit ihnen, so gefährlich und tragisch dieser Entschluß auch sein mag, den Wettbewerb aufzunehmen in der Ausbildung einer einheitlichen metaphysischen Weltanschauung, ein Ziel, dem alle großen XI
Denker nachgestrebt, dem sie sich geopfert haben. Billiger tut es die Kultur nicht, dessen kann man versichert sein. Aber ich wollte auf etwas ganz anderes hinaus. Die wahrhaft große Philosophie hat nicht nur eine einheitliche und umfassende Weltanschauung, ein Gesamtbild der Wirklichkeit für die theoretische Auffassung dieser Wirklichkeit angestrebt, sie hat auch die Hand nach der Beherrschung und Gestaltung des L e b e n s ausgestreckt, hat den Anspruch erhoben und den Versuch gemacht, die Gesamtheit des sozialen Lebens der Menschen nach der Seite seiner äußeren, staatlichen Einrichtungen wie seines inneren Gehalts und Wertes hin zu ordnen und zu prägen: Philosophie nicht nur als G e i s t , sondern als M a c h t . Und da ist es vor allem die weltgeschichtliche Größe in der Persönlichkeit und dem Werk P i a t o n s , die hier notwendig in unseren Gesichtskreis tritt. Piaton — sprichwörtlich mit der bleichen Interesselosigkeit in Verbindung gebracht, wie die Sprichwörter so oft ganz willkürlich die ursprünglichen Bedeutungen in das Gegenteil verkehren — Piaton war in Wirklichkeit der leidenschaftlichste Philosoph, der jemals gelebt hat, von einem unbändigen Gestaltungswillen beseelt, der das gesamte staatlich-soziale und kulturelle Leben nach einem großen einheitlichen Plan zu formen unternahm. Als er lebte, war der griechische Staat aus allen Fugen gerissen und in voller Zersetzung. Piaton entwarf das Bild zum Neubau, das er wahrlich nicht nur als schwärmerisches Traumbild dachte, an dessen Verwirklichung er vielmehr mit Inbrunst glaubte, ja zu dessen Ausführung er selbst, wenn auch vergebliche, Schritte tat. Auch unser Staat, zu dem wir mit solchem Stolze aufgeblickt hatten, liegt nun zerborsten da. Und da der Staat immer der Halt für das ganze übrige Leben, dessen Rückgrat ist, was man meist verkennt, so ist, wie doch aus unzähligen Anzeichen jeder stündlich entnehmen könnte, mit einem Schlage auch alles sonstige Leben unseres Volkes gefährdet, ja bereits zertrümmert, verdorben und verfallen. Muß in dieser Lage unser geistiger Blick nicht in den Bannkreis des griechischen Denkers unwiderstehlich gezogen werden? Was ist Gerechtigkeit? Wie ist das Verhältnis der verschiedenen Berufsstände im Volke zu gestalten? Wem ist die Leitung des Staatsganzen anzuvertrauen, wer der berufene Herrscher? Wie sind die hierfür Berufenen zu erXII
kennen und herauszuheben? Welche Vorzüge und Nachteile haben die verschiedenen Verfassungsformen, wie zeigen sie sich in ihrer echten und reinen Darstellung, in ihrer Kraft und wie in ihrer Entartung? Wie ist die geistige und sittliche Erziehung des Volkes zu handhaben, um es überhaupt zu sozialem Leben fähig zu machen ? In welchen ewigen Werten muß das menschliche Leben verankert werden, um ihm sittliche und religiöse Schwerkraft zu geben, daß es beständig und dauerhaft sei, daß die ganze Wucht der Verantwortung auf jedem einzelnen ruhe, ohne welche Verantwortlichkeit das menschliche Staats- und Gemeinschaftsleben nicht zu denken ist? Das sind die Fragen, die Piaton in seinem „Staat" behandelt. Und nun frage ich jeden: s i n d e s n i c h t g a n z d i e s e l b e n F r a g e n , d i e wir jetzt wieder f ü r u n s e r e Zeit und u n s e r e Not aufw e r f e n u n d b e a n t w o r t e n m ü s s e n ? Es bleibt uns gar keine Wahl: wenn wir an die Aufgabe des Wiederaufbaues unseres staatlichen und sozialen Lebens herangehen, wenn wir dieses große Werk wirklich ernsthaft und gewissenhaft, mit dem vollen Rüstzeug der Verantwortung in Angriff nehmen wollen, dann m u ß unser Blick auf Piaton fallen. Was er für sein Volk und seine Zeit hat leisten wollen, müssen wir für unser Volk und diese Zeit zu leisten trachten. Das ist ungeheuerlich, aber es i s t . Hier kommt zur Geltung, was ich oben über das klassische Ideal, die großen klassischen Muster ausgeführt habe. Wir können dem Wettbewerb mit ihnen, der Nacheiferung, dem Nachstreben ihrer Leistungen nicht entrinnen, wenn wir uns nicht selbst zu voller Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit, zur Nichterfüllung unserer unabweislichen Pflichten verdammen, nicht von vornherein auf unsere erhabenste Aufgabe verzichten und damit unser ganzes Gemeinwesen, unsere gesamte Kultur preisgeben wollen. Ob der Einzelne einer solchen Aufgabe tatsächlich gewachsen ist oder nicht, kommt garnicht in Frage. Man muß den Mut haben, an einer großen Aufgabe zu scheitern. Und nur über viele Gescheiterte hinweg wird das wirklich Echte und Große errungen. So viel kostet in Wahrheit jede geschichtliche Großtat, so teuer wird sie erkauft. Der eine letzte Sieger erntet die Kraft, die Vorarbeit in Gelingen und Mißlingen, in Irrtum und Wahrheit zahlreicher Geringerer und Übersprungener. XIII
Ich betrachte unsere Lage in folgendem Sinne: eine unerhörte Verwirrung aller Begriffe ist eingetreten. Unser Leben ist in eine schwere und dichte Dunstwolke von Unklarheit, Ziellosigkeit, Verfahrenheit eingehüllt. Da dünkt mich schon viel, recht viel erreicht zu sein, wenn wir aus dieser lahmenden und quälenden Ratlosigkeit nur erst einmal einen A u s g a n g finden, nur die R i c h t u n g erkennen, in welche wir unsere Kraft und Arbeit lenken müssen, wohin wir streben sollen. Ich erinnere wieder an das lehrreiche Beispiel unserer klassischen Dichtung. Darf man es gering einschätzen, daß' vor dem Fürsten der Dichtung, vor der vollkommenen Schönheit selbst die Gesetzgeber des Schönen hergingen, Männer wie Lessing und Herder, die die strebende und schaffenslustige Jugend auf die Griechen und Shakespeare als die vorbildlichen Meister hinwiesen ? Damals führte das deutsche Volk ein unschuldiges Dämmerleben und durfte den Traum der Schönheit träumen. Die französische Revolution pochte schreckhaft an das stille deutsche Haus und rührte die Geister auf. Napoleon riß die Deutschen gewaltsam in den Strom der Weltgeschichte hinein und seitdem hat das deutsche Volk das große geschichtliche Leben mit Glück und Elend, Höhe und Tiefe, das Leben als ringende und schaffende Willenseinheit bis zur äußersten Grenze kennengelernt, erfuhr es Sieg und Glanz bis zur Trunkenheit, Niederlage und Jammer bis zur Verzweiflung. Was das Leben der Völker sonst in Jahrhunderten aufweist, Aufstieg und Niedergang, das hat das deutsche Volk mit dramatisch erschütternder Wucht in wenigen Generationen durchmessen. Jetzt ist ihm das Bild der S c h ö n h e i t entschwunden, ist ihm die S t ä r k e zerschmettert. Was bleibt ihm übrig als bei der W e i s h e i t anzupochen und Rat zu holen? Wenn ehemals für die sehnsüchtigen Jünger der Schönheit der Name H o m e r s das Zauberwort war, das ihre Seele und Kraft in Schwung versetzte, das hehre Vorbild, dem sie trotz seiner Unerreichbarkeit ehrlich nachtrachteten, wobei sie auch Unverächtliches schufen, so, sage ich, ist es jetzt der größte Name der Weisheit, ist es P i a t o n , der das kommende Geschlecht beleben und beseelen muß, eine Weisheit, die das gesamte Menschenleben umspannt, nicht nur die menschliche Vorstellungswelt klärt und lichtet, sondern auch das reale Leben in Staat und sozialer Gemeinschaft, die zu dieser Stunde wiederXIV
um vor dem Untergänge stehen und der Neuschöpfung schmerzlich entgegenharren, ordnet und baut. Bedürfen wir nicht einer so mächtigen Weisheit in dieser Unglücksstunde? Nur e i n Geist der Geschichte hat dieses Ideal in seiner vollen Größe erkannt und zu verwirklichen getrachtet: Piaton. Ich weiß wohl, Piaton ist immer gelesen worden. Aber es gibt ein sehr verschiedenes Lesen. Das Lesen in öestalt nur kühler, wissenschaftlicher Betrachtung genügt für das hier Gewollte und Empfohlene nicht, so sehr es dafür unerläßliche Voraussetzung ist, und diese Betrachtungsweise meine ich hier nicht. Wie die Zeit Schillers und Humboldts Homer und alle anderen griechischen Dichter las, von der heißen Sehnsucht erfüllt jenen Werken Ähnliches selbst hervorzubringen — also müßte das kommende Geschlecht den „göttlichen" Piaton lesen. „Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt", um mit Mephisto zu reden, ich kann mir nicht helfen: wer an das deutsche Problem rührt, kann es nur im Hinblick auf das große Vorbild Piatons wagen. Mißglückt sein Wurf, reicht seine Kraft nicht aus — nun gut, was tuts? Er beut seinen Rücken dar, auf dem glücklichere und stärkere Nachfolger der Vollendung zuschreiten werden. Nur wenn ganz Großes gesucht und erstrebt wird, kann Leidliches, Erfreuliches, Heilsames geschaffen werden. Beherzigen wir das Wort des Goetheschen Pylades: Spotte nicht. Ein jeglicher muB seinen Helden wählen, Dem er die Wege zum Olymp hinauf Sich nacharbeitet.
Was ich vor langen Jahren im „Klassischen Ideal" über unsere Beziehung zum griechischen Denken ausführte, Uber die dort noch schlummernden, ungehobenen Kraftquellen, damals mitten im reichsten Glänze unseres nationalen Daseins, dessen innere Gefahren ich schaudernd zu erkennen meinte, — in der nämlichen Schrift sagte ich den Untergang unseres Staatswesens mit klarem Wort voraus — das greife ich hier auf höherer Lebensstufe wieder auf, das wird jetzt, nachdem der geahnte Untergang tatsächlich und grausig genug erfolgt ist, um so tiefere Bedeutung gewinnen, um so stärkere Wahrheit haben. Allerdings, wenn unsere Realisten und Praktiker den Namen Piaton nur hören, bekreuzigen sie sich, wenden sie sich sofort XV
verächtlich ab. Sie glauben nichts als gefährlichste Utopie zu wittern, von der sie sich kein Heil für unsere Notlage versprechen können. Erstens trifft der Vorwurf der Utopie nur sehr bedingt bei Piaton zu: vieles, was er forderte, hat der mittelalterliche, der moderne Staat verwirklicht. Der Zustand der antiken Kultur war schon zu erschöpft, um die Gedanken Piatons aufzunehmen, die ihre Umwelt um Jahrtausende überflogen. Zuzweit aber, selbst den utopischen Charakter der platonischen Ideen eingestanden — wenn wir ein klassisches Muster aufrichten, meinen wir damit keine knechtische und kleinliche Nachahmung. Den allgemeinen Zug, den großen Stil der platonischen Philosophie möchten wir wieder aufleben sehen. Schon im I. Bande der „Erkenntnis" habe ich mit stärkstem Nachdruck auf B i s m a r c k hingewiesen, der nicht nur dem Politiker vom Fach, sondern auch dem Philosophen die reichste Ausbeute an Erkenntnissen und Weisheit biete. Denn er ist ein seltenes, mächtiges, in seiner herben und strengen Wahrhaftigkeit überwältigendes Bild des Lebens. Er ist der rechte Geist, Blick und Gedanke an das wirkliche Leben zu fesseln, den Sinn für das Mögliche und Notwendige zu schärfen. Ich will der folgenden Darstellung im Buche selbst nicht vorgreifen. Die dort gegebene Formulierung der für uns heute gebotenen Philosophie als der Wissenschaft auch des Konkreten und Unmittelbaren wird Schutz genug sein gegen das allzu Allgemeine und Begriffliche des platonischen Denkens, das sich wohl manchmal zu weit von dem kräftigen Boden der gegebenen Tatsächlichkeit entfernt und in gestaltlose Höhen entschwebt. In Nietzsche besitzen wir bereits einen Denker, der der reinen Abstraktion entfliehend, sicher zu sehr entfliehend, das gegenwärtige Leben liebend zu umfassen und mit wuchtigen Hammerschlägen in eine neue Form zu prägen suchte. Es ist alles bei ihm — man erkennt es leicht — Jugendlichkeit, Sturm und Drang, Überschwenglichkeit. Paaren wir aber sein Feuer mit dem herben Wirklichkeitssinn, wie er zu uns aus seinem älteren mächtigen Zeitgenossen Bismarck spricht, dem schaffenden Staatsmann mit der schwieligen Faust, der mitten im geschichtlichen Sturm gestanden, den widrigsten Verhältnissen einen lebendigen Staat abgerungen hat — ich meine, auf diese beiden starken Geister gestützt, müßte es unserem Zeitalter gelingen, trotz aller Trümmer — denn in XVI
diesen Führern sind gewaltige Gestaltungskräfte eingebettet, der deutsche Geist und Wille sind noch nicht tot — es müßte uns gelingen das deutsche Reich zum zweitenmal zu gründen. Jetzt endlich kann ich auf den Anfang dieser Vorrede zurückkommen. Das alles mußte ich ausführen, wenn ich den Charakter dieses Gesamtwerkes rechtfertigen, besonders wenn ich begründen wollte, weshalb ich hier nur wieder ein Bruchstück des Ganzen herausgebe. W e r den ersten, bereits veröffentlichten Teil der „Erkenntnis", mit dem Untertitel „die Tragödie des deutschen Volkes", harmlos liest, wird zunächst die hier besprochenen Zusammenhänge, den Hinweis auf die Philosophie und Piaton garnicht begreifen können. Das Buch sei doch glücklicherweise ganz einfach geschrieben, weshalb ich denn nicht so einfach fortfahre? Vollends aber der wissenschaftliche Leser, der mit den heute herrschenden Begriffen von Wissenschaft, die ich für einseitig, verengert, ja geradezu für verkümmert halte, das Buch betrachtet, wird sich über die Anmaßung dieser Ausführungen nicht genug verwundern können: was ich denn wolle, in dem bis jetzt vorliegenden Bande der „Erkenntnis" — schon der Titel „Erkenntnis" sei anstößig' — sei doch von Erkenntnis, jedenfalls wissenschaftlicher Erkenntnis keine Spur zu finden. Es sei ein Buch über den Tag, f ü r den Tag. Mit der erhabenen Sphäre der Wissenschaft habe doch all das nicht das geringste zu schaffen. In den Zusammenhang der zeitlichen und politischen Vorgänge, die doch den Gegenstand meines Buches ausmachen, den Namen der Wissenschaft, der Philosophie hineinzuzerren, bedeute eine vollkommene Begriffsverwirrung, die heillosen Schaden stiften müsse. Und ich erkläre gleich, daß ich auch in den ferneren Teilen dieses Werkes allgemein begriffliche Erörterungen möglichst einschränken und stets das Unmittelbare, Konkrete, Anschauliche, Bestimmte herausheben werde. W a s also hat das ganze Unternehmen mit Wissenschaft, mit Philosophie zu schaffen? Die Antwort auf diesen Einwand erteilt die Schlußpartie des hier herausgegebenen Abschnittes „Philosophie und Leben" (Seite 118 ff.), welche Aufschrift ich naturgemäß mit Absicht gewählt habe. Ich versuche dort das große Wagnis der Umwertung oder der Erweiterung des Wissenschaftsbegriffes: Wissenschaft nicht nur Erkenntnis des Allgemeinen, sondern XVII
auch des Bosonderen, nicht nur des Abstrakten, sondern auch des Konkreten. Denn die Wissenschaft muß a l l e s erkennen wollen. Über dem Allgemeinen und Begrifflichen darf sie das Einzelne, Bestimmte, Konkrete nicht vergessen, auch nicht die konkreten Vorgänge der konkreten Gegenwart. Auch das ist ein Objekt und nicht das geringwertigste, unbedeutendste Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis, wenigstens wenn diese allseitig sein will und kein Gebiet der Wirklichkeit übersehen soll. Ist doch die lebendige Gegenwart wahrlich ein Teil der Wirklichkeit! Das Genauere lese man an der bezeichneten Stelle nach. Wodurch aber unterscheidet sich die wissenschaftliche Erkenntnis der Gegenwart von der Tagesschriftstellerei, die so üppig wuchert und die wissenschaftliche Behandlung der großen Fragen der Zeit gänzlich überdeckt und erstickt, alles zerredet und zerschreibt? Dadurch unterscheidet sie sich, daß die wissenschaftliche Behandlung der Zeitprobleme eben das Allgemein-Begriffliche, Abstrakte, die Aufgabe und Leistung der Wissenschaft nach der bisherigen Auffassung, mit dem Konkreten und Unmittelbaren, mit dem Zeitlichen v e r k n ü p f t , die abstrakten Erkenntnisse zu ihrer Voraussetzung nimmt, die Zeitprobleme a u s den abstrakten und allgemeinen Erkenntnissen, auf deren Boden und von deren Hintergrunde her zu lichten und zu lösen sucht. Ich bilde mir ein in „Erkenntnis" I, in den dortigen ersten Kapiteln, das Entstehen und Wesen des Weltkrieges, der nun doch unser Schicksal so einschneidend und gewaltsam bestimmt hat, p s y c h o l o g i s c h untersucht und dargestellt zu haben. Denn jede Betrachtung menschlicher Vorgänge und Handlungen ist dann als wissenschaftlich zu bewerten, wenn sie p s y c h o l o g i s c h erfaßt werden, wenn eine eindringende Psychologie, die sich nicht an den oberflächlichen Außenerscheinungen genügen läßt, die tieferen Gründe und Zusammenhänge der menschlichen Begebenheiten und Taten herauszufühlen, herauszuarbeiten anstrebt. Was ich am Schlüsse des hier veröffentlichten Teiles als „angewandte Philosophie" fordere, ist im wesentlichen P s y c h o l o g i e d e r l e b e n d i g e n K u l t u r . Die abstrakte Psychologie in allen Ehren! Aber diese angewandte Psychologie, die den großen, bestimmten, so einflußreichen und machtvollen Ereignissen des Menschenlebens nachzugehen sucht, dürfte auch nicht zu verachten sein. Gewiß XVIII
äußerlich wird die wissenschaftliche Behandlung der allen gegenwärtigen, unmittelbar vor Augen liegenden kulturellen Vorgänge von der seichten Tagesschriftstellerei nicht leicht zu unterscheiden sein. Und daher die begreifliche Scheu der echten Wissenschaft sich diesen Fragen zu nähern. Es gehört, wie zur Ausführung dieser Aufgabe, so auch zu ihrer Aufnahme und Beurteilung, zur Unterscheidung wirklich echter Leistungen von dilettantischem Gerede ein nicht näher beschreibbares, gleichsam intellektuelles Fein- und Taktgefühl. Es gibt verschiedene Erkenntnisaufgaben, die mit verschiedenen Mitteln zu lösen sind, und infolgedessen auch sehr verschiedene Bedingungen bei denen voraussetzen, die solche Erzeugnisse bewerten sollen. Der Plumpe wird sie plump auffassen und nur dem Empfänglichen werden sie sich in ihrer Eigenart erschließen und zugänglich werden. Kant sagt treffend: „Meißel und Schlägel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muß man die Radiernadel brauchen". Eine psychologische Radiernadel ist notwendig, wenn man das Geschiebe und Gedränge der weltgeschichtlichen Gegenwart mit ihren tausend und abertausend Kräften und Wirkungen beurteilen will und die gleiche psychologische Reizbarkeit muß auch derjenige zur Verfügung haben, der Wieder diese Beurteilung beurteilen Will. In diesem Sinne — ich bekenne es frei — erhebe ich Anspruch meine Darstellung der Entstehung und Bedeutung des Weltkrieges und des gesamten deutschen Schicksals nicht mit beliebiger Tagesschriftstellerei verwechselt zu sehen. Die Schilderung des Krieges selbst tritt allerdings vielfach aus dem Rahmen wissenschaftlicher Behandlung heraus, hier bricht stark und stürmisch das G e f ü h l durch, ich leugne es nicht. Aber es dürfte doch wohl endlich eine überwundene Anschauung sein, daß wissenschaftlicher und philosophischer Geist, daß strenger Wille zur Wahrheit eine ausgedörrte, kalte Seele erheische, daß der wissenschaftliche Mensch keine Leidenschaft haben dürfe. Damit würde er aufhören Mensch zu sein und damit wären ihm auch alle menschlichen Dinge, die ganze Fülle und Möglichkeit menschlicher Erlebnisse fremd und verschlossen. Er könnte sie nicht nacherleben, sich nicht in sie hineinversetzen. Dann aber ist es auch mit seiner* Erkenntnisaufgabe vorbei. Ich möchte XIX
denjenigen Deutschen sehen, und sei er der ruhigste und gefaßteste, der bei Betrachtung des ungeheuren Weltkrieges, der sein Volk und seinen Staat aus strahlenumglänzter Höhe in den Abgrund geschleudert hat, gefühllos bleiben könnte. Aber was sage icTi denn? So gefühllos diesem einzigartigen Geschick gegenüber laufen ja heute zahllose Menschen, fast die meisten unter uns umher — dieses verächtliche Geschlecht, das aussterben muß, bis ein einziges, einmütiges Volk heiliger Vaterlandsliebe emporsteigt. Es muß kommen, es wird kommen. Beschämt werden die gegenwärtigen Deutschen von ganz unbeteiligten Betrachtern dieser Zeit in jahrtausendweiter Ferne, in unabsehbarer Zukunft werden, deren Herz, obgleich unsere Not sie dann nicht das geringste mehr angeht, dennoch leise oder gar mächtig erbeben wird, wenn sie dieser Zeit gedenken. Da braucht sich wahrlich der heutige Deutsche, auch derjenige, der die Gegenwart denkend erfassen, der sie wissenschaftlich Verstehen will, nicht seines Gefühlsstromes zu schämen. Nur b e h e r r s c h t muß dieses Gefühl sein, nur darf es nicht die unbestechliche Erkenntnis der Wahrheit stören. Ja, je heftiger und wilder die Leidenschaft durch das erlittene Unglück unseres Vaterlandes aufgewühlt ist, desto m e h r muß und wird sie, um zur Rettung den Weg zu finden, die selbstbeherrschte Erkenntnis, den unerbittlichen Wahrheitsmut aus sich erzeugen, Weil nur mit deren Hilfe der Drache des Unheils getötet werden kann. Das eine ist nicht ohne das andere möglich und denkbar. Freilich überschreitet mein Buch die Grenze der reinen Erkenntnis mannigfach, gleitet öfter hinüber ins Lyrische oder Epische, in den halb dichterischen Stil. Ich konnte es nicht ändern, es wird vielleicht auch im Fortgange des Werkes hin und wieder geschehen, und dennoch behaupte ich, trägt es den Namen „Erkenntnis" zurecht. Nietzsche hat witzig eines seiner Werke, das er als wissenschaftlich und künstlerisch zugleich betrachtete, einen „Kentauren" genannt. Ein derartiges „kentaurisches" Doppelwesen mag auch dieses Trost- und Erziehungsbuch sein. Dieser Charakter liegt in der Natur der Sache, ist frei Von jeder Willkür. Wir mögen die verschiedenen Lebensgebiete, Arbeitsfelder und Aufgaben fein säuberlich von einander trennen, in unseren äußeren Einrichtungen und Gewohnheiten, in den Anschauungen des Alltags. Aber ist'nicht eine besondere XX
Stunde angebrochen? In gespannten und bewegten Zeiten schreitet das lebendig-unerschöpfliche Leben machtvoll über alle wohl abgezirkelten und sauber gefügten Grenzscheiden hinweg und greift ins Unbedingte. Es holt die Kräfte aus der Gesamtheit der seelischen Anlagen, da es auch mit seinen Schöpfungen das gesamte Leben umschaffen will. Der geschilderte Charakter des schon bekannten Teiles des Gesamtwerkes und die Begründung dieses Charakters müssen nun auch — und damit komme ich zu dem bestimmteren Zweck dieser Ausführungen — zur Rechtfertigung des vorliegenden Abschnittes und der weiteren Fortsetzungen dienen. Dieser einmal ergriffene Charakter wirft seinen Schatten über das ganze Werk. Zunächst der Umfang des Ganzen. Begreift man die Größe unserer Not, so versteht man auch, daß der deutsche Lebensentwurf ein wohlgegründetes, mannigfach und reichgegliedertes Gebäude darstellen muß. Das erfordert der wissenschaftliche Ernst an sich, der sich allein an eine so hohe Aufgabe heranwagen darf, das lehrt das vorbildliche Beispiel des platonischen Staates, dem wir nach den obigen Ausführungen, so bescheiden wir unsere Kräfte einschätzen mögen, nicht entweichen d ü r f e n . Nach den Äußerungen, die der erste Teil der „Erkenntnis" hervorgerufen hat, muß ich annehmen, daß die Leser mit Spannung Vor allem die p o l i t i s c h e n Ideen erwarten, die ich vorzutragen versprochen habe. Ich muß diesen Lesern die Enttäuschung bereiten, daß sie diese so lebhaft ersehnten Gedanken und Vorschläge in dem hier herausgegebenen Teile noch n i c h t antreffen werden. Jener in den ersten einleitenden Worten dieser Vorrede erwähnte höhere Zwang, das unpersönliche Gesetz, das über dem Werke waltet, haben es nicht zugelassen. Ich hoffe ihnen das Versprochene nicht schuldig zu bleiben. Mir scheint, wir haben mit unseren Aufräumungs- und Aufbauarbeiten Zeit. Nur sehr langsam werden wir uns aus unserem jetzigen Elende wieder emporwinden können. Da ist Eilfertigkeit und Dringlichkeit nicht am Platze, ist mit dilettantischem Übereifer nichts getan. Wie bei jeder bedeutenden Aufgabe, „ G e d u l d will bei dem Werke sein." Das erfordert der philosophische Geist, der gründlich und gewissenhaft seine Pflicht erfüllen will. Und p o s i t i v fordert er, daß zunächst die innere Geistigkeit, die seelische Stimmung, XXI
die sittliche Beschaffenheit erzeugt und gewonnen werden, die das deutsche Volk in diesem ernsten Augenblick erfüllen müssen. Diese seelischen Voraussetzungen, die geistigen Bedingungen unserer Wiedergeburt enthält der hier veröffentlichte Abschnitt „Philosophie und Leben". Wer davon unbefriedigt ist, muß die späteren Abteilungen abwarten. Wenn ich auch Wahrlich nicht den hohen Ehrgeiz besitze, wie der griechische Historiker, der in wunderbarem, staunenswertem Stolz sein Werk einleitet mit dem kühnen Worte, das sich tatsächlich erfüllt hat, „ein Schatz für ewig" (was heute jeder Dichterling sich einbildet), so hoffe ich doch für die nächste Generation in Deutschland ein politisches Erziehungsbuch zu schaffen. Glaubte ich das nicht, so müßte ich die Arbeit einstellen. Aber auch diese Aufgabe erscheint mir ernst und würdig genug, um jede Eilfertigkeit, wie sie unsere raschlebige, neugierige, zerfahrene, unruhige und darum schaffensunfähige Zeit so liebt, zu Verbieten. Langsam, geduldig wird ein Glied an das andere anzufügen, eine Schicht auf die andere aufzulagern sein. Nur stilles und stetiges, organisches Arbeiten kann ein so schwieriges Werk vollenden. Aber auch bei den ethischen Voraussetzungen, die ich zunächst als unerläßliche Vorbedingung unserer Arbeit am Wiederaufbau hinstelle, hoffe ich nicht in leeren Allgemeinheiten, die gerade bei diesem Teil des Werkes so nahe liegen, hängen geblieben zu sein. Meiner Zielbestimmung der „angewandten Philosophie" gemäß, als der Erkenntnis des Konkreten und Bestimmten, wollte ich auch diese Betrachtungen nicht in blassen Abstraktionen verdunsten lassen. Das Abstrakte, Allgemeine, das, was man bisher als das Philosophische schlechthin verstand, — ich behaupte, es liegt diesem Werke zu Grunde, weil es ohne diese Kraft garnicht geschaffen werden könnte. Aber all dies Abstrakte schwebt gleichsam nur im dunklen Hintergrunde und blickt nur hin und wieder in Zwischenbemerkungen heraus oder drängt sich nur für feineres Empfinden leise zwischen den Zeilen hervor. Es lag mir daran auch bei diesen ethischen Forderungen für unsere Zeit und deren Begründung ganz konkrete, scharf umrissene, klar abgrenzbare und unterscheidbare Tugenden und Gesinnungen nachzuweisen und herauszumeißeln. Bei derartigen Aufgaben pflegt die abstrakte Philosophie ein XXII
starres, kaltes Begriffssystem zu zimmern, das in seiner kühlen Ferne, in seiner Zeitlosigkeit gar keine Beziehung zum wirklich gelebten oder zu lebenden Leben zu haben scheint, von dem die Menschen gar keinen Übergang in das rauhe Alltagsdasein, zu den Forderungen des T a g e s zu finden wissen. Populäre Schriftsteller aber pflegen bei ethischen Erwägungen dieser Art sich mit gehäuften und geschwollenen Mahnungen nicht genugzutun, sie t r i e f e n von Moral. Alle möglichen und unmöglichen Tugenden, alle nur denkbaren, hohen und herrlichen Gefühle preisen sie den verstörten Zeitgenossen an, schütten sie vor ihnen aus, ohne irgend etwas damit zu erreichen, ohne bei den Menschen nur den geringsten Eindruck zu wecken, da diese garnichts Bestimmtes und Faßliches in die Hände bekommen. Weniger wäre hier sehr viel mehr. Schopenhauer sagt, Moral predigen sei leicht. Ich sage im Gegenteil, wenn dieses Predigen Zweck haben, wenn es nicht leeres Gerede, hohler Bombast bleiben soll, dann ist es die allerschwierigste Kunst. Fällt uns nicht jeder Moralprediger auf die Nerven, läuft man nicht jedem, der mit solchen Ansprüchen kommt, davon ? Daran ermesse man die Feinheit und Schwierigkeit dieser Kunst! Ich stehe nicht an sie für die höchste aller Wortkunst zu halten. Man lese nur die heutigen Tagesblätter, wie sie Tag für Tag von sittlichen Ermahnungen an das deutsche Volk überfließen. Und kein Echo der Tat, der Leistung, der Befolgung regt sich. Warum? Weil sie wahllos, unbestimmt, zerfließend und verschwommen z u V i e l fordern, den Blick nicht auf ganz bestimmte Gebote und Erfordernisse hinlenken. Ich rechne es mir zum Stolze, daß ich nur d r e i einfache Gebote, drei innere Pflichten und Verhaltungsweisen, drei sittliche Vorschriften dem deutschen Gewissen vorrücke, die sich ergreifen lassen, die sich jeder zur Richtschnur nehmen kann. Tut er dies, so ergeben sich daraus alle weiteren Tugenden und inneren Kräfte von selbst, sie erwachsen mit Notwendigkeit aus diesen sittlichen Überzeugungen und Gesinnungen. Ich nenne sie hier nicht, man lese sie im Buche selbst nach. Eignet sich der gegenwärtige Deutsche diese seelischen Kräfte an — und er kann es gewiß, wenn er ihre Unentbehrlichkeit wirklich eingesehen hat — dann ist schon jetzt, in dieser trostlosen, hoffnungsarmen, gebeugten Stunde ein besserer Stand erreicht, XXIII
dann dürfen wir wenigstens den ersten schüchternen Anfang machen, unser eingestürztes Haus des Staates und Volkstums auf neuen Grundlagen und mit neuen Maaßen aufzurichten. Ohne diesen Gesinnungsumschwung aber, ohne diese geistige Reinigung und Besinnung können wir alle Mühe sparen, wird alle Arbeit nichtig sein. Aber wenn ich auch dem ungeduldigen Leser die Enttäuschung bereiten muß, daß er auf den folgenden Blättern das angekündigte politische System, die uns so notwendige Staatslehre noch nicht vorfindet, so will ich ihm doch wenigstens kurz den Plan des Gesamtwerkes namhaft machen, damit er den hier gegebenen Teil dem Ganzen geziemend einordnen kann. Ich gedenke also nach diesem Teile das Politische auszuführen, die wichtigen Fragen der inneren, wie der äußeren Politik, unseres Verfassungslebens und der Eingliederung Deutschlands in das europäische Staatensystem zu behandeln, unter dem Titel: „ D e r d e u t s c h e C h a r a k t e r u n d d e r d e u t s c h e S t a a t " . Dieser Teil wird naturgemäß den Grundstock des ganzen Werkes bilden. Als Abschluß und dritter Teil der „Wiedergeburt des deutschen Volkes" soll dann eine Arbeit erscheinen, die das Wirtschaftliche mit dem Geistigen verknüpft, weil ich im Widerspruch mit der geläufigen Anschauung der Zeit das Wirtschaftliche Problem nur auf kulturell-geistigem Wege für lösbar halte. So treten die Erziehungsfragen auf den Plan, um schließlich in das religiöse Problem zu münden. Dem Vorbilde Piatons folgend werden auch wir unser künftiges Leben in Gesellschaft und Staat sowie das Leben jedes einzelnen in ewigen Werten verankern, an religiöse Wahrheiten anketten, alles Menschliche im Göttlichen weihen und stärken müssen. Andernfalls ruht dieses Leben auf hohlem Untergrunde. Ohne eine leitende „Idee des Guten" bleibt das Leben des Menschen planlos und verworren. Dieser geistige Schlußteil soll zusammengefaßt werden unter dem Titel: „ D e r d e u t s c h e G o t t " . Der Größe der gestellten Aufgabe bin ich mir in vollem Maße bewußt. Wie aber soll unser Geschlecht etwas Großes schaffen — und Großes wird von ihm gefordert, das gebietet der schauerliche Ernst der Zeit — wenn es niemals Großes w a g t ? Die einzige Gefahr, die der Ausführung des vorgefaßten Planes droht, liegt in der unsäglichen äußeren Schwierigkeit, die bei XXIV
den heutigen Verhältnissen jede geistige Arbeit in Frage stellt, Verhältnisse, über die ein Einzelner keine Macht hat. Sollten Freunde dieses Werkes gewillt sein, dieser Gefahr entgegenzuwirken, so stelle ich ihnen anheim, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Zuletzt ist noch kurz der eigentümliche Charakter und Stil dieses besonderen Abschnittes „Philosophie und Leben" zu erwähnen und zu verteidigen. Ich meine die gewiß auffällige Eigentümlichkeit, daß dieser Abschnitt ohne jede Unterbrechung und Kapiteleinteilung in einem einzigen Ablauf bis hin zum Ende strebt. Das wird dem Leser manche Unbequemlichkeit und Schwierigkeit bereiten. Allein auch das war eine innere Notwendigkeit und deshalb von mir gewollt. Auch dies ist ein beabsichtigter Protest gegen unsere Zeit. Ich mache mich anheischig zu erweisen, daß das ganze Denken der letzten Periode a p h o r i s t i s c h gewesen ist, nicht nur bei Nietzsche, bei dem dieser Zug nur am genialsten und entschiedensten ausgeprägt ist, sondern auch bei allen anderen Geistern dieser Epoche, die es meist selbst nicht Wissen. Immer erhalten wir nur Fragmente, Ansätze, Einzelbilder, Präludien. Jede geschlossene Systemkraft fehlt, es kommt nichts Monumentales zu Stande. Es ist hier nicht der Ort und würde zu weit führen, wollte ich dies mit Tatsachen und Namen belegen, ich muß es bei der einfachen Behauptung bewenden lassen. Immer nur Einzeluntersuchungen, Einzelbetrachtungen, Momentbilder sollen ein Ganzes geben. Ein schwerer Irrtum! Auch die Aneinanderreihung vieler kleiner Einzelgedanken und Einzelkapitel liefert keine wirkliche tiefere Ordnung. Wie Perlen auf einer Schnur sind hier die Gedanken aufgereiht und also rein äußerlich nebeneinandergestellt. Eine wahre Ordnung ist g e g l i e d e r t , d a h a t das eine mehr, das andere weniger Gewicht und Bedeutung, da tritt das Einzelne bald mehr hervor, bald weicht es zurück, da ist alles Einzelne mannigfaltig verschlungen und verwebt in ein reich gruppiertes und doch fest verbundenes Ganzes. So nur entstehen o r g a n i s c h e Gebilde mit verschiedenartigen Einzelgliedern, die ein sorgfältiges Lesen mit hingebender Vertiefung selbstschöpferisch erkennen und herausheben muß, Einzelglieder, die sich trotz oder wegen ihrer Ungleichheit die Wage halten. Wie in einer einheitlichen Periode die einzelnen Satzteile in XXV
mannigfacher Abstufung nach dem sachlichen Gewicht erscheinen und sich so zu einer um so stärkeren Wirkung vereinigen, je reichhaltiger ihre Verknüpfung ist, so gibt es auch eine P e r i o d e d e r G e d a n k e n , die in werten Zügen einen Kreis umschreibt, der von mannigfach ineinander verklammerten Gedankengebilden angefüllt ist, die gerade durch diese verbundene Vielfachheit, wenn sie einmal erfaßt und überschaut ist, eine mächtig durchschlagende Wirkung üben. Aber wie wenige vermögen heute eine gute Periode zu lesen! Wie wenige beispielsweise — außer den eingearbeiteten Fachmännern — eine Periode Kants mit sachlichem und formalem Genuß, mit ästhetischer Freude aufzufassen! Schon im I. Bande der „Erkenntnis" habe ich versucht die einheitliche, klare und starke, stets wiederkehrende Linie des Hauptgedankens innezuhalten und ihn doch mit mancherlei Seitengedanken und Abschweifungen, Einschaltungen und Ergänzungen zu bereichern und zu umranken und so aus Vielfachheit und Einfachheit zugleich ein Gesamtbild hinzumalen, welches durch die Harmonie des Mannigfaltigen die Wirkung anstrebt. Ich gedenke diesem Stilgesetz auch im weiteren Verlauf dieses Werkes treu zu bleiben. Halb bewußt, halb unbewußt ist auch hier Piaton das Vorbild, ich sage es offen. In seinen Dialogen kommen und gehen die Gedanken, werden fallen gelassen und tauchen wieder auf und doch kehrt in scheinbar sich windenden und kreuzenden Gedankengängen immer wieder der herrschende Hauptgedanke hervor und zurück und bewirkt jene wunderbar gemischte Schlußstimmung, die einen starken, vollklingenden Grundton mit der reichsten Harmonie verknüpft. Unnachahmlich und unerreichbar ist auch dieses stilistische Vorbild. Aber wenn man ernsthaft seelische Wirkung will, soll man sich nicht mit Einsatz der vollen Kraft auch der künstlerischen Mittel für diesen Zweck zu bemächtigen suchen? Soll das hohe Streben verdammt sein? Dann können wir unserer Bildung getrost das Grabgeläute einleiten. Wer sich aber überhaupt wundert, daß ich stilistische Fragen so ernst nehme, sie für wert erachte, um sie in einem Buche, das ganz anderen, sachlichen Zwecken dient, so eingehend zu besprechen, »dem kann ich nur entgegnen: es ist ein wahrer Stumpfsinn unserer Zeit — der stärkste Ausdruck ist hier am Platze — es ist das schlagendste Kennzeichen des XXVI
Verfalls, des hereinbrechenden Barbarismus, nicht minder als die offenbaren Zerstörungen und Verwüstungen, die unsere verwilderten Massen vornehmen — der gleiche Verfall der Kultur ist es, wenn auch weniger grob und aufdringlich, wenn das künstlerische Gewissen, der Formwille abstirbt. Die Gesinnungen und Auffassungen einer Zeit sind im Tiefsten mit einander verwandt und verwachsen. Die Psychologie hat hier ein weites, fruchtbares Arbeitsfeld. In der Form oder der Formlosigkeit kommt die innerlichste Seele einer Zeit zum Vorschein, zum Ausdruck. Wer es deshalb ernst und treu mit unserm Volke meint, muß die Hand dazu bieten, muß alle Anstrengung machen, daß der strengste Formsinn in unserm Volke wieder lebendig werde. Auch das ist ein Pfad, ein nicht zu vernachlässigender, zu Deutschlands Wiedergeburt. Ich bemerke noch, daß der Hauptteil dieser Veröffentlichung vor den letzten Reichstagswahlen verfaßt wurde. Wenn ich von der „herrschenden Demokratie" spreche, so bezieht sich dies auf die den Wahlen vorausliegende Zeit. Das Leben und die Erfahrung haben mit dem Wahlergebnis bereits die deutliche Antwort auf die von mir in wohlgesinnter Besorgnis hervorgehobenen Fehler unserer Demokratie erteilt und diese Antworten werden künftig noch sehr viel deutlicher und nachhaltiger werden, wenn die deutsche Demokratie nicht Einkehr und Umkehr hält, wenn sie nicht lernen will. Sie hat heute eine sehr große Verantwortung. Sollte ihr deshalb nicht die Pflicht ernster Selbstprüfung obliegen? Aber wie wenige Menschen bringen die sittliche Kraft auf, einen Fehler einzugestehen und ihr Verhalten zu ändern! Dennoch halte ich meine Ausführungen nicht für überholt und veraltet. Denn trotz der inzwischen schon angekündigten Wandlung in unserem Volksgeist sind ja die gerügten Irrtümer noch weit, erschrecklich weit in unserem Volke verbreitet. Was wir gegen diese Irrtümer zu sagen haben, sind gültige Wahrheiten, die von der Zeitlage unabhängig, für alle Zukunft festzuhalten sind, die die augenblicklichen Verhältnisse überdauern müssen. Als ich den ersten Band „Erkenntnis" hinaussandte, habe ich die Leser zur Aussprache, zu Gegenäußerungen aufgefordert. In reichem Maße ist diese Anregung befolgt worden. Ich verdanke dieser Anregung viele bedeutungsvolle, lehrreiche, aufXXVII
klärende und anfeuernde Zuschriften. Mein Wunsch, sie teilweise mit Gegenäußerungen von mir in eigenen Diskussionsbüchern abzudrucken und so eine lebendige, auch für andere zugängliche, öffentliche Aussprache über alle uns so tief bewegenden Fragen dieser harten Zeit zu veranstalten, habe ich zu meinem lebhaften Bedauern infolge der unerhörten Schwierigkeiten im Buchgewerbe bis jetzt nicht durchführen können. Diese Diskussionsbücher würden ein merkwürdiges und vielfach ergreifendes Spiegelbild unserer Gegenwart mit ihren Regungen und Sehnsüchten geworden sein. Aber wie Viel Geistiges muß heute unausgeführt, unausgesprochen bleiben und wahrlich nicht das Wertloseste! Für die schamloseste Schundliteratur hat diese verabscheuungswürdige Generation alles übrig, Papier und Geld und Zeit. Wann wird das Gewissen unserem Volke schlagen? Wann ein heiliges Läuterfeuer durch die Massen fluten ? Allen, die an mich geschrieben haben, danke ich mit der Versicherung, daß ihre Schriftstücke bei mir auf empfänglichen Boden gefallen sind, daß ich sie ernsthaft beherzige, wenn ich auch nur in den seltensten Fällen persönlich habe antworten können. Auch bei dieser und den folgenden Veröffentlichungen wird mir jeder Widerhall aus der Leserschaft willkommen sein. Diese Mitteilungen erwecken in mir das warme Gefühl einer Gemeinschaft, die in diesen dunklen, wehmutsvollen Zeiten eine wiederkehrende Ahnung von Stärke und Zuversicht gibt. Ich wünschte, daß es meinen Lesern auch so wäre. Den ersten Teil der „Erkenntnis" schloß ich mit den Worten, die aus der dumpfen, schier erdrückenden Qual des ersten Schmerzes herausführen sollten: „ich grüße alle Suchenden". Mit gegenwärtiger Schrift denke ich leise den Schleier der Zukunft zu lüften, daß wir wenigstens die Stimmung, den Entschluß, das Herz fassen, das gewaltige Werk unseres neuen Lebensbaues zu beginnen. Da rufe ich allen gleichgestimmten, verstehenden Seelen zu: ich grüße alle Hoffenden. G i e ß e n , S e p t e m b e r 1920 Dr. E r n s t H o r n e f f e r .
XXVIII
Vor der Aufgabe, die ich mir mit dieser Schrift gestellt habe, sollte ich zurückschrecken. Nichts Geringeres soll sie leisten, als dem deutschen Volk den Ausweg aus seiner Verwirrung, seiner graueneinflößenden Zerrüttung weisen. Das ist ein kühner Wille. Aber wenn ich lange genug schwankte, ob ich mich dieser Aufgabe zu unterziehen Wagen sollte — mein Gewissen hat mir den letzten Entschluß nicht leicht gemacht — dann sagte ich mir, daß ich ein V e r s p r e c h e n gegeben habe. Ein Versprechen aber muß man halten, so hart uns die Erfüllung ankommen, so sehr uns die übernommene Verpflichtung niederbeugen mag. Ein Gelübde muß uns heilig sein, ihm ist nichts abzudingen. Es warten zu viele Volksgenossen gespannt auf die Gedanken, die ich zum deutschen Schicksal vorzubringen, die ich angekündigt habe. Diese Erwartung darf ich nicht enttäuschen. Wenigstens dem Versuch, dem Unternehmen als solchem, einen Lebensplan für das geschlagene, ratlos gewordene deutsche Volk zu entwerfen, kann ich nicht ausweichen. Ich habe mich selbst gebunden. In meinem Buche „Erkenntnis, die Tragödie des deutschen Volkes", das unter dem furchtbaren Eindruck unserer Niederlage, zwischen Waffenstillstand und Friedensschluß, verfaßt wurde, aus gequälter, erschütterter Seele, angesichts des namenlosen Unglücks unseres Volkes — dort habe ich das erwähnte Versprechen gegeben. Zu deutlich stand es von Anfang an vor mir: mochten wir in dem riesenhaften Völkerringen trotz der übermenschlichsten Anstrengungen schließlich besiegt worden sein, mochte unsere gesamte Großmachtstellung vernichtet, durch den unseligen Ausgang des Krieges eine hundertjährige Ohnmacht und Knechtschaft über uns verhängt worden sein, über unser Volk, das sich einen ersten Platz unter den geschichtlichen Völkern durch hervorragende Leistungen auf allen Gebieten unstreitig erobert hatte, das einen wunderbaren, fast märchenhaften Aufstieg erklommen hatte — nun aber in die i 1
tiefste Tiefe, in einen wahren Abgrund des Elends, der Not, scheinbar rettungslosen Verfalls hinabgeschleudert — und mochte unser Volk selbst aus Verzweiflung über das unsagbare Leiden des Krieges und diesen trostlosen Ausgang mit all seinen unabsehbaren Folgen, aus Empörung über alles Geschehene die bisherige deutsche Regierung, den überkommenen deutschen Staat zur Verantwortung ziehen und beide in Zorn und Wut zertrümmern, nicht nur die alte Regierung beseitigen, sondern den Staat selbst in selbstmörderischer Verblendung — denn die Wut macht blind — bis in die Grundfesten umstürzen und zerschlagen und so das Zerstörungswerk der Feinde am eigenen Volke wider Willen und Wissen noch verstärken, ja erst vollenden — mochte all dies Ungeheure geschehen sein, das sich in einem Gedanken garnicht denken, in einem Satz und Atem garnicht aussprechen läßt — dennoch stand in jenem entsetzensvollen Augenblick deutlich, unverrückbar und unerschütterlich der Glaube, der Wille vor mir — und andere Deutsche werden das Gleiche empfunden haben — aus aller Qual rang sich der unbeugsame Entschluß empor: d a s d a r f n i c h t d a s E n d e der deutschen G e s c h i c h t e sein! Blitzschnell schössen mir gewisse Gedanken durch den Kopf, nach anderen suchte ich, ich wühlte geradezu, von der Verzweiflung aufgepeitscht, unter dem unausweichlichen, überschweren Druck der Stunde, nach erlösenden Vorstellungen, an die wir uns anklammern könnten. Es müßte doch irgendwie eine Rettung zu finden sein, es könne doch unmöglich alles und für immer verloren sein! Auf das deutsche Volk und seine Zukunft — wie groß und strahlend hatten sie vor unserer Sehnsucht gestanden! — zu verzichten, nur in das ewige Grab des eigenen Volkes zu starren und gleichsam zwecklos, sinnlos das weitere Leben nur hinzufristen — das konnte uns nicht zugemutet Werden, konnten wir selbst uns nicht zumuten. Es bäumte sich wild in uns auf, allen grauenhaften Schicksalen und Verkettungen zum Trotz doch noch e t w a s für unser Volk dem Verhängnis abzuringen. In glücklicher Stunde hoffen ist leicht. In vollkommener Trostlosigkeit, wenn das Geschick auch nicht einen matten Durchblick mehr aus der Umwölkung zu gewähren scheint, die Hoffnung wieder zu beleben, den Quell des Lebens wieder zum
2
Sprudeln zu bringen, das ist schwer, aber unerläßlich, ist Pflicht. Im Nichts noch ausharren und glauben, glaubend schaffen, darin erst bewährt sich die sittliche Treue. Aus dem Bestreben diese Gesinnung zu pflanzen, ist mein Buch „Erkenntnis" hervorgegangen. Fast wider Willen, aus einem halb unbewußten und unwiderstehlichen Zwange ist es entstanden. Nun aber bin ich ihm verpflichtet, nun muß ich einlösen, was ich dort im ersten Anblick des Schreckens versprochen habe. Denn sein wahres und eigentliches Ziel konnte das Buch damals nicht erreichen. Der Schmerz der Stunde war zu tief. Das deutsche Unglück zog mit so übermächtiger Gewalt den Blick auf sich, wir alle waren von den Erlebnissen, die wir schaudernd durchkostet hatten, derart gebannt und betäubt, daß es nicht gelingen konnte, den Eindruck der Stunde abzuschütteln und dem Geist sogleich die Richtung in die Zukunft zu geben. Ich selbst jedenfalls konnte der schweren Ereignisse nur Herr werden dadurch, daß ich sie unverwandt betrachtete. Aus meinem Wort zur Zeit wurde ein Klagelied. Man kann keinen Schritt vorwärts tun, ist keines neuen Entschlusses fähig, wenn man sich nicht zuvor mit dem Geschehenen und Gewesenen vollständig abgefunden hat, wenn man es nicht in seiner ganzen Tiefe durch- und ausgelebt hat. Jeder Seelenkenner und Seelenführer, jeder priesterliche Mensch weiß, daß kein Trost unfruchtbarer ist, daß nichts den Leidenden heftiger empört, als wenn man ihm sein Leid ausreden, als nichtig hinstellen will, Wenn man seine Gedanken abzulenken sucht. Nur durch das Leid hindurch führt der Weg aus dem Leid heraus. Laßt den Tränen freien Lauf! die Natur will es so. Das erquickt die Seele; aus dem Schmerz selbst gewinnt sie wieder Kraft und Stärkung. So wunderlich ist die menschliche Seele geartet, daß ihr der Schmerz zum Labsal wird. Deshalb bereue ich es nicht, soweit es in meinen Kräften stand, soweit sich mir die Sprache fügen wollte, das deutsche Unglück in seiner vollen Größe geschildert zu haben. Das deutsche Unglück — das sehe ich voraus — ist so gewaltig und einzigartig, daß es durch die künftige Weltgeschichte, durch die Jahrtausende hindurch sprichwörtlich sein wird. Wer von den Zeitgenossen nicht den Mut findet, in diesen Schmerz hinabzusteigen, wer feige den Blick abwendet, weder schauen noch l* 3
fühlen will, der ist nicht berufen und nicht befugt, am weiteren Leben unseres Volkes schaffend teilzunehmen. Er bringt nicht die innere Schwere, gleichsam das Gesättigt- und Erfülltsein vom Schicksal mit, um die Aufgabe des gegenwärtigen Deutschland zu verstehen, geschweige an ihrer Bewältigung mitzuarbeiten. Aber von dieser Gemütswirkung abgesehen, ich war von der Ueberzeugung beseelt und bin es noch, daß nur aus einem vollen Verständnis der jüngsten Vergangenheit die Klarheit und Einsicht über die gegenwärtigen und künftigen Aufgaben zu erwerben sind. Und deshalb habe ich nicht nur einem unüberwindlichen Gefühl, einem überwältigenden Herzensdrang nachgebend die Vorgeschichte und Geschichte des Krieges beschrieben, sondern auch aus wohlüberlegter Absicht und Erkenntnis, nicht nur um zu erschüttern, sondern auch zu belehren und zu klären, damit die Zeitgenossen vorbereitet würden für das große Werk, das nun zu tun ist. Denn wahrlich, hier soll das schwierigste Werk vollbracht werden, das vielleicht jemals menschlichen Kräften aufgebürdet wurde. Aus solcher Ohnmacht, solcher Niederlage, nachdem anscheinend alle äußere und innere Volkskraft in diesem größten aller Kriege verbraucht, zerstreut und verzehrt worden ist, bis zu dem Grade, daß augenblicklich nichts, schlechterdings nichts mehr vorhanden zu sein scheint, Woran Wir hoffnungsfreudig anknüpfen könnten — eine vollkommene Zerstörung unserer Volkskraft bis in die Wurzeln —, aus einem solchen Zustände ein Volk wieder emporzureißen und aufwärtszuführen, das ist eine Aufgabe, mit der sich nichts vergleicht. Nur die hellste Einsicht und unerbittlicher Wahrheitsmut können den Wirbel dieses Geschehens lösen und entwirren. Und in doppelter Richtung wünschte ich, daß die gesuchte Erkenntnis wirksam würde. Die Frage nach dem Ursprünge und der Entstehung des Krieges wird immerdar den Brennpunkt der Erörterungen bilden, die sich unserer Zeitgeschichte zuwenden werden. Wieviel Federn sind schon jetzt, nach so kurzer Zeit in rührige Bewegung geraten, darüber Klarheit zu schaffen. Fast alle Veröffentlichungen aber suchen die Last der Schuld am Kriege Deutschland aufzuwalzen. Daß das gesamte Ausland, unsere Feinde zumal unser Volk mit dieser Schuldlast beschweren wollen, darf uns nicht wundernehmen. 4
Daß aber auch das halbe Deutschland, ja mehr als das halbe Deutschland, die zur Zeit regierende Mehrheit unserem eigenen Volke, wenn nicht die ganze Schuld, so doch den Hauptanteil der Schuld am Kriege zuspricht, das ist grausam, ist unfaßlich. Denn daß gleichzeitig ein Teil der Schuld auch den feindlichen Völkern zugeschrieben wird, bedeutet garnichts. Das wirkt nur wie eine schlechte Verschleierung, wie eine entschuldigende Täuschung, aus der die Feinde nur das volle, unbedingte Eingeständnis der Schuld heraushören, die sie als solches hinnehmen. Ich sage zu dieser bekümmernden Tatsache Folgendes. Der Weltkrieg mit allem, was er über die Menschheit gebracht hat, ist etwas derart namenlos Schreckliches, daß derjenige, welcher wirklich die Schuld an diesem Verhängnis der Menschheit trägt, niemals entsühnt werden kann, der ist für ewig mit unsühnbarem Fluch beladen. Und ich füge weiter hinzu: wenn wirklich das deutsche Volk diese Schuld trägt, sich von der Tatsächlichkeit dieser seiner Schuld überzeugen muß, d a n n i s t ihm s e i n e Z u k u n f t a b g e s c h n i t t e n , dann ist es f ü r i m m e r i n n e r l i c h z e r b r o c h e n o d e r w i r d z e r b r e c h e n . Das sollten alle Ankläger des deutschen Volkes im deutschen Volke selbst klar vor Augen haben! Für ein besinnungsloses, verantwortungsloses Tun ist die Zeit zu ernst, zu schwer. Sittliche Zustände, seelische Wirklichkeiten und Schicksale Vermag unser seichtes, nur dem plumpen, greifbar Stofflichen zugewendetes Zeitalter garnicht mehr in ihrer Bedeutung, in ihrem lebenbestimmenden, fördernden oder zerstörenden Charakter zu würdigen. Derartige Geschehnisse und Erscheinungen nimmt der oberflächliche Sinn unserer Epoche garnicht mehr in ihrer Kraft und Bedeutsamkeit auf. Aber ungemein weit- und tiefgreifende Wirkungen auch für das äußere Leben mit seinem Erfolg oder Mißerfolg haben die innerlich-sittlichen Erlebnisse der Menschen, der Einzelnen wie der Völker. Ja die äußeren Geschehnisse wurzeln sogar ganz in den innerlichen Erfahrungen und Kräften, entquellen völlig aus diesen, deren Auswirkungen sie nur darstellen. Nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen verläuft der Lebensvorgang. Das will die Gegenwart nicht wahr haben. Aber das Scheitern, das vollkommene Versagen unserer Lebensführung sollte zu denken geben, sollte die Zeit veranlassen, die Grundsätze und An-
5
schauungen, denen sie in wahrhaft abgöttischem Vertrauen huldigt, nachzuprüfen. In unserem Falle steht eins unzweifelhaft fest: f l u c h b e l a d e n wird das deutsche Volk n i e m a l s eine Wiedergeburt seiner Kraft und damit eine bessere Zukunft gewinnen. U n s c h u l d ist für freudige, vertrauensvolle und tatkräftige Lebensarbeit die erste, ist eine unumgängliche Bedingung. Alles Hoffen ist eitel, unsere Verderbnis unheilbar und unser Untergang entschieden, wenn wir nicht für unser Volk das von grimmigen Feinden und betörten Deutschen selbst uns schmählich aufgeprägte Weltverbrechertum mit einem Rucke abschütteln können, wenn wir nicht die Sicherheit der Unschuld wiedererlangen. Denn Unschuld ist die Quelle alles Glücks, der letzte Rettungsstrahl, wenn den Menschen das Geschick in grauenvolle Nacht des Elends zu umstricken droht. Alles ist noch möglich, das Schwerste, Unerhörteste kann der Mensch leisten, wenn er das Gefühl der Unschuld in sich birgt, wenn ihn ein freudiges Gewissen trägt. Aber alles ist dahin, wenn die Unschuld verloren ist. Möchten doch die Menschen nicht so blind sein! Möchten sie nicht gegen die einfachsten Wahrheiten Wüten! Findet aber die für uns so begehrenswerte Unschuld in den Tatsachen der Geschichte der letzten Jahrzehnte auch ihre Begründung? Denn eine nur eingebildete, uns selbst nur künstlich eingeredete Unschuld frommt uns nicht. Nur wenn sie in aufrichtiger, kraftvoller Überzeugung ruht, die von keinem leisen Zweifel mehr angefochten und geängstigt wird, kann sie uns Mut und Zuversicht zu neuem Leben, zu tatfrohem und zukunftsgewissem Schaffen geben. Der Betrachtung dieser Frage ist der erste Teil meines Buches „Erkenntnis" gewidmet, der die Vorgeschichte des Krieges in Kürze darstellt. Zahlreiche Staatsmänner haben sich inzwischen über den nämlichen Gegenstand geäußert. Aber mit berechtigtem Mißtrauen begegnet man ihren Ausführungen, weil sie sämtlich mehr oder weniger bei diesen Vorgängen beteiligt Waren und deshalb den Verdacht rege machen, daß sie zu ihrer Rechtfertigung und deshalb parteilich, gefärbt die Umstände und Handlungen schildern. Ich nehme für meine Darstellung die Unparteilichkeit in Anspruch, soweit ein ernstes Bemühen diese hohe Aufgabe zu erfüllen vermag. Die Unparteilichkeit ist eine
6
Eigenschaft, die nur strenger Schule und Selbsterziehung verdankt wird. Man muß es l e r n e n , sich gleichsam fern von den Dingen zu stellen, die man beurteilen will, sich über sie zu erheben, sich innerlich von ihnen abzutrennen, daß keine Vorliebe, kein einseitiges Interesse mehr die Auffassung beherrscht, sondern daß sich die Dinge in ihrer reinen Tatsächlichkeit darbieten. Berufsmäßig bildet diese Fähigkeit zur Objektivität, zu lauterer, ungetrübter Erfassung der Wirklichkeit der P h i l o s o p h bei sich aus. Er sucht den weitesten, allgemeinsten Ueberblick Über die Erscheinungen des Daseins zu gewinnen, er räumt der Vernunft eine unbedingte Herrschaft über die Leidenschaften und Neigungen ein. Ich weiß sehr wohl, bei den gegenwärtigen Deutschen gilt der Philosoph nichts mehr. Schon im ersten Teil dieses Werkes habe ich auf diese seltsame, höchst befremdliche Tatsache hingewiesen. Man kann sehr bedrückende und peinliche Betrachtungen über diese Frage anstellen, die mich nur zu weit von meinem noch viel ernsteren Gegenstande, der Rettung des Vaterlandes, ablenken würden, wollte ich sie hier erschöpfend ausführen. Und doch hängt beides eng zusammen, weil Wir dem Vaterlande nur wieder aufhelfen können, wenn wir der Philosophie die ehemalige, ja eine noch höhere Machtstellung als in ihrer Glanzzeit einräumen. Das wird viele Leser sonderbar anmuten. Indessen, es handelt sich hierbei um nichts Geringeres als um die Frage, welche Stellung der G e i s t im Leben eines Volkes einzunehmen hat. Ich muß, um das Verständnis dieses ganzen Buches anzubahnen, meinem Unternehmen überhaupt die rechte Aufnahme zu sichern, mit aller Knappheit zu diesem Gegenstande Folgendes hervorheben und zur Erwägung stellen. Zu unserer hauptsächlichen Aufgabe, der Erkenntnis der vaterländischen Schäden und deren Heilung, werden wir zur gegebenen Zeit zurückkehren. Mit der Frage nach der Bedeutung der Philosophie für das Leben eröffnen Wir uns für diesen Zweck erst freie Bahn, gewinnen wir allein die Aussicht des Gelingens, die Möglichkeit gründlicher und fruchtbarer Arbeit. Für mich ist es ausgemacht, daß die Zertrümmerung unseres Lebens, unsere Niederlage in jedem Sinne ausschließlich in mangelhaftem Denken begründet ist. Denn andernfalls hätte 7
ein klarer Vorausblick, eine geistige Durchdringung und B e herrschung aller Verhältnisse nach außen und innen unser Reich vor diesem jähen Umschlag seines Geschickes bewahren müssen. Man hat nicht genügend ernst, nicht klar und tief genug g e d a c h t — eine andere Erklärung für unser trostloses Mißgeschick gibt es nicht. Das „Volk der Denker" — in meinen Augen ein Hohn auf die heutigen Deutschen, es hat nie ein gedankenloseres Volk gegeben als die gegenwärtigen Deutschen — unser Volk büßt es schwer und hart, daß es das Denken mißachtet und nur dem triebhaften, besinnungslosen Drängen und Stürmen des Augenblicks, wie vom Taumel erfaßt, sich hingegeben hat. Der berufsmäßige Denker, der Philosoph, der zum Denken erzieht, die Herrschaft der Vernunft begründet, gilt im heutigen Deutschland als das überflüssigste und unnötigste Glied in der menschlichen Gesellschaft, als reiner Müßiggang und Luxus. Philosophie und Leben — einen größeren Gegensatz vermag man sich im heutigen Deutschland überhaupt nicht vorzustellen. Diese Verbindung löst geradezu Heiterkeit aus. Ein Philosoph, der sich unterfängt, zum realen Leben mit Urteilen und Vorschlägen Stellung zu nehmen, wirkt wie eine lächerliche Gestalt. Das hat sich gerächt und wird sich noch weiterhin rächen. Philosophie wird bei uns betrachtet als eine ganz weltfremde, gleichgültige, nebensächliche Beschäftigung, als eine Art geistigen Spiels, das mit dem Leben auch nichts, rein garnichts zu schaffen habe. Ich behaupte dem gegenüber mit aller Bestimmtheit und Entschiedenheit, daß ein Leben, welches nicht Von philosophischen Ideen beherrscht und geleitet wird, rettungslos dem Verfall überantwortet ist, unabwendbar in den Abgrund steuert, daß Philosophie die allerdringendste, bitterste Notwendigkeit des Lebens ist, ohne die es garnicht bestehen kann. Was die vernünftige Ueberlegung für den einzelnen Menschen und seinen Lebensweg bedeutet und wert ist — und ohne solche Besonnenheit, das liegt doch am Tage, scheitert der einzelne erbarmungslos —, das vertritt die Philosophie a l s d i e Z u s a m m e n f a s s u n g des G e i s t e s , als der I n b e g r i f f der L e i s t u n g e n d e r V e r n u n f t für die menschliche Gesellschaft, den sozialen Organismus. Es ist erstaunlich und beschämend, daß man etwas so Selbstverständliches und Offenbares noch aus8
sprechen muß. Aber unsere Zeit hat die einfachsten Wahrheiten vergessen. Ich bestreite mit allem Nachdruck die Meinung, die heute allgemein verbreitet zu sein scheint, daß die Philosophen die kurzsichtigsten, unfähigsten, um nicht zu sagen törichtsten Beurteiler der menschlichen Verhältnisse seien. Ich könnte überraschende Beweise dafür anführen, daß gewisse Denker die Bedürfnisse und Gefahren unserer Zeit mit wahrem Seherblick erkannt haben und daß umgekehrt unsere gesamte Zeit, unser Staat und unsere Gesellschaft, alle diejenigen, die sich die Führung unseres Volkes anmaßten, einen schmählichen Kurzblick bewiesen haben, geradezu verblendet töricht gewesen sind, weil sie nicht auf solche Urteile der Denker achtgegeben, diese hochmütig in den Wind geschlagen haben. Ohne in die Gefahr einer zu weiten Abschweifung zu geraten — denn wir müssen doch wissen, mit welchen Mitteln wir unserem Unheil trotzen sollen, welche Kräfte wir in unserer Not einsetzen wollen, was uns allein wieder - aufrichten kann und da sage ich: d a s i s t d e r G e i s t u n d n i c h t s a n d e r e s — ohne weiter abzuschweifen, will ich nur auf z w e i Gedanken aufmerksam machen, die Nietzsche, der hervorstechendste Philosoph der letzten Epoche, zum Problem unserer Zeit und zwar schon vor einem Menschenalter ausgesprochen hat, sodaß man also Gelegenheit genug gehabt hätte, sie zu beherzigen und zu verwerten. Man wird daraus ersehen, daß es doch recht ratsam ist, die Gedanken der Philosophen, die berufsmäßig den w e i t e n und den t i e f e n Blick bei sich ausbilden, die über die aufdringliche Erscheinung des Augenblicks hinweg und durch sie hindurch nach dem Wesenhaften hinstreben, der Beachtung zu würdigen. Wer nicht von dieser Notwendigkeit überzeugt worden ist, Wird auch in den Gedanken des vorliegenden Buches nur leere Gaukeleien erblicken. Denn sie sind aus dem Streben nach freiem, vorurteilslosem Denken, aus nichts anderem hervorgegangen, sie wagen es, den Meinungen des Alltags entgegenzutreten. Als Nietzsche seinen prüfenden Blick auf seine Umwelt, die zeitgenössischen Verhältnisse warf, glaubte er die merkwürdige Beobachtung zu machen, daß diese Zeit starke, eigenartige, selbstsichere, selbstverantwortliche Persönlichkeiten» 9
Persönlichkeiten, die Führereigenschaften besäßen, garnicht mehr hervorzubringen vermöge. Die staatlichen, gesellschaftlichen, sittlichen Anschauungen und Gewohnheiten dieser Epoche, die öffentlichen und privaten Einrichtungen, Gesinnungen und Methoden seien derart beschaffen, daß sich hervorragende Individualitäten nicht mehr emporringen könnten. Sie würden Von frühester Jugend an geknickt, in ihrer Entfaltung gehemmt, gebrochen, ja die bedeutende Begabung sei geradezu verfehmt, in Acht und Bann getan. Nur der abgestimmte, gleichmäßige, gleichgeartete Mensch, der keine Unruhe stiftet, nichts Besonderes will und fordert, der „Korrekte" allein gelte, finde Anerkennung und Förderung. Und nun frage ich — ein Menschenalter ist seitdem verflossen — ist inzwischen nicht die Wahrheit dieser Einsicht Nietzsches erschreckend offenbar geworden? Durchdringt nicht ein einziger qualvoller Schrei die gesamte Zeit, der Schrei nach F ü h r e r n ? Auf die ungeheure Gefahr, wenn es an Führern gebricht, wenn diese fehlen, hat Nietzsche mit der ganzen Glut seiner Beredsamkeit hingewiesen. Man hat ihn nicht gehört und nicht verstanden, hat sich nur an seiner glänzenden, entzückenden Sprache ergötzt, aber ernsthaft auf seine Gedanken hin g e h a n d e l t hat niemand. Haben wir nicht während des Krieges den Mangel an Führern furchtbar, bis zur Neige des Unterganges auskosten müssen ? Und leiden Wir nicht heute noch ebenso, ja nicht noch weit schlimmer an diesem Elend, seitdem die früheren Führer, die doch noch Überlieferung besaßen, beseitigt worden sind? Der bloße Schrei aber wird keine neuen Führer herbeizaubern, man kann sie nicht aus dem Boden stampfen. Sie werden auch fernerhin fehlen. Führer werden e r z o g e n . Nur eine vollständige Umwandlung unserer tiefsten Gesinnung, unserer gesamten Lebensgrundsätze und Lebensführung, eine Umwandlung aus dem Innersten heraus kann eine Besserung heraufführen. Bei dieser Klarheit aber Nietzsches über das schwerste Gebrechen unseres Zeitalters wage man noch zu behaupten, die Philosophie habe für die fließende Gegenwart, für die Gestaltung des erst werdenden, erst noch zu erzeugenden Lebens nichts zu bedeuten, habe hierfür nichts zu bieten! Und ein zweites Beispiel. Nietzsche sah eine ungeheure demokratische Welle in Europa heraufkommen, eine demokratische 10
Strömung, die die ganze europäische Kultur von Jahrtausenden überflutend hinwegspülen, vernichten könne. Die heraufkommende Demokratie hat wohl mancher vermutet. Aber daß sie diese unheimliche, wahnsinnige Gefahr in sich schließen werde, das hat sonst wohl niemand geahnt. Was aber sind jetzt für wilde Kräfte der Vernichtung bei uns entfesselt worden, welche Dämonen sind losgelassen! Ist uns nicht bisweilen zu Mute, als ob sich der Abgrund der Hölle auftue und verschlinge, was jahrhundertlanger Fleiß langsam, mühsam gebaut und gebildet hat? Was aber das Allerwundersamste an der Weissagung Nietzsches war, ist der Umstand, daß er voraussah: bei dieser Umwälzung werden die utopischen, excentrischen Züge unserer überlieferten Moralanschauungen, die Vorstellungen und Forderungen einer schrankenlosen Gleichheit und Verbrüderung, einer ausschweifenden und unerfüllbaren, weichlichen und unwirklichen Nächstenliebe eine verhängnisvolle Rolle spielen, diese würden als geistiger Sprengstoff verheerendster Art benutzt werden — eine Voraussicht, die in dem russischen Bolschewismus grauenerregendes Ereignis geworden ist. Selten ist eine Prophezeiung so bald, so schlagend bestätigt worden. Ich will nicht die Frage untersuchen, nicht einmal anschneiden, ob Nietzsche mit seinem Versuch einer vollständigen Umkehrung, „Umwertung", wie er sagte, unserer Moral, mit der ausschließlichen und schroffen Verneinung, die er dem allgewaltigen demokratischen Zuge der Zeit mit der mächtigen Wucht seiner großen und bewundernswerten Persönlichkeit entgegenwarf, — ob Nietzsche hiermit die rechten und zweckmäßigen Mittel zur Abwehr ergriffen hat. Die unbedingte Verneinung und Entgegenstellung pflegen einer Bewegung nicht abträglich zu sein, pflegen sie nicht zu brechen, sondern im Gegenteil nur zu verstärken und ihr den endlichen Sieg zu verleihen. Nach meiner Erfahrung gewinnt man die Herrschaft über eine Bewegung, indem man auf sie eingeht, ihrem berechtigten, wesenhaften Kern nachspürt — denn ohne innere Begründung, ohne aus den tatsächlichen Verhältnissen hervorspringende Antriebe entsteht keine menschliche Regung und Bestrebung —, daß man also diesen begründeten Ansprüchen nachforscht, sie heraushebt und ihnen Geltung und Erfüllung verschafft, wie ein Bildhauer auf die Natur des Stoffes eingehen muß, den er bearbeitet, wie er dem 11
Charakter dieses Stoffes sogar die Gesetze der Gestaltung, die er befolgt, entnehmen muß. Aber von diesen Einwänden abgesehen : hat nicht Nietzsche eine geradezu wunderbare psychologische Einsicht und Tiefe der Einsicht gegenüber den Erscheinungen, den noch unausgegorenen, unausgesprochenen, noch schlummernden Erscheinungen seiner Zeit bewiesen ? Und solche Beispiele könnte ich weiter in großer Zahl anführen. Sollte die Philosophie deshalb nicht auch gegenwärtig, nachdem nun dennoch all die angekündigte Not wirklich über uns hereingebrochen ist und sich austobt, mit einem einzigen schrecklichen Wirbel unser Volk, ja unsere gesamte Kultur hinabzuknirschen droht — sollte da nicht allein die Kraft des Denkens die Retterin sein müssen, der letzte Hoffnungsgrund, nachdem alle anderen Mächte versagt, nachdem die aus dem Strudel der Erschütterung heraufgestiegenen Gewalten noch schmerzlicher enttäuscht haben als die gestürzten alten? Man macht sich von der Revolution und deren tiefsten Ursachen ein völlig irriges Bild, wenn man sie lediglich aus den politischen und sozialen, also den ä u ß e r e n Zuständen und Bedingungen ableitet, aus denen sie folgerichtig hätte hervorgehen müssen. Diese Verhältnisse gaben nur den Anstoß, bedeuteten nur das Problem, die Aufgabe, die zu lösen war. Sie stellten unser Volk vor neue, schwere Entschlüsse und Maßnahmen, die die Antwort auf jene verworrenen Zustände hätten bilden müssen. Für diese Entschlüsse aber hat der G e i s t versagt. Diese Tatsache ist der letzte und wahre Grund für den Umsturz aller Lebensverhältnisse, dessen entsetzte Zeugen wir geworden sind. Darin lag die Entscheidung des Schicksals beschlossen. D e r G e i s t h a t u n s im S t i c h e g e l a s s e n , s o kann es allein nur w i e d e r der G e i s t sein, der u n s Rettung bringt. Nachdem ich mich einmal soweit in diese Gedankengänge verloren habe, will ich auch die tieferen Gründe der Ohnmacht des Geistes aufzudecken versuchen, Weil wir nur mit Hilfe dieser Einsicht dem Geiste wieder die erste, die ihm gebührende Machtstellung im Organismus des menschlichen Lebens verschaffen können. Und nur in dieser naturgegebenen, naturgewollten Ordnung kann das Heil für das menschliche Leben enthalten sein. Wer sich dagegen auflehnt, dagegen verstößt, 12
sei es ein Einzelner, sei es ein Volk, den trifft die Strafe. Der fromme Spruch drückt diese Wahrheit mit dem Worte aus: „Gott läßt sich nicht spotten." Setzen wir dafür, um uns der geläufigen Zeitsprache zu bedienen, die Natur oder die* Naturgesetze, kurz die Wirklichkeit. Auch diese Mächte sind unerbittlich, lassen sich nicht biegen oder brechen. S i e sind schlechtweg hinzunehmen und anzuerkennen. Wer sie zu verneinen, in seinen Vorstellungen und Handlungen zu übersehen und aufzuheben wagt, wird unbarmherzig in den Abgrund geschleudert, der zerschellt mit seinem Wollen und Streben, und sei es noch so glühend vor Begeisterung, sei er in seiner Gesinnung von heiligstem Eifer beseelt. Unsere Gelehrten tun so, geben sich der holden Täuschung hin, als ob in den Angelegenheiten des Geistes und der Gestaltung der Kultur noch alles beim alten sei, als ob die einst so hochgeachtete Stellung der Wissenschaft, des Geistes im Rahmen der sozialen Gemeinschaft noch völlig unerschüttert bestehe. Ich beneide sie um diese Täuschung. S i e erkennen nicht die große, wahrhaft beängstigende Gefahr, die die ganze Kultur bedroht, erfahren nicht die Beklemmung, die diese Gefahr dem Sehenden bringt. Die Naturwissenschaften, Technik und Medizin mögen durch ihren unmittelbaren, jedem in die Augen springenden Nutzen sich hoher Anerkennung erfreuen. Alle Bestrebungen aber, alle Wissenschaften, die für das geistigsoziale Leben in Frage kommen, die den M e n s c h e n behandeln, den M e n s c h e n verstehen wollen, sind nur schlecht verhüllter Verachtung anheimgefallen. Die Natur ist doch nur der Schauplatz, auf dem das menschliche Leben sich abspielt, die Naturkräfte, der leibliche Organismus des Menschen mit eingeschlossen, bilden doch nur die Werkzeuge, die Mittel, deren sich der geistige Mensch zur Auswirkung und Erfüllung seiner inneren Anlagen, Bedürfnisse und Aufgaben bedient. S o unermeßlich wichtig die Erkenntnis der Voraussetzungen, der Grundlagen und Grundbedingungen des Lebens ist, das Wesentliche, der eigentliche Zweck auch all dieser Bemühungen ist doch eben d a s L e b e n s e l b s t , das auf diesen Voraussetzungen ruht, erblüht, indem es die von dorther gebotenen Möglichkeiten und Kräfte verwertet. Nun aber ist über jeden Zweifel erhaben, daß alle Forschungen, die sich diesem inneren Menschen, dem 13
Menschen nach seiner seelischen Verfassung zuwenden, die den geistig-geschichtlichen Menschen, die einzelnen und zusammengeballt zu Völkern, ergründen wollen, daß alle diese Zweige der Wissenschaft in ihrem Ansehen eine schwere Erschütterung erlitten haben. Daß es aus den Ergebnissen dieser Wissenschaften irgend etwas zu lernen geben solle für das handelnde, bewegte Leben, für die Not und Tat des Augenblicks, das glaubt heute kein Mensch mehr. J e d e Ehrfurcht vor diesen Wissenschaften ist entschwunden und zwar nicht nur bei dem Volksteil der Handarbeit, der, völlig geschichtslos und ehrfurchtslos, für alle geistige Arbeit nur Hohn und Spott hat, sondern erstaunlich weit hinein auch in andere Berufskreise, j a b i s in d i e W i s s e n s c h a f t s e l b s t h i n e i n . Die Naturwissenschaften oder einzelne Vertreter derselben, die bisweilen gleichfalls Philosophie und Geisteswissenschaften verachten, sollten bedenken, daß der menschliche Geist eine E i n h e i t ist, daß die Mißachtung der einen geistigen Betätigung leicht die Entwertung auch der anderen nach sich zieht. S i e sägen den Ast ab, auf dem sie sitzen, wenn sie die Feindschaft gegen die Geisteswissenschaften mehren. Schon quirlt die trübe Flut der Mystik hoch, die aller klaren Erkenntnis abhold leicht die ganze Bildung in ihren Schlamm versenken kann. Und die Feinde jeden Geistes, die verrohten Massen sind nicht mehr weit davon entfernt, Hand anzulegen, ihre Gesinnung auch mit der Tat zu belegen, nämlich die verachteten Stätten der Wissenschaft kurzerhand aufzuheben oder ihnen das Gesetz ihres Dogmas aufzulegen, nach dem allein noch „Wissenschaft" zu betreiben sei. Denn die Massen meinen heute, sie verkörperten „die Wahrheit". (Die Universität Marburg aus politischen Gründen zu schließen, wurde seinerzeit bereits allen Ernstes beantragt, die Nachricht davon ging durch alle Zeitungen.) J a unter Umständen könnte der entfesselte Wahnsinn der Massen noch weiter gehen und den Inhalt unserer Bibliotheken, sowie andere überflüssige Gegenstände aus unseren wissenschaftlichen Anstalten in Rauch aufgehen lassen, als Heizmittel verwenden, die nutzlosen Räume in Wohnungen umwandeln und mehr dergleichen, Aussichten, die tatsächlich schon Nietzsche mitten in tiefstem Frieden und friedvoller Arbeit aufdämmern sah. S o scharf war sein Blick für die verborgenen Regungen der Menschen. 14
Wer darüber lacht, den verachte ich. Es ist unbegreiflich, wie sorglos noch immer viele in den Tag hineinleben. Sie spüren nicht, wie der Boden unter ihren Füßen wankt. Mußten wir nicht erleben, daß die zügellosen, verwilderten Massen die Gerichte stürmten, die Grundlagen der menschlichen Ordnung, die Gerichtsakten vernichteten? Und zwar nicht nur diejenigen über ihre guten Freunde vom Verbrechen — das Verbrechen erscheint heute in der Gloriole des Heldentums und leider nicht nur bei den Massen, auch in der Literatur, ja selbst in der wirklichen Gesellschaft, so furchtbar krank ist unsere Zeit —, mußten wir nicht erleben, daß die wild gewordenen Massen auch Vormundschaftsakten und andere ganz unersetzbare geistigsoziale Werte zerstörten? Die berühmten Soldatenräte haben bei der Auflösung der verschiedenen Generalkommandos sinnlos, unbesehen die ganze aufgestapelte geistige Arbeit der Offiziere von Jahren, mit all den reichen, unersetzbaren Beobachtungen und Erfahrungen über den Krieg in einem einzigen Augenblicke zunichte machen lassen. Wirklich, man haßt den Geist. Man treibe die Verunglimpfung und Herabwürdigung der Professoren und Studenten nur noch ein ganz klein wenig weiter und man wird wunderliche Dinge erleben. Unbegreiflich ist, wie leicht man heute die Worte nimmt. Man scheint zu glauben, daß Worte nichts zu bedeuten hätten, daß man mit ihnen willkürlich, ohne Gefahr sein Spiel treiben könne. Aber es gibt kein gefährlicheres Spiel als das Spiel mit Worten. Schon im ersten Teil dieses Werkes wies ich auf Goethes Ausspruch hin: „Worte sind nahenden Taten ein Herold". Worte bedeuten Geist und Geist bewirkt Gesinnungen und Gesinnungen werden zu Taten. Das ist eine ununterbrochene Kette. Man sei versichert: wie unsere ehemalige Staatsleitung und die Kreise, die ihre Träger waren, abgesetzt worden sind, wie unsere ganze bisherige Wirtschaftsführung mit allen Mitteln aus dem Sattel geschleudert werden soll, bis um den Preis der Vernichtung aller Wirtschaftswerte — die einmal entfesselte Leidenschaft geht bis ans Ende — so hat schon lange eine stille, unheimliche Auflehnung wider den Geist und die geistige Führung in unserem Volke um sich gegriffen, die Volksseele zerstört und vergiftet. Diese Revolution wurde nicht bemerkt» 15
weil sie so geräuschlos vor sich gegangen ist. Diese Revolution wider den Geist ist die unsichtbare, schwer erkennbare, aber eben darum die eigentliche, wahre Revolution, die erst die sichtbare gezeitigt hat, ist die wahrhaft verhängnisvolle und grauenvolle Revolution, welche den Tod bringt. Der Denker, der Gelehrte haben heute jeglichen Einfluß auf das Volkstum und dessen Gestaltung verloren, sind den Massen ein Gespött, gelten ihnen als unfruchtbare, vergrübelte Nichtstuer, denen man bestenfalls und auf wie lange noch? Duldung gewährt. Nur wer diese Zusammenhänge begreift, wird es verstehen und gerechtfertigt finden, daß ich in der Einleitung zu meinem deutschen Lebensplan so eingehend diese rein geistigen Fragen behandle. Hier aber liegt der Kern der Dinge. In der unseligen Nichtachtung des Geistes ruht die tiefste Wurzel aller unserer Uebel und Notstände. Nur in der Wiederherstellung, Wiedereinsetzung des Geistes können wir das Gegenmittel gegen den drohenden Untergang finden. Und nur wer diese Ueberzeugung gewonnen hat, wird die befremdlichen Gedanken meines Buches begreifen können. Ich mußte, obwohl ich fast gegen meinen Willen in diese Betrachtungen geraten bin, diese Klärung vorausschicken. Denn sonst bleibt jedem unsere Zeit ein unergründbares Rätsel, ein Buch mit sieben Siegeln. Und wie sollte er dann den Zugang zu den Maßnahmen gewinnen, die als Heilmittel gegen diese Verwirrung empfohlen werden ? Er wird auch für sie nur starres Erstaunen, nur Kopfschütteln übrig haben. Denn so bedrängt, zerrüttet und zerrissen ist unsere Lage, daß wir die befreienden Gedanken wahrlich nicht mehr dem platten Alltag entnehmen können. Wir müssen stärkere Beschwörungen anwenden, müssen kühn in die Höhe und Tiefe greifen. Allerdings, wie die staatliche und wirtschaftliche Revolution nicht ohne Schuld der früheren Führung ausbrechen konnte — das ist unumwunden und rückhaltlos zu bekennen — so auch nicht die Revolution wider den Geist. Revolutionen sind immer nur die Antwort, die blutig furchtbare Antwort des Lebens, das die berufene Führung nicht mehr zu überblicken und infolgedessen nicht mehr zu lenken und zu bändigen wußte. Auch der Geist war bei uns verrostet, erstarrt, hatte sich treulos und verzagt seiner höchsten Aufgabe entschlagen. Diese seine höchste Aufgabe aber ist: d i e L e i t u n g d e r M e n s c h e n 16
g e s c h i c k e . Warum er dieser Aufgabe auswich, woher dieser Abfall des Geistes von sich selbst, seiner eigenen Würde und Höhe erfolgte, ist eine Frage, auf die es keine Antwort gibt. Hier sinkt das Problem in das Geheimnis des schlechthin unbekannten Lebensvorganges selbst hinab, jenes Lebensablaufes, der das Leben steigen und sinken, die Lebenskraft anschwellen und wieder erlahmen läßt. Man kann sich mancherlei Gedanken über den Rückgang der geistigen Kraft und Verantwortlichkeit in unserem Volk seit der Reichsgründung machen. Vielleicht war durch zu überreizte und andauernd die höchsten Anforderungen stellende Leistungen Deutschlands von dem philosophischkünstlerischen Zeitalter Kants und Goethes bis zum politischmilitärischen Zeitalter Bismarcks und Moltkes eine gewisse Erschöpfung, ein vorübergehendes Nachlassen und Ermatten der innersten Kraft bedingt und veranlaßt. Aber solche Betrachtungen sind zwecklos, da sie in unenträtselbare Tiefen führen. Auf eins nur will ich hinweisen: das sichtbare Anzeichen und Symptom, der erkennbare Ausdruck dieser Erstarrung des Geisteslebens, seiner Ermattung ist die Tatsache, daß man während der letzten Epoche im Bereiche des Geistes selbst die Philosophie, die diese höchste Aufgabe, nämlich die Führung der Menschengeschicke, in Anspruch zu nehmen hat, heimgeschickt, entthront, als überhebend und unausführbar verworfen hat, daß man die Philosophie zu dem bescheidenen Range einer reinen Fachwissenschaft, die im verborgenen Winkel ihr harmloses Werk wie jede andere Wissenschaft zu verrichten habe, herabgedrückt hat. Man hat die Erkenntnis vom Leben losgerissen, weil die Philosophie, als Einheit und Inbegriff der Erkenntnis, eben diese bedeutsame Aufgabe zu erfüllen hat, nämlich die Brücke vom Denken zum Leben zu schlagen. Diese Aufgabe aber hat man ihr in der jüngsten Epoche abgesprochen, entrissen. Aus allseitiger und eindringender Erkenntnis des Daseins und der menschlichen Dinge muß die Philosophie die Führung des Menschenlebens übernehmen, muß sie die Leitung der menschlichen Geschicke — welche Macht sollte es sonst? — verheißen und erfüllen. Und wenn das Erkenntnisstreben, welches diesen großen und allgemeinen Ueberblick über die Wirklichkeit sucht und das den Mut der Folgerung besitzt, welche Wege auf Grund dieser An2
17
schauungen von Leben und Wirklichkeit der Mensch, die Völker und die gesamte Kultur einzuschlagen haben, wenn dieser wichtigste, entscheidende Erkenntnistrieb vernachlässigt wird oder gar verfehmt ist und infolgedessen abstirbt — wundert man sich dann, daß das Leben zerschellt, erst schwankt und sich dann in furchtbaren Kämpfen und Krämpfen auflöst? Ist doch die höchste Funktion des Lebens, die leitende Vernunft ausgeschaltet. Mit wahrem Ingrimm hat Nietzsche, als dessen Schüler ich mich trotz tiefgreifender Unterschiede der Anschauung auch heute noch fühle und der der Philosophie diese Aufgabe und Machtstellung wieder zurückzugewinnen suchte, mit tiefster Erbitterung hat er den Verfall des deutschen Geistes während der letzten Epoche verfolgt. Ihm schien es, als ob mit der Reichsgründung der Geist aus dem deutschen Volke entwichen sei. Er nannte das zeitgenössische Deutschland wiederholt abschätzig das geistige „ F l a c h l a n d " Europas. Äußerlich freilich, dem Anscheine nach, war noch alles in trefflichster Ordnung, wie ja auch unser Staat und unsere Wirtschaft sich während dieser Zeit im hellsten Glänze ihrer Erfolge sonnen konnten. Auch hier war der Schein untadelhaft, ja bestechend. Aber in der Tiefe lauerte und wuchs das Unheil, bildete sich heimlich Verderbnis und Schwäche aus, die dann in der Stunde der Not und der Entscheidung furchtbar offenbar wurden. Aehnlich stand es während dieser Epoche auch mit dem deutschen Geiste, was den meisten noch mehr als der innere Verfall des Staates entgangen ist. Auf den äußeren Eindruck hin betrachtet kamen erst in jenen Jahrzehnten alle Wissenschaften in höchste Blüte. Ein wahrer Wetteifer hub an unter allen Zweigen der Wissenschaft, Jahr für Jahr mit neuen Leistungen aufzuwarten. Man konnte wähnen, ein wahrhaft goldenes Zeitalter des Geistes sei angebrochen. Blickte man aber schärfer hin, suchte man tiefer in den Gehalt und Ursprung jener Leistungen einzudringen, dann mußte man erkennen: s c h ö p f e r i s c h e Ideen wurden in diesem Zeitalter n i c h t mehr erzeugt. Was so glanzvoll erschien, so überschwänglich reich nach außen zu Tage trat, war nur der Ertrag, die Nach- und Auswirkung von Einsichten, Ideen, Methoden, die aus älteren Zeiten stammten. Eine starke Ernte wurde heimgebracht, aber gesäet wurde nicht mehr, neuer Ur18
boden nicht aufgepflügt. Grenzenlos wuchs die Zahl der Erkenntnisse, die Masse der Erfahrungen — es war das Zeitalter der Masse, man glaube es, auch im Geistigen! — die Zahl der Erkenntnisse stieg unaufhörlich. Aber das Urteil wurde nicht vertieft, der Zusammenhang der Erscheinungen nicht durchschaut, ja nicht einmal nach diesem Zusammenhange gefragt, geforscht. Die Erkenntnis ging ausschließlich in die Breite, nicht mehr in die Tiefe. Einheitliche, allverbindende, übergreifende Ideen, die die Fülle der Erscheinungen zu gliedern, zu deuten und so zu verwerten hätten, vermißte man, ja die waren streng verpönt, verbannt. Vergessen war der Ausspruch des griechischen Weisen Heraklit: „Vielwisserei bildet nicht den Geist." Ferne sei uns Ungerechtigkeit und Undankbarkeit gegen das überaus fleißige Zeitalter, das hinter uns liegt. Auch im Reiche des Geistes, wie in Verwaltung und Wirtschaft, ja im ganzen deutschen Leben war rührige, unermüdliche Arbeit der Stern des Tages. Aber es gibt noch etwas Höheres, Wertvolleres als Fleiß, zumal bei geistigen Aufgaben. Das ist jenes Unaussprechbare, das nur in seiner Wirkung erkennbar ist, das aber in seinem Entstehen und Werden noch niemand belauscht hat, das Schöpferische, die befreiende Idee, der Funke des Geistes, der mit einem Strahl ganze weite Reiche, die umhüllt und finster waren, durchleuchtet. Diese schöpferische G a b e und Leistung ist neben der fleißigen Arbeit dem Leben unentbehrlich. Ja dieses Aufblitzen ist die eigentlich zeugende Tat des Lebens. Freilich wie man das Entstehen schöpferischer Kräfte nicht verfolgen kann, so kann man sie auch nicht bewußt, künstlich erzeugen. Aber h e m m e n kann man ihre Entfaltung ungemein durch falsche Blickrichtung, die man dem Geiste gibt, und andere Widerstände, wie man umgekehrt die Vorbedingungen schöpferischer Arbeit auch außerordentlich fördern und so das Hervorquellen solcher Fähigkeiten begünstigen kann. In dieser Hinsicht aber hat das verflossene Zeitalter schwer gesündigt. Deshalb gab es kein Denken in die Tiefe mehr und darum mußte das gedankenlose, rein triebhafte Leben zuerst innerlich verarmen und verkümmern und dann auch äußerlich schmählich zusammenbrechen. 2*
19
Als ein unverlierbarer Besitz sind die zahlreichen und bedeutenden Werke des arbeitswilligen, unermüdlichen Zeitalters in den Haushalt der menschlichen Kultur aufgenommen worden, und keine Erkenntnis und Erfahrung, die gewonnen ward, wollen wir wieder preisgeben und fahren lassen. Wir wollen sie nicht entfernt in ihrem Wert bekritteln. Und diese musterhaft sorgfältige und gediegene Arbeit, eine Arbeit echter Meisterschaft, die vor allen Jahrhunderten in Ehren bestehen wird, soll keineswegs unterbrochen, abgebrochen werden, sie soll fortgesetzt neue Ergebnisse zu Tage fördern. Diese Leistungen sind unentbehrlich. Nur die reichste und vor allem nur die unbedingt zuverlässige, w i s s e n s c h a f t l i c h e Erfahrung kann dem menschlichen Leben eine feste Stütze bieten. Aber die schöpferische Idee darf dessenungeachtet nicht aus dem Lebensorganismus der Menschheit verbannt, darf nicht in ihrer Bedeutung verkannt werden. Das führt zu unabsehbaren Folgen und hat schon zu entsetzlichen Folgen geführt. Und ich sehe nicht ein, weshalb, das eine das andere ausschließen soll, warum nicht beide Bestrebungen und Aufgaben vereint, friedlich und einander fördernd, zusammenwirken sollen: die geduldige, hingebende Arbeit und das kühne Denken, die weltüberwindende Idee, die all die gesammelte, aufgestapelte Arbeit umgreift, verwertet, zu höheren Leistungen erhebt und ausschöpft. Man kann doch das eine tun, braucht aber darum das andere nicht zu lassen. Abseits von der emsigen, arbeitsamen Geschäftigkeit seiner Zeit lebte Nietzsche mit seinem stürmisch bewegten Herzen, seiner lodernden Geistesglut und suchte krampfhaft nach Ideen, die das vielgestaltige Leben mit der Fülle seiner Erscheinungen und Kräfte beherrschen, zügeln, ihm Richtmaß, Halt und Ziel geben und damit auch wieder Wert und Würde verleihen sollten. Sonst werde sich dieses Leben in sich selbst Verzehren und zerfleischen. Ich will nicht behaupten, daß Nietzsche Ideen von solcher Kraft und Tragweite hervorgebracht habe. Vielleicht hat er vergeblich um solche Ideen gerungen. Eine herbe Tragik umschwebt sein Leben. Aber den Geist seiner Zeit hat er klar durchschaut, die Gebrechen und Mängel s e i n e r z e i t hat er, erstaunlich hellsichtig, erkannt. Er wurde ein unerbittlicher Richter seiner Zeit. Die griechische Sage vom trojanischen Kriege erzählt, daß die Griechen, da sie in zehnjährigem Kampfe die 20
stolze Stadt nicht überwinden konnten, zum endgültigen Siege den wunderbaren Bogen des Helden Philoktet herbeiholen mußten, den sie ausgestoßen, krank auf einer Insel zurückgelassen hatten. Diesem kranken, verstoßenen Philoktet vergleicht sich Nietzsche. Halb gebrochenen Blickes, verstoßen und einsam, siech an Leib und Seele, ruft er seinen arglosen, wahnbefallenen Zeitgenossen hinüber: „Ohne meinen Bogen wird kein Ilion erobert." Ein unbändiger Stolz lebte in der Seele Nietzsches. Wir werden bescheidener an das nämliche große Werk herangehen. Auch Nietzsche war krank an seiner Zeit. Von der Dürftigkeit, dem Allzukleinen seiner Zeit enttäuscht, erbittert, gereizt, entflog sein Geist in unerreichbare Weiten. Entweder man entschlug sich in dieser Epoche des Denkens gänzlich, betete nur das Gegebene, das Wirkliche an, oder das Denken schweifte in nebelhafte Fernen aus. Der „Übermensch" und der „Zukunftsstaat" waren die beiden schwärmerisch die Zeit überfliegenden Ideen, die aber die Zeit nicht erlösen konnten, sondern nur von ihrer inneren Not und großen Sehnsucht Kunde gaben: das eine das Ideal des kühnen, hochgesinnten Einzelnen, das andere das Ideal der aufgeregten, in hitzige Wallung versetzten Massen, beide Ideale aber gleicherweise nur im Lande Utopien heimisch, weltenfern und unerringbar. Wir werden uns nicht der Erfahrung knechtisch beugen, werden die gegebene Tatsächlichkeit nicht blind verehren, werden nicht das Seiende, Gewordene und Überlieferte als ewiges und unabänderliches Gesetz versteinern. Wir werden uns aber auch andererseits nicht mit unseren Gedanken von dieser qualvollen Gegenwart in uferlose und unbetretbare Fernen treiben lassen. Anklammern werden wir uns mit allen Fasern und allen Organen an die Gegenwart, an das Seiende, Wirkliche, um nicht in die Wolken abgesprengt zu werden. Die ganze reiche Erfahrung der Menschheit, das Werk des von uns zu beerbenden Zeitalters, wollen wir nützen. Dessen Fleiß soll nicht umsonst gearbeitet haben. Dieser Erfahrung aber werden wir mit dem schöpferischen Gedanken, mit der bildenden, herrschaftlichen Macht des Geistes entgegentreten. Wir werden sie unter das Joch der Idee beugen. Sie soll vom Geiste die Gestalt empfangen, vom Geiste, der in seine Vormacht wieder 21
eintritt als der rechtmäßige Herr des Lebens. Nur mit dieser sieghaften Kraft des Geistes werden wir das Unheil, das uns bis zum Ersticken gepackt hat, erwürgen, das zerschlagene Leben wieder zusammenfügen und heilen können. Auf weitem Umwege habe ich den Leser zu unserer Aufgabe, unserer schweren Aufgabe zurückgeführt. Der kürzeste Weg ist nicht immer der sicherste. Auf den Seiten- und Umwegen sammelt man erst die Kenntnisse, gewinnt man die Einsichten, die zur Erreichung des Hauptzweckes von Nöten sind, hierzu ersprießliche Hilfe leisten können. Den Männern des reinen Geistes spricht man das Recht ab, zu den Bedrängnissen der Zeit Urteile abzugeben und Ratschläge zu erteilen. Wir n e h m e n uns dieses Recht, allen Vorurteilen der Zeit zum Trotz. Die Gefahr der Stunde läßt keine Bedenken mehr aufkommen. Wir erkennen ja, wohin die Männer der Tat, der „reinen Erfahrung" gelangt sind, wohin sie unser Volk getrieben haben. Heute gilt es wahrlich über den Augenblick hinaus denken, Menschen und Dinge im Innersten erfassen, Klarheit gewinnen, nicht nur über gestern und heute, sondern über die dauernden Gesetze des Menschenlebens und den ureigenen, unverbrüchlichen Charakter unseres Volkes, um ihm daraus seine Aufgabe zu bestimmen, seine Wege zu weisen. Wie ein Sturmwind muß der Geist daherfahren und die dichten, finsterdichten Nebel des Wahns zerstreuen. Nur die Sonne des Geistes kann in der schauervollen Umnachtung, die alle umwunden hält, wieder Licht verbreiten und mit dem Licht auch wieder Wärme und Kraft erzeugen. Es war erforderlich, die Grundsätze und Ziele, die diese Schrift hervorgerufen und in ihrem Wesen bestimmt haben, offen darzulegen und vorauszuschicken. Dieselben Grundsätze haben aber auch bereits den erwähnten ersten Teil des Gesamtwerkes beherrscht, an den ich einleitend anknüpfte und dessen Ertrag ich in die nunmehr zu leistende Arbeit herübernehmen wollte. Die Frage nach der Unparteilichkeit in der Beurteilung der verhängnisvollen, einzigartigen Lage unseres Volkes hatte diese ganze Kette von Erwägungen nach sich gezogen. Die Lage unseres Volkes ist in der Tat so verworren, so unsagbar schwierig und schier undurchdringlich, daß ein flüchtiger und oberflächlicher Ueberblick, ein Urteil nur auf den 22
ersten Eindruck und Schein hin niemals das Rätsel raten, den verschlungenen Knoten auflösen wird, noch weniger aber eine einseitige, voreingenommene, von gewissen Parteianschauungen ausgehende und zu solchen hinstrebende Betrachtungsweise. Nur p h i l o s o p h i s c h e Anschauungs- und Denkweise kann dieses Knäuel von Schicksalen und Verhängnissen, von Handlungen und Unterlassungen entwirren. Ich verstehe unter philosophischer Denkweise zunächst die möglichst umfassende, alle Tatsachen und Motive einschließende, alle Erscheinungen und Vorgänge in ihrer besonderen Bedeutsamkeit einordnende und verwertende Auffassung, eine Auffassung also, die alles gleichermaßen berücksichtigt, nichts einseitig heraustreibt, nichts abschätzig zurückdrängt, — das ist der w e i t e Blick der Philosophie — und zu zweit die Auffindung und Ergründung des Z u s a m m e n h a n g s all dieser Erscheinungen, wie sie untereinander verknüpft sind und in ihrer Verkettung, mit dem Ineinandergreifen ihrer Kräfte das Geschick unseres Volkes gestaltet haben — das ist der t i e f e Blick der Philosophie. Schon oben hatte ich kurz diese Verbindung der philosophischen Aufgaben angedeutet. Selbstverständlich ist diese Befähigung nicht notwendig an die berufsmäßige Ausübung philosophischen Denkens geknüpft. Der Politiker von Fach, der Historiker, der Volkswirtschaftler und schließlich ein j e d e r kann sie haben, obschon die berufsmäßige Vorbildung zur Erringung einer solchen Befähigung zur Objektivität, zu unbestechlicher Unparteilichkeit und eindringlicher Gründlichkeit, die auf die inneren und geheimen Zusammenhänge abzielt, in ihrem Werte nicht unterschätzt werden darf. Jedenfalls philosophischer G e i s t ist erforderlich und geboten für jedweden, der nur die Aufgabe der Entwirrung unserer Lage und unseres Schicksals angreifen will. Diese Bedingung ist auch bereits für die Beurteilung der Vorgeschichte des Krieges unerläßlich, jener Zeiten, da im stillen Werden, wie aus geheimem Mutterschoß, das ungeheure Geschehen hervorsproß, das uns diese heillose Lage, diese unbeschreibliche Auflösung gebracht hat. Dies war die Stelle, da ich in meiner Darstellung abbog, bei der Forderung der Unparteilichkeit, die jene Ereignisse allein in ihrem wahren Charakter zeichnen kann. Von dieser Forderung wurde ich zur Ausführung über die Aufgabe und Bedeutung der Philosophie 23
überhaupt in dieser drangsalreichen Zeit geführt, wie gefährlich es ist und geworden ist, den Geist zu verachten, den Geist setner höchsten Aufgabe untreu zu machen. Ich kehre nunmehr zu jener entscheidenden Vorgeschichte oder deren Auffassung und Beurteilung zurück, auf der wir fußen müssen. Bedeutungsschwer sondergleichen ist die Frage nach der Vorgeschichte des Krieges. Denn sie birgt die Entscheidung über Schuld oder Unschuld des deutschen Volkes am Ausbruch dieses verhängnisvollsten aller Völkerschicksale in sich. Und was Schuld oder Unschuld für die Wiedergenesung und Erneuerung unseres Volkes bedeuten, was das eine oder andere in die Wagschale des Todes oder der Wiederauferstehung zu werfen haben, ist oben von mir beantwortet worden. Nur wenn das deutsche Volk — das hatten wir erkannt — mit völlig reinem Gewissen auf jene entscheidungsschwangere Zeit zurückblicken, in dem völlig unerschütterlichen Gefühl der Unschuld ruhen kann, nur dann kann es seine zerstörten Kräfte wieder sammeln und ein neues Leben beginnen. D a s r e i n e G e w i s s e n i s t die s t ä r k s t e M a c h t auf Erden. Alle aber, die dem deutschen Volke das Mal der Schuld am Kriege aufbrennen wollen, sind, wenn auch wider Wissen und Willen, die Totengräber des deutschen Volkes. Denn was weiß unsere armselige Zeit, die ganz in der Schätzung und Oberschätzung der äußeren Lebensgüter auf- tuid untergeht, was weiß sie von der überwältigenden, alles überragenden Bedeutung der sittlichen Mächte! Rechnet ihr nur immer zusammen, was dem deutschen Volke noch an greifbaren und sichtbaren Werten zur Verfügung steht, seine Volkszahl, seine Erdschätze und was dergleichen mehr ist. Wenn ihr den Geist und die Seele vergeßt, die mit diesen Schätzen schaffen und schalten sollen, dann verrechnet ihr euch! Und ihr verrechnet euch nochmals, wenn ihr diesen Geist nur als die Wirksamkeit des Verstandes begreift. Der sittliche Charakter ist der Träger der Stärke dieses Geistes. Dieser Geist ist in der Wurzel angefault, ist rettungslos siech und unheilbar zerstört, wenn ihm die sittliche Unschuld fehlt, ihm das gute Gewissen zermürbt ist. Dann muß jede Hoffnung auf Wiedergeburt und neue Kraft versinken. Darum stäupt alle aus der Regierung heraus, entreißt allen die Verantwortung für
24
das deutsche Leben, die noch von der Schuld Deutschlands am Kriege zu sprechen sich unterfangen, sich nicht entblöden! Allerdings halten uns die Betreffenden, die Deutschland die Schuld am Kriege zuschreiben, entgegen: sie meinten ja garnicht das g a n z e deutsche Volk. Im Gegenteil, das Volk als solches sei auch nach ihrer Auffassung am Ausbruch und Verlauf des Krieges völlig unschuldig und unbeteiligt. Dies eben sei die Einsicht, die man mit Entsetzen habe erlangen müssen, daß das Volk in seiner Gesamtheit schmählich von den Regierenden hintergangen und betrogen worden sei. Wenn sie von der Schuld Deutschlands am Kriege sprächen, so meinten sie nur die verantwortliche, regierende Schicht, die sich dieses unerhörten Verbrechens schuldig gemacht, das deutsche Volk in unermeßliches Elend geschleudert habe. Indessen allen, die so urteilen, erwidere ich: man muß wissen, daß ein Volk eine E i n h e i t ist, daß eine derartige Zerreißung eines Volkes in eine verantwortliche und unverantwortliche, eine schuldige und unschuldige Schicht gänzlich undurchführbar ist. Ein Volk gilt nun einmal vor der Geschichte, vor dem Auslande und vor sich selbst als eine unteilbare Einheit. In seinem Wirken nach außen hin wird es immer von dem gesamten Auslande, von Freund und Feind, als eine geschlossene Einheit, die aus e i n e m Willen handelt, empfunden und aufgenommen werden, als eine Einheit, die auch die ganze Last der Verantwortung für alle Von diesem einheitlichen Volkswillen ausgehehenden Handlungen zu tragen hat. Darin liegt der schwere, schlimme, wahrhaft naturwidrige Fehler der demokratischen Auffassung, soweit sie dem unbedingten Internationalismus huldigt — die Vernunft, die Überlegung hat hier der Natur, der Wahrheit zu trotzen gesucht, vergeblich, sie muß an diesem Trotze scheitern — darin liegt der schwere Fehler unserer internationalen Demokratie, daß sie meint, sich gleichsam aus dem eigenen Volke loslösen, aus diesem Verbände wenigstens mit Gesinnung und Ideal ausscheiden und ein n ä h e r e s Band mit Volksschichten anderer Völker knüpfen zu können. Das ist ein törichter Wahn, dem die Natur selbst den Garaus macht. Gleich als ob man sich von seiner Familie tatsächlich losreißen könnte! Man Wird immer ein Glied des natürlichen Stammes bleiben, dem man 25
entsprossen ist, selbst wenn man sich mit Händen und Füßen dagegen sträubt. Die Natur läßt sich nicht vergewaltigen. Dies ist der größte Vorwurf, der der streng international gerichteten Demokratie zu machen ist: s i e h a t k e i n e n F a m i l i e n g e i s t . Denn Volksgeist ist dasselbe wie Familiengeist, nur auf einer höheren Stufe. Wo sind denn die außerdeutschen Volkskreise, die Anhänger des Internationalismus bei den anderen Staaten und Völkern, die da herkommen und unsere Internationalisten liebend umarmen? Bis auf einzelne verlaufene Sonderlinge sehe und finde ich sie nicht. Im Gegenteil, die Demokratieen in der ganzen Welt jubeln und höhnen, daß das deutsche Volk, seine Internationalisten mit eingeschlossen, daß das g a n z e deutsche Volk ohne jeden Abzug und Ausnahme aufgerieben und zerschunden wird. Unsere Internationalisten werden in dieses Hochgericht und diese Strafe gelassen mit hineingenommen. Und wenn sie sich selbst tausendmal innerlich vom deutschen Volke lossagen, das deutsche Volk als solches mit Hohn und Spott und Unrat nicht genug übergießen können, sie selbst gehören dennoch für immer mit zu diesem argen Volke, sie werden in Leid und Lust, mit Heil und Unheil stets mit dem Schicksal des deutschen Volkes verkettet bleiben. Die Natur ist stärker als Menschenwille, zwingt jeden immer wieder in seine natürliche Lebensordnung, an seine Lebensstelle zurück. Dagegen gibt es kein Auflehnen. Ihre Macht ist unbeschränkt. Wer um Liebe fleht und bettelt, findet sie nicht. Wer knechtisch und feige sich anderen an den Hals wirft, wird abgeschleudert und mit Füßen getreten, wie es dem jammervoll, mit allen Brusttönen klagenden und werbenden Deutschland geschieht. Nur der Starke, Aufrechte, Stolze, der Würde wahrt, stößt auf Liebe, wird gesucht und umworben. Er braucht deshalb die eigene Kraft nicht zu mißbrauchen, nicht bei jeder kleinen Reizung loszuschlagen. Damit dürfte er gleichfalls schwerlich Liebe gewinnen. Daß die Menschen nur immer in Extremen denken und handeln! Würde, Selbstbewußtsein auf der einen Seite, Liebe und Anschluß nach außen müssen verbunden werden und sind auch verbindbar bei echter Lebenskunst. Aber allerdings wer weiß heute, daß das Leben eine K u n s t ist und nun gar das Leben der großen Völker untereinander! Dieses Leben zu regeln, es erfreulich und heilsam, gerecht und 26
dauerhaft zu gestalten, ist Sache allerhöchster, allerfeinster Kunst. Wieviel plumpe Hände greifen heute danach! Haben die berufenen Künstler, die Diplomaten, an der Schwierigkeit dieser Aufgabe scheitern müssen und ihr Ansehen eingebüßt, glaubt man, daß die groben Fäuste von jedermann, die Massenleidenschaften und Massenwünsche diese allerfeinste, unzugänglichste Kunst bemeistern werden? Doch zurück zur Frage nach der Schuld oder Unschuld des deutschen Volkes. Es scheint, ich ziehe die Folgerungen aus der Annahme der Unschuld, bevor der Nachweis dieser Tatsache erbracht worden ist. Indessen, ich berufe mich auf meine Darstellung in den betreffenden Abschnitten der „Erkenntnis" ersten Teiles, den ich für diese Schrift voraussetze, wo dieser Nachweis nach meinem Dafürhalten mit voller Strenge geführt worden ist. Allerdings, im Allgemeinen haben die Fachkreise, die Politiker von Beruf von allen Parteien und Schattierungen, mit wenig Ausnahmen, mein Buch „Erkenntnis" und die darin enthaltenen Darstellungen überhaupt nicht der Beachtung gewürdigt. Bis auf einzelne Fälle hat die Presse über mein Buch tiefstes Schweigen gewahrt. Und dennoch hat es überraschend schnelle und weite Verbreitung gefunden, es hat sich gleichsam unterirdisch seinen Weg gebahnt — für mich ein Zeichen, daß der Tag graut, daß die Götterdämmerung des politischen Dogmas anhebt. Wenn die Philosophie die Befugnis und den Beruf erhalten soll, auch über Probleme der Gegenwart, des unmittelbaren Lebens der Menschen Einsichten zu gewinnen und Urteile zu fällen — dieses Recht und diese Pflicht wird man ihr nicht abstreiten können, man wird sie im Gegenteil aus der Fülle der Not immer leidenschaftlicher zu dieser Aufgabe herbeirufen als letzte Hilfe — dann kann sie unmöglich die überkommenen Parteiansichten irgend welcher Art, die Anschauungen, die gang und gäbe sind, nur einfach hinnehmen. Dann wäre ihre ganze Arbeit überflüssig, hinfällig. Gerade darin muß sie sich bewähren, in ihrem Recht und ihrem Beruf ausweisen, daß sie diese geläufigen Ansichten durchbricht, daß sie durch diese Begriffe und Vorstellungen sich gleichsam hindurchwindet, um zur Wahrheit zu gelangen. Sie soll einen Standort erobern, frei und erhaben über die wogenden Nebel dieser unklaren, einseitigen, verworrenen und verschwommenen 27
Anschauungen, Absichten, Pläne. Wenn in diesen wirklich Wahrheit enthalten gewesen Wäre, so hätten sie doch das Leben zu einer glücklicheren Gestaltung führen müssen. Denn aus der Wahrheit quillt Segen. Ich erblicke aber überall nur Unsegen. So müssen — das weiß der Philosoph im Voraus, „a priori" jiach der Gelehrtensprache — allerschwerste Irrtümer über diesem Leben gewaltef haben. Sonst wäre es nicht so traurig zerfallen und zerstoben. Nachdem aber dies Entsetzliche geschehen ist, haben wir a l l e n Grund, an a l l e m zu zweifeln, a l l e m mit dem größten Mißtrauen zu begegnen, was uns nur als Heilslehren, als politische Offenbarungen und Wahrheiten so laut entgegentönt, uns auf allen Gassen entgegenposaunt wird. Alles, was wir dort hören, sind doch alte, abgeleierte Lieder, Meinungen, die wir nun schon jahrzehntelang vernehmen, die, kaum merklich von dem ungeheuren Umschwung aller Lebenszustände und Umstände berührt, nach wie vor gänzlich unerändert geblieben sind, sich uns noch immerfort in der gleichen Weise, als ob garnichts vorgefallen wäre, anpreisen. Wohl sind alle äußeren Verhältnisse umgestürzt worden, aber wahrlich nicht durch kühne, bewundernswerte, hochgesinnte, von neuen Gedanken eingegebene und geleitete Taten wie in früheren Revolutionen. Die vermorschten Gebilde unseres Volkskörpers sind gleichsam von selbst, ohne bewußtes, gewolltes Zutun und Handeln der Menschen geborsten und in sich zusammengebrochen. Daher sind denn auch die Anschauungen und Begriffe, Ziele und Pläne, Ideale und Bestrebungen der Menschen aus diesem äußerlichen Zusammenbruch aller Dinge gänzlich unverändert hervorgegangen. Von einer Revolutionierung der Geister ist nichts zu spüren. Hilfslos hat man das alte Gebäude des Lebens zusammensinken sehen. Hilfslos steht man vor den Trümmern. Als erstes rate ich allen, die dem schweren Verhängnis unseres Volkes nicht gleichgültig oder verzweifelt gegenüberstehen wollen, sondern auf Besserung sinnen, sich den g r o ß e n Z w e i f e l anzueigenen. Die Zertrümmerung unseres Lebens muß notwendig den Verdacht gegen alle noch so laut und hochgepriesenen Weisheiten erregen, die doch dieses Leben nicht haben sichern können. Es sollte jedem klar sein: so neuartig, unübersichtlich, verwirrend ist unser Zustand, daß ihm ein nur 28
überkommenes, bekanntes, also erborgtes Denken unmöglich beikommen kann. Nur ursprüngliches, echtes Denken, ebenso echt und schöpferisch wie unsere Lage neu, unvergleichlich und überraschend ist, kann die Verfahrenheit und Undurchdringlichkeit unserer Zustände aufheben, kann uns wieder freie Luft und Atem schaffen. Machtlos muß alles abgeleitete Denken an dieser Schwierigkeit abprallen. Ganz unbefangen, unvoreingenommen, offen und empfänglich müssen wir vor die Dinge, die wir gestalten sollen, hintreten, müssen sie auf uns wirken lassen, als ob wir nie eine Lösung für ähnliche Aufgaben und Nöte, gekannt und erfahren hätten. Denn diese unsere Not ist unvergleichbar, so muß auch alles bisherige Wissen an ihr zergehen und versagen. In dem Mut und der Fähigkeit zu solcher Unbefangenheit, Unabhängigkeit, Echtheit und Kraft im Urteilen ist vornehmlich der philosophische Geist zu erblicken, darin ist er zu suchen, den ich als Heilmittel für unsere Zeit empfehle und fordere. Mit dieser Abschüttlung aller geistigen Gebundenheit haben wir den Anfang zu machen, den ersten Schritt zu diesem philosophischen Geiste hin zu tun. Gelingt uns dieser erste Schritt nicht, so ist alles weitere Mühen umsonst und nichtig. Den unbedingten Zweifel hat einer der größten Denker, der französische Philosoph Descartes, an der Schwelle der Neuzeit als die Quelle der Philosophie bezeichnet. Von der theoretischen Philosophie müssen wir zur praktischen Philosophie den bedeutungsvollen Schritt tun, da das leidende Leben nach dem geistigen Arzt verlangt. S o muß auch bei diesem Werk der Erkenntnis der große, allgemeine Zweifel den Anfang machen. Du willst ein Sohn der Revolution sein, ihr Mitkämpfer. Und teilnehmende Zeugen der revolutionären Umwälzung sind wir doch alle geworden. Ich sage dir: m a c h e m i t d e r R e v o l u t i o n b e i d i r s e l b s t d e n A n f a n g , empöre dich wider den schlimmsten, gefährlichsten Gewalthaber, den Tyrannen in deiner eigenen Brust. Dies aber ist dein Glaube, dein Parteidogma, deine feste, voreingenommene Meinung, dein Wissen, dein e i n g e b i l d e t e s Wissen, nicht dein Urteil, sondern dein V o r u r t e i l ! Du hast ja geurteilt, ehe du noch die gegenwärtigen Dinge kanntest, geschweige sie betrachtet, durchschaut hattest! Du schleppst ja dein Urteil von gestern und ehegestern mit dir herum, das entstand, ehe noch der Sturm kam und alle Dinge
29
umwarf! Nun Sind alle Dinge verwandelt. Dein Urteil aber soll das gleiche bleiben? Ein anderer großer Philosoph, der eigentliche Begründer der Philosophie überhaupt, der Grieche Sokrates, hat das Bekenntnis des Nichtwissens — „ich weiß, daß ich nichts weiß" — für den Ursprung der Philosophie, für den Anfang aller Weisheit erklärt. Zu diesem philosophischen Geiste rufe ich die Zeitgenossen auf! Legt alle vorgefaßten Meinungen ab, schneidet die liebgewordenen, teuersten Vorstellungen erbarmungslos aus, so hart es euch ankommen mag, und zwar in allen Lagern, unter allen Parteien und Volksschichten, ich nehme keine Gruppe aus. Habet den Mut n i c h t s zu wissen! Der ungeheure Ernst derZeit erheischt es, sie verlangt wirklich f r e i e Geister, die es nicht nur zu sein s c h e i n e n , es sich nicht nur einreden, sondern s i n d , weil sie jedem Vorurteil abgeschworen haben. Spöttisch hatte ich zuvor Von dem „Volk der Denker" gesprochen. Jetzt meine ich es in vollem, schwerem Ernst, wenn ich sage, daß wir ein Volk, e i n g a n z e s V o l k v o n D e n k e r n werden müssen, wenn wir die unüberschätzbare Gefahr der Stunde niederzwingen, Heil und Befreiung erringen wollen. Mit redlichem Bemühen und nicht ohne lange Vorschule habe ich in diesem Wunsche und Sinne meine Aufgabe angefaßt. Deshalb grämt und verwirrt es mich nicht, daß im Allgemeinen die Tagespresse, die politischen Parteien mein Buch unbeachtet gelassen haben, um so weniger, da das Werk sich trotzdem siegreich durchgesetzt hat. Im Gegenteil, ich erblicke in diesem Verhalten ein deutliches Kennzeichen, daß ich aus der Sache selbst heraus, keiner vorgefaßten Parteistellung zuliebe die Verhältnisse geschildert habe. Ist es nicht seltsam, daß im gegenwärtigen Deutschland, wo doch alles Wirkliche, das Leben in allen Gestalten mächtig im Flusse ist, wo alles gärt und wallt und zischt, d i e G e d a n k e n so unbeweglich geblieben, so eigentümlich verfestigt und steinern sind? Es gewinnt den Anschein, als ob man überhaupt nicht mehr nach Wahrheit s t r e b e , s u c h e . Man h a t sie anscheinend bereits, obwohl doch niemals die Dinge selbst in so wildem Aufruhr waren, obwohl doch die Fragen der Gegenwart sich schaurig genug in ihrer Gewalt vor uns auftürmen. Ist nicht wahr, nicht offenbar geworden — jetzt sollte es jeder sehen! — was Nietzsche seiner ahnungslosen, 30
unbesorgten Zeit zurief: „O meine Brüder, ist jetzt nicht alles im F l u s s e ? Sind nicht alle Geländer und S t e g e ins W a s s e r gefallen? . . . W e h e uns, Heil uns, der Tauwind weht!" Man muß staunen, wie leicht, wie l e i c h t f e r t i g die gegenwärtigen Deutschen und diejenigen unter ihnen, denen die Führung anvertraut ist, nicht am wenigsten, über diese unermeßlich schweren Fragen mit den Mitteln alter, verblaßter Parteidogmen hinwegzukommen meinen. D i e s e geistige Verschlafenheit müssen wir aufstören. Haben die herrschenden Meinungen oder deren Vertreter den rückschauenden Teil meiner Arbeit, der Krieg und Vorgeschichte des Krieges behandelt, beiseite schieben können, das vorliegende Buch werden sie nicht in gleicher W e i s e mit erhabener M i e n e abwehren können. Denn hier stelle ich bestimmte Forderungen auf, ganz bestimmte Vorschläge zur Gestaltung des politischen und geistigen Daseins Deutschlands werden von mir geboten, die ein Eingehen, ein Urteil unbedingt erzwingen werden. Und wenn ich nicht mehr erreichte, als daß die ernsthafte und gründliche Erörterung der großen Fragen unseres Volkslebens nur b e g i n n t , daß das schablonenhafte, in sich fertige und darum unfruchtbare Denken in seinem Selbstvertrauen erschüttert wird, daß die Revolutionierung des G e i s t e s einsetzt, so würde ich mich dadurch schon völlig belohnt fühlen. Um endlich diese Vorbetrachtungen über die Schuldfrage zum Abschluß zu bringen, so ist das Ergebnis, auf dem ich fuße, auf das ich den Aufbau der nachfolgenden Erwägungen und Gedanken stütze, die Einsicht, daß wir zu unterscheiden haben zwischen Fehler und Schuld. Alle F e h l e r in der Politik der letzten Jahrzehnte liegen auf deutscher Seite. Unbegreiflich ist, wie die leitenden Männer, aber nicht nur diese, sondern auch alle anderen politischen Mächte in Deutschland, Parteien, öffentliche Meinung, Bundesstaaten, ja das ganze deutsche Volk die schwerwiegendsten Fehler, geradezu elementare Fehler, die in der einfachsten politischen Vorschule schon gekannt, gewußt sein sollten, begangen oder geduldet haben. Man steht vor dieser Erscheinung wie vor einem unfaßlichen Rätsel. Daß es uns Deutschen überhaupt an Geist fehle, ist unrichtig, kann niemand ernsthaft behaupten. Und wenn ich an der Geistigkeit der letzten Jahrzehnte mancherlei gerügt habe, so berührt das nicht die dauernde, allgemeine Anlage und Beschaffenheit unseres 31
Geistes. Gerade der reiche und tiefe Geist beweist sich oft im tätigen, unmittelbaren Leben, das Entscheidungen im Augenblick und für den Augenblick fordert, unklug und ungeschickt. Versonnen, verträumt, vertieft vermag er nicht zu handeln, greift er im Nächsten auf Schritt und Tritt fehl. Die anderen Völker und unsere Feinde zumal können sich meiner festen Überzeugung nach an Reichtum und Tiefe des Geistes nicht entfernt mit uns messen. Aber klug sind sie, ungemein klug für die bestimmten, jeweils sich aufdrängenden Lebensfragen und Tagesaufgaben. Geist und Klugheit sind nicht dasselbe. Klugheit ist nur eine bestimmte Art von Geist. Viele, die diesen Unterschied erfaßt haben und die Lebensklugheit, die Geschicklichkeit im Handeln und Beherrschen des Augenblicks am Charakter des deutschen Volkes vermissen, sprechen ihm deshalb dauernd und für immer die politische Begabung ab. Denn Politik ist wesentlich diese Klugheit von Fall zu Fall. Sie meinen, diese politische Befähigung habe dem deutschen Volk von jeher gefehlt und werde ihm immer fehlen. Und sie ziehen daraus den scheinbar naheliegenden, verzweifelten Schluß, daß wir Deutsche ein für allemal auf eine politische Rolle in der Weltgeschichte zu Verzichten hätten. So ungeheuer hat das Schicksal und der Ausgang des Krieges auf sie gewirkt, daß sie aus dieser herben Erfahrung heraus dem deutschen Volke jede politische Zukunft absprechen. Auf anderen, ihm gemäßeren Gebieten solle das deutsche Volk seine Betätigung suchen, seine Leistungskraft üben. Ich kann diese trostlose Folgerung aus dem Mißerfolge dieses Krieges und der ihm vorausgegangenen Politik nicht ziehen, kann sie nicht als berechtigt anerkennen. Haben wir es hier schlimm verfehlt, so haben wir es künftig besser zu machen. Gerade die Mittel und Wege zu kennzeichnen, mit Hilfe deren wir uns aus einem völlig unpolitischen zu einem politischen Volke umwandeln, umerziehen können, ist ein Hauptziel dieses Buches: abgesehen übrigens von der Frage, ob es für ein großes zahlreiches Volk überhaupt m ö g l i c h ist, politisch abzudanken und seine Kräfte völlig auf ändere menschliche Wirkungsgebiete zu werfen, ob wir nicht immerdar durch die Verflechtung aller Völkerverhältnisse in unserem Erdteil irgendwie zu Politik, ob wir wollen oder nicht, g e z w u n g e n werden, sodaß uns nur die Wahl bleibt, w e l c h e Politik, ob 32
gute oder schlechte, feige oder tapfere, wir befolgen wollen. Auch der empfohlene Grundsatz, ganz auf Politik zu verzichten, ist Politik. Nur ist es die Politik unserer F e i n d e . Es ist der geistige Zustand, die Wiliensrichtung, die s i e uns wünschen, s i e uns auferlegen wollen. Es bedeutet nichts geringeres als das Sklavendasein, das sie über uns verhängt haben, anerkennen, sich diesem Verhängnis willenlos beugen. Es heißt das Todesurteil, das sie über uns ausgesprochen haben, selbst unterzeichnen und durch den schmählichsten Geist der Unterwürfigkeit noch nachträglich rechtfertigen. Diese Gesinnung ist der Ausfluß der sittlichen Gebrochenheit, der Willensschwäche, die das zeitliche Übel unseres Volkes in ein dauerndes zu verwandeln droht. Ich betrachte es als eine wahrhaft h e i l i g e Aufgabe, dieser verächtlichen Schwäche entgegenzuwirken, dem deutschen Volk das Selbstvertrauen in sein Recht und seine Kraft zurückzugewinnen, dieses Vertrauen wieder anzufachen und zu beleben. Dieses Verhalten, der Verzicht auf eine bessere Zukunft wäre berechtigt, wäre wenigstens als Folge unabwendbar, wenn wirklich die Schuldlast am Kriege auf unserem Gewissen ruhte. Die Tatsache, die von mir garnicht bezweifelt Wird, die ich im Gegenteil aufs schärfste herausgehoben, mit allen Mitteln der Darstellung in hellstes Licht gerückt habe, daß nämlich die gröbsten und unverzeihlichsten Fehler in der auswärtigen Politik während der letzten Jahrzehnte vom deutschen Volk begangen worden sind — ich sage absichtlich vom deutschen V o l k , da die Gesamtheit dafür verantwortlich zu machen ist — diese Tatsache verführt das oberflächliche und schnelle, das alltägliche Denken immer wieder zu der irrigen Meinung, daß wir damit auch die Schuld am Kriege trügen. Die F e h l e r sind unsere. Die S c h u l d aber, die ganze Schuld liegt auf Seite unserer Feinde. D e n n d i e S c h u l d i s t d o r t , w o d e r W i l l e z u r V e r n i c h t u n g ist. Das deutsche Volk hatte sich in kürzester Zeit aus einem Zustande völliger Ohnmacht und Zersplitterung zu achtunggebietender Stärke, die sich auf der endlich gewonnenen Einheit gründete, emporgeschwungen. Es begehrte nichts als das allen anderen europäischen Völkern als selbstverständlich zugebilligte Recht des nationalen Daseins, seine nationalen Kräfte 8
33
zu entfalten. An einen Umsturz der europäischen Verhältnisse hat es nie gedacht. Nur bei Erschließung und Kultivierung der außereuropäischen Länder verlangte es spät, sehr spät, nachdem sich schon alle Großmächte an dem reichen Tische niedergelassen und ausgebreitet hatten, seinen Anteil, den bekannten „Platz an der Sonne". Das aber, wie der gesamte Aufstieg, ja schon die bloße Entstehung der deutschen Großmacht ward den älteren, schon gefestigten Großmächten ein Greuel, ein Stein des Anstoßes, zumal mit dieser politischen Erhebung ein staunenswerter wirtschaftlicher Aufschwung verbunden war. Als ein höchst unwillkommener, unerwünschter Neuling erschien Deutschland im Kreise der vom Alter geheiligten Großmächte, die sich als die einzig berechtigten Herren des Planeten betrachteten. Was wollte in diesem ehrwürdigen Kreis der Eindringling? S i e bildeten einen leidenschaftlichen, erst in der Stille/genährten, dann offen ausbrechenden, alle insgesamt vereinigenden Willen zur Vernichtung gegenüber Deutschland aus, den sie dann auch in fürchterliche Tat umzusetzen wußten. Deutschland ist allein der Vorwurf zu machen, daß es diesem Vernichtungswillen nicht klug genug vorzubeugen, ihm nicht geschickt auszuweichen verstand. Von Schuld aber auf Deutschlands Seite ist keine Spur zu finden. Von einer kriegslüsternen „Militärpartei" in Deutschland vor dem Kriege zu fabeln, ist eine Sinnlosigkeit, was ich klipp und klar ausspreche, so unerhört für demokratische Leser diese meine Behauptung auch klingen mag. Bei der Darstellung unserer inneren Politik komme ich darauf zurück. J e t z t freilich, nach dem Ausgange des Krieges gibt es bei uns in der Tat eine „Militärpartei", nachdem ein großer Teil unseres Volkes im Bunde mit den Feinden unsere militärische Macht zersetzt und zerstört hat und sich fortgesetzt dieser Heldentat rühmt. Bei den heutigen Weltverhältnissen verkörpert nun einmal nach wie vor die militärische Stärke eines Volkes dessen Wert, Würde und Freiheit. Der „Völkerbund" hat vorläufig nicht das Geringste daran geändert. Innerhalb der Entente unserer Feinde selbst bildet die militärische Macht den einzigen Maßstab der Geltung der einzelnen Völker in dieser Gemeinschaft. Von einer Ausschaltung der militärischen Macht durch Abrüstung ist bei diesen Völkern nichts zu bemerken. Im Gegenteil, sie suchen inner-
34
halb dieses Kreises und trotz ihres Bundes in wechselseitigem Wetteifer die militärische Macht nur noch weiter zu steigern und damit ihre Geltungskraft im „Bunde" zu erhöhen. Unter diesen Umständen ausschließlich in Deutschland die militärische Stärke, das Militär schlechthin verwerfen und verfehmen, wirkt wie Dolchstöße in das Herz des Volkes, und solange dieses Herz noch ein ganz schwaches Leben hat, noch nicht gänzlich aufgehört hat zu schlagen, wird es immer wieder gegen dieses selbstmörderische Beginnen aufflackern und aufflammen. V o r dem Kriege und w ä h r e n d des Krieges, als die militärische Stärke von der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit des Volkes getragen war, gab es gar keinen Anlaß zur Bildung einer „Militärpartei". Es gab den Gegensatz zwischen aristokratischer und demokratischer Staatsauffassung und gibt es noch. Es war s e h r k l u g von der aristokratischen Staatsauffassung die militärische Stärke zu bejahen und zu befördern — dadurch allein hat sie sich so lange am Ruder gehalten — und es war s e h r u n k l u g von der Demokratie, da nun einmal die Weltverhältnisse die militärische Machtstellung geboten, es n i c h t zu tun. Darauf beruhte ihre jahrzehntelange Ohnmacht, weil sie mit dieser Bestrebung gegen ein unabänderliches, notwendiges Lebensgesetz der Nation verstieß. Und wenn die Demokratie die Führung der deutschen Geschicke nicht nur im Augenblick, für diese Zeit der Verwirrung und Verworrenheit, sondern dauernd innehaben und behaupten will, was ich aufrichtig wünsche und hoffe, dann wird sie in dieser Frage gänzlich anderen Sinnes werden, wird sie völlig umlernen müssen. Aus der bloßen Tatsache, daß Deutschland vor dem Kriege die militärische Macht unterhielt, wie es die andern Staaten auch taten und noch tun, a u c h im Völkerbunde, aus dieser Tatsache auf die Schuld Deutschlands am Weltkriege zu schließen, ist eine Voreiligkeit im Urteil ohnegleichen, eine Ungerechtigkeit, für die es kein Verzeihen gibt. E s mag den Leser Wunder nehmen, daß ich die Unschuld Deutschlands immer wieder so eindringlich und nachhaltig beteure. Aber diese Wahrheit kann gar nicht oft und kräftig genug in die Geister hineingehämmert werden, hängt doch hieran nichts geringeres als Deutschlands Wiederauferstehen. Ich sehe wenigstens keinen anderen Weg, die notwendige Voraussetzung
3*
35
für erfolgreiche politische Arbeit, ffir mutiges und entschlossenes Zugreifen und Angreifen der uns vom Schicksal bestimmten Aufgaben zu schaffen, als daß erst diese Ueberzeugung den unbestrittenen Sieg in unserem Volk errungen hat. Diese Wahrheit ist mit Macht in unsere Zeit hinauszurufen. Der Geist unseres Volkes ist derart umsponnen von festen, erstarrten Meinungen, wie eine harte Kruste haben sich diese Meinungen über die Seele unseres Volkes gelagert, daß a l l e s aufgeboten werden muß, diese Fesselung zu zersprengen. Was inzwischen, seit dem Erscheinen des ersten Teiles dieses Werkes, an neuen Tatsachen aus der dem Ausbruch des Krieges vorausgegangenen Zeit bekannt geworden ist, worauf ich zur Befestigung meines Urteils mit einem Worte eingehen muß, hat das Gesamturteil über diese Epoche, die Haltung Deutschlands und die Stellung der anderen Mächte unserem Volk gegenüber, wie ich es vorgetragen und begründet habe, in keiner Weise beeinflussen oder verschieben können. Deutschlands Unschuld am Ausbruch des Weltbrandes bleibt davon unberührt. Deutschland arbeitete, arbeitete unentwegt. Das war seine einzige Schuld. Deshalb glomm erst zaghaft und heimlich, loderte aber bald mit immer wachsender Glut ein unsäglicher Haß in der ganzen Welt gegen unser Volk empor und zwar nur, w e i l wir arbeiteten, weil wir durch wunderbare Disziplin und Erziehung ein schaffensfreudiges, leistungsfähiges Volk geworden waren, wie es die Geschichte noch nicht gesehen hatte. An dieser einfachen, entscheidenden, grundlegenden Tatsache ist nicht zu rütteln und zu deuteln. Sie wird auch der wildeste Parteihaß in unserem zerrissenen Volke nicht umstoßen können, wie ja immer das Gute und Tüchtige, das Aufwärtsführende im Leben gehaßt und befehdet wird. So geschieht es im Einzelleben und so nicht anders im Völkerleben. Um unseres B e s t e n willen haben wir den unersättlichen Haß der ganzen Welt geerntet, die das neue Lebensprinzip, das wir in die Welt brachten, unseren Arbeits- und Pflichtgeist, nicht annehmen wollte. Es graute sie vor der Kraftanspannung, die das deutsche Leben verkörperte, mit dem zu wetteifern der übrigen Welt lästig fiel. Lieber den unbequemen Arbeiter erschlagen, das erschien leichter. Unsere Schwächen, Unzulänglichkeiten, Fehler, an denen es gewiß nicht gebrach, gaben nur 36
die klug benützten Vorhände ab für die Ermordung und Erdrosselung unseres eigensten Lebensgeistes. Der Haß auf diesen war der Nährboden, der wahre Urquell und damit die eigentliche U r s a c h e des Weltkrieges. Alles andere war nur Beiwerk, Zufall, Vorspiegelung. So wird dereinst aus weiter Vogelschau die Geschichte diese furchtbare Zeit betrachten. Dieses allgemeine Bild der Vorgeschichte unseres Elendes, die man erst ganz begriffen, in ihrer ganzen Unsittlichkeit und Grauenhaftigkeit in sich aufgenommen haben muß, um u n e r m e ß l i c h e K r ä f t e z u r W i e d e r e r h e b u n g zu g e w i n n e n , dieses Bild wird durch keine der neuerfahrenen Tatsachen verändert, auch nicht durch die wichtigste, das Bündnisangebot Englands an Deutschland unter der Kanzlerschaft Bülows. Denn man weiß ja, wie England seinen Bundesgenossen betrachtet, nicht als Freund, sondern als B e u t e . Ich kann die deutschen Staatsmänner durchaus begreifen und ihnen nachfühlen, daß sie die allerschwersten Bedenken trugen, das Bündnisangebot Englands anzunehmen. Sie folgten damit nur den weisen Traditionen Bismarcks, der zwar vorsichtig genug stets die besten Beziehungen zu England zu unterhalten wünschte, aber den Soldat Englands auf dem Festlande gegen Rußland abzugeben immer mit Entschiedenheit von sich wies. Die Rolle, welche Frankreich im Weltkriege als Vasall Englands gespielt hat und auch fernerhin zu spielen gezwungen ist, ist wahrlich nicht beneidenswert. Und dennoch hätten die deutschen Staatsmänner unter den damaligen Umständen, nachdem der Faden nach Osten hin, die Verbindung mit Rußland abgerissen war — leider! —, das Angebot unbedingt, trotz aller Bedenken annehmen müssen, um Deutschland aus seiner Isolierung und damit vor dem Untergange zu retten. Noch besser aber wäre es gewesen, sie wären mit eben diesem Bündnisangebot Englands in der Hand Vor Rußland hingetreten und hätten es vor die Wahlentscheidung gestellt und ihm das große Angebot der gemeinsamen Umgestaltung der ganzen Verhältnisse im Osten mit der Auflösung des Habsburger-Staates gemacht, jene Politik, die ich in meinem Buche eingehend begründet habe. Aber man tat keins von Beidem, man fristete sich mit einfachem Gehen- und Laufenlassen der Dinge ahnungslos weiter. Jeder Mut, jede Entschlußkraft fehlte. 37
Und wie das englische Bündnisangebot die vorgetragene Auffassung unserer politischen Lage und Aufgabe vor dem Kriege nicht hat erschüttern können, so hat umgekehrt diese Beurteilung eine Vollkommene Bestätigung, eine nachträgliche Rechtfertigung durch das Verhalten Österreich - Ungarns im Kriege gefunden. Ich denke hierbei nicht an das Verhalten der einzelnen Völkerschaften des Habsburger-Reiches. Den slavischen Stämmen wird man den Verrat an dem unmöglichen Staat der Donau-Monarchie nicht allzusehr verargen dürfen. Denn deutlich genug hatten sie schon im Frieden, lange vor dem Kriege ihre Abneigung gegen diesen Staat bekundet, und es war gewiß nicht ihre Schuld, wenn die Habsburgische Dynastie und Staatsleitung, wenn die deutsche Reichsregierung wie das gesamte deutsche Volk diese Tatsache nicht begreifen, in ihrer Bedeutung nicht anerkennen und würdigen, daraus nicht rechtzeitig die geziemenden Schlußfolgerungen ziehen wollten. Es trifft ausschließlich die benachteiligten politischen Kräfte selbst, wenn sie von den Slaven Österreich - Ungarns etwas anderes im Kriege erwarteten. Politik ist die Kunst, sich nicht überraschen zu lassen, im Voraus sehen, vorbeugen. Ich denke in diesem Zusammenhange auch nicht an die Deutschen Österreichs, die sich in diesem größten Entscheidungskampfe des Deutschtums wahrlich völlig eins mit den Reichsdeutschen fühlten, ja, da sie innerlich gleichfalls mit ihrem eigenen Staate zerfallen waren, bewußt oder unbewußt fast mehr für das deutsche Reich, das Deutschtum schlechthin kämpften, bis zur letzten Erschöpfung kämpften als für ihren eigenen, in unaufhaltbarer Zersetzung begriffenen Staat, von dem und für den sie nichts mehr erhofften. Ich ziele vielmehr auf die Österreich-ungarische Staatspolitik ab, die Politik des offiziellen Staates der verbündeten Monarchie, auf die Politik Habsburgs. Der alte Kaiser freilich stand treu zu Deutschland. Aber unter dem jungen Nachfolger schlug diese Treue in schnödesten Verrat um. Das deutsche Reich, an dessen Spitze, als Vertretung des Reiches, die Dynastie Hohenzollern hatten das ganze eigene Leben und Sein, Macht und Geltung für die Erhaltung Habsburgs und seines Staates eingesetzt, zum Pfände gegeben. Es war wohl der größte Wahn, von dem je die Geschichte weiß, das schlimmste Gaukelbild, das jemals menschliche Geister, 38
ganze Völker genarrt hat. Darum sind nun auch die Folgen dieser Täuschung so unermeßlich schwer, in Deutschland wie in dem ärmsten Deutsch-Österreich. Beide Staaten und Deutschösterreich am schlimmsten, trostlosesten haben die Folgen dieses Wahns restlos bis zu Ende zu tragen. Ich verweise auf meine Darstellung im schon veröffentlichten Teil des Werkes. Hier will ich nur hinzufügen, daß durch die inzwischen erfolgten Veröffentlichungen der gerügte Fehler der deutschen Politik durch die erst zweideutige, dann offen verräterische Haltung Habsburgs entsetzensvoll bestätigt und beglaubigt worden ist. Die höchste, ich möchte sagen, eine wahrhaft wahnwitzige, verbotene Treue wurde gelohnt durch kältesten Verrat. „Das ist schwarz, schwarz wie die Hölle." Die gefährlichste Willensschwäche war allgemein in dieser Zeit. Sie hat seit langem die ganze deutsche Politik nach innen und außen bestimmt und hat diese Politik scheitern, Deutschland untergehen lassen. Willensschwäche war es, daß Deutschland nicht zwischen England und Rußland entschieden zu wählen, sich nicht von dem sinkenden Österreich-Ungarn loszuwinden wußte. Nach keiner Richtung hin vermochte man sich zu einem festen Entschlüsse aufzuraffen. Und damit komme ich zu einem weiteren, schweren Gebrechen unseres Volkes im letzten Zeitalter, einem Gebrechen, das wir klar erkennen und damit ablegen müssen, wenn wir ein neues Leben wieder aufbauen wollen, und das deshalb in dieser einleitenden Vorbetrachtung mit allem Nachdruck zu erwähnen ist. Ich habe ausführlich über die eigentümliche Erstarrung des Geistes bei uns in den letzten Jahrzehnten gesprochen, daß alles frische, kühne Denken mangelte. Wir waren arm an Ideen und sind es noch. Die Revolution hat auch nicht einen einzigen befreienden, fortreißenden Gedanken geboren. Und nur deshalb können die überlebten, veralteten Parteianschauungen mit ihrem schablonenhaften Charakter noch immer die unbedingte Herrschaft behaupten und dadurch alle echte und wahre politische Gedankenbildung, jede schöpferische Politik unterbinden. Daß die Parteien selbst, nach Erschütterung und Aufhebung des P a r t e i d o g m a s , nicht zu verschwinden brauchen, nicht selbst aufgehoben werden sollen, wird sich ergeben. Ja sie werden erst dann ihre wahre Mission erfüllen. Weit 39
schlimmer aber noch als das ermattete D e n k e n ist die Ermattung des W i l l e n s . Vermutlich aber bedeuten beide Erscheinungen dasselbe, insofern das Erlahmen des Denkens in dem Erlahmen des Willens wurzelt. Denn das Denken ist auch eine Willensäußerung, ja ist Ausfluß des höchsten Mutes. Vorurteile zerbrechen, frei über den Dingen mit den Gedanken schweben, nicht vor neuen Gedanken zurückbeben, sondern sie wagen, mit diesen Gedanken sogar Leben und Welt gestalten wollen, ist das Werk des erhabensten und größten Mutes. Es ist die eigentliche L e b e n s z e u g u n g . Es lag wie bleierne Schwere über dem deutschen Leben. Das Geschlecht, das nach der Reichsgründung heranwuchs, hat wohl die schönste, aber zugleich auch die härteste Jugend erlebt. Es hatte etwas wahrhaft Erhebendes und Berauschendes, sich in dieser Zeit als Deutscher zu fühlen und ich bedaure jeden, der das nicht mitempfunden hat oder gar für solche Empfindung nur spöttisches Lächeln bereit hält, wie das heute vielfach der Fall ist. Der Name „Deutschland", „Vaterland" ist in den verwahrlosten, verrohten und zerrütteten Gemütern ein unverstandener Fremdling geworden, den sie mitleidig oder verächtlich betrachten. Der Name hat keinen Klang mehr bei ihnen. Doch getrost, ihr Vaterlandsfreunde, wir werden ihn wieder zum Klingen bringen! Ich sage, es war etwas Stolzes, ein Deutscher zu sein. In der geistigen Kultur hatte unser Volk, wie die Namen Kant, Goethe, Beethoven lehrten, zweifellos und auch vom Auslande nicht bestritten weltgeschichtliche Größe errungen. Und im staatlichen Leben hatte aus heilloser Zerfahrenheit, der Folge von Sünden vieler Jahrhunderte, der mächtige, unvergleichliche Bismarck, aufbauend auf den Vorarbeiten von Männern, wie Friedrich der Große und die Reformatoren der Freiheitskriege, Stein und Scharnhorst, das starkgefügte deutsche Reich errichtet, ein Staatsgebilde, das an Kunst der Disziplin und organisatorischer Kraftfülle in der menschlichen Vergangenheit und Gegenwart nicht seinesgleichen hatte. „Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt, Der froh von ihren Taten, ihrer GrOfie Den Hörer unterhält und, still sich freuend, Ans Ende dieser schönen Reihe sich Geschlossen sieht!"
40
Diese erhebende Stimmung durfte das Geschlecht, welches in dem neuen Reich heranwuchs, beseelen. Und noch heute, wenn wir über unseren Untergang in einsamen Stunden dumpf und schwermütig brüten, träumen wir uns wohl auf Augenblicke, im Wahn, als wäre noch alles wie einst, als wäre all das Entsetzliche, Grauenhafte, das wir erfahren, garnicht geschehen — und wer will uns diesen holden Traum verwehren? — manchmal träumen wir uns wenigstens auf Augenblicke noch in das alte stolze Reich zurück. Und unermeßliches Heimweh ergreift uns. Und dieses neue Reich ruhte nicht träge auf den Errungenschaften der Väter aus, sondern es wuchs mächtig, staunenswert weiter und im Weltkriege, im Sturm gegen die ganze Welt bewährte es Riesenkraft. Unsere Söhne und Enkel werden dereinst garnicht glauben, was ehemals das deutsche Reich gewesen und w i e es gewesen ist. S i e werden es sich einfach nicht vorstellen k ö n n e n . Unstreitig, wir hatten die glücklichste Jugend, die j e einem Geschlecht zuteil geworden ist. Aber wir hatten zugleich auch die unglücklichste Jugend. Wer unser Staats- und Volksleben mit schärferem Blick zu durchdringen vermochte, konnte sich dem beunruhigenden Eindruck nicht Verschließen, daß dieses Leben in seinen Grundlagen und seinem Wesen, im Hinblick auf seine inneren Kraftquellen, die tragenden Ideen und Gesinnungen einer vollständigen Erneuerung und Umwandlung bedürftig war. Wohl hatten die überlieferten Grundsätze unser Leben zur Höhe getragen. Aber eben weil es dadurch gleichsam in eine andere Ebene gehoben worden war und somit gesteigerte Aufgaben und Pflichten erhielt, durch die Leistungen der Vergangenheit selbst in eine andere Epoche eingetreten war, gerade deshalb verlangte es unabweislich nach einer inneren Neugeburt, einer inneren Kräftigung, einer stärkeren Beseelung, um den erhöhten Aufgaben gerecht zu werden. Aber nun war das Beklagenswerte, in seinen Wirkungen so Unheilvolle und Schmerzliche, daß die Generation, der diese Aufgabe zufiel, die in jener Epoche die Macht in Händen hatte, auch nicht zu der geringfügigsten Reform zu bewegen war. Wie hat unsere Jugend darunter gelitten! Nicht das kleinste Gebilde war nur e t w a s von der Stelle zu rücken. Schon der Ruf nach Reform galt als Verbrechen. Es fehlte jeder Mut, jede kühne Entschlossenheit, Tatkraft, kurz — Wille. Die 41
furchtbare Unentschlossenheit, Halbheit, Zaghaftigkeit, die wir während des Krieges in ihren entsetzlichsten Folgen haben walten sehen, lasteten schon seit gut einem Menschenalter, lähmend und hemmend, ja erstickend auf dem deutschen Leben. Und man glaube durchaus nicht, daß die Männer, die die Revolution nach oben getragen hat, andere, mutigere, stärkere, w i 11 e n s stärkere Charaktere seien. Als einziger unter ihnen könnte vielleicht der biedere Noske darauf Anspruch machen, der in der Tat mit seinem derben Zugreifen unseren Staat in äußerster Not gerettet und sich damit ein bleibendes Verdienst erworben hat. Im übrigen aber zeigten sich diese Männer den Massen, ihren Auftraggebern gegenüber von der nämlichen Willenslähmung befallen, wie sie das gesamte Zeitalter gefangen hält. Wie eine unfaßbare, heimlich schleichende Krankheit durchdrang dieses Übel alle Gemüter. Fast wollte es scheinen, als seien mit den neuen Machthabern noch weit gebrochenere, mutlosere Charaktere emporgekommen. Nach außen, den Feinden gegenüber demütig und wehleidig bis zur Würdelosigkeit, nach innen haltlos und ängstlich, daß eine* Regierung kaum noch vorhanden zu sein schien — war das nicht das betrübende Bild, das sie boten? Das Übel scheint mit der Revolution nicht besser, es scheint noch weit schlimmer geworden zu sein. Wenn irgendwo, so ist bei dieser sittlichen Krankheit der Hebel anzusetzen. Über diese Schwäche m ü s s e n wir hinüber, wenn anders wir den Kampf mit dem ungeheuren Schicksal, das uns gefaßt hat, aufnehmen wollen. Und dies ist also das z w e i t e Haupterfordernis, der zweite Grundstein des künftigen Gebäudes unseres Lebens, den wir fest zu gründen und sicher zu fügen haben, wollen wir einen starken und haltbaren Neubau schaffen, soll nicht alles, was wir erstreben, leerer Dunst, Spiel und Wahn sein. Die zweite Hauptbedingung unserer Wiedererstarkung ist das g r o ß e K r a f t g e f ü h l , das uns Wieder überkommen, ebenso geheimnisvoll unsere Seele überfluten muß, wie die Schwäche unsere Volksseele heimlich beschlichen hatte, das große, gläubige, gewisse und unbeirrbare Kraftgefühl, das uns wieder zu g a n z e n Taten, zu weitgreifenden Entschlüssen ermutigen kann. Hier haben wir unseren wahren, wahrhaft gefährlichen Feind zu suchen, in unserem eigenen Ohnmachtsgefühl, in der müden, hoffnungsarmen Entschlußlosigkeit, die uns 42
alle im Banne hält. Unser wirklicher Feind lebt nicht jenseits der deutschen Grenze, es ist auch kein „innerer" Feind, wie dies Wort geprägt worden ist, als eine bestimmte Parteigruppe in unserem Volke, eine bestimmte Lehrmeinung, Anschauung, Begriffswelt, die einen Teil unseres Volkes beherrsche. In u n s a l l e n wohnt dieser grausige Feind. Die S e e l e n s c h w ä c h ' e ist es in unser aller Busen, die jeden Willensentschluß abknickt, ersterben läßt, daß entweder gar keine Tat oder nur das kümmerliche Schattenbild einer echten und ganzen Tat in Erscheinung tritt. Wie ist diese schwere Krankheit zu heilen ? Wie können wir unsere Seelen s c h w ä c h e in Seelen s t ä r k e verwandeln? Ein eigentümlicher Zug des menschlichen Wesens ist seine zarte Reizbarkeit und Empfänglichkeit. Auf den leisesten Anhauch hin gerät die menschliche Seele in Schwingungen und zwar nimmt sie den Rythmus der Schwingungen auf, schwingt und bewegt sich in derselben Art weiter, die sie berührte und anregte, sie pflanzt die erregende Bewegung, den Strom von Gesinnungen, Vorstellungen, Leidenschaften, der sie erfaßt hat, fort. Wir sprechen von der Ansteckung epidemischer Krankheiten des Körpers. Sehr viel stärker, feiner, unwiderstehlicher ist die seelische Ansteckung, sehr viel häufiger und einflußreicher die Übertragbarkeit und Übertragung geistiger Züge und Strebungen, die wie ein Wind auf leicht beweglicher Meeresfläche die Seelen ganzer Völker und Zeitalter ergreifen, sie in ihrem Wesen und ihrer Haltung bestimmen. Zum Heile aber tritt die beschriebene Eigenschaft nicht nur in Wirksamkeit, wenn unheilvolle und schlechte Regungen hervorbrechen und sich im Fluge verbreiten. Auf den gleichen, empfänglichen, aufnahmefähigen und erregbaren Boden fallen auch die segensreichen, heilsamen, edlen Bestrebungen und Gesinnungen. Auch sie können, in rechter Weise den Gemütern eindringlich und innig nahe gebracht, mit fortreißender Gewalt, ebenso schnell wie heftig, ganze große Massen erfüllen und sie von Grund aus in ihrer Wesensart gestalten und umgestalten. Auf dieser Möglichheit und Fähigheit der leichten Übertragbarkeit alles Geistigen, auf diesem Nachahmungs- und Angleichungstriebe beruht die ganze Erziehung, ja überhaupt die soziale Gemeinschaft. Auf diesen Zug der menschlichen Natur müssen wir bauen, ihn müssen wir weitsichtig und entschlossen ver43
werten. S o ist nicht alle Hoffnung Verloren, die gegenwärtige Seelenschwache zu bannen. Das g r o ß e B e i s p i e l , das lebendige, anschaulich, unmittelbar erfahrene und erkannte Vorbild haben in der Geschichte oft wahre Wunder der Wirkung hervorgebracht. Die großen geistigen und politischen, namentlich aber die religiösen Bewegungen geben davon beredtes Zeugnis. Diese Erfahrung sollte uns ermutigen, auch die jetzt so darniederliegende deutsche Volksseele wieder aufzurichten, ihr neuen Lebenshauch und Lebensmut einzublasen. Man muß nur das ganze Sinnen des Volkes auf solche anfeuernden, aufrüttelnden, emporreißenden Beispiele und Vorbilder hinlenken, muß die Leuchtkraft dieser Vorbilder so steigern, sie in so farbenprächtige Glut und Glanz tauchen, daß die Beschauer, von ihrem Zauber völlig gebannt, garnicht mehr von ihnen loskommen und sich so unmerklich und ungewollt, aber darum nur um so entschiedener und ausgesprochener deren Wesen anähneln und anschmiegen. Auf diese Weise können zahlreiche Menschen, ganze Völker, Zeiten in verhältnismäßig schnellem Wechsel völlig ihr Wesen umwandeln. Das läßt uns hoffen. Mit diesen Ausführungen ist der W e g bezeichnet und zwar der e i n z i g e Weg, auf dem wir die z w e i t e Vorraussetzung und Vorbedingung unserer Wiederaufrichtung und Rettung bereiten müssen, nämlich Selbstvertrauen, Mut, Zuversicht. Denn dies sind die beiden Bedingungen jedes erfolgreichen, sieghaften menschlichen Handelns und Wirkens, ohne welche nichts Dauerhaftes geschaffen werden kann, ohne deren Gegenwart und Mithilfe alles Wollen und Unternehmen von Anbeginn an wurmstichig, eitel, vergeblich und verloren ist: nämlich U n s c h u l d und K r a f t g e f ü h l . Diese Forderungen sind das Ergebnis, das sachliche Ziel dieser meiner Einleitung zum deutschen Lebensplan. Hierüber muß erst volle Klarheit herrschen. Diese Erkenntnis muß vor Beginn unserer Arbeit Geist und Gemüt aller durchdringen. Über die Notwendigkeit der Unschuld ist oben gehandelt worden, und ich hoffe, zur Überzeugung des Lesers. Den Nachweis, die innerliche Begründung für das Gefühl unserer Unschuld, daß es nicht eine hohle Einbildung, sondern felsenfeste Gewißheit sein darf, sollte, wie erwähnt, der schon veröffentlichte Teil der „Erkenntnis" in seiner ersten Hälfte mit der
44
Vorgeschichte des Krieges liefern. Und was nun hinzuzufügen ist, das große unerschütterliche, ermutigende und belebende Kraftgefühl sollte die a n d e r e Hälfte jenes Werkes als Vorbedingung unserer Wiedergeburt in den niedergeschlagenen Gemütern erwecken und erzeugen, nämlich die kurze Darstellung der Geschichte des Krieges selbst, das, was eine wohlwollende Beurteilung meines Buches das „Heldenepos des Krieges" genannt hat. Dort ist der soeben von mir beschriebene W e g beschritten, wie man Stärke erzeugen kann, nämlich durch nahe Berührung mit Stärke, daß Blick und Sinn und Herz auf Großtaten der Kraft hingelenkt werden, durch deren Anblick und miterlebendes, verstehendes Betrachten der Hauch und Geist der Kraft zu den hoffnungsarmen und ermatteten Seelen von heute wieder überspringt, wieder bei ihnen einzieht, sodaß die alte deutsche Volkskraft ihre Wiederauferstehung feiert. Ich erkenne keine andere Möglichkeit, den entsetzlichen Todeskeim in unserer Volksseele, die lähmende Willensschwäche, zu zertreten, dieser gefährlichsten Giftschlange das Haupt abzuschlagen a l s d i e H e l d e n v e r e h r u n g u n d H e l d e n l i e b e . Und wo wäre diese erhabener und erhebender zu finden und anzuknüpfen als in nächster Nähe, in eben verflossener, jüngster Zeit, an Ereignisse, die wir selbst mit eigenen Augen geschaut, selbst, schaudernd vor Ehrfurcht, erleben durften, an die Heldentaten des großen Krieges, die unser Volk vollbracht hat, die von dem erschütternden Ausgang doch ganz unabhängig sind, die in ihrer sittlichen Hoheit und Reinheit, in der Unvergleichbarkeit ihres Glanzes, ihres Ruhmes und ihrer Ehre unbeeinträchtigt und unbekrittelt bestehen bleiben, welch einen Ausgang auch das Heldenringen gefunden hat. Nur wenn wir unsere Gedanken über das unglückliche Ende hinweg, über Niederlage und Auflösung hinaus und zurück zu dem stolzen und bewundernswerten, unvergänglichen und unverwelklichen Heldentum zurücklenken können, das unser Volk im Kriege bis hin zum plötzlichen Einsturz und jähen Abbruch bewährt hat, wenn wir ganz ungetrübt und unbeschattet auf diese Wundertaten der Kraft mit voller Hingabe der S e e l e schauen können, bis zu dem Grade, als ob all die grauenhaften Folgen und Enttäuschungen garnicht eingetreten wären, als ob n u r der Sieg und der Glanz, die Tapferkeit und die Treue, die Einheit und der brüderliche
45
Volksgeist im Kriege erschienen wären, nur wenn die reine Freude an diesem Heldentum, das doch dagewesen ist, wahr und wirklich gewesen ist, wieder aufflammt und die Seelen erhellt und erwärmt, nur dann kann die entschwundene Kraft wiederkehren, die wir zu den künftigen Aufgaben und Arbeiten so dringend benötigen. Wie verleugnet heute das deutsche Volk seine teuersten und ehrwürdigsten Erinnerungen, wie schändet es durch Absage, ja Beschimpfung und Verrat sein höchstes Heiligtum! Denn das größte Heiligtum eines Volkes ist die Erinnerung an sein Heldentum. Diese Erinnerung ist die unablässig und unerschöpflich sprudelnde Quelle, die das ganze weitere Volksleben mit Kraft, Freudigkeit und Hoffnung nährt. Ist diese Quelle verschüttet oder getrübt, so verdorrt die Volksseele und siecht dahin. Ohne bewunderte Ahnen, ohne Ehrfurcht vor den Heldentaten der Vergangenheit kann kein Volk stark sein, aufrecht stehen und mutvoll handeln. Die Erinnerung an die Größe der Vorzeit ist immer gleichsam der Anlauf zum Sprunge, das Schwergewicht im Wurf nach neuen Taten. Der Blick auf die einstige Größe, das Heldenwerk der Vorfahren oder der noch lebenden Väter und Brüder bildet den Stachel, der die nachwachsenden Geschlechter zu ähnlichen oder ähnlich bewundernswerten, wenn auch anders gearteten Taten aufreizt. Das Beispiel ist die stärkste Kraft der Erziehung, ja im Grunde die einzige Möglichkeit der Erziehung. Ohne Heldenverehrung und sittlichen Ahnenkult gibt es kein großes Volk, ja so zu sagen überhaupt kein Volk. Ohne diese liebe- und verehrungsvolle Pflege geheiligter Erinnerungen zerfällt ein Volk. Diese Erinnerungen bilden den seelischen Zusammenhalt, die innere Einheit, die erst das Volk zum Volke machen, den äußeren, bedeutungslosen Zusammmenhang zu einem inneren, wahren, gefühlten, erlebten und gewollten Zusammenhang befestigen und umprägen. Es liegt hier eine psychologische, unabweisliche Notwendigkeit, ein unverbrüchliches, allgemeines Gesetz des menschlichen Lebens vor, das entweder befolgt werden muß, oder das betreffende Volk wird dem Untergange geweiht. Darüber darf kein Zweifel walten. Ich begreife nicht, daß die Demokratie, an deren Verhalten mir überhaupt so vieles unbegreiflich ist, das Andenken des 46
großen Krieges und der in ihm bewährten Größe und Heldenstärke unseres Volkes zu verdunkeln, ja auszutilgen sucht, nur mit Flüchen und Verwünschungen dieser Zeit und ihrer Taten gedenkt. Sie verletzt damit das tiefste Wachstumsgesetz des geschichtlichen Lebens. Durch einen plötzlichen, scharfen, gewaltsamen Schnitt und Riß von der Vergangenheit abgetrennt, wird ein Volk ohnmächtig, kann es keinen neuen Aufstieg antreten. Wurzellos gemacht, welkt die Volksseele dahin. Solange noch ein letzter, schwacher Rest von Lebensgefühl und Kraft im Volke glimmt, wird es sich gegen diese Entwurzelung zur Wehr setzen, es wird sich nicht auf die Dauer die Erinnerung an seine eigene große Vergangenheit, das Heldentum seiner Ahnen entreißen lassen. Und eine politische Richtung, eine politische Führung, die sich dessen erdreistet, wird sich niemals dauernd in der Macht behaupten können, stößt sich selbst wieder vom Trone herunter. Diese politische Macht handelt noch weit verblendeter als die gestürzte von ehedem. Ich sage das nicht als Gegner, sondern als Freund der demokratischen Staatsordnung, der ich ehrlich die Macht und dauernde Geltung in unserem Volke wünsche, die aber diese dauernde Macht und Geltung niemals erringen wird, sondern nur einen Eintagssieg hat, wenn sie die unumstößlichen geschichtlichen Gesetze mißachtet, über die tiefsten Notwendigkeiten des Volkslebens hochmütig hinwegschreitet. Die berührte Frage veranlaßt mich, schon hier etwas Grundsätzliches über die Demokratie und deren Gegensatz, die Aristokratie, zu bemerken. Die aristokratische Staatsordnung, daß bestimmte bevorrechtigte Personen oder Gruppen das Staatsganze vertreten, beruht nicht auf Willkür und barer Herrschsucht, Wie überhaupt nichts Menschliches der zureichenden Begründung entbehrt. Aristokratische Staats- und Gesellschaftsformen bilden sich mit Notwendigkeit und behaupten sich, wenn und soweit die Gesamtheit des Volkes unerläßliche Erfordernisse und Aufgaben des allgemeinen Volkslebens nicht zu erfüllen gewillt oder in der Lage ist. Die Gründe, weshalb gewisse Volksteile gewisse allgemeine Notwendigkeiten des gesamtes Volkes, der Volkseinheit nicht zu erfüllen vermögen oder von sich ablehnen, können hier dahingestellt bleiben. Genug, daß diese Tatsache besteht. So gab es zum Beispiel eine Zeit, da 47
der Waffen- und Kriegsdienst, die Landesverteidigung nicht als Notwendigkeit undPflicht a l l e r empfunden wurde. Diese Notwendigkeit als solche, die Landesverteidigung selbst aber blieb davon unberührt und bestand als Forderung fort. Infolgedessen fiel diese Aufgabe einem einzelnen Stande zu, der durch Übernahme dieser allgemeinen Pflicht seine Bevorrechtung bewies oder gar erst schuf. Die Notwendigkeiten des allgemeinen Volksdaseins und Volkswohles, die Bedürfnisse eines Volksganzen führen sozusagen ein eigenes, selbständiges Leben, sie bestehen ganz unabhängig von Zustimmung oder Verneinung der Menschen, sie setzen sich mit einer unerbittlichen Folgerichtigkeit, mit unfehlbarer Sicherheit durch. Versagt sich ihnen die Allgemeinheit des Volkes, das Volk in allen seinen Schichten, so betrauen sie gleichsam nur eine bestimmte Gruppe, einen Stand mit der Wahrnehmung der entsprechenden Pflichten. Nur übernommene Pflichten schaffen Vorrechte. Können diese Erfordernisse nicht wie ein einziger großer Strom die ganze Volksseele durchfluten, dann graben sie sich gleichsam ein besonderes, engeres Bett in dem Wollen und Verhalten eines einzelnen bevorrechtigten Standes, der diese allgemeinen Aufgaben zu würdigen weiß und sie auszuführen erbötig ist. Auf solche allgemeinen und unumgänglichen Bedürfnisse stoßen wir nun auch bei den geistigen Bedingungen, die wir für die künftige Arbeit an unserem Volk und für dessen Neubelebung als geboten erkannt und gefordert haben. Auch diese geistigen Voraussetzungen sind unerläßliche Notwendigkeiten, die sich aus eigener Kraft, auf Grund ihres sachlichen Gewichtes unbedingt durchsetzen werden, und verschließt sich ihnen die große Allgemeinheit des Volkes, so bemächtigen sich ihrer nur wieder begrenzte Stände, die sich damit zur Herrschaft aufschwingen und diese Herrschaft auch infolge ihrer geistigen Überlegenheit und Einsicht verdienen. Daß ein Volk sich als unschuldig fühlt, sein volles Recht zur Ausbildung und EntWirkung seiner Kräfte für sich beansprucht, ist eine unabweisliche Bedingung seines Lebens, ist seine wahre Lebensluft, gleichsam der Lebensatem seiner Kraft. Und ebenso, daß es sein Leben an das seiner früheren Helden anknüpft, von der Größe der Vergangenheit den Segen und die Seele, die Befeuerung und die Bürgschaft für den Sieg des eigenen Schaffens erwartet, sich in diese
48
erhabene Vergangenheit wie in seine Wurzelkraft versenkt, aus der es alle Leidenschaft saugt, alle Liebe und Hoffnung für das eigene Ringen schöpft — auch das ist eine UrVoraussetzung alles Volkslebens, i s t die Erscheinungsweise des W a c h s t u m s d i e s e s L e b e n s s e l b s t . In dieser Verknüpfung von Einst und Künftig spielt sich der Lebensverlauf jedes schöpferischen Volkes ab. Nur aus ehemaliger Größe kann neue, noch zu erringende Größe geboren werden. Nur Heldentum zeugt Heldentum. Und wenn nun die Demokratie oder diejenige Parteibildung, die den demokratischen Gedanken in unserer Zeit zu vertreten sich anheischig macht, diese klare, unumstößliche Wahrheit Verkennt, sich gegen diese Wahrheit vergeht, s o b e r e i t e t s i e damit nur wieder der R ü c k k e h r des P r i v i l e g i e n s t a a t e s d e n W e g , in welchem bestimmte, abgegrenzte Stände, entweder rechtlich oder tatsächlich, die Gesamtaufgabe des Staates und Volkes an sich reißen und damit wieder die beherrschende Macht gewinnen. Denn jene allgemeinen Notwendigkeiten lassen sich nicht ausmerzen, abschütteln. Versagt sich ihnen die Allgemeinheit des Volkes, so betrauen sie jene Sonderbildungen und bevorzugten Kreise mit ihrer Wahrnehmung und Verfechtung, und damit ist der Privilegienstaat wieder zurückgekehrt. Denn in diesen ideellen Notwendigkeiten wohnt eine derart sachliche, tatsächliche Macht, eine solche Wucht von Macht, daß sie demjenigen, der sie vertritt, auch die Herrschaft in die Hände spielen. Das soziale Leben wird von eisernen, herrischen Gesetzen durchzogen, die keine Übertretung dulden. Schon an dieser Stelle sollte einleuchten, daß ohne Philosophie, in diesem besonderen Falle ohne Psychologie, ohne gründliche wissenschaftliche Einsicht in das Seelenleben der Menschen, zumal der sozialen Gemeinschaften, der Völker, wie sie leben und wachsen, Politik nicht getrieben werden k a n n . Ohne diese wissenschaftlichen Voraussetzungen ist das politische Gebahren ein jammervolles Stümpertum, das unser großes, herrliches Volk zu Grunde richtet. Erstaunlich ist und zugleich unverantwortlich, wie wenig die demokratischen Kräfte in unserem Volke sich den gebieterischen Gesetzen des sozialen Lebens unterworfen fühlen, wie sehr und wie oft sie, obgleich sie sich ausdrücklich als „sozial" bezeichnen, * 49
diesen Gesetzen Hohn sprechen, diese Gesetze mit Füßen treten. Es wird niemals eine Demokratie in unserem Volke geben, es wird entweder nur vollendete Verwirrung und Unordnung walten, also der völlige Untergang unseres Volkes heraufbeschworen werden, oder der aristokratische Staat der Bevorrechtung wird die unfähige, im Tiefsten fehlgreifende Demokratie wieder ablösen, wenn anders sich diese nicht endlich entschließt, jenen sozialen Urgesetzen, die unverbrüchlich sind, sich zu fügen, diesen Gesetzen rückhaltlose Anerkennung und Geltung zu gewähren. Die Demokratie oder die Parteibildungen, die sich bei uns als Verkörperung des demokratischen Gedankens aufwerfen, klagen nun seit fast einem Jahrhundert darüber, daß sie zu keiner Macht im deutschen Volke haben gelangen können. Sie sind meines Erachtens sehr im Irrtum, wenn sie immerfort als Grund dieser eigenen Ohnmacht die unüberwindbare Dummheit der Masse oder die ruchlose Bosheit und brutale Herrschsucht der privilegierten Mächte in Staat und Gesellschaft anführen, diese Elemente nicht bitter genug als Urheber dieser ihrer Ohnmacht anklagen können. Sie sollten sich an die eigene Brust schlagen, in sich selbst die Quelle ihrer so langwährenden Ohnmacht suchen. Es ist doch schlechterdings nicht anders denkbar: wenn die demokratischen Parteien so lange in Deutschland zu keinem Einfluß haben gelangen können, so kann das nur an der unzulänglichen, fehlerhaften, irrigen Politik gelegen haben, die sie jederzeit getrieben haben. Hätten sie wirklich auf tiefer und klarer Einsicht beruhende Wahrheiten und Notwendigkeiten unseres Volkslebens vertreten, hätten sie sich nicht in verhängnisvolle Irrwege verloren, sondern hätten sie die Wirklichkeit belauscht, den Gesetzen und Bedingungen des menschlichen Lebens volle Würdigung angedeihen lassen, niemals — das behaupte ich entschieden — wären sie zu einer so langen Ohnmacht verdammt gewesen. Sie hätten sich kraft ihres Wahrheitsgehaltes, ihres inneren Rechtes durchsetzen müssen. „Ein jeglicher nimmt sich seinen Lohn mit seiner Tat hinweg". Das unglückliche Schicksal unseres Volkes in seinem Leben nach außen und innen beweist allerdings eins unstreitig: daß die früheren Machthaber, die aristokratisch gesinnten Kräfte in unserem Volke, diebisher die Herrschaft innehatten, allerschwerste Fehler begangen haben. Das ist klar. Aber daraus folgt nun 50
keineswegs, daß ihre Gegner, die demokratischen Volksteile mit ihrer politischen Arbeit, ihren politischen Ideen und deren Anwendung im R e c h t e gewesen wären. Das ist ein arger Irrtum, dem sich unsere demokratischen Parteien zu ihrem eigenen Schaden kritiklos hingeben. J e heftiger sie die Gegner, die ehemaligen Machthaber anklagen und vielleicht mit Recht anklagen, um so mehr lassen sie es an eigener Selbstkritik und Selbsterkenntnis fehlen. Wenn zwei sich streiten, und einer hat unzweifelhaft unrecht, s o f o l g t d a r a u s n o c h k e i n e s w e g s z w i n g e n d und v o n s e l b s t , d a ß d e r a n d e r e r e c h t habe. E s k ö n n e n s e h r wohl b e i d e G e g n e r u n r e c h t h a b e n . Und das scheint mir nun bei dem politischen Gegensatze in unserem Volke zu fürchterlichem Unheil unseres Volkes der Fall zu sein. Diese bedeutsame, folgenschwere Einsicht wird eins der Hauptergebnisse unserer Untersuchung bilden. Beide Hauptrichtungen der Politik in unserem Volke haben geirrt, haben am Verderben unseres Volkes gearbeitet. Das ist die schmerzlich-schwere Erkenntnis, zu der wir uns durchringen müssen. Ob wir mit unserer politischen Neigung und Mitarbeit rechts oder links gestanden haben, wir sind allzumal Sünder gewesen. Wie wäre denn der gänzliche Zusammenbruch unseres Volkslebens, diese erschütternde Auflockerung und Zerreißung alles Zusammenhangs, aller Ordnung und Einheit möglich geworden, wenn nicht auf a l l e n Seiten, von jedermann aufs schlimmste gefehlt worden wäre! So große und schwere Niederlagen haben ihre Ursachen in der ganzen Volksbreite und -tiefe. In dieser gerechten Abwägung und Verteilung der Verantwortung muß sich vornehmlich die überparteiliche, philosophische Betrachtungsweise bewähren, die wir hier anstreben. Diese Erkenntnis wird uns erst die Aussicht eröffnen, künftig die richtigen Wege für unsere Arbeit an der Wiederherstellung unseres Volkstums und unseres Staates aufzusuchen. Solange wir nicht diese Erkenntnis gewonnen haben, werden wir schwanken, unruhig und unsicher hin- und hertasten, werden keine festen Grundlagen, keine klaren Ziele für unsere Arbeit der Rettung zu finden wissen. Nur Heldentum erzeugt Heldentum. Ohne liebevolle, begeisterte und hingebende Verehrung der großen und erhabenen Taten unseres Volkes im Weltkriege, seines unvergleichlichen 4* 51
Opfergeistes, ohne die — ich wage es auszusprechen — H e i l i g s p r e c h u n g gleichsam dieses deutschen Heldentums gibt es nun und nimmer eine deutsche Wiedergeburt. Hier, an der Schwelle schon, heißt es sich entscheiden, heißt es Farbe bekennen, hier schon trennen sich die Wege zum Tode oder zum Leben. Wer von diesem Heil- und Jungbrunnen unser Volk ablenkt, führt es in eine Wüste, da ihm die Kräfte verdorren müssen. Diese Wahrheit ist unumstößlich. Es ist denn doch eine schlimme Verirrung, wenn unsere Parteien etwas Tüchtiges und Gutes auf Seite anderer Parteien garnicht anerkennen wollen, daß jenseits ihrer eigenen Parteigrenzen n u r Fehlerhaftes und Verwerfliches wohne. Darauf ist es zurückzuführen, daß unsere demokratischen Parteien die hohen und stolzen Taten, die Heldenarbeit des Krieges bei dem gegenwärtigen und künftigen Geschlecht in Vergessenheit zu drängen suchen. Unter dem alten System d a r f nichts Gutes, Großes und Bewundernswertes geschehen sein, dort war a l l e s schlecht, grundschlecht. Die übrigen Parteien handeln bei der Austragung der Parteigegensätze gewiß nicht weitherziger, wahrhaftiger. Der gleiche Vorwurf trifft sie alle, nur daß in diesem Falle das Verhalten der demokratischen Parteien, ihre Abneigung gegen jede ehrfürchtige Rückerinnerung und Heldenliebe so selbstmörderisch wirkt, unserem Volke an die Lebenswurzel greift. Denn nur aus dem erlebten, geleisteten Heldentum keimt neue Größe. Es liegen in diesen einseitigen, ausschließenden, absprechenden und verzerrten Urteilen der Parteien nicht nur Irrtümer, nicht nur Fehler des Erkennens, es liegen darin auch schwere Ungerechtigkeiten, die das Volk vergiften müssen. Ungerechtigkeiten sind Unsittlichkeiten und aus Unsittlichkeiten können nur totbringende Schäden hervorgehen. Diese engherzige, ungerechte Gesinnung müssen wir mit Stumpf und Stiel ausrotten. Ohne Gerechtigkeit, ohne Anerkennung des Guten, w o e s s i c h a u c h f i n d e , gibt es keine Neuordnung und Neubelebung unseres Volkes. Es scheint, als ob wir die ersten Voraussetzungen des Gemeinschaftslebens wieder zu erringen, neu zu finden hätten, als sei uns a l l e s verloren gegangen, was gemeinschaftsbildend wirkt. Der zerstörende Geist ist in unserem Volke umgegangen, er geht noch in ihm um. Uns ist, als ob wir ihn sehen, wie er mäht und mäht an der deutschen Kraft. 52
Wenn aber die neuen Machthaber einwenden, die Leistungen unseres Volkes im allgemeinen während des Weltkrieges wollten sie durchaus nicht antasten, verkennen, diese Anspannung, Tatkraft, Opferwilligkeit zu beanstanden oder herabzusetzen, läge ihnen Völlig fern, wenn sie vielmehr ihren Zorn nur gegen die Heerführer richten, diese durch den Staub zerren, allen nur denkbaren Schimpf auf deren Haupt zu häufen suchen, so ist zu erklären: der Führer ist vom Heer nicht zu trennen. Im Führer gipfelt und verkörpert sich die Kraft, die Heldengesinnung, der Sieg des Heeres und Volkes. Er wird zum Sinnbild des Großen, das in dem Heldenringen zur Wirkung kam. Mag der eine oder der andere in dem oder jenem gefehlt haben, was nicht unmittelbar die Heerführung anlangt, den Lorbeer des Sieges wird ihm keine Macht der Welt mehr von der Stirne reißen können. Das sollte ihm Scheu und Ehrfurcht bei dem ganzen Volke sichern. Oder das Volk entwürdigt sich selbst. Und alle diejenigen, die es dahin erziehen, in diesem unsittlichen Sinne beeinflussen, zermürben und zerstäuben ihm seine Kraft. Denn ohne Helden und Heldenliebe verliert ein Volk seine Seele. Ich sage das nicht aus irgend welcher Parteilichkeit. Es sind einfache, psychologische Wahrheiten, psychologische Tatsachen und Wirklichkeiten, die ich damit ausspreche, die kein Menschenwille, keine verblendete Willkür aufheben kann. Doch ich hoffe, jeden redlich Denkenden, jeden klar Anschauenden und aufrichtig Gesinnten durch folgende wichtige Ergänzung überzeugen und gewinnen zu können Wer allerdings nicht erkennen w i l l , wer sich absichtlich, vorsätzlich allen Gründen, auch den durchschlagendsten, widersetzt und entzieht, der muß in seinem Wahne weiterleben, Wird dann aber auch all die schweren Folgen dieses Wahnes auf sich nehmen müssen. Nämlich, wenn ich neben dem Unschulds- und Rechtsgefühl als unerläßlicher geistiger Lebensbedingung für unser Volk die geheiligte Erinnerung an die wunderbaren Großtaten des Krieges, an dieses einzige und unvergleichbare Heldentum als unentbehrliche Kraftquelle künftigen Heldentums hinstelle, so meine ich damit nicht die Kriegsbegeisterung als solche, etwa gar das Rachegefühl mit dem Ziel einer Wiederholung des Krieges in unserem Volke anzufachen. Diese Auffassung wäre ein großer Irrtum. Daß das europäische Problem nicht mit dem Schwerte 53
zu lösen ist, hat der blutige, ergebnislose Weltkrieg erwiesen. Denn mögen unsere Peinde sich einbilden, mit dem Versailler Frieden, mit der Vernichtung der Macht Deutschlands das europäische Problem endgültig und für immer gelöst zu haben, daß nur Deutschland, die starke Zentralmacht Europas, zertrümmert und verstümmelt sei, alles Weitere werde sich aus dieser Vernichtung Deutschlands von selbst folgerecht und heilsam ergeben — wie lächerlich ist diese Einbildung unserer Gegner! Sie haben mit der Zerschlagung der deutschen Macht, mit der völligen Zerstörung der deutschen Wirtschaft das europäische Problem wahrlich nicht geklärt. Die Lage ist durch dieses unheilvolle Schicksal nur noch viel problematischer geworden. Nun erst ist die Verwirrung vollständig, die bange Frage, was weiter in Europa werden soll, brennend und peinigend geworden. Die Sieger dieses großen Ringens stehen selbst gänzlich ratlos vor dieser ungelösten und immer unheimlicher und drohender werdenden Frage, an der auch sie beteiligt sind, die auch ihre Zukunft und ihr Heil bestimmt. Völlig hilflos sehen sie sich einer wahrhaft verzweifelten Lage ganz Europas gegenübergestellt. Daraus folgt, daß eine Wiederholung des Krieges Europa nun und nimmer Ruhe und Friede, Stetigkeit und Klarheit bringen würde. Die Zerrüttung würde damit nur noch um einen weiteren Grad gesteigert werden, vermutlich bis zu dem Grade völligen Unterganges der gesamten europäischen Kultur mit allen ihren Staaten und Völkern, wenn dieser Zustand nicht schon jetzt erreicht ist. Aber vielleicht ist die unsäglich gefährliche Krisis dieses Weltkrieges doch noch zu überwinden, dieses e i n e Mal noch, mit Aufbietung der geistigen Gesamtkraft der europäischen Völker. Ein neuer Krieg würde niemals nur ein Krieg zwischen zwei Völkern, etwa Deutschland und Frankreich werden, er würde sofort wiederum mit Unvermeidlichkeit ein allgemeineuropäischer Krieg werden, der alles mit in den Strudel des Todes hinabschlingt. Denn Europa ist nun einmal durch die wirtschaftliche Entwicklung des letzten Jahrhunderts und die Herausbildung der Nationalstaaten, die sich entweder völlig untereinander zerfleischen oder einen Ausgleich suchen müssen, zu einer Einheit geworden, so wenig sich dies bisher zum Bewußtsein der so schwer verfeindeten europäischen Völker durchgerungen hat. Gerade die Wege ausfindig zu machen, 54
wie wir ohne neue kriegerische Verwicklungen und Auseinandersetzungen das europäische Problem, das schwierigste politische Problem seit Menschengedenken, lösen oder der Lösung nahebringen können, ist eine der wichtigsten Zwecke dieses Buches, der uns bei der Frage der auswärtigen Politik beschäftigen wird. Abernur ein wiederhergestelltes, freies und starkes, selbstbewußtes, in seiner Ebenbürtigkeit anerkanntes Deutschland kann an dieser hohen Aufgabe mitwirken. Um diese stolze Gesinnung in unserem Volke wieder zu erwecken, ihm seine freie, selbstbewußte S e e l e zurückzuerobern, brauchen wir die Mithilfe, den unsichtbaren Segen des deutschen Heldentums der Vergangenheit, vornehmlich aber der jüngsten, noch lebendigen, noch unmittelbar in uns nachzitternden Vergangenheit, die immer neue Heldenkraft erzeugende Herrlichkeit und Größe, die unser Volk im Weltkriege bewiesen hat. Z u u n s e r e n H e l d e n z u r ü c k , trotz der schwersten Enttäuschung des Ausganges, müssen wir wieder den W e g und die Liebe finden. Allerdings — und das ist nun das Entscheidende und hoffentlich Versöhnende — soll die Kraft, die in diesem Heldentum in Erscheinung trat, in dem neu zu bildenden Geschlecht, das Deutschland aus seiner Not wieder emporführen soll, eine andere Gestalt annehmen. D e r m i l i t ä r i s c h e K r i e g s - u n d G e w a l t g e i s t s o l l s i c h in u n e r s c h r o c k e n e n B ü r g e r geist verwandeln. Die Vorbilder der Helden im Kriege sollen Helden im Frieden, z u m Frieden erziehen. Nur damit versteht man den Sinn meiner Ausführung. Wir Wissen von der Natur, daß dort die Kräfte bald in dieser, bald in jener Wirkungsweise auftreten und von einer Form in die andere übergehen. Das gleiche findet aber auch bei dem Menschen mit seiner geistigen Kraft statt. Schon Bismarck wies auf den verhängnisvollen, bedrohlichen Mangel in der seelischen Verfassung, im geistigen Charakter der gegenwärtigen Deutschen hin. Mit hohen Worten erkannte er ihren soldatischen Mut an, mit dem sie tapfer in den Tod zu gehen wüßten. Und über alles Lob erhaben, für alle Zeiten ein bewundernswertes Beispiel offenbarte sich dieser soldatische Mut der Deutschen auch in diesem Weltkriege wieder, ja hier sogar in einer Größe wie nie zuvor. Aber etwas anderes vermißte Bismarck an seinen deutschen Zeitgenossen: den Mut, die Unabhängigkeit und kühne Ent-
55
schlossenheit, die Charakterfestigkeit des Urteilens und Handelns im politischen Leben des Friedens. Scherzhaft drückte er dies mit dem Worte aus, es fehle den Deutschen an „Zivilkourage". In der Tat, so todesmutig die Deutschen vor dem Feinde im Felde kämpfen, mit einer eiskalten Ruhe, als handele es sich bei diesem Kampf auf Tod und Leben um nichts, um Spiel — im gleichmäßigen Gange des Friedens, zu Hause, da erträgt der Deutsche, wenigstens der gegenwärtige Deutsche nicht den leisesten scheelen Blick des Nachbarn. Hier etwasUngewöhnliches, vom allgemeinen Schritt und Trott Abweichendes, Freies, Entschiedenes, Charaktervolles zu sagen und zu tun — dazu vermag sich der heutige Deutsche nicht mehr aufzuschwingen. Eine lähmende Angst, nur ja niemanden vor den Kopf zu stoßen, die allgemein üblich gewordene Regel um jeden Preis zu befolgen, hemmt ihm jedes echte und kräftige Wollen. In dieser feigen und kleinlichen Angst offenbart sich eben die Willensschwäche des gegenwärtigen Zeitalters, Von der ich oben eingehend gesprochen habe, die unserem Volk so unermeßlich geschadet, die ihm so tiefe Wunden geschlagen, den ganzen Umsturz unseres Staätes verschuldet hat. Und daß diese Charakterschwäche nicht etwa nur den Vertretern des alten Systems angehaftet habe, sondern auch den neuen Machthabern, die sich immer nur am Gängelbande der allgemeinen Volksstimmung dahinschleifen lassen, niemals aber kühn und eigenbewußt über Wahn und Irrtum dieser Volksmeinung hinwegschreiten, habe ich ebenfalls ausgeführt. Übrigens hat Bismarck, dieses wahre Wunder von Kraft unter lauter Schwächlingen und Zwergen, auf das gerügte Gebrechen nicht nur scherzhaft hingedeutet, er hat auch mit dem ganzen Gewicht des mahnenden Ernstes den Deutschen seiner Zeit diesen Mangel an Persönlichkeit und Charakter vorgehalten. Fast übereinstimmend mitNietzsche, neben Bismarck der einzigen wirklichen Größe der letzten Epoche, wirft er seinen Zeitgenossen den schwersten, gefährlichsten aller menschlichen Schäden vor, den Schaden tief im.Innern der Menschenbrust, worauf die einsetzende Fäulnis im menschlichen Leben beruht) nämlich, daß sich in Deutschland keine Männer mehr fänden, die Verantwortungen zu übernehmen gewillt wären. Mit der eindrucksvollen, unwiderstehlichen Macht seiner eigenen starken Persönlichkeit hat Bismarck dieses Übel gebrandmarkt. Wie 56
wahr, wie klar hat Bismarck damit das Wesen seiner Zeit, die Schwäche seiner Umgebung bloßgelegt! Und da sagt man, Bismarck habe den deutschen Charakter gebrochen! Umgekehrt, vergeblich hat er versucht, die Deutschen zu diesem Charakter nach seinem eigenen Vorbilde zu erziehen, zu sich emporzuziehen. S i e sind ihm feige ausgewichen. Von seiner stahlharten Willensstärke ist nichts auf sie Ubergegangen. Hören wir doch endlich auf unsere großen Erzieher und Führer! Liegt doch nunmehr am Tage, wohin uns die vielen Kleinen, die „Allzuvielen", wie Nietzsche sie nennt, getrieben haben, wohin wir mit unserer geistig-sittlichen Mutlosigkeit gelangt sind! Die Kraft als solche ist n i c h t in unserem Volk erloschen. Davon bin ich unerschütterlich überzeugt. Sonst wäre jede Hoffnung auf einen Wechsel, eine Besserung nichtig. S i e war nur in falsche, oder treffender ausgedrückt, einseitig und ausschließlich in bestimmte Bahnen gelenkt, wurde nur nach bestimmter Richtnng hin ausgeübt. Während der langen Friedenszeit, seit der Reichsgründung strömte die ganze deutsche Kraft in die wirtschaftliche Arbeit über. Es war, man handelte so, als ob es andere Aufgaben im Staats- und Volksleben überhaupt nicht mehr gäbe. Das ganze Sinnen, die gesamte Anspannung und Willenskraft wurde gleichsam von diesem Drange nach wirtschaftlicher Entfaltung und Betätigung aufgesogen. Und staunenswürdig war diese Willenskraft, die Ausdauer, Zähigkeit, Unermüdlichkeit und Unerschöpflichkeit dieser Willenskraft. Die ganze Welt erzitterte vor der deutschen Willenskraft. Und dann kam der Krieg. War nun etwa die deutsche Kraft durch den Anblick der größten Gefahr gelähmt, entwurzelt? O nein, gewaltig schwoll sie empor, die deutsche Kraft. Und noch mehr erzitterte die Welt vor dieser ungeheuren, unvergleichlichen Volkskraft, die nun in Wirkung trat. Niemals hat die Welt ein so kraftstrotzendes Volk gesehen, wie das deutsche Volk im Anfange und Verlauf des größten Krieges, und wird es wohl in Jahrtausenden nicht wiedersehen. W i e konnten die Deutschen nur ihren Stolz so weit verleugnen, daß sie schon in ein, zwei Jahren die wunderbarsten Heldentaten aller Zeiten, von ihrem eigenen Volk vollbracht, vergessen konnten! Es ist doch wohl nur ein plötzlicher Anfall, eine Ohnmacht, die wieder weichen wird. Die Kraft schlummert nur, um verjüngt wieder aufzuwachen. 57
Aber leider war die deutsche Kraft im Kriege gleichfalls wiederum nur einseitig in eine ganz bestimmte Richtung ausgetreten und hervorgebrochen, in der nächstliegenden, anscheinend einzig notwendigen Form zu Gestalt und Tat gelangt, nämlich als Kraft zum K a m p f e . Die Kraft zur Arbeit wurde darob nicht versäumt, nicht abgestellt. In diesen z w e i Strömen, als Kraft zur A r b e i t und Kraft zum K a m p f e rauschte sie während des Völkerringens gewaltig dahin, in wechselseitigem Wetteifer, lange Zeit mit glücklichstem Ineinandergreifen, mit vollkommener Ergänzung und Eintracht. Ich kann mich noch heute, wenn ich an jene Zeit zurückdenke, ganz aufrichtig und echt begeistern, kann mich in Bewunderung völlig verlieren angesichts dieser sagenhaften Kraft, und mögen heute die geschlagenen Gemüter, ängstlich und scheu, um ihr eigenes böses Gewissen, ihr schweres Schuldgewissen wegen Verrat an dieser Kraft einzuschläfern, den Blick davon abwenden. Diese herrliche Tugend wird, ob sich die Heutigen alle Ohren verstopfen und ihre Seelen verstumpfen, dennoch wieder in ungetrübter Schönheit und unverletzbarer Reinheit ans Licht treten und glänzen. Aber leider, auch während des Krieges fehlte die wichtigste Äußerung der Kraft, mied sie es nach wie vor in der bedeutsamsten Gestalt, in der letzthin entscheidenden Form sich auszuwirken, nämlich als g e i s t i g e Kraft, als seelisch-sittliche Stärke, als Kraft vom tiefsten Innern her und ins tiefste Innere zurüek. Der geistigsittliche Mut, der all die langen Friedensjahre während unserer so erfolgreichen Arbeitsperiode gefehlt hatte, fehlte auch jetzt noch, da zu der Arbeit der Kampf sich hinzugesellte. Das war das Verhängnisvolle. Die klare Erkenntnis und Einsicht und die darauf gegründete Entschlußkraft, der unbeugsame Wille blieben aus, stellten sich nicht in der schweren Entscheidungsstunde ein — zu lange hatte man diese Mächte verkannt, unterdrückt — damit sie die im Kampf und in der Arbeit entbundenen Kräfte hätten regeln und zügeln, antreiben und hemmen, kurz hätten beherrschen können. Die beste Kraft aber, wenn nicht von der sittlich-geistigen Kraft beherrscht, verschäumt und verrinnt. Doch ich denke, sie ist trotz dieser überreizten und überspannten Entfaltung noch nicht Völlig aufgezehrt. Noch glaube ich an überreiche und unerschöpfliche, noch ganz unerschlossene und unentdeckte Schatzkammern der deutschen Kraft, die nur der
58
Wünschelrute harrt, um ans Licht zu treten. Als Charakterkraft, als geistig-sittliche Kraft soll sie wieder auferstehen, in diese neue Gestalt soll sie eingehen. Dieselbe deutsche Urkraft, in der letzten Epoche nur als Arbeit und Kampf der Welt bekannt, soll als Seelengröße, als geistiggestaltende Macht ihre weltgeschichtliche Probe bestehen, sich der großen Prüfung der Weltgeschichte, die ihr die Niederlage und alles Elend des Weltkrieges auferlegt hat, unterwerfen. Wird sie diese Prüfung mit klarem Bewußtsein aufnehmen und bestehen? Sie kann und wird es nur, wenn sie sich an die Größe der Vergangenheit anschließt, von dorther ihre lebendige Wärme, ihr Feuer, ihren unerschütterlichen, großen Glauben zu gewinnen sucht. Sie muß sich entzünden an den Großtaten der Väter, an den Großtaten der Arbeit und des Kampfes und zumal des Kampfes, der mit seinem sichtbaren, herzerhebenden Heldentum — denn hier drängt sich die Kraft in eine staunenswerte, kurze, alle Menschlickeit aufbietende Leistung und Tat zusammen — auch die niedergeschlagenste, entmutigtste Seele wieder anregen, beleben, aufrütteln und beschwingen kann. Deshalb laute die Losung: z u r ü c k zu u n s e r e n H e l d e n ! Nicht, um den erloschenen Kriegsgeist wieder zu schüren, den erlahmten Kriegswillen wieder anzustacheln. Die gleiche Kraft, die in den Heldentaten des Krieges unverwelklichen Ruhm geerntet hat, soll — denn es ist im Menschen nur e i n e Kraft, die verschiedene Offenbarungen und Erscheinungen zeigt — nunmehr die friedlich schaffende, gestaltende geistige Macht erzeugen, aus sich hervortreiben, soll in diese Form menschlicher Kraft umschlagen, soll neu erscheinen als d e u t s c h e B ü r g e r t u g e n d . Nur durch die Heldenliebe zu unseren Kämpfern, nur mit dieser Heldenliebe im Herzen werden wir diese schwerste aller menschlichen Aufgaben erfüllen können, die doch heute unter dem Schwall der Verwüstung und Zerrüttung uns so furchtbar nötig ist. Nur der C h a r a k t e r kann uns helfen, nichts anderes mehr. Der Charakter aber ist die schwierigste, größte Tat des Lebens, das geräuschlose, unscheinbare Heldentum, das die innere Zerstörung, die schleichende Macht des Bösen, der Sünde, — ein viel gefährlicherer Feind als der Feind von außen! — abwehrt und niederzwingt. Bewundernswerter als die Tapferkeit, der Heldenglanz im Kampfe ist das stille, unerkannte Heldentum der Pflicht 59
im matten, niederziehenden Alltag, die glanzlose Pflicht, die die Reinheit und Hoheit, Wahrheit und Treue, Ungebrochenheit und Unerschrockenheit der S e e l e ist. Höher als der K ä m p f e r steht der B ü r g e r . E s ist unverzeihlich, daß die gegenwärtige Demokratie in Deutschland von diesem Übergange der einen Kraft in die andere, oder genauer ausgedrückt, von der wechselnden Erscheinungsform der nämlichen Grundkraft des Volkes bald in dieser, bald in jener Gestalt, von der Umwandlung des Heldentums im Kampfe zum Heldentum des BUrgersinnes nichts weiß oder wissen Will. Damit untergräbt sie ihre eigene Zukunft. Daß sie sich nicht durch Beispiele belehren läßt! Ich will nicht von Frankreich und Amerika reden, den großen Demokratieen, die doch wahrlich ihre militärisch-kriegerischen Erinnerungen, ihre Krafttaten im Kampfe hoch und heilig halten und sich dennoch zur Demokratie, auch zum Weltfrieden, ja zum Völkerbunde bekennen. Denn hier möchte die deutsche Demokratie einwenden, diese Staaten und Völker, wenn auch in demokratischen Formen, seien noch ganz vom nationalistischen Geiste durchdrungen, hätten sich zum geistigen Hochfluge der deutschen Demokratie, die jeden Kriegs- und Gewaltgeist grundsätzlich und für immer ausmerze, verfehme, noch nicht emporgeschwungen, hätten vom wahren demokratischen Geiste noch nichts verspürt. Der wirklich unbedingte Internationalismus, der echte, reine Friedenswille seien in diesen kapitalistischen Demokratieen noch nicht zur Herrschaft durchgedrungen. S o weise ich denn auf ein anderes Beispiel hin. Es gibt kein friedliebenderes und zugleich demokratischer gesinntes Volk als die Schweiz. Nichts liegt dem ganzen schweizerischen Volke ferner als kriegerische Leidenschaft, kriegerische Pläne. Die Bundesregierung ist der unbedingten Friedensgesinnung aller Schweizer Bürger sicher. Und doch, wie halten alle Schweizer Bürger die Erinnerung an die kriegerischen Taten ihrer Vergangenheit hoch, wie erheben sie sich beständig an diesen Taten, deren Erinnerung ihrem ganzen Volk erst die Seele, den Zusammenhang gibt! Das Schweizerische Staats- und Volksgefühl ist ohne diese Verehrung des kriegerischen Heldentums der Vorfahren garnicht denkbar. Man braucht nur die gewaltigen Bilder Hodlers anzuschauen. Kein Preuße kann liebevoller und stolzer an die kriegerischen
60
Lorbeeren seines Staates denken als der freie demokratische Schweizer an die des Seinen. Und doch Hebt der Schweizer den Frieden, wünscht er die nämliche Kraft heute in anderer Gestalt betätigt zu sehen. Sprachlos vor Erstaunen steht das gesamte Ausland vor der nationalen Würdelosigkeit der deutschen Demokratie, die die größten Heldentaten des eigenen Volkes verräterisch abschwört, einem unbegreiflichen Wahn zu Liebe. Damit tötet sie jede deutsche Volkskraft, auch jede f r i e d l i c h e deutsche Kraft. Wenn die deutsche Demokratie aus den geschichtlichen Lehrbüchern für die Jugend alle erhebenden, aneifernden und befeuernden Taten der Vergangenheit ausschaltet, woran sie am W e r k e ist, so bleibt ihr nichts als der leere Stumpfsinn übrig, der hohleWortschwall hergeleierter, wesenloser, verblasener Ideale. Nur Taten erzeugen Taten. Niemals werden wir von den Taten der Vergangenheit loskommen, wenn wir auch unsere Kraft in andere Bahnen, zu anderen Zielen lenken wollen. Den Helden gegenüber, hat glaube ich Nietzsche einmal gesagt, gibt es kein anderes Rettungsmittel als die Liebe. Ich führe das alles aus nicht als Gegner, als politischer Feind der Demokratie. Ich sage das lediglich als philosophischer Denker, als sozialer Psychologe. Wenigstens mit ehrlichstem Streben nach reiner Erkenntnis glaube ich hiermit wissenschaftlich erkennbare Tatsachen über die Lebensfunktionen der Völker auszusprechen, auf Grundgesetze im Leben und Wachsen der geschichtlichen Völker hingewiesen zu haben. Unsere Demokratie scheint kurzerhand entschlossen zu sein, solche Grundgesetze des Volkslebens aufzuheben, umzustürzen. Sie wird erfahren, daß sie sich damit selbst zu Grunde richtet. Als befremdlich wird dem Leser die hier mehrfach erfolgte Anwendung, die hier benutzte Bedeutung des Wortes „Bürger" aufgefallen sein. In den Rahmen des heutigen Sprachgebrauchs, unserer Zeitsprache scheint sich diese Bedeutung garnicht einzufügen. In der Tat, ich greife damit auf eine ältere Zeit zurück. Welch einen schönen, ehrfurchtweckenden Klang hatte einst das Wort „Bürger" in unserer Sprache! Wohin ist heute dieser Klang verweht! Einst der Inbegriff aller Tüchtigkeit, Rechtlichkeit, aller Charakterfestigkeit, glühenden Freiheits- und Unabhängigkeitssinnes, der Ausdruck des höchsten Stolzes, ja fast Versinnbildlichung aller Tugend schlechthin ist heute das Wort „Bürger", 61
man sollte meinen, in das gerade Gegenteil umgeschlagen, herabgesunken, ist in die Bedeutung alles Engen, Kleinlichen, Ängstlichen, Feigen und Kümmerlichen umgedichtet worden. Erinnern wir uns der mittelalterlichen Städte mit ihrem starken und freien Gemeinbewußtsein, der Ausbildung unerschrockenen, unbeugsamen Bürgerstolzes. Da war verwirklicht, in den Geistern vorhanden, was wir jetzt suchen und brauchen und so schmerzlich vermissen: C h a r a k t e r . Die Kirchen, die Rathäuser, die Wohnhäuser gehen noch heute anschaulich Kunde von der selbstbewußten, tapferen Kraft, von der inneren Willensstärke jener Geschlechter. Der Bürger beklagt sich heute, daß er in die Enge getrieben worden sei, daß er jeden Einflusses beraubt sei, ja daß er dem Untergange entgegengeführt werde. Ich sage, es liegt an ihm, weil er jede Charakterstärke, jede Entschlossenheit, Unbeugsamkeit, Gradheit und Festigkeit des Willens verloren hat. Nur aus innerer Schwäche keimt die äußere Schwäche. Ich verstehe unter seelischer Stärke nicht das hastige Mitlaufen und laute Mitschreien in den Parteien hüben und drüben. Die heutigen Menschen, wie sie, in den Parteigruppen zusammengeballt, bald hierhin und dorthin rennen, fluten, kommen mir vor wie Staub auf der Straße, den der Wind aufwirbelt, zusammenjagt, trennt, nach Belieben hierhin und dorthin fegt. Diese Menschen sind leicht, federleicht. Unter Willensstärke verstehe ich nicht das schnelle, heftige Erfaßtwerden von sozialen Stimmungen und Wünschen, von allgemeineren Regungen, wie sie im Volksleben aufquirlen. Ich verstehe darunter im Gegenteil den Freimut, den p e r s ö n l i c h e n Freimut, kraft dessen der Einzelne das eigene Urteilen und Handeln unabhängig vom Lärm und Schwirren des Tages zu gestalten und zu verantworten wagt. D a s ist Willensstärke. Nur solche Menschen haben Gehalt und Schwergewicht. Diese Kraft bedeutete einst das Wort „Bürger". Allerdings erschüttert konnte die innere Würde des Bürgers durch Umdeutung und Verfälschung seines Namens nur deshalb werden, weil er selbst innerlich von seiner Würde abgefallen War, seinen Charakter verloren hatte, wie unsere Staatsleitung durch eigene Schuld ihrer Machtstellung verlustig ging. Aber wie die Zerstörung unseres Staates, die Revolution lediglich ein Zerstörungswerk war und nichts, garnichts geschaffen hat, nicht den geringsten Ansatz nur zu neuen, segensreichen Gestaltungen 62
unseres Staatswesens zeigt, so ist auch die seelische Untergrabung, die Herabwürdigung des deutschen Bürgers lediglich ein Werk der Zerstörung. Und die Stände und Schichten, die diese Tat vollbracht haben, sind weit davon entfernt, selbst besser, gehaltvoller, charaktervoller zu sein. Unsere ganze Zeit, unser gesamtes Volk von oben bis unten, durch alle Stände und Schichten hindurch zeigt, wie wir erkannten, die Verderbnis zur Willensschwäche, den Verfall des Willens. Und Heil kann unserem gesamten Volke nur dadurch werden, daß wir uns insgesamt aufraffen, uns endlich straff zusammenraffen und die alte deutsche Bürgertugend zurückerobern. Vor allem ist die Einschränkung dieses Begriffs und Namens auf nur eine bestimmte, engere Gruppe und Schicht zu verwerfen, mit Entschiedenheit abzuwehren. Wir sind künftig a l l e Bürger des einen Staates. Wollen wir es aber sein und mit gemeinsamer Kraft den neuen Staat, der der Staat a l l e r sein soll, fest gründen und kühn ausbauen, ein ragendes Denkmal deutscher Lebensfülle inmitten tiefster Not, einen siegreichen und stolzen Trutzbau wider das Schicksal, dann müssen wir den stärksten Bürgergeist ausbilden, der das gesamte Volk ergreifen soll, jenen Bürgergeist, der den sittlichen Mut in höchster Steigerung, die Lauterkeit und Stärke des Charakters in möglichster Vollkommenheit darstellt. Das muß unser aller Ziel sein. Und hierzu kann uns der Geist der Vorfahren wertvolle Hilfe leihen, der Geist der Vorfahren, den wir in mattem Nachklang noch in unserer Sprache klingen hören. Ein wunderbarer Heilquell und Jungbrunnen ist für jedes Volk seine Sprache. In der Sprache ist Geist, Seele und Gesinnung der Vorfahren wie in einem heiligen Schreine niedergelegt. Man braucht diesen Schrein nur aufzuschließen, um herrliche Schätze, Kleinodien von geheimnisvoller Wirkung, von heilspendender Wunderkraft ans Licht zu ziehen. Wenn ein Volk ratlos irrt, wenn ihm seine Ideale, die geistigen Heiligtümer zerschlagen sind und mit ihnen auch alles äußere Wohlergehen und Glück zerspellt ist, sodaß es außen und innen nur Wüste Trümmer schaut — und ist nicht das der Zustand des deutschen Volkes ? — dann muß es als zu seinem letzten Rettungsquell und Genesungsbrunnen zu seiner Sprache pilgern. Dort perlt seiner fiebernden Not kühle Erquickung auf. Von dorther ertönt ihm herzstärkend und 63
beruhigend, erfrischend und beseligend ein verschollenes Lied von alter deutscher Kraft entgegen. Die Seele des Volkes, des g a n z e n Volkes von Urzeiten her singt und klingt und lebt in der tönenden Sprache, nicht nur die Seele des Jetzt, die ja wund ist und elend, die weint und klagt, am Leben verzweifelt und sich nicht helfen kann, sondern auch die verschlummerte Seele ferner, ferner Vergangenheit, der aufgehäufte, gesparte geistige Schatz, die Seelenfülle aller Jahrhunderte. Dort quillt unversiegbar die reinste Kraft des Volkes. Unsichtbar ist diese Kraft, wie der Geist unsichtbar ist. Aber in der Sprache hat er das Tor gesucht, durch das er aus dem Reiche des Unsichtbaren zum Lichte drängt. Dort ist er zu finden, dort führt der Weg zurück in das unsichtbare, geheime Reich des Geistes, aus welchem wir schöpfen müssen. Und wenn nun die zerstörenden Mächte der Gegenwart — um nicht mißverstanden zu werden, wiederhole ich, was ich schon oft gesagt habe, daß die ehemals führenden Mächte in unserem Volk die Schuld an unserem Jammer und unserer Erschöpfung tragen, weil sie nicht zu regieren verstanden. Das ist wahr und bleibt wahr. Indessen, dieses Eingeständnis schließt nicht die Folgerung in sich, daß darum nun die im Gegensatz zu ihnen aufgestandenen, emporgekommenen Mächte heilbringende, schöpferische Mächte seien. Ich sehe in ihnen vorläufig nur zerstörende Mächte. Sehr, sehr müßten sie sich wandeln, wenn man an ihren aufbauenden Willen, an ihre Fähigkeit zu schöpferischem Bauen glauben sollte. Im Unmute haben sie z e r s c h l a g e n , was stand, nichts weiter. Dies ist ja der Wahnsinn des Zeitalters, daß wir w ä h l e n sollen, während der freie, vorurteilsfreie Blick lehrt, ich meine zum Greifen deutlich lehrt — und nur die Verblendung kann es nicht sehen —, daß auf b e i d e n Seiten die größte, schwerste Schuld zu suchen ist, dort, daß man nicht zu regieren verstand, und hier, daß man aus Empörung darob nur zertrümmerte und zerstörte, erst innerlich unterwühlte und dann auch äußerlich, in gefährlichster Stunde, wo man die ganze Kraft hätte aufbieten müssen zu halten und zu stützen, alles zerbrach, alles in Schutt und Staub verwandelte. Und zerstörende Mächte sind es bis zur Stunde geblieben. Ihr Z o r n war berechtigt, aber nicht ihre Zertrümmerung. Besser machen, h e i l e n , wäre ihre Aufgabe und Pflicht gewesen. Das aber war allzeit schwerer als 64
zertrümmern. Wir lebten in einem nur verneinenden Zeitalter und leben noch in ihm. Das ist die unverstandene Qual der Stunde. Wenn nun, um wieder anzuknüpfen, diese zerstörenden Mächte unseren Staat und unsere wirtschaftliche Haushaltung vernichtet haben, so kann man dies, so gefährlich es ist, zur Not noch hingehen lassen. Denn alle äußeren Güter sind wieder ersetzbar, so schwierig es sein mag. Leben und quellen in verborgener Tiefe noch geistige Kräfte, dann besagt dieser Verlust nicht allzuviel, alles ist wiederherstellbar. Wenn sich aber nun jene Mächte auch an die Seele des deutschen Volkes wagen — die Seele des Volkes wohnt in seiner Sprache —, wenn sie diese heilige Schöpfung unserer Väter antasten, indem sie sie verfälschen, umdichten, vergiften — und solche Vergiftung liegt in der Entwertung der ehrwürdigen Worte — dann, ja dann ist die Gefahr erst groß, aber dann stoßen diese zerstörenden Mächte auch erst auf eine Gegnerschaft, die sich nicht so leicht niederringen und überwältigen läßt. D i e s e G e g n e r s c h a f t i s t d e r d e u t s c h e G e i s t . Mochten der deutsche Staat und die deutsche Wirtschaft ohnmächtig zu Boden sinken, wer den deutschen Geist im Tiefsten angreift und damit auch aus dem Tiefsten heraus zum Widerstande, zur Erhebung aufreizt, d e r b e i ß t auf G r a n i t , um den bekannten Ausspruch anzuwenden. Da steht eine andere, stärkere Gewalt auf, an der alle Wut der Zerstörung zerschellen muß. Die Griechen erzählten von ihren Göttern, die sie sich in strahlender Schönheit vorstellten, daß sie im Kampf, zur Abwehr einen grausigen Schild mit furchtbaren Schreckbildern, die Ägis, trügen, dieses Schreckbild nur vorhielten und zeigten, und alsbald, vom Anblick dieses grausigen Schreckens gelähmt und entwaffnet, erstarb die Kraft der Götterfeinde. Also, dünkt mich, wird sich aus geheimer Tiefe der deutsche Geist in reiner Schönheit erheben, selbst unberührt vom Kampfe, von der Kampfwut nicht entstellt und nicht verzerrt, sondern erhaben und rein wie ein Götterbild, hell und leuchtend, aber die Ägis, ein grausiges Schreckbild wird er schütteln und damit die Ungetüme und Unholde der Zerstörung niederschmettern. Das wird geschehen, weil der deutsche Geist nur schlummert und noch über unermeßliche Kraftquellen verfügt, die er, nunmehr selbst gefährdet und herausgefordert, auftun und aufbieten wird. Das wird die Erscheinung sein, nachdem alle anderen 5 65
MSchte entwurzelt und entblättert sind, kahl und stumpf dastehen. Der Geist wird als letzter Halt und Hilfe in höchster Bedrängnis wie ein rettender Gott auf den Kampfplatz treten. In ihm finden die Dämonen des Unheils einen ebenbürtigen und hoffentlich sogar überlegenen Gegner, dessen Kräfte noch niemand ahnt, der in sich die aufgesparten Reichtümer der Seele des deutschen Volkes seit Jahrhunderten birgt. Und das Gefäß dieses Geistes ist unser kostbarstes Erbgut, unsere Sprache. Was hat man aus den Worten „Vaterland", „Deutschland" gemacht! Was aus dem Worte „Staat"! Wie hat man alle Worte, die des Volkes Gemeinsamkeit ausdrücken, jeder Hoheit, Ehrfurcht und Würde entkleidet, wie hat man sie in den Kot geschleift! Und wie hat man alle Worte, die diesen hohen Gebilden dienen, sie gleichsam umschweben, umkreisen, verrufen gemacht, verdorben, Worte wie „Ordnung", „Unterordnung", „Hingabe", „Treue". Bei solchen Worten hohnlacht heute die Menge. Wie hat man das Wort „Volk" entstellt! Ehemals das heilige Band der Einheit, das großartige Sammelwort, das alle umgriff, alle in e i n e Kraft des Glaubens, des Willens, der Tat emporriß, in ein einziges mächtiges Gefühl der Größe und Würde, des Stolzes zwang! Heute von einer bestimmten Klasse mit Beschlag belegt, nur für eine einzelne Gruppe, für begrenzte Berufe in Anspruch genommen, während alle anderen Stände, die doch auch Mitglieder und Mitarbeiter am Ganzen sind, von diesem heiligen Worte der Einheit ausgestoßen werden, zum Parteikampfworte herabgewürdigt, das nicht bindet und eint, sondern trennt. Ich könnte solcher verfälschten Worte noch viele nennen. Die ganze Sprache ist gleichsam wie von eklem Grünspan der Vergiftung überzogen worden. Da ist so gut wie nichts mehr echt und rein und lauter. Diese Vergiftung und Schändung hat auch das Wort „Bürger" und dieses Wort vielleicht am schlimmsten heimgesucht. Aber nun ist das Merkwürdige und Wunderbare an der Sprache, daß die alten ehrwürdigen, reinen Bedeutungen solcher Worte, trotz der angeklebten Verfälschung, immer noch nachhallen, immer noch leise mitschwingen. Zu lange haben diese Klänge jene hohen und edlen Gefühle und Vorstellungen ausgelöst. Nun können diese nicht plötzlich absterben, so eifrig und leidenschaftlich sie auch erstickt werden sollen. Die Erinnerung an sie wird stets wieder geweckt, wenn
66
der alte, vertraute Laut ertönt. Die Sprache birgt, wie ich schon sagte, das seelische Leben, Erfahrung und Gesinnung aller Vorfahren in sich. Mit der Sprache als Machtmittel kämpfen wir nicht nur mit Hilfe von Kräften der Gegenwart. Uns erstehen in ihr Helfer aus Urzeiten, geheimnisvolle, starke Helfer. In dem Doppelsinn der Worte, die wir heute bei allen wichtigen und entscheidenden Worten, die die Zeit beherrschen, empfinden, spricht sich der Zwiespalt und Riß aus, der unser Volk zerklüftet. Beleben wir nur wieder den einstigen Sinn und Hauch, fachen wir ihn an, der die bedeutendsten Worte unserer Sprache umwehte. Und alle Welt wird uns verstehen. Ein starkes Heimatsgefühl der Echtheit, Treue und Kraft wird alle noch nicht ganz vergifteten Gemüter überkommen und durchströmen. Sie werden zur Einheit des Volkes zurückgerufen. Die Tugend der Väter steigt mit diesen Worten aus der Verschüttung und Verderbnis empor. Werden wir wieder „Bürger", wie einst in unserer Sprache dieses edle Wort gesprochen, empfunden wurde, als Sinnbild jeder Unerschrockenheit und Unbeugsamkeit des Charakters, des persönlichen Freimuts, der Festigkeit, Standhaftigkeit, Selbstverantwortlichkeit jedes einzelnen, der seine Würde nicht wegwirft, der sich wieder fest auf eigene Füße stellt. Dann sind der Zeit mit ihrer Schwäche die Giftzähne ausgebrochen. Dann dürfen wir uns dem schweren Schicksal gewachsen, dem schweren Schicksal gegenüber, das uns beschieden ward, gewappnet fühlen. Wir alle empfinden deutlich: irgend etwas ganz Wunderbares, Außerordentliches, Gewaltiges muß geschehen, wenn unserer Not ein Ende bereitet werden, uns Rettung winken soll. Wie wäre es, wenn wir dieses Wunderbare nicht länger von a u ß e n erwarteten, etwa in dem Zerwürfnis unserer Feinde, oder was sonst Abenteuerliches geschehen könnte, was ich vorläufig insgesamt für trügerische Hoffnungen halte, wenn dieses Wunderbare von i n n e n hervorträte, wenn wir es selbst aus eigener Kraft herbeizurufen uns entschließen könnten? Dieses Wunderbare wäre der Umschlag unserer C h a r a k t e r s c h w ä c h e in C h a r a k t e r s t ä r k e . So etwas k ö n n t e geschehen. W i e ein einzelner Mensch auf verworrenem, schuldhaftem Lebenswege, von Gewissensvorwürfen ergriffen, plötzlich den Wagen seines Lebens und Schicksals wendet, den alten Adam auszieht und von Stund an ein anderer ist und lebt und wirkt — solche 5* 67
gewaltsamen, plötzlich einsetzenden Wendungen im sittlichen Leben der einzelnen werden von der Erfahrung alter und neuer Zeit bezeugt, solche Wendungen sind möglich — so könnte vielleicht doch auch ein ganzes Volk oder die überwältigende Mehrheit in einem Volke, welches schon lange unbefriedigt auf sein eigenes Dasein und Wirken schaut, sich der tiefen Mängel in seinem Leben bewußt ist, mit einer einzigen großzügigen, das Innerste aufwühlenden „Bekehrung" gleichsam dieses ungenügende Wesen abtun, mit einem Ruck und Wurf abschütteln und als ein geläutertes und veredeltes, ein wiedergeborenes Leben und Sein erscheinen. Ich sage, diese Verwandlung m u ß geschehen, wenn anders wir aus unserem Elend den Ausweg finden sollen. Der C h a r a k t e r muß wieder erstehen, der lang vermißte wieder frei und wirksam werden. Echtes Bürgertum — und Bürgertum bedeutet Charakter — muß wieder die Geister beseelen. Dann ist die große Schlacht des Friedens gewonnen. Neues Heldentum bricht wieder hervor, ziert und verklärt das Leben wie ein warmes, stilles Leuchten. Die Seelen sind bereit, sind klar zu neuer Arbeit und Tat geworden. Nicht mehr hoffnungslos, sondern zuversichtlich kann das also entsühnte Volk die große, schwere Aufgabe angreifen, aus den Trümmern seines Staates und aller seiner zerstörten Lebensgebilde einen festen Neubau der Weisheit, Stärke und Schönheit aufzuführen. So heiß ist dieser Wunsch nach der großen Erneuerung und Bekehrung, der innersten Wiedergeburt unseres Volkes zu Charakter und Tugend, daß ich die Innigkeit und Tiefe dieses Wunsches nicht auszudrücken vermag. Ich suche vergeblich nach Worten, um das Verlangen nach diesem Seelenumschwung in seiner vollen Kraft zu bekunden. Denn an dieser inneren Wiedergeburt hängt a l l e s . Man denkt immer, die V e r h ä l t n i s s e müssen erst besser werden, die wirtschaftlichen und politischen Zustände sich heben. Dann würden auch wieder die M e n s c h e n besser werden. Ich frage nur: wie sollen die Verhältnisse besser werden, wenn die Menschen sie nicht besser m a c h e n ? Und wie k ö n n e n sie sie besser machen, wenn sie nicht zuvor selbst in ihrem innersten Wesen und ihrer Gesinnung besser werden ? Wie schon der alte Sokrates seine ratlosen Athener nach der Vernichtung ihres Staates belehrte, daß nicht aus dem Reichtum die Tugend komme, sondern aus der Tugend der Reichtum und 68
alle anderen menschlichen Güter. Ohne diese Rückkehr zu Charakter und Tugend, treuem und festem Bürgergeist kein neuer Staat! Dessen kann man versichert sein! Ohne diese innere Entsühnung und Aufrichtung ewige Knechtschaft, Armut, Verwüstung, Verwilderung. Das muß ein jeder wissen. Er hat die Wahl frei. Mir fehlen, wie gesagt, die Worte, um die Stärke und Tiefe dieses Wunsches nach sittlicher Einkehr, Umkehr und Rückkehr auszudrücken. Seit langer Zeit sind für mich die Glaubenssätze unserer väterlichen Religion überwunden und entwertet. Aber lange Jahrhunderte hindurch hat die Seele unseres Volkes in der Sprache dieser Religion ihre innigsten und tiefsten Gefühle niedergelegt und ausgeprägt. Eine andere Gemütssprache wurde bisher noch nicht gefunden. Ich meine es nicht dogmatisch, ich meine nur die tiefste Innerlichkeit, Kraft und Sehnsucht, die h e i l i g e Sehnsucht des Wunsches nach einer sittlichen Reinigung und Kräftigung in unserem Volke auszusprechen, gleichsam alle Weltmächte und Daseinstiefen zur Hilfe für diesen Wunsch herbeizurufen, wenn ich mich der Sprache der alten Frömmigkeit bediene, diesen Wunsch mit dem schlicht-erhabenen Wort bekräftige: „Das walte Gott"! Hier könnte ich die vorbereitenden Betrachtungen abschließen. Damit dünken mich die wichtigsten Voraussetzungen und Vorbedingungen für die uns gestellte Aufgabe, soweit sie in unserem eigenen Innern liegen, von uns selbst abhängen, zu genügender Klarheit vorgeführt zu sein. Ich setze den günstigsten Fall, daß der Leser mir bisher im Ganzen und Großen zustimmend gefolgt ist. Er mag überzeugt, mag für die Wahrheit gewonnen sein, daß nur im sicheren Gefühl der Unschuld unser wie jedes andere unglückliche Volk zur Wiedererhebung gelangen kann, daß das Kraftgefühl, welches aus dieser Unschuld quillt, genährt und gesteigert werden muß durch das verehrungswürdige und begeisternde Vorbild heldenhafter Größe, das nur in der Vergangenheit und für unsere jetzige Lage am mächtigsten, eindrucksvollsten in jüngster Vergangenheit, in den erstaunlichen Taten des verlorenen Krieges zu suchen ist. Allein nun droht zuletzt unser ganzes Gebäude wieder einzustürzen. So ergeht es oft im Leben: wenn man am Ziele zu sein wähnt, alle Schwierigkeiten überwunden scheinen, plötzlich wird man vom Ziele weiter, als man am Anfange war, wieder zurückgeschleudert. 69
Mögen wir keine bewußte Schuld am Kriege tragen, mögen Wir im Kriege selbst Wie in der wirtschaftlichen Arbeit der vorausliegenden J a h r e bewundernswerte Kräfte bewährt haben und mag diese Kraft an sich auch heute noch nicht völlig erstorben sein, um in anderer Gestalt, als schöpferische Friedenskraft, als Bürgertugend neu belebt zu werden, mag alles das zutreffen und Hoffnung g e b e n : e i n e Tatsache, ein einfaches, nacktes Erlebnis droht die deutsche Kraft für immer zu zerbrechen, scheint sie bereits unwiederbringlich zerbrochen und unterhöhlt zu haben. Das ist die T a t s a c h e des Krieges selbst, die erschütternd furchtbare Tatsache, daß in diesem schauervollen Kriege die g a n z e W e l t gegen uns aufstand, gegen uns bis zu unserer vollständigen Niederwerfung mit Aufbietung aller nur denkbaren Machtmittel rang und daß sie nach unserer Niederlage einen Frieden uns auferlegte, der nach Menschenschätzung unser Leben für immer der Verwesung preisgeben muß. Mögen wir heldenmütig und groß, stark in der Arbeit und stark im Kampfe bis zum grausigen Ende diesem unglaublichen, allzuschweren Verhängnis uns entgegengestemmt haben, was frommt diese Erinnerung und dieses Bewußtsein ? Muß nicht das Bewußtsein eben der Tatsache, daß die gesamte W e l t einmütig und bis zum Äußersten entschlossen dem deutschen Volk den Untergang ansann und dieses Urteil der Weltgeschichte auch Vollzogen hat, muß diese T a t s a c h e nicht unser Selbstbewußtsein für immer Vernichten? Müssen wir nicht vermuten, ja mit Sicherheit annehmen, daß ohne jede bewußte Schuld dennoch wirklich irgend eine unheilvolle, arge Veranlagung in unserem W e s e n , ein abstoßender Zug in unserem Volkscharakter uns diese unselige Feindschaft aufgebürdet hat, die sich noch dazu, im tiefsten Innern unserer Natur begründet, immer wiederholen und erneuern m u ß ? Wir sind doch wie die Aussätzigen, Verpesteten von der ganzen W e l t gezeichnet worden! Das will etwas bedeuten! W i e tolle Hunde sind wir aus der ganzen W e l t verscheucht und Verjagt, in unser eng zusammengedrängtes Haus hineingepfercht und eingekerkert worden. Wenn wir lesen, wie uns die anderen Völker künftig meiden wollen, uns ihre Grenzen wie verruchten Schädlingen sperren, wenn wir aus solchen Maßnahmen auf die frühere Zeit zurückschließen, w i e lästig und unangenehm wir allen anderen Völkern schon von jeher
70
gewesen sein müssen, nur daß sie damals noch nicht die Macht oder den Mut hatten, dieses Verdammungsurteil Uber uns zu verhängen und auszuführen, das aber schon damals ihrer tiefsten Gesinnung entsprochen hätte, wenn wir bedenken, daß die Welt heute einen Völkerbund bildet, der nur u n s e r Volk ausschließt, wobei doch die Aussicht auf spätere, gnädige Aufnahme uns nicht entschädigen und beruhigen kann, wenn wir hören, wie an den verschiedensten Stellen schon jetzt große Kundgebungen des Hasses gegen künftige „Invasionen" der Deutschen veranstaltet werden — wenn wir das alles erwägen, wie können wir uns bei dieser Todfeindschaft der ganzen Menschheit wider uns, ich will garnicht sagen, äußerlich, als staatliche und wirtschaftliche Macht, nein, wie können Wir uns nur innerlich, als geistige Wesen in unserer Stellung zu uns selbst behaupten und aufrecht erhalten? Muß diese wahrhaft grauenerregende Erfahrung unser Selbstvertrauen und unsere Sicherheit, unseren Lebensmut nicht völlig untergraben? Woher sollen wir die Kraft nehmen, einer solchen Absage der ganzen Welt, einer solchen Verwerfung von Seiten aller Völker innerlich, mit dem Herzen und Glauben, mit der Überzeugung von der Berechtigung unseres Daseins Stand zu halten ? Wenn uns alle Welt verneint, wie sollen wir uns selbst bejahen können? Alle schönen Worte helfen doch nicht über diese grimmige Tatsächlichkeit hinweg, die besteht, die nicht abgeleugnet werden kann, die eine tödliche Wirkung auf unser innerlichstes Lebensgefühl und Selbstbewußtsein ausüben muß. Sind wir nicht wirklich die schlimmen Verbrecher, nicht wirklich so schlecht, wie die Welt uns hinstellt? Allein ich erwidere: nur S c h w ä c h l i n g e empfinden so. Sie entnehmen ihr Urteil über sich selbst immer nur den anderen, der Umgebung, machen sich in ihrer Selbstschätzung und Selbstbewertung gänzlich von der Umgebung abhängig. Wie diese sie stempelt, so erscheinen sie sich selbst, sie suchen sich ängstlich nach den Vorschriften und Erwartungen der Umgebung zu richten, nehmen geduldig und geruhig, ja mit dienstfälligem Eifer das Gesetz der Umwelt an. Ängstlich und unterwürfig suchen sie die umgebende Nachbarschaft mit ihren Ansprüchen im Denken und Verhalten zufriedenzustellen. Schwere Bedenken habe ich an den mancherlei Methoden und Maßnahmen der gegenwärtig herrschenden Demokratie 71
geäußert. Weit schlimmer aber als einzelne Fehler ist die allgemeine, grundlegende Stellung der deutschen Demokratie in dem großen Weltendrama des Zwiespaltes zwischen der Welt und Deutschland. Auch was ich hier zu rügen habe, sage ich nicht als Gegner der Demokratie. Die Souveränität des Volkes, daß künftig alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, ist unabwendbar, ist der einzig rettende Ausweg aus dem Wirrsal, in das wir durch die Auflösung unserer alten Staatsordnung geraten sind. Daran ist nicht zu mäkeln und nicht zu rütteln. Aber nun wäre • ach! so dringend zu wünschen, daß der demokratische Grundgedanke unseres künftigen Staates auch die rechte Ausgestaltung im Einzelnen und Bestimmten erfahre, und ferner, daß die Regierungsweisen und Grundsätze, die die so gebildete Staatsgewalt anwendet, auch den höchsten Lebensgesetzen und Bedürfnissen unseres Volkes entsprächen, daß siewahrhaft fruchtbare, segensreiche Politik triebe, daß sie mit - einem Wort ihrer schwierigen Aufgabe gewachsen wäre. Nun aber glaube ich, daß die heutige Demokratie nicht nur in Einzelheiten fehlgreift, sondern ihre Grundstellung in dem weltgeschichtlichen Völkerproblem, in dem großen Gegensatz zwischen der Welt und unserem Volke falsch gewählt hat und daß sie damit dem demokratischen Gedanken eine tödliche Wunde unabsichtlich und unbewußt zufügt. Und zwar ist es das soeben gekennzeichnete Verhalten, dessen sie sich schuldig macht, nämlich, daß sie nicht den Mut und die Kraft des Alleinstehens inmitten der Verurteilung der ganzen Welt aufzubringen vermag, daß sie jene Schwäche der dienstwilligen Anpassung und Unterwerfung zeigt, die eine völlig andersgeartete und feindselige Umgebung einem ausgestoßenen und verfehmten Gliede aufzwingt. Ich spreche nicht von dem Versailler Frieden. E s ist selbstverständlich, daß jede deutsche Regierung heute und künftig an die strenge Ausführung der übernommenen Friedensbedingungen gebunden ist. Nicht das äußere, tatsächliche Verhalten und Handeln der demokratischen Führung habe ich hier im Auge. Ich ziele auf ihr inneres, geistiges Verhalten, auf die Ideen und Gesinnungen, die sie ihrem gesamten Handeln zu Grunde legt. S i e weiß in dem furchtbaren Gegensatz der ganzen Welt gegen uns dem deutschen Volke nicht die rechte Stellung zuzuweisen, weiß ihm nicht die Gesinnung, den Glauben zu vermitteln und einzupflanzen, den 72
das deutsche Volk dieser Weltfeindschaft zum Trotz, gerade w e g e n dieser Weltfeindschaft ausbilden muß. Sie schielt ängstlich und unterwürfig nach den Lebensgesetzen, die der Geist der Feinde uns anrät, das ganze Rüstzeug ihrer Ideen und Grundsätze bezieht sie aus den Arsenalen des feindlichen Auslandes, sie erkennt, wenn auch unbewußt, eben damit die geistige Überlegenheit, die Berechtigung der Herrschaft unserer Feinde an, da sie sich tatsächlich nach deren Ratschlägen richtet. Sie vermag nicht den Stolz und die Kraft zu bewähren, innerlich ganz auf eigenen Füßen zu stehen. Von der Feindschaft der ganzen Welt umbrandet, hat sie das deutsche Selbstbewußtsein, die innere Unabhängigkeit des deutschen Willens geopfert. Schon daß sie bei der Neubildung unseres Staatswesens keinen wahrhaft d e u t s c h e n Staat zu schaffen vermochte, beweist diese verwerfliche Abhängigkeit. Denn bei der uns geschenkten Reichsverfassung erblicke ich überall nur den Abklatsch und Nachhall von Staatsgedanken der westlichen Völker. Wir wollen nach Abbruch unseres alten Privilegienstaates einen demokratischen Staat, einen echten Volksstaat gründen. Nun gut: muß nicht auch dieser demokratische Staat ein d e u t s c h e r Staat sein ? Muß er nicht in seinem Wesen und seinem Aufbau dem deutschen Volkscharakter und dessen tiefster Veranlagung entsprechen, nicht vollkommener Ausdruck dieses Charakters werden, daß unser Staat wie der rechte Leib unserer Seele erscheine? Müßte dieser neueStaat nichtvon den Kulturgedanken, den sittlichen Ideen des deutschen Geistes ganz durchtränkt und durchsättigt werden? Viel Fürchterliches und Verderbliches hat uns die Revolution gebracht. Aber sie hat uns auch eine wundervolle Freiheit gegeben, in voller Reinheit und ungeschmälerter Echtheit, aus der Tiefe unseres Volkstums unser gesamtes Leben eigenwüchsig und selbständig zu formen. Selten hat ein Volk eine so günstige Stunde. Die Vergangenheit mit ihren hemmenden und lähmenden Wirkungen ist abgetan. Man hat die Hand frei. Die schweren Schatten, die in der stetigen Entwicklung von altersher auf jede neue Arbeit und Hoffnung fallen, sind gewichen. Alles Schlimme hat auch sein Gutes, wie auch alles Gute sein Schlimmes hat. Diese einzig günstige Gelegenheit zum Neubau unseres Staates hat man schlecht genützt. Von der deutschen Vergangenheit hat man 73
sich losgerissen, diese Knechtschaft hat man gebrochen, u m a b e r n u r d e s t o t i e f e r in k n e c h t i s c h e A b h ä n g i g k e i t v o n d e r K u l t u r d e s W e s t e n s z u g e r a t e n , alle Gedanken und Einrichtungen, die man einführte, nur als Lehen von den siegreichen Feinden, von unseren Überwindern in Empfang zu nehmen. Wann wird dem deutschen Volk diese Knechtschaft aufgehen, die wahrlich unerträglicher ist als die Knechtschaft unter der alten Regierung? Wann wird es die Kraft haben, aus dieser Einsicht die richtigen Folgerungen für das politische Verhalten zu ziehen? A b e r wir haben wohl die Pflicht, der neuen Reichsverfassung gegenüber Nachsicht zu üben. S i e ward als ein eiliger Notbau aus Zuständen ärgster Verwirrung geschaffen. S o trägt dieser Bau notgedrungen die Spuren widerstreitender Einflüsse, unfertiger Verhältnisse. Nach dem jähen Einsturz eines jahrhundertalten Staates war Wohl auf den ersten Wurf hin nichts Anderes, Besseres möglich. Nur gut, wenn wir das baldigst einsehen, uns gegenwärtig halten, daß wir erst am Anfange, vor einer längeren Entwicklung verfassungsrechtlicher Arbeit stehen, daß erst der deutsche Staat aus den wilden Fluten der Revolution herausgehoben werden muß, daß hier das Entscheidende und Erlösende erst noch künftig zu tun ist. Den Entwurf eines deutschen Staates vorzulegen, Wird die Hauptaufgabe, der wesentliche Inhalt und die Krönung dieses W e r k e s sein, der eigentliche Z w e c k meiner Arbeit, dem alles andere alsUmrahmung und Ausführung dient. A b e r eins mußte man unbedingt von den neuen Gewalten, die die Verantwortung für das deutsche Volk an sich rissen, verlangen: daß sie dem deutschen V o l k e den W e g aus der trostlosen Entmutigung zeigten, daß sie ihm in dem Widerstreit mit der ganzen Welt, der zu seinem Unheil ausgefallen war, die rechte Stellung gaben, die sein Selbstbewußtsein und seinen Stolz zu heben oder wieder aufzurichten geeignet gewesen wäre. Davon aber hat man nichts bemerkt. Alles, was von der neuen Regierung ausging, war im Gegenteil dazu angetan, das schon völlig gebrochene Volk nur noch tiefer in den Schlamm der Selbstverachtung hinabzuzerren. Immer wieder stoßen wir auf die Erfahrung und Einsicht, daß ohne Philosophie Politik nicht getrieben werden kann, in 74
diesem Falle nicht ohne Volkspädagogik. J a Politik ist im Grunde nur angewandte Volkspädagogik, die Wieder nicht der sorgfältigsten und eindringendsten Psychologie entraten kann. Denn Politik ist doch Menschenbeherrschung, Menschenleitung. Und wenn nun ein Volk geschlagen und ohnmächtig, aller Hoffnung beraubt, zerrüttet und im Tiefsten verzweifelt, am Boden liegt — was muß dann die Leitung dieses unglücklichen Volkes tun? W a s tut man, wenn man einen einzelnen Menschen sich in J a m m e r und Selbstzerknirschung winden sieht? W i e kann man ihn allein Wieder aufrütteln und zu sich selbst bringen? Nur d a d u r c h , daß man ihn b e i s e i n e m S t o l z e p a c k t . Irgend einen ermutigenden Gedanken, eine befreiende Vorstellung hat man in die zerrüttete S e e l e hineinzuwerfen, wodurch sie wieder Selbstvertrauen gewinnt, wodurch ihr Stolz und innere Selbstbewertung wieder angefacht wird. Denn ohne Glaube an sich selbst, an den eigenen Wert kann kein menschliches W e s e n leben und wirken und vollends nicht unter drückenden und beschämenden, entkräftenden Lebensumständen Wirken, ohne diese Selbstachtung trotz des erfahrenen Unheils von außen und innen kann es das bedrohliche Geschick niemals bemeistern. J a j e härter und vernichtender dieses Geschick auf dem B e troffenen lastet, j e wuchtiger es auf ihn hereinstürzt, desto kühner und trotziger muß sich in ihm das Selbstbewußtsein regen, der Stolz sich erheben, um diesem Ungemach das Gegengewicht zu bieten. Und kann er dieses Selbstbewußtsein nicht aus eigener Kraft dem Schicksal entgegensetzen, so muß man ihm von außen dieses Selbstbewußtsein aufreizen und wieder beleben. Einen anderen W e g aus dem Elend wieder emporzuklettern, gibt es für den Menschen nicht. E s ist ja eine beliebte Art der geistlichen S e e l s o r g e und sittlichen Hilfe, daß man irgend einen Geschlagenen, Gezeichneten, Bekümmerten nur noch immer tiefer in seine Zerknirschung hineintreibt, ihm seine Irrtümer und Vergehen immer wieder als Quell seiner Not vor Augen stellt. Der Sünder soll in S a c k und Asche Buße tun. Man will den Ärmsten erst ganz tief unten in der Selbstbezichtigung und Selbstverhöhnung haben. Dann meint man ihn „geläutert", „gerettet" zu haben und ihm den W e g nach aufwärts zeigen zu können. Falsch ist das, grundfalsch. Wohl muß die wahre, ungeschminkte Erkenntnis der L a g e jedem Bedrängten, vom 75
Schicksal Heimgesuchten vermittelt werden, und wir haben ja für die Einsicht in die Notstände des deutschen Volkes nichts unterlassen, was ihm zur klaren Selbstbeurteilung dienen könnte, daß es sich nichts vortäuscht, daß es den ganzen ungeheuren Ernst der Stunde erfaßt. Aber solche Aufklärung muß stets in der Erweckung des Stolzes seine Ergänzung finden. Der Glaube an sich 'selbst trotz aller Unbilden von außen und aller Verfehlungen Von innen muß der überklingende und beherrschende Grundton sein, der die erschütterte Seele durchzieht. Sonst wird sie Von der Giftschlange der Verzweiflung umschlungen und zermalmt. Im gegenwärtigen Falle des deutschen Volkes aber hätte es wahrlich nicht schwer fallen sollen, den gesunkenen Glauben an unser eigenes Volk wieder aufzuwecken, die verlorene Selbstschätzung unserm ratlosen und verwirrten Volk von neuem einzuhauchen. Wohl hat man von leitender Stelle aus immer wieder mit ermüdender Eintönigkeit gepredigt: „ Arbeitet, arbeitet! Nur die höchste Arbeitsleistung kann uns emporhelfen!" Aber wie man es a n f a n g e n solle zu arbeiten, da man nicht arbeiten k a n n und m a g , da der Wille lahm, die Seele stumpf, der Glaube erstorben ist, davon hat man nichts verkündet. Darin aber gerade liegt das Übel dieser Zeit begründet, daß man nicht Uber diese Kluft hinüberkann, daß die innere Schwäche und Mutlosigkeit jeden Versuch zu erhöhter Arbeitsleistung, ja kaum zu unserer früheren Leistung vereitelt, weil der große Glaube an unser Volk und seinen Wert entschwunden ist. N u r d e r G l ä u b i g e s c h a f f t . Die inneren Voraussetzungen, die seelischen Vorbedingungen hätte man erzeugen müssen, um unser Volk den Weg zur Tat und Arbeit zurückzuführen. Aber jeder Sinn für die Bedeutung und Kraft seelischer Zustände ist unserem Zeitalter abhanden gekommen, daß nur aus einer inneren Kraft, aus Glaube sichtbar-sinnliche Leistungen geboren werden. Und ich müßte den Leser schlecht kennen, schlecht beurteilen, wenn nicht auch er an diesen langatmigen Betrachtungen ethischen und psychologischen Charakters Anstoß nimmt. Warum nicht gleich, nicht kurz und bündig die praktisch-politischen Vorschläge, die ich zu machen habe, vortragen, warum erst so lange nur im Vorhof stehen bleiben und die Erwartung hinhalten? Weil ich gründlich zu Werke gehen will, weil die bloße Neugier 76
zu befriedigen, das bloße Interesse zu erregen, nur zu unterhalten mir wahrlich nicht genug sein kann, weil ich weiß, daß die besten Vorschläge nichtig sind, eitel Einbildung und Traum bleiben, wenn nicht zuvor die seelischen Voraussetzungen erzeugt worden sind, die zu ihrer Verwirklichung nötig sind. Sonst sind auch die wertvollsten Gedanken Schall in einen leeren Raum hinein. Sie werden von den Seelen nicht aufgefangen, geschweige daß sie sich zur Verwirklichung durchringen, daß sie gestaltende Macht gewinnen könnten. Sie stoßen auf keinen tragfähigen Boden. Nicht umsonst heißt dieser Teil meines Werkes „ P h i l o s o p h i e und Leben". Denn die Philosophie schaut die Dinge nicht nur in ihrer nackten Tatsächlichheit, sondern mit ihrer tieferen Ursächlichkeit an, wie sie bedingt sind, aus welchen Voraussetzungen sie stammen und wie man diese Voraussetzungen umwandeln muß, wenn man die Erscheinungen selbst zu ändern im Sinne hat. Erst schaffe man uns den großen, starken, allbelebenden und begeisternden Glauben wieder. Dann können Taten aus diesem Glauben entsprießen. Fehlt dieser Glaube — und er fehlt heute wirklich —, dann sind alle unmittelbaren praktischen Vorschläge wirtschaftlicher, politischer, ja selbst geistig-erzieherischer Natur völlig vergeblich, hinfällig und unfruchtbar. Wir müssen das deutsche Elend bei der Wurzel greifen. Und das ist der Mangel an Stolz. Man kann einen wahren Berg von an sich noch so zweckmäßigen und heilsamen Vorschlägen und Anregungen aufhäufen. W a s frommt alles, wenn die Seele nicht will, müde und matt ist und in Verzweiflung untersinkt? Nichts hat man von verantwortlicher Stelle aus unternommen, dem deutschen Volk seinen Glauben und seine Selbstschätzung zurückzugeben. Auf diesen schweren Fehler m u ß der ethische und psychologische Denker den Finger legen. Hier bietet sich die allererste, dringendste Aufgabe dar. Denn ohne diese Vorbedingung kann kein Umschwung in unserem Schicksal geschehen, kein Aufschwung unserer Arbeit und Kraft erwartet werden. Und, wie gesagt, sehr leicht hätte es der Regierung fallen müssen, nach diesem Kriege dem deutschen Volk das Bewußtsein seines Stolzes und seiner Würde zu erhalten, oder wenn beides vorübergehend aussetzte, diese Gesinnungen wieder anzuschüren. Es ist gar zu seltsam, in dieser Zeit scheinen alle Begriffe auf 77
den Kopf gestellt zu sein. Das Einfachste, Selbstverständlichste wird nicht mehr geschaut, nicht erkannt. J e d e natürliche Logik scheint aufgehoben zu sein. So wenig ist die Weltfeindschaft gegen das deutsche Volk, wie sie in diesem Kriege mit furchtbarer Gewalt hervorbrach und sich zu unserem Verderben auswirkte, geeignet, unser Selbstvertrauen, unseren Stolz und unsere Würde zu brechen und zu zerstören, ja nur zu beunruhigen, so wenig haben wir Grund, deshalb an unserem Wesen irre zu werden, daß bei ruhigem, klarem und tieferem Nachdenken dieses an sich so herbe und grausame Schicksal uns vielmehr umgekehrt den höchsten Stolz wie keinem anderen Volke einflößen muß, daß es unsere Selbstachtung aufs höchste steigern, uns in eine wunderbare Sphäre reinster und edelster Selbstschätzung, echten, kraftvollen, ja unüberwindlichen Glaubens an unsere Bedeutung und Aufgabe emporheben muß. Nicht niederschmettern und beugen, nein, beschwingen, erst wahrhaft anstacheln, in den höchsten Grad von Kraft hineinsteigern muß dieses Los unseren Lebens- und Schaffensdrang. Das liegt doch sonnenhell am Tage. Wenn wir noch eine Spur gesunden Empfindens, schlichten, geraden Gefühls, hellen Urteils besitzen, müssen wir uns dieses schwerste Verhängnis zum höchsten Ruhme, zu wahrer Verklärung unseres Selbstgefühls auslegen. Ich sage, und hiergegen wird schwer etwas einzuwenden sein: ein Volk, gegen welches sich die ganze Welt erhebt, gegen welches sich die ganze Welt zu einem einzigen furchtbaren Vernichtungsring zusammenschließt, e i n s o l c h e s V o l k m u ß e t w a s w e r t s e i n . Das ist wahrlich kein gewöhnliches, beliebiges, gleichgültiges Volk. Dieses Volk muß sich b e m e r k b a r gemacht haben und zwar bemerkbar durch eindrucksvolle, gewichtige, hervorragende Leistungen. Ich wiederhole hier, was ich schon früher ausführte, gewiß nicht um unserer Fehler willen, um unseres B e s t e n willen haben wir die Feindschaft der Welt auf uns gezogen. Die anderen Völker wollten nicht überflügelt werden. Hätten wir nicht die größten und schnellsten Schiffe, wahre Wunderwerke deutscher Kunst, gehabt, hätten wir nicht sprunghaft, Wie es die Geschichte noch niemals erfahren, auf allen Arbeitsgebieten uns in die erste Reihe, ja v o r alle anderen Völker gestellt, hätten Wir nicht „das blaue Band" fast in allen Zweigen menschlichen Schaffens errungen — 78
man hätte uns wie jedes unbedeutende Volke beiseite liegen lassen, ungestört und unbehelligt. D i e F e i n d s c h a f t i s t d i e h ö c h s t e A n e r k e n n u n g . Es sind dies wieder platte Selbstverständlichkeiten, etwas das auszusprechen man förmlich einen inneren Widerstand überwinden muß. Aber Zeiten gibt es, da alle Begriffe und Vorstellungen verwirrt sind, wo das Selbstverständliche den Wert des Seltenen und Außergewöhnlichen erhält und deshalb gesagt werden muß. Denn es ist dasjenige, was dem Leben fehlt, was unbewußt alle verlangen und suchen. Wir sind durch die Weltfeindschaft in unserem Charakter, in unserer Lebens- und Schaffensart nicht entwürdigt, gezeichnet worden, wir sind durch diese tödliche, haßentbrannte Feindseligkeit — ich spreche es rückhaltlos aus — g e a d e l t worden. Der Gedanke, daß die ganze Welt sich zu einem Kreuzzug der Menschheitsrettung, wie s i e sagte, wie w i r aber wissen, zu einer schmachvollen Vernichtung höchst wertvoller, aufstrebender, hoffnungsreicher Menschheitskräfte, die sich im deutschen Volke darstellten, zusammenkettete, — dieser Gedanke, ich bekenne es frei, m a c h t m i c h n a m e n l o s s t o l z . Und wenn viele Deutsche heute schmerzgebeugt und bekümmert, mit niedergeschlagener Seele sich kaum noch als Deutsche zu fühlen vermögen, weil wir der Verurteilung von Seiten der ganzen Welt verfallen seien: mir ergeht es umgekehrt. Erst durch den Ausbruch des Weltkrieges, den o f f e n e n Ausbruch dieser Weltfeindschaft fühle ich mich erst wahrhaft stolz in meiner Eigenschaft als Deutscher, als Glied dieses wunderbaren, eigenartigen, gewaltigen Volkes, das zum Mittel- und Brennpunkt der ganzen geschichtlichen Entwicklung geworden ist, auf welches die Augen der ganzen Welt gerichtet sind. Noch niemals ist ein Volk in der ganzen Menschengeschichte so geehrt, so beglaubigt worden. Das ist meine innerste Überzeugung. Denn diese Weltfeindschaft i s t die höchste Auszeichnung, weil sie sich gegen unsere edelsten Kräfte, gegen unsere Arbeit und Tugend richtete, weil sie durch das vereinigte Band des Schwertes dem friedlichen Wetteifer mit dieser geschulten und unerschöpflichen Kraft ausweichen wollte. Nieder mit dem unbequemen Nebenbuhler und vorstrebenden, vorstürmenden Genius! D a s Genie erfährt allzeit den grimmigsten, schnödesten H a ß . Wo ein allergrimmigster, allerschnödester Haß aufflammt, 79
züngelt er wider das Genie empor. Das weiß der ethische und psychologische Denker, heute aber sollte es jeder Deutsche wissen, sich in diesem Bewußtsein stärken. Ein allergrimmigster, allerschnödester Haß hat diesen Weltkrieg entfacht, der Haß auf das Genie unter den Völkern. Wie hätte sich sonst die Feindschaft aller Völker insgesamt auf e i n Volk werfen können! Unmittelbar, tatsächlich kann dieses eine Volk unmöglich alle anderen Völker angegriffen, in ihren Lebensinteressen bedroht haben. Davon kann gar keine Rede sein. Das ist schon rein äußerlich, fast möchte ich sagen, räumlich eine Unmöglichkeit. Eine allgemeine geheime, innere Gegnerschaft ohne bestimmten Anlaß muß diese vereinigte Feindseligkeit gegen das eine Volk hervorgerufen haben, die Gegnerschaft gegen dessen Strebsamkeit, Tatwillen, Erfinderkraft, gegen dessen Geist und Seele. Man wollte wieder ruhig atmen. Zu diesem Zwecke mußte der Störenfried, der Störenfried mit der grauenerregenden Arbeitskraft hingeschlachtet werden. Wie Kain den Abel erschlug wegen dessen besserer Arbeitsfrüchte. Ewig wiederholen sich die Ereignisse im Menschenleben. Kopfschüttelnd wird der demokratische Leser des üblichen Schlages diese Worte lesen, wenn er sie überhaupt liest. Denn so tief sind wir in den Parteigeist versunken, so fest von dem Parteigeist umstrickt worden, daß man fast nur noch Parteischriften liest, die von vornherein die eigene Anschauungsweise verraten, in der man sich noch immer starrer befestigen will. Jenseits dieser Grenzen sieht und hört man nichts mehr. Wer einigermaßen psychologisch auf die Menschen der Gegenwart eingespielt ist — und das ist bei der parteilichen Eintönigkeit ihrer Anschauungen leicht —, der weiß schon immer im voraus, wie irgend welche Gedanken aufgenommen werden, der weiß im voraus jeden Einwand, jede Stimmung, die von einem bestimmten Gedankenbilde ausgelöst werden. Der demokratische Leser, wie er heute durchschnittlich zu sein pflegt, wird diese Ausführungen über den deutschen Stolz geradezu als verrückt empfinden, als Ausgeburt völlig verwirrten, gestörten Geistes deuten. Man sieht, so verschieden, s o innerlich entgegengesetzt und fremd, so zerklüftet ist heute das geistige Wesen der Deutschen. Nichts tönt mehr von einem zum anderen hinüber. Kein Einklang mehr kann die Geister umfangen. Was der Eine
80
denkt und spricht, erscheint dem Anderen als heller Wahnsinn. Für den in der heutigen Demokratie Erzogenen steht es doch fest, daß wir die Feindschaft der Welt nicht wegen unserer Vorzüge, sondern ausschließlich wegen unserer Verworfenheit, wegen unserer verächtlichen und schmählichen Zustände im Innern und wegen unseres unerhörten Weltherrschaftsstrebens nach außen geerntet haben. Er g l a u b t , was unsere Feinde erklären. Damit macht er sich, wie oben schon ausgeführt, innerlich, mit seiner ganzen Seele vom Auslande abhängig, damit nimmt er freiwillig die Fessel der Knechtschaft auf sich, damit führt er unser Volk gleichsam selbst unter das Joch, das unsere Feinde für das deutsche Volk bereit halten, das sie ihm für immer aufzwingen wollen. Daß diese Meinung nicht notwendig der Charakter, die Politik und Ethik der demokratischen Staatsform zu sein braucht, daß das nur heute, nur zufällig, nur bei uns geschieht, daß diese Staatsform auch einer männlichen und tapferen Politik und Volkgesinnung fähig ist, das lehren ja die ausländischen Demokratieen zum Greifen deutllich, die einen wunderbaren nationalen Stolz mit der demokratischen Staatsform zu verbinden wissen. Nur in Deutschland ist Demokratie mit Verleugnung des nationalen Geistes und Willens verknüpft, ist damit gleichbedeutend geworden. Darum aber ist dies auch eine unechte und falsche Demokratie, die nichts gegen diese Staatsform selbst beweist, die von einer echten, wahren, reinen Demokratie abgelöst werden muß. Die Weltfeindschaft wider das deutsche Volk — darüber muß vor jeder Arbeit erst Klarheit walten, weil ohne diese Überzeugung und innerste Gewißheit keine Arbeit gedeihen wird — die Weltfeindschaft wider unser Volk ist bei tieferer Überlegung nicht dazu angetan, unserer nationalen Würde und unserem Selbstvertrauen Abbruch zu tun. Wie können die Menschen nur auf solche Irrwege geraten! Nein, diese Weltfeindschaft — ich erkläre es frank und frei, und schlüge ich damit unserer gesamten Zeit ins Antlitz; dieser Zeit fremd zu sein, ist ein Ruhmeszeichen — die Weltfeindschaft wider uns hebt uns geradezu heraus aus allen Völkern der Erde, stellt uns auf einen erhabenen Sockel, stempelt uns zum a u s e r w ä h l t e n V o l k der Zukunft. Ob Wir wollen oder nicht, dieser Charakter ist uns aufgeprägt worden durch den seltsamen 6
81
Verlauf der großen Begebenheiten des Erdgeschehens. In diese Rolle sind wir hineingedrängt worden. Wir aber mflssen sie nunmehr mit Vollem Bewußtsein ergreifen. Es gibt keinen anderen Ausweg, keine andere Rettung mehr. In dieser Aufgabe müssen wir unsere Bestimmung finden. Die Feinde wollten es so. Vor dem Kriege hörte man oft das Wort vom deutschen Wesen, an welchem die Welt genesen solle. Damals hat es mir immer mißliebig geklungen. Es klang herausfordernd und überhebend. Damals hatten wir noch nicht das Recht zu diesem Stolze. Aber jetzt, n a c h dem Weltkriege haben wir in eben diesem Weltkriege das Zeugnis der ganzen Welt für diese unsere Ausnahmestellung und Aufgabe erhalten. Nun haben Wir nicht nur das Recht, sondern, um leben zu bleiben, um die in uns enthaltene, schlummernde „Gottesidee", unsere Bestimmung zur Erfüllung zu bringen, die u n a b w e i s l i c h e P f l i c h t , uns als „auserwähltes Volk" zu fühlen. Nun muß ein erhabener Stolz in unsere Seele einziehen, der uns ungeahnte Kräfte leiht. Ungeahnte Kräfte allein können das deutsche Volk aus seiner drohenden Vernichtung wieder emporreißen. Das leuchtet ein. Solche Kräfte aber erzeugt nur ein ungeahnter Stolz. Die T a t e n will man von unserem Volke haben. Daß es sich nicht aufrafft und arbeitet, nicht bis zum letzten Blutstropfen arbeitet, darob schilt man es. Aber die S a a t streut man nicht aus, aus welcher solche Frucht der Arbeitskraft allein erwachsen kann. Diese Saat ist der Glaube an die Auserwähltheit unseres Volkes, ist der verwegenste Stolz, das höchste Selbstgefühl. Als die alten Juden noch unbehelligt von ihren Nachbarn oder noch unüberwunden in ihrem märchenumwobenen Lande lebten, sich noch eines Widerstandsfähigen, starken Staates, einer siegreichen Königsmacht erfreuten, da liebten sie wohl ihre Heimat, ihr Volk, ihren Gott. Das Gleiche aber taten auch die anderen Völker. Das jüdische Volk nahm damals noch keine Sonderstellung, keine unerhörte und einzige Bestimmung für sich in Anspruch. Aber als dann die Stürme der Weltgeschichte über das-unglückliche und doch so begabte Volk hereinbrachen, als der jüdische Staat zerschmettert, das jüdische Volk verschleppt, in alle Winde verjagt und zerstreut wurde, da antworteten die Juden auf dieses ungeheure Schicksal mit dem kühnsten, mit 82
einem wahrhaft ausschweifenden Glauben, mit einem wie Wahnwitz klingenden Stolz oder gar Hochmut: sie seien das .auserwählte Volk auf Erden. Aber dieser Glaube hat sie am Leben erhalten bis auf den heutigen Tag, mit diesem Glauben im Herzen konnten sie allem Weltgeschick, der herbsten Tragik, einem einzig furchtbaren Ungemach trotzen. Und weil sie an ihre Auserwähltheit g l a u b t e n , mit der ganzen innigen Glut ihrer leidenschaftlichen Seele glaubten, so wurden sie tatsächlich für die künftige Weltperiode ein auserwähltes Volk. Ihrem G l a u b e n folgte die T a t , gebar doch ihr Volk den Genius, der von allen menschlichen Genien der mächtigste wurde, der die Seele der Menschheit wie keiner durchdrang, den die dankbare Menschheit zum Gott erhob. Die Versuche, Jesus vom jüdischen Volke abzutrennen, können vor der ernsthaften Wissenschaft nicht standhalten. Daß gerade gegenwärtig wieder der alte und, wie wir glaubten, längst begrabene Haß auf die Juden erwachen konnte, ist auch eine der zahlreichen Unbegreiflichkeiten dieser sonderbaren Gegenwart. Niemals hatten wir so wenig Veranlassung, dem jüdischen Volke gram zu sein wie gegenwärtig. Verwandtes Leid pflegt doch die Menschen zusammen zu führen. In d e m G e s c h i c k d e s j ü d i s c h e n V o l k e s m ü s s e n w i r das Spiegelbild u n s e r e s eigenen herben Unglücks e r k e n n e n . Auch über uns ist die ganze Welt gekommen, auch über unser Volk ist die Weltgeschichte zermalmend hinweggeschritten. Viele getrösten sich bei uns mit der Überlegung, ein so großes und zahlreiches, dazu geschlossen wohnendes Volk wie das deutsche könne niemals als einheitliches Volk vernichtet, niemals einem ähnlichen Lose preisgegeben werden, wie ehemals das kleine Volk der Juden in Palästina. Eine gefährliche Einbildung! Durch wirtschaftliche Einschnürung, durch Drangsalierungen, Hemmungen, Belastungen jeder Art kann mit der Zeit auch das zahlreichste und widerstandsfähigste Volk zermürbt und zersetzt werden, daß es langsam, aber stetig abnimmt, bis zu völligem Aussterben. Weiß man denn, was die Feinde noch alles aus dem Versailler Frieden herausholen, wie sie ihn verwerten werden? Am liebsten hätten sie doch nach unsrer Niederwerfung das ganze deutsche Volk bis zum letzten Greis und Kinde mit einem einzigen Henkerschlage hingerichtet, wenn es möglich gewesen wäre. So abgründlich tief, so wild 6* 83
war ihr Haß geworden, besonders infolge unsrer gewaltigen, zähen, vierjährigen Widerstandskraft, die auch ihnen die härtesten Opfer auferlegt hatte. Dafür mit einem einzigen Akt der Gesamtvernichtung des deutschen Volkes Rache zu nehmen, wäre gewiß ihr Herzenswunsch gewesen. Da das aber nicht möglich war, schufen s i e s i c h in dem Versailler Frieden ein Mordwerkzeug, mit dem sie uns zwar nicht mit einem S c h l a g e fällen, wohl aber langsam zu T o d e martern können. Nur durch die allergrößte, allerfeinste Klugheit, nur durch eine staatsmännische Kunst ohne gleichen, die alles hinter sich läßt, was jemals politische Fähigkeit leistete, können wir diesem qualvollen Schicksal entrinnen. Und erzeugt, geboren wird diese Kunst nur werden durch den zähesten, stählernsten Lebenswillen des deutschen Volkes, der wiederum nur aus einem unerschöpflichen, niemals versagenden, niemals nachlassenden und verstummenden G l a u b e n hervorgeht, eben aus dem Glauben an unsre einzige, auserwählte Aufgabe im Menschengeschlecht. Nur diese Überzeugung kann uns den Mut und die Kraft geben, auch im Härtesten, Grausamsten, Hoffnungslosesten auszuharren. Aber es könnte geschehen, daß uns auch nicht die größte, feinste Staatsklugheit, aller politischen Weisheit Gipfel vor dem schlimmsten Ende retten kann. Setzen wir den Fall, wir erholten uns langsam, das deutsche Leben stiege wirtschaftlich, geistig und politisch allmählich trotz aller Lasten und Bedrückungen wieder aufwärts — wer weiß, was dann die Feinde beginnen, wie sie sich dazu stellen werden? Ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sich ihrer sofort wieder, auch wenn wir militärisch völlig ausgeschaltet, aller militärischen Kräfte bar sind, eine unheimliche Angst bemächtigen wird? Nach allen bisherigen Erfahrungen zu schließen, ist das wahrscheinlich. S i e könnten vor dem deutschen Volke, das sie doch s o aufs Haupt geschlagen, s o geknebelt haben, ähnlich stehen, wie Mephisto vor allen Lebewesen: „ W i e viele hab' ich schon begraben, Und immer zirkuliert ein neues, frisches B l u t ! " D a sie in unserem Volke nur noch einen Leichnam zu sehen Wähnten, könnten sie weiter mit Mephisto sprechen: „Es war nur Schein, das rührte, das regte sich wieder." W e n n dieses Wiederaufleben des deutschen Volkes tatsächlich erfolgen sollte, wer bürgt uns dafür, daß die Feinde dann nicht
84
zum Letzten, Furchtbarsten schreiten, ähnlich "Wie es die Römer mit den völlig wehrlosen, ohnmächtigen Karthagern und Juden taten? Keine Spur von Bedrohung drang mehr von dem in zwei endlos langen Kriegen völlig niedergeworfenen Karthago nach Rom hinüber. Dieses aber schlief nicht ruhig, rastete nicht, bis nicht die gänzlich wehrlose Stadt dem Erdboden gleichgemacht, das ganze Volk vertilgt worden war. Wer will sagen, ob wir in diesem ungeheuren Kriege nicht nur den e r s t e n A k t , die vorläufige, einleitende Tat, nur erst die V o r b e r e i t u n g unserer Feinde zu erblicken haben? Der Tag könnte kommen, da sie über den Rhein und alle anderen Grenzen, zu Wasser und zu Lande in das Innere unseres Reiches eindringen. Daß sie diesen Krieg ganz auf i h r e m Gebiete haben auskämpfen müssen, wurmt sie tief. Schon aus diesem Grunde könnten sie eine Wiederholung und Fortsetzung, nachdem sie sich selbst wieder etwas erholt haben, folgen lassen. Heer und Waffen haben wir dann nicht mehr. Völlig wehrlos müßten wir sie von allen Seiten in unser Land eindringen sehen. Das könnte sie eines Tages locken, könnte ihnen dringend geboten erscheinen, um unsrer Wirtschafts- und Arbeitskraft den letzten Stoß zu geben. Die englische Sittlichkeit wird schon einen heiligen Rechtsgrund für diese Handlung zu finden wissen. Solche Aufgaben haben das englische Volk noch niemals in Verlegenheit gesetzt. Und dann könnten wir auf deutschem Boden eine „Zerstörung Jerusalems" erleben, von der der gegenwärtige, arglose Deutsche sich keine Vorstellung bildet, dieser Pazifist, der da glaubt: der Mensch ist gut. Hat nicht schon während des Krieges der englische Neid klipp und klar gefordert, daß die deutschen Fabriken niederzureißen seien ? Nun die Feinde hierzu und zu allem anderen die uneingeschränkte Macht besitzen — könnte sie nicht die Lust anwandeln, es auch zu tun? Ich sehe deutlich das überlegene Lächeln und weise Kopfschütteln des Lesers vor mir, der an meinen gesunden Sinnen zweifeln, alles für leere Hirngespinste halten wird. Ich schaute Gespenster am hellen Tage. Aber ich sage nur dies: l a n g e g e n u g h a b e n w i r im D u n s t g e l e b t . Sollten Wir nicht endlich die Dinge und Menschen erkennen, w i e s i e s i n d ? Wer hätte denn vor dem Kriege für möglich gehalten, daß die ganze Welt derart von Haß und Groll gegen das deutsche 85
Volk überschwoll, daß wir uns über Nacht der Feindschaft der ganzen Welt gegenübersehen würden, und welcher Feindschaft, welcher gierigen, unbändigen, hemmungslosen Feindschaft! Konnte d a s geschehen, so kann auch noch m e h r geschehen. Darin eben bewährt sich die philosophische Betrachtungsweise, daß sie in die F e r n e zu schauen weiß, daß sie sich vom Augenblick, vom Schein des Augenblicks frei macht, sich über die unmittelbaren Eindrücke zu erheben vermag, weil sie die V e r k n ü p f u n g der Dinge schaut. Erschrecklich ist, wie die Menschen geistig von der Hand in den Mund leben, nur im Allernächsten, Augenblicklichen befangen bleiben, weder die tieferen Ursachen z u r ü c k noch die unabwendbaren Folgen h i n a u s zu ergreifen vermögen. Der harmlose Mensch des Alltags macht sich keine Vorstellung von den furchtbaren, elementaren, gewaltigen, unheimlichen und unwiderstehlichen Kräften, die in den Völkern, in den großen Völkermassen gefährlich aufgespeichert schlummern und mit einer fürchterlichen Folgerichtigkeit sich auswirken und entladen, sich auswirken m ü s s e n , oft sogar gegen den Willen und das Bewußtsein dieser Völker selbst. Nur die rastlos in die Tiefe dringende Psychologie und eine geschichtliche Erfahrung, die Jahrtausende überblickt, kann solche Kräfte mit ihren Möglichkeiten ermessen, mit ihren denkbaren Folgen abschätzen. Allmählich wird es auch dem ungeduldigen Leser, der sofort knapp und kurz nur das versprochene Programm unsres nationalen Lebens vorgelegt Wünscht, dem diese ethisch-psychologischen Betrachtungen schon lange wider den Strich gehen, aufdämmern, daß die gestellte Aufgabe nicht so leicht abzutun ist. Erst gilt es vollkommen klar unsre Lage überschauen, die ganze Furchtbarkeit unsrer Lage erfassen. Sonst wird der nur im Seichten und Augenblicklichen gefesselte Zeitgenosse die Vorzutragenden politisch-philosophischen Ideen nicht einmal nur verstandesmäßig aufnehmen, geschweige, daß er die sittliche Kraft entfalten könnte, auch zur Verwirklichung und Durchsetzung solcher Ideen zu schreiten oder nur die Hand dazu zu bieten. Nur wenn wir die Volle Grauenhaftigkeit unsres Zustandes mit seiner ganzen Schwere, seiner letzthin denkbaren Gefahr begreifen, mit heilen, ungetrübten Augen vor uns sehen, nur dann wird 86
der h e i l i g e E r n s t in uns erstehen, der allein die Kraft erzeugt, die diese Gefahren bannen kann. Das fürchterliche Schreckbild, das ich hinmale, die „Zerstörung Jerusalems" auf deutschem Boden, die völlige Verwüstung unserer Heimat mit allen seinen Wohn- und Arbeitsstätten, die vollkommene Zersprengung und Zerstreuung unsres Volkstums nach dem Muster des jüdischen Volkes — ich erkläre nicht, dies Ungeheure w i r d und m u ß geschehen, aber es k a n n geschehen. Alle Kräfte aufzubieten, um dieses entsetzliche Geschick zu verhüten, wird freilich unsre höchste Pflicht sein. Nur die großzügigste, eine wahrhaft geniale Politik wird diese düstre Aussicht verscheuchen können. Die Hauptrichtlinien, die wesentlichen Grundzüge dieser Politik zu entwerfen, wird die Aufgabe eines der späteren Abschnitte dieses Werkes bilden. Die Genialität allerdings, der allein das Gelingen dieser Politik zu danken sein wird, ist nicht in der Idee dieser Politik als solcher zu suchen, diese rettende Genialität Wird in ihrer Ausführung und Verwirklichung liegen müssen. Denn Politik im engeren Sinne ist Tat, Handlung. Und alles kommt darauf an, daß diese Handlung auch kunstgerecht sei, sonst ist die wertVollste politische Idee zwecklos, hilflos. Nur das eine will ich hier schon aussprechen: weder der schroffe Nationalismus noch der unbedingte Pazifismus scheinen mir des Rätsels Lösung zu sein. Wie schon früher einmal gesagt, unsre Zeit vermag nur in Extremen zu denken, bewegt sich theoretisch und praktisch in den schärfsten Antithesen, in unbedingten Gegensätzen. Vielleicht ist damit der entscheidende Charakter unserer Zeit bezeichnet, die eigentliche Wurzel aller ihrer Krankheitserscheinungen bloßgelegt. Dieses Schwanken in Gegensätzen, dieses Zerrissensein in schroffe Gegensätze ist beim einzelnen Menschen wie bei Völkern und ganzen Zeitaltern immer das Anzeichen einer Krisis. Der Zusammenhalt, das Gleichgewicht der Triebkräfte und Ideen, die B i n d u n g des Lebens ist verloren gegangen. Es kann das unter Umständen nur eine z e i t l i c h e Krisis sein, nämlich, wenn es gelingt, die Widersprüche wieder zu bändigen und zusammenzuschließen. Dann bedeutet die vorübergehende Zerspaltung des Lebens eine Ausweitung, Bereicherung, das Streben nach größerer Fülle und mächtigerem Umfang. Das neugebundene Leben stellt sich dann nach Über87
Windung der Krisis auf einer höheren Stufe dar. Es ist reicher an Differenziertheiten, an stärkerer Mannigfaltigkeit geworden, die aber infolge einer neuen, stärkeren, festeren Bindung die unerläßliche Einheit des Lebens nicht aufgehoben, nicht zersprengt hat. Gelingt aber diese stärkere Bindung nicht, so bedeutet die nunmehr unüberwindliche und unheilbare Gegensätzlichkeit den Beginn der Auflösung, den Anfang vom Ende.. Die Krisis führt zur Zerstörung, geht in die volle Zersetzung und Verwesung über. Mit diesen kurzen Andeutungen drücke ich dem Leser gleichsam den Schlüssel zum Verständnis meines ganzen Buches in die Hand. Denn dieser Grundsatz wird der leitende Gesichtspunkt sein, der mich bei der gesamten Aufgabe, in diesem wie in allen weiteren Fällen, beherrschen wird. Nicht eine Entscheidung zwischen den Gegensätzen, zwischen für und Wider, auch kein schwächliches, lähmendes, mattes Kompromiß, kein elendes Gemisch der widerstreitenden Kräfte, sondern die einschließende, verknüpfende, überbauende S y n t h e s e kann und soll die Befreiung, die Neugestaltung des Lebens bringen. Allerdings ist dieser allgemeine Grundsatz zunächst nur — ein Grundsatz, eine Anweisung, ein Versprechen, ein Wunsch, vielleicht nur ein frommer Wunsch. Die Ausführung und Befolgung des Grundsatzes, die Leistung ist alles, die abzuwarten bleibt. Aber vielleicht dankt es mir der Leser, wenn ich ihm schon hier die allgemeine Richtlinie, welcher folgend ich die schwierige Aufgabe in Angriff zu nehmen gedenke, andeute. Er denkt vielleicht inzwischen über diese Richtlinie, diesen leitenden Grundsatz nach, um für die dargebotenen Lösungen empfänglich zu werden. Nur die Aufbietung der letzten Kräfte, der Einsatz aller nur verfügbaren Fähigkeiten und Künste, das Ausspielen unsrer vollen, ungeteilten Menschlichkeit kann das uns drohende Schicksal völligen Unterganges verhüten. Das wird Jeder einsehen und einräumen. Aber gehoben können diese Kräfte — das ist nun meine Behauptung —, erweckt und in Tätigkeit gesetzt Werden können sie nur dadurch, daß ein überschwenglicher, himmelstürmender, weltüberwindender Glaube in die deutsche Seele einzieht, der sie über alle Schatten und Tiefen dieser traurigen Tage und Lage hinweghebt, der Glaube an unsre höchste Bestimmung, unsre auserwählte Aufgabe in derMenschen88
geschichte. Überschwenglich mag dieser Glaube im Augenblicke, unter den jetzt obwaltenden Umständen erscheinen. Aber diese Überschwenglichkeit muß zu Leistung und Wirklichkeit werden. Nur über die Brücke dieses Glaubens führt der Weg in eine bessere und frohere Zukunft. Die Demokratie hat immer den verstiegenen Nationalismus beanstandet und getadelt, den der alte Staat im deutschen Volk gepflegt hatte. Nun sie die Erbschaft dieses Staates angetreten hat, wird sie, wenn sie nicht kalten Blutes unser Volk versinken sehen will, einen noch viel, viel stolzeren und kühneren, einen geradezu verwegenen nationalen Glauben wecken müssen. Um diese Notwendigkeit Wird sie nicht herumkommen, wird ihr nicht ausweichen können. Denn nur der Glaube hebt aus dem Elend empor, nur der Stolz, der aus solchem Glauben geboren wird. Das sind klare Wahrheiten, denen kein Vorurteil, und sei es noch so tief eingewurzelt, standhalten kann, gegen die es kein Sträuben gibt. Alle Dinge, sagt man, haben ihren Sinn. Ich weiß das nicht. Eins aber steht fest, daß der Mensch allen Ereignissen Sinn v e r l e i h e n muß, indem er sie zu seiner Lebenssteigerung nützt, in seine Lebensentfaltung zweckvoll einwebt. Wie auch der Zufall fällt, was auch das Geschick uns schickt, der Mensch muß alle Geschehnisse, auch die schädlichsten und bedrohlichsten, in freier Souveränität sich dienstbar machen, muß trotz jedes Angriffs von außen durch Mensch oder Schicksal als gestaltende Macht jedes Geschehnis seinem innersten Lebensgesetz unterwerfen. So müssen wir uns auch den Krieg zu unsrem Heile deuten. Ob er an sich heilsam war oder nicht, Wir m a c h e n ihn heilsam für uns durch die höchste Zweckbestimmung, die wir ihm geben. E r s o l l u n s r e m V o l k d a s k l a r e S e l b s t b e w u ß t s e i n , das Bewußtsein seiner wahren Bestimmung geben. Das deutsche Volk ist bisher gleichsam nur nachtwandelnd seinen Weg dahingeschritten. Seiner eignen Kräfte, seines tiefsten Wertes garnicht oder nur halb bewußt hat es, nur dem dumpfen Lebenstrieb folgend, gearbeitet, gerungen, geschaffen. Erst die Weltfeindschaft, erst der größte aller Kriege, der Krieg aller Völker wider das eine deutsche Volk wird ihm Anlaß zur Selbstbesinnung geben, wird ihm das Licht entzünden, sich selbst gewahr zu werden. Nur am Gegensatz, nur in der Erfahrung 89
nach außen hin und von außen her, durch die Rückwirkung, die das eigne Wesen und Verhalten hervorruft, lernt der Mensch sich selbst erkennen, der Einzelne und das Volk. Wir m ü s s e n etwas schlechthin Einzigartiges sein. Wider Willen hat es uns die Welt bewiesen. Nun laßt uns darüber nachsinnen, was es denn in uns ist, das so geheimnisvolle und mächtige Wirkungen hervorbrachte, das die Welt in Aufruhr versetzte, den Erdball erschüttert hat. Und haben wir dieses in uns schlummernde Etwas erkannt — dann auf zur Tat! Dann laßt es uns planvoll und zielgewiß gestalten und ausführen, allen widerstreitenden Mächten zum Trotz. Die Welt wollte uns zerstören. Mit diesem Willen zur Zerstörung soll sie uns erst lebendig machen! Völlig klar haben ja auch unsre Feinde das deutsche Wesen und den Reichtum seiner Fähigkeiten nicht erkannt. Nur dunkel geahnt, gewittert haben sie durch die ersten Anzeichen unsres noch in keimhaftem Werden, in erster Entfaltung begriffenen Volkes die unermeßlichen Möglichkeiten, die sich hier bei stetiger und ruhiger Entwicklung emporringen könnten. Das dumpfe, drückende Gefühl angesichts etwas ganz Unberechenbaren wollten sie loswerden. Dem Ausbruch des mächtigen Lebens- und Tatendranges eines jugendlich sich streckenden Riesen wollten sie vorbeugen. Das wahre, große, volle Deutschtum sahen sie erst am Horizont des geschichtlichen Lebens auftauchen. Unverständlich sind mir alle diejenigen Beurteiler des deutschen Lebens in Deutschland selbst, die da meinen, unser Volk sei bereits vor dem Kriege in absteigender Entwicklung gewesen. Auf der Oberfläche glänzend, sei es in der Tiefe doch schon in Verfall begriffen gewesen. Überall hätten sich Spuren der Entartung bemerkbar gemacht. Daß ich keine blinde, keine unbedingte Verehrung und Wertschätzung für das deutsche Leben der verflossenen, nun so entsetzlich ausgelaufenen Epoche hege, habe ich wohl zur Genüge kenntlich gemacht. Die Anzeichen und Folgen der Erstarrung, die das Leben dieser Epoche gezeigt hat, sind von mir ohne jede Beschönigung und Verschleierung herausgehoben worden. Aber ich habe jene Zustände, jene gefährlichen, verwerflichen Zustände immer nur für vorübergehende, zeitliche Übel gehalten, für Stauungen gleichsam eines an sich mächtigen, noch keineswegs versickernden Lebensstromes. Das deutsche Leben war zeitweise in bestimmten Bahnen fest-
90
gefahren, hatte sich zu einseitig, zu entschieden und schroff auf bestimmte Ideen und Grundsätze eingespannt. Aber als eine Erscheinung von Dauer, f ü r die Dauer war diese Hemmung und Einschnürung gewiß nicht anzusehen. Daß dieser Charakter die letzte Staffel des deutschen Lebens bedeute, ist mir niemals wahrscheinlich gewesen. Daß das Deutschtum mit dieser Form, mit diesem Charakter als seiner letzten Leistung abschließen sollte, um Von da an ganz zu zerfallen, schneller oder langsamer, das habe ich nie geglaubt. Es bedurfte auch nicht erst der furchtbaren Erschütterung von außen durch den Weltkrieg, um die deutschen Schäden ans Licht zu bringen, ihre Besserung zu erzwingen. Wer die in Frage stehende Zeit oberflächlich betrachtete, der fand alles in wundervoller Ordnung. Vornehmlich war es die Regierung, die leitende Schicht, die immer den schon früher einmal erwähnten rosaroten Schimmer über die Zeit zu malen bemüht war, daß wir's so herrlich weit gebracht. Da fehlte jede Selbsterkenntnis. Wer tiefer hinschaute, der erkannte und wußte, daß vieles faul war im Staate Dänemark. Aber diese Anschauung und Überzeugung ward andrerseits vielfach übertrieben. Man konnte nichts schlecht genug finden in unserem Vaterlande, das deutsche Volk sei für die Sichel des Verhängnisses reif. Die Menschen unserer Zeit wissen nicht Maß zu halten, sie leben, wie ich schon sagte, nur in Extremen. Alles treiben sie auf die Spritze. Im Handeln und Urteilen erkennen sie keine Grenze an. Von dem unbeherrschten Drange ihres Innern werden sie immer bis zum äußersten Ende einer Richtung gejagt, dorthin, wo die Wahrheit in Unwahrheit umschlägt, Recht zu Unrecht wird. Wer n o c h schärfer hinschaute, wer die verflossene Epoche wirklich bis in die Tiefe durchdrang, der mußte auch trotz aller Schäden und Bedenken erkennen, daß sich überall bereits frische Kräfte regten, um diese Schäden abzustellen, unser ganzes Leben zu erneuern und umzubilden. Das Gewissen war im deutschen Volk erwacht. Wie ein Frühling oder doch wie ein Vorfrühling durchdrang es das deutsche Leben, überkam es die deutschen Gemüter mit ahnungsvollem Streben. Erstes Knospen und Keimen war an vielen Stellen erkennbar, das die schönsten Hoffnungen gab, den reifen Sommer, eine herrliche Blüte versprechen konnte. Ich will nur ganz wenige solcher Züge, die diese Verheißung gaben, namhaft 91
machen, da uns damit wichtige Handhaben geboten werden, das deutsche Wesen und seine noch uneingelöste Bestimmung kennen zu lernen. W a s sich in der Tiefe des Lebens abspielt, von dort her nach Gestaltung ringt, pflegt sich gern in der sichtbar-sinnlichen Kunst symbolisch anzudeuten. Eine wunderbare, zu hohen Hoffnungen berechtigende Schöpfung vor. dem Kriege war das deutsche Kunstgewerbe. Aller ekelhafte Schein wurde plötzlich abgeworfen. Nur das Echte, Gediegene, Wahrhafte, Sinnvolle, Zweckmäßige wurde gewertet und ausgeführt. Bei solchen Vorgängen horcht der Philosoph hin. Die äußere Form des Lebens, seine Gestaltung, deren höchste Ausbildung die Kunst ist, spricht und zeugt für den Verstehenden offen und klar von dem inneren Wesen der Menschen. Und wenn hier auf einmal dem Schein der Krieg angesagt wurde und mit Vollem Erfolge, dann w u ß t e der Philosoph: damit kündigt sich die volle Wiedergeburt des deutschen Volkes an, diese kann nun nicht mehr ausbleiben. Denn die Wahrheit triumphiert wieder über den Schein. Und das ist immer das Zeichen, daß das Leben zur Echtheit zurückkehrt. Das Erfreulichste an dieser Erscheinung war, daß die Bewegung von unten herauf emporstieg, vom Kunstgewerbe, das tief in das tägliche Leben eingreift. Damit erwies der neue Geist seine wurzelhafte Kraft. Und sogleich begann auch diese neue Schöpfung des deutschen Volkes, die man ihm zuletzt zugetraut hatte, einen Welteroberungszug anzutreten. Wir errangen einen Weltsieg nicht nur im Wirtschaftlich-Technischen, sondern auch im Schönen. Damit brach eine ganz neue Zeit, eine neue deutsche Zukunft an. Aber auch im Großen, in der mächtigsten Gestaltung, im Stil der Baukunst regte sich der Wille zur reinen Wahrheit, der Zug zum Einfachen, Gedrungenen, Klaren, Geschlossenen, Festen, Entschiedenen: die gerade Linie, der herrschende Grundton, der immer der Beweis organisierender Kraft ist. In der Tat, ein ganz neuer, höchst verheißungsvoller, kühner, edler, in seiner starken Einfachheit edler Baustil, der mit dieser Einfachheit eben die Größe anstrebte, begann sich in Deutschland in der jüngsten Zeit vor dem Kriege herauszuwinden. In deutlichen Umrissen, wie die lichten Gestalten am Morgen zeichneten sich diese hochgemuten und kraftvollen Werke ab und versprachen das Höchste. Der Baustil redet
92
vielleicht am sinnfälligsten und gewaltigsten von der innersten S e e l e einer Zeit. Hier tritt sie gleichsam in leibhafter Gestalt nach außen. Hier kann sich keine Täuschung einschleichen. Die deutsche S e e l e begann die Schwingen zu regen zu einem stolzen Hochfluge, der sie zu ungeahnter Schönheit tragen mußte. Das deuteten diese Kunstbestrebungen ahnungsvoll an. Aber auch schon innerlich, im geistigen Leben selbst war der Umschwung zur Verjüngung, zur Wiedergeburt und Reinigung sichtbar. Ein neues Leben oder wenigstens die leidenschaftliche Sehnsucht nach neuem und echtem Leben war plötzlich geheimnisvoll angebrochen. Ein ganz frischer, froher, hochstrebender Zug drang auf einmal in unsere Jugend ein, ein taufrischer Glaube ergriff die jungen Gemüter. Freilich viel Törichtes, Verworrenes, Ungeschlachtes und Haltloses kam hierbei zu Tage. Zumeist herrschte das Gefühl, der Drang vor, die alten, abgestandenen Autoritäten abzuschütteln, nur „frei" zu sein. Gefährliche Rattenfänger der Freiheit zogen im Lande um und verführten die Jugend. Noch nicht überall war Nietzsches entscheidendes, warnendes, schweres, bedenkliches Wort vernommen Worden: nicht „frei w o v o n ? " , „hell soll mir dein Auge künden frei w o z u ? " . Aber hinter allem Irren und Schweifen lag doch eine heimliche Sehnsucht nach neuer V e r p f l i c h t u n g , nach echter, wirklich gefühlter und erlebter Idealität, nach neuem Glauben. Die harte Eiskruste war gebrochen, das junge Leben schwoll über alle Ränder. Die Jugend sang sich hinein in eine bessere Zukunft. Das bedeutsamste Anzeichen aber war die einsetzende religiöse Besinnung. Die Religion, die Stellung zum Ewigen und zum tiefsten Gehalt des Daseins ist der letzte Quellpunkt der menschlichen Lebenskraft, ist ihre geheimste Wurzel. Nur wer seine Stellung zum Ewigen recht genommen hat, wird auch im Zeitlichen feststehen, im Zeitlichen sich zurechtfinden. Mächtig aber pochte es an die alten Kirchengemäuer, sich aufzutun, einem neuen, jugendlich echten und frischen Glaubenswillen Zutritt zu lassen. Aus dem Allzustarren und Harten wollte die S e e l e wieder heraus zu bewegter Kraft, zu strömendem Leben. Und wenn auch im Katholizismus der Modernismus, im Protestantismus die prophetischen Geister, die das neue Leben verkündeten, zunächst verworfen wurden, der neue Geist
93
lebte dennoch fort und wartete nur der Stunde, da er mächtig hervorbrausen und die deutsche Seele aufrühren mußte. Der kilhne Zarathustra-Prediger forderte und verhieß mit unwiderstehlichem Ernst eine gründliche Nachprüfung aller religiösen und sittlichen Werte. Die äußere Erschütterung aller Dinge durch den Weltkrieg hat die innere Umwälzung der Geister nur vorläufig zurückgestaut. Und nicht nur in Kunst und Religion drängte junges Leben hervor. Auch im Staate selbst, wo doch die schwersten Probleme ausgekämpft wurden, die härtesten Gegensätze aufeinanderprallten, wo die Lage unerhört gespannt, ja unheilbar schien, auch dort bereiteten sich langsam bessere Zustände vor. Selbst hier war die entscheidende Reform nicht mehr so aussichtslos, wie vielfach angenommen wurde. Es ist mir nicht gegeben, in den Parteigegensätzen, die die Gegenwart zerklüften, mich rückhaltlos für oder wider zu entscheiden, in Bausch und Bogen hierhin oder dorthin abzuurteilen. Ich habe mich gezwungen gesehen, die schweren politischen Fehler der demokratischen Richtung, die ja in der Hauptsache von der deutschen Arbeiterschaft getragen Wird, aufzudecken und auszusprechen. Das aber kann mich nicht hindern, nach Gerechtigkeit zu streben und zu erklären, daß sich die gerügten Fehler auf die demokratischen Arbeiterparteien n a c h dem Kriege erstrecken, daß hiervon ganz unabhängig das Urteil sein muß, das wir uns Uber die deutsche Arbeiterschaft Vor dem Kriege und während der ersten Kriegszeit zu bilden haben. Und da füge ich denn hinzu: so düster und bedrohlich sich das deutsche staatliche Leben vor dem Kriege Vielfach darstellte, es war doch auch hier eine gelinde, ja eine bedeutsame Besserung, die einsetzende Heilung unverkennbar. Nach meiner Schätzung war die demokratische Arbeiterbewegung vor dem Kriege der eigentliche Stolz des deutschen politischen Lebens, eine Erscheinung, die zu den schönsten Erwartungen berechtigen konnte. Kein anderes Land hatte eine derart rührige, aufstrebende, sich erfolgreich durchsetzende Arbeiterschaft, die bedeutende soziale Reformen zu verwirklichen wußte. Erstaunlich gut diszipliniert, als starke und verantwortungsbewußte Einheit erzog die große Arbeiterorganisation unsere breite Volksmasse tatkräftig und entschieden zum politischen Leben und vermittelte ihr auch die Anregungen zu höheren, geistigen, kulturellen 94
Bedürfnissen — ein Aufschwung unserer großen Volksschichten, den jeder Vorurteilsfreie nur anstaunen und freudig begrüßen konnte. Gewaltige Volkskräfte stiegen hier empor, die unser nationales Leben bereichern mußten. Gewiß, daß die deutsche Arbeiterbewegung r e v o l u t i o n ä r anhob, sich zunächst in schroffstem Widerspruch zum überlieferten deutschen Staat und zu allen übrigen Bevölkerungsklassen entwickelte, war nicht wenig bedrohlich. Eine tiefe Kluft wurde in unserem Volke aufgerissen. Dieser Gegensatz war die schwerste Krankheit unseres politischen Lebens, die unser gesamtes nationales Leben aufs Spiel setzte, die eben errungene nationale Einheit wieder in Frage stellte. Aber nun ist zu bemerken: g e r a d e d i e s e r g e f a h r v o l l e und b e k l a g e n s w e r t e Z u s t a n d b e g a n n s i c h in der l e t z t e n Z e i t v o r dem K r i e g e m e r k l i c h zu b e s s e r n . Was sich jetzt nach Krieg und Revolution abgespielt hat, dürfen wir nicht auf die Zeit v o r dem Kriege zurückübertragen. A l l e sind wir anders geworden durch die schweren Schicksalsschläge, und unsere Arbeitermassen, als noch junger, ungefestigter Stand, haben unter dem Zusammenbruch unseres Staates moralisch am meisten gelitten. Alle Disziplin ist heute dahin, die doch früher das schönste Ruhmesblatt der deutschen Arbeiterschaft gewesen war. Die zügelloseste Utopie rechtfertigt jetzt jedes Verbrechen. Das ist allerschwerste Krankheit. Aber v o r dem Kriege war all das anders, da war dieser Stand zweifellos auf dem besten Wege, da begann er erfolgreich alle Jugendsünden und Torheiten des politischen Aufstrebens abzustreifen. Die Kluft zwischen ihm und den anderen Ständen sowie dem Staatsganzen nahm vor dem Kriege nicht zu, sondern stetig ab. Die Entwicklung strebte auf das Gegenteil dessen hin, was nun betrübendes Ereignis geworden ist. D i e d e u t s c h e A r b e i t e r s c h a f t b e w e g t e s i c h g a n z o f f e n s i c h t l i c h z u r S t a a t s e i n h e i t hin. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, daß die Gegensätze in unserem Staatsleben aus dem Charakter lebensgefährlicher Feindschaft zu dem wohltätiger, gegenseitig vorwärtstreibender und befruchtender Spannung übergingen. Wie wäre denn das wunderbare Jahr 1914 möglich gewesen, dieses plötzliche Zusammenschießen aller Volkskräfte zur Einheit, wenn nicht schon vorher, unter der Schwelle des Bewußtseins, diese Stimmung
95
und Gesinnung zur Einheit wirksam, wie man zu sagen pflegt, latent vorhanden gewesen wären. Alle Reformen des deutschen Lebens auf allen Gebieten drängten mit einem Schlage mächtig hervor, schienen unwiderstehlich der Verwirklichung zuzustreben, weil sie schon zuvor im Stillen gereift und herangewachsen waren. Nur die letzten dünnen Schranken fielen. Daß damals kein Staatsmann diese einzige, wunderbare Stunde nützte! Auch im Völkerleben, ja hier noch weit mehr als im Einzelleben spielt der rechte, unwiederbringliche Augenblick die bedeutendste Rolle. Im Leben der Einzelpersönlichkeit erfährt es ein jeder, zu seinem Heil oder Unheil, leider meist zu seinem Unheil, daß das Glück an ganz wenigen, ja oft an einem einzigen entscheidenden Augenblick hängt, daß dieser rechte Augenblick nicht versäumt werden darf, bei allen wichtigen Lebensentscheidungen, bei der Berufswahl, der Gattenwahl, ganz besonders bei der Gattenwahl. Ergreift der Mensch hier nicht den verhängnisvollen, allentscheidenden Augenblick, so versäumt er alles, unwiederbringlich. Schweigsam geht an ihm das Glück vorüber. Die Griechen haben Wohl gewußt, weshalb sie diesen rechten Augenblick, den „Kairös", so schätzten. Ein mächtiger Gott ist dieser „Kairös". Denkt man sich in jenem so glücklichunglücklichen Jahre einen wahrhaft gestaltendenden Geist an der Spitze des deutschen Volkes, im Schmelzfeuer jener begeisterten Tage, meint man, hätte er, ob uns in dem ungeheuren Kampfe Sieg oder Niederlage bevorstand, alle Schäden aus dem deutschen Volksleben ausscheiden, alle Kräfte dieses staunenswerten Volkes unlösbar, unzerreißbar miteinander verschlingen und verketten, hätte sie in eine gewaltige, schöpferische Verbindung zusammenhämmern können. Niemals war eine Stunde günstiger, endlich nach jahrhundertlangem Suchen und immer wieder Verfehlen und Scheitern aus dem deutschen Volke wirklich ein V o l k zu machen, das will besagen eine innere Lebenseinheit zu bilden, die wie ein einheitlicher Organismus alle Kräfte zu e i n e r herrlichen Wirkung zusammenschließt. Das bot die Stunde, verflog mit der Stunde. Aus dem Kampfe aller gegen alle hätte sich die große Verpflichtung aller gegen alle herausbilden müssen. Und welche wunderbaren Leistungen hätte das deutsche Volk, selbst wenn es in dem gigantischen Kampf erlag, aus dieser Einheit seiner Kräfte hervorzaubern
96
müssen. Auch in der Niederlage hätte es dann als eine einzige Seele seine volle Größe, ja in dem furchtbaren Unglück erst die wahre Erhabenheit seiner Größe offenbaren müssen. Das alles muß man bedenken, diese fast schon greifbare Möglichkeit unseres Volkslebens muß man ins Auge fassen, wenn man vom Wesen und der Bestimmung des deutschen Volkes sprechen, sich von dieser Bestimmung eine Vorstellung bilden will. Mir kommt es vor, als ob zum z w e i t e n Mal das deutsche Volk unmittelbar vor dem vollen Ausblühen stand, zum z w e i t e n Mal unmittelbar die letzte Erfüllung und Entfaltung, die vollendete Gestaltung der Gesamtheit seiner hohen Anlagen zu erleben im Begriffe war. Und beide Mal trat ein Dämon dazwischen und zerschlug die köstliche Hoffnung. Im Zeitalter der Reformation war das deutsche Leben in lebhaft starke, ja in stürmische Bewegung geraten, wie wenn lange eingedämmte und gestaute Gewässer plötzlich die Schranke durchbrechen. Damals fiel das wunderbare Wort: „Es ist eine Lust zu leben." In allen menschlichen Schöpfungsgebieten gab es einen gewaltsamen, raschen Ruck und Stoß nach vorwärts und aufwärts. In den Künsten leisteten Malerei und Baukunst Herrliches, die Wissenschaften kamen in schnellen Aufschwung, Natur- wie Geschichtswissenschaft, man denke an die Tat des Kopernikus, die Wiedererweckung des Altertums. Die Wirtschaft, Handwerk und Handel standen nie in ähnlicher Blüte: alles eine feurige Bewegung, ein freudiger Zug in's Weite, Große. Auch die Staatsordnung des gesamten, gewaltigen Reiches schien einer Neugestaltung und Festigung entgegenzureifen. Die in den Jahrhunderten des Mittelalters in stetiger Arbeit herangebildeten Kräfte schienen jetzt ihre vollen Früchte zu tragen. Noch war alles gleichsam knospenhaft gebunden, noch lag es wie eine letzte, matte Verschleierung über allen Schöpfungen. Aber um eine Stunde weiter noch, so nahm es sich aus, dann mußte der Tag der Vollendung anbrechen, er schien unmittelbar vor der Tür zu stehen. Da aber brach der religiöse Sturm los, zerriß das Volk in zwei unversöhnliche Heerlager. Der religiöse Streit riß alle Kräfte an sich, alles wurde dahin abgelenkt und aufgezehrt, bis die lange gespannte Feindschaft sich im dreißigjährigen Kriege fürchterlich ausraste, das ganze Land verwüstete, das deutsche Volk zu vollkommener Ohnmacht verdammte. Und 7
97
alle Völker Europas fielen Aber das einst mächtigste Reich und Volk her und teilten sich in die wehrlose Beute. Die innere Zerrissenheit führte Deutschland bis an den Abgrund völligen Unterganges. Langsam, stetig erholte sich und erstarkte wieder das deutsche Volk. In den letzten zwei Jahrhunderten gab es einen fast unausgesetzten Aufstieg. Erst wurde die innere geistige Kraft und Größe errungen, dann auch kehrten wirtschaftliche und politische Größe in gesteigertem, niemals erwarteten Maß zurück. Das endlich geschaffene, einheitliche, feste Reich, der erfüllte Traum von Jahrhunderten, geboren und genährt aus den geistigen Quellen der deutschen Bildung, entfesselte unvergleichliche Kräfte, erzeugte gewaltige, staunenswerte Leistungen. Aus dem engen kontinentalen Dasein herausstrebend, die allzu engen Grenzen unserer eingepreßten Lage sprengend und überwachsend, schien das deutsche Volk sich zu einem Weltvolk emporzuschwingen. Wohl hat man mit gewissem Recht von Epigonentum im letzten Zeitalter gesprochen. Aber eben dieses Epigonentum schien von dem jüngsten Geschlecht wieder abzufallen. Eben Waren wir im Begriff, dieses Epigonentum von uns abzustreifen. Unendliche Entdeckerfreude, leidenschaftliche Schöpfersehnsucht wenigstens keimten in den Gemütern auf, die wohl auch zu Taten führen mußte. Alle störenden Hemmungen schienen endlich zu weichen, nachzugeben. Um ein Kleines noch, so mußte man meinen, und ein wunderbarer Tag höchster Vollendung des deutschen Lebens mußte heraufziehen, in dessen Schöpfungen das gesamte deutsche Leben gipfeln sollte: eine reiche, kostbare Ernte, ein unvergängliches Geschenk des deutschen Volkes an alle Zukunft. Ich kann das Gefühl nicht loswerden, als hätten unsere Feinde durch ihren vereinten Angriff auf unser hoffnungsvolles, quellendes Volk die Menschheit um eine unermeßlich wertvolle, üppige und schöne Blüte gebracht. Denn diesmal trat der tückische Dämon von außen dazwischen. Der Schlag aller Völker fuhr auf das deutsche Volk nieder, schlug es zu Boden, eben in der Stunde, da es der Welt sein Bestes geben wollte. Das deutsche Volk rüstete sich gerade, um der Kette menschlicher Kultur ein neues Glied einzufügen, sie um eine neue, große Epoche reiner und edler Friedensschöpfungen zu bereichern, als das Todesschwert gegen unser unglückliches
98
Volk gezückt wurde. Alle Anzeichen sprachen für das nahe Kommen einer so fruchtbaren und großen Zeit des deutschen Volkes. In diesem Lichte erscheint mir der Charakter unserer letzten Epoche. Das ist um der Gerechtigkeit und der Wahrheit Willen zu der früher abfälligen Kritik ergänzend, ausgleichend hinzuzufügen. Diese Zusammenhänge, diese Gegensätze und Erwartungen muß man erst voll erfassen, wenn man von der Bestimmung des deutschen Volkes und dem Glauben an diese Bestimmung klar und sinnvoll reden will. N e g a t i v beweist der Weltkrieg selbst, die feindselige Richtung aller Welt auf unser einziges Volk hin den Wert und die Bedeutung unseres Volkes, seine Berufung zu Hohem und Großem. Die Welt sah in banger Furcht etwas Gigantisches mit dem deutschen Volke emporsteigen. P o s i t i v aber bewiesen jene soeben erwähnten hoffnungsreichen Keime, die sich allerwärts regten, daß es noch nicht am Ende war mit dem deutschen Volke. Im Gegenteil, alles sprach dafür, daß das deutsche Volk sich erst anschickte, sein wahres und eigentliches Wort zu sprechen, der menschlichen Geschichte die Züge seines echten Wesens einzugraben, den Beweis seines letzten Könnens zu liefern. Es war schwer und trächtig von noch ungetanen, aber schon sich regenden, sich losringenden Taten. Am schönsten hat Wohl Nietzsche vom deutschen Volk gesagt, von dem er freilich auch viel Herbes sagte, so Hartes, daß es fast klingen konnte, als haßte und verachtete er sein eigenes Volk — in Wahrheit aber liebte er es tief — und so sprach er das schöne Wort von den Deutschen, daß sie ein Gestern haben und ein Morgen und Übermorgen, aber noch kein Heute. G r o ß in der Vergangenheit verheißen sie G r o ß e s für die Zukunft. Aber ihre Gegenwart ist schwach, unklar, zerrissen, gequält. Indessen, eben diese Unklarheit schien sich zu klären, die heftigen Geburtswehen schienen sich in eitel Glück zu verwandeln, ein großes Heute schien langsam heraufzudämmern. Und nun, nachdem alles so jäh zerstört und zerbrochen ist, was nun? Ich meine, alles raunt uns zu, ja alles dröhnt uns mit mächtigem Ruf entgegen: l a ß t d e n G l a u b e n n i c h t s i n k e n an e u e r V o l k ! Was die Feinde taten, was wir selbst in alter und junger Zeit vollbrachten, begannen und vorhatten, was geschehen war und was erst noch im Werden war, keimhaft 7* 99
die Zukunft in sich einschloß, alles, alles muß uns belehren: e i n e u n e r s c h ö p f l i c h h o h e B e s t i m m u n g r u h t auf dem d e u t s c h e n V o l k e . Seine hohen Anlagen gaben ihm und geben ihm noch die Anwartschaft, das Recht zum stolzesten, kühnsten Glauben, ja sie zwingen ihm die Pflicht auf, dieser hohen Bestimmung durch Unerschütterlichkeit des Glaubens und Stolzes die Treue zu wahren, auch wenn das ganze Weltgeschick über unser Volk zermalmend zusammenbricht. Das deutsche Volk besitzt ein so reiches Pfund — das haben alte und jüngste Tage bewiesen —, daß es niemals zum Verzweifeln Recht hat, daß nur ein leiser Anflug von Erschütterung, Wanken und Schwanken seine Seele auch nicht von ferne nur streifen darf. Denn mit diesem reichen Pfunde muß der Deutsche wuchern, so lange er lebt, unter den härtesten, schmerzlichsten, schwersten Bedingungen wuchern. Die hohe Auszeichnung, die die Verleihung eines so reichet« Pfundes für ihn bedeutet, die auserwählte Aufgabe, die diese Tatsache ihm zuweist, gebietet ihm herrisch und unnachsichtig sein Wesen und seinen Charakter zu behaupten, was auch komme und ihn bedrohe. Er darf niemals nachgeben, ausweichen, geschweige seine Aufgabe verzweifelt hinwerfen, seine Bestimmung verraten. Kein Volk kann ihm seine weltgeschichtliche Aufgabe abnehmen. Dem Glücklichen soll man Demut predigen. Wer hoch und fest steht, den soll man vor Überhebung und Übermut warnen. Aber dem Gebeugten und Geschlagenen muß man Stolz einimpfen, zu dem muß man in allen Tonarten von seiner unverlierbaren Würde sprechen, daß er den Glauben behält auch in trübster Stunde, ja daß er dem trübsten Geschick den kühnsten Glauben entgegensetzt. Was haben die gegenwärtigen Menschen für törichte Vorstellungen von der Eziehung! Sie meinen, die Erziehung solle das Gegebene nur steigern, verstärken, stützen, heben. Im Gegenteil, die Erziehung soll Fremdes hinzufügen, Fremdes aufzwingen, soll der Einseitigkeit und Schwäche, der Bedingtheit, die jeder Natur anhaftet, durch Ergänzung und Bereicherung entgegenwirken, soll gerade den G e g e n s a t z h e r z u t r a g e n , auf daß etwas Ganzes, Volles, Großes entstehe. In dieser matten und gedrückten Stunde frommt nur e i n e Rede an das deutsche Volk: daß es sich in die Brust werfe, den Kopf hochrecke, daß es seine ganze Seele mit Stolz und 100
Glaube fülle. Nichts anderes darf mehr in seiner Seele Raum finden, dies eine Gefühl muß allbeherrschend in seiner Seele l o h n e n , worüber alle anderen Regungen, Befürchtungen, Stimmungen völlig hinschmelzen: Stolz und Glaube. Scharrt alles zusammen, aus alter und junger Zeit, spürt allem nach, was den deutschen Stolz heben, den deutschen Glauben stärken kann. Es gibt dessen so unermeßlich viel! Nur aus diesem Selbstgefühl kann die Erlösung, neuer Schaffensmut hervorquellen. Und Wie uns bei rechter Betrachtung der große Weltangriff in unserem Selbstbewußtsein nur steigern, unseren Stolz und Glauben geradezu erst wachrufen, dem bis dahin dumpfen und unbewußten deutschen Volk erst einpflanzen muß, so ist auch alles Weitere, was folgte, bei klarem Blick und unverfälschtem Urteil nur dazu angetan, uns den Glauben an unsere besondere, auserwählte Rolle in der Menschengeschichte zu bestätigen und zu gewährleisten. Wir s i n d ein einziges Volk, das lehrt die Feindschaft der Welt gegen uns, das lehrt aber auch der Widerstand und die Verteidigung, die wir dieser Todesgefahr entgegensetzten. Von der Kraft und dem Heldentum, die Deutschland gegen den Weltansturm bewies, ist genug geredet worden. Davon hier nichts mehr. Nur mit einem Blick vergegenwärtigen wir uns die Summe des Geleisteten, das Ganze unserer Heldenarbeit. Die Menschen wissen bei der Fülle der Erscheinungen und der Ereignisse nicht den Überblick zu gewinnen, das große Ganze ins Auge zu fassen. Wir haben Rußland besiegt — hätten wir's allein mit ihm zu tun gehabt, es wäre dieser Sieg bei der gewaltigen Größe und Macht des damaligen Rußland schon wahrlich allein Grund genug zu Stolz und Ruhm gewesen —, Wir haben den Balkan erobert, wir haben Italien aufs Haupt geschlagen, also nach Osten, Südosten und Süden uns frei gekämpft, ja als unbeschränkte Herren geboten wir zuletzt in Osteuropa — und das alles, während wir vier volle, schwere Jahre lang im Westen die unerhörtesten, immer wiederholten, mit allen Machtmitteln und unendlichen Massen von Kämpfern aus der ganzen Welt unternommenen Anstürme der zivilatorisch, technisch, politisch höchststehenden Großmächte, Frankreichs und Englands, abzuwehren hatten. Frankreich, das nach Deutschland das geschulteste Heer besaß, England, das die fernste Welt auf den Kampfplatz werfen konnte, sie vermochten uns 101
vier Jahre lang nicht aus unserer Stellung zu werfen, vermochten vier Jahre lang unseren gewaltigen Siegesschritt im Osten Europas nicht zu hemmen oder abzulenken. Und wir hätten selbst auch den kulturreichen Westen Europas besiegt, hätten die beiden stolzesten, leistungsfähigsten Großmächte Prankreich und England Uber den Haufen geworfen, wenn nicht schon von Anfang an Amerika diesen Westmächten Hilfe gewährt hätte, ja zuletzt selbst auf dem Kampfplatz als deren Bundesgenosse erschienen wäre. Und da gibt es einen Deutschen, der den Kopf hängen läßt? Ich sage: wir s i n d e i n e i n z i g e s V o l k . Derartiges macht uns kein Volk nach. Könnte sich irgend ein anderes der Völker einzeln mit dieser Kraftleistung messen? Turmhoch stehen Wir mit solcher Tat über allen anderen Völkern der Erde als erstes, größtes Volk, unbestritten und unbezweifelbar. Keines darf nur daran denken, sich uns an die Seite zu stellen. Einzeln überragen wir sie — das liegt am Tage, das hat die Welt gesehen — alle. Nur ihre vereinte Masse hat uns schließlich zu Fall gebracht. Einen unermeßlichen Stolz, dürfen, ja müssen wir aus diesem Kriege heimtragen, einen Stolz, wie er noch nie die Seele eines anderen Volkes hat schwellen können. Deutsche Größe steht siegreich, unerreichbar, unnahbar über allem menschlichen Leben und Leisten. „Deutschland, Deutschland über alles", dieses kühne, stolze Wort — man muß es erkennen — ist lebendige, tatsächliche, wirkliche Wirklichkeit geworden. Das ist die nackte Wahrheit. Scham, unendliche Scham sollte die anderen Völker, wenn sie noch Ehre besäßen, wenn sie noch Wahres und Falsches, Echtes und Unechtes, Großes und Kleines unterscheiden könnten, zu Boden drücken. Ihr Glanz verbleicht vor der deutschen Kraft und Kunst und Tugend. Das ist die Erkenntnis, die die tiefere und gerecht abwägende, die philosophische Betrachtung uns aufzwingt. Und jede andere Lehre ist Irrlehre und verfälscht den einfachen, klaren Tatbestand, den jeder aus den erlebten Ereignissen ablesen kann, wenn er nur will, wenn er nur offen blickt und freimütig und charaktervoll urteilt. Vor der höheren Gerechtigkeit sind wir die Sieger und bleiben es in alle Zukunft, und mag uns das Schicksal, die Ungunst und Verstrickung der Weltverhältnisse völlig erwürgen und zerstampfen. Es gibt ein Siegen im Unterliegen, einen Triumph im Tode, einen Jubel im Sterben. 102
Ich lasse keinen als Deutschen gelten, der nicht diesen Glauben, diesen erhabenen Stolz im Busen trägt. Alle anderen, die diesen Glauben und Stolz nicht fühlen, gelten mir als Ausschuß, als Fäulnis und Moder im deutschen Volke, den wir langsam ausscheiden werden. Denn nur mit diesem Glauben werden •wir uns wieder emporringen und emporarbeiten können. Nur wer glaubt, nur wer Stolz besitzt, bändigt das Schicksal, arbeitet und schafft. Der Ungläubige versinkt in Ohnmacht und Tod. Wer will sich gegen diese Wahrheit auflehnen ? Der trete vor! Darum, Freunde, schürt diesen Glauben allerorten in deutschen Landen, tragt ihn von Mund zu Mund, von Herz zu Herzen, den Glauben, die Gewißheit, den S t o l z der Gewißheit: w i r sind die Sieger. Es ist der einzige Weg, der zur Genesung, zur Höhe, zum Lichte führt. Wollen wir zurück zu Leben und Schaffen, müssen wir uns erst selbst finden. Und nur in diesem Glauben und Stolz können wir uns selbst finden. E r s t die Erstarkung des Inneren, d a n n die Gestaltung des Äußeren. So lehrt die philosophische Einsicht. Wer vom anderen Ende beginnt, ist schlecht beraten. Und selbst, daß wir zuletzt doch unterlagen, können, ja müssen wir uns zu unserer Ermutigung, zur Hebung unseres Selbstgefühls auslegen. Selbst die schließliche Niederlage, recht betrachtet, in ihrer tieferen Ursächlichkeit erfaßt, spricht für unsere Kraft, für die Unüberwindlichkeit der deutschen Stärke. Denn die F e i n d e haben uns n i c h t besiegt. Selbst ihre übergroße Zahl, selbst die unerhörteste technische Überlegenheit, selbst die Hilfe des amerikanischen Erdteils und dessen offene Teilnahme am Entscheidungskampf, alles, alles hätte den Feinden nichts gefruchtet, wir wären dennoch Sieger geblieben, gegen den Ansturm der ganzen Welt, wenn wir uns nicht selbst durch unsere Volksspaltung, durch die innere Auflehnung fast der ganzen einen Volkshälfte wider unseren Staat, durch die einsetzende, im Stillen sich vorbereitende Revolution, die schon gut zwei Jahre vor der offenen Revolution Volk und Heer durchdrang, bis zur Verleugnung des Vaterlandsgedankens, ja bis zu offenem Verrat und Übertritt — wenn wir uns nicht durch alles dies selbst um den Sieg gebracht hätten. Wir haben durch Selbstzerfleischung, Selbstmord den Sieg verscherzt. Auf die Gründe und Ursachen dieser erschütternden Tatsache, d e s 103
V e r r a t e s v o n M i l l i o n e n , was in der ganzen Menschengeschichte wirklich einzig dasteht, was noch niemals geschehen ist — die Deutschen sind unvergleichbar und einzigartig im Guten und Schlimmen — auf die, Gründe dieser unbegreiflichen Tatsache gehe ich hier nicht ein, wir wollen ja hier nur die Summe des Geschehenen ziehen. Daß diese Tatsache selbst besteht, kann nicht bestritten werden, nur ob mit oder o h n e Recht ein großer Teil des deutschen Volkes während des Krieges zum Kriege Nein sagte, nicht mehr oder nur mit höchstem inneren Widerwillen mitkämpfte, nur über R e c h t oder U n r e c h t in diesem Verhalten scheiden sich die Anschauungen der Geister. Was folgt aus dieser seltsamen Tatsache? Nicht die Feinde haben uns besiegt. Wir haben uns selbst besiegt. Auf das deutsche Volk trifft das große Schillerwort zu: „Ajax fiel durch Ajax Kraft." Das ist zwar grauenvoll und furchtbar. Aber wir dürfen uns dennoch auch dessen getrösten. Denn nun erkennen wir klar: die deutsche Kraft an sich war unüberwindlich, fremde Macht konnte die deutsche Kraft nicht brechen. Deutsche Kraft kann wirklich und wahrhaft der ganzen Welt trotzen. So steht es denn künftig nur bei uns, bei unserem eigenen Volk, seinem Willen und seiner Gesinnung, ob wir denn von dieser unserer gewaltigen Kraft Gebrauch machen, trotz allem uns wieder emporringen wollen. Wir h a b e n diese Kraft, das ist erwiesen, wenn wir nur w o l l e n . Und d a ß wir wollen, daß wir ein Volk werden — und das bedeutet ein Volk aus e i n e m Geist, ein Volk wie das vom Jahre 1914, nur nicht mehr bloß auf einen kurzen rauschvollen Augenblick, sondern für die D a u e r — daß wir dies erreichen, dazu bedarf es nur der Herrschaft des Geistes in unserem Volke, der diese große Erziehung leistet. Wir suchen die Wege dahin, wir werden sie finden. Und zuletzt der Friede und seine Bedingungen. Gewiß furchtbar, unerträglich hart sind diese Bedingungen. Ein wahres Genie von Rache und Zerstörungswille hat diese Bedingungen ausgedacht. Und daß die Erbarmungslosigkeit und Unerbittlichkeit unsrer Feinde auch Verstehen wird diese Bedingungen zu erzwingen, sie restlos durchzuführen, dessen kann man versichert sein. Denn hinter diesem Werk steht ein sehr alter, zäher, fest und kernhaft gewordener, geschulter Volkswille ohne Wanken und Zaudern, während das deutsche Volk nur erst 104
einen jugendlich schwankenden, biegsamen, tastenden, unsicheren Willen besitzt. Der Deutsche kann sich in die Willensfestigkeit der alteren Nationalstaaten garnicht hineindenken, kann sich von der Zielkraft des Willens dieser Völker gar keinen Begriff machen. Er taumelt jugendlich arglos und ahnungslos in ein Leben hinein, das ihm gänzlich fremd ist. Und dennoch, da ich an die Unzerstörbarkeit des deutschen Wesens glaube, wenn unser Volk nur w i l l , nur erst seiner selbst und seiner Kraft bewußt geworden ist, den großen Glauben, zu dem ich hier so eindringlich rate, sich angeeignet hat, darum können selbst diese Folgen des grausamsten Friedens mich nicht umwerfen, nicht einmal ängstigen. Selbst diese Friedensbedingungen und alles, was die Feinde seitdem mit dieser Mordwaffe in der Hand an uns Verüben, was sie an uns auslassen — auch diese Schläge und Demütigungen stärken nur immer Wieder, so seltsam es klingen mag, meinen deutschen Stolz und Glauben. Ich suche nicht etwa krampfhaft nach diesen Gefühlen, sie drängen sich mir unabweislich, übermächtig auf. Es mag auf den ersten Eindruck dem Leser als lächerliche Torheit, ja als Frivolität erscheinen, bei eindringendem Nachdenken wird er es verstehen, wenn ich erkläre: die härtesten Bedingungen, und je härter ihre Durchführung erzwungen Wird um so entschiedener, erwecken mir wahrhaft Hochgefühle des nationalen Stolzes. Meine Seele jauchzt innerlich auf, wenn ich lese, W a s sie uns zumuten, w e l c h e Lasten, Schädigungen, Marter, Strafen sie über uns Verhängen und ausschütten. Denn ich werde die Frage nicht los, w a r u m tun sie das alles? Der philosophische Trieb fragt immer w a r u m ? Er nimmt keinen Vorgang nur als solchen auf. Und alle Deutschen müssen heute philosophieren lernen. Warum denn also gehen unsre Feinde so überstreng und unerbittlich gegen uns vor? Ich sage mir: w i e n a m e n l o s m ü s s e n s i e u n s f ü r c h t e n , auch in dieser völligen Zerrüttung, Auflösung, Ohnmacht fürchten, was müssen sie für einen ungeheuren Glauben an die deutsche Wiederherstellungskraft, Unerschöpflichkeit und sittliche Größe haben, daß sie s o unsre Ohnmacht ausnützen, uns so bis zur vollen Vernichtung zu treffen suchen. Sie erweisen mit dieser Angst, mit dieser Politik der Vorbeugung unsrem Volke wider Willen die denkbar höchste Ehre. Sie suchen uns für alle Zeiten zu schänden. 10Ü
In Wirklichkeit aber beugen sie sich eben damit vor dem deutschen Genius. Wahrlich unsre F e i n d e haben den großen Glauben an das deutsche Volk, den wir nicht haben. Das beweisen sie mit den Friedensbedingungen und beweisen sie täglich mit deren Verfolgung und Anwendung. Sie haben das deutsche Volk in diesem Vierjährigen Heldenkriege in seiner schauererregenden Größe und Arbeitsleistung, Erfindergabe und Tatkraft kennen gelernt. Sie können nicht so schnell vergessen, wie wir Deutsche vergessen haben. Ihnen hat sich das deutsche Wesen mit seinen märchenhaften Leistungen, seiner Begabung und seinen Möglichkeiten — ganz dicht war es doch dem Höchsten nahe, alle vereinten Weltmächte zu besiegen — eingeprägt, unauslöschlich in der Fülle seiner Genialität offenbart, daß sie sich nicht ruhig, gerettet fühlen, wenn nicht das deutsche Volk für immer an die Sklavenkette gefesselt ist, und zwar so fest, daß ein Sich-Loswinden von dieser Kette nach menschlichem Ermessen eine bare Unmöglichkeit wird. So wollen, so müssen sie das deutsche Volk am Boden liegend wissen, so ohnmächtig und hilflos, daß ein sich nur leises Regen für Deutschland ausgeschlossen ist. Welch eine hohe Anerkennung sprechen sie eben damit Deutschland gegenüber aus! Sie denken wahrlich höher von den Deutschen als diese in ihrer heutigen Zerrüttung und Fassungslosigkeit träumen. Wir sollten Von ihnen lernen, uns von unsren Feinden wieder zur Selbstbesinnung zurückführen lassen: daß wir etwas Waren und im Kerne auch heute noch sind, daß wir unter den Erdenvölkern keine alltägliche Rolle gespielt haben, daß wir etwas bedeutet haben und durch magische Wirkung, die von uns ausgeht, auch heute noch etwas bedeuten. Alle Welt stiert ja nach wie vor beklommen auf das, was bei uns vor sich geht und sich regt. Wir sind ihnen wahrlich nicht gleichgültig geworden. Wenn ich mir die Friedensbedingungen recht deutlich vergegenwärtige — wie ungeheuerlich sie sind, ahnen ja heute die Deutschen noch garnicht — dann wirkt das auf meine Einbildungskraft, daß ich im Geiste wie auf Wolken des Stolzes dahinschreite — eine solche Ehrung für unser vielgeprüftes, leidvolles, aber auch großes und gewaltiges Volk scheint mir in diesen Friedensbedingungen zu liegen. Wenn wir durch nichts unsterblich wären, durch diesen Frieden würden wir 106
Bewundrung und Staunen aller künftigen Geschlechter erregen müssen. Gewiß nun liegen wir am Boden, nun sind wir gefesselte Sklaven, nun umklirren uns die uns umgelegten Ketten bei jeder leisen Bewegung, bei jedem noch so behutsamen Schritt und Tritt. Was kann der Sklave tun ? Ihm ist ja alle Regungsfreiheit genommen. E i n s aber kann er tun, e i n s kann ihm nicht geraubt, verboten werden: d e r t r o t z i g e B l i c k , der aus der inneren Seele bricht. O, daß ich diesen trotzigen Blick allen Deutschen entlocken könnte! Alles können die grimmigen Feinde uns aufzwingen, verbieten. Den trotzigen Blick können sie dem Sklaven nicht verbieten, der von der freien, ungebeugten Seele zeugt. Wenn wir nur erst wieder alle diesen trotzigen Blick gelernt hätten, dann wäre alles gut! Dann wären wir schon so gut wie gerettet! Unsre innerste Seelenkraft wäre dann noch unberührt und unverdorben. Heute sind schon so viele der inneren Sklaverei verfallen. Wehe, wenn dieses Gift weiter frißt! Nur der Stolz kann uns davor retten. Noch gibt es keine Gewalt, die die Seelen zu binden und zu bändigen weiß, die Seele ist für alle Ewigkeit frei, wenn sie frei sein w i l l , wenn sie sich nicht selbst unterwirft. Mit diesem Trotz und Stolz im Busen, vom Glauben wieder an unser eigenes Volk geschwellt und getragen, können wir einen G e i s t erzeugen, der selbst unsre verzweifelte Lage Verändern und heilen könnte. Nur der Glaube erzeugt Geist. Der Geist schwebt nicht in reinem Für-sich-sein in hoher Ferne, er senkt sich nicht wie ein Gnadengeschenk von oben auf die Menschen nieder. Er wurzelt in der Tiefe des Willens. Nur der starke Wille erzeugt den erkennenden Geist, wenn einer mit der ganzen Wucht und Leidenschaft seiner Seele erkennen w i l l . Der starke Wille aber erwächst aus starkem Glauben. Nur wenn alle Deutschen diese Wahrheit begriffen haben, werden sie die Rettung nicht mehr von seltsamen, abenteuerlichen, glückhaften Ereignissen von außen, durch irgendwelche Zufälligkeiten des äußeren Weltverlaufs erwarten. Dann nur werden sie an die Arbeit schreiten, mit den Machtmitteln ihres eignen Geistes ihr unglückseliges Schicksal umzugestalten. Und zwar ein schöpferischer, aufbauender Geist wird es sein, der aus der stolzen Zuversicht und dem hohen Glauben 107
unsres ungebrochenen Volkswillens geboren wird, und nur solch ein aufbauender, gestaltender Geist wird die unermeßlich schwierige Lage unsres Volkes zu bessern befähigt sein. Die sonderbarste Begriffsverwirrung hat sich der heutigen Menschen bemächtigt. Selbst die sonst Verständigsten gehen den verkehrtesten Gedanken nach. Da glauben viele und sonst einsichtige, vernünftige Leute, der z e r s t ö r e n d e Geist werde und müsse uns Rettung bringen. U n s e r Haus sei eingestürzt, wir hausen unter unerfreulichen und garstigen Trümmern. So solle und werde auch das Haus der Feinde, wie bei uns von unten unterhöhlt, einstürzen, auch dort würden Verwirrung und Zerrüttung Ginzug halten. Dann seien wir gerettet. Sie richten ihre Blicke auf den russischen Bolschewismus: die soziale Revolution werde unaufhaltsam weiterfluten und auch zu den Westmächten dringen, auch dort alles von unten zu oberst kehren. Und damit werde uns Luft geschaffen werden. Nur eine gänzlich trostlose, verzweifelte Gesinnung kann sich an solche Aussicht wie an einen letzten Strohhalm klammern. Das heißt doch auf jede eigne Gestaltung und Bezwingung der Verhältnisse verzichten, heißt Völlig mit der eignen Kraft abdanken. Vom Verderben aller die eigene Rettung erwarten, das ist der Gipfel der geistigen Leere, des geistigen Ohnmachtsgefühls und Unvermögens. Nein, nur ein schöpferisch gestaltender Geist, überlegene Politik können uns helfen. Politik ist angewandter Geist. Solche Politik aber kann auch von einem in Fesseln geschlagenen, völlig niedergeworfenen Volk ausgehen. Denn den Geist kann man nicht einfangen und anketten. Bleibt er sich selbst treu und unbeugsam, so kann er Ideen ersinnen und in die Welt hinaussenden, die dem geknebelten Volke Befreiung schaffen. In der inneren Politik, bei dem Neubau unsres Staates von Grund aus, müssen wir Ideen zur Geltung bringen, deren Wellenwirkungen unwiderstehlich auf die anderen Staaten hinüberschlagen. In der inneren Politik haben wir durch die Revolution jetzt unstreitig einen Vorsprung vor den anderen Völkern. Sonst haftete uns immer zuviel vergangene Schwere, altgewordene Ehrfurcht, vergilbte Romantik an. Von allem freigemacht, können wir jetzt einen überlegenen Staat errichten, dessen Eigentümlichkeiten auf die anderen Staaten belebend 108
und vorbildlich wirken. Wohl sind wir jeder Heeresmacht beraubt, arm und halbverhungert und werden uns noch sehr lange am Bettelstabe hinschleppen. Da aber Politik dem unfaßbaren Geist entspringt, können wir trotz dieser Schwäche sogar die p o l i t i s c h e F ü h r u n g an uns reißen, was wir an äußerer Macht eingebüßt, durch geistige Macht ersetzen. Weit wichtiger aber noch ist, daß wir in der auswärtigen Politik, in der Gestaltung der internationalen Verhältnisse mit Ideen auf den Plan treten, die die anderen Völker in ihren Bann ziehen und zu Ordnungen führen, die uns als freies, gleichberechtigtes Glied wieder in den Kreis der Völker einreihen und uns die Entfaltung aller unserer Volkskräfte gewähren. Das k ö n n t e der Geist zustande bringen. Der Geist aber entwächst, wie gesagt, dem starken Willen und der starke Wille dem starken Glauben. Dieser hohe Glaube an unsre Bestimmung bleibt das A und O unserer Rettung, die Mahnung, zu der wir immer wieder zurückkehren müssen, der einzige Pfad zu unserer Erlösung und Widergeburt. Und dieser hohe Glaube wäre auch die einzige, letzte Stütze, wenn doch alles vergeblich sein und unser Volk als politische Einheit zu bestehen tatsächlich aufhören sollte, wenn jene düstere und schauervolle Aussicht, die ich oben nach dem Schicksal des jüdischen Volkes auch in den Bereich unserer Volkszukunft gerückt habe, sich verwirklichen sollte. Die Lebensweisheit fordert, auf A l l e s gerüstet zu sein, auch der grausigsten Wendung des Geschicks eine sittliche und geistige Gegenmacht zu erzeugen, r e c h t z e i t i g zu erzeugen, um auch dem schlimmsten Falle gewachsen zu sein. Wir sind nicht nur berechtigt, aus unsrer Geschichte heraus und dem, was sie über unsere Veranlagung, das uns verliehene Pfund lehrt, sind wir sogar im höchsten Grade v e r p f l i c h t e t , auch bei völligem Untergange unseres geschlossenen Staatswesens und Volkstums n i c h t auf das Deutschsein selbst zu verzichten, dann noch als Einzelpersonen den deutschen Charakter bis in die fernsten Länder und zu den fernsten Zeiten fortzupflanzen. Als das geistig tiefste und reichste und zugleich rührigste und arbeitsfähigste Volk — das sind wir — d ü r f e n wir diesen Schatz niemals, unter keinen Bedingungen, und würden wir über die ganze Welt zersprengt, verkümmern lassen. Ein solcher Schatz 109
beladt mit einer niemals abzuschüttelnden, unveräußerlichen Verpflichtung, die bedrücken mag, aber doch auch wunderbar adelt und glücklich macht. Geistig müssen wir dann die ganze Menschheit, da wirs im Ganzen, als Volksindividualität nicht vermochten, als Einzelindividualitäten durchsäuern, anregen, ständig anreizen und beleben. Diese entsagungsvolle schwere Aufgabe aber, jedes heimatlichen Schutzes beraubt, wenn jeder nur auf seine persönliche Kraft zurückgewiesen ist, von einer Unendlichkeit an Feindseligkeit und Abneigung umbrandet, diese herbe, schicksalsschwere Aufgabe werden wir nur erfüllen — und erfüllen m ü s s e n wir sie, ausweichen dürfen wir n i c h t — wenn wir unsere Seele mit dem allerstärksten, größten, mächtigsten Glauben an unseren Volkswert wappnen und stählen. Diesen Volksglauben müssen wir geradezu mit einem Heiligenscheine umweben, müssen ihn zur — Religion erheben. Die Religion ist die Macht, die wider den Augenschein dem Menschen die innere Würde, die Überzeugung einer ewigen Bestimmung gibt. In der erkennbaren Erfahrung, im überschaubaren Verlauf des Naturgeschehens ist ein derartiger Anspruch eine Lächerlichkeit, da ist der Mensch nur ein gleichgültiger, vergänglicher Zufall. Die Religion trotzt diesem Augenschein, legt dem Menschen angesichts der vergänglichsten Vergänglichkeit, ja gänzlicher Nichtigkeit des menschlichen Lebens und Strebens den höchsten Rang, die stolze Würde einer ewigen Aufgabe bei, daß er das Gefäß und das Versprechen einer übersinnlichen Kraft und Berufung sei, daß in ihm ein göttlicher Funke glühe. Wehe, wer diesen Glauben nicht hegt, nur im greifbaren, erfahrbaren Leben und dessen Enge aufgeht! So hoch er sich bläht, er ist damit der Schwäche verfallen. Er steht nicht wurzelhaft fest und sein Haupt streift nicht die Sterne. Nur der religiöse Mensch ist stark. In dem engeren Rahmen der Menschheitsgeschichte sind Wir als Volk nun ausgelöscht, zum mindesten in Frage gestellt. Die Gefahr rückt vor die Seele, daß das deutsche Volk dereinst und vielleicht bald ein verklungener Name, eine verschollene Sage wird. Wider alle Wahrscheinlichkeit, wider allen Augenschein, ja angesichts scheinbarer Unmöglichkeit dennoch dem sinnfälligen Eindruck der Wirklichkeit, der herben, qualvollen und schmachvollen Wirklichkeit trotzen und ihr einen welt110
überwindenden Glauben entgegenhalten — das ist die deutsche Religion, die nach Bekennern ruft. Glauben, was man nicht sieht, was durch jede Tatsache widerlegt zu sein scheint — das ist Religion. Nur der also Gläubige, der diese Hochspannung des Glaubens errungen hat, der dürren, widerstrebenden, öden, kalten, gemütlosen Wirklichkeit abgerungen hat, nur dieser himmelstürmisch Gläubige ist der wahrhaft Religiöse. Denn das Plump-Wirkliche, Aufdringliche ist ja nur der freche S c h e i n , hinter welchem die leuchtende Sonne der Wahrheit glänzt. Mit solchen Gesinnungen müssen wir den Glauben an unser Volk trotz aller widerstrebenden, ja vernichtenden Umstände gegen die kalte, erbarmungslose Welt der Tatsachen zu unserm religiösen Heil und Heiligtum, das unverlierbar ist, niemals dem geistigen Blick entschwindet, emporheben und weihen. Nur dann verstehen wir den tiefen Ernst der Stunde. So unheimlich droht unserm Volkstum Gefahr und Tod, daß wir nicht nur die Stärksten an Geist werden müssen — Klugheit ist leicht zu erwerben — nein, daß wir h e i l i g werden müssen in dem Glauben an unser Volk, in der Religion des deutschen Glaubens. Und nichts ist doch schwerer als — heilig sein, die letzten Flecken von der Seele streifen, ein reiner Wille zu werden. Diesen Glauben, diese Religion schreiet nicht laut über die Dächer! Das Heilige verträgt nur die leise Sprache. Raunt und lispelt nur von Ohr zu Ohr einander zu, was Wir glauben, was wir hoffen! Aus diesem leisen und linden Wehen wird zur rechten Stunde ein Sturm werden, der die Erde umbraust. Gesunken ist die deutsche Fahne, besudelt, getreten und zerfetzt vom eigenen Volke. Eine unsichtbare Fahne, die kein Frevler berühren kann, heben wir empor, tragen wir unserem Volke vor! Diese unsichtbare Fahne ist die Religion des deutschen Glaubens, der hehre Glaube an das Geweihtsein des deutschen Volkes. Wir schauen diese heilige Fahne, die unserem schmerzlichen Kreuz- und Pilgerzuge in düstre Wüstenzukunft voranschwebt, nicht. Aber geheimnisvoll hören wir sie über unsren Häuptern rauschen und flattern. Es ist die Stimme des deutschen Gottes, der mit diesem geisterhaften Wehen uns seine Offenbarungen und Mahnungen sagt. Übrigens wir brauchen mit unseren Gedanken nicht in eine ferne Zukunft zu schweifen, wenn wir an die Zersprengung 111
des deutschen Volkes denken und in einem unerschütterlichen Glauben an die Bedeutung und an den Wert seines Volkstums dem irrenden Fremdling einen sicheren Schutz gewahren wollen. Schon jetzt, schon sehr bald werden viele Deutsche die Heimat verlassen müssen. Die Feinde haben die Deutschen aus der ganzen weiten Welt, über die sie sich ausgebreitet hatten, vertrieben und in die verengerten Grenzen des verstümmelten Vaterlandes zusammengedrängt, so dicht, daß es keine Unterkunft mehr für diese Massen gibt. Auf die Dauer kann diese Zusammenpressung nicht durchgeführt werden, der allzuenge Ring wird springen und wieder werden die Deutschen den Weg ins Weite suchen, allüberall auf der Erde wird man sie finden. Mag daheim auch noch ein einheitliches Volk und ein einheitlicher Staat sich eine Zeitlang kümmerlich hinfristen, was will dieses versklavte Volk seinen verstreuten Söhnen und Töchtern nützen ? Reichtümer, Schätze, können wir ihnen nicht in die Fremde mitgeben, denn wir haben keine. Einen Schutz der Macht kann ihnen das entwaffnete Deutschland — die deutsche Flagge ist vom Meer verschwunden und zu Hause gibt es kein Heer mehr, der Antimilitarismus hat sein Ziel, leider nur bei uns, erreicht — einen militärischen Schutz also in allen Nöten und Bedrängnissen können wir den versprengten Deutschen in fernen Ländern nicht mehr angedeihen lassen. Sie sind allen Unbilden einer bis in die Wurzeln feindseligen Umgebung ausgesetzt, sind ganz sich selbst überlassen. Was also können wir ihnen mitgeben, mit welchem Segen sie in die Ferne schicken? Nur etwas Geistiges, Innerliches, das große Selbstbewußtsein, den stolzen Glauben, die heilige, unzerstörbare Herzensreligion der deutschen Würde und Hoheit, Kraft und Zukunft können wir ihnen mit auf die Wanderschaft geben, einen Glauben, der sie nie verlassen darf, ihnen in allen schweren und verzweifelten Stunden den inneren Halt, die unüberwindliche Zuversicht gibt. Das Einzige ist es, das Beste, was wir ihnen als unverlierbaren Talisman widmen können. In der Heimat muß dieser Glaube gepflegt werden, er muß bis in das Innerste jeder deutschen Seele eindringen. Die schweigsame, unsichtbarfe Religion ohne Zeremonien, Kulte, Dogmen, Gebete, die stille, aber allmächtige Religion aller muß es werden, die gleichsam mit allen geboren wird, den künftigen Deutschen wie ein 112
selbstverständliches Etwas, eine zweite Natur innewohnt, sie auf allen Wegen begleitet und immer lebt. Wenn man gegen sein eigenes Volk bitter sein dürfte, so könnte man sich ingrimmig freuen, daß überall auf der weiten Erde künftig nur tiefer Haß und Abneigung den Deutschen entgegenschlagen wird. Könnte man an eine kleinliche Vorsehung glauben, die alle winzigen Einzelheiten des Weltverlaufes bewußt und zweckvoll gestaltet, so müßte man diese Feindseligkeit als ausdrücklich von der Vorsehung bestimmt betrachten, um die Deutschen durch diese Feindseligkeit zum Deutschsein, zur Treue gegen das eigene Volk zu z w i n g e n . Zahllose Deutsche haben von jeher in der Fremde ihr Volkstum vergessen, verraten. Nicht der höchste Glanz der Heimat, weder die unvergleichlichen kulturellen, geistigen und künstlerischen Leistungen unseres Volkes — was weiß der übliche Deutsche davon! — noch die wirtschaftliche oder politische Macht des heimatlichen Staates haben die Deutschen am eigenen Volke festhalten können. Aus dem Auge, aus dem Sinn — das war das Verhalten so vieler Deutscher im Auslande. Es lebt im deutschen Charakter eine gewaltige Kraft und Zähigkeit, eine erstaunliche Festigkeit und Härte und dementsprechend auch bisweilen eine unverbrüchliche Treue. Aber wie der Deutsche bei seiner umfänglichen S e e l e alle Gegensätze in sich birgt, so ist er auf der anderen Seite, im Gegensatz zu seiner Härte und Kraft auch überaus weich und zart, biegsam und nachgiebig, ja weichlich und schwächlich. Jedem Eindrucke ist er offen, er schmilzt gleichsam hin, schmilzt in das Wesen anderer hinein, das ihn umgibt, ihm nahe kommt. Was aber nicht der Glanz, das Glück und die Größe des deutschen Volkes vermochten, die Deutschen deutsch zu erhalten, das vermögen, das erzwingen vielleicht die Not und das Elend unseres Volkes, der Abscheu und die Verachtung, die es. in der ganzen Welt erweckt. Wenn künftig in der Fremde kein Angehöriger eines anderen Volkes mit den Deutschen noch einen Bissen Brot gemeinsam essen mag, wenn jeder sich durch die Berührung mit Deutschen besudelt fühlt und auf diese Weise jeder Annäherungsversuch an das Fremde dem Deutschen schon im Keime erstickt wird — wohlan, freuen wir uns dessen! Denn dann wird der Deutsche wohl künftig gezwungen sein in seiner eigenen 8
113
Haut zu bleiben, dann wird er immer wieder auf sich selbst und seine Natur zurückverwiesen werden. Und gegen die Bitternis, die diese Verstoßung in seiner Seele erregt, wird er sich nur wappnen können durch einen starken, selbstbewußten Stolz. Er wird schließlich auf das zu pochen, sich dessen zu erfreuen lernen, was der Welt den Abscheu einflößt: das Deutschsein. Er wird in der inneren Würde seines Volkstums den Rückhalt und das Gegengewicht gegen die Verachtung der Welt suchen müssen. Da er deutsch sein m u ß , wird er es zuletzt mit Bewußtsein, Liebe und Treue sein. Während er sich zunächst mühsam und gezwungen in seinen Zustand nur schickt, wird er allmählich lernen sich mit ihm zu befreunden und zuletzt wird er ihn in Ehren und heilig halten. So muß den Deutschen die herbste Erfahrung zu dem führen, was den anderen Völkern selbstverständliche Natur, was ihnen angeboren ist. Aber vielleicht wird ein auf so herbe Art, durch so schmerzliche Erfahrung erworbenes Volksbewußtsein um so zäher und stärker, tiefer und nachhaltiger sein, daß keine Gewalt der Schicksalsmächte, auch nicht die völlige Zertrümmerung des heimatlichen Volkstums dieses Volksbewußtsein noch brechen kann. Es ist unzerstörbar geworden, es wächst unaufhaltsam an Kraft und Festigkeit, es überdauert alle Wechselfälle und Zeiten. In eben der Stunde, da die Gegner des nationalen Willens unter uns dieses Gefühl bis auf die letzten Fasern ausgejätet zu haben glauben, da erhebt und entfaltet es sich aus der ungewollten, heimlich wirkenden und unabwendbaren Lage der Dinge Von neuem in erhöhtem Maße, zu Graden, die ehemals kein vaterlandstreuer Deutscher je zu hoffen wagte. Wir finden auch hier die alte Volksweisheit bestätigt: der Mensch denkt und Gott lenkt. Die verirrten Geister in unserm Volke wollten uns das deutsche Bewußtsein vergällen und vergiften. Aber der unüberwindliche Zustand und Charakter der Welt wendet ihren bösartigen Willen ins Gegenteil. Und vom fernen Auslande her werden die verstreuten Söhne unseres Volkstums diesen erstarkten Geist des deutschen Bewußtseins als bekehrte und deshalb um so eifrigere Gläubige in die Heimat zurücktragen, von der ganzen Erde her wird ständig die eine Mahnung in die Heimat herübertönen: glaubt an die Würde und den unvergänglichen Wert des deutschen Wesens! Und wenn in der Heimat selbst 114
aus innerer Überzeugung und Erziehung derselbe Geist sich wieder belebt, dann wird aus Zwang und Freiheit, aus Schicksal und Wille zugleich eine unerschütterlich große und reine deutsche Gesinnung hervorgehen, aus der Ferne und aus der Nähe werden die Wellen dieser seelischen Bewegung zusammenschlagen, und alles, was deutsch geboren ist und deutsch spricht auf dem ganzen weiten Erdenrund, wird in e i n e r heiligen Überzeugung, in e i n e r Religion verbunden sein: dem deutschen Glauben. Dieser Glaube aber und zwar n u r dieser Glaube wird Taten erzeugen, die unser Volk erhalten werden, auch wenn für alle Dauer die Gesinnung der ganzen Welt feindselig gegen unser Volk gerichtet bleibt. Mit diesem Glauben ist unser Volk unbesiegbar, unüberwindbar geworden, auch nachdem ihm das Schwert der Freiheit entwunden ist. — Hier endige ich die erzieherischen Vorbetrachtungen, die den versprochenen Lebens- und Arbeits-Plan des deutschen Volkes einleiten sollen. Ich fasse zusammen: die geistige Leitung, der philosophische Geist und Gedanke müssen das gegenwärtige Leben durchdringen und ihm Richtlinien für seinen künftigen Verlauf, für seine schöpferische Betätigung vorzeichnen. Die erste Erkenntnis aber, die der philosophische Geist bei der Betrachtung des menschlichen Lebens gewinnt, ist die Einsicht, daß alle menschliche Kraft und deren Bewährung aus dem Inneren stammt. Wohl machen vielfach die Verhältnisse den Menschen, aber nur den schwachen, weichen, nachgiebigen, fügsamen Menschen, den Menschen, der keinen Kern hat. Der starke Mensch macht die Verhältnisse. Der deutsche Geist, solange er auf seiner Höhe war, hat stets diese hohe Wahrheit Vertreten: die gestaltende Kraft wohne im menschlichen Inneren. Wenn wir deshalb die Erneuerung unseres Lebens mit Ernst in Angriff nehmen wollen: im Inneren, bei unserm Charakter und Wollen müssen wir den Anfang machen. Der Geist muß erst eine klere Vorstellung der Zustände gewinnen und auf Grund dieser Vorstellung die rechte Gesinnung ihnen gegenüber fassen, wie er ihnen begegnen soll. Diese innere Welt ist der fruchtbare Boden, auf dem alles äußere Geschehen, alles Handeln, Gestalten und Umgestalten, Bauen und Bilden gedeihen muß. Wer kann ernten ohne zu säen, wer ohne Erziehung menschliche Kräfte und Künste erwarten? 8*
115
Und d r e i Überzeugungen, dreji Erfordernisse unseres geistigen Wesens haben wir aufgezeigt, die uns als Bürgschaft und Hebel einer, besseren Zukunft gelten: daß wir unserem Volke das Gefühl der U n s c h u l d zurückgeben — und die Tatsache dieser Unschuld lehrt den Unbefangenen und Klaren die Geschichte unserer und der vergangenen Tage mit voller Sicherheit — daß wir durch H e l d e n v e r e h r u n g unserer Verzweiflung steuern, durch Heldenaufblick und Liebe uns mit der großen Vergangenheit unseres Volkes verknüpfen — und die leuchtendsten Heldentaten glänzen uns überreich und beglückend aus junger und alter Zeit entgegen — zuletzt und zudritt, daß wir, auf solche Erfahrungen gestützt und von dorther ermutigt, für die Zukunft einen erhabenen G l a u b e n , der sich bis zu religiöser Weihe steigert, an unseres Volkes Zukunft in unserer Seele als niemals schwankendes, niemals sinkendes Wahrzeichen aufpflanzen — und dieser Glaube wird uns aus allen schlimmen und guten Erscheinungen der Zeit mit Macht entgegengerufen. Diese drei inneren Lichter müssen wir anzünden, daß sie ihren Schein nach außen werfen, unser Leben durchleuchten und unser Handeln durchglühen. Unschuld, Heldenliebe und Glaube, diese drei Gewalten werden uns Rettung bringen. Der Glaube aber ist unter ihnen die größte Macht. So einfach sind die Erkenntnisse,- die wir uns aneignen sollen als Vorbereitung und Zurüstung unserer Wiedergeburt? Gewiß, so einfach sind sie. Aber das Einfache, das Selbstverständliche — darauf hatte ich früher schon hingewiesen — wird am schwersten erkannt, am seltensten getan. Das Einfache ist das Bedeutungsvolle, Große und Schicksalbestimmende. Fragen wir doch um, ob diese Überzeugungen Gemeingut im deutschen Volke sind, ob sie bei allen gelten! Immer sind die geistigen Erzieher, die auf Verinnerlichung und Klärung des seelischen Wesens als Vorbedingung jeder Lebenserneuerung, jeder Umgestaltung und Besserung menschlicher Zustände drangen, den Menschen lästig gefallen mit ihrer unbequemen Forderung, daß jeder bei sich selbst anfangen solle. Dieser Weg erschien immer zu langsam und weit, zu mühsam und opfervoll. Aber einen anderen Weg zur Heilung zerstörten und verworrenen Lebens gibt es nicht. Goethe ist U6
nicht müde geworden, diese Forderung, daß jeder bei seinem eigenen Charakter und Willen beginnen müsse, einzuschärfen. »Wer Gutes will, der sei erst gut, Wer Freude will, besänftige sein Blut, Wer Wein verlangt, der keltre reife Trauben, W e r W u n d e r h o f f t , d e r s t ä r k e s e i n e n Glauben".
Diese bedeutungsschweren, tiefsinnigen Worte enthalten den Inbegriff alles dessen, was zu der seelischen Haltung der gegenwärtigen Deutschen zu sagen ist, was den ganzen Inhalt dieser ethischen Einleitung mit der Kürze, die nur der große Dichter zu prägen weiß, zusammenfaßt. „Wer Wunder hofft, der stärke seinen Glauben" — darin ist alle Weisheit der Gegenwart ausgesprochen, das sollten die Deutschen in sich aufnehmen in dieser herben Stunde, nach dieser Mahnung sollten sie handeln! Und unser Blut zu besänftigen — wie nötig tut uns diese Lehre in wildbewegter Zeit! Solange es noch so stürmisch in unsren Herzen aussieht wie gegenwärtig, werden Wir keine Klarheit und Sicherheit, weder im Denken noch im Tun, gewinnen können und so wird das gegenwärtige Unheil nicht weichen. Die Zügellosigkeit und Leidenschaftlichkeit, die Aufregung, Erschütterung und Erbitterung der Gemüter hemmen jedes reine Urteil, jede freie Erkenntnis. Zu viel haben wir durchgemacht, zu Gewaltsames ist über unsre S e e l e gekommen. Wie könnten wir nach so heftigen Gemütsbewegungen Herr über uns, Herr über die Dinge werden! Das aber ist unerläßlich, der einzige Zugang zu glückversprechender Neu- und Umschöpfung unsres Lebens. Auch für diese Lage hat Goethe trostreiche Worte: »Denken die Himmlischen Einem der Erdgebornen Viele Verwirrungen zu, Und bereiten sie ihm Von der Freude zu Schmerzen Und von Schmerzen zur Freude Tieferschütternden Obergang: Dann erziehen sie ihm In der Nfihe der Stadt, Oder am fernen Gestade, Daß in Stunden der Not Auch die Hilfe bereit sei, Einen ruhigen Freund."
117
Wer soll dieser ruhige Freund dem aufgeregten und durchwählten deutschen Volke werden, der Versöhner und Berater, der ihm die Leidenschaften abdämpft, die Seelen zur Besinnung freimacht und läutert? K e i n A n d r e r k a n n d i e s e r r u h i g e F r e u n d w e r d e n a l s d i e P h i l o s o p h i e , eine Philosophie allerdings neuer oder eigentlich uralter Art, die nicht nur eine Tat der Erkenntnis, sondern des Charakters ist. Damit führe ich die gesamte Betrachtung zu ihrem Anfange zurück, damit rundet sich der Kreis unsrer Erwägungen, indem das Ende wieder an den Anfang anknüpft. Wer soll das Leben leiten? Was eigentlich Philosophie ist, was ihre Hauptaufgabe, ihr eigentliches Ziel ist, darüber herrscht Zwiespalt und Unklarheit, seit nur Überhaupt philosophiert worden ist. Jede Verwirrung des Lebens — das lehrt die tiefere Erfahrung, die vom Äußeren in das Innere vordringt — entstammt der Verwirrung, dem Schwanken und Irren der geistigen Mächte. Allgemeine Verwirrung greift Platz, wenn auf der Höhe des Lebens, dort, wo die letzten Probleme des menschlichen Daseins ausgefochten werden, Ratlosigkeit, Zweifel, Kurzblick walten. Deshalb muß jede Reform am Gipfel des Lebens einsetzen, bei der höchsten Geistigkeit, von wo aus die Quelle des Lebens in die Niederungen herabfließt. Und wenn nun unsre Zeit vor der Notwendigkeit steht, das gesamte Leben umzubauen, so Wird auch diesmal die Umbildung von oben her, beim herrschenden Geiste anheben müssen. Denn hier, an der Spitze muß etwas Bedeutsames verfehlt und versäumt worden sein, das dem Leben in der Weite und Breite die Not gebracht hat. Für alle diejenigen, die die Erscheinungen immer nur in ihrer Vereinzelung, als reine Tatsachen und niemals in ihrer Verknüpfung anzuschauen gewohnt sind, muß es höchst unglaubwürdig sein und ist doch strenge Wahrheit: w i r m ü s s e n d i e P h i l o s o p h i e r e f o r m i e r e n , w e n n wir d a s L e b e n r e f o r m i e r e n wollen. Ohne diese Reform wird alles ein hilf- und zweckloses Herumtasten und Anbrechen im einzelnen, hie und da, aber keine grundsätzliche und durchgreifende Lösung der unsagbar schweren Aufgabe bedeuten. Wir müssen gleichsam weit ausholen, um den rechten Griff zu tun, das Übel aus dem Grunde zu heben. Eine Reform enthält nicht die Forderung einer völligen Ablehnung und Aufhebung bisher gültiger Zustände, sondern nur 118
die Forderung einer Ausschaltung des Unwesentlichen, Verbrauchten und Überlebten, eine Erhaltung aber des Bewährten, dem frische Elemente angegliedert werden sollen. Reform ist also Ergänzung, Erweiterung und deshalb Verjüngung. Ich werde in Kürze Gelegenheit nehmen, vor der Wissenschaft selbst, vor der wissenschaftlichen Welt im engeren Sinne diese Forderung einer Reform der Philosophie zu vertreten und ausführlicher zu begründen. Denn ohne Anteilnahme und Zustimmung der geistigen Macht, an die man Ansprüche stellt, die man zu neuen, dem bisherigen Stil widerstrebenden Leistungen anzuregen sucht, wird eine wirkungsvolle Wendung und Wandlung nicht zu vollziehen sein. Das Wort des Einzelnen bleibt machtlos, wenn es nicht von dem Kreise der Berufenen aufgenommen und zu einer erhöhten und allgemeinen Geltung und damit machtvoller Auswirkung gesteigert wird. Aber die Angelegenheit, wie und von welcher Stelle aus unser Leben zu reformieren ist, ist so gewichtig, so einschneidend und folgenschwer, daß jedem nachdenklichen Deutschen, welchem das Schicksal und Heil seines Volkes am Herzen liegt, ein Anrecht auf Teilnahme an einer so hervorragenden Angelegenheit nicht versagt werden kann. Ist die Reform der Philosophie eine Voraussetzung der Reform des Lebens selbst, dann hört diese Frage auf, lediglich eine Frage bestimmter wissenschaftlicher Berufskreise zu sein, dann ist sie vor das Gehör der ganzen geistigen Welt zu bringen, die zu einem mitbestimmenden Urteil über diese schicksalsvolle Frage aufzurufen ist. Denn hier wird über ihr eigenes Leben und Sein, Glück oder Verderben entschieden. Ich trage ganz schlicht und einfach vor, was ich Uber die künftige Auffassung der Philosophie, über die ihr künftig zu stellende Aufgabe, kurz über die für nötig erkannte Reform der Philosophie denke. Schon auf den ersten Seiten dieser Einleitung habe ich hierüber einiges ausgeführt. Mit dem Folgenden hoffe ich das Bild abzurunden, sodaß eine volle Klarheit über die nach meiner Schätzung gegenwärtig wichtigste Kulturfrage, die alles beeinflußt, die auch die politischen Zustände zu bestimmen berufen ist, vermittelt wird. Das Wesentliche der geforderten Reform, der bedeutsame Schritt, der zu tun ist, wird am einfachsten zu bezeichnen sein, 119
daß man sagt: d e r P h i l o s o p h i e i s t d i e R i c h t u n g auf d i e G e g e n w a r t zu g e b e n . Diese Forderung erscheint zunächst ganz farblos und inhaltslos und doch schließt sie, wenn mich nicht alles täuscht, eine vollständige, grundstürzende Änderung der Philosophie in sich, die fast einer geistigen Revolution gleichkommt, sie bedingt eine gänzliche Umstellung der gesamten philosophischen Methodik und Zielsetzung, eine Ergänzung und Erweiterung des ganzen Begriffes der Philosophie, wie er zur Zeit herrschend geworden ist. Mit dieser Forderung wird philosophisches Neuland aufgebrochen. Das letzte Jahrhundert bietet das Bild eines wunderbaren Aufblühens der Naturwissenschaften. Nicht ohne Berechtigung hat man es schlechthin das Jahrhundert der Naturwissenschaften genannt. Aber allzugroße Erfolge und Leistungen nach bestimmter Seite hin pflegen bei allen Vorzügen des Erarbeiteten und Gewonnenen doch zugleich auch schädliche Nebenwirkungen hervorzurufen. Der geistige Blick richtet sich zu ausschließlich auf eben jene mit so hohem Erfolge betriebenen Bemühungen, er übersieht die Bedeutung und Gesetzlichkeit, den Wert und die Bedingungen anderer, bei Seite gestellter Erscheinungen und Aufgaben. Der in so bestimmter Richtung arbeitende Geist betrachtet zuletzt die gesamte Wirklichkeit nur unter dem Gesichtspunkte der bevorzugten und herausgehobenen Teile der Wirklichkeit. Und das ist nun zweifellos unter dem Einfluß der allmächtigen Naturwissenschaften im größeren Abschnitte des letzten Jahrhunderts zum Schaden der Philosophie und zur Benachteiligung anderer Wissenschaften und damit des gesamten Lebens geschehen. Das Ziel der Naturwissenschaften ist, die allgemeinen Gesetze zu erforschen, denen die erfahrbare Wirklichkeit unterworfen ist. Es g i b t in d e r N a t u r n i c h t s I n d i v i d u e l l e s > Das ist allerdings mit Übertreibung gesagt Denn alles Wirkliche ist zuletzt einmalig, nach Raum und Zeit bestimmt und in seiner Wesensart ursprünglich und unvergleichbar. Aber dem G r a d e nach ist diese Individualität, ist dieser Charakter des Einzigartigen äußerst verschieden. So gering ist bei den sinnlich wahrnehmbaren oder vorstellbaren Erscheinungen, mit denen es die Naturwissenschaften zu tun haben, dieser individuelle Charakter, daß er so gut wie garnicht ins Gewicht fällt, daß die ganze Aufmerksamkeit und das Ziel der Forschung 120
sich fast nur auf das Übereinstimmende und Gleichmäßige der Erscheinungen richtet, daß es immer das allgemeine Gesetz,, die durchgehende Norm ist, was die naturwissenschaftliche Erkenntnis anstrebt. W a h r h a f t i n d i v i d u e l l i s t n u r d e r m e n s c h l i c h e G e i s t . Ich übergehe alle Einwände, Einschränkungen, Übergänge, die hier zu erwähnen wären. Bei einem großen und weiten Überblick, bei einer Gesamtbetrachtung, der Wirklichkeit bleibt der aufgestellte Satz zu Recht bestehen. Die echte Philosophie, deren Aufgabe ist die Gesamtwirklichkeit in einem einheitlichen Bilde oder Gedanken vorzustellen, bleibt nicht im Anblick der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit befangen, sie hat zur Vervollständigung ihrer Weltauffassung stets auch die innerliche Seite des Daseins, den Geist, zu berücksichtigen und zu bewerten gesucht und damit auch die Bedeutung des Bestimmten, Einmaligen, Individuellen gewürdigt. Herrschte aber der naturwissenschaftliche Geist* die ausschließliche Würdigung der greifbar sinnlichen Außenwelt vor als einzigen Gegenstandes der Erkenntnis, so war damit stets auch eine zu einseitige Schätzung, eine Überwertung des allgemeinen Gesetzes, der durchgehenden Norm, der gleichmäßigen Regel notwendig verbunden, diese zu hohe Schätzung des Allgemeinen wurde sogar gewaltsam auf das Reich des Individuellen, den Geist, übertragen, auch hier ein Schema angestrebt, um die unerschöpfliche Fülle des niemals einzufangenden Reichtums doch unter allgemeine Gesetze zu beugen. Dieser Zustand herrschte im deutschen Kulturleben in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Gegen Ende des Jahrhunderts aber erhob sich wieder der philosophische Geist, er suchte neben den Naturwissenschaften auch den Geisteswissenschaften wieder ihre eigene Würde, ihren selbständigen und ursprünglichen Charakter zurückzugewinnen und damit auch wieder den Blick zu öffnen für die Bedeutung des Individuellen und Bestimmten. Die Forderung, auf die ich diese Betrachtung hinauszuführen gedenke, nimmt sich in ihrer Unmittelbarkeit sehr schroff und befremdlich und deshalb unglaubwürdig aus. Es ist mir deshalb von hohem Werte hier aufzuzeigen, wie die deutsche Wissenschaft schon von langer Hand her dieser Forderung aus eigener Entwicklung zustrebte, daß schon alle Vorbereitungen, alle Prämissen gleichsam gegeben sind, um den entscheidenden 121
Schluß zu ziehen. Unter gleichstrebenden, zeitgenössischen Denkern waren es namentlich die verdienstvollen Philosophen Windelband und Rickert, welche neben den Naturwissenschaften auch den Geisteswissenschaften ihre Eigenart und damit ihr Eigenrecht zu erkämpfen suchten und so die Bedeutsamkeit des Individuellen neben dem Allgemeinen, des bestimmten Einzelnen neben dem Gesetz zur Geltung brachten. Das bedeutungsvolle Ergebnis ihrer Untersuchungen war folgendes: es gibt G e s e t z e s Wissenschaften und Individualwissenschaften. Erstere fallen mit den Naturwissenschaften, letztere mit den Geschichtswissenschaften zusammen. In der Natur sei das Ziel der Forschung immer das allgemeine Gesetz, in der Geschichte das bestimmte Einzelne. Auch hier lasse ich alle Einschränkungen und Berichtigungen, die vorzunehmen wären, beiseite. Die Gesamtunterscheidung trifft sicherlich zu. Mögen Wir, um nur dies eine zu erwähnen, auch in der Geschichte, im Entwicklungsgange der Menschheit nach allgemeinen Gesetzen forschen, nach denen dieser Ablauf sich vollzieht, denen die menschfichen Vorgänge unterworfen sind — daneben und vorzugsweise bleibt bei der Betrachtung aller der menschlichen Vergangenheit angehörigen Erscheinungen und Ereignisse das Einzelne, Bestimmte, Einmalige ein dauernder Gegenstand der Erkenntnis, dasjenige, was die große Anziehungskraft nicht nur auf das naive Bewußtsein, sondern auch auf die tiefste Forschung ausübt. Wenn wir beispielsweise die Gestalt J e s u von Nazareth verstehen wollen oder Napoleon oder Goethe oder sonst irgend eine der großen geschichtlichen Persönlichkeiten oder wenn wir ganze Zeitalter und deren Bewegungen, etwa die Völkerwanderung oder die französische Revolution, in ihrer Eigenart uns verdeutlichen wollen, immer handelt es sich bei allen geschichtlichen Vorgängen um etwas schlechthin Einmaliges und Bestimmtes, so niemals Wiederkehrendes. Niemals gehen die menschlichen Taten, die menschlichen Gesinnungen und deren Auswirkungen in Gestalt von Handlungen, bei Einzelnen wie bei sozialen Gruppen — niemals gehen diese Kräfte und Geschehnisse in allgemeinen Gesetzen auf. Immer haftet ihnen «twas ganz Individuelles und Besonderes an. Und dieses Individuelle und deshalb so Merkwürdige und Auffällige ist es, was uns so magisch bei diesen Bildern des Geschehens anlockt,
122
was den Blick immer wieder aüf sie hinlenkt und fesselt. Und keineswegs ist es nur eine unwissenschaftliche, allgemein menschliche Teilnahme, etwa hur die ästhetische Einbildungskraft, die von den menschlicheri Vorfällen der verflossenen Zeit so erregt wird. Diese allgemein menschliche Teilnahme ist zwar die Voraussetzung, daß Wir uns überhaupt mit der Vergangenheit beschäftigen. Aber aus ihr erwächst das Verlangen nach strenger, wissenschaftlicher Erkenntnis der menschlichen Vergangenheit mit dem ganzen Reichtum ihrer mannigfaltigen, untereinander letzthin unvergleichbaren, inkommensurablen, wunderbaren Gestalten und Gebilde. Der menschliche Geist will eine zuverlässige, reine und klare Erkenntnis aller dieser Vorfälle, Schicksale und Leistungen erarbeiten. Es ist eben ein schweres und gefährliches Vorurteil, daß es das Ziel aller Wissenschaft sei immer nur ein allgemeines G e s e t z aus der Fülle der Erscheinungen zu gewinnen, einen allgemeinen B e g r i f f zu bilden, dem zahlreiche Einzelfälle unterworfen sind, der ihr Gleichbleibendes lind Verknüpfendes ausdrückt. Der Erkenntnistrieb des menschlichen Geistes ist a l l s e i t i g . Er strebt ebenso auch nach Erkenntnis, nach wissenschaftlicher Erfassung des Einzelfalles, des ganz individuellen Gebildes und sucht es in seinem von allem anderen Abweichenden und Besonderen zu erfassen. Ist der Charakter der Wirklichkeit so, daß er schlechthin Individuelles hervortreibt, so ist es auch eine Aufgabe der Erkenntnis, dieses Individuelle zu würdigen und zu verstehen. Nun aber komme ich mit meinem Schlüsse. Ich stütze mich auf die erwähnte philosophische Schule, die mutig diese hier kurz wiedergegebenen Einsichten und Anschauungen vertreten hat, und erkläre: wenn neben dem Allgemeinen auch das Einzelne, der einzelne Fall Von Bedeutung ist und Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis zu sein verdient, dann liegen diese Einzelfälle nicht nur in der menschlichen Vergangenheit, dann ist es nicht nur die Geschichtswissenschaft, die Kulturgeschichte mit ihren mannigfaltigen Abzweigungen und Hilfswissenschaften, die solche Erkenntnisse des Einzelnen zu erwerben sucht, d a n n i s t d e r b e d e u t e n d s t e F a l l d e r F a l l d e r G e g e n w a r t , dann richtet sich dieses Erkenntnisstreben auf das Individuelle und Bestimmte hin nicht nur rückwärts, in 123
die Vergangenheit, zu den Persönlichkeiten und Werken der Vorzeit, dann ist der Zustand, die Lage und das Problem der Gegenwart, diese bestimmte Zeit mit ihren bestimmten Eigenheiten und Nöten der allerdringendste Fall, der nach wissenschaftlicher Erkenntnis, um es kraß auszudrücken, geradezu schreit. Das allerinnigste, allerleidenschaftlichste Interesse wendet sich den unmittelbar uns umdrängenden Problemen der Gegenwart zu, zunächst das Interesse des allgemeinen Lebens in uns, weil wir mit unserem ganzen Wohl und Wehe, Wesen und Schaffen an diese Gegenwart gekettet, mit ihren Aufgaben und Problemen verflochten sind. Aus dem Interesse des Lebens aber muß ein Interesse der Erkenntnis, der wissenschaftlichen Erkenntnis hervorgehen. Denn Leben ohne Erkenntnis ist ein Widersinn, eine Unmöglichkeit, bei dem heutigen Kulturstande eine UnWürdigkeit. Es ist erstaunlich, je näher die Dinge der Gegenwart liegen» desto mehr zieht sich die Wissenschaft von ihrer Beurteilung und Behandlung zurück. Sie enthält sich so gut wie gänzlich einer planmäßigen, allseitigen und gründlichen Durchforschung alles dessen, was uns gleichsam auf den Nägeln brennt, was uns an Herz und Nieren geht. Alle Reiche der Wirklichkeit durchforscht sie, die gesamte Natur muß sich ihr auftun bis in die größten Räume des Weltalls und bis zu den kleinsten Bausteinen des Daseins. Und alles, was nur jemals aus Menschenhänden hervorging und von Menschengeistern ersonnen ward, die ganze reiche und große Betätigungswelt des Menschen bei allen Naturvölkern und allen geschichtlichen Völkern von den ältesten Zeiten an, nichts achtet die Wissenschaft zu gering, um es nicht ihrer Behandlung zu unterziehen. Bei der Gegenwart aber, bei allem, was heute vor sich geht, da macht sie plötzlich Halt, da verzichtet sie auf den Anspruch, die Erscheinungen und Bestrebungen, Kräfte und Schwierigkeiten, Konflikte und Rätsel, die die Entwicklung des gegenwärtigen menschlichen Lebens bestimmen, bedrücken und quälen, zu durchforschen und zu verstehen, da tritt sie diese Aufgabe an andere geistige Mächte ab. Sie erklärt sich in ihrer Eigenschaft als Wissenschaft, das will besagen als strenge und zuverlässige Erkenntnis diesen Verhältnissen und Problemen gegenüber als unzuständig und deshalb sei auch keine Anforderung an sie mit 124
Bezug auf die Lösung der Fragen des unmittelbaren, fließenden Lebens zu stellen. Und zwar aus einem scheinbar sehr einleuchtenden, durchschlagenden Grunde lehnt die Wissenschaft die Beurteilung der noch im Werden befindlichen, noch nicht abgeschlossenen Lebensvorgänge ab. Man erklärt, der Gegenwart gegenüber habe man keine D i s t a n z . Der Forscher sei selbst zu sehr mit seinen Stimmungen und Wünschen, Interessen und Bedingungen in der Gegenwart mit all ihren widerstreitenden Tendenzen eingebettet und angekettet, daß er unmöglich ein objektives Urteil fällen könne. Die notwendigsten Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Behandlung aus diesem und aus anderen Gründen fehlten. Und da sei es besser, anstatt die Wissenschaft auf ein so täuschendes und schlüpfriges Gebiet zu locken, von vornherein in ehrlicher Selbstbescheidung sich zurückzuhalten. Wenn nur nicht die Folgen dieser Zurückhaltung so furchtbar wären! Denn wenn die Gegenwart mit ihren lastenden Fragen, mit all ihren harten Problemen, woher die obwaltenden Zustände stammen, wie sie bedingt sind und wie und in welchem Sinne, nach welcher Richtung hin sie abzuändern sind, wenn die Gegenwart mit diesen Fragen und Aufgaben nicht dem wissenschaftlichen Geiste unterstellt wird, dann brechen alle Dämonen der Leidenschaft über diese verwickelten und verworrenen, unklaren und düsteren Verhältnisse herein und machen sie noch viel verworrener und unlösbarer, dann verfällt das Leben einer Zerrüttung, wie wir sie etwa jetzt erfahren, die dann schließlich in volle Zerstörung übergeht. Auch bei Betrachtung und Behandlung der von der Wissenschaft in Anspruch genommenen Gebiete der Natur und des der Vergangenheit angehörigen Menschenlebens trägt die u n wissenschaftliche oder v o r wissenschaftliche Auffassung des ungeschulten Geistes Wünsche und Vorurteile, Erwartungen und Befürchtungen in die Betrachtung hinein und verfälscht wider Willen und Bewußtsein die Auffassung des reinen Tatbestandes. Diese vorwissenschaftliche Betrachtungsweise vermag sich zu keiner objektiven Erfassung der Dinge hindurch- und emporzuarbeiten. Die wissenschaftliche Leistung besteht eben der Hauptsache nach — diese Leistung ist die Vorbedingung jeder erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeit — darin, daß sie alle solche Regungen, 125
Bevorzugungen und Zurücksetzungen aus bloßem Gefühl heraus, alle solche Verfälschungen der gegebenen Tatsächlichkeit ausschaltet, solche Hemmungen der reinen Erkenntnis zu unterdrücken weiß. Nun liegt am Tage, daß diese Objektivität der Gegenwart und ihren Problemen gegenüber unendlich viel schwerer ist als den unseren Leidenschaften und Neigungen fast ganz entrückten Gegenständen der Natur und der abgelaufenen Geschichte gegenüber. Denn auch der Forscher ist Mensch und so gehört er mit allen seinen Anlagen und Bedürfnissen mit zu der Zeit, die als Problem vor ihm liegt, er Wird in seinem Innern von allen Seiten dieser vielfarbigen und vielgestalteten, stürmisch bewegten Gegenwart her bedrängt und so zu übereilten und einseitigen Urteilen verführt. In der Gegenwart Distanz zu nehmen ist unsäglich schwer, das soll nicht verkannt werden. Aber um dieser Schwierigkeit willen auf die wissenschaftliche, objektive Beurteilung der Gegenwart, auf den bloßen Versuch zu einer solchen objektiven Betrachtung grundsätzlich zu verzichten und dem Willen, der Leidenschaft ein für allemal das Feld zu räumen, die gesamte Gegenwart mit ihren so hoch verantwortungsvollen, weltgeschichtlich eingreifenden Fragen den dunklen, vernunftlosen Mächten preiszugeben, das ist eine Bankrotterklärung der Wissenschaft, die nie und nimmer zu billigen ist, gegen die ich mit aller Feierlichkeit und Nachdruck Einspruch erhebe. Gerade der verführerischen Gefahr gegenüber, die die Gegenwart dem Forscher zuträgt, hat sich der objektive wissenschaftliche Geist zu bewähren, hier hat er seine Volle Kraft zu zeigen, daß er sich über alle Lockungen und Reize, seelischen Erschütterungen und Angriffe zu erheben vermag zu reiner Erkenntnis auch des Nächstliegenden, Unmittelbaren, Heutigen. Den Sternen gegenüber, einer verwitterten Inschrift gegenüber ist es gewiß leicht Objektivität zu bewahren. Wenn aber die Stimmen aus allen Lebensbezirken in wirrem Durcheinander auf das erregbare Gemüt, das mit allem innigst verwoben ist, an allem persönlichen Anteil nimmt, eindringen, dann kühl und fest bleiben, einen klaren und ungetrübten Durchblick zu behalten durch alle Gestalten, von Haß und Liebe unbeirrt — das ist schwer. Hier kommt zur Geltung, was ich oben forderte, daß die echte Philosophie nicht nur eine Tat des Erkennens, sondern des 126
Charakters sei. Von allen aufwühlenden und wilden Gefühlen, die die Gegenwart aufpeitschen, unbewegt und frei, mitten im heftigsten Sturm und Streit der Gemüter steht der Philosoph da als d e r r u h i g e F r e u n d d e r Z e i t . An seiner stoischen Ruhe prallen alle Gemütswallungen ab. Er steht keineswegs den inneren Bewegungen, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Qualen, Hoffnungen der Zeit fern. Er hat mit allen Zeitnöten das wärmste Mitgefühl und Miterleben. Nur diese innere Anteilnahme regt ihn an, zwingt ihn zur Entfaltung seiner Erkenntniskräfte, um dem bedrängten Leben zu helfen. Aber n i e d e r g e r u n g e n hat er alle aufgeregten Gefühle und trübenden Leidenschaften, daß der erkennende Geist in reinem Für-sichSein nichts sucht als Gewißheit und Klarheit. Wenigstens ist dies das Ideal. Wenn es aber ein Ideal ist, muß dann nicht trotz aller Schwierigkeit und Unerreichbarkeit nach diesem Ideal g e s t r e b t werden, muß dann nicht alles eingesetzt und aufgeboten werden, daß man sich diesem Ideale nähere? Und zwar der p h i l o s o p h i s c h e Geist muß es unternehmen, die Kritik der Zeit zu liefern, sich über die Zeit mit herrschendem Überblick zu erheben, die wirksamen, mit einander ringenden Kräfte in ihrem Wechselverhältnis zu erkennen, um sie ins Gleichgewicht zu bringen, allen einzelnen ihre Richtung und so dem Ganzen Einheitlichkeit und Zusammenhang sowie kraftvolle, unbeengte und ungehemmte Entfaltung zu geben. Von einzelnen Gebieten her werden ja derartige Versuche, das Wesen, die Bedürfnisse und Heilmittel der Zeit aufzudecken, oft genug unternommen und angeboten. Nationalökonomen, Politiker, Historiker, Theologen, selbst Naturwissenschaftler, Biologen zum Beispiel und gar manche andere in bunter Reihenfolge wagen sich an diese Aufgabe heran. Solche Versuche, der Zeit den Weg vorzuschreiben, müssen fehlschlagen. Nur aus einer u n i v e r s a l e n Betrachtung können kraftvolle Gedanken, die im Gegensatz und zur Korrektur der zerrissenen und unklaren Zeit einen synthetischen, zusammenhangstiftenden Charakter tragen, hervorgehen. Mit vollem Recht haben die oben erwähnten Denker, an die ich anknüpfte, auch schon für die Erkenntnis der Vergangenheit mit ihrer reichen Gestaltenfülle als Ausgangspunkt eine bestimmte, geschlossene Anschauung von der Kultur und ihren Werten und Idealen gefordert. Denn 127
nur nach solchen Werten kann die Auswahl des aus der Vergangenheit Herauszugreifenden und zu Schildernden getroffen Werden und nur eine einheitliche Philosophie der Kultur und ihrer leitenden Ideen und Werte kann die Mafistäbe liefern, nach denen die menschliche Vergangenheit mit allen ihren Erscheinungen, Menschen wie Werken, beurteilt und geordnet werden kann. Wenden wir uns aber von der Vergangenheit zu der noch Viel verwickeiteren Gegenwart, wo alles durcheinander wogt, Bedeutendes und Unbedeutendes, Hohes und Gemeines, Gutes und Schlimmes, wo die mächtige Zeit noch nicht ihre stille Wirkung des Aussonderns und Siebens, Erhaltens oder Verdrängens, Verwerfens oder Adelns hat ausüben können, wie will der menschliche Geist sich in dieser Überfülle widerstreitender und drängender Elemente zurechtfinden, wie sich durch diese unruhige Masse hindurchfinden ohne leitenden Faden einer bestimmten, einheitlichen Weltanschauung, ohne Bewußtsein des Wertvollen und Wertwidrigen, des zu Fördernden und Auszustoßenden? Unsere Zeit hat den gewagten Versuch gemacht, ohne geschlossene und richtungbestimmende Weltanschauung zu leben. Das Ergebnis dieses Versuches liegt am Tage: das Leben ist die Antwort auf diese Verwegenheit nicht schuldig geblieben. In meinem Buche „Der Piatonismus und die Gegenwart", das zwar in wissenschaftlicher Sprache und Gedankenführung abgefaßt ist, aber dennoch so, daß jeder nachdenkliche und geduldige Leser zu folgen vermag, habe ich die Notwendigkeit einer einheitlichen, tiefgreifenden und umspannenden Weltanschauung aus dem Entwicklungsgange der theoretischen Philosophie und um der Wissenschaft selbst willen dargetan. Die reine Erkenntnis als solche, von jeder Beherrschung und Gestaltung des Lebens abgesehen, drangt aus der Einzelbetrachtung wieder zum System, zu einer großzügigen und verknüpften Gesamtanschauung der Wirklichkeit hin. Der menschliche Geist muß von Zeit zu Zeit neben und außer der Erkenntnis der abgerissenen Einzeltatsachen das große Ganze suchen, aus zahlreichen, erdrückenden Gründen, die hier nicht zu wiederholen sind. An dieser Stelle trage ich nun eine wichtige Ergänzung zu meinen Gedanken über die Reform der Philosophie hinzu, hier gebe ich diesen Reformgedanken eine neue Wendung. Es ist nun einmal meine gewisseste Über128
zeugung, daß die Heilung unseres zerstückelten, heimgesuchten Lebens von der obersten Spitze her, vom Geiste und zwar vom Gipfel des Geistes, von der Zusammenfassung alles geistigen Wesens und Schaffens, von der Philosophie her zu beginnen hat. Und schärfer ausgedrückt hat diese Wendung darin zu bestehen, daß die Philosophie außer der neu zu erwerbenden Gesamtanschauung der allgemeinen Wirklichkeit die Richtung auf das gegenwärtige, ganz bestimmte und individuelle Leben hin zu nehmen hat, um von jener weiten Überschau aus das unmittelbar und tatsächlich gegebene Leben in seinem ureigenen Charakter, mit seinen augenblicklichen Nöten, Bedürfnissen und Pflichten zu erkennen und die Methoden zu deren Erfüllung und Ableistung aufzuweisen. Und wiederum ist mit Genugtuung und Freude festzustellen, daß ich mit dieser Forderung, für die Philosophie habe die Kulturlage der unmittelbaren Gegenwart mit ihrer bestimmten Individualität, ihrem ganz bestimmt gefärbten Charakter ein Problem zu bilden, keineswegs allein stehe, daß dieser Zug der Philosophie zur Gegenwart hin sich bereits bei zahlreichen Denkern Geltung verschafft hat. Von Gedanken, die plötzlich, Wie aus der Pistole geschossen, zu gewisser Zeit als etwas ganz Fremdes und völlig Neues auftauchen, ist nicht viel zu halten. Sie pflegen nur den Rang von Einfällen zu haben, die gleich Meteoren ebenso schnell wieder versinken wie sie emporgestiegen waren. Alle echten Gedanken müssen wachsen wie Naturgebilde, müssen aus einer stetigen Arbeit und Entwicklung stufenweise heraufkommen. Dieser Umstand gibt mir ein starkes und ruhiges Vertrauen zu der Forderung, mit der ich hier an den philosophischen Geist und die gesamte Kultur herantrete. Denn längst ist diese Forderung vorbereitet, durch die geistige Bewegung des letzten Zeitalters angedeutet worden, und man muß sich nur wundern, daß die neue Aufgabe und Wendung, die ich hier vorschlagen will, aus dem bisherigen Gange des geistigen Lebens in Deutschland nicht schon als etwas völlig Selbstverständliches, unmittelbar sich Aufdringendes gleichsam abgelesen worden ist. Viel Scharfsinn und viel Folgerichtigkeit war nicht Vonnöten, den entscheidenden Schritt zu tun. Also auch hier, auf dem Gebiete der Philosophie, zeigte sich schon vor der großen Kraftprobe des Krieges jene Wandlung zum 9 129
Notwendigen, Besseren hin, die ich, wie man sich erinnert, für andere Lebens- und Arbeitszweige oben behauptet habe. Alles Gute und Heilende, Belebende und Vertiefende war im besten Werden, als eine Stunde zu früh das große Geschick mit der Frage an unsere letzte Kraft hereinbrach. Im jüngsten Zeitalter hat die Philosophie mit Leidenschaft das Problem der Kultur der Gegenwart ergriffen. Wie hätte es ihr auch entgehen können, daß wir einer gefährlichen Krisis zusteuern, daß bängliche Zustände und Umwälzungen im Anzüge sind! Das ganze Lebenswerk Nietzsches bewegt sich um das Problem einer Kritik der Zeit, die er als von Werten der décadence beherrscht zu bestimmen suchte. Eucken hat die geistigen Strömungen unserer Zeit gründlich untersucht und durchforscht, hat immer wieder den philosophischen Blick auf die Kulturlage der Gegenwart hingelenkt und die Gefahren, die sie in sich birgt oder im Gefolge hat, mit satten Farben geschildert. Er ist nicht müde geworden, auf einen tieferen Lebensgehalt zu dringen, daß das Aufgehen in der Schätzung der materiellen, sinnlichen Werte die gesamte Kultur bedrohe. Andere Denker haben sich gleichfalls mit Feingefühl und Scharfsinn der nämlichen Aufgabe, der Kritik der Zeit gewidmet. Vor allem der geistreiche Simmel, dann der leider im Felde gebliebene jugendliche Philosoph Hammacher, Jonas Cohn und andere mehr haben die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters", um diesen Fichtischen Ausdruck anzuwenden, den Charakter, die „Krisis der modernen Kultur" aufzudecken, herauszuarbeiten sich ernsthaft und gewiß nicht ohne Erfolg bemüht. Was aber Vermisse ich nun an den Arbeiten und Leistungen dieser Männer? Was ist das Neue, das Entscheidende und Ausschlaggebende, das ihren Werken und Ideen noch fehlt, das ihren Arbeiten hinzuzufügen ist? Welche Folgerungen sind aus ihren Unternehmungen für das weitere philosophische Schaffen zu ziehen? Ich sagte schon soeben, die Prämissen für den entscheidenden Schluß, der zu ziehen ist, seien bereits gegeben. Welcher Schluß ist denn nun mit dieser selbstverständlichen Folgerichtigkeit aus dem zeitgenössischen Denken abzuleiten ? Alle diese Arbeiten bleiben nach meiner Schätzung, der ganzen Erbschaft und Auffassung der Philosophie gemäß, noch 130
zu sehr im A l l g e m e i n e n haften. Nur immer die allgemeinen, durchgehenden Grundzüge, die weiterreichenden Motive und Kräfte, die in unsrem Zeitalter größere Kreise ziehen, die sich stärker heraushebenden Tendenzen unserer Zeit suchen diese Forscher zu ermitteln und klarzustellen. In ihnen allen wirkt die Vorstellung und der überkommene Begriff der Philosophie als der Wissenschaft vom Allgemeinen nach. In der Tat, Philosophie galt bisher immer nur als allgemeine, rein begriffliche Wissenschaft, die zwar wie alle Wissenschaft irgendwie zur unmittelbaren Erfahrung Beziehung hat, aber doch das AllgemeinBegriffliche dieser mannigfaltigen Erfahrung in Formen und Gesetzen zu erfassen und zu bestimmen sucht. Die ganz allgemeine Weltanschauung, die letzten und allbeherrschenden, alldurchziehenden Gesetze und Triebkräfte der Wirklichkeit (in der Metaphysik), die allgemeinen Voraussetzungen und Bedingungen unserer Erkenntnis, die allgemeinen Denkgesetze (in der Erkenntnistheorie und Logik), die allgemeinen Formen unseres seelischen Innenlebens und seines Ablaufs (in der Psychologie), die allgemeinen Normen und Werte des menschlichen Handelns (in der Ethik) — kurz immer das Allgemeine der Erscheinungen, das sich Gleichbleibende und Wiederkehrende, das Grundlegende der Wirklichkeit, das galt als Gegenstand des philosophischen Strebens. Philosophie betrachtete man als die Fähigkeit und die Leistung, über die Einzelerscheinungen hinaus die tieferen und weiteren Z u s a m m e n h ä n g e zu erkennen, die dauernden und ewigen Wahrheiten zu erforschen und auszusprechen, die über allem Wechsel der Erscheinungen in Geltung bleiben. Und keineswegs soll diese Auffassung der Philosophie als der Wissenschaft des Allgemeinen und Begrifflichen nunmehr aufgehoben, beseitigt werden. Sie soll auch ferner in voller Kraft stehen. Aber sie soll durch eine andere, gegensätzliche Forderung ergänzt, um eine zugleich entgegengesetzte und entsprechende Aufgabe und Leistung erweitert, bereichert werden. Wir hatten gehört, daß nicht nur das allgemeine Gesetz ein Gegenstand der Erkenntnis sei, sondern auch das Einzelne, Individuelle, Bestimmte. Bisher hatte man dieses Einzelne und Individuelle nur im Umkreise der menschlichen Vergangenheit aufgesucht. Wir hatten dieses Individuelle als wichtigstes, drängendstes Problem der Erkenntnis in dem augen9* 131
blicklichen, gegenwärtigen Zustande unsres Lebens gefunden, und zwar hatten wir diese Erkenntnis der ganz individuellen und. bestimmten Lage, der Nöte und Bedürfnisse unsrer Zeit nicht irgend welchen Einzelbestrebungen, sondern um einer gründlichen, tiefgreifenden und allseitigen Lösung willen der Philosophie überwiesen. Und nunmehr komme ich zu meinem entscheidenden Schlüsse und meiner Forderung. Das Allgemeine, welches bisher die Wissenschaft und in Sonderheit die Philosophie erstrebte, nennt man bekanntlich das A b s t r a k t e , das Bestimmte aber, Einzelne, Individuelle das K o n k r e t e . Und so stelle ich denn meine Behauptung auf und erkläre: d i e P h i l o s o p h i e i s t o d e r h a t zu s e i n n i c h t n u r e i n e W i s s e n s c h a f t des Abstrakten, sondern auch des Konkreten. So schlicht es klingt, dies ist die bedeutsame, einschneidende und große Forderung, die der Geist der Gegenwart, die gesamte Entwicklung von Kultur, Staat und Leben an das philosophische Schaffen zu stellen hat, dies die fast revolutionäre Umwälzung, die die Philosophie ergreifen muß. Der Philosoph galt bisher immer als der Geist, der nicht über das Nächste, das ihn nichts angehe, sondern über das Fernste, nicht über das Unmittelbare, sondern über das Entlegenste, das Tief- und Zurückliegende zu urteilen habe. Wenn wir hiergegen Einspruch erheben und ihm künftig das eine wie das andere zuweisen, daß er im Weitesten, Allgemeinsten, in den höchsten Höhen der Abstraktion der Dinge zu hausen hat, dort, wo alle geheimen und verborgenen Fäden des Daseins zusammenlaufen, von welchem allgemeinen Born aus alle Dinge ihre Kraft und ihr Wesen nähren, wenn wir ihm dieses, den gewöhnlichen Sterblichen so fremde, kalte Reich, da es sie fröstelt und schwindelt, weil sie nichts Festes und Bestimmtes finden, woran sie sich halten können, wenn wir dieses geheimnisvolle, schwer betretbare Gebiet ihm auch fernerhin zuweisen und lassen, wenn wir ihm aber zugleich auch und hierzu im Widerspruch und eben damit zur Ergänzung als ebenso wichtig und dringlich das konkrete, im Augenblick vorliegende, pochende Leben, die in allen kräftigen Farben schillernde, gleichsam saftige und schwellende Wirklichkeit als ein zweites Reich der Arbeit und Bewältigung anheimgeben und unterbreiten, dann vollziehen Wir einen gewaltigen Bruch mit der anscheinend schon abgeschlossenen, ein 132
für allemal entschiedenen philosophischen Aufgabe, wie sie die letzte Generation als Aufgabe der Philosophie mit größter Sicherheit hinstellte, einen Bruch, der zwar, wie erwähnt, sich wie alles Menschliche, das langsam wächst, bereits ankündigte und vorbereitete, der aber dennoch ein gewaltiger Bruch mit der Vergangenheit, wenigstens der näheren Vergangenheit ist. Ob nicht in älteren Zeitaltern der Geschichte ähnliche Aufgaben der Philosophie vorschwebten als auch zu ihren Zwecken und ihrem Wirkungsgebiet gehörig, lasse ich hier dahingestellt. Die Verengerung der Philosophie als Wissenschaft des Nur- und Rein-Abstrakten ist nicht in allzuweite Vergangenheit zurückzuverlegen. Auch für den hier ausgesprochenen Gedanken wird das Goethische Wort zutreffen: „Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, Das nicht die Vorwelt schon gedacht."
Ohne diese zur ferneren Vergangenheit zurückleitenden Fäden hier zu verfolgen, bedeutet der geforderte Schritt dennoch für die unmittelbare Lage, für den gegenwärtigen Stand von Wissenschaft und Kultur eine bedeutsame und einschneidende Neuerung. Aber zu einer Zeit, da der gewaltsamste Bruch das gesamte Leben zerschneidet, soll da nicht auch die Philosophie sich einer Kühnheit erdreisten? Wir können doch unmöglich immerwährend im Geleise der erstarrten Überlieferung forttreiben. Irgend wann m ü s s e n wir doch einmal einen kühnen Sprung aus dem Geleise herauswagen! Wie soll denn sonst das gepeinigte und verkümmerte Leben wieder frische Glut und Mut erlangen! Unglaubwürdig und schroff nannte ich zuvor die von mir an die Philosophie zu stellende Forderung. Nach den eingeschalteten Ausführungen und Verbindungen wird sie nicht mehr als so völlig willkürlich und aus der Luft gegriffen erscheinen, wie ich zuversichtlich hoffe. Wohl wird der Philosophie mit dieser Aufgabe eine neue Welt, ein ganz neues, weites, großes Arbeitsfeld erschlossen. Aber die philosophische Bewegung der Gegenwart kommt dem neuen Ziel schon ganz nah, ganz hart auf die Ferse. Mit Recht sagt freilich Nietzsche, daß die kleinste Kluft am letzten zu überbrücken ist. Die Philosophie soll nicht mehr ausschließlich in ferner, abstrakter Höhe über dem Leben schweben. Hat sich das Denken in diese reine Aetherhöhe erhoben, dann soll es sich wieder in die Tiefe 133
niedersenken und das unmittelbar strömende Leben ergreifen, in dieses ganz konkrete Leben der Zeit einfallen wie ein klärendes Licht und Helligkeit über die Pfade ausbreiten, die aus der konkreten Gegenwart in die konkrete Zukunft hinüberleiten, aus der wogenden Unklarheit zu gestalteter Klarheit und neuen, festen Formen. Und zwar bedeutet der Sinn dieser Forderung nicht etwa nur, daß die allgemeinen, hauptsächlichen, hervorstechenden und auffälligen Richtungen, Strömungen, Kräfte, Gefahren, Krisen des gegenwärtigen Kulturlebens enthüllt und entziffert, vom philosophischen Geist aus dem Getümmel und Gewoge der Zeit herausgeschält, gesichtet und verdeutlicht werden sollen. Bis zu diesem Punkte war, wie dargelegt, die philosophische Entwicklung der Zeit, an die ich mich anschließe, bereits gediehen. Die letzte, kleinste Kluft ist noch zu überbrücken, noch e i n wichtiger Schritt weiter zu tun. Nicht mehr nur das Allgemeine, das durchgehend Charakteristische des Zeitalters soll die philosophische Kritik erkennen und aussprechen. Damit bleibt die Philosophie noch immer in den ererbten Vorurteilen von ihrem Wesen und ihrer Aufgabe befangen. Nein, auf ganz konkrete Fragen soll die philosphische Arbeit und Erkenntnis ganz konkrete Antworten erteilen, Fragen und Antworten von höchster Bedeutung, die das ganze Leben unseres Volkes schicksalvoll bestimmen, von denen die ganze Zukunft unseres Volkes und damit doch Wohl auch der Menschheit abhängt. Solche Fragen sollten nicht zum Gegenstande wissenschaftlicher Erkenntnis erhoben werden? An solchen Fragen dürfte der wissenschaftliche Geist kühl vorübergehen? Um mich ganz verständlich zu machen, nenne ich einige solcher Fragen. Beispielsweise: wie soll der künftige deutsche Staat beschaffen sein? Was hat sich das deutsche Volk für eine Verfassung zu geben in Anbetracht der dauernden, tief und unverrückbar in seinem Wesen und Charakter, in seiner unausrottbaren Naturveranlagung begründeten Eigenschaften? Denn einen allgemeinen, ewig gültigen, für alle Menschen aller Zeitalter gleichmäßig zutreffenden und zweckmäßigen Staat gibt es nicht. Einen d e u t s c h e n Staat haben Wir zu schaffen, der Abdruck und Ausfluß unserer ureigenen, ganz bestimmten und konkreten deutschen Natur ist. Wer soll darüber entscheiden? Nur der psychologische Philosoph, der tief in das Wesen des 134
deutschen Volkstums eingedrungen ist, kann (Iber diese unvergleichlich wichtige Frage eine innerlich und wesenhaft begründete Ansicht und Einsicht haben. Darf diese Frage nur nach Neigung und Laune, nach augenblicklicher Stimmung und Strömung, aus der Leidenschaft einer unglücklichen und unheilvollen Stunde entschieden werden ? Besitzen Wir in der neuen Reichsverfassung einen solchen aus unserer Natur ursprünglich und echt erzeugten, zu unserem Charakter stimmenden und ihm angemessenen Staat? Und wenn nicht, wie ist diese Verfassung umzubilden? Und haben wir einen klaren Gedanken, einen Grundriß des zu schaffenden Staates gefunden, Wie ist dieser Gedanke und Vorschlag in die Wirklichkeit zu überführen? Wie ist er auf Grund der tatsächlich vorhandenen Kräfteverhältnisse des politischen Lebens, der gegenwärtig miteinander ringenden politischen Gegensätze, angesichts der heute herrschenden politischen Mächte, Ideen, Strebungen in die Tat umzusetzen? Denn k o n k r e t soll ja das gesuchte philosophische Denken sein, aus dem unmittelbaren Wirrsal soll es uns herausführen! Was frommt uns irgend eine allgemeine Idee von irgend einem wünschenswerten Staate, wenn diese Idee nicht auch in das Leben selbst eingehen, zu Gestalt und Wahrheit werden kann? Lehrt uns die psychologische Philosophie, die a n g e w a n d t e Psychologie das Wesen und den Grundriß des deutschen Staates, so hat sie auch noch einen Schritt weiter zu gehen, eine Pflicht mehr zu erfüllen, nämlich die vorhandenen politischen Zustände mit ihrem Blick zu durchdringen, aus diesen gegebenen, konkreten Zuständen heraus den Weg zur Verwirklichung dieses Staatsgedankens aufzuzeigen. Diesen Weg dann zu betreten oder die Menschen mit den Machtmitteln der Rede und Uberzeugung oder was sonst zu Gebote steht auf diesen Weg zu führen, das ist dann Sache der tätigen Politik. Aber den Weg zunächst aufzuweisen, das Denken der Menschen zu klären und in die für geboten erachtete Richtung zu lenken, ist Aufgabe der Erkenntnis, wenn auch der konkreten Erkenntnis, die liebevoll und stark das gegebene Leben ergreift und gestaltet. Und gesetzt den Fall, dieses große Werk der Schöpfung des deutschen Staates käme wenigstens dem Gedanken, der Vorstellung und Absicht nach in die rechte Bahn, unsere Vor135
sorge hätte dann weiter zu sinnen. Es genügt nicht, daß ein Staat mit guter Verfassung geschaffen werde, dann muß er auch dauernd gut verwaltet werden durch befähigte Staatsmänner, die ihn über die äußeren und inneren Gefahren hinwegzuführen wissen. Wir haben ja das lehrreichste und ergreifendste Beispiel vor Augen, Bismarck hatte einen wunderbaren Staat geschaffen. Aber nach seinem Rücktritt und Tode fehlten die berufenen Staatsmänner, die diesen Staat hätten gut verwalten und erhalten können. Alle Welt ruft heute nach begabten und tatkräftigen Staatsmännern. Die ganze Gefahr dieses Mangels ist der Zeit zum Bewußtsein gekommen. Die alte Beamtenschaft hat solche Staatsmänner nicht mehr hervorgebracht. Glaubt man, daß sie aus dem Parteileben hervorgehen werden, daß der Parlamentarismus sie uns schenken werde? Und wenn nicht, wie denkt man, sind sie herbeizuschaffen? Man scheint anzunehmen, daß man es nur dem guten Glück, dem Zufall überlassen müsse, ob sie uns beschert werden. Wieder steht der Philosoph vor einer ganz konkreten Frage, bei welcher er sich als psychologischer Pädagoge auszuweisen hat und zwar diesmal für den bedeutendsten und einflußreichsten sozialen Beruf, die Heranbildung der leitenden Staatsmänner. Damit aber ist das ganze Führerproblem aufgeworfen. Was ist Demokratie? Was echte, was unechte Demokratie? Wie steht die Demokratie zu dem Individuum? Besonders zu dem hervorragenden, großen Individuum? Ist die Wahl der Masse das geeignete Mittel, den genialen, schöpferischen Führer herauszufinden und herauszuheben? Wie ist der schöpferische Mensch zu entdecken und wie dann mit der Gesamtheit in Fühlung und zu Einfluß zu bringen? Und zwar dürfen auch hier nicht nur wieder allgemeine, angenehme Wünsche und Mahnungen ausgesprochen werden. Von solchen Wünschen, guten Absichten und Hoffnungen fließt heute alles über, ohne daß irgend etwas gebessert, die Ratlosigkeit gemindert würde. Nein, welche ganz bestimmten, konkreten Einrichtungen sind zu treffen, um die wirkliche Volkskraft, in der Gesamtheit und dem genialen Einzelnen verkörpert, zu Tage zu fördern und zu reichster Wirksamkeit zu steigern? Wie ist das Verhältnis der einzelnen Volksteile zum Ganzen zu gestalten? Wie ist es mit der großen Frage des Einheitsstaates bestellt? Solche Fragen sind 136
nicht nur nach Wunsch und Behagen zu entscheiden, sondern auch für solche Fragen gibt es psychologisch und das bedeutet Wissenschaftlich b i n d e n d e Lösungen. Ob dann die sittliche Kraft vorhanden ist, derartige aus reiner Erkenntnis, aus unbefangener und allseitiger Prüfung aller äußeren und inneren Faktoren entwickelten Ideen auch in die Wirklichkeit überzuleiten, das ist dann wieder Sache der Politik, die die vom Geist geschaffenen und begründeten Ideen auszuführen berufen ist. Und haben wir in diesem Sinne die rechten Vorsätze gefaßt, um unser Haus zu bestellen, und auch die Möglichkeiten der Durchführung der also gefaßten Pläne und Grundsätze für unsren Staatsbau erwogen und dargestellt, dann haben wir den Blick über unser Volk hinauszurichten. Denn die Beziehung zu den auswärtigen Staaten bestimmt Bestand und Gedeihen des eigenen Volkes. Das alte europäische Staatensystem des gespannten und bewaffneten nationalen Gleichgewichts ist in diesem grauenhaften Kriege zusammengebrochen und untergegangen. Was nun? Ich kann mich nicht überzeugen, daß die Rettung der Völker aus der wechselseitigen Selbstzerstörung durch einen einzigen, kühnen, weiten Sprung vom Nationalstaat zum großen einen Weltbund der Völker, zu der allgemeinen Weltorganisation zu bewerkstelligen wäre. Dieser Übergang erscheint mir zu plötzlich und unvermittelt. Alles geschichtliche Werden und Wachsen geht nach uralter Erfahrung und wissenschaftlicher Einsicht allmählig und stufenweise von statten. Die Idee des Weltbundes ist vorderhand eine krasse Utopie, die wie jede Utopie die all erschwersten Enttäuschungen und ärgsten Schädigungen im Gefolge haben wird, wenn wir uns ihr nicht rechtzeitig entziehen, dieser Utopie, die gleich jeder Utopie die menschliche Entwicklung nicht vorwärts- und aufwärts führen, sondern zurückschleudern wird. Wer zuviel will, zerschlägt und zerstört das Mögliche, ja das Vorhandene. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als ob wir vor der Aufgabe einer ganz neuen, eigenartigen und großzügigen Staatsgründung und Staatsbildung ständen. Wenn ein sehr schweres, tiefwirkendes, Völlig zerrüttendes Übel in Erscheinung getreten ist, dann kann es auch nur wieder ein ganz durchgreifendes, fest zupackendes* kräftiges Heilmittel sein, das das ausgebrochene Unheil abstellt und aufhebt. Und haben wir auch für diese bedeutsame Not13T
-wendigkeit den entsprechenden, hoffnungweckenden Gedanken gefaßt und begründet, dann ist auch hier wieder die unmittelbar folgende Pflicht, die Möglichkeiten und Wege der Verwirklichung eines solchen Planes zu bedenken und vorzulegen. Auch die auswärtige Politik ist eine Sache der angewandten Psychologie, die vor der eigentlichen Tat, der politischen Arbeit, der Ausführung als solcher die rechte Ideenbildung zu leisten hat, welche aus der objektiven Ergründung der gegebenen Tatsächlichkeit .zuerst die erforderlichen und zweckvollen Gedanken, die gedankliche Klarheit zu erringen hat. Auch hier muß die Erkenntnis der Handlung vorausgehen. Aber das große Weltübel — das wissen wir alle, das hat