Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur: Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996 [Reprint 2011 ed.] 9783110950120, 9783484107755

The volume assembles articles taking an interdisciplinary perspective on problems of medieval studies research into the

178 62 27MB

German Pages 684 [688] Year 1998

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Table of contents :
Unio mystica. Hinweise zur Geschichte des Begriffs
Liebe im Unterricht – Liebe als Unterricht. Hof und Kathedralschule in der Entstehung der ‘Höfischen Liebe’
Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur
Das Gedächtnis des Lesers und das Kalkül des Erzählens. Zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke
Grenzüberschreitung als erzählerisches Prinzip. Das Spiel mit der Fiktion in Salman und Morolf
Rîter – geselle – herre. Überlegungen zu Iweins Identität
vntz daz sin hant den spiegel gar zebrach. Reflexionen über die Destruktion virtueller Realität in hern reymars. ‘Mir ist geschehen als eime kindeline’
Monumenta amoris zwischen Unterhaltung und Kult. Die Funktion von Leichs und sene-maeren in Gottfrieds Tristan
‘Lancelot malt sein Gefängnis aus’. Bildkunstwerke als kollektive und individuelle Memorialzeichen in den Aeneas-, Lancelot- und Tristan-Romanen
Vergegenwärtigung und Affekte in der Bildauffassung des späten 13. Jahrhunderts
Hartmann Schedels Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus. Zur Begründung und Erschließung des historischen Gedächtnisses im deutschen Humanismus
Formation und Differenz. Funktionale Konstellationen frühneuzeitlicher Etymologik
memoria, amicitia und Gelehrtenkultur in der Stadt der frühen Neuzeit. Die Hommage an Philipp Melanchthon und den Rat der Stadt Lübeck im Stadtlob des Petrus Vincentius von 1552
Universalbibliothek und Gedächtnis. Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gesner (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart)
Schätze des Erinnerns. Das Stammbuch Ulrich aus dem 16. Jahrhundert
Emblem und Enigma. Erkennen und Verkennen im Emblem
Emblematik zwischen Memoria und Geographie. Der Thesaurus Philo-Politicus. Das ist: Politisches Schatzkästlein
Vergeßliche Helden und die Stiftung von Gedächtnis. Probleme der Memoria im synästhetischen Verbund der Künste in der Oper (1640–1740)
Zum Verhältnis von Bildpublizistik und Literatur am Beispiel von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
Was ist die Welt? – Ein ewiges Gedicht. Nachzeichnung einer Traditionslinie
Wiedererkennung. Zur Funktion der Anagnorisis in der klassischen französischen Tragödie (Corneille: Œdipe – Racine: Iphigénie en Aulide)
Ich möcht nicht gern vergessen sein. Goethes Stammbuchverse
Ahnung und Erinnerung. Bemerkungen zur Funktion der Ahnung bei einigen Dichtern von Goethe bis Musil
Erinnerungsbilder. Das Konzept Hölderlins und eine Applikation auf Storm
Richtige und falsche Naturdeutung. Karl Immermanns Waldmärchen. Die Wunder im Spessart, magischer Idealismus und Renaissancephilosophie
Der Abbruch des Festes. Gedächtnis und Verdrängung in Heines. Legende Der Rabbi von Bacherach
Wagners Rhetorik. Zur Gestaltung von Erinnern und Erkennen in Tristan und Isolde
For a nation of forgetters: der Sinn der Erinnerung im Zeitalter der Dekonstruktion. Salman Rushdies Midnight’s Children
Register
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Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur: Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996 [Reprint 2011 ed.]
 9783110950120, 9783484107755

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Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996

Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996

In Verbindung mit Wolfgang Frühwald herausgegeben von Dietmar Peil, Michael Schilling und Peter Strohschneider

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur: Kolloquium Reisensburg, 4. - 7. Januar 1996 / in Verbindung mit Wolfgang Früh wald hrsg. von Dietmar Peil... - Tübingen : Niemeyer, 1998 ISBN 3-484-10775-8 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Guide-Druck, Tübingen Buchbinderei: Buchbinderei Koch, Tübingen

Vorwort

Wie kulturelle Zusammenhänge im Strom der Zeit Dauer gewinnen können, das Funktionieren kollektiver memoria, die Formen und Leistungen von Gedächtnis und Erinnerung: Dies ist in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Problembereiche interdisziplinärer kulturwissenschaftlicher Forschung geworden. Man mag darin einen doppelten Gegenwartsbezug erkennen, insofern das Thema nicht allein im Horizont aktueller theoretischer Debatten von erheblichem Interesse ist, die sich einstweilen mit Stichworten wie etwa Dekonstruktivismus und Postmoderne, Posthistoire, Medientheorie oder Intertextualität markieren lassen. Vielmehr werden wohl in der wachsenden Aufmerksamkeit für das kollektive Erinnern zugleich auch kulturelle Alltagserfahrungen wirksam, solche etwa, die man als die 'Gedächtnislosigkeit' der modernen Medienkultur, den drohenden Kollaps der Archive unseres Wissens angesichts digitaler Informationsmengen oder das vermeintliche Ende der Buchkultur artikulieren könnte. Das Gespräch gerade deswegen auch mit spezifisch historischem Erkenntnisinteresse weiterzuführen, Zeugnisse der Literatur, der bildenden Kunst, der Musik seit dem Mittelalter in seinen Horizont einzubeziehen, dies war die Absicht, mit welcher wir Vertreter verschiedener Kulturwissenschaften zu einem Kolloquium über „Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur" eingeladen haben. Die interdisziplinäre Veranstaltung fand vom 4. bis 7. Januar 1996 auf Schloß Reisensburg bei Günzburg statt. Die dort lebhaft erörterten Vorlagen und Referate stellen wir, ergänzt um einige weitere Beiträge, hiermit zur Diskussion. Unser Dank gilt allen Teilnehmern und Beiträgern sowie dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und der Münchener Universitätsgesellschaft, die mit großzügiger finanzieller Unterstützung das Kolloquium ermöglichten. Dank schulden wir auch Robert Harsch-Niemeyer, der diesen Band in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat, und vor allem unseren Mitarbeitern: Bernhard Jahn in Magdeburg und ganz besonders Ludger Lieb in Dresden haben, unterstützt von Alexander Lasch, die Mühen von Redaktion und Korrektur tatkräftig auf sich genommen, Thomas Gutwald und Astrid Ziegler in München erstellten das Register. Beiträger und Herausgeber widmen dieses Buch ihrem Freund, Kollegen und Lehrer Wolfgang Harms: Sein 60. Geburtstag am 7. Januar 1996 gab dem Kolloquium den Anlaß; seine Person hat Kollegen einander im Gespräch begegnen

VI

Vorwort

lassen, die sonst im Wissenschaftsalltag nicht leicht einmal persönlichen Kontakt gefunden hätten; auf sein bedachtsames wissenschaftliches Fragen immer wieder auch nach dem Erkennen und dem Erinnern in Text und Bild wollte das Kolloquium und wollen die folgenden Beiträge Antworten erproben.

Die Herausgeber

Inhalt

Alois Μ. Haas (Zürich) IJnio mystica. Hinweise zur Geschichte des Begriffs

1

C. Stephen Jaeger (Seattle) Liebe im Unterricht - Liebe als Unterricht. Hof und Kathedralschule in der Entstehung der'Höfischen Liebe'

19

Dennis H. Green (Cambridge) Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur

35

Herfried Vögel (München) Das Gedächtnis des Lesers und das Kalkül des Erzählens. Zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke

57

Otto Neudeck (München) Grenzüberschreitung als erzählerisches Prinzip. Das Spiel mit der Fiktion in Salman und Morolf

87

Klaus Speckenbach (Münster) Riter - geselle - herre. Überlegungen zu Iweins Identität

115

Alexandra Stein (München) vntz daz sin hant den Spiegel gar zebrach. Reflexionen über die Destruktion virtueller Realität in hern reymars 'Mir ist geschehen als eime kindeline'

147

Daniel Rocher (Strasbourg) Monumenta amoris zwischen Unterhaltung und Kult. Die Funktion von Leichs und sene-maeren in Gottfrieds Tristan

169

VIII

Inhalt

Uwe Ruberg (Mainz) 'Lancelot malt sein Gefängnis aus'. Bildkunstwerke als kollektive und individuelle Memorialzeichen in den Aeneas-, Lancelot- und Tristan-Romanen

181

Frank Büttner (München) Vergegenwärtigung und Affekte in der Bildauffassung des späten 13. Jahrhunderts

195

Franz Josef Worstbrock (München) Hartmann Schedels Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus. Zur Begründung und Erschließung des historischen Gedächtnisses im deutschen Humanismus

215

Erich Kleinschmidt (Köln) Formation und Differenz. Funktionale Konstellationen frühneuzeitlicher Etymologik

245

Hartmut Freytag (Hamburg) memoria, amicitia und Gelehrtenkultur in der Stadt der frühen Neuzeit. Die Hommage an Philipp Melanchthon und den Rat der Stadt Lübeck im Stadtlob des Petrus Vincentius von 1552

265

Jan-Dirk Müller (München) Universalbibliothek und Gedächtnis. Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gesner (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart)

285

Wolfgang Klose (Karlsruhe) Schätze des Erinnerns. Das Stammbuch Ulrich aus dem 16. Jahrhundert

311

Peter M. Daly (Montreal) Emblem und Enigma. Erkennen und Verkennen im Emblem

325

Dietmar Peil (München) Emblematik zwischen Memoria und Geographie. Der Thesaurus Philo-Politicus. Das ist: Politisches Schatzkästlein

351

Bernhard Jahn (Magdeburg) Vergeßliche Helden und die Stiftung von Gedächtnis. Probleme der Memoria im synästhetischen Verbund der Künste in der Oper (1640-1740)

383

Inhalt

IX

Silvia Serena Tschopp (Bern) Zum Verhältnis von Bildpublizistik und Literatur am Beispiel von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch

419

Wulf Segebrecht (Bamberg) Was ist die Welt? - Ein ewiges Gedicht. Nachzeichnung einer Traditionslinie

437

Andreas Kablitz (Köln) Wiedererkennung. Zur Funktion der Anagnorisis in der klassischen französischen Tragödie (Corneille: CEdipe - Racine: Iphigenie en Aulide)

455

Hendrik Birus (München) Ich möcht nicht gern vergessen sein. Goethes Stammbuchverse

487

Wolfram Hogrebe (Bonn) Ahnung und Erinnerung. Bemerkungen zur Funktion der Ahnung bei einigen Dichtern von Goethe bis Musil

517

Andreas Thomasberger (Bad Soden) Erinnerungsbilder. Das Konzept Hölderlins und eine Applikation auf Storm

527

Barbara Bauer (Marburg) Richtige und falsche Naturdeutung. Karl Immermanns Waldmärchen Die Wunder im Spessart, magischer Idealismus und Renaissancephilosophie

543

Gerhard Neumann (München) Der Abbruch des Festes. Gedächtnis und Verdrängung in Heines Legende Der Rabbi von Bacher ach

583

Jörg Krämer (Rathsberg) Wagners Rhetorik. Zur Gestaltung von Erinnern und Erkennen in Tristan und Isolde

621

Ulrich Broich (München) For a nation offor getters: der Sinn der Erinnerung im Zeitalter der Dekonstruktion. Salman Rushdies Midnight 's Children

653

Register

667

Alois Μ. Haas (Zürich) Unio mystica Hinweise zur Geschichte des Begriffs

Wenn Maurice Halbwachs in seiner für die geschichtlichen Ausformungen der menschlichen Memoria grundlegenden Studie1 auf die christliche Mystik zu sprechen kommt, dann signalisiert er als deren bestimmendes Kennzeichen ihre innerlich auf die Vereinigung mit dem Göttlichen abzielende Tendenz. Gegen alles gelehrte Jammern über die semantische Schwäche des Begriffs 'Mystik' ist es in der Tat das Moment der Vereinigung, das ihn kennzeichnet. Le mysticisme, sous quelque forme qu'il se manifeste, repond, il est vrai, au besoin d'entrer avec le principe divin en contact plus intime qu'il n'est possible ä l'ensemble des fideles.2

Obwohl diese Tendenz Energien entwickelt, die den Mystiker aus den gesellschaftlichen Gruppen der Kirche herausheben, ja ihn bisweilen zu isolieren drohen, so daß er den Kontakt mit den kollektiven Erinnerungen der Kirche zu verlieren scheint, bleibt ihm das mehr oder weniger deutliche Bewußtsein von ihn tragenden kollektiven Erinnerungen erhalten: Le mystique garde done bien, ä travers ses transports et ses extases, le sentiment continu que ses experiences particulteres prennent place dans un cadre de notions qu'il n'a pas inventees, qui ne lui ont pas ete revetees ä lui seul, que l'Eglise conserve et qu'elle lui a enseignees. Des lors s'il se fait en lui une lumiere plus grande, eile eclaire ses notions memes, et l'aide ä approfondir les mysteres de la religion chretienne. II y a continuite entre sa meditation ou sa vision interieure et la pensee de l'Eglise. [...] II connait le Christ par la tradition; au moment oü il pense au Christ, il se souvient. 3

Was hier für den christlichen Bereich behauptet wird - die Unverlierbarkeit kollektiver Erfahrungen auch noch in der Bewegung von ihnen weg in die möglichst direkte Gotteserfahrung gilt mutatis mutandis auch für andere religiöse Systeme. Selbst jene, die wie der Zen-Buddhismus grundsätzliche Freiheit von Überlieferungen fordern, sind letztlich doch - und gerade noch in dieser Aussage - an kollektiv wahrnehmbare Stereotypen der Aussage gebunden.

1

Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la memoire. Paris 1935 (deutsche Übersetzung: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M. 1985).

2

Ebd., S. 278. Ebd., S. 280.

3

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Alois Μ. Haas

Sicherlich stellt im Rahmen solcher religiöser Überlieferungen kollektiv mehr oder weniger verbindlicher Art die Begrifflichkeit, mittels der die religiösen Lebens· und Lehrgehalte tradiert werden, ein außerordentliches Vehikel der Vermittlung dar. Gerade die Kürze, Prägnanz und Schlagworthaftigkeit von Begriffen stellt im Rahmen einer kollektiven Überlieferung einen Reiz dar, dem nur eine breite Rezeptionsskala entsprechen konnte. Mit andern Worten: Die Produktivkraft von Begriffen stellt im Rahmen von (religiösen) Gesellschaften ein Instrumentarium zur Verfügung, das sowohl Kontinuität wie Transformation 4 von Lebens- und Lehrgehalten zu verbürgen in der Lage ist. Es ließe sich dieses Widerspiel von Kontinuität und Transformation für die Geschichte der christlichen Mystik insbesondere an einer Begriffskombination aufzeigen, die weit über den christlichen Rahmen hinaus strukturellen Rang erlangen konnte, nämlich am Begriff 'unio mystica'. Die Geschichte dieses Begriffs muß noch geschrieben werden. Hier wird ein sehr viel bescheideneres Ziel verfolgt: Da der Begriff 'unio mystica' kaum mit historischem Gespür gebraucht wird, sondern in einem eher systematischen Sinne5 und in vielfältigsten Zusammenhängen jeweils schlicht die 'mystische' (= verborgene?) 'Vereinigung' des Menschen mit Gott bezeichnet - welche semantisch von der keiner Individualität mehr Raum lassenden Verschmelzung bis zur personalen Liebesvereinigung alle Spielarten der gottmenschlichen Symbiose abdeckt - , ist es sinnvoll, in aller Kürze auf die Ursprünge des Begriffs hinzuweisen.

4

5

Vgl. Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes. Hg. von Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989. Anstatt vieler Belege für eine (historisch nicht gesicherte) bloß semantisch-technische Verwendung von unio mystica vgl. eine jüngste Verwendung des Begriffs bei Karl Albert, Einführung in die philosophische Mystik. Darmstadt 1996, S. 4, 106, 114, 141, 165, 169, 177f. Ich halte diesen Gebrauch hier für gerechtfertigt, obwohl ich mir bei der Behandlung von Dionysius (S. 113f.) einen genaueren Hinweis gewünscht hätte. Mit Verwunderung nimmt man hingegen die Ausführungen zur Kenntnis, die Peter Dinzelbacher in einem eben erschienenen, wichtigen Nachschlagewerk gibt („Unio mystica". In: Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie. 3. Auflage 4 [1996], Sp. 1031-1034). Es fehlt hier jeder Hinweis auf die Begriffsgeschichte in Spätantike und Mittelalter. Doch ohne Begriffsgeschichte kommt die Mystikforschung kaum über vage Vermutungen hinaus. Gerade geschichtlich orientierte Mystikforschung müßte den Begriff 'unio mystica1 konkret in den Texten greifbar machen. Die ältere Forschung hat hierin viel Stroh gedroschen, vgl. Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, „Erscheinungsformen der 'unio mystica' in der deutschen Literatur und Dichtung". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 22 (1944), S. 237-277 (ohne einen einzigen Nachweis des Begriffs in den Texten).

'Uniο mystica'

3

I

In einem großen und wichtigen theologischen Nachschlagewerk, der Theologischen Realenzyklopädie (Band 23), kommt Hartmut Rosenau, der die systematisch-theologische Verwendung des Begriffs 'Mystik' behandelt, auf die unio mystica zu sprechen, indem er zunächst unter dem Begriff - neben einer zweiten Tendenz der Mystik, die „durchaus eine reflexive oder argumentative Zubereitung" der „Schau" zuläßt - „visionäre oder ekstatische religiöse Erfahrungen und Erlebnisse des unmittelbaren Einsseins mit Gott oder dem göttlichen Seinsgrund, klassisch seit Dionysius Areopagita 'unio mystica' genannt (MTh 1,1: PG 3,998)", versteht.6 Josef Sudbrack hat mit Recht die falsche Stellenangabe kritisiert.7 Gleichwohl kommt der Begriff 'unio mystica'' bei Dionysius vor,8 und er ist es wohl gewesen, der den Begriff dem Mittelalter vermittelt hat.9 Bevor auf Dionysius eingegangen werden soll, ist aber auf Vorgänger hinzuweisen, die in vergleichbarer oder ähnlicher Weise - wenn auch mit andern Worten - die mystische Vereinigung des Menschen mit Gott erwähnt haben. Louis Bouyer gebührt das Verdienst, schon in mehreren Studien das Begriffsfeld 'mystisch/Mystik' in patristischer und mittelalterlicher Zeit historischsemantisch erschlossen zu haben.10 Ausgangspunkt für seine Forschungen war dabei „die Auslegung der Schrift unter dem Gesichtspunkt des paulinischen 'Mysteriums'". 1 ' Der Begriff 'Mysterium' erwies sich als Schlüsselbegriff für das ganze Wortfeld, in dessen Zentrum auch das Wort 'mystisch' steht.12 Zeitlich kommt dem vierten nachchristlichen Jahrhundert eine entscheidende Rolle bei

6 7

8

9 10

11

12

Theologische Realenzyklopädie 23(1994), S. 5 81. Josef Sudbrack, „Was ist Mystik? Zu McGinns 'Die Mystik im Abendland', Bd. I". In: Geist und Leben 68 (1995), S. 145-155, hier S. 154. Mit Recht behauptet Michael Figura, „Unio mystica". In: Wörterbuch der Mystik. Hg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989, S. 503-506, hier S. 504, daß bei Pseudo-Dionysius „unio mystica Ausdruck der Höchstform des myst. Weges wird". Seine weitere Behauptung: „Seit dem 6. Jh. gehört der Begriff zum festen Bestand christl. Mystik", bedarf allerdings noch weiterer Abklärung. Auch bei Figura fehlen Stellenhinweise. Siehe unten Abschnitt III. Louis Bouyer, „Mystique. Essai sur l'histoire d'un mot". In: La Vie spirituelle, Suppl. 9 (15. Mai 1949), S. 3-23; deutsch in: Das Mysterium und die Mystik. Beiträge zu einer Theologie der christlichen Gotteserfahrung. Hg. von Josef Sudbrack. Würzburg 1974, S. 57-75. Weitere Hinweise auf Bouyer siehe unten Anm. 11 und 12. Louis Bouyer, „Die mystische Kontemplation bei den Vätern". In: Weisheit Gottes - Weisheit der Welt. (FS Joseph Kardinal Ratzinger) Hg. von Walter Baier u.a. 2 Bde. St. Ottilien 1987, Bd. 1, S. 637-649. Der Text dieses Festschriftbeitrags ist identisch mit den Ausführungen in Bouyer (Anm. 12), S. 221-238. Louis Bouyer, Mysterien. Du mystere ä la mystique. Paris 1986. Das außerordentlich wichtige Buch, das vieles über 'Mystik' Geschriebene zur Makulatur degradiert, ist von der Mystikforschung - insbesondere in Deutschland (aber auch McGinn scheint es nicht zu kennen) - praktisch überhaupt nicht wahrgenommen worden.

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Alois Μ. Haas

der Ausformung dieser Nomenklatur zu, weil durch das zahlenmäßig starke Eindringen von Heiden in die Kirche sowohl in der Spiritualität wie in der Theologie nach neuen und fruchtbaren Wegen zu Gott gesucht wurde. „Um sie [die Heiden] einzugliedern, war es nötig, eine gewaltige Entwicklung der Katechese und ganzen Verkündigung der Kirche herbeizufuhren. Nicht weniger Bedeutung jedoch hat dieses Jahrhundert aufgrund des Aufkommens und der raschen Entwicklung des Mönchtums. Überdies sind diese beiden Dinge offensichtlich miteinander verbunden. Wurde die Askese zuvor als Vorbereitung auf das Martyrium, das immer möglich war, angesehen, so wird sie nach der Bekehrung Konstantins in ihrer Entwicklung und neuen Ordnung zu einem Ersatz für das Martyrium." 13 Wenn Klemens von Alexandrien vom christlichen 'Gnostiker' verlangt, er solle aus seinem Leben und Sterben ein 'gnostisches Martyrium' machen, 14 dann ist ein ' Paradigmenwechsel' anvisiert, der den asketischen Aspekt des Martyriums radikal verinnerlicht und damit dem Wort 'mystisch' (mystikös) eine semantische Ausdehnung erlaubt, die es „zum Bestimmungswort für voll entwickelte christliche Erfahrung macht, insbesondere der Erfahrung eines das ganze Leben des Christen mit seinem Glauben durchwirkenden Gebetes". 15 Zu den beiden schon gültigen Anwendungen des Wortes - erstens Schriftauslegung unter dem Gesichtspunkt des paulinischen Mysteriums und zweitens Interpretation der Sakramente als aktuelle Teilhabe am Mysterium - fügte sich also eine dritte: die Totalität einer in der Gotteserfahrung gipfelnden christlichen Lebensoption, die sich am deutlichsten und kompromißlosesten in einer Mönchsexistenz zu erfüllen vermochte. 16 In immer neuen Ansätzen versuchen die Kirchenväter - insbesondere die drei Kappadozier (Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und Basilius von Cäsarea) - eine grundsätzlich systematische Deutung des monastischen Daseins zu geben, in deren Zentrum das Leitbild einer sich im Glauben erfüllenden Schau und Wahrnehmung Gottes steht, deren Modellvorstellung sich an 2 Kor 3,18 ausrichtet: „Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn".17 Die darin implizierte Vorstellung einer vergöttlichenden Transformation des Menschen, kombiniert mit dem Konzept eines unaufhörlichen Fortschreitens auf dieses Ziel hin, gab ein Lebensmodell ab, das die Vereinigung des Menschen mit Gott über Jesus Christus als eine Form der 'Verklärung' ins Auge zu fassen wagte. In die Zielrichtung dieser Vorstellung gehört dann die Einbindung aller Denk- und Strebekräfte des Menschen - vor allem der Liebe so daß biblische Texte, die wie das Hohelied das 13 14

15 16 17

Bouyer (Anm. 11), S. 637. Stromata IV, IV, 15 (deutsche Übersetzung in: Titus Flavius Klemens von Alexandrien, Die Teppiche [Stromateis]. Deutscher Text nach der Übersetzung von Franz Overbeck. Hg. und eingeleitet von Carl Albrecht Bernoulli und Ludwig Früchtel. Basel 1936, S. 363). Bouyer (Anm. 11), S. 637. Ebd. Ebd., S. 639.

'Unio mystica'

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bräutliche Geheimnis zwischen Gott und auserwähltem Volk oder zwischen Gott und Seele feierten, mit Vorzug 'mystisch' gedeutet wurden. Gregor von Nyssa leitet seine Erklärung des Hohenliedes mit dem bedeutsamen Satz ein, der in entscheidender Weise 'mystische' Erfahrung präludiert und privilegiert : „Hört das Geheimnis des Liedes der Lieder [...] es ist die mystische Kontemplation". 18 „Zum ersten Mal wird theoria mystike in der Weise gebraucht, daß 'mystische Kontemplation' jenen Sinn einer spirituellen Erfahrung annimmt, den es bis heute gewahrt hat." 19 Wenn der Begriff der 'unio mystica'' je eine Entstehungschance hatte, dann sicherlich in diesem vierten Jahrhundert, das eine tiefe christliche Spiritualität mit Konzentration auf die Gotteserfahrung ausgebildet hatte. Lange Zeit allerdings bestand die Meinung, daß der Begriff erst - zusammen mit dem Substantiv 'Mystik' - im 17. Jahrhundert gebildet worden sei. Noch 1989 konnte ein eminenter Kenner der Geschichte der christlichen Mystik, wie es Bernard McGinn war, versichern: „There [im 17. Jahrhundert] was also a rich vocabulary, both in Latin and in the European vernaculars, about union with God, and by late Middle Ages there was extensive and polemical discussion of the kinds of union. But I have never encountered the term mystical union in any medieval author, nor even in the classic Spanish mystics of the sixteenth century. The same seventeenth century that witnessed the creation of the term mysticism seems also to have been responsible for the coining of the term unio mystica among theological commentators on mysticism." 20 Derselbe Autor konnte seine Wahrnehmung im Rückgriff auf Louis Bouyers Arbeiten schon kurze Zeit später revidieren und auf die ersten Belege für 'unio mystica' verweisen. Allerdings ist auch bei ihm der eigentliche Entstehungspunkt des lateinischen Begriffs 'unio mystica' noch nicht exakt benannt worden. 21

II Bouyer referiert mit Nachdruck einige Stellen bei Origenes, in denen von „unaussprechlichen mystischen Betrachtungen" und vom „mystischen Bad" der Taufe die Rede ist.22 Für unseren Zusammenhang ist aber dann vor allem sein Bezug auf die sogenannten Schriften des Makarios (den die Forschung heute allgemein mit dem Messalianer Symeon von Mesopotamien identifiziert) von 18 19 20

21

22

Ebd., S. 641 (Horn. I in Cant.; PG 44, 764 D-765 A). Ebd. Bernard McGinn, „Love, Knowledge and Unio mystica in the Western Christian Tradition". In: Mystical Union and Monotheistic Faith. Hg. von Moshe Idel und Bernard McGinn. New York 1989, S. 59-86 und 185-193, hier S. 185. Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland. Übers, von Clemens Maaß. Bd. 1: Ursprünge. Freiburg/Br. 1994. Bd. 2: Entfaltung. Freiburg/Br. 1996, hier Bd. 1, S. 253. Bouyer (Anm. 11), S. 641 f.

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Alois Μ. Haas

Belang. 23 „In den Makarios zugeschriebenen Werken dient mystikos schon dazu, die Einigung oder Gemeinschaft mit Gott zu bezeichnen - das früheste Vorkommen von 'mystischer Einigung' in der christlichen Literatur." 24 In seinen berühmten 50 Geistlichen Homilien kommt Makarios/Symeon mehrfach auf die 'mystische Gemeinschaft' der Seele mit Gott zu sprechen. Unter nachhaltiger Betonung des Erfahrungs- und Gewißheitsaspekts 25 verweist der geistliche Autor auf die Fülle der Vereinigungserfahrung in der Seele: „Denn das ist ihr Leben und ihre Wonne: die geheimnisvolle [mystische], unaussprechliche Vereinigung mit dem himmlischen König." 26 Oder mit einem eschatologischen Ausblick: „Er, ein vollkommener Bräutigam, nimmt sie als vollkommene Braut zur heiligen, geheimnisvollen [mystischen] und unbefleckten Ehegemeinschaft auf und dann herrscht sie mit ihm in endlose Ewigkeit." 27 Dieser eschatologische Aspekt schlägt sich in der irdischen Existenz der Seele der Braut als ein mystischer Tod nieder: „Denn verwundet von der Liebe zu ihm, stirbt sie, um kühn zu reden, vor Sehnsucht nach der vollen, geistigen, geheimnisvollen [mystischen] Vereinigung mit ihm, nach der ewigen Verbindung und Vermählung in der Heiligung." 28 Mit Rekurs auf Eph 5,27 wird in der sogenannten Epistola Magna „die Reinheit, d.h. die volle Beseitigung der Leidenschaften, und die im Herzen der Heiligen wirkende mystische Gemeinschaft der Kraft des Geistes [...] erwiesen". 29 23

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Zu Makarios/Symeon vgl. Joseph Stoffels, Die mystische Theologie Makarius des Ägypters und die ältesten Ansätze christlicher Mystik. Bonn 1908, S. 161-170; Ephrem A. Davids, Das Bild vom Neuen Menschen. Ein Beitrag zum Verständnis des Corpus Macarianum. Salzburg 1968, S. 93-97; Herrmann Dörries, Die Theologie des Makarios/Symeon. Göttingen 1978, S. 237-253; unten Anm. 24-29 weitere Literatur. McGinn (Anm. 21), Bd. 1, S. 253. Ich zitiere den deutschen Text nach: Des Heiligen Makarius des Aegypters fünfzig geistliche Homilien. Aus dem Griechischen übers, von Dionys Stiefenhofen (Bibliothek der Kirchenväter 10) Kempten - München 1913, hier S. 11. Den griechischen Text siehe in: Die 50 geistlichen Homilien des Makarios. Hg. von Hermann Dörries, Erich Klostermann und Matthias Kroeger. Berlin 1964, hier S. 12, Z. 261 f. Des Heiligen Makarius Homilien (Anm. 25), S. 31; griechischer Text in: Die 50 geistlichen Homilien (Anm. 25), S. 38, Z. 230f. Des Heiligen Makarius Homilien (Anm. 25), S. 340; griechischer Text in: Die 50 geistlichen Homilien (Anm. 25), S. 312, Z. 236ff. Des Heiligen Makarius Homilien (Anm. 25), S. 367; griechischer Text in: Makarios/Symeon, Reden und Briefe. Die Sammlung I des Vaticanus Graecus 694 (B). Hg. von Heinz Berthold. 2 Bde. (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte 19) Berlin 1973, Bd. 2, S. 64, Z. lOf. Vgl. Werner Jaeger, Two Rediscovered Works of Ancient Christian Literature: Gregory of Nyssa and Macarius. Leiden 2 1965; Hermann Dörries, Symeon von Mesopotamien. Die Überlieferung der messalianischen 'Makarios'-Schriften. (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur Reihe 4, Bd. 10, Heft 1) Leipzig 1941, S. 144-157, hier S. 146. Den griechischen Text siehe bei: Makarios-Symeon, Epistola Magna. Eine messalianische Mönchsregel und ihre Umschrift in Gregors von Nyssa 'De institute Christiane'.

'Uniο mystica'

7

III In seiner Schrift Über die göttlichen Namen30 befaßt sich Dionysius Areopagita mit der ihm von neuplatonischen Denkern her überkommenen Problematik der Gottesbenennungen. Wie schon andere vor ihm - z.B. Gregor von Nyssa 31 - unterscheidet Dionysius zwischen Namen für das Wirken Gottes und solchen für das Wesen Gottes. Das Wesen Gottes läßt sich nach ihm nicht benennen, es sei denn in negativen Beschreibungen oder in symbolischer Bildsprache.32 Hingegen sind Aussagen zu Gottes Wirken durchaus möglich. „Daraus folgt das Ziel der Abhandlung: Da Gottes Wesen unerkennbar ist, und da ferner die symbolischen Bilder über Gottes Wesen in dem Traktat Symbolische Theologie Behandlung finden (597 B), wird sich die Darstellung auf die in der Heiligen Schrift geoffenbarten intelligiblen Namen zu Gottes Wirken beschränken".33 Die Erwähnung der unio mystica, auf die es mir in diesem Zusammenhang ankommt, befindet sich im zweiten Kapitel, in dem die Güte Gottes im Spiegel der Dreifaltigkeit und der „göttlichen Einung" erörtert wird. Weiterhin wird der Begriff der Teilhabe an Gott in seinen verschiedenen Aspekten entfaltet, wobei grundsätzlich die Gnade der Partizipation trinitarisch grundgelegt wird. Die hypostatische Union die „Gottbildung Jesu" - ist als Offensichtlichstes der göttlichen Offenbarung gleichzeitig unaussprechlich. An seiner 'menschlichen Gotteswirksamkeit' haben Vater und Heiliger Geist keinen Anteil, und doch steht dahinter deren 'gütiger und menschenfreundlicher Wille' sowie „die ganze überragende und unaussprechliche göttliche Wirksamkeit".34 Dionysius bescheidet sich mit dieser Auskunft und verweist auf die Theologischen Grundlehren seines berühmten Lehrers Hierotheus,35 indem er auf dessen geistliche Informationsquellen verweist:

Hg. von Reinhart Staats. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse 3/134) Göttingen 1984, S. 116, 4.1, Z. 14f. In der Sammlung III (Pseudo-Macaire, CEuvres Spirituelles I. Hg. von Vincent Desprez. Paris 1980) fehlen solche Belege. 30

Ich bediene mich dankbar der neuesten deutschen Übersetzung: Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes. Eingeleitet, übers, und mit Anmerkungen versehen von Beate Regina Suchla. (Bibliothek der griechischen Literatur 26) Stuttgart 1988. Den Urtext siehe in der folgenden kritischen Ausgabe: Corpus Dionysiacum. Bd. 1: Pseudo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus. Hg. von Beate Regina Suchla. (Patristische Texte und Studien 33) Berlin 1990.

31

Beate Regina Suchla, „Einleitung". In: Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen (Anm. 30), S. 9.

32

Ebd., S. 9f.

33

Ebd., S. 10. Referiert nach Suchlas Einleitung, ebd., S. 1 lf.; Text in: Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes (Anm. 30), S. 34, Z. 31-40 (644C). Suchla (Anm. 31), S. 13. „Daß der Verweis auf den Lehrer Hierotheus und dessen Schriften samt ausfuhrlicher Zitate eine bloße literarische Fiktion darstellt, ist Opinio communis, die

34

35

Gottes

8

Alois Μ. Haas Dieses aber [die gleichzeitig christologische und trinitarische Deutung der Sendung Jesu] wird sowohl von uns andernorts hinreichend erläutert als auch von unserem berühmten Lehrer in seinen Theologischen Grundlehren ganz außerordentlich gepriesen, was jener entweder von den geheiligten biblischen Schriftstellern gelernt oder auch infolge kundiger Erforschung der Heiligen Schrift nach vieler Beschäftigung mit ihr und Übung erkannt oder letztlich auf Grund irgendeiner göttlicheren Inspiration mystisch erfaßt hat, indem er das Göttliche nicht nur lernte, sondern auch erlitt und durch die, wenn man so sagen darf, Verbundenheit mit diesem zur nicht mitteilbaren und mystischen Einung mit diesem und zur Treue vollendet wurde. 3 6

Die Stelle ist insofern von kapitaler Bedeutung, als sie - im Rückgriff auf einen klassischen Topos, 37 in dem die Partizipien mathon/pathon (lernend/erleidend, erfahrend) als Gegensatzpaar kombiniert werden - zwei Wahrnehmungsweisen suggeriert, eine aus dem Studium der Heiligen Schrift und eine zweite „durch Erfahrung über Gott".38 Man wird aber mit Louis Bouyer synthetisch interpretieren müssen und sagen dürfen, daß der Verfasser einen anderen Gegensatz aufstellt: „den zwischen einem rein buchstabenmäßigen Verständnis der Schriften und einem auch in sich selbst inspirierten Verständnis, wo man ebenfalls 'aufnimmt', wo einem aber Erfahrung geschenkt wird und wo eine tiefe 'Sympathie' zu 'einem Einswerden und einem mystischen Glauben' führt, 'die nicht lehrbar sind'." 39 Die Figur des Lehrers Hierotheus (die vor allem in den Kapiteln 2 - 4 in den Göttlichen Namen auftaucht) ist wohl nicht mit einer historischen Gestalt identifizierbar, auch wenn dahinter ein nur schlecht abgeschirmter neuplatonischer Lehrer und Autor - eventuell Proklus, der in der Tat ein Werk mit dem Titel Elemente der Theologie40 herausgegeben hat - gesehen werden

36

37

38 39 40

sich neben fehlenden Zeugnissen der Überlieferung vor allem mit Hilfe der Stilkritik und lexikalisch erhärten läßt" (ebd., S. 111, Anm. 61). Vgl. unten Anm. 40-42. Ebd., S. 36, Z. 12-21; griechischer Text in Corpus Dionysiacum, Bd. 1 (Anm. 30), S. 133, Z. 13 - S. 134, Z. 4 (= PG 3, 648 Α-B). Die lateinische Übersetzung siehe unten Anm. 67. Vgl. dazu die bei Alois M. Haas, Gott Leiden Gott Lieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter. Frankfurt/M. 1989, S. 347 Anm. 24, S. 468 Anm. 63, angegebene Literatur. Vgl. dazu Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes (Anm. 30), S. 111 Anm. 61; Jean Pepin, De laphilosophie ancienne a la theologiepatristique. London 1986, Bd. 2, S. 134f. Bouyer bei Sudbrack (Anm. 10), S. 70. Ebd. Hinweis von Paul Rorem, Pseudo-Dionysius. A Commentary on the Texts and an Introduction to Their Influence. New York 1993, S. 142f., und Bouyer (Anm. 11), S. 643. Für die Wichtigkeit von Proklos im Werk des Dionysius vgl. Werner Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt/M. 1985, S. 211-216; die Einleitung zu: Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie. Eingeleitet, übers, und mit Anmerkungen versehen von Günther Heil. (Bibliothek der griechischen Literatur 22) Stuttgart 1986, S. 19-21; PseudoDionysius Areopagita, Über die mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übers, und versehen mit Anmerkungen von Adolf Martin Ritter. Stuttgart 1994, Register s.v. Der Theologische Elementarkurs des Proklus ist herausgegeben von Erec Robertson Dodds: Proclus, The Elements of Theology. A Revised Text with Translation, Introduction and Commentary. Ox-

'Unio

mystica'

9

kann.41 Aber da sich Dionysius selber als der vom Apostel Paulus42 bekehrte erste Bischof von Athen (vgl. Apg 17,34) versteht und er seine Schrift Über die göttlichen Namen an Timotheus aus Lystra in Kleinasien richtet, der vom Apostel Paulus bekehrt und als Bischof von Ephesus eingesetzt wurde, muß er auch seinen Lehrer Hierotheus in paulinischen Kontext setzen (649D, 865B), 43 derart, daß sowohl Dionysius wie Timotheus als Schüler des Hierotheus gelten. Paul Rorem hat darauf hingewiesen, daß der eben zitierte Text - wie schon andere Stellen, die vorangehen (64ΙΑ, 645B) - sich zwar einer neuplatonischen Begrifflichkeit bedient, diese aber bedeutsam uminterpretiert.44 Insbesondere betrifft dieser Sachverhalt den Terminus 'sympatheia'. The term sympathy had a technical history in Stoic cosmology and Neoplatonic ritual; it was used to summarize the intimate relationships of all things, including material objects used to worship the immaterial. Here, Hierotheus has sympathy for the divine things and thus he not only learns and experiences or suffers the divine. The Greek pun on the words learn and experience {mathon and pathori) stems from Aristotle's comment on the rituals of the mystery religions, although John of Scythopolis explains it purely in terms of Jesus' learning trough suffering (Hebrews 5:8; Scholia [PG 4] 228B). It is echoed again in the next chapter, where Hierotheus's special experience of divine things is given a eucharistic flavor. There Hierotheus is described as 'experiencing communion with the things praised' (68ID), which will

41 42

43

44

ford 1933. Zur Mystik Proklus' vgl. Jean Trouillard, L'Un et l'äme selon Proclus. Paris 1972; ders., La mystagogie de Proclus. Paris 1982. Zum Verhältnis zwischen Proklos und Dionysius vgl. die frühen Arbeiten von Hugo Koch, Pseudo-Dionysius Areopagita in seinen Beziehungen zum Neuplatonismus und Mysterienwesen. Eine litterar-historische Untersuchung. (Forschungen zur Christlichen Litteratur- und Dogmengeschichte 1, Heft 2 und 3) Mainz 1900, und Josef Stiglmayr, „Das Aufkommen der pseudo-dionysischen Schriften und ihr Eindringen in die christliche Literatur bis zum Laterankonzil 649". In: Jahresbericht des öffentlichen Privatgymnasiums an der Stella Matutina zu Feldkirch (1894-95), S. 3 - 9 6 ; jetzt: Henri D. Saffrey, Recherches sur le Neoplatonisme apres Plotin. (Histoire des Doctrines de l'Antiquite Classique 14) Paris 1990, S. 227-248; Endre von Ivänka, Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Piatonismus durch die Väter. Einsiedeln 2 1990, S. 2 6 2 289; eine rabiate Stellung nimmt Bernhard Brons ein (Gott und die Seienden. Untersuchungen zum Verhältnis von neuplatonischer Metaphysik und christlicher Tradition bei Dionysius Areopagita. Göttingen 1976): Dionysius sei Beispiel dafür, „wie leicht soteriologisches Interesse [...] in die geringfügig modifizierende Übernahme einer gerade gängigen Weltanschauung umschlagen kann" (ebd., S. 329). Vgl. aber auch McGinn (Anm. 21), Bd. 1, S. 9 6 102 und 249-251, und Michel Dupuy, „Union ä Dieu". In: Dictionnaire de Spiritualite 16 (1994), Sp. 40-61. Rorem (Anm. 40), S. 143. Zum paulinischen Kontext des Corpus dionysiacum vgl. Suchlas diverse Hinweise in: Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes (Anm. 30), S. 13, S. 104 Anm. 1 und S. 112 Anm. 67 und 71. Dazu Ritter (Anm. 40), S. 2, 24, 33 und 52. Da sämtliche, hier zitierten Ausgaben die Spaltenzählung der Patrologia Graeca, Band 3, mitangeben, genügt bisweilen ein schlichter Hinweis auf Spalte und Abschnitt. Der Hinweis hier findet sich bei Rorem (Anm. 40), S. 143. Rorem (Anm. 40), S. 142f.

Alois Μ. Haas

10

raise the question of the relationship between Christian worship an some terms usually associated with the rites of other traditions. 45 D i e mit ' S y n e r g i e ' semantisch identifizierbare ' S y m p a t h i e ' 4 6 - i m Mittelalter wird d i e s D i o n y s i u s immer wieder als pati

divina

nachgesprochen 4 7 - findet ih-

ren ekstatischen Höhepunkt in der 'nicht mitteilbaren und m y s t i s c h e n Einung', die gleichzeitig vollendete Treue und Glauben ist. D i e „inhaltliche Näherbestimmung der Ekstase" 4 8 wird dabei i m H i n w e i s auf deren 'mystischen' Charakter vermieden, w a s keinesfalls aus d e m R a h m e n üblicher mystischer Sprache herausfällt. 4 9 D i e Erfahrung der Einheit mit Gott ist eine i m m e r tiefere Hineinführung in das Mysterium

Gottes. Der Geheimnischarakter des Erfahrenen ist

also nicht etwas, das in der Ekstase s c h w i n d e n würde, sondern etwas, das sich darin steigert. N i c h t aufhebbare Gradmesser bleiben für die Erfahrung bei D i o n y s i u s i m m e r die biblischen und liturgischen Voraussetzungen. 5 0 versichert es u n s selbst in der Kirchlichen

Hierarchie:

Dionysius

D i e Eucharistie ist

eine Einheit eigener Art, Gemeinschaft und Versammlung genannt [...]. Denn jede geheiligte Weihehandlung versammelt unsere individuellen Einzelleben zur Einheitlichkeit in der Gottwerdung und schenkt durch gottgemäße Zusammenfassung des Getrennten die Gemeinschaft und Einswerdung mit dem Einen (424C). 51 Es ist mit aller Deutlichkeit gerade an d i e s e m Text faßbar, w i e sehr D i o n y s i u s ' Sprache christlich durchformt ist. Der besonders Plotin teure Ausdruck

'Henösis'

(= Einigung, Einung) erfährt hier eine christliche Einfärbung:

45

46

47

48 49 50

51

Ebd., S. 143; Paul Rorem, Biblical and Liturgical Symbols within the Pseudo-Dionysian Synthesis. (Studies and Texts 71) Toronto 1984, S. 184. Christoph Riedweg, Mysterienterminologie bei Piaton, Philon und Klemens von Alexandrien. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 26) Berlin 1987, verzeichnet 'Sympathie' nicht. Vgl. dagegen Rene Roques, Structures theologiques. De la Gnose ä Richard de Saint-Victor. (Bibliotheque de l'Ecole des Hautes Etudes. Section des sciences religieuses 72) Paris 1962, S. 162 (in unserem Text ist eine passive 'Sympathie' anvisiert, die gleichzeitig 'Synergie' ist); Edouard Des Places, Syngeneia. La parente de l'homme avec Dieu d'Homere ä la patristique. (Etudes et commentaires 51) Paris 1964, S. 146-149 (Posidonius), 166f., 186f., 191f. (Origenes) und 201 f. (Gregor von Nyssa). Roques (Anm. 45), S. 162; Des Places (Anm. 45), S. 174. Vgl. auch Rene Roques, L' univers dionysien. Structure hiirarchique du monde selon Pseudo-Denis, Paris 2 1983, S. 49 Anm. 2, S. 51, S. 58 Anm. 4 und S. 130 Anm. 3. Walther Völker, Kontemplation und Ekstase bei Pseudo-Dionysius Areopagita. Wiesbaden 1958, S. 206 Anm. 2. Derselbe Autor verweist mit Nachdruck auf den „Akt reiner Gnade", der sich im pati divina bezeugt (ebd., S. 199). Ebd., S.206f. Ebd., S. 206. Bouyer (Anm. 11), S. 643-647; Rorem, Biblical and Liturgical Symbols (Anm. 45), S. 1146. Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die kirchliche Hierarchie (Anm. 40), III A, S. 109.

'Unio mystica'

11

Plotin sprach von 'göttlich werden' oder genauer von 'göttlich sein' durch die henösis (ohne diese näher zu bestimmen), das heißt von einer einfachen Einigung unseres Seins, das sich so in die ursprüngliche Einmaligkeit und Einheit auflöst, indem es dorthin zurückkehrt. Für Dionysius dagegen bedeutet henösis niemals einfach die subjektive Einigung, sondern die Vereinigung mit jenem transzendenten Gegenstand, der der eine Gott ist [...], eine Vereinigung, die nicht Verschmelzung, sondern Gemeinschaft ist. 52

Einigung hat für Dionysius mithin einen prononciert sakramentalen Aspekt (neben dem liturgisch-biblischen). Das zeigt sich besonders schön dort, wo er vom Oberhirten, der als erster an den Mysterien teilnimmt, ein Idealbild entwirft: Anteil nehmend an der Gemeinschaft, die von Gott ausgeht, gibt er der Gemeinde selber Anteil durch die 'geheimnisträchtige (= mystische) Austeilung'. 53 Damit - Bild für den Vorgang ist die sich verstrahlende Sonne! - ist dem Bischof eine mystische Einheit mit Gott abverlangt, der exemplarischer Charakter zukommt: So darf man auch im ganzen Bereich des Göttlichen nicht wagen, andere zu führen, wenn man nicht in seinem ganzen Verhalten ganz gottähnlich geworden und durch göttliche Inspiration und Gottesurteil als Ordnungsstifter erwiesen worden ist. 54

Wenn in der Einleitung zur Mystischen Theologie (1,1; 997A-1000A) Dionysius die göttliche Dreifaltigkeit anruft, dann stehen sowohl die 'mystischen Worte' der Heiligen Schrift wie die Erfahrungsmöglichkeiten dessen, der sie als Theologe liest, an einem „hoch über alles Nichtwissen wie über alles Lichte hinaus"liegenden55 Orte: Dort liegen ja der Gotteskunde Mysterien in überlichtem Dunkel geheimnisvoll verhüllten Schweigens verborgen: einfach, absolut und unwandelbar. Inmitten undurchdringlichen Dunkels übertreffen sie (noch) an Glanz, was (bereits) größere Leuchtkraft besitzt als alles Übrige; inmitten des gänzlich Unbegreifbaren und Unsichtbaren machen sie die (dafür) blinden Geister jenes Glanzes übervoll, der an Schönheit alles in den Schatten stellt. 56

Und dann kommt die Einladung an Timotheus, sich mit diesem Geheimnis Gottes zu vereinen: Du aber, lieber Timotheus, laß nicht ab, Dich den geheimnisvollen Betrachtungen hinzugeben. Den Sinneswahrnehmungen gib (auf diese Weise) ebenso den Abschied wie den Regungen Deines Verstandes; was die Sinne empfinden, dem (entsage) ebenso wie dem, was das 52

53

54 55 56

Bouyer (Anm. 11), S. 646; zu Plotins Einem vgl. Beierwaltes (Anm. 40), S. 194-201; Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Piaton und Plotin. (Beiträge zur Altertumskunde 9) Stuttgart 1992, S. 34-182. Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die kirchliche Hierarchie (Anm. 40), III 10, S. 122 (445A). Ebd. (445B). Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die mystische Theologie (Anm. 40), S. 74 (997A). Ebd. (997A-B).

12

Alois Μ. Haas Denken erfaßt, dem Nichtseienden ebenso wie dem Seienden. Statt dessen spanne dich auf nicht-erkenntnismäßigem Wege, soweit es irgend möglich ist, zur Einung mit demjenigen hinauf, der alles Sein und Erkennen übersteigt. Denn nur wenn Du Dich bedingungslos und uneingeschränkt Deiner selbst wie aller Dinge entäußerst, wirst Du in Reinheit zum überseienden Strahl des göttlichen Dunkels emporgetragen, alles loslassend und von allem losgelöst. 57

Wie nirgendwo wird an dieser Stelle deutlich, daß das Corpus dionysiacum eine 'Mystagogie' 58 ist, das heißt Betrachtung und Beschauung eines Mysteriums, das sich bis in den christlichen Kult hinein als das Entscheidende erweist. Das GottGeheimnis, das den objektiven Inhalt des christlichen Mysteriums als Inkarnation ausmacht, verlangt mehr als eine bloß distanzierte Wahrnehmung, nämlich Einung. In der Mystischen Theologie gibt es nur diesen einen Beleg für 'Hertösis', während es in den Göttlichen Namen deren 48 und in den beiden Hierarchien deren 12 gibt.59 Es ist angezeigt, diesen Befund so zu deuten, daß die Einung sich zwar als Begleitphänomen auf allen Stufen der hierarchisch geordneten 'Analogie' wahrnehmen läßt. „Von dieser Einigung in der Hierarchie [aber] unterscheidet sich die Henosis der Mth [.Mystischen Theologie], die man die mystische nennen darf. Sie vollzieht sich plötzlich, entreißt den Gläubigen allen menschlichen Bedingungen, ist ein transintellektueller Akt." 60

IV Es stellt sich schließlich noch die Frage, wie der Begriff der imystike henosis' (Über die göttlichen Namen 11,9; 648B) - der zu ergänzen ist mit dem der Uheia henosis', die die Voraussetzung jener ist - in die mittelalterliche lateinische Sprache als 'unio mystica' übergegangen ist. Tatsächlich beginnt die „Karriere dieses Wortes" 61 bei Dionysius, und über Übersetzungen gelangt es als 'unio mystica' in die lateinische Sprache des Mittelalters. Dabei gilt es zu unterschei-

57

Ebd. (997B-1000A).

58

Vgl. dazu Alexander G. Golitzin, Mystagogy: Dinoysius Areopagita and His Christian Predecessors. Diss. Oxford 1980, bes. S. 2ff. Schon Joannes Vanneste, Le mystere de Dieu. Essai sur la structure rationnelle de la doctrine mystique du Pseudo-Denys l'Areopagite. Brüssel 1959, streicht den Geheimnischarakter Gottes angemessen heraus, versteht den dionysischen Entwurf allerdings als (heidnische) Philosophie. Vgl. auch Ysabel de Andia, „Philosophie et union mystique chez le Pseudo-Denys l'Areopagite." In: „Chercheurs de Sagesse". Hommage ä Jean Pepin. Hg. von Marie-Odile Goulet-Cazi. (Collection des etudes augustiniennes. Serie antiquite 131) Paris 1992, S. 511-531.

59

Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts. München 1990, S. 63 (mit Verweis auf Vanneste [Anm. 58], S. 183-200).

60

Ruh (Anm. 59), S. 63.

61

McGinn (Anm. 21), Bd. 1, S. 253.

'Unio

mystica'

13

den. Die lateinischen Übersetzungen der Göttlichen Namen übersetzen 'mystike kinesis' auf verschiedene Weise. Hilduin (um 832) übersetzt mit 'mystica coadunatio\ Johannes Scotus (9. Jh.) mit 'mystica unitas',62 Johannes Sarrazenus (um 1167) mit 'mystica unitio\ erst Robert Grosseteste übersetzt (1240-1243) mit 'mystica unio\ eine Übersetzung, der sich Ambrosio Traversari (1436) und B. Dordier (1634) anschließen, während Marsilio Ficino mit 'secreta unio'' (1492), Joachim Perion mit 'mystica conjunctio' (um 1536) und P. Lanssel mit 'mystica conjunctio' (1615) übersetzen. Die entscheidende Übersetzung ist sicher jene von Robert Grosseteste, dem Bischof von Lincoln, der von circa 1175 bis 1253 lebte.63 Dieser oft als Extremist und Exzentriker verschriene Autor und Universalgelehrte übersetzte in den Jahren 1240-1243 das Corpus dionysiacum (mit Ausnahme der Briefe) vollständig, gleichzeitig kommentierte er auch seine Übersetzungen. Dabei hielt er sich an die schon vorhandenen Übersetzungen, insbesondere an Johannes Scotus und an Johannes Sarrazenus. Wenn auch wenig elegant, ist seine de verbo in verbumM erfolgende Übersetzung der dionysischen Schriften doch von hoher Genauigkeit und stellt eine beachtliche philologische Leistung dar. Leider ist sein Kommentar zu den Göttlichen Namen noch nicht publiziert,65 so daß wir über die in seinem Kommentar allenfalls enthaltenen Bemerkungen zu seiner Übersetzung nicht verfügen. Immerhin wissen wir, daß er von einer Übersetzung Authentizität verlangte, nämlich mens autoris et venustas sermonis.66 Er respektiert also aufs genaueste die Nuancen des Textes, was sich auch in unserem Fall - wenn er henösis mystike mit unio mystica übersetzt - bezeugen läßt. Unsere Stelle übersetzt Grosseteste folgendermaßen:

62

63

McGinn (Anm. 21), Bd. 2, S. 185f., weist daraufhin, daß Eriugena den Terminus technicus 'unio mystica' noch nicht gebrauche. Zu ihm vgl. Hyacinthe-F. Dondaine, Le Corpus dionysien de l'universite de Paris au XWe siecle. Rom 1953, S. 32-34 und öfter; Servus de Saint-Anthonis, „Robert Grosseteste". In: Dictionnaire de Spiritualite 3 (1957), Sp. 340-343; Richard W. Southern, Robert Grosseteste. The Growth of an English Mind in Medieval Europe. Oxford 1986, S. 200-203; James McEvoy, The Philosophy of Robert Grosseteste. Oxford 1986, S. 68-123; Kurt Ruh, „Die 'Mystica Theologia' des Dionysius Pseudo-Areopagita im Lichte mittelalterlicher Kommentatoren". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 127— 145, bes. S. 133f. Die ältere Literatur zum Übersetzungswerk des Bischofs von Lincoln ist bei McEvoy ausführlich verzeichnet (etwa die Arbeiten von Ezio Franceschini [ebd., S. 532f.]). Für den weiten Horizont der Dionysius-Nachfolge im Mittelalter vgl. Barbara Faes de Mottoni, 11 'Corpus Dionysiacum' nel Medioevo. Rassegna di Studi: 1900-1972. II Mulino 1977; Rorem (Anm. 40).

64

Zitiert bei McEvoy (Anm. 63), S. 81 Anm. 37, vgl. bes. S. 6 9 - 8 9 die vielen klugen Bemerkungen von Grosseteste selbst zu seiner Übersetzungstechnik.

65

Kleine Ausschnitte finden sich bei Saint-Anthonis (Anm. 63). Zitiert bei Dondaine (Anm. 63), S. 32.

66

14

Alois Μ. Haas Haec autem et nobis in aliis sufficienter dicta sunt, et inclyto duce secundum theologicas ipsius elementationes laudantur valde supernaturaliter; quae ille, sive a sanctis theologis assumpsit, sive et ex scientiflca eloquiorum perscrutatione conspexit ex multa circa ipsa et exercitatione et luctatione, sive et ex aliqua edoctus est diviniore inspiratione, non solum discern sed et patiens divina, et ex ea quae ad ipsa compassione (si sie oportet dicere) ad indocibilem ipsorum et my s t i c am perfectus uni ο η em et fldem,67

Wenn nach einer Bemerkung von Kurt Ruh Grosseteste Dionysius' Mystische Theologie „nicht ausdrücklich als Darstellung vertiefter Gotteserkenntnis von den übrigen Dionysischen Schriften abgehoben" hat, 68 dann ist das ein Indiz für eine mögliche Wahrnehmung mystischer Intentionen auch in den andern Übersetzungen und Kommentaren dionysischer Texte.69 Und in der Tat möchte ich die eben zitierte Dionysius-Stelle in dieser Richtung interpretieren. Der Begriff 'unio mystica' ist gegenüber 'coadunatio\ 'unitas' und 'conjunctio' zutreffender,70 stringenter und handhabbarer. Es verwundert nicht, daß er sich im 16. und 17. Jahrhundert als Terminus technicus der mystischen Einung durchgesetzt hat. Robert Grosseteste muß sich in seinem Alter mystischen Fragen im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Dionysius weit geöffnet haben. 71 Von Haus aus war er Augustinist, bezeugte aber gerade in seiner weitausgreifenden Beschäftigung mit Dionysius eine geistige Offenheit, die in den religiöstheologischen Überlieferungen der Griechen eine willkommene Ergänzung des abendländischen Denkens erblickte. Neben einer Reihe von Problemkreisen (Metaphysik des Lichts, Analogielehre, Hierarchien etc.), die durch seine dionysische Neuorientierung im Alter befruchtet wurden, war es vor allem die Frage nach der Schau Gottes, die ihn und seine Zeitgenossen beschäftigte. Zusammen mit den Abendländern, die in dieser Frage mit Augustinus zusammengingen, hielt Grosseteste an der Möglichkeit einer unmittelbaren Schau Gottes in sich selbst fest (auch wenn natürlich eine Beeinträchtigung durch die Erbsünde denkbar blieb).72 Weisheit besteht in dieser potentia seu virtus des Menschen zur Schau. Trotz dieser eindrücklich augustinischen Haltung macht sich anläßlich

67

Zitiert nach Dionysiaca. Facsimile-Neudruck der zweibändigen Ausgabe Brügge 1937 in vier Bänden. Hg. von Ph. Chevalier. Mit einem Nachwort von Martin Bauer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, hier Bd. 1, S. 103-105. Den Hinweis auf den griechischen Urtext siehe oben Anm. 36.

68

Ruh (Anm. 63), S. 133f. Vgl. Saint-Anthonis (Anm. 63). Daß der Begriff'unio' zutreffender ist, liegt an seiner Prägnanz, die semantisch nichts anderes - und vor allem ohne abschwächende Unter- oder Obertöne - als 'Einung' bedeutet. Welcher Metaphern und Umschreibungen der mystische Einheitsgedanke fähig ist, ist erkenntlich bei Kurt Berger, Die Ausdrücke der Unio mystica im Mittelhochdeutschen. Berlin 1935 (Nachdruck Nendeln 1967).

69 70

71

Das folgende weitgehend nach Saint-Anthonis (Anm. 63). Dazu McEvoy (Anm. 63).

72

Saint-Anthonis (Anm. 63), Sp. 342.

'Unio

15

mystica'

von den Göttlichen Namen 7 dionysischer Einfluß bemerkbar, wenn er in seinem Kommentar behauptet: potentia transcendendi operationes omnium virium apprehensivarum et fieri in supereminentia, in ignorantia omnium, secundum se impotens superius apponere et agere in divinum radium, sed solum potens suscipere ab ipso quod dignatur largiri,73

Das Vermögen, Gott zu erkennen, besteht also nicht in einem Handeln, sondern in einem Empfangen. Und die Wahrnehmung Gottes ist für Grosseteste wie bei Dionysius über-intellektuell: [...] Et est rursus divinissima Dei cognitio cognita id est adepta per ignorantiam secundum earn unionem quae est super intellectum. Cum enim transcenderit mens operationes intellectuales et facta sit in omnium ignorantia, suscipiens divinum radium, ei unitur et est haec evidentissima nobis possibilis Dei cognitio. Et potentia ascendendi in hanc ignorantiam est in nobis virtus suprema, quam et supra innominavimus virtutem sapientiae?4

Servus de Saint-Anthonis, der aus dem unveröffentlichten Kommentar zu den Göttlichen Namen ausführlich zitiert, umschreibt Grossetestes Beitrag zur Geschichte der Mystik folgendermaßen: Dans son dernier commentaire sur M T Robert se pönetre ä fond de l'esprit de l'Areopagite et son intelligence saine et profonde resout les difficult« que sans aucun doute Denys prisentait ä la tradition augustinienne. Le difficile traiti de Denys sur l'union mystique de 1'äme avec Dieu retrouve dans ce commentaire de Robert l'orthodoxie qui lui est due, sans que l'intention de l'auteur soit faussee par Γ interpretation du lincolnien. II faut remarquer que l'element affectif de desir et d'amour est mis en valeur par Robert: Per superfervidum itaque amorem absorbentem omnes alios actus et in solum Deum tendentem unitur mens Deo in hac caligine?5 per ipsius solius forte desiderium et amorem superfervidum, quae nulli rationativa investigatione potest esse cognita.16 II faut accorder aussi la plus haute importance ä l'affirmation repetee de Robert, selon laquelle cette union n'est pas du cote de l'homme un agir actif mais un recevoir passif. Nous subissons (patimur) Taction divine et nous sommes seulement remplis (implemur) de la lumiere divine, mais neanmoins ce supreme etat de l'äme que realise precisement la vertu de sagesse, est la fin pour laquelle l'homme a ete cree: Maxime autem et excellentissime speculativarum quae est sapientia,

73 74

75

76

dicitur homo, qui vivit secundum supremam id est ipsius divinitatis cognitio, et inter viventes

virtutum secund-

Ms. Vat. Chigi A. v. 1129, fol. 357 v b; zitiert bei Saint-Anthonis (Anm. 63), Sp. 342. Ebd., fol. 358 r b; zitiert bei Saint-Anthonis (Anm. 63), Sp. 342. Zum ganzen Zusammenhang vgl. Hyacinthe-F. Dondaine, „L'objet et le Medium de la vision beatifique chez les theologiens du 13e siecle". In: Recherches de Theologie Ancienne et Medievale 19 (1952), S. 60-130. II Commento di Roberto Grossatesta al 'De Mystica Theologia' del Pseudo-Dionigi Areopagita. Hg. von Ulderico Gamba. (Orbis Romanus) Mailand 1942, S. 40. Ebd., S. 26f.

16

Alois Μ. Haas um hanc virtutem ille est summe homo, qui, palam, non per enigmata et figuras sed immediate contemplatur divinitatem. Hic namque est in actu et fine propter quem conditus est Homo. ll

Mit diesem Einbezug des Dionysius in augustinisches Denken wird in der Geschichte der christlichen Mystik die Ausgestaltung der christlichen Einigungskonzeption wesentlich erweitert: Als möglich gedacht, wird die unmittelbare Schau Gottes gleichzeitig in ihrer Unmöglichkeit der reproduzierenden Beschreibung vorgestellt. Sie ist kein Ergebnis der menschlichen (intellektuellen) Kräfte; sie wird passiv und über-intellektuell erfahren. Sie ist Erfahrung in NichtErfahrung. Dieses Paradox wird über den kleinen Begriff iunio mystica' vermittelt werden. 78 Die Geschichte und produktive Wirksamkeit des Begriffs beginnt eigentlich erst jetzt im 13. Jahrhundert. Ich meine sogar, daß - bis zur festen Etablierung des Begriffs im 15., 16. und 17. Jahrhundert 79 - der Begriff 'unio mystica'' eher verschwindet; weil der die mystische Überlieferung tragende Text vorerst die Mystische Theologie sein wird.80 Ich möchte aber vermuten, daß die noch unpublizierten Kommentare zur dionysischen Schrift Über die Göttlichen Namen manche Überraschungen bereithalten. Im 16. Jahrhundert, da die Mystik als eine Wissenschaft eigenen Rechts ausgeformt wird, wird der Begriff seine große Chance haben, 81 zunächst in der katholischen Mystik, dann (seit dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts) auch als Lehrstück in der altprotestantischen Or-

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78

79

Comment, in De coel. hier. 4; ms. Vat. Chigi A. v. 129, fol. 225'b; zitiert bei Saint-Anthonis (Anm. 63), Sp. 343. Dort auch die gesamte Stelle. Natürlich ist das Paradox inhaltlich und nicht formal im Begriff selber sichtbar. ' Unio mystica' faßt - in sich widersprüchlich und doch vereinend - augustinisch optimistische und dionysisch negative Gottesauffassungen in sich zusammen. Interessant ist, daß es gerade nicht das Genre der 'Theologia mystica' ist, das den Begriff 'unio mystica' weiterträgt, sondern andere, noch zu ermittelnde Zusammenhänge. Sicher wird dabei Dionysius Carthusianus eine bedeutsame Rolle zufallen. Ludovicus Blosius (1506-1566) gebraucht jedenfalls den Begriff 'unio mystica'' schon recht selbstverständlich. Vgl. Ludovicus Blosius, Manuale Vitae spiritualis. Freiburg 1907, S. 266ff. Zum Autor vgl. Lambert (Henri) Vos, Louis de Blois, Abbe de Liessies (1506-1566), Recherches bibliographiques sur son oeuvre. (Publications de PEncyclopedie benedictine 1) Brepols 1992.

80

Wie kein anderer Begriff und kein anderes literarisches Genre bedürfte die 'Theologia Mystica' einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung und zwar bis weit in die spanische Mystik des 16. und 17. Jahrhunderts hinein. Aber auch die Bereiche der Naturmystik und Alchimie wären dabei nicht auszuschließen, da, wie ich festzustellen die Gelegenheit hatte, der Titel auch für Werke aus diesem Bereich seine Gültigkeit bekam.

81

Vgl. dazu die Werke von Michel de Certeau, zitiert bei Alois M. Haas, Geistliches Mittelalter. (Dokimion 8) Freiburg/Schw. 1984, siehe Register s.v.; ders. (Anm. 37), Register s.v.; ders., Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik. Frankfurt/M. 1996, Register s.v.

'Unio mystica'

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thodoxie.82 Diese Linien auszuzeichnen aber bleibt einer späteren Arbeit vorbehalten. Vorerst mag der Schritt vom 6. Jahrhundert des Dionysius zum Mittelalter des 13. Jahrhunderts genügen. Der Begriff'unio mystica' erweist sich in dieser Perspektive als ein wichtiges Vehikel der morgen- und abendländischen Memoria.

82

W. Kope, „Wurzel und Ursprung der orthodoxen Lehre von der Unio mystica". In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 29 (1921), S. 46-71 und 139-171; Otto Ritsehl, „Das Theologumenon von der Unio Mystica". In: Festgabe von Fachgenossen und Freunden A. von Harnack zum siebzigsten Geburtstag dargebracht. Tübingen 1921, S. 335-352; Erich Vogelsang, „Die Unio mystica bei Luther". In: Archiv für Reformationsgeschichte 35 (1938), S. 63-80.

C. Stephen Jaeger (Seattle) Liebe im Unterricht - Liebe als Unterricht Hof und Kathedralschule in der Entstehung der 'Höfischen Liebe'

Verschiedene Aspekte des hohen Mittelalters, die wir nicht oder nur dunkel verstehen, ließen sich erhellen, wenn man das 11. Jahrhundert näher betrachtet. Wir wissen wenig über die weltliche Kultur dieser Epoche. Die germanistischen Handbücher bieten für das 11. Jahrhundert die Stichwörter Kirchenreform und Investiturstreit, Cluny, Gorze und Hirsau, Weltabkehrstimmung, Askese, memenfo-mon'-Gedanke. Die Einseitigkeit der Perspektivierung ist klar: Die Forschung orientiert sich an Reichsgeschichte, Kirchengeschichte und an den deutschsprachigen Texten im Dienste der Reformbewegung. Diese Einengung der Sicht wäre wohl den Kirchenreformern und Cluniazensern selbst aufgefallen, denn sie schließt den Teil der Kultur aus, den es für sie zu reformieren galt: die weltlichen Höfe, die Kathedralgemeinschaften und die nicht reformierten monastischen Gemeinschaften. In diesen Zentren und in ihrer Kultur sind die Anfänge humanistischer Kathedralschulen in Deutschland und Frankreich zu suchen.1 Die brillanten poetisch-philosophischen Werke der französischen Schulen, die zur sogenannten „Renaissance des 12. Jahrhunderts" gehören, beruhen auf einer Institution und einem Bildungsprogramm, das 150-200 Jahre früher ansetzt.2 In Kathedralen und am Kaiserhof bildeten sich die gehobenen Verhaltensformen aus, die gegen Ende des 11. Jahrhunderts mit dem Wort 'curialitas', das heißt Höfischheit, Courtoisie, bezeichnet wurden. 3 Diese Formen haben sich in Siehe C. Stephen Jaeger, The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950-1200. Philadelphia 1994. Richard William Southerns Modell eines zweistufigen mittelalterlichen Humanismus, der in der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts begann und in der Mitte des 13. in der Hochscholastik gipfelte, ist unter anderem deshalb anfechtbar, weil es den Humanismus von Hugo von St. Viktor, Bernard und Thierry von Chartres, John of Salisbury und anderen nicht als das letzte Florieren eines aussterbenden Bildungssystems und den deutlichen Bruch zwischen Kathedralschule und Universität, Humanismus und Scholastik, erkennt. Siehe jetzt Richard William Southern, Scholastic Humanism and the Unification of Europe. Bd. 1: Foundations. Oxford - Cambridge/MA 1995. Siehe die Forschungsübersicht bei Joachim Bumke, „Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 114 (1992), S. 414-492. Vgl. femer Bumkes grundlegendes Werk, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im Mittelalter. 2 Bde. München 1986; verschiedene Aufsätze in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hg. von Josef Fleckenstein.

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aller Deutlichkeit im lateinischen Ruodlieb-Epos niedergeschlagen. 4 Dieses einmalige Werk zeigt ausgeprägte höfische Umgangsformen, eine erste Darstellung eines verfeinerten Liebesbegriffs und eine hoch zivilisierte Hofkultur. Es scheint ohne Kontext entstanden zu sein und gilt daher als vorausweisend auf die spätere volkssprachliche höfische Literatur, als eine Vorform, als vor- oder frühhöfisch. Daß das Werk dem Lebensgefuhl einer blühenden Hofkultur des 11. Jahrhunderts entsprach, liegt nahe, aber es ist schwer zu beweisen. Wir wissen zu wenig über das 11. Jahrhundert. Zu den nicht oder nur dunkel verstandenen Aspekten des 12. und 13. Jahrhunderts gehören ganz besonders das Freundschafts- und Liebesideal. Die Forschung ist von zwei Quellensträngen ausgegangen, die in Isolation, nicht in ihrem Zusammenhang erforscht werden: die sogenannte höfische Liebe und die sogenannte monastische Freundschaft. Für das Verständnis dieser Phänomene, vielmehr dieses Phänomens in seinen verschiedenen Aspekten, wäre von ihren Anfängen und ersten Ausformungen her viel zu gewinnen. Das weist wiederum auf das 11. Jahrhundert.

I

Das Phänomen 'höfische Liebe' ist in den letzten Jahrzehnten auf eine breite und tiefe Skepsis in der Forschung gestoßen.5 Neuere amerikanische und deutsche Untersuchungen behaupten, daß sie ein ausschließlich literarisches Phänomen gewesen sei, dem keine gesellschaftliche Praxis entsprach.6 Für Rüdiger Schnell ist sie ein rein literarischer höfischer Diskurs über die Liebe.7 Für Joachim Bum-

(Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100) Göttingen 1990; Aldo D. Scaglione, Knights at Court. Courtliness, Chivalry, and Courtesy from Ottoman Germany to the Italian Renaissance. Berkeley - Oxford 1991; C. Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals, 939-1210. Philadelphia 1985. 4

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6

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Peter Dronke, „'Ruodlieb'. The Emergence of Romance". In: Ders., Poetic Individuality in the Middle Ages. New Departures in Poetry 1000-1150. Oxford 1970, S. 33-65. Vgl. Roger Boase, The Origin and Meaning of Courtly Love. A Critical Study of European Scholarship. Manchester - Totowa/NJ 1977; Ursula Liebertz-Grün, Zur Soziologie des „amour courtois". Umrisse der Forschung. (Euphorion. Beihefte 10) Heidelberg 1977; Ursula Peters, „Höfische Liebe. Ein Forschungsproblem der Mentalitätsgeschichte". In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Hg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett und William Henry Jackson. Tübingen 1987, S. 1-13. Dies die Tendenz verschiedener Beiträge in: The Meaning of Courtly Love. Papers of the first annual conference of the center for Medieval and Early Renaissance Studies, Binghamton 1967. Hg. von F.X. Newman. Albany/NY 1968, hier besonders: Durant W. Robertson, „The Concept of Courtly Love as an Impediment to the Understanding of Medieval Texts", S. 1 18, und John Benton, „Clio and Venus. An Historical View of Medieval Love", S. 19—42. Rüdiger Schnell, „Die 'höfische' Liebe als 'höfischer' Diskurs über die Liebe". In: Curialitas (Anm. 3), S. 231-301. Vgl. auch sein großes monographisches Werk: Causa amoris. Liebes-

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ke ist sie ein schöner Schein, der ein grausames Sexualverhalten des Feudaladels tarnt.8 So scheinen Schlußfolgerungen von der Liebesliteratur auf die Gesellschaft der Feudalaristokratie, die sie (das heißt die Literatur der höfischen Liebe) begeistert rezipierte, nicht möglich oder nur negativer Art (sie würden die Brutalität der Lebensverhältnisse und die Unmenschlichkeit der Sexualethik vertuschen und verschönern wollen). Und Bumke resümiert eine ganze Tradition der Erforschung der höfischen Liebe negativ: „Was höfische Liebe ist, scheint heute weniger sicher zu sein als vor hundert Jahren." 9 Die sogenannte 'monastische' oder 'geistliche Freundschaft' läßt sich in karolingischer Zeit am Kaiserhof, in Kloster- und Kathedralgemeinschaften nachweisen. In ottonischer und salischer Zeit ist der Freundschaftskult am häufigsten am Kaiserhof und in weltgeistlichen Gemeinschaften zu belegen. Dies ist eines der Ergebnisse der Forschungen von Brian Patrick McGuire. 10 Das adelige Freundschaftsideal als 'monastisch' zu bezeichnen wäre demnach eine unzulässige Einengung. Die Isolierung, in der die Mediävistik diese Traditionslinien gesehen hat, verdeckt eine ausgeprägte und hoch entwickelte Kultur der Liebe und Freundschaft im mittelalterlichen Adel, bei Laien wie Geistlichen. Sie war nicht nur eine abstrakte, aus der Antike überlieferte philosophische Idee, sondern ein gesellschaftlicher Code, der den Umgang des Adels bestimmte: Je mächtiger der Fürst, je höher der gesellschaftliche Rang, desto strenger.11 Diese Kultur der Liebe und Freundschaft beruhte auf sozialen Wertvorstellungen des Adels, war also nicht nur ein von Bildungsideen und vom sozialen Verhalten losgelöster Diskurs. Um sie als solche zu erkennen, ist eine Veränderung der Perspektive nötig. Dazu möchte ich fünf Thesen vorschlagen: 1. Freundschaft und Liebe waren Gesellschaftsideale der gesamten mittelalterlichen Aristokratie, der Laien wie der Geistlichen, und müßten in diesem Licht untersucht werden. Höfische und monastische Liebe sind als Abzweigungen eines aristokratischen Freundschaftsideals zu verstehen, das schon in der Antike Erziehungswerte und gesellschaftliches Verhalten prägte. 2. Die aristokratische Liebe ist in erster Linie eine öffentliche, nur sekundär eine private Erfahrung. 3. Sie ist in erster Linie eine Art, sich zu verhalten, in zweiter Linie eine Art zu fühlen.

8 9 10

11

konzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. (Bibliotheca Germanica 27) Bern - München 1985. Bumke, Höfische Kultur (Anm. 3), Bd. 2, S. 503-582. Ebd., S. 504. Brian Patrick McGuire, Friendship and Community. The Monastic Experience 350-1250. (Cistercian studies series 95) Kalamazoo/MI 1988, mit extensiver Bibliographie. Vgl. C. Stephen Jaeger, „L'amour des rois. Structure sociale d'une forme de sensibilite aristocratique". In: Annales. Economics, societes, civilisations 46 (1991), S. 547-571.

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4. Ihre gesellschaftliche Funktion ist es, den inneren, moralischen, wie auch den sozialen Wert der Liebenden zu erhöhen und zu repräsentieren. 5. Vom Altertum bis zum ausgehenden 11. Jahrhundert beschränkte sich dieses Ideal der gesellschaftlichen Elite auf Männer. Die Liebe von Männern zu Frauen gehörte vor dieser Epochengrenze ausschließlich zur privaten Sphäre und hatte keinen öffentlichen Diskurs, jedenfalls keinen, in dem die Liebe veredelnd wirkte. Vom Ende des 11. Jahrhunderts an treten Frauen im höfischen Bereich durch ihre Teilhabe an der aristokratischen Liebe hervor. Die Erhärtung dieser Thesen muß einer längeren Untersuchung überlassen werden. Dieser Beitrag will einige Bausteine zur Argumentation liefern, indem er die Liebe und Freundschaft als Unterrichtsgegenstand an Kathedralschulen und weltlichen Höfen betrachtet. Die Erziehung ist ein günstiger Ausgangspunkt, weil Erziehungswerte einen Umweg um die Aporie der vermeintlichen Literarizität / Fiktionalität der höfischen Liebe bieten. Die Bildung an Hof und Kathedralschule zielte in erster Linie auf die Disziplinierung der mores, des Benehmens, der Lebensführung. 1 2 Das Kurrikulum der mores registriert also die Verhaltensideale der zu erziehenden Schicht. Es wäre verfehlt anzunehmen, daß der Unterricht etwa einen fiktiven Diskurs und nicht einen effektiven Verhaltenscode zum Gegenstand hätte. Im Bildungskonzept treffen Ideal und Wirklichkeit zusammen.

II Man unterrichtete die Liebe, und in der Liebe wurde unterrichtet. Ihr wichtigstes Lehrbuch war das im Mittelalter am weitesten verbreitete Werk der römischen Antike, Ciceros Laelius {De amicitia). Dazu kamen seit dem Ende des 11. Jahrhunderts die Schriften Ovids, Ars amatoria, Remedia amoris, die Amores und die Heroides. Zahlreiche Texte vom 8. Jahrhundert bis ins Spätmittelalter belegen den Liebesunterricht. Dieser Beitrag analysiert eine Auswahl von Texten vom 8. zum 12. Jahrhundert, die die Liebe als Unterrichtsmedium und Unterrichtsgegenstand veranschaulichen. Eine überschwenglich leidenschaftliche Sprache kennzeichnete den Umgang der Hofangehörigen am karolingischen Hof. Die Briefe Alkuins an Karl den Großen, wie auch an andere Schüler, bedienen sich der Sprache der leidenschaftlichen Liebe. 13 Daß das Lehrer-Schüler-Verhältnis auch zugleich ein Liebesverhältnis war, geht aus vielen karolingischen Quellen hervor. Die erotische Sprache

12

Siehe Jaeger (Anm. 1), passim.

13

Vgl. John Boswell, Christianity, Social Tolerance and Homosexuality. Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century. Chicago London 1980, S. 188-191; Jaeger (Anm. 11), S. 549f.

Liebe im Unterricht — Liebe als Unterricht

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beschränkte sich indes nicht auf die Lehrer-Schüler-Beziehung. Vielmehr scheint sie den Umgang der nächsten familiares des Kaisers überhaupt gekennzeichnet zuhaben. 14 Aus ottonischer Zeit bietet die Biographie Adalberts von Prag ein Bild des intimen Zusammenlebens des jungen Kaisers Otto III. mit seinem Tutor, Adalbert.15 Bei einem Aufenthalt in Mainz, so berichtet der Biograph, wäre seine Freundschaft mit dem Kaiser 'so sehr intim' (valde familiarissimus), daß er als sein 'süßester Kammergenosse [diener]' (dulcissimus cubicularius) Tag und Nacht in seinem Zimmer weilte. Das wäre allerdings nicht aus irgendeiner 'Liebe zur Welt' (amor mundi) gekommen, sondern weil er den Kaiser liebte (dilexit ipsum) und ihn mit seinen süßen Worten zur Liebe des himmlischen Vaterlandes anregen wollte. Adalbert lehrte Otto Tag und Nacht, es nicht für eine große Sache zu erachten, daß er Kaiser sei. Er sei vielmehr ein sterblicher Mensch, Asche, Fäulnis und Würmerfraß, wie schön er auch sei. Es folgt eine längere Tugendlehre. Der Biograph betont die 'Intimität' (familiaritas) des Umgangs zwischen Adalbert und dem Kaiser gerade im Kontext des Lehrens. Die Gesten und die Sprache der Liebe sind offensichtlich für dieses Verhältnis passend. Zwei um 1021 verfaßte Briefe eines Bamberger Diakons, Bebo, an den Kaiser Heinrich II. weisen auf ein ähnlich intimes Verhältnis des Lehrers mit dem Kaiser.16 Bebo, der ehemalige Lehrer Heinrichs, erinnert seinen Studenten an ihre privaten Kolloquien über die Heilige Schrift. Jetzt sehne sich Bebo in Abwesenheit des Kaisers nach ihren 'süßen Gesprächen', 'wie das Reh nach den Wasserquellen dürstet'. Ja sie hätten öfter 'die Sprache des Unterrichts des Herzens' {lingua litterationis cordis) nicht im offenen Saal, sondern in 'irgendeiner Ecke' gesprochen, weil sie dort je geheimer desto sicherer miteinander reden könnten. Sie scheuten 'ein treues Geheimnis' deshalb nicht, weil es in der Solidarität der 'Liebe' (Caritas) bestärkt werde: 'Wie sehr ich Dich, geliebtester Kaiser, liebe (te dilectissime diligam), wagt die windige Sprache (verbositas) nicht auszudrükken.'17 Das treue Gespräch begünstige das, wozu die ungeteilte Liebe anspornt, nämlich die wahre, echte Liebe zu erkennen. Der erste Brief enthält, neben einer Bitte um Beförderung, eine längere Tugendlehre, ausgehend von der Formel der temperantia: 'nichts im Übermaß'.18

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17 18

Heinrich Fichtenau, The Carolingian Empire. Übersetzt von Peter Münz. (Studies in mediaeval history 9) Oxford 1957 (Originalausgabe Zürich 1949), S. 93f. Vita S. Adalberti episcopi. Vita antiquior auctore Iohanne Canapario. Hg. von Georg Heinrich Pertz. (MGH, Scriptores 4) Hannover 1841 (Nachdruck Stuttgart 1981), Kap. 23, S. 59lf. Epistolae Bambergenses. In: Bibliotheca rerum germanicarum. Hg. von Philipp Jaffe. 6 Bde. Berlin 1864-1873 (Nachdruck Aalen 1964), Bd. 5: Monumenta Bambergensia. Berlin 1869, Epist. 6 und 7, S. 484-497. Ebd., S.486f. Ebd., S. 488ff.

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Man kann solche Zeugnisse der Sprache der Liebe im Lehrer-SchülerVerhältnis beliebig mehren. Kaum ein Magister- oder Scholarenbrief bis zum 12. Jahrhundert kann sie entbehren.19 Briefe aus dem Milieu der Kathedralschulen weisen immer wieder auf einen Kult der Freundschaft, der im 10. und 11. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland in voller Blüte stand.20 Eine Stimmung der Freundschaft, die sich in der Sprache und den Gesten der leidenschaftlichen Liebe ausdrückt, war nicht nur am Kaiser- und Königshof, sondern auch in den Kathedralschulen für das Studium obligatorisch. Dieser doppelte Kontext ist insofern historisch verständlich, als die Kathedralschulen auf den Dienst am Kaiserhof vorbereiteten.21 Die ältere Wormser Briefsammlung (circa 1036) enthält mehrere Freundschaftsbriefe von Schülern an Lehrer.22 Bemerkenswert sind die Episteln 60 und 61. Der Student A. verfaßte beide Briefe; er richtete sie an seinen Schulmeister Wolzo. Im ersten beklagt er sich über Wolzos Untreue. Ein Feind habe ihn boshaft verleumdet, der Magister habe alles angehört und, noch schlimmer, wiederholt und geglaubt. Das ist der Anlaß einer Anhäufung von Bibelzitaten über falsche, unzuverlässige Freundschaft. Er endet damit, daß er sich von seiner Freundschaft lossagt: 'Bis jetzt habe ich Euch wegen Eurer Tugend geliebt, durch die, wie Tullius lehrt, wir auch die lieben, die wir nie gesehen haben. So habe ich Euch geliebt, ich liebte Euch in echter Liebe. Von jetzt an liebe ich Euch nur noch auf Grund der Furcht.'23 Im nächsten Brief schreibt A. begütigend 'nicht an [seinen] ehemaligen, sondern an seinen zukünftigen Geliebten'.24 Er bittet um Verzeihung wegen der harten Worte in seinem letzten Brief, die 'die Süßigkeit seiner Liebe ein wenig erbittert haben'. Der Jähzorn habe sie hervorgebracht. Nach einer Reihe von Sprüchen über die Freundschaft aus der Bibel und Cicero endet er mit der Bitte: 'Lieben wir uns also mit jener Liebe, in der Gott ist, lieben wir uns gegenseitig [...], lieben wir uns mit der ganzen Kraft, der ganzen Beständigkeit, der ganzen

19

McGuire (Anm. 10), S. 180-231.

20

Jaeger (Anm. 1), S. 103-106, 279f. Josef Fleckenstein, „Königshof und Bischofsschule unter Otto dem Großen". In: Archiv für Kulturgeschichte 38 (1956), S. 38-62; Herbert Zielinski, Der Reichsepiskopat in spätottonischer und salischer Zeit (1002-1125). Wiesbaden 1984, S. 74-164; Jaeger (Anm. 1), S. 3 6 48.

21

22

Die ältere Wormser Briefsammlung. Hg. von Walther Bulst. (MGH, Epistolae. Briefe der deutschen Kaiserzeit 3) Weimar 1949 (Nachdruck München 1981), Epistolae 8, 20, 21, 26, 34,49, 56, 6 0 , 6 1 .

23

Ebd., Epist. 60, S. 102: Hactenus quidem dilexi vos propter virtutem, propter quam Tullius docet nos 'eos etiam diligere, quos numquam vidimus.' Propter earn nimirum vos dilexi, amavi vos propter verum amorem, posthac amabo vos propter timorem.

24

Ebd., Epist. 61, S. 103: W. non tarn in preterito vestigia dilectionis.

dilecto quam in futuro diligendo A. antique

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Vollkommenheit [...] der Liebe [...]. Ich werde Euch um Gottes und Eurer liebenswürdigen Tugend willen lieben [...]·'25 Die Freundschaftsbriefe, die bisher zitiert wurden, veranschaulichten die Liebe als Zustand des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Aus anderen Zeugnissen geht deutlich hervor, daß die Liebe auch zu den Gegenständen des Unterrichts gehörte. Man lehrte lieben und sich liebenswürdig machen. Auch reich an Freundschaftsbriefen zwischen Lehrern und Studenten ist die Hildesheimer Briefsammlung (1076—1085).26 In einem besonders überschwenglichen Brief spricht ein (ungenannter) Lehrer seinen Studenten an.27 Auf seinen praktischen Anlaß gebracht, hat der Brief das Anliegen, dem Studenten zu versichern, daß der Magister ihn in seiner Suche nach einer Studienstelle unterstützt, er habe ihn sowohl in Frankreich wie in Deutschland gelobt und empfohlen. Dieser Kern des Briefes nimmt indes nur ein paar Zeilen ein, während die Liebesbeteuerungen, in die er gehüllt ist, mehrere Seiten in Anspruch nehmen. Sie sprechen die Sprache der romantischen Liebe, nicht mehr fromm und floskelhaft, wie bei Bebo von Bamberg. Die Osterfeier, die neulich stattgefunden habe, sei für ihn (den Lehrer), ein Doppelfest gewesen, da er einen Brief seines Studenten erhalten habe: Das zweite, persönliche und private Fest sei die erneute Feier ihrer Liebe gewesen. Die Trennung von ihm sei wie ein Abstieg in ägyptische Finsternis gewesen, in die erst durch den Erhalt seines Briefes etwas Licht gebracht würde. Volle Sonne würde erst seine körperliche Gegenwart bringen. Dann folgt die Mitteilung, die Aussichten des Studenten auf einen Studienplatz seien gut, und darauf eine Tugendlehre. Nun möge er, der auf Beförderung hofft, durch seine eigenen Tugenden sein Glück machen. Die Natur habe ihm den hohen Adel und eine eindrückliche Schönheit des Körpers verliehen. Er möge auf der Hut und immer wachsam sein, daß eine edle Demut ihn bei allen Menschen beliebt mache: '[...] alle Menschen sollen Deine Handlungen billigen, Du sollst der intime Freund aller Menschen sein, die Aufrichtigkeit Deiner heiligen Manieren/Sitten [mores] mögen Dir die Gunst aller gewinnen.'28 Er endet mit Entschuldigungen wegen des ungeschliffenen Stils seiner Briefe: 'Sie kommen ungepflegt und sträflich unkomponiert zu Dir; sie sind wie barfüßige Bauernmäd-

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Ebd., S. 105: Diligamus ergo nos ea dilectione, qua Deus est, amemus nos invicem nullo puerili amore, nulla momentanea caritate, nulla simulatione [...] sed diligamus nos omni amoris fortitudine, omni constantia, tota perfectione [...] Diligam vos propter Deum et propter vestram amabilem virtutem [...]. Hinweise und knappe Analysen bei McGuire (Anm. 10), S. 188-194. Hildesheimer Briefe. In: Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV. Hg. von Carl Erdmann und Norbert Fickermann. (MGH, Briefe der deutschen Kaiserzeit 5) Weimar 1950 (Nachdruck München 1981), Epist. 36, S. 76-79. Ebd., S. 77: Tu vero, cui ex dote nature maxima est nobilitas, spectabilis compositionis formositas, videos, caveas, cavendo advigiles, ut te cunctis carum reddat nobilis humilitas, universis probatum, unicuique suum, sanctissimorum morum te conciliet probitas.

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chen, die mitten in der Nacht so rasch zu ihren Freunden eilen, daß sie ihre Schminke vergessen.' 29 Ganz ähnlich ist ein Gedicht, das Baudri von Bourgueil (kurz nach der Wende zum 12. Jahrhundert) an einen hochmütigen Knaben richtet.30 Der Junge will die Liebe seines Magisters, Baudri, gewinnen. Das könne er nur erreichen, wenn er seine hochmütigen Manieren aufgebe. Auch dieser Junge hat jede äußere Gabe der Natur erhalten: Adel, Schönheit, eine 'honigsüße' Stimme. Er verfüge insofern mit Weisheit über diese Gaben, als er, der einen 'göttlich geformten' Körper besitze, sich weigere, den Ganymed zum Zeus seiner Werber zu spielen. Das wäre eine falsche und korrupte Liebe. Aber er gehe zu weit in die andere Richtung, und seine hochnäsige, verachtende Haltung stoße viele ab. Richtig sei es, die Gabe der Natur zu nutzen, um sich bei allen beliebt zu machen. Neuere Kommentatoren haben in diesem Gedicht das Liebeswerben eines Lehrers um einen begehrenswerten, aber unwilligen Knaben sehen wollen. 31 Die Deutung ist jedoch zweifellos falsch. Es ist ein Gedicht der sittlichen Korrektion; Baudri fungiert gerade als Lehrer, der bestrebt ist, die Liebe des Schülers zu ihm zu moralischen Zwecken nutzbar zu machen: Willst du, junger Knabe, mir gefallen, So mußt du diese hochmütigen Manieren abstreifen.32

Nicht der Lehrer wirbt um den Schüler, sondern umgekehrt. Und die Liebe des Lehrers wird dem Schüler vorenthalten, bis er den Hochmut aufgibt und durch seine Haltung die Liebe aller Menschen zu gewinnen sucht. Der belehrende Inhalt entspricht weitgehend dem des Hildesheimer Briefes: Verdiene die Liebe, die ich zu Dir habe; mache Dich liebenswert, damit alle Dich lieben wie ich. Ein gelehrter französischer Kleriker namens Rodolfus Tortarius schrieb, kurz nach der Jahrhundertwende, eine Reihe von Briefgedichten, unter denen sich eines findet, das die Geschichte der beiden Freunde, Amelius und Amicus, erzählt.33 Rodolfus' Version ist die Vorlage für die volkssprachlichen Bearbeitungen dieser populären Geschichte gewesen (Ami und Amilun, Konrads Engelhard). Das Gedicht richtet sich an einen Freund namens Bernhard. Rodolfus erzählt die Geschichte - so die Einführungsverse damit sein Freund das Wesen

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Ebd., S. 78: Ipse enim ut puelle simplices incompte nudo pede ad suos, ita ad te amatorem suum temere incomposite sine omni ornatu ex nocturno tempore festinatum a [me] iter arripuere [...]. Baldricus Burgulianus, Carmina. Hg. von Karlheinz Hilbert. (Editiones Heidelbergenses 19) Heidelberg 1979, Nr. 3, S. 15-17 (Adiuvenem nimis elatum). Boswell(Anm. 13), S. 245. Ebd., Zeile 56f.: Si vis ergo michi, si vis, puer, ipseplacere, \ Pelle coturnosos et fastus reice tantos [...]. Rodulfus Tortarius, Carmina. Hg. von Marbury B. Ogle und Dorothy Μ. Schullian. (Papers and Monographs of the American Academy in Rome 8) Rom 1933, Epist. 2, S. 256-267.

Liebe im Unterricht - Liebe als Unterricht

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der wahren Liebe erkenne. Dann folgt die Geschichte der zwei Freunde und der extremen Dienst- und Opferbereitschaft des einen für den anderen. Zum Schluß teilt er den belehrenden Sinn dieser Geschichte über die Macht der Freundschaft mit: 'Diese Geschichte habe ich Dir erzählt, damit Du Dich bemühst, geliebt zu werden.'34 In allen Texten sehen wir die Liebe als ein pädagogisches Instrument; sie ist auch die Verhaltensweise, die es zu lernen gilt. Sie basiert auf der Ciceronischen Vorstellung der Freundschaft als der Liebe zur Tugend eines anderen Menschen. Die Liebe gehört somit zentral zum cultus virtutum, auf dem der Unterricht an Kathedralschulen aufgebaut wurde.35 Als Vorbereitung auf den Dienst an weltlichen und geistlichen Höfen kultiviert die Liebe die Tugenden der affabilitas und amabilitas. Sie zielt auf einen Mann, den alle lieben und der alle liebt, dessen Liebenswürdigkeit die Bürgschaft seiner Tugendhaftigkeit ist. 'Mann', geschlechtsspezifisch, ist in diesem Zusammenhang historisch richtig. Die Liebe zur Tugend des anderen war, für den Feudaladel des Mittelalters wie für die römische Aristokratie, eine Angelegenheit der Männer, ein Code des aristokratischen Benehmens, an dem Frauen keinen oder nur einen negativen Anteil haben konnten. Am Ende des 11. Jahrhunderts lockert sich diese Exklusivität. Frauen gewinnen allmählich Eintritt zum Gentleman's Klub der veredelnden Liebe. Das ist im breiteren Kontext der Liebesvorstellungen der Laienaristokratie belegbar (Ruodlieb-Roman), ebenso in den Beziehungen des Dichterkreises der sogenannten Loire-Dichter (Marbod, Baudri, Hildebert) zu hochgestellten Frauen, Königinnen, Fürstinnen und Nonnen. Auf diese Beziehungen als erste Spuren einer höfischen Liebe hatte Hennig Brinkmann hingewiesen.36 Aber die Entwicklung zeigt sich auch und besonders im engeren Kontext unserer Fragestellung: Liebe im Unterricht. Hier möchte ich von einigen bemerkenswerten Texten ausgehen, den sogenannten Regensburger Liebesgedichten. Wilhelm Wattenbach hat auf sie aufmerksam gemacht und ihren Kontext geschildert. Sie wurden von Peter Dronke mit einer englischen Übersetzung und einem eingehenden Kommentar versehen herausgegeben,37 und 1979 von Anke Paravicini neu ediert.38 Dronke macht mit

34 35 36

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Ebd., S. 267: Haec retuli tibi, care mihi, studeas ut amari. Jaeger (Anm. 1), S. 76-117 et passim. Hennig Brinkmann, Entstehungsgeschichte des Minnesangs. (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Buchreihe 8) Halle/S. 1926. Siehe jetzt auch Gerald Bond, The Loving Subject. Desire, Eloquence and Power in Romanesque France. Philadelphia 1995, bes. S. 42-69. Auch ders., „'locus amoris'. The Poetry of Baudri of Bourgueil and the Formation of the Ovidian Subculture". In: Traditio 42 (1986), S. 143-193. Peter Dronke, Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric. Oxford 2 1968, Bd. 1: Problems and Interpretations, S. 221-229 (Kommentar), Bd. 2: Medieval Latin Love-poetry. Texts newly edited from the manuscripts and for the most part previously, S. 422-447 (Edition und Übersetzung).

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Nachdruck auf ihre Bedeutung für die Anfange der höfischen Liebe aufmerksam, ohne daß seine Hinweise meines Wissens in der Forschimg ein Echo gefunden hätten.39 Diese Liebesdichtungen sind unter besonderen Umständen erhalten und überliefert worden. Dronke beschreibt die Handschrift aus dem 12. Jahrhundert, die sie überliefert, als „herrliches Chaos".40 Es handelt sich offenbar um den ungeordnet ausgeschriebenen Nachlaß eines Schulmeisters. Darunter finden sich verschiedene Liebesbriefe, Liebesgedichte, Liebesbotschaften. Manche sind Bruchstücke, manche fein ausgearbeitete Gedichte. Sie datieren 1106 oder kurz danach. Die Entstehungsumstände können Wattenbach und Dronke wie folgt rekonstruieren: Ein Magister aus Lüttich (oder mehrere?) hält sich in Regensburg, jedenfalls in Bayern auf. Er übernimmt Lehrpflichten in einem Nonnenkonvent, wo junge, hochadlige Damen wohnen. Sie dürfen von Männern Besuch erhalten (ein 'Graf Hugo und seine Freunde' werden erwähnt, auch ein König und seine comites). Mehrere Mädchen verlieben sich in den Gastlehrer. Neid und Liebeskonkurrenz machen die Situation verwickelt. Liebesgedichte werden getauscht. Viele haben den Charakter von spontan verfaßten Grüßen und eiligen Mitteilungen. Dieser Charakter vor allem bürgt dafür, daß die Verse auf Erfahrung basieren. Es sind nicht, oder nicht nur, Übungen oder Schulgedichte; von Formelhaftigkeit ist jedenfalls in den Liebessituationen nichts zu spüren.41 So zum Beispiel die Verse: 'Du solltest Affe oder Sphinx heißen, Du mit Deinem häßlichen Gesicht und Deinen ungepflegten Haaren.'42 Oder diese: 'Ich bin es, Du kennst mich, verrate Deinen Geliebten nicht! Triff mich bei Tagesanbruch in der alten Kapelle. Klopfe sanft, denn der Küster schläft nebenan. Dann offenbart das Bett Dir alles, was sich in meinem Herzen verbirgt.'43 38

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41

Carmina Ratisponensia. Hg. von Anke Paravicini. (Editiones Heidelbergenses 20) Heidelberg 1979. Schnell (Anm. 7), S. 154f., klammert sie ausdrücklich aus der Diskussion um 'Höfische Liebe' aus. Dronke (Anm. 37), Bd. 1, S. 221: „The second half of the manuscript [...] is magnificent chaos." Paravicinis Behauptung, es handele sich durchgehend um Schulübungen, von denen man nicht auf Liebeserfahrung schließen darf (es „ist nicht anzunehmen, daß dieser Verkehr über den Austausch von Billets und Geschenken hinausging. Amor und dilectio finden Ausdruck wie Erfüllung im Dichten [...]. Virtus und mores egregii beziehen sich weniger auf sittliche als auf dichterische Eigenschaften") ist, soweit ich sehe, reine Vermutung. Ihr ist jedoch in der Behauptung, die „Bereiche von amor und eruditio sollte man wohl hier nicht trennen", stark beizupflichten (vgl. Carmina Ratisponensia [Anm. 38], S. 10f.). Daß diese Kombination die erotische Erfahrung nicht ausschließt, lehrt zur Genüge das Beispiel von Abälard und Heloise.

42

Carmen IV bei Dronke (Anm. 37), Bd. 2, S. 424 (Carmina Ratisponensia [Anm. 38], Nr. 5, S. 19): Simia dicaris, vel spinx, quibus assimilaris \ Vultu deformi, nullo moderamine come!

43

Carmen XIV bei Dronke (Anm. 37), Bd. 2, S. 426 (Carmina Ratisponensia 16, S. 21):

[Anm. 38], Nr.

Liebe im Unterricht - Liebe als Unterricht

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Sie mögen spontan wirken, aber ohne Zweifel sind die Gedichte selbst 'Aufgaben', und im Handhaben der getauschten Briefgedichte lassen sich das pädagogische und das erotische Anliegen schwer auseinanderhalten. Die Mädchen reichen dem Lehrer ihre Gedichte wie Hausaufgaben ein, mit Liebesbeteuerungen und der Bitte um Berichtigung. Zum Beispiel: 'Korrigiere die Verse, die ich Dir hier vorlege, Magister, denn Deine Worte sind für mich das Licht des heiligen Wortes. Nur bin ich sehr traurig, weil Du mir Bertha vorziehst.'44 Der Meister antwortet mit Sehnsuchtserklärungen und mit hohem Lob der Kompositionen; er könne selbst mit der Kunst seiner Schülerin nicht wetteifern.45 So verstricken sich Lehre und Liebeswerben zu einer einzigen Angelegenheit. Aber es wird nicht nur die Literatur unterrichtet, sondern auch die mores, und hier spielt die Liebe eine zentrale Rolle. Es sind jedoch die Mädchen, und nicht der Mann, die als Lehrer der Sitten auftreten. Die Damen betrachten sich als die Bewahrerinnen und Verwalterinnen der Tugend. Der Magister ist ihnen sehr willkommen, so heißt es in einem der Gedichte, nur muß er sich so verhalten, daß die Tugend, das Decorum, und die Aufrichtigkeit bewahrt werden: 'Der Chor der vestalischen Jungfrauen sendet Dir diese Gaben der Freundschaft [Gedichte vermutlich]; wir gestehen Eurer Gruppe auch Herrschaftsrechte zu, aber nur so, daß die Tugend einen ehrbaren Preis erhält.'46 In einem der bemerkenswertesten Gedichte spricht ein Mädchen für die anderen, so als würden sie eine Gemeinschaft der Tugend bilden, deren Zweck es ist, den Männern so lange ihre Liebe zu verweigern, bis sie (die Männer) ein sittsames und ehrliches Benehmen lernen. Der kluge Gott Merkur, so beginnt das

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45

46

En ego quem nosti, sed amantem prodere noli! Deprecor ad vetulam te mane venire capellam. Pulsato leviter, quoniam manet inde minister. Quod celatpectus modo, tunc retegit tibi lectus. Carmen VI bei Dronke (Anm. 37), Bd. 2, S. 424 (Carmina Ratisponensia [Anm. 38], Nr. 7, S. 19): Corrige versiculos tibi quos presento, magister. Nam tua verba mihi reputo pro lumine Verbi. Sed nimium doleo, quia preponas mihi Bertham. Z.B. Carmen XXVIII bei Dronke (Anm. 37), Bd. 2, S. 431 (Carmina Ratisponensia [Anm. 38], Nr. 37, S. 29): lam non est tutum contendere carmine tecum! [...] | Longe precellis, longe me carmine vincis [...]. Carmen XXIX bei Dronke (Anm. 37), Bd. 2, S. 432 (Carmina Ratisponensia [Anm. 38], Nr. 37, S. 30): Treicius vates iustas reperit sibi clades, Presumens vestrum scribendo lacessere sexum; [...] Sic satis exemplis me commonitum memoratis Hanc ut devitem (quia non sum par tibi) litem. Carmen V bei Dronke (Anm. 37), Bd. 2, S. 424 (Carmina Ratisponensia S. 19): Mitt it vestalis chorus ad vos xenia pacis, Concedens vestre dominandi iura caterve. Sic tamen, ut precium

Virtus sibi reddat honestum.

[Anm. 38], Nr. 6,

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Gedicht, habe ihr (der Dichterin) die Gabe der Eloquenz verliehen, damit sie unwürdigen und entehrenden Werbern widerstehen könne. Kein Mann, der Unzüchtiges im Sinne hat, dürfe zu ihrem Kreis gehören. Auch solche, die sich tausendmal erprobt haben, dürften nur knapp und erst nach weiteren Bewährungsproben hinzutreten. Die Glücklichen, denen sie ihre Liebe schenken, müßten erst durch die Tugend wohl geformt und gebildet, damit ihre Rede fein und fließend und ihre Manieren (mores) bis zur Vollkommenheit geschliffen werden. Wer einen Ruf für feines Benehmen, gleich ihrem eigenen, gewonnen habe, einem solchen wünsche der Chor der Vestalen die Gnade der Freude. 47 Diese Zeilen situieren sich an der Grenzlinie zwischen dem mores-Unterricht der Kathedralschulen und der 'Hohen Minne' der weltlichen Höfe. Wie bei Baudri wird eine falsche, sinnliche Liebe verworfen zugunsten einer Liebe, die auf der Tugend basiert; beide Umworbenen verweigern sie, bis der Lernende das richtige Verhalten lernt: Demut, Feinheit, Liebenswürdigkeit. Die Liebe entwikkelt sich hier, wie in allen Texten, die bis jetzt angeführt wurden, im Kontext des Unterrichts. Die Gabe Merkurs, Eloquenz - vermutlich durch das Studium der litterae erworben - , hat im Liebeswerben und im Urteilen der rechten und falschen Werber ihren Kontext. Die Liebe wird vorenthalten, bis die mores des Liebenden angemessen geformt sind. Hier, wie an den Kathedralschulen, ist die Liebe zu einem Medium der ethischen Vervollkommnung und zu ihrer Belohnung geworden. 48 Radikal anders an den Regensburger Liedern ist, daß es die Frauen sind, die die Magisterrolle in der Tugenderwerbung übernehmen. Sie nehmen für sich das Recht in Anspruch, unwürdige Werber zur richtigen höflichen und ethischen Verhaltensweise anzuhalten. Darin nähern sie sich der Rolle der domna des provenzalischen und der heren vrouwe des deutschen Minnesangs. Diese Verbindung ist im Gedicht 31 besonders klar. Ein Mädchen macht einem zudringlichen Werber Vorwürfe. Er könne kein echter Sohn der Stadt Lüttich sein, schreibt sie, wenn er meine, sie wären Mädchen, die sich schnell einem Mann schenken. Vielmehr würden sie nur solche Männer lieben, die die Tugend der Vorsicht geformt hat, und solche, die die Bescheidenheit gelehrt hat, Frauen mit Zurückhaltung anzusehen (Mos diligimus quos sculpsit provida Virtus, | Quosque Modestia monuit spectare modeste). Er möge seine falschen Hoffnungen aufgeben; die Gnade einer Dame gönnt, was ehrbar ist, aber nur dem, der bescheiden bittet. 49 Hier wird wiederum die Tugend zur Voraussetzung der Liebesgabe gemacht. Die Dame hält den noch nicht richtig erzogenen Mann auf Abstand. Sie ver-

47

48 49

Carmen XVII bei Drenke (Anm. 37), Bd. 2, S. 426 (Carmina Ratisponensia [Anm. 38], Nr. 22, S. 23f.). Vgl. auch Carmina IX, XX, XXII, XXVII, XXXI, XXXII bei Drenke (Anm. 37). Carmen XXXI bei Drenke (Anm. 37), Bd. 2, S. 433-435 (Carmina Ratisponensia [Anm. 38], Nr. 40, S. 31f.).

Liebe im Unterricht - Liebe als Unterricht

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spricht die Gnade der Damen (gratia domnarum), aber nur dem wohl erzogenen Liebhaber, denen, die ihre leeren, lügnerischen Hoffnungen (spe vacua, spes mendosa) aufgeben. Das ist die Welt der 'hohen' Frau des Minnesangs (hier ausdrücklich dom[i]na genannt), die dem unerprobten Liebhaber seinen tumben wän, seine 'leeren Hoffnungen', verweist, bis er den Lehrgang der Tugend durchgemacht, sich erprobt und bewährt hat. Der Lehrer aus Lüttich erlebt die Umkehrung der Lehrer-Schüler-Verhältnisse: Seine Schülerinnen schicken ihn zur Schule der sittlichen Läuterung. Diese Texte belegen eine verfeinerte Liebespraxis in einem bayrischen Konvent am Ende des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts. Mit hoher Wahrscheinlichkeit können wir sagen, daß diese Liebeskultur der gelehrten Dichtungen und der Lehre der mores auch in der Wirklichkeit des Konventlebens praktiziert wurde. Nicht nur die Überlieferungslage der Texte spricht dafür, sondern auch die Parallele zum wores-Unterricht an den Kathedralschulen, zu dem auch die Liebe gehörte. Die Geste Baudris von Bourgueil, der seinem jungen Schüler seine Liebe vorenthält, bis er die Demut lernt, entspricht der Geste der jungen Nonne, die als Voraussetzung ihrer Liebe den Lütticher Werber zur Demut in der Liebeswerbung anhält. Mores-Unterricht als Liebesunterricht ist als didaktische Praxis in Schulen vom 10. zum 11. Jahrhundert belegbar. Es liegt nahe, daß diese Praxis auf Konventschulen übergreifen konnte.50 Und wenn das der Fall war, dann konnte sie sich umso leichter und legitimer auf weltliche Höfe ausbreiten. In seiner Untersuchung der Kommentare zu Ovids Ars amatoria und den Heroides des späten 11. und des 12. Jahrhunderts kann Ralph J. Hexter nachweisen, daß die Liebe ein Gegenstand des Unterrichts war, daß sie zum Unterricht in mores und ethica gehörte.51 Es heißt in einem accessus zu den Epistulae Heroidum: Wir weisen das Werk dem Moralunterricht zu, weil es der Lehrer guter Sitten ist [...]. Sein endgültiger Sinn ist, daß wir uns der keuschen Liebe verpflichten, nachdem wir deren Nützlichkeit sehen. 52

Und an einer anderen Stelle: 'Die Absicht des Werkes ist es, uns die Tugenden zu empfehlen und von den Lastern abzuraten.'53 Unter den Kommentatoren der Liebeskunst (Ars amatoria) zweifelt keiner, daß das viel frivolere Werk durchaus nützlich und erbaulich war. Der Autor der Kopenhagener Glossen schreibt:

50 51

52 53

Siehe z.B. Bond (Anm. 36), S. 63f. und 142f. Ralph J. Hexter, Ovid and Medieval Schooling. Studies in Medieval School Commentaries on Ovid's 'Ars Amatoria', 'Epistulae ex Ρ onto', and 'Epistulae Heroidum'. (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 38) München 1986. Ebd., S. 158. Zur Formel Ethicae subponitur in Bezug auf Ovids Werke, ebd., S. 100. Ebd., S. 158.

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Hier beabsichtigt Ovid, Jungen und Mädchen in der Liebe zu unterrichten [...]. Denn indem Ovid bemerkt, daß Jungen und Mädchen wegen ihrer Unerfahrenheit der Liebe in Gefahr kamen [...], will er sie über die Liebe aufklären. 54

Ovid konnte offenbar als seriöser, erbaulicher Lehrer der keuschen Liebe gelten. Baudri von Bourgueil läßt, in einem fingierten Briefwechsel zwischen Ovid und seinem Freund Florus, den im Exil lebenden Dichter darüber zu Wort kommen. Ovid rechtfertigt sich gegen die falschen Beschuldigungen des Augustus Cäsar: 'Ich habe die Jugend nicht gelehrt, zu lieben,' schreibt Baudris Ovid, 'sondern vielmehr: wie oder was sie in der erlaubten Liebe lieben sollten, immer dafür sorgend, daß jeder Stadtbürger auf urbane, zivile Weise lieben sollte'. 55 Es ist ein weitgreifendes Programm: Jeder Bürger der Stadt Roms sollte zivil zu lieben wissen. Die Inklusivität ist auffallend, aber auch das Programm selbst: civiliter amare. Die Vokabeln civilis und civiliter werden für Baudri im 1 \.l\2. Jahrhundert eine andere Bedeutung gehabt haben; nach ihrem sozialen Kontext benannt, werden sie nicht mehr 'städtisch,' sondern 'höfisch' bedeutet haben. 56 Auch die Ovid-Glossatoren kennen Ovid als den Lehrer einer zivilen, das heißt höfischen Liebe. Der Kopenhagener Glossator der Ars amatoria erklärt Ovids Unterscheidung zwischen der rauhen Vorzeit Roms und der goldenen Zeit der Gegenwart. Die rustikalische Vergangenheit war durch die Einfachheit (simplicitas) in der Liebe gekennzeichnet. Für das raffinierte Augusteische Zeitalter sei eine feinere Art angemessen. Ovid, so der Glossator, habe in einer höfischen Zeit die Frauen gelehrt, sich höfisch zu benehmen. 57 Der Kommentator stellt die Ovidische Liebeslehre also in den höfischen Kontext, einen Kontext, den es für Ovid nicht gegeben hatte. Die Ovidglossen sind Schultexte, nüchterne Gebrauchstexte, Lektüren des mores genannten Faches. Sie sind ganz und gar nicht der Literarisierung verdächtig. Aber sie sind auch nicht verbotene Texte, die unter dem Tisch von Hand zu Hand in frivoler Konkurrenz mit seriösen Haupttexten weitergereicht wurden. Ovid selbst und seine Werke konnten als frivol gelten, aber sie waren auch nützlich geworden und verlangten Rechtfertigung in einer Schulsituation, in der die Liebe selbst ein Gegenstand des Unterrichts war. Der Liebestraktat des Andreas Capellanus, De amore, erhebt immer wieder die Unterrichtssituation zu einer Metapher des Liebesverhältnisses; der höfische Werber läßt sich von seiner überlegenen Dame belehren. Ich habe in einer anderen Untersuchung zu zeigen versucht, wie weitgehend die Sprache und der Begriffswortschatz von Andreas Capellanus von der Sprache der Moralphilosophie

54

Ebd., S. 219. Die Glossen datieren entweder spätes 11., frühes 12. Jahrhundert oder Ende des 12. Jahrhunderts. Zur unsicheren Datierung vgl. ebd., S. 43 und Anm. 85.

55

Baldricus Burgulianus (Anm. 30), Carmen 98, S. 109, Z. 67-70.

56

Siehe Scaglione (Anm. 3), S. 144.

57

Hexter (Anm. 51), S. 71: curiales docet esse in tarn curiali

tempore.

Liebe im Unterricht - Liebe als Unterricht

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der Schulen beeinflußt ist.58 Für unseren Kontext ist es wichtig, daß die Dame die Rolle des charismatischen Lehrers übernimmt.59 Im Dialog zwischen plebeius und nobilior, das heißt zwischen einem Mann des niederen Standes oder des Bürgertums und einer Frau des höheren Adels, bittet der Mann die Dame um Unterricht; er möchte an ihrer Liebeslehre (vestra in amore doctrina) teilnehmen, da er sieht, daß sie in der Kunst zu lieben gründlich gelehrt ist (omnino in amoris arte instructam). Ihr Unterricht sei ihm umso wichtiger, da er wisse, daß alle Urbanität, alle guten Taten und alle Güte von dieser Lehre kämen. Die Dame antwortet zunächst mit einer Zurechtweisung: Wer zuerst um Liebe, dann um Unterricht bitte, handle verkehrt, denn ein nicht Unterrichteter, ein Unwissender, dürfe nicht auf die Liebe hoffen. Dennoch erfüllt sie seine Bitte, denn sie halte es fur die Pflicht der 'Experten' (periti), den weniger Gebildeten ihre Lehre zu gönnen, wenn sie um weitere Bildung bitten (minus eruditis quum postulant edoceri). Dann folgt ihr Unterricht: Der Mann müsse immer wieder in seinen Taten Großzügigkeit zeigen. Er müsse sich allen Menschen demütig und dienstbereit zeigen. Er dürfe niemandem Übles nachsagen. Er solle Streitigkeiten vermeiden und nicht übermäßig lachen, besonders in Gegenwart der Frauen. Die Regierung (oder Verwaltung: gubernatiö) der Liebe erfordere eine besondere Weisheit und Vorsicht. Der Mann solle die großen Taten der Alten kennenlernen und nachzuahmen suchen. Er solle sich allen Menschen als klug, umsichtig, gesellig und angenehm zeigen.60 Die Lehre geht weiter, aber diese Angaben genügen, um sie zu charakterisieren. Es ist eine höfische Tugendlehre, die aber durchaus die Sprache des moresUnterrichts der Kathedralschulen spricht. Wir finden Motive des Hildesheimer Briefes und des Lehrgedichts Baudris wieder: Demut, Freundschaftlichkeit, Liebenswürdigkeit, Weisheit im Umgang gehören in allen diesen verschiedenen Texten zum Kanon der Tugendlehre. Anders ist, daß hier eine hochadlige Dame einen ihr in der Liebeskunst unterlegenen männlichen Werber in der höfischen Liebe unterrichtet. Die Stelle zeigt die Austauschbarkeit der Morallehre der Schulen und der Höfe (nur 'tapfer im Kampf ist offensichtlich den Umständen eines laienadeligen Kriegerstandes angepaßt). Sie zeigt auch, daß in beiden Situationen die Liebe und in der Liebe unterrichtet wurde. Die Liebe ist sowohl Ausgangspunkt wie auch Ziel des Unterrichts. Die wenigen Texte, die hier analysiert wurden, sollten zeigen, daß die sozialen Werte des Adels und ihre Schulung nicht in isolierten gesellschaftlichen Kontexten, sondern im gemeinschaftlichen Kontext des Adels überhaupt unter-

58 59

60

Vgl. Jaeger (Anm. 1), S. 319-322. Georges Duby {Love and Marriage in the Middle Ages. Übers, von Jane Dunnett. Cambridge 1994, S. 33) bestätigt diese Parallele zwischen Magister und höfischer Dame als Quellen der Tugend. Andreas Capellanus on Love. Hg. mit einer englischen Übersetzung von Patrick G. Walsh. London 1982, S. 79-87, Buch 1, Kap. 6.

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sucht werden könnten. Die strenge Unterscheidung zwischen einer 'monastischen' und einer 'höfischen' Liebe und die Ausblendung der Kathedralgemeinschaften oder ihre unkritische Unterordnung unter die monastischen lassen sich bei näherer Betrachtung nicht aufrechterhalten. Trotz der Grundunterschiede in den Einzelheiten der Lebensformen und der Lebensregeln gab es auch übergreifende Grundformen des Verhaltens, und dazu gehörten die auf der Tugend basierenden Liebe und Freundschaft. Ein letzter Text möge eine historische 'Kurve' des Liebesunterrichts andeuten. Es ist ein Gedicht aus den Carmina Burana, das den Untergang der Liebe beklagt. 61 Es läßt sich auf das Ende des 12. Jahrhunderts, Anfang des 13. datieren. In einem Traum erscheint dem träumenden Dichter ein trauriger und fadenscheiniger Amor/Cupido. Der Liebesgott klagt über den Untergang der Liebe. Seine Künste würden nicht mehr unterrichtet; die Lehre Ovids würde an allen Orten pervertiert: Artes amatorie iam non instruuntur [...]. 'Ovid,' so setzt der Gott seinen Monolog fort, 'war in meinen Künsten schön unterrichtet und er scheute die Lüste der Weltlichkeit. Er suchte, die Welt von ihrem Irrtum zu bekehren: Wer sich selber erkannte, lernte, mit Weisheit zu lieben'. Dieser Ovid war offenbar ein Lehrer der ars honeste amandi, der 'weisen Liebeslehre', und seine Studenten waren gerade nicht die von weltlichen Lüsten verdorbenen, sondern die, die sich die delphische Weisheit der Selbsterkenntnis zu eigen gemacht haben. Jetzt aber laufe alles nach sinnlichem Genuß, und die Lehre der weisen Liebe werde allerorts vernachlässigt. Die scheinbare Inkonsequenz eines Liebesgottes, der 'die Lüste der Weltlichkeit' für den Untergang der rechten Liebe verantwortlich macht und den Rücktritt eines, wenn nicht asketischen, so doch tugend- und weisheitliebenden Ovids bedauert, möge als Emblem einer Liebe gelten, die die Grundlage der Moralphilosophie der Schulen bilden konnte und die tatsächlich untergehen mußte, sobald die sinnliche Liebe mit ihr in Konkurrenz trat.

61

Carmina burana. Die Gedichte des Codex Buranus. Lateinisch - Deutsch. Übers, von Carl Fischer. Zürich - München 1974, S. 372-376 (CB 105).

Dennis Η. Green (Cambridge)

Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur

Auf dem Reklamezettel einer vor kurzem erschienenen Arbeit über die Fiktionalität des höfischen Romans wird behauptet, der epochale Neuansatz des Romans lasse sich am besten über den Begriff 'Fiktionalität' erfassen. 1 Ohne die Bedeutsamkeit dieses Begriffs in Frage stellen zu wollen, darf man andere Forschungsrichtungen nennen, fur die derselbe Anspruch erhoben werden könnte, wie etwa die Funktion der Ironie, das Zusammenspiel zwischen Hören und Lesen oder den Unterschied zwischen Erzähler und Autor. Jede von diesen hängt mit den anderen zusammen, und jede ist mit der Fiktionalität eng verbunden, so daß wir es mit einer vielschichtigen Gesamterscheinung zu tun haben. Im folgenden befasse ich mich nur mit den Parallelen zwischen Ironie und Fiktion, auch dann nur in einer Hinsicht: Hat man im Mittelalter ihr Vorhandensein erkennen können? Ausgangspunkt ist die These, daß sowohl Ironie als auch Fiktion übertragene Redeweisen darstellen, wo eine Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem besteht. Im Falle der Ironie läßt sich der Nachweis leicht erbringen. Die Begriffsbestimmungen in den rhetorischen Handbüchern mögen zuweilen aufs Ganze gehen, indem sie Gemeintes und Gesagtes als gegensätzlich (contrarium) bezeichnen,2 oder sie können sich damit begnügen, sie als bloß verschieden {aliud oder alienum) hinzustellen. 3 Gerade deshalb führte Isidor von Sevilla die Ironie unter der Allegorie an (die bei ihm alieniloquium heißt), während Pompeius es für nötig hielt, eine Trennungslinie deshalb zu ziehen, weil diese beiden soviel gemein hatten, jedoch nicht identisch waren. Das trifft aber auch auf die Metapher zu, wo zum Beispiel das verbum proprium 'Krieger' durch einen übertragenen Ersatz wie 'Löwe' wiedergegeben werden kann. 4 Hier haben wir uns aber nicht damit zu beschäftigen, wie die drei rhetorischen Erscheinungen Ironie,

2

3 4

Gertrud Grünkom, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200. (Philologische Studien und Quellen 129) Berlin 1994. Dennis H. Green, „Alieniloquium. Zur Begriffsbestimmung der mittelalterlichen Ironie". In: Verbum et Signum. (FS Friedrich Ohly) Hg. von Hans Fromm, Wolfgang Harms und Uwe Ruberg. Bd. 2: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter. München 1975, S. 119-159, hier S. 120f. Ebd., S. 124. Ebd., S. 139.

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Dennis Η. Green

Allegorie und Metapher voneinander unterschieden werden müssen, sondern mit dem, was sie alle miteinander teilen: die Notwendigkeit, ein Wort oder eine Aussage nicht im eigentlichen, sondern im uneigentlichen oder übertragenen Sinne zu verstehen. Auch die mittelalterliche Fiktionalität (fabula im Gegensatz zu historia und argumentum) hat man vor dem Hintergrund des uneigentlichen Sprachgebrauchs zu betrachten. Nach Dafürhalten der spätantiken und frühmittelalterlichen Theoretiker hatten religiöse Texte eine Orakelfunktion, man verfaßte sie nach den Regeln einer Verhüllungstechnik, um jede Profanierung abzuwehren, so daß man sich systematisch einer indirekten oder allegorischen Sprechweise bediente.5 Eine ähnliche Ansicht, die aber anderen Zwecken diente, ist auch in der nichtreligiösen Literatur anzutreffen: Obwohl Isidor einen Abfall konstatiert zwischen Moses oder David, die vom wahren Gott gesungen haben, und den eitlen Fabeln weltlicher oder heidnischer Dichter,6 betrachtet er es immer noch als Aufgabe des Dichters, durch eine uneigentliche Sprache, durch obliquae figurationes die Wahrheit zu fördern.7 Diese indirekte Sprache ist ein genauso wesentlicher Bestandteil des Dichteramtes, wie es die orakelhafte oder allegorische Verheimlichung in der spezifisch religiösen Literatur war, auch wenn erstere in den Augen geistlicher Rigoristen manchmal nicht im Dienste der Wahrheit stehen mag. Sogar bei Aristoteles, der für die Poesie höhere Ansprüche als für die Geschichte zu machen bereit war, führt dieser Gebrauch der uneigentlichen Rede, eine Entgleisung von der eigentlichen Bedeutung oder von den Normen der philosophischen Sprache, dazu, daß die Dichtung als der klaren Gedankenführung unterlegen abgetan wird. 8 Meine zweite These lautet: Wegen der Diskrepanz zwischen Aussage und Bedeutung sind die Ironie und die Fiktion dem fundamentalistischen Vorwurf der Lügenhaftigkeit ausgesetzt, wie schon durch Isidors Kontrast zwischen denen, die vom wahren Gott singen, und den Produzenten eitler Fabeln nahegelegt worden ist. Im Falle der Ironie kommt diese Ansicht nicht nur bei geistlichen Rigoristen zur Sprache, denn auch ein moderner Theoretiker des Moralkodex der Ironie versteigt sich zu der Kritik, die Ironie sei eine Art von Lüge. 9 Wir brau-

5

Martin Irvine, The Making of Textual Culture. 'Grammatica' and Literary Theory, 3501100. (Cambridge Studies in Medieval Literature 19) Cambridge - New York - Melbourne 1994, S. 182, 245.

6

Peter von Moos, „Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 98 (1976), S. 93-130, hier S. 107f.

7

Ebd., S. 118 Anm. 55; Ludwig Gompf, „Figmenta poetarum". In: Literatur und Sprache im europäischen Mittelalter. (FS Karl Langosch) Hg. von Alf Önnerfors, Johannes Rathofer und Fritz Wagner. Darmstadt 1973, S. 53-62, hier S. 56.

8

Irvine (Anm. 5), S. 105,247; Harald Weinrich, Linguistik der Lüge. Heidelberg 1970, S. 73. Francois Paulhan, La morale de l'ironie. Paris 3 1925, S. 146. Zitiert bei Weinrich (Anm. 8), S. 59.

9

Ironie- und Fiktionssignale

in der höfischen

Literatur

37

chen nicht mit ihm völlig übereinzustimmen, um einzusehen, daß bei jeder Begriffsbestimmung den Gemeinsamkeiten zwischen Ironie und Lügen Rechnung getragen werden muß, schon deshalb, weil ersterer ein Moment der Verstellung innewohnt, eine äußere Darstellung, die dem wirklichen Tatbestand nicht entspricht, wie kurzlebig auch immer die Wirkung sein mag, bevor der Schein durchschaut wird.10 Dieser Schein muß aber plausibel genug sein, um einige von seiner Wahrhaftigkeit zu überzeugen, denn sonst gäbe es keine Opfer der Ironie. Die Kritik, die Dichtung bestehe aus lauter Lügen, hatte schon in der Antike eine lange Vorgeschichte. Sie geht bekanntlich auf Piatons Verbannung der Dichter aus seiner Republik zurück11 und beruht auf dem Gegensatz zwischen der eigentlichen Bedeutung der vom Philosophen gebrauchten Wörter und der uneigentlichen, figurativen Funktion der dichterischen Rede. Gerade wie die Aussage eines Lügners seine tatsächliche Meinung verheimliche, so verbergen auch die Worte eines Dichters die Gedanken der Philosophen, so daß die Dichtung im Vergleich mit der Philosophie im schlimmsten Falle eine Lüge enthalte, bestenfalls aber eine undeutliche Wahrheit.12 Obwohl man auch in der Antike eine positive theoretische Stellung zur Dichtung einnehmen konnte, war die platonische Tradition für das Christentum vor allem deshalb annehmbar, weil sie der Kirche eine leicht verfügbare Waffe gegen die heidnischen Dichter lieferte. So vertritt z.B. Hrabanus Maurus die Ansprüche der neuen christlichen Dichtung gegen die kunstvolle Verlogenheit Homers oder Vergils.13 Die Unterscheidung, die dieser Kritik an der antiken Dichtung zugrundeliegt, war nicht nur die zwischen heidnisch und christlich, sie bezog sich auch auf das Gegensatzpaar Fiktion und Geschichte. Einer verbreiteten rhetorischen Definition zufolge befaßt sich die historia mit Ereignissen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, das argumentum mit einem zwar vorgestellten, doch denkmöglichen Vorgang, während die fabula weder tatsächlich noch wahrscheinlich ist.14 Die beiden hier angeführten Außenpole, historia und fabula, spielen auch in der Volkssprache eine Rolle, als in der Chanson de geste fable mit Lügen identifiziert wird und Anspruch auf den eigenen historischen Status als estoire erhoben wird.15 In Deutschland behauptet etwa die Kaiserchronik ihre vergleichbare Stellung als crönicä, indem sie sich von denen absetzt, die ihre Lügen dichterisch einkleiden und mit der Unwahrheit die Jugend verfuhren.16 Noch treffender un10 11 12

Green (Anm. 2), S. 149f. Weinrich (Anm. 8), S. 66f. Ebd., S. 73.

13

von Moos (Anm. 6), S. 105 Anm. 22.

14

Fritz Peter Knapp, „Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 581-635, hier S. 584, 607. Ebd., S. 597.

15 16

Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hg. von Edward Schröder. (MGH. Deutsche Chroniken 1,1) Hannover 1892 (Nachdruck Berlin 1964), V. 27ff.

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terscheidet sich der Verfasser der Historia Troiana als Historiker vom Dichter mit der Begründung, er habe nichts erfunden (Non ego sum, quoniam nil fingo, poeta vocandus).'7 Diese Vorbehalte gegen die Fiktionalität und deren Abweisung wegen Unwahrheit treten aber im Zusammenhang mit dem höfischen Roman am deutlichsten, gar am schroffsten zutage. Im anglo-normannischen Bereich sind die Auslassungen des Wace über die Abenteuer während der Herrschaft des König Artus (weder völlig erlogen noch völlig wahr, sind sie als fabelhaft anzusehen) zu gut bekannt, um weiteres Verweilen zu rechtfertigen. 18 Daneben darf man aber die Kritik von Peter von Blois an Mönchen stellen, die sich an Erzählungen über Artus, Gawein und Tristan ergötzen und bei bloß erdichteten Themen Tränen vergießen, statt wegen des historisch bezeugten Leidens Christi. 19 In Deutschland äußert sich Thomasin von Zerclaere ähnlich. Obwohl er bereit ist, der volkssprachlichen Literatur seiner Zeit (wobei er gewisse Romanhelden namentlich nennt) einen qualifizierten Wert zuzugestehen, weil sie den Unreifen Leitbilder aufstellt, die sie beherzigen können, so empfiehlt er den Fortgeschrittenen einen anderen Lesestoff, weil diese Romane nicht wahr seien (diu spei diu niht war sinf).20 Derartige Romane führt ebenfalls Hugo von Trimberg auf, nicht ohne sein Publikum davor zu warnen, seine Zeit daran zu verschwenden, weil diese Werke trotz angenehmer Wortkunst keinem nützlichen Zweck dienen oder unseren Glauben verdienen (Swer des geloubt, der ist unwis).2i Die in diesen Fällen abgelehnte Fiktionalität betrifft nicht nur die poetische Diktion (den uneigentlichen Wortgebrauch), sondern auch den in ihr geäußerten Gegensatz zur Geschichte: Ob wahrscheinlich oder nicht, die erzählten Ereignisse haben nie stattgefunden. Diesen Vorwurf der Lügenhaftigkeit brauchte man jedoch nicht auf sich sitzen zu lassen - und hier komme ich zu meiner dritten These - , denn der Autor konnte die unterstellte Betrugsabsicht durch den Einbau von Signalen abstreiten, aus denen seine wahre Meinung hervorgehen sollte. Jedes Mißverständnis einer so zubereiteten Aussage ist also nicht auf den Wunsch des Autors zurückzufuhren, sein Publikum reinzulegen, sondern vielmehr auf dessen Unfähigkeit, seine

17 18 19

20

21

Zitat nach von Moos (Anm. 6), S. 110. Dazu Knapp (Anm. 14), S. 599f. De confessione (PL 207, 1088). Vgl. Hans Robert Jauß, „Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität". In: Funktionen des Fiktiven. Hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. (Poetik und Hermeneutik 10) München 1983, S. 423-431, hier S. 427f. Thomasin von Zerklaere, Der Wälsche Gast. Hg. von Heinrich Riickert. (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 30) Quedlinburg - Leipzig 1852 (Nachdruck Berlin 1965), V. 1085; dazu Knapp (Anm. 14), S. 610. Hugo von Trimberg, Der Renner. Hg. von Gustav Ehrismann. Mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle. (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters) 4 Bde., Berlin 1970/71 (zuerst Tübingen 1908-1911), V. 1226; dazu Knapp (Anm. 14), S. 603 Anm. 109.

Ironie- und Fiktionssignale in der höfischen Literatur

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Signale richtig zu deuten. Indem er diese Signale einsetzt, ermöglicht es der Autor, hinter seiner Aussage seine tatsächliche Meinung herauszuhören: Darin unterscheidet er sich wesentlich vom Lügner, dessen Plan ein Riegel vorgeschoben wird, sobald das von ihm Gemeinte sichtbar wird. Diese Verteidigung gegen die Anklage des Lügens dient aber einem weiteren Zweck. Indem er auf die Möglichkeit eines Mißverständnisses anspielt, schmeichelt der Autor jedem Angeredeten und bestärkt ihn in dem Glauben, er wenigstens habe den Hinweis nicht verpaßt, wie stumpfsinnig auch immer die anderen gewesen sein mögen. Dadurch gewinnt der Autor jeden so Umschmeichelten für seine Zwecke. Zur Ironie gehört also das Ironiesignal.22 Der Ironiker verstellt sich, aber er macht es auch deutlich, daß er sich verstellt: Er äußert sich in einer Schlüsselsprache, die potentiell jeder entschlüsseln kann. 23 Ironiesignale gibt es jede Menge, die rhetorischen Handbücher erwähnen sie oft ausdrücklich, 24 und, da sie konventionell eingesetzt werden, unterliegen sie dem steten Wandel. Die nichtsprachlichen Signale können entweder visuell oder akustisch sein. Visuelle Hinweise im Rahmen eines mündlichen Vortrags können ein Zwinkern einschließen, ein Hochziehen der Augenbrauen oder eine Handgebärde (sowohl Donatus als auch Boncompagno da Signa betonen, daß eine Gebärde oder ein Wandel der Gesichtszüge die Ironie begleiten kann), 25 aber beim gedruckten Text kann es sich um die Kursivschrift, Frage- oder Ausrufezeichen handeln. Mögliche akustische Signale sind ein Wechsel des Tonfalls, ein fragender oder höhnischer Klang oder ein unschlüssiges Sichräuspern (auch hier weist Donatus auf die Rolle der pronuntiatio hin). 26 Es überrascht nicht, daß die sprachlichen Signale noch vielfaltiger sind: Sie erstrecken sich vom Auffalligen (ein Verbum wie 'wähnen' wird dort verwendet, wo die Umstände es nicht zu erfordern scheinen, so daß man veranlaßt wird, den Wahn mit der Wirklichkeit zu vergleichen und eine Diskrepanz festzustellen) 27 bis zum kaum Bemerkbaren (ein bestimmter Artikel wird nicht als solcher gebraucht, sondern als kaum spürbares Demonstrativ, so daß wiederum ein Vergleich und eine mögliche Diskrepanz nahegelegt werden). 28 Je verborgener diese Hinweise sind, desto subtiler ist die ironische Wirkung, aber desto höher das Risiko, daß sie übersehen werden können. Die Fiktionssignale sind genauso unentbehrlich wie im Falle der Ironie. Das Fiktive muß als solches gewußt sein. Es geht nicht an, dort von einer Fiktion zu 22 23 24

25 26

27 28

Weinrich (Anm. 8), S. 60. Ebd., S. 65. Dilwyn ICnox, Ironia. Medieval and Renaissance Ideas on Irony. (Columbia Studies in the Classical Tradition 16) Leiden 1989, S. 58ff. Ebd., S. 58f. Vgl. Dennis H. Green, „On recognising medieval irony". In: The Uses of Criticism. Hg. von Albert P. Foulkes. (Literaturwissenschaftliche Texte 3) Bern u.a. 1976, S. 11-55, hier S. 12 Anm. 10. Ebd., S. 30f. Ebd., S. 34 und Anm. 47.

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sprechen, wo sie von demjenigen, für den sie bestimmt ist, nicht als solche erkannt werden kann. Wo diese Möglichkeit nicht gegeben ist, handelt es sich vielmehr um eine Illusion oder eine Täuschung. 29 Auch zu diesem Zweck gibt es eine stattliche Anzahl Signale. Dazu gehört etwa der Hinweis auf die Gattungszugehörigkeit eines bestimmten Werkes (wie beim Märcheneingang 'Es war einmal' oder wenn gleich im Prolog zu einem höfischen Roman auf Artus und die Tafelrunde Bezug genommen wird). 30 Dazu gehört ferner ein in den Romantext eingebauter fiktiver Dialog zwischen dem als Vortragender funktionierenden Erzähler und einem fingierten Publikumsmitglied oder ein ironisches Spiel mit Quellenhinweisen, die normalerweise die historische Glaubwürdigkeit eines Werkes untermauern sollten.31 Besonders reich an absichtlichen Hinweisen, die die auf angeblicher Quellentreue beruhende Zuverlässigkeit des eigenen Werkes unterminieren sollen, ist Wolframs Parzival?2 Häufig tut Wolfram so, als hinge der weitere Verlauf seiner Erzählung nicht von seiner Quelle ab, sondern von den Wünschen seines fiktiv zur Mitentscheidung aufgerufenen Publikums, mit dem er sich in ein erdichtetes Gespräch einläßt: Über eine Einzelheit der Erzählhandlung haben sie zu entscheiden, ihnen wird die Wahl überlassen, ihren Wünschen muß entsprochen werden. 33 Indem er sein wirkliches Publikum mit diesen erdichteten Zuhörern identifiziert und sie an der Aufgabe der Fiktion teilnehmen läßt, bringt Wolfram ihnen bei, worum es jetzt in der neuen Gattung geht. Seine Ironisierung der Quellenhinweise treibt er aber im Falle seiner angeblichen Vorlage, Kyot, auf die Spitze.34 Es wird eine komplizierte Quellenkette hergestellt (wobei schriftliche historische Berichte, arabische Wissenschaft und ans Wunderbare grenzende astronomische Kenntnisse eine Rolle spielen), vermutlich um den Bedürfnissen derjenigen zu genügen, die noch nicht auf dem neuen Gebiet der Fiktionalität bewandert waren und ohne die Bestätigung durch eine Quelle nicht auskommen konnten. Dies wird aber von Wolfram durch Zweifel in Frage gestellt, die er selber auftauchen läßt und die nicht nur Kyot betreffen, sondern die konventionelle Quellentreue überhaupt. Ein Beispiel dafür ist die klaffende

29

30

Dieter Henrich und Wolfgang Iser, „Entfaltung der Problemlage". In: Funktionen des Fiktiven (Anm. 19), S. 9-14, hier S. 10; Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1991, S. 35f. Weinrich (Anm. 8), S. 74; Grünkorn (Anm. 1), S. 17.

31

Uwe Pörksen, Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs Willehalm und in den 'Spielmannsepen'. (Philologische Studien und Quellen 58) Berlin 1971, S. 60ff, 75ff.

32

Dazu Eberhard Nellmann, Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers. Wiesbaden 1973, S. 50ff.

33

Ebd., S. 68; Dennis H. Green, Medieval Listening and Reading. The Primary Reception of German Literature 800-1300. Cambridge - New York - Melbourne 1994, S. 263. Dazu Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs 'Parzival'. (Mikrokosmos 36) Frankfurt/M. 1993, S. 381 ff.

34

Ironie- und Fiktionssignale

in der höfischen

Literatur

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Diskrepanz zwischen dem bestätigenden Kraftaufwand (in dem die Gestirne, Toledo, Provence, Anjou und Deutschland alle herhalten und herangezogen werden müssen) und der Geringfügigkeit des zu Bestätigenden (beim Verlassen der Burg Schanpfanzun unterließ es Gawan nicht, ein Frühstück einzunehmen).35 In anderen Fällen wird die Trennungslinie zwischen Fiktionsbereich und Wirklichkeit in Zweifel gezogen, so zum Beispiel beim letzten intertextuellen Verweis im Parzival. Hier macht der Erzähler an gut gewählter Stelle den verschmitzten Vorschlag, die Weiterfuhrung der Erzählung könnte von Erec (aus Hartmanns gleichnamigem Roman) übernommen werden (826,25-30). Mit anderen Worten: Die Wahrheit des Erzählten braucht nicht unter Bezugnahme auf die außerliterarische Wirklichkeit bestätigt zu werden, eine Fiktion läßt sich durch eine andere Fiktion erhärten.36 Mit meiner vierten These kommen wir einen Schritt weiter: Wenn das Publikum auf Signale angewiesen ist, um die Absichten des Autors zu verstehen, insbesondere wenn es sich um versteckte Signale oder ein unaufmerksames Publikum handeln sollte, besteht die Gefahr, daß diese Hinweise verkannt werden. Diese Gefahr ist vom Gebrauch solcher Signale kaum zu trennen, denn kein Dichter verrät ausdrücklich, daß er auf Umwegen arbeitet oder einen indirekten Bezug nimmt. Dem Publikum wird stattdessen überlassen, selber diesen Schluß zu ziehen, so daß die Möglichkeit besteht, sie könnten einen falschen Schluß ziehen oder gar keinen.37 Solche Fehldeutungen sind schon vor dem Mittelalter bezeugt (so warnt z.B. Augustinus in bezug auf die allegorische Exegese davor, übertragene Aussagen im buchstäblichen Sinne aufzufassen)38 und auch nachher (Don Quixote erblickt in den Ritterromanen eine beim Wort zu nehmende Abbildung der Wirklichkeit).39 Wir befassen uns aber mit dem Mittelalter, wo die außerliterarischen Quellen für die damalige Rezeption eines höfischen Romans sehr spärlich fließen, so daß uns nichts übrigbleibt, als textinterne Beispiele zu betrachten, von der Annahme ausgehend, daß eine von einem Autor in seiner Erzählung geschilderte Fehldeutung nicht ganz wirklichkeitsfremd gewesen und auch in der mittelalterlichen Literaturrezeption aufgetreten sein dürfte. Ein Verkennen der Ironie kann die Form annehmen, daß man vorschnell mit ihrem Vorhandensein rechnet, wo es nicht gerechtfertigt ist. Das ist im Waltharius der Fall, wo Hildegund es Waltharius zum Vorwurf macht, ihr eine Heirat in Aussicht gestellt zu haben, die er, so wähnt sie fälschlicherweise, nicht im Ernst 35

Wolfram von Eschenbach, Parzival. Hg. von Karl Lachmann. Berlin - Leipzig 6 1926, V. 431, lf.; dazu Nellmann (Anm. 32), S. 63, 69. Vgl. Peter Kem, Die Artusromane des Pleier. Untersuchungen über den Zusammenhang von Dichtung und literarischer Situation. (Philologische Studien und Quellen 100) Berlin 1981, S. 48, Anm. 18.

36

Draesner (Anm. 34), S. 287ff., 452. Douglas C. Muecke, „The Communication of Verbal Irony". In: Journal of Literary tics 2 (1973), S. 35-42; hier S. 35. Dazu Irvine (Anm. 5), S. 183.

37

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Zu einem Beispiel aus Shakespeare vgl. Iser (Anm. 29), S. 36f.

Seman-

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meint (Virgo per hyroniam meditans hoc dicere sponsum).40 Für unsere Zwecke relevanter sind die Fälle, wo man eine tatsächlich gemeinte Ironie nicht zu erblicken vermag. Hier sollten wir uns vor der unüberlegten Annahme hüten, daß wir in unserem skeptischen Zeitalter, die wir auch die leichtesten ironischen Anspielungen aufzuschnappen wissen, notwendigerweise besser vorbereitet sind als ein Publikum im Mittelalter, denn sie waren wenigstens in der Lage, beim mündlichen Vortrag sichtbare Gebärden und hörbaren Tonfall zu registrieren, die uns verschwunden sind. Aus demselben Grunde stimmt es aber auch nicht, daß der mittelalterliche Leser, wie selten er auch gewesen sein mag, bei der Erfassung der Ironie immer besser dran war als der Zuhörer. 41 Für das Versäumnis, die Ironie wahrzunehmen, führe ich zwei Beispiele an. Die Episode des belauschten Stelldicheins in Gottfrieds Tristan (Marke und Melot setzen sich auf einen Ölbaum bei einem Brunnen, um die Geliebten zu ertappen, begreifen aber nicht, daß ihr Schatten sie verrät) zwingt den Liebenden die Notwendigkeit einer ironischen Doppeldeutigkeit auf. 42 Als Isold Tristan versichert, sie sei demjenigen treugeblieben, dem sie ihre Jungfräulichkeit geschenkt habe, liegt auf der Hand, daß sie der beiden Späher gewahr ist und deshalb zwei Zielgruppen gleichzeitig anredet: ihren Geliebten, mit dem allein zu sprechen sie vorgibt, und ihren Mann samt Handlanger. Diesen beiden Gruppen bedeuten ihre Worte Unterschiedliches, denn Marke ist leichtgläubig genug, um sie auf sich anzuwenden, während sie für Tristan eine verborgene Bedeutung haben. Wenn die Ironie ein zweifaches Publikum voraussetzt (die Einsichtigen und jene, die es nicht sind),43 dann darf die doppelte Aufnahme dieser Worte durch zwei Gruppen als ironisch bezeichnet werden. Sie belegen aber ferner den Kontrast zwischen Ironie und Lüge, denn lügen kann Isold in ihrer Situation gerade nicht, weil sie sich, um ihrer Versicherung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, zweimal auf Gott berufen hat, der sich als Allwissender zu Tristan als Einsichtigem gesellt und nicht mit einer glatten Lüge abgespeist werden kann. Die Ironie dieser Episode ist textintern (Marke ist das Opfer), aber in Hartmanns Erec haben wir es mit einem Beispiel zu tun, wo das Publikum für wie kurze Zeit auch immer das Opfer ist. Es betrifft den hyperbolischen Lobgesang auf den Helden nach dem siegreichen Abschluß seines Hochzeitsturniers, wo er wegen seiner Weisheit mit Salomon verglichen wird, wegen Schönheit mit Absa-

40

Waltharius. Lateinisch/Deutsch. Übers, und hg. von Gregor Vogt-Spira. Stuttgart 1994, V. 235; dazu Green (Anm. 26), S. 13.

41

Ebd., S. 35. Gottfried von Straßburg, Tristan. Hg. von Peter Ganz. (Deutsche Klassiker des Mittelalters. Neue Folge 4) Wiesbaden 1978, V. 14764ff.; dazu Green (Anm. 2), S. 153; Christoph Huber, Gottfried von Straßburg, 'Tristan und Isolde'. Eine Einflihrung. (Artemis Einführungen 24) München 1986, S. 87f.

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43

Vgl. Green (Anm. 2), S. 129ff.

Ironie- und Fiktionssignale

in der höfischen

Literatur

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lom, wegen Stärke mit Samson und wegen Freigebigkeit mit Alexander.44 Das scheint ganz einfach zu sein: Das höchste Lob mit Bezug auf die höchsten konventionellen Vorbilder scheint hier auf dem bisher höchsten Gipfel in Erecs Laufbahn durchaus am Platze zu sein. Es steckt aber mehr dahinter, denn jedes von diesen Vorbildern galt auch konventionell als zweideutiger Charakter, besonders wegen einer von ihnen allen geteilten Eigenschaft, die hier zwar nicht erwähnt wird, doch ihre gemeinsame Benennung rechtfertigt. Jeder galt im Mittelalter als Minne- oder Frauensklave;45 dazu hat Absaloms Schönheit ihn vorbestimmt, aus Frauenliebe hat Salomon heidnische Götter angebetet, während Samson von Delila und Alexander von Candace bezaubert wurden. Dies sagt uns immer noch nichts über die mögliche Anwendbarkeit dieses Topos auf Erec, aber knapp 100 Verse später setzt sein verligen ein, indem er mit katastrophalen Folgen der Schönheit seiner Frau erliegt; dadurch reiht er sich unter die Frauensklaven ein, mit denen er indirekt verglichen wurde. Nur das aufmerksame Publikumsmitglied, dem die Zweideutigkeit dieser Vorbilder gegenwärtig war, oder einer, der sich entsinnen konnte, daß der Held von Hartmanns Armem Heinrich knapp vor seiner Katastrophe mit Absalom verglichen worden war,46 mag geahnt haben, daß auch Erec eine Krise bevorstand. Davon abgesehen muß das Publikum in Unkenntnis über das Vorhandensein der Ironie gewesen sein, wenn auch nur für kurze Zeit. In seiner Erläuterung des ironischen Lobs als rhetorischen Kunstgriffs behauptet Boncompagno da Signa, 'kaum jemand' (vix aliquis) sei so dumm, es zu glauben, wenn der Äthiopier wegen seiner weißen Gesichtshaut gelobt wird,47 aber aus seinem Wortlaut (einem klaren 'niemand' geht er aus dem Wege) geht vielleicht hervor, daß er sich doch einige vorstellen konnte, die so dumm waren. Bei Hartmann ist die Ironie subtiler, denn beim ersten Vortrag können es nur wenige gewesen sein, die die negativen Implikationen seiner Lobrede sofort verstanden haben. Verschiedene Gründe wirken zusammen, um das Versäumnis eines mittelalterlichen Publikums zu erklären, das Fiktive zu erkennen. Schon seine Neuartigkeit dient einigermaßen als Erklärung, denn, wenn wir die Ansicht annehmen, daß der Begriff der mittelalterlichen Fiktionalität in Verbindung mit dem Roman

44

Hartmann von Aue, Erec. Hg. von Albert Leitzraann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 6. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. (Altdeutsche Textbibliothek 39) Tübingen 1985, V. 281 Iff.; dazu Green (Anm. 2), S. 147; ders., „Hartmann's Ironie Praise of Erec". In: Modern Language Review 70 (1975), S. 795-807.

45

Zu diesem Topos Friedrich Maurer, „Der Topos von den 'Minnesklaven'". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), S. 182-206; Rüdiger Schnell, Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. (Bibliotheca Germanica 27) Bern - München 1985, S. 475-505. Vgl. Dennis H. Green, Irony in the Medieval Romance. Cambridge 1979, S. 38.

46 47

Vgl. Green (Anm. 2), S. 121.

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(Chretien de Troyes und seine deutschen Nachfolger) entstanden ist, 48 so war das erste Publikum nicht nur mit einem neuen Stoff konfrontiert, sondern mit einer neuen Literaturauffassung, zu der es noch erzogen werden mußte, 49 so daß Gattungsmerkmale, die späteren Rezipienten behilflich waren, nachdem die neue Gattung sich eingebürgert hatte, anfangs nicht so informativ gewesen sein können. Hinzu kommt, daß der von diesen ersten Vertretern der Fiktionalität praktizierten und ihren Rezipienten zugemuteten raffinierten Kunstfertigkeit historisch schon deshalb keine Dauer beschieden war, weil sie nicht von allen verstanden wurde. 50 Im Iwein wird auf ein unaufmerksames Publikum angespielt, als Kalogreant in der Rolle eines Vortragenden die Aufmerksamkeit von Herz und Ohren erbittet, so daß diese Bereitschaft kaum bei jedem Publikum vorauszusetzen war.51 Ein anfangs in der Fiktionalität unerfahrenes Publikum ist allerdings von Peter Kern in Zweifel gezogen worden,52 der eine Reihe von Hinweisen auf die Fiktionalität anfuhrt, ohne zwischen denen, die uns modernen Lesern zugänglich sind, und denen, die einem damaligen Publikum verschlossen geblieben sein können, einen Unterschied zu machen. Einige von seinen Hinweisen verwischen den bedeutsamen Bildungsunterschied zwischen laikalen und geistlichen Mitgliedern des Hofes. Wenn von der klerikalen Kritik an der weltlichen Dichtung ein Bewußtsein von deren Fiktionalität abgeleitet wird,53 so mag das wohl auf einen rhetorisch gebildeten Geistlichen zutreffen, aber nicht auf alle Laien. Es geht auch nicht an, aus dem Fiktionsbewußtsein eines in den meisten Fällen klerikalen Autors 54 auf eine ähnliche Einstellung bei seinem vorwiegend laikalen Publikum zu schließen. Inwieweit ein allzu prosaisches Publikum die Anforderungen der Fiktionalität nicht erfüllen konnte, ersieht man in Deutschland aus dem Seifried Helbling, dessen Autor eine auf Augenzeugen zurückgehende Glaubwürdigkeit für sich beansprucht, im Gegensatz zu den Lobgesängen, mit denen Gahmuret und Parzival von Wolfram von Eschenbach überschüttet wurden, der sie nie zu sehen bekommen hatte (der ir einen nie gesach).55 Bei Her48

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51

52 53 54 55

So Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Darmstadt 1992. Nellmann (Anm. 32), S. 52. Walter Haug, „Weisheit, Reichtum und Glück. Über mittelalterliche und neuzeitliche Ästhetik". In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. (FS Karl Stackmann) Hg. von Ludger Grenzmann, Hubert Herkommer und Dieter Wuttke. Göttingen 1987, S. 21-37, hier S. 30. Hartmann von Aue, Iwein. Eine Erzählung. Hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann. Neu bearb. von Ludwig Wolff. Berlin 7 1968, V. 242-258; dazu Dennis H. Green, The Art of Recognition in Wolfram's Parzival. Cambridge u.a. 1982, S. 2. Kern (Anm. 35), S. 5Iff. Ebd., S.53f. Ebd., S. 52. Seifried Helbling. Hg. von Joseph Seemüller. Hal!e/S. 1886, V. XIII,84; dazu Green (Anm. 33), S. 247.

Ironie- und Fiktionssignale

in der höfischen

Literatur

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rand von Wildonie heißt es, ein Mann von höfischem Geschmack lasse sich einen Roman gefallen, während die Unhöfischen auf einem Augenzeugenbericht bestehen.56 Bei beiden Autoren konstatieren wir eine wohl verbreitete Reaktion gegen die Fiktionalität, die gerade mit der Nüchternheit beurteilt wurde, die die neue Gattung zu überflügeln vermeinte. In dieser Reaktion erfassen wir das mittelalterliche Pendant zu Gottfried Kellers Schreckgespenstern (für die er im Grünen Heinrich tüchtig geflunkert hat, denn es gibt noch 'Esel, die es für bare biographische Münze nehmen')57 oder zu dem amerikanischen Publikum, das infolge der Rundfunksendung von Orson Welles' War of the Worlds von Panik erfaßt wurde. Angesichts solcher Schwierigkeiten tun manche Romanautoren gerade das, was sie laut Kern nicht zu tun brauchten: Sie bauen in ihre Erzählung fiktive Dialoge ein, deren Zweck es ist, ihr Publikum mit den neuen Erfordernissen der Fiktion bekanntzumachen und sie zur Preisgabe eines unangebrachten Literalismus zu veranlassen. In seinen beiden Romanen befaßt sich Hartmann mit dieser Aufgabe in Passagen, die wir nur verkürzt in bezug auf unser Thema betrachten können. Der Dialog im Iwein zwischen dem Erzähler und der Personifikation vrou Minne ist durch die vermeintliche Unfähigkeit des ersteren veranlaßt, zu verstehen, wieso Iwein nach seinem Herzensaustausch mit Laudine sich mit der einem Ritter gebührenden Tapferkeit benehmen kann.58 Hier übernimmt der Erzähler die Rolle eines prosaischen Rationalisten, der eine poetische Gedankenfigur nur im oberflächlichen Sinne aufzufassen vermag und dem von vrou Minne beigebracht werden muß, daß es um eine höhere Idealwahrheit geht, die den kläglichen Rationalismus des Erzählers als ungeeignet erscheinen läßt. Hinter diesem fiktiven Dialog steht natürlich die lenkende Hand des Dichters Hartmann, der, indem er in dieser Schilderung einer vorgetäuschten Oberflächlichkeit das eigene Erzähler-Ich erniedrigt, tatsächlich diesen Erzähler in die Lage eines in der Fiktion nicht bewanderten Publikums versetzt, so daß der hier in Gang gesetzte Erziehungsprozeß letzten Endes diesem Publikum gilt. Im Erec gibt es eine ebenfalls erzieherische Publikumsbeschimpfung in der Beschreibung des Enite geschenkten Pferdesattels.59 Hier heuchelt der Erzähler 56 57

Vgl. ebd. Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hg. von Clemens Heselhaus. München o.J., S. 1155 (Brief an M. Mellos 29. XII. 1880).

58

Hartmann von Aue, Iwein (Anm. 51), V. 2971-3019; dazu Wolfgang Dittmann, „Dune hast niht war, Hartman! Zum Begriff der wärheit in Hartmanns Iwein". In: Festgabe für Ulrich Pretzel. Hg. von Werner Simon, Wolfgang Bachofer und Wolfgang Dittmann. Berlin 1963, S. 150-161.

59

Hartmann von Aue, Erec (Anm. 44), V. 7462-7581; dazu Walter Haug, „Gebet und Hieroglyphe. Zur Bild- und Architekturbeschreibung in der mittelalterlichen Dichtung". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 106 (1977), S. 163-183; Franz Josef Worstbrock, „Dilatatio materiae. Zur Poetik des 'Erec' Hartmanns von Aue". In: Frühmit-

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vor Beginn seiner Aufgabe eine bescheidene Unfähigkeit vor, wird aber von einem Zuhörer unterbrochen, der an seiner Stelle die Schilderung übernehmen will, aber am Ende die eigene Unfähigkeit eingestehen muß, nachdem der Erzähler ihn gefoppt und in seine Schranken verwiesen hat, um dann die Aufgabe mit elegantem Schwung selber zu erledigen. Auch hier haben wir es mit einer oberflächlichen Sicht der Dinge zu tun, denn der Zuhörer betrachtet den Sattel zunächst allenfalls als materiellen Gegenstand, wird aber langsam zu einer tieferen Einsicht gebracht, nachdem der Erzähler die symbolische Dimension des Sattels mit weitreichenden Implikationen für das ganze Werk dargelegt hat. Der in dieser Episode verkörperte Erziehungsprozeß gilt auch in diesem Fall nicht nur dem fiktiven tollkühnen Zuhörer, sondern auch Hartmanns wirklichem Publikum, dem ein geeignetes Verständnis der Fiktionalität beigebracht werden soll. Zwischen diesen beiden Passagen besteht kein Widerspruch, obwohl Hartmann mal die Rolle eines einfaltigen Prosaikers spielt, der von vrou Minne gelenkt werden muß, mal eine überlegene Rolle dem verständnislosen Zuhörer gegenüber. Nimmt man diese beiden Episoden und die beiden von Hartmann gespielten Rollen zusammen, so erweisen sie ihn als Vermittler zwischen seinem Publikum und der höheren Wahrheit der Fiktion. Auch Gottfried baut an entscheidender Stelle einen fiktiven Dialog in seinen Tristan ein, wo er im Widerspruch zu anderen Fassungen behauptet, die Liebenden verzichteten auf jegliche Nahrung während ihres Aufenthalts in der Liebesgrotte, weil sie sich mit der Liebesspeise begnügten. 60 Wiederum kommt eine skeptische Frage aus dem Munde eines nüchternen Zuhörers, der dazu erfunden ist, die mit dem neuen Fiktionalitätsbegriff verbundenen Schwierigkeiten zu veranschaulichen. Mit der Erklärung, die Liebenden ernährten sich von der Liebe, mit der Behauptung, das wäre auch ihm genug gewesen, und mit der Herausforderung, die Zuhörer sollten mit einem besseren Vorschlag aufwarten, macht es Gottfried klar, daß diese durch die Grottenallegorie auf höchstem Niveau angesiedelte Zentralszene nicht nach bloß realistischen Maßstäben zu beurteilen sei.61 Gottfried kleidet seine Antwort auf die fiktive Frage in eine idealisierende Formulierung ein, die der zeitlosen Allegorie adäquat ist, aber indem er diese Frage

telalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30; Barbara Haupt, „Literaturgeschichtsschreibung im höfischen Roman. Die Beschreibung von Enites Pferd und Sattelzeug im Erec Hartmanns von Aue". In: Festschrift für Herbert Kolb. Hg. von Klaus Matzel und Hans-Gert Roloff. Bern 1989, S. 202-219; Johannes Singer, „nü swic, lieber Hartman: ob ich ez erräte? Betrachtungen zum fingierten Dialog und zum Gebrauch der Fiktion in Hartmanns £>ec-Roman (7495-7766)". In: Dialog. (FS Siegfried Grosse) Hg. von Gert Rickheit und Sigurd Wichter. Tübingen 1990, S. 59-74. 60

Gottfried von Straßburg, Tristan (Anm. 42), V. 16811-16850; dazu Winfried Christ, Rhetorik und Roman. Untersuchungen zu Gottfrieds von Straßburg 'Tristan und Isold'. (Deutsche Studien 31) Meisenheim 1977, S. 31 Off.; Carl Lofmark, „The Miraculous in Romance". In: German Life and Letters 30 (1976/77), S. 110-126, hier S. 119ff.

61

Green (Anm. 33), S. 260.

Ironie- und Fiktionssignale in der höfischen Literatur

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(besser: die zugrundeliegende Mentalität) als unhöfisch (unvuoge) abtut, gerade wie Herrand von Wildonie seinem Zuhörer denselben Vorwurf gemacht hatte, identifiziert er ein Verständnis für die Fiktionalität mit dem höfischen Geschmack überhaupt. Die Nahrung der Geliebten ist also nicht konkret zu verstehen, sondern in Verbindung mit Parallelen, die anderswo im Werke feststellbar sind, wie die geistige Speise der Eucharistie, das Paradies als Befreiung vom leiblichen Hunger, und die Speisemetapher der Mystik. 62 Durch solche Verzweigungen und durch das Heraufbeschwören von Fragestellern, die zurückgewiesen werden, verweist Gottfried auf eine das Alltägliche transzendierende Ebene. Indem er diese Frage stellen läßt, nimmt er die Schwierigkeiten einiger von seinen Publikumsmitgliedern vorweg und erschließt ihnen, was jetzt von ihnen gefordert wird. Ein letztes Beispiel der verkannten Fiktionalität entnehme ich dem Welschen Gast Thomasins von Zerclaere. Es unterscheidet sich insofern von den bisherigen Fällen, als hier von einer Weigerung die Rede sein muß, die von den Romanautoren seiner Zeit propagierte Fiktionalität anzuerkennen. 63 Walter Haug zufolge stellt Thomasin eine Alternative für diejenigen bereit, die sich der Neuheit der Fiktion verschlossen oder einfach kein Organ dafür hatten, 64 so daß aus diesem Beispiel hervorgeht, wie drastisch die Opposition war, die diese Neuheit auf den Plan rief, vor allem in gut unterrichteten klerikalen Kreisen, nicht nur unter denen, die die erforderliche geistige Beweglichkeit nicht aufbrachten. Thomasin verdammt die neue Gattung nicht in Bausch und Bogen, er gesteht dem Roman einen beschränkten Wert zu, denn unter dem falschen Schein vermittelt er ethische Vorbilder, positive oder negative, denjenigen, die keiner höheren Geistesbemühungen fähig sind, Kindern und leseunkundigen Erwachsenen. Diejenigen mit mehr Verstand sollten aber ihre Zeit gewinnbringender mit Werken verbringen, die einen direkten Zugang zur Wahrheit anbieten. Wichtig ist an diesem Punkt Thomasins Zweiteilung des Publikums für die Hofliteratur (die Ungebildeten und die Gebildeten), wie auch seine Beschränkung ersterer auf ein oberflächliches Verständnis: indem sie sich Bilder ansehen, wenn sie nicht lesen können, oder Romane lesen (aus denen, so Thomasin, kein tiefer Sinn herausgeholt werden kann), wenn sie zwar lesekundig, doch nicht so gut gebildet sind, daß sie sich höheren Anforderungen stellen können.65 In alledem setzt Thomasin zwei 62

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Dazu Franziska Wessel, Probleme der Metaphorik und die Liebesmetaphorik in Gottfrieds von Straßburg 'Tristan und Isolde'. (Münstersche Mittelalter-Schriften 54) München 1984, S. 509ff.; Lofmark (Anm. 60), S. 120f. Thomasin von Zerklaere, Der Wälsche Gast (Anm. 20), V. 1079-1126; dazu Haug (Anm. 48), S. 222ff.; Fritz Peter Knapp, „Integumentum und äventiure. Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris) und Thomasin von Zerklaere". In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 28 (1987), S. 299-307; Grünkorn (Anm. 1), S. 103ff. Vgl. Haug (Anm. 48), S. 234. Vgl. Klaus Düwel, „Lesestoff für junge Adlige. Lektüreempfehlungen in einer Tugendlehre des 13. Jahrhunderts". In: Fabula 32 (1991), S. 67-93.

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Ebenen der Lesekundigkeit voraus (elementar und fortgeschritten), und in der langjährigen Debatte über seine beiden Typen von Leser scheint sich jetzt die Ansicht durchzusetzen, daß der oberflächliche Leser auf den Roman beschränkt ist (der ethische Vorbilder liefert, aber keine tiefere Bedeutung enthält),66 während der gebildetere Leser sich anderen Werken, anderen Gattungen (vermutlich auch Thomasins didaktischer Abhandlung) zuwenden sollte. In dieser Argumentation enthält Thomasin der Romangattung vor, was Chretien und seine deutschen Nachfolger für sie in Anspruch genommen hatten: die Fähigkeit des neuen Fiktionsbegriffs, eine bedeutungsträchtige Struktur zu vermitteln, die der primitiven Aufstellung von Vorbildern, die man nachzuahmen hatte oder nicht, weit überlegen war. Dieser Interpretation zufolge erkannte Thomasin zwei Stufen der literarischen Rezeption an, doch in unterschiedlichen Gattungen: eine dem wörtlichen Sinne verhaftete Rezeption (im Roman beheimatet) und eine tiefere, für Fortgeschrittene bestimmte (außerhalb des Fiktionsbereichs). Aus diesem Grunde gehört er nicht zu meiner fünften und letzten These, in der Beispiele zur Sprache kommen, wo einige das Vorhandensein von Ironie oder Fiktion erkennen, andere aber nicht. Dies ist ein selbstverständlicher Schritt über die letzte These hinaus, denn, auch wenn das Erkennen nicht allen gelungen ist, so muß ein Autor, der mit Signalen (auch nur sehr diskret) umging, damit gerechnet haben, daß einige sie verstehen würden. Daß der Autor, der sich einer uneigentlichen Sprache bedient (in der Allegorie oder in der Fiktion), Gefahr läuft, nicht von allen verstanden zu werden, geht aus einer Anzahl geistlicher lateinischer Werke hervor. In der traditionell mit verschiedenen Bedeutungsebenen arbeitenden allegorischen Exegese kann eine Ebene als einer bestimmten Rezipientengruppe adäquat angesehen werden, während eine andere Ebene mehr auf eine andere Gruppe zugeschnitten erscheint.67 Diese Interpretationsebenen können mit unterschiedlichen Verständnisschwierigkeiten verbunden werden: Die einen begnügen sich mit dem historischen oder buchstäblichen Sinne eines Textes, während die anderen höhere Ebenen bewältigen können. Die so erreichte Stufenordnung kann zuweilen vier Gruppen unterschiedlicher Fähigkeiten umfassen (die den vier Ebenen der allegorischen Exegese entsprechen), manchmal drei, doch häufiger nur zwei. 68 In letzterem Fall wird die Unterscheidung je nach Verstand oder geistlicher Erfahrung getroffen, zwischen den rüdes und den docti, den tardiores und den velociores, den simplices und den perfectiores. Auch in der biblischen Exegese braucht die Fähigkeit der einen, eine den anderen verschlossene Wahrheit zu verstehen, nicht auf die spiri-

66 67

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Grünkom (Anm. 1), S. 105, 109. Hartmut Freytag, Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts. (Bibliotheca Germanica 24) Bern München 1982, S. 36ff. Ebd., S. 37.

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tuelle Dimension beschränkt zu sein, sie kann sich auch auf die rhetorischen Kunstmittel erstrecken, wie schon bei Augustinus.69 Das erklärt die Bereitschaft einiger lateinischer Schriftsteller, sich die Rezeption ihrer Werke auf unterschiedliche Weise durch unterschiedliche Gruppen innerhalb des Publikums vorzustellen. Macrobius trennt die Grobschlächtigen (vulgaribus hominum sensibus) von den Weisen (prudentibus), die 'Anderen' von den 'Hochangesehenen mit höherem Verstand' ,70 Wilhelm von Conches zieht eine Linie zwischen den rustici et insipientes auf der einen Seite und den sapientes auf der anderen,71 während Alanus ab Insulis für den Anticlaudianus eine Stufenordnung beansprucht, wie sie in der biblischen Exegese üblich war, indem er das Werk jeweils auf den puer, den perficiens und den proficiens zugeschnitten wissen wollte.72 Was er im Prolog behauptet ('wer sich nur nach den Bildern und dem äußeren Sinn richtet, versperrt sich den Weg zum tieferen Verständnis'),73 kann auf alle diese Fälle übertragen werden: Die einen erklimmen die höheren Spitzen, von denen die anderen ausgeschlossen sind. Einige erkennen, andere aber nicht. Eine ähnliche Zweiteilung hat man als für die Ironie typisch bezeichnet, wie bei der von Fowler vorgeschlagenen Definition: „Irony is a form of utterance that postulates a double audience, consisting of one party that hearing shall hear and shall not understand, and another party that, when more is meant than meets the eye, is aware both of that more and of the outsiders' incomprehension".74 Diese Begriffsbestimmung paßt gut zu einem dem Mittelalter bekannten Beispiel, zu dem übertriebenen Lob Neros in Lucans Pharsalia, das von Kommentatoren im Mittelalter als ironisch aufgefaßt wurde, so daß die Worte, die der römische Dichter von Nero als schmeichelhaft gemeint wissen wollte, von seinen einsichtigen Lesern als höhnisch empfunden wurden.75 Als Beispiel der Ironie, die sowohl erkannt als auch verkannt wird, nehme ich einen kurzen Passus aus Gottfrieds Tristan.16 Es betrifft den Gebrauch der Jagdmetapher in bezug auf die Liebenden, so zum Beispiel als von Tristan, der sich zu einem Stelldichein mit Isold begibt, gesagt wird, er mache sich verstohlen auf zu seinem Jagdrevier.77 Hier liegen genug Gemeinsamkeiten zwischen Tristans Lage und der Jagd vor, um den einfachen Gebrauch dieser Metapher zu rechtfertigen: die traditionelle Verbindung von Venus mit venatio, die Schlauheit und Verstohlenheit des Geliebten, sein geduldiges Harren auf eine passende Gele69 70

Ebd., S. 38. Winthrop Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelfth Century. The Literary Influence of the School of Chartres. Princeton 1972, S. 37f.; Grünkorn (Anm. 1), S. 60f.

71

Griinkom (Anm. 1), S. 61.

72

Knapp (Anm. 14), S. 618f.; Grünkorn (Anm. 1), S. 67. Gompf (Anm. 7), S. 58. Henry W. Fowler, A Dictionary of Modern English Usage. Oxford 1954, S. 295. Knox (Anm. 24), S. 49f. Green (Anm. 2), S. 139f.; Wessel (Anm. 62), S. 379ff. Gottfried von Straßburg, Tristan (Anm. 42), V. 13489ff.

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genheit, Isold als Jagdbeute. Die Ironie kommt erst dann ins Spiel, als später eine wirkliche Jagd stattfindet, so daß metaphorischer und eigentlicher Gebrauch jetzt kontrastiert werden können. Marke veranstaltet eine Jagd, von der Tristan, der eine Gelegenheit wittert, fernbleibt unter dem Vorwand einer Erkrankung: Sin weidegeselle Tristan beleip dä heime und enbdt dem oeheime daz er siech waere?8

Trotz Markes Argwohn (nicht bestätigt und bald zerstreut) stellt uns das Wort weidegeselle ('Jagdgeselle') Tristan so dar, wie ihn Marke und sein Hof betrachten, denn er ist als Hofjägermeister angestellt und als solcher bei dieser Gelegenheit zur Teilnahme eingeladen. Marke hegt auch keine Zweifel an der buchstäblichen Wahrheit von Tristans Erkrankung, denn bei seiner Rückkehr von der Jagd fragt er besorgt und ohne jede Spur von Ironie nach seinem Gesundheitszustand. 79 Für Marke sind also diese Krankheitsgründe echt, von seinem Standpunkt aus ist Tristan einfach und allein sein Jagdgeselle. Hat aber Gottfried diese Worte so gemeint? Oder wird von uns erwartet, daß wir Tristans Jägeramt als Liebesmetapher auffassen (wie vorher auf seinem Wege zum Stelldichein) und daher seine Unpäßlichkeit als Liebeskrankheit? Aufklärung darüber liefert die Erzählerbemerkung in den darauffolgenden Versen: der sieche weidenaere \ wolt' ouch an sine weide (V. 14380f.). Hier brauchen wir nicht anzunehmen, der Vortragende habe den Wörtern ouch und sine eine besondere Betonung verliehen, um zu sehen, daß diese Bemerkung ironisch sein muß, indem die Verwendung von zwei Metaphern gegen Marke als Gefangenen des Buchstaben ausgespielt wird. Wenn auch Tristan auf seine Jagd gehen will, aber Marke nicht auf seiner wirklichen Jagd begleitet, dann handelt es sich für den Liebenden auch bei dieser Gelegenheit um die metaphorische Liebesjagd und in engem Anschluß daran um die Liebeskrankheit. In diesen Versen geht es um viel mehr als eine rhetorische Kleinigkeit, die allenfalls den Sinn von zwei Wörtern berührt, denn die Jagd als Liebesmetapher (aus Zeitgründen klammere ich das Bild der Krankheit aus) hat so viele Verzweigungen im ganzen Werk, daß man sie gewissermaßen als ein Erzählprinzip betrachten kann, das zum Verständnis des Romans Wesentliches beiträgt. 80 Wenn die Liebe eine Jagd ist, dann ist nicht nur Tristan ein Jäger: Die beiden

78 79 80

Ebd., V. 14376ff. Ebd., V. 14973ff. Zur Metapher als narrativem neben rhetorischem Prinzip vgl. Uwe Ruberg, „'Wörtlich verstandene' und 'realisierte' Metaphern in deutscher erzählender Dichtung von Veldeke bis Wickram". In: Sagen mit sinne. (FS Marie-Luise Dittrich) Hg. von Helmut Rücker und Kurt Otto Seidel. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 180) Göppingen 1976, S. 205-220, hier S. 216.

Ironie- und Fiktionssignale in der höfischen Literatur

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Liebenden sind mit einer Jagd beschäftigt. Ihr gemeinsames Jagdreiten während des Aufenthalts in der Liebesgrotte dient nicht dem Zweck, Wild als Nahrung zu erlegen, auf die sie ohnehin verzichten können, sondern ist eine in die Erzählhandlung umgesetzte Metapher, die auf ihre Liebesbeschäftigung hinweist. 81 Die Liebenden sind aber nicht nur Jäger, sie sind auch Jagdwild, und zwar in einem doppelten Sinne: Sie werden erstens von der Liebesgöttin Minne gefangen genommen, als sie sich ihrer Herzen bemächtigt, aber zweitens versuchen Marke und seine Höflinge, ihnen immer wieder auf die Spur zu kommen und sie in eine Falle zu locken. 82 Die Vieldeutigkeit dieser Metapher durchzieht weite Erzählstrecken und verleiht ihr einen Bedeutungsreichtum, der sich denen entzieht, die wie Marke alles beim Worte nehmen. Marke ist ein Versager in der Liebe (nicht zuletzt weil er ein Ehemann ist!) und daher ein Versager in der uneigentlichen Liebessprache, in der sich die Liebenden so gut auskennen. Indem er sein Publikum dazu auffordert, die Wörter und Handlungen seiner Liebenden im uneigentlichen Sinne zu verstehen, stellt Gottfried es vor die Wahl, zu Markes Welt zu gehören oder zu der der Liebenden, sich den edelen herzen zuzugesellen oder draußen in ir aller werlt zu bleiben. 83 Wie bei der Ironie kann auch ein fiktiver Text auf zwei Weisen gelesen werden, mit oder ohne die Erkenntnis, daß es um die Fiktionalität geht. Wenn es so spät in der Geschichte des Romans wie bei Don Quixote möglich war, den Unterschied zwischen pragmatischen und fiktiven Texten zu verwischen und letztere quasipragmatisch zu lesen, 84 so dürfen wir umso mehr mit einem vergleichbaren Mißverständnis um 1200 rechnen, als der neue Begriff noch nicht Fuß gefaßt hatte. Ich wende mich jetzt einigen Beispielen zu, wo Romanautoren bei der Rezeption ihrer neuartigen Fiktionsstrukturen auf Erfolg hoffen durften, aber auch mit Mißerfolg rechnen mußten. Das erste Beispiel hängt damit zusammen, daß der mittelalterliche Roman für zweierlei Rezipienten bestimmt war: für Zuhörer beim öffentlichen Vortrag und für den gelegentlichen Privatleser. Wir brauchen nicht wie einige davon auszugehen, daß der Leser immer imstande war, die Fiktionalität zu erkennen, während dem Zuhörer diese Möglichkeit verschlossen war, aber manchmal wird dies wohl der Fall gewesen sein. In Wolframs Parzival erteilt der alte Ritter Gumemanz dem jungen Helden eine Reihe von Ratschlägen, die - wie die vorher von seiner Mutter gegebenen - unfehlbar eine Reihe von Erzählsituationen hervorrufen, in denen sie ausprobiert werden können, richtig oder nicht. 85 Das ist eine 81 82 83 84

85

Dazu Wessel (Anm. 62), S. 378ff. Vgl. ebd., S. 379ff. Vgl. ebd., S. 197ff., insbesondere 214f. Karlheinz Stierle, „Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten?". In: Poetica 7 (1975), S. 345-387, hier S. 348, 360, 364. Wolfram von Eschenbach, Parzival (Anm. 35), V. 170,15-173,6; dazu Dennis H. Green, „Advice and Narrative Action. Parzival, Herzeloyde and Gurnemanz". In: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. (FS Leonard Forster) Hg. von Dennis H. Green, Leslie

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altbewährte Märchenstruktur und ist ebenso fiktiv wie das Märchen: Aus den erfundenen Ratschlägen entsteht eine erdichtete Erzählhandlung, die sich nach ihnen richtet. Aber in Wolframs Roman untersteht dieses im Grunde genommen einfache Muster einem höheren Maße von Komplexität. Die acht von Gurnemanz gegebenen Ratschläge kommen am Schluß des dritten Buches und rufen Erzähleinheiten im vierten Buch hervor, in denen sie auf die Probe gestellt werden. 86 Die Lücke zwischen den beiden Büchern ist so gering, daß wenige Ansprüche an die Fähigkeit des Publikums (seien es auch nur Zuhörer) gestellt werden, die Verbindung zwischen Rat und Ausführung zu begreifen. Hinzu kommt erleichternd, daß das Publikum auf jeden Fall auf ein solches Muster gefaßt gewesen sein muß, denn es wiederholt die sich innerhalb des dritten Buches vollziehende ähnliche Struktur von mütterlichen Ratschlägen und deren Ausführung. 87 Soweit ist diese Fiktionsstruktur durchsichtig genug, um sofort verständlich zu sein, und wir haben keinen Grund zur Annahme, einige Zuhörer könnten es vielleicht nicht begriffen haben. Die Ratschläge des Gurnemanz reichen aber viel weiter in die Zukunft hinein, als er voraussehen konnte oder uns im vierten Buch als Verwirklichung dargestellt wurde, und diese Verzweigungen weisen eine neue, unerwartete Eigenschaft auf. Während er richtig einsah, daß Parzival dazu geboren war, ein Feudalherrscher zu werden, und während die Ereignisse des vierten Buches dies in Pelrapeire in die Wirklichkeit umsetzen, bekommen wir erst allmählich im fünften Buch Hinweise darauf, daß die wahre Verwirklichung dieser Ratschläge (nicht wie sie Gurnemanz abgesehen, sondern wie es der Dichter fiktiv konstruiert hatte) in einem anderen Bereich zu finden ist, im Gralkönigtum. 88 Diese Hinweise werden durch den Einsiedler Trevrizent im neunten Buch oder sogar erst im abschließenden sechzehnten Buch bestätigt.89 Diese zweite Strukturebene stellt viel höhere Ansprüche ans Publikum, denn es muß seine Phantasie von einer konventionellen Erwartung auf eine ganz neue umstellen und muß ferner wörtliche Anklänge miteinander verbinden, die nicht mehr durch ein paar hundert Verse voneinander getrennt sind, sondern durch Tausende oder gar Zehntausende. Ohne daß man die Gedächtniskraft der illitterati im Mittelalter zu bagatellisieren braucht, liegt es näher, sich unter diesen Umständen einen Leser vorzustellen, der zur Bekräftigung zurückblättert, als einen Zuhörer, für den eine vergangene Einzelheit im Vortrag unwiderruflich vorbei ist, vor allem weil die

Peter Johnson und Dieter Wuttke. (Saecvla Spiritalia 5) Baden-Baden 1982, S. 33-81, hier S. 46ff.; Dennis H. Green, „vrume ritr und guote vrouwen \ und wise phaffen. Court Literature and its Audience". In: German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. (FS Roy Wisbey) Hg. von Volker Honemann u.a. Tübingen 1994, S. 7-26, hier 17f. 86 87 88 89

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Green, „Advice" (Anm. 85), S. 54ff. ebd., S. 40ff. ebd., S. 69ff. ebd., S. 69f.

Ironie- und Fiktionssignale

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mittelalterliche Literatur Beispiele hat, wo der Autor seinen Lesern explizite empfiehlt, eine frühere Stelle nachzuschlagen. 90 Bei einem zweiten Beispiel haben wir es mit dem Bildungsstand zu tun (vor allem mit den Kenntnissen der lateinischen Literatur), der für das Verständnis der Fiktionalität vorausgesetzt werden kann (oder nicht). In einem Passus aus der Liebesgrottenszene erzählt Gottfried, wie die Liebenden das Schicksal von vier in der Liebe enttäuschten Frauen aus der Antike gemeinsam besangen: Phyllis, Canace, Biblis und Dido, denen aus einer anderen Episode Thisbe hinzugefügt werden kann. 91 Diese fünf Namen werden im Vorbeigehen erwähnt, ohne daß auf Einzelheiten eingegangen wird, so daß genug Vorkenntnisse beim Publikum vorausgesetzt werden. Gottfried hat hier ein keineswegs unbedeutendes Argument anzubringen, denn diese Namen haben im Gesamtwerk eine Funktion zu erfüllen. 92 Diesen Figuren gemein ist der tragische Ausgang ihrer Liebe, wie auch die Tatsache, daß sie alle einen amor stultus oder einen amor illicitus verkörpern. Ihr Gedenken in die Idylle der Liebesgrotte einzuführen, läuft auf einen Mißklang hinaus, durch den die scheinbare Geborgenheit der Episode entschleiert und in ihrer Kurzlebigkeit entlarvt wird. Die Gefahr, die das utopische Zwischenspiel der Liebenden bedroht und auf ihr eigenes tragisches Ende vorausweist, wird genauso sehr durch diesen Mißklang heraufbeschworen, wie durch Gottfrieds Gebrauch des Entrelacements in derselben Szene, um uns darauf aufmerksam zu machen, daß in dem Moment, wo die Liebenden sich idyllisch im Morgentau ergehen, Markes Hofwelt im Begriffe ist, ihrem Paradiesleben ein Ende zu setzen.93 Auch hier schlägt Gottfried eine Brücke zwischen Geliebten und Rezipienten, denn letztere haben sich mit seinem tragischen Liebesroman zu beschäftigen, gerade wie erstere mit ihren literarischen Vorgängern in der Antike.94 Von welchen Publikumsmitgliedern konnte diese Einsicht erwartet werden? Wer konnte ohne jeden Hinweis begreifen, was diesen fünf Personen gemeinsam war und wie ihre Relevanz für Gottfrieds Roman beschaffen war? Mit der Suche nach früheren Anspielungen in der deutschen Literatur kommen wir nicht weit: Auf Pyramus und Thisbe wird kurz in Hartmanns Erec hingewiesen, und von Dido hören wir mehr in Veldekes Eneide.95 Obwohl auch Biblis von Albrecht von Halberstadt erwähnt wird, deutet nichts darauf hin, daß Gottfried (geschweige denn sein Publikum) mit Albrechts Werk bekannt war (im Gegensatz zum 90 91

92

Vgl. Green (Anm. 33), S. 123. Gottfried von Straßburg, Tristan (Anm. 42), V. 17186-17203; dazu Green (Anm. 33), S. 298f.; ders., „vrume ritr" (Anm. 85), S. 20f. Peter Ganz, „Tristan, Isolde und Ovid. Zu Gottfrieds 'Tristan' Z. 17182ff.". In: Mediaevalia litteraria. (FS Helmut de Boor) Hg. von Ursula Henning und Herbert Kolb. München 1971, S. 397^112.

93

Green (Anm. 46), S. 137f.

94

Ganz (Anm. 92), S. 406. Vgl. Green (Anm. 33), S. 299.

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Erec und zur Eneide).96 Die übrigen Figuren kommen in der deutschen Literatur vor Gottfried überhaupt nicht vor, so daß allenfalls zwei von diesen fünf Vorbildern einem Publikum bekannt gewesen sein können, dessen Literaturkenntnisse aufs Deutsche beschränkt waren. Nehmen wir aber die Bekanntschaft mit der lateinischen Literatur hinzu, so sieht es ganz anders aus, denn sämtliche Figuren kommen bei Ovid vor, auf den sich Gottfried wiederholt bezieht. 97 Die Annahme liegt nahe: Die Publikumsmitglieder, von denen Gottfried erwarten konnte, sie würden seine Anspielungen verstehen, waren in der lateinischen Literatur bewandert und hatten eine klerikale Bildung hinter sich, während andere, auch wenn sie mit Hartmann und Veldeke bekannt waren, die Bedeutung dieser Namen für die Erfassung dieser Zentralszene nur zum Teil begreifen konnten, wenn überhaupt. Bei meinem letzten Beispiel handelt es sich dagegen um literarische Vorkenntnisse in der Volkssprache, speziell in Form von intertextuellen Hinweisen. Wie fiktiv diese Hinweise sein können, geht aus dem letzten Beispiel in Wolframs Parzival hervor, wo Hartmanns Erec aufgefordert wird, an einem Punkt, wo er sich gut auskennt, die Erzählung zu übernehmen. Damit wird mit dem Gedanken gespielt, die Bekräftigung des Erzählten entstamme nicht einem Bereich außerhalb der Fiktion, sondern einem anderen fiktiven Werk. 98 Besonders aufschlußreich im Parzival ist eine Passage im siebten Buch, wo von Gawans erstem Abenteuer berichtet wird: von seinem Zweikampf mit Meljakanz vor Bearosche." Von diesem Gegner wird im Erzählerkommentar gesagt, er befinde sich nach Gawans Auftauchen in größerer Not als bei der Gelegenheit, wo der edle Lanzilot, über die Entführung der Königin Ginover erzürnt, die Schwertbrücke überquerte, mit Meljakanz kämpfte und die Königin befreite. Auch ein in der zeitgenössischen Romanliteratur nicht versierter Rezipient bekommt hier genug Minimalinformation, um diesen intertextuellen Hinweis auf seinem Niveau bedeutungsvoll zu finden: Sogar der Ritter Lanzilot, der als edel gekennzeichnet ist und eine lobenswerte Heldentat vollbrachte, ist von Gawan in den Schatten gestellt worden, der es mit demselben Gegner aufnahm und ihn in noch größere Not versetzte. Besser bewanderte Rezipienten konnten aber aus diesem Hinweis noch mehr gewinnen. Aus der Episode in Hartmanns Iwein, in der von Ginovers Entführung berichtet wird, wäre ihnen schon bekannt gewesen, daß Meljakanz der Täter war, aber nur aus Chretiens Lancelot (nicht ins Deutsche adaptiert) hätten sie erfahren können, daß Lanzilot der Retter war und welche Umstände ihn bei seinem Abenteuer motivierten. 100 Für Wolframs Anspie-

96 97 98 99

100

Ebd. Ebd.; Ganz (Anm. 92), S. 398. Siehe oben, Anm. 36. Wolfram von Eschenbach, Parzival (Anm. 35), V. 386,30-387,15; dazu Draesner (Anm. 34), S. 16Iff., 30Iff. Ebd., S. 302f.

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lung auf diese vergangene literarische Episode ist das Dreiecksverhältnis Lanzilot-Ginover-Artus zwar irrelevant, doch nicht Gawans Beteiligung an der Rettungsaktion (er hatte einen anderen Weg eingeschlagen, so daß Lanzilot als erster die Schwertbrücke erreichen konnte). Dadurch, daß Gawan seine überragende Rittertat in der ihm von Wolfram zugewiesenen Abenteuerwelt gegönnt wird (während dieses Vorrecht durch Chretien auf Lancelot in dem mit ihm befaßten Roman übertragen wird), wird der epische Hintergrund zu dieser Episode im siebten Buch reicher ausgestattet, aber nur für denjenigen, der die Kenntnisse aus seinem Umgang mit anderen Romanen mitbringen kann. Ein solcher Rezipient wird anders als seine weniger gut unterrichteten Kollegen eingesehen haben, daß derartige Verweise nicht zufällig eingebaut sind, sondern weitere Erzähldimensionen aufschließen.101 Wie die Gawanhandlung im siebten Buch mit einem intertextuellen Verweis auf Meljakanz einsetzt, so fing die Parzivalhandlung im dritten Buch mit einem Verweis auf denselben Ritter an, und zwar in einer Situation, die der von Chretien und Hartmann behandelten sehr ähnlich ist. Letztlich dient also dieser unscheinbare Verweis dem übergreifenden Zweck, unsere Aufmerksamkeit auf die Parallelen (und die Kontraste) zwischen Parzival und Gawan, Gralswelt und Tafelrunde zu lenken. In mancher Hinsicht ist es uns um eine Differenzierung des mittelalterlichen Publikums gegangen.102 Es bestand aus denen, die (so konnte der Autor hoffen) die Implikationen der Fiktionalität verstanden oder zu deren Verständnis erzogen werden konnten, aber auch aus denen, die sie einfach für unwahr hielten oder quasipragmatisch beurteilten und als faktische Wahrheit betrachteten. Dieses Publikum konnte auch in Leser und Zuhörer zweigeteilt werden, in Kleriker und Laien, Frauen und Ritter, Lateinkundige und Lateinunkundige, oder mittelhochdeutsch ausgedrückt in Wolframs wiser man und seine tumbe liute, in Gottfrieds eidele herzen und ir aller werlt.m Wir müssen uns aber davor hüten, aus dieser vielfach festzustellenden Polarität zwei zu sehr vereinfachende Schlüsse zu ziehen. Erstens: Man darf nicht annehmen, daß die Pole in all diesen Gegensatzpaaren sauber miteinander identisch sind, statt sich nur teilweise zu überschneiden. Mit anderen Worten: Wir müssen bedenken, daß einige Laien, wie selten sie anfangs auch immer gewesen sein mögen, lesen konnten; daß einige Zuhörer (vor allem die sogenannten quasi litterati, das heißt technisch leseunkundig, doch im Rahmen der Vortragskultur längst für die Maßstäbe der Schriftlichkeit gewonnen)104 den Anforderungen der 101 102 103 104

Ebd., S. 303ff. Dazu Green, „vrume ritr" (Anm. 85). Ebd., S. 8. Franz H. Bäuml, „Varieties and Consequences of Medieval Literacy and Illiteracy". In: Speculum 55 (1980), S. 237-265, hier S. 242; Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde. München 1986, hier Bd. 2, S. 608f.; Josef Fleckenstein, „Miles und clericus am Königs- und Fürstenhof. Bemerkungen zu den Voraussetzungen, zur Entstehung und zur Trägerschaft der höfisch-ritterlichen Kultur". In: Curiali-

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Dennis Η. Green

Fiktionalität vielleicht haben entsprechen können; daß nicht alle Leser, insbesondere weil sie als solche auf akustische und visuelle Signale verzichten mußten, notwendigerweise sorgfaltige Leser waren; daß der Leseakt nicht immer, wie zuweilen angenommen worden ist, als Schlüssel zum Verständnis der Fiktionalität anzusehen ist. Zweitens: Die Differenzierung des Publikums war nicht immer auf den einfachen Kontrast von zwei Möglichkeiten beschränkt. Obwohl das Publikum der exegetischen Literatur häufiger in zwei Gruppen eingeteilt wurde, gliederte es sich oft auch in drei oder vier. Unter Lesern hat man ferner zwischen denen zu unterscheiden, die nur in der Volkssprache lesen konnten, und denen, die auch lateinisch lasen. Wiederum unter Lesern, sogar in der Volkssprache, zog Thomasin eine Linie zwischen den Höhergebildeten und den weniger Gebildeten, zwischen denen, die nicht über den Roman hinaus gelangen konnten, und denen, die es zu tun vermochten. Damit ist die Differenzierung nur annähernd angedeutet, die beim damaligen Publikum der Hofliteratur vorausgesetzt werden muß. Einige von diesen Unterschieden gelten für die Rezeption der Literatur zu jeder Zeit und sind deshalb längst vor 1200 und auch später zu belegen, während andere auf die ersten Anfange der Laienschriftlichkeit um 1200 und einer für Laien bestimmten Literatur in der Volkssprache zurückzuführen sind. Dem kulturellen Gesamtzusammenhang, in den die Entstehung des mittelalterlichen Fiktionalitätsbegriffs hineingehört, sind also viel weitere Grenzen zu stecken, als normalerweise bei der Diskussion über den höfischen Roman Erwähnung finden.

tas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen

Kultur. Hg. von dems. (Veröffentlichun-

gen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100) Göttingen 1990, S. 302-325, hier S. 320ff.

Herfried Vögel (München)

Das Gedächtnis des Lesers und das Kalkül des Erzählens Zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke

I

Heinrichs von Veldeke Eneasroman beginnt mit einer Publikumserinnerung (Ir habet wol vernomen...).1 In wenigen Versen rekapituliert der Erzähler Anfang und Ende des Trojanischen Krieges, ehe er seinen Helden vorstellt. Es ist ein belasteter Held: als trojanischer Herzog und Schwiegersohn des Königs ist Eneas zur Verteidigung der Stadt verpflichtet; doch er ergreift gemäß dem Willen der Götter die Flucht. Sein Ziel ist Italien, die Heimat des Trojagründers Dardanus. Der Götterspruch ist Gebot und Verheißung zugleich (im was enboten und gewissaget [V. 19,15f.]); er richtet die Publikumserwartung auf die italische Zukunft des Helden. Eneas' göttliche Sendung besitzt in Troja und in Italien eine doppelte zeitliche Referenz. Schon Vergils Aeneis ist von solch ,,memoriale[r] Mehrstöckigkeit" geprägt. Reinhart Herzog hat gezeigt, wie die Erinnerungsräume des Mythos und der Geschichte in der Aeneis zu einer dem homerischen Epos fremden Verständigung zwischen Dichter und Leser fuhrt, die auch den Helden determiniert: „Aeneas trägt in seinem Handeln zweifache Erinnerungslast: der Rahmen der beiden memorialen Räume schließt sich, wenn wir beobachten, daß dem Helden auch die erinnerte Zukunft des fatum aufgeprägt ist. Aeneas weiß alles, was Dichter und Leser über die Erfüllung der römischen Geschichte an den Text herantragen und erinnern sollen."2 Im mittelalterlichen Eneasroman haben sich jene Räume der memoria verschoben. Die Gegenwart des Publikums ist nicht mehr die der römischen Geschichte; und zwar läßt auch Veldeke eine transzendente Legitimation Ich zitiere nach: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986. Daneben ziehe ich die Ausgabe von Hans Fromm heran: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer. (Bibliothek deutscher Klassiker 77 / Bibliothek des Mittelalters 4) Frankfurt/M. 1992. Die Problematik der Editionslage ist bekannt. Reinhart Herzog, „Aeneas' episches Vergessen. Zur Poetik der memoria". In: Memoria vergessen und erinnern. Hg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann unter Mitwirkung von Reinhart Herzog. (Poetik und Hermeneutik 15) München 1993, S. 81-116, hier S. 86; das vorausgehende Zitat ebd., S. 87.

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Herfried Vögel

der Handlung gelten,3 doch verschwimmen die fata mit dem Heilsplan des einen christlichen Gottes.4 Die historischen 'Durchblicke' der Aeneis sind fast völlig gestrichen, die antike Götterhandlung ist auf wenige Aktionen reduziert. Am Ende verzeichnet der Dichter die Nachkommen des Eneas bis hin zu Augustus, unter dessen Herrschaft die Zeit der Erlösung beginnt (V. 352,2-11). Zugleich schlägt die Rede um in ein kollektives uns; der Erzähler weiß sich und sein Publikum in der Zeit der Gnade. Das Geschlechtsregister am Schluß des Romans wiederholt und erweitert die Weissagung des Anchises. Das geschichtliche Telos des Götterbefehls, die Gründung des Römischen Reichs, fallt mit der Heilsgeschichte zusammen. Narrativ wird dies im Rahmen der Unterweltfahrt vermittelt. Nur um die erzählfunktionale Dimension zu verdeutlichen, sei an eine vergleichbare Episode im sogenannten Straßburger Alexander erinnert.5 Nachdem Alexander sein Heer bis auf fünf Tagesmärsche an das Lager der Perser herangeführt hat, sucht er in Beratung mit seinen Fürsten nach einem Boten, um Darius zur entscheidenden Schlacht zu fordern. In der Nacht erscheint ihm sein Vater Philipp im Traum mit dem Auftrag: du salt selbe bote sin \ hin ζό Dario.6 Allein überquert Alexander den Fluß Strage und gelangt in die persische Königsburg. Alexanders Botengang ist bedeutungsvoll arrangiert. In der Überschreitung des Strage kündigt sich sein Sieg über Darius und damit die Ablösung des persischen durch das griechische Weltreich an. Auf Geheiß seines Vaters erfährt Alexander das Ziel des Kriegs, den Raum seiner künftigen Herrschaft. Seine glückliche Rückkehr ist ihm ein Zeichen des Heils.7 Wie Alexanders Feldzug gegen Darius besitzt auch Eneas' Kampf in Italien vor dem Hintergrund des Modells der Weltreichsabfolge eine heilsgeschichtliche Wahrheit. Doch während

3

4

Vgl. Hartmut Kokott, Literatur und Herrschaftsbewußtsein. Wertstrukturen der vor- und frühhöfischen Literatur. Vorstudien zur Interpretation mittelhochdeutscher Texte. (Europäische Hochschulschriften I 232) Frankfurt/M. - Bern - Las Vegas 1978, S. 168-172. Ablesbar ist dies etwa am Nebeneinander von gote und got zur Bezeichnung der transzendenten Instanz. Zum Wortgebrauch umfassend Werner Schröder, „Veldekes Eneit in typologischer Sicht". In: Ders., Veldeke-Studien. (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 1) Berlin 1969, S. 60-103, hier S. 67-95. Vgl. auch Dietmar Wenzelburger, Motivation und Menschenbild der Eneide Heinrichs von Veldeke als Ausdruck der geschichtlichen Kräfte ihrer Zeit. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 135) Göppingen 1974, S. 73, lOlf.

5

Die Beziehungen zwischen Veldekes Eneasroman und dem Straßburger Alexander sind in der Forschung wiederholt geprüft worden. Zuletzt Barbara Haupt, „Alexander, die Blumenmädchen und Eneas". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), S. 1-36, mit Hinweisen auf weitere Literatur.

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Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besanfon und den lateinischen Quellen hg. und erklärt von Karl Kinzel. (Germanistische Handbibliothek 6) Halle/S. 1884, V. 3013f.

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Wieder im Lager, versichert er seinen Truppen: ο wol üh, kriechische man, \ ze heile müz iz ü irgän (V. 3188f.). Vgl. Peter Strohschneider und Herfried Vögel, „Flußiibergänge. Zur Konzeption des Straßburger Alexander•". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 118 (1989), S. 85-108, bes. S. 100-103.

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Alexander das dritte Weltreich errichtet, ist Eneas der Stammvater jenes Geschlechts, unter dem sich die Wende vom dritten zum vierten Weltreich vollzieht.8 Der mittelalterliche Eneasroman erzählt die dynastische, nicht die räumliche Begründung von Weltherrschaft. Die Eroberung Italiens durch Eneas und die Unterwerfung der Welt durch die Römer sind zeitlich verschoben, doch sind beide Vorgänge in genealogischer Kette miteinander verbunden. Nimmt Alexanders Ritt über den Strage die räumliche Ausdehnung seiner Herrschaft zeichenhaft vorweg, so wird Eneas' Kampf um Italien im Rahmen der Unterwelt-Prophetie zeitlich perspektiviert. Sowohl Alexanders Botengang zu Darius als auch die Höllenfahrt des Eneas stellen Grenzüberschreitungen dar, welche die Texte als Flußübergänge inszenieren. Doch während der Strage im Straßburger Alexander eine räumliche Grenze bezeichnet, bildet der Phlegeton im Eneasroman die Schwelle zwischen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit. Diesseits des Höllenflusses erwarten die Seelen der Toten ihre Überfahrt; sie sind noch der Zeit unterworfen.9 Der Eingang zur Hölle, von Cerberus bewacht, liegt jenseits des Phlegeton. Nachdem Eneas die Höllenpforte passiert hat, ist Zeit nur noch räumlich disponiert. In der Zeitlosigkeit der Unterwelt wandert der Held durch seine Vergangenheit. Gleichsam im Zeitraffer durchläuft er die Stationen seines irdischen Wegs, hier wie dort von den Göttern erwählt und beschützt.10 Er begegnet Dido und den im Kampf um Troja gefallenen Kriegern. Dann teilt sich der Weg. Links liegt die Feuerburg des Rhadamanthus, wo die Verdammten ewige Strafen erleiden. Der rechte Weg fuhrt ins Elysium. Anders als in der französischen Vorlage läßt Eneas bei Veldeke den Zweig an der Wegscheide zurück, um bei der Rückkehr Orientierung zu haben

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Alexander indes hat keine leiblichen Nachkommen. Stattdessen wird er an die Vergänglichkeit des eigenen Lebens erinnert. Im französischen Roman d'Eneas vergehen mindestens hundert Jahre, ehe die Unbestatteten hinübergelangen (Le Roman d'Eneas. Übersetzt und eingeleitet von Monica SchölerBeinhauer. [Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9] München 1972, V. 2484ff.). Bei Veldeke haben die Seelen eine zeitliche Buße zu leisten, ehe Charon sie übersetzt (V. 91,3 Iff.; 93,9ff.). Vgl. dazu Hans Fromm, „Die Unterwelt des Eneas. Topographie und Seelenvorstellung" [zuerst 1987]. In: Ders., Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 101-121, hier S. 1 lOf. Das epische Zeichen hierfür ist der Zweig: nur der von den Göttern Bestimmte kann ihn finden (V. 86,40ff.); nur der Zweig ermöglicht die Überfahrt über den Phlegeton (V. 95,24f.). Zugleich scheint Veldeke die Unterweltfahrt als eine Art Prüfung zu interpretieren (vgl. Kartschoke [Anm. 1], Kommentar zu 107,2ff., sowie Wenzelburger [Anm. 4], S. 77f., 80, und Ingrid Kasten, „Herrschaft und Liebe. Zur Rolle und Darstellung des 'Helden' im Roman d'Eneas und in Veldekes Eneasroman". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 [1988], S. 227-245, hier S. 243). So werden die Umstände, die den vorbestimmten Landeplatz anzeigen, Eneas erst in der Hölle mitgeteilt (V. 109,30ff.).

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(V. 106,18-22). 11 Die räumliche Ordnung der Zeit wird so auch beim Verlassen der Hölle bewußtgehalten. Der Zweig als Zeichen göttlicher Sendung ist hier für Eneas gleichsam Wegweiser zum zeitlichen, irdischen Glück.12 Im Elysium verkündet ihm sein Vater Anchises die Zukunft. Eneas wird ein Geschlecht begründen, das über die ganze Welt herrschen wird: des mahtü haben wunne, daz die von dime kunne die werlt soln bedwingen mit meisterlichen dingen. so michel wirt ir kraft, daz si gemachent zinshaft diu lant alliu geliche ze rdmescheme riche. (V. 109,13-20)

Anchises zeigt Eneas die Kämpfe in Italien, er zeigt ihm seinen Sohn Silvius (idorch den fürdich dich here [V. 108,14]) und erklärt die Folge der Generationen bis hin zur Gründung Roms, der künftigen Hauptstadt der Welt.13 Der Raum der Unterwelt ist ein Raum der memoria, fur den Helden wie für den Hörer oder Leser.14 Eneas erinnert sich an das Unglück Didos und an seine 11

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Im Roman d 'Eneas verlassen Eneas und Sibylle wie bei Vergil das Totenreich durch die elfenbeinerne Pforte der Lügenträume. Wolfgang Brandt, Die Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke in der 'Eneide'. Ein Vergleich mit Vergils 'Aeneis'. (Marburger Beiträge zur Germanistik 29) Marburg/L. 1969, S. 163f., sieht die Änderung Veldekes erzähltechnisch begründet. Der Dichter habe eine Unterbrechung des Handlungsverlaufs durch die Beschreibung der Traumpforte verhindern wollen. Fromm (Anm. 9), S. 121, weist auf den geschichtlichen Anspruch der Jenseitserfahrung bei Veldeke hin; ebenso Ursula Liebertz-Grün, „Geschlecht und Herrschaft. Multiperspektivität im Roman d'Eneas und in Veldekes Eneasroman". In: Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung. Hg. von Thomas Kornbichler und Wolfgang Maaz. (Forum Psychohistorie 4) Tübingen 1995, S. 51-93, hier S. 74. Die Engführung von persönlichem Glück und geschichtlichem Auftrag des Eneas betont Brandt (Anm. 11), S. 64-71, 125f., 143. Zur Stelle Sara Stebbins, Studien zur Tradition und Rezeption der Bildlichkeit in der 'Eneide' Heinrichs von Veldeke. (Mikrokosmos 3) Frankfurt/M. - Bern 1977, S. 44f. Umfassend zum Motiv Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. (Medium Aevum 21) München 1970, dessen Untersuchung allerdings Zurückhaltung hinsichtlich einer spirituellen Deutung der Stelle nahelegt (S. 57-61). Dazu ausführlich Marie-Luise Dittrich, Die 'Eneide' Heinrichs von Veldeke. 1. Teil: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d'Eneas und Vergils Aeneis. Wiesbaden 1966, S. 8386; kritisch Brandt (Anm. 11), S. 19f., 62-64. Fromm (Anm. 9), S. 114-116, weist auf den prophetischen Charakter der Anchises-Verheißung bei Veldeke hin. Eneas erlebt sie als Vision (her zeigete ime rehte [V. 107,36]; die zeiget her im ouch [V. 108,3]; sinen sun zeigt her im dä [V. 108,8]). Wenn ich im folgenden der Einfachheit halber vom 'Leser' spreche, dann ist damit keine Entscheidung über mögliche Rezeptionsformen des Textes getroffen. Allenfalls ist vorausgesetzt, daß der Vortrag vor Publikum in den schriftlich fixierten Text nicht eingreift. Zum

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Flucht aus Troja (ez dühtin unere [V. 100,26]). Anchises erinnert an die für den Leser schon historisch gewordene Zukunft der fata. Die Prophezeiung nimmt die erzählte Handlung vorweg und ist danach selbst Gegenstand der Erinnerung. Doch nur ein Mal, bei der Landung in Italien, wird Eneas an die Worte des Vaters denken (V. 112,1 Off.).15 Noch vor dem Zweikampf mit Turnus rechnet er auch mit einer Niederlage (V. 310, Iff.). Der Leser jedoch weiß, daß Eneas siegen und Land und Frau erringen wird. Er weiß von der Weltherrschaft Roms, die in Eneas' Herrschaft ihren dynastischen Ursprung hat. Im memorialen Rahmen der Unterweltfahrt bildet sich ein „Binnengedächtnis"16 des Lesers heraus, das auch die Zukunft des Helden umfaßt. Jenes Gedächtnis des Lesers ist dem Prozeß des Erzählens unterworfen. Eneas' Bewegung im Raum, vom Verlassen Trojas bis hin zum Einzug in Laurentum, ist überspannt von einem Netz der Erinnerung, welches das Gedächtnis des Lesers aktualisiert, strukturiert, manipuliert.

II Nach siebenjähriger Irrfahrt und eben einem Seesturm entkommen, verschlägt es Eneas an die libysche Küste. Die Inszenierung des Unwetters ist die letzte einer Reihe von (nicht erzählten) Aktionen, mit denen Juno seine Fahrt nach Italien zu verhindern sucht. Mit der Landung in Libyen gehen die Gegenhandlungen der Göttin auf Dido, die Herrin des Landes, über; Karthago gehört noch zur Sphäre der Juno.17 Als Eneas' Boten Sicherheit erbitten, um besseres Wetter abzuwarten und die Schiffe neu auszurüsten (V. 30,3ff.), verspricht Dido Bequemlichkeit, Macht und Land. Ihr weitreichendes Angebot ist nicht klar motiviert,18 doch scheint Dido die Ankunft des Eneas als göttliche Fügung zu interpretieren (nu in got here hat gesant, | ich teile im lüte unde lant [V. 31,3f.]). Dabei verbindet sie das Schicksal der Trojaner mit ihrer eigenen Vergangenheit (sint daz ich vertri-

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Problem siehe Bernd Bastert, „Do si der lantgräve nam. Zur 'Klever Hochzeit' und der Genese des Eneas-Romans". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 123 (1994), S. 253-273, hier S. 268-273. Hingegen spricht Wenzelburger (Anm. 4), S. 30, mit Verweis auf Vers 112,24 vom Bewußtsein des Eneas, daß ihm nichts zustoßen könne (vgl. S. 79f. und öfter). Vgl. Friedrich Ohly, „Bemerkungen eines Philologen zur Memoria". In: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch. (Münstersche Mittelalter-Schriften 48) München 1984, S. 9-68, hier S. 54f. Vgl. Wenzelburger (Anm. 4), S. 68f. Weder die Liebe noch etwa die Rolle einer schutzbedürftigen Landesherrin begründen an dieser Stelle Didos Offerte. Vgl. Anette Syndikus, „Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Umakzentuierung der Vorlagen bei Heinrich von Veldeke". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 114 (1992), S. 57-107, hier S. 70-72.

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ben wart, | er danne mich got hie beriet [V. 30,28f.]).19 Von den Boten weiß Dido, daß Juno Eneas hergeführt hat (V. 29,32ff.). Dem Leser ist bekannt, daß Dido in der Nähe ihres Palasts der Göttin ein Münster erbauen ließ: daz tete si dorch die scholde, daz Juno schaffen solde, daz Kartägö diu märe houbetstat wäre über alliu diu riche, und daz ir geliche diu lant wären undertän. ez enmohte niht so ergän: sint hete Rome den gewalt, daz man ir den eins galt und man ir in sande von vil manegem lande, daz was sit über manich jär, daz weiz gnüch lüte vor wär. (V. 27,37-28,10)

Während die Schilderung der gut befestigten Stadt Karthago die Macht der Landesherrin zum Ausdruck bringt,20 ist die Erwähnung des Tempels mit Didos Weltreichsplänen verknüpft. Nur der Leser weiß, daß die Hauptstadt der Welt Rom heißen wird. Dido hingegen scheint in der Landung der Trojaner den Beistand Junos zur Erweiterung ihrer Macht zu erkennen (ich wil es danken deme gote | der in dä her sande [V. 31,12f.]).21 Die epische Motivation der Gastfreundschaft Didos ist in die Biographie der Figur gelegt.22 Dem Lebensplan Didos steht die vom Fatum bestimmte Biographie des Eneas entgegen. Didos Rede an die Gesandtschaft des Eneas ist mit dem Empfang der Trojaner bei König Latinus vergleichbar. Auch er verspricht mehr, als die Boten erbitten (min tohter wil ich ime geben | [...] min lant und min riche [V. 116,4 und 7]). Doch während Didos Angebot auf ihre individuelle Interpretation der Ereignisse zurückzugehen scheint, kennt Latinus das Orakel der Götter (wände ez is mir

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Die Hintergründe und Einzelheiten hierzu erfährt der Leser schon früher. Vom Bruder aus der Heimat Tyrus vertrieben, verschaffte sich Dido durch eine List ein Stück Land und erbaute darauf Karthago. Von hier aus unterwarf sie ganz Libyen. Vgl. Hartmut Kugler, „Lob der Stadt und Karthagos Aufbau. Literarische Gattung als Denkmodell sozialer und räumlicher Organisation im 12. Jahrhundert". In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Hg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 414—431, hier S. 417-425; Syndikus (Anm. 18), S. 67. Anders Marie-Luise Dittrich, „gote und got in Heinrichs von Veldeke Eneide". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 90 (1960/1961), S. 85-122, 198-240, 274302, hier S. 203-205. Im Roman d'Eneas (Anm. 9), V. 520f., ist es Juno, die für Karthago die Weltherrschaft vorsieht; die 'französische' Dido weiß andererseits nicht, daß Juno den Seesturm erregte.

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geboten | und gewissaget von den goten [V. 116,9f.]).23 Die Dido-Geschichte ist insofern als narrative Vorerinnerung konzipiert, welche die historische Mission des Eneas unter falschen Vorzeichen durchspielt. Nicht Karthago, Rom wird die Weltherrschaft zufallen. Die Prophezeiung des Anchises wiederholt später jene Erinnerung des Lesers. Eneas' Aufenthalt in Karthago spiegelt in vielen Details das Geschehen in Italien.24 Dabei forderten insbesondere die Liebeshandlungen zum Vergleich heraus. Während die ältere Forschung Didos Minne als negatives Gegenstück zur Minne Lavinias beschrieb,25 hat sich heute die Ansicht durchgesetzt, daß Didound Lavinia-Minne im Eneasroman nicht in ein moralisch zu wertendes Verhältnis zu bringen sind.26 Dido scheitert nicht aufgrund einer defizitären Minne, sondern weil sie gemäß dem geschichtlichen Telos der Handlung scheitern muß. So geht ihrem Selbstmord die Abfahrt des Eneas und dieser das zweite Gebot der Götter voraus. Die ganze Episode wird vom irreversiblen Gang der Geschichte bestimmt. Während die Liebe Lavinias die Zukunft der fata erfüllt, bleibt die Liebe Didos isoliert im Hier und Jetzt ihrer zeitlichen Existenz. Dido stirbt sozusagen aus erzähllogischen Gründen. Als Eneas und Dido im Palast zusammentreffen, wird die komplexe Motivationsstruktur der Dido-Handlung auf das Schema 'einseitige Minne' reduziert. Venus und Cupido bewirken in Dido eine so starke Liebe, daz nie wib einen man | harder mohte geminnen (V. 36,4f.). Zugleich läßt der Text schon an dieser

23 24 25

26

Die Stellen sind besprochen bei Dittrich (Anm. 21), S. 103-106. Subtile Beobachtungen bei Wenzelburger (Anm. 4), S. 103-123. Vgl. die Hinweise bei Kartschoke (Anm. 1), S. 871f., sowie ders., „Didos Minne - Didos Schuld". In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Hg. von Rüdiger Krohn. München 1983, S. 99-116, hier S. 102f. Hinweise schon bei Werner Schröder, „Dido und Lavine" [zuerst 1957/1958]. In: Ders., Veldeke-Studien (Anm. 4), S. 13-51, bes. S. 24-34. Entsprechend werden Didos Selbstvorwürfe sowie der Erzählerkommentar unmittelbar vor Didos Selbstmord: ez was unrehtiu minne, \ diu sie dar zu dwanc (V. 78,4f.), aus anderer Perspektive gedeutet: pathologisch (Schröder, S. 24); als Folge der Vernachlässigung landesherrlicher Pflichten (Kartschoke, „Didos Minne" [Anm. 25], bes. S. 108-110). Vom Roman d'Eneas ausgehend, interpretiert Kasten (Anm. 10), S. 233f., die an der Dido-Gestalt exemplifizierte Liebe als Kritik an der Liebeskonzeption der Trobadors; vgl. dies., „Heinrich von Veldeke: Eneasroman". In: Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hg. von Horst Brunner. Stuttgart 1993, S. 75-96, hier S. 85f. Vgl. auch Rodney W. Fisher, „Didos ere unde gemach. Zu Veldekes Eneas 66,4ff.". In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 228 (1991), S. 11-25, gegen Kartschoke S. 16f., 19. Syndikus (Anm. 18) arbeitet das komplexe Beziehungsgefüge von Minne, Herrschaft und Ehre heraus. - Ausfuhrlicher Forschungsbericht zur Liebesdarstellung bei Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. (Bibliotheca Germanica 27) Bern - München 1985, S. 187-212.

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Stelle keinen Zweifel, daß Dido dadurch zu Tode kommen wird. 27 Wie es nach der Unterweltfahrt für den Roman insgesamt gilt, ist auch das Ende der DidoEpisode nicht offen. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Umstände konzentriert, die zur Katastrophe fuhren (nu höret, wie ez dar ζύ quam [V. 36,12]). Dabei bereitet der Erzähler sein Publikum auf die Umstände vor, denen Eneas später die Herrschaft über Italien verdankt: die Macht der Minne. Die Liebeshandlung in Karthago läßt sich in drei Phasen gliedern: (1) Didos Liebesqual bis zur Ausrichtung der Jagd; (2) Liebesvereinigung und Hochzeit; (3) Abfahrt des Eneas und Didos Selbstmord. 28 An den Nahtstellen hält der Erzähler Eneas' Bestimmung präsent. Noch bevor Dido das Ziel ihrer Liebe erreicht, erfahrt der Leser, daß sich Eneas an seine italische Sendung erinnert (dä hine was sin wille [V. 58,3]). Als ihm später durch die Ehe mit Dido die Herrschaft über Karthago zufällt, erhält Eneas von den Göttern die Weisung, das Land zu verlassen (V. 66,7ff.). Beim zweiten Göttergebot wird das Ziel Italien nicht mehr genannt. Es ist dem Leser ebenso im Gedächtnis wie Eneas. Entsprechend dient Eneas' Beratung mit seinen Getreuen - anders als bei der Flucht aus Troja (V. 19,1 Off.) - hier nur noch der Durchführung des göttlichen Auftrags (V. 66,25ff.). Angel- und Wendepunkt der Dido-Liebe ist die Jagd; im Wald gibt die Königin ihre höfische Ehre ihrer Begierde preis. 29 Die Jagd ist umfassend semantisiert. An ihrem Gewand trägt Dido die Vorzeichen ihres Todes. Das golddurchwirkte Seidenhemd, das rote Kehlstück des Pelzkleids, die grüne Farbe des Mantels erhalten im nachhinein eine zeichenhafte Bedeutung: Dido wird sich Eneas' Schwert in die Brust stoßen (V. 77,3 8f.); ihre Asche wird in eine goldene Urne gegeben und in einem grünen Edelsteinsarg bestattet (V. 80,2ff.). 30 Der Jagdhund, den Dido mit sich führt, ist ein Zeichen ihrer Minne. 31 Niemand, so der Erzähler, durfte den Bracken berühren (V. 61,20ff.); doch dem Trojaner hätte Dido die Leine überlassen, e si üz der borch wäre komen (V. 62,2). Bis zu Eneas' Ankunft entsagte Dido im Andenken an ihren toten Gatten Sicheus der Minne 27

28

Zur Minne-Feuer-Bildlichkeit vgl. Brandt (Anm. 11), S. 136; Stebbins (Anm. 12), S. 117f., sowie Renate Kistler, Heinrich von Veldeke und Ovid. (Hermaea N.F. 71) Tübingen 1993, S. 230. Vgl. Liebertz-Grün (Anm. 11), S. 64- 67.

29

Vgl. Bernd A. Rusinek, „Veldekes Eneide: Die Einschreibung der Herrschaft in das Liebesbegehren als Unterscheidungsmerkmal der beiden Minne-Handlungen". In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 78 (1986), S. 11-25, hier S. 12.

30

Zum Gold-Motiv ebd., S. 14f. Zum Jagdgewand vgl. Stebbins (Anm. 12), S. 172-174, sowie Gabriele Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. (Ordo 1) Hildesheim - Zürich - New York 1985, S. 64f. Zur Semantik von Didos Jagdkleid im Roman d'Eneas vgl. Udo Schöning, Thebenroman - Eneasroman - Trojaroman. Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts. (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 235) Tübingen 1991, S. 261.

31

Brandt (Anm. 11), S. 135.

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(V. 54,20ff.; 65,30f.)· Eneas aber hätte sie ihre Liebe gewährt, hätte er höfisch um sie geworben (V. 57,21ff.). Die Färbung der Ohren des Hundes (rot und schwarz) verweist auf Didos Liebestod.32 Der Liebesakt unter dem Baum schließlich spiegelt die Ambivalenz der Situation. Der Baum als Requisit des locus amoenus (vile schöne was diu stat [V. 63,17]) verweist auf erfüllte Minne; das Unwetter gemahnt an den Seesturm Junos, der Eneas an die libysche Küste trieb. Es ist ein episches Zeichen, daß Eneas den Auftrag der Götter - die Fahrt nach Italien - noch nicht erfüllt hat. Die Widersprüchlichkeit der Naturkulisse entspricht der Widersprüchlichkeit von Eneas' Sendung und Didos Minne. Die tat selbst wird zunächst verheimlicht (V. 64,30ff.). Als sie doch an die Öffentlichkeit dringt, versucht Dido, ihr Ansehen durch die Ehe mit Eneas zu retten. Damit setzt sie ihre politische Macht aufs Spiel. Die Herren des Landes, deren Werbung Dido stets zurückgewiesen hatte, stellen sich gegen sie: sie hazeten sie vil sere | und rieten ir an ir ere (V. 65,33f.). Als Eneas Dido verläßt, ist ihre Herrschaft zerbrochen. So jedenfalls interpretiert Dido selbst gegenüber Eneas ihre Lage: ichn hän daz kint noch den mäch niender in dem lande. man wecket mir gröze schände, sint daz ich üch genam. die heren sint mir alle gram: den ich versagete wilen e, die ne gerent min ηύ niht me. soldich lebendich bliben, si solden mich vertriben oder brennen unde heren. ich ne moht mich niht erweren, wand die scholde sint min. hetet ir doch ein kindelin an mir gewunnen! ob mir got des hete gegunnen, do ich miner eren so vergaz, mir wäre vile deste baz. (V. 71,34-72,10)

Dido betont ihre Rechts- und Schutzlosigkeit. Sie kam als Vertriebene ins Land, ihre Macht hat keine dynastische Basis. Umso mehr zeigen sich die libyschen Werber von ihrer Hochzeit mit Eneas brüskiert (V. 65,37ff.).33 Eine eheliche Verbindung mit Dido ist für sie nun ausgeschlossen. Didos Herrschaft hat keine 32

Friedrich Ohly, „Die Suche in Dichtungen des Mittelalters" [zuerst 1965], In: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil. Stuttgart - Leipzig 1995, S. 311-322, hier S. 317, deutet den Bracken als Zeichen der Minnejagd Didos.

33

Zu den politischen Implikationen der Dido-Minne ausfuhrlich Syndikus (Anm. 18), S. 7 7 83.

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Zukunft. In diesem Zusammenhang ist auch Didos Klage, daß sie kein Kind von Eneas empfing, zu verstehen. Ein Erbe hätte ihre politische Stellung stabilisiert. Didos Klage offenbart das letzte Detail einer heil-losen Konstellation, welcher das Heil der Anchises-Prophezeiung komplementär gegenübersteht. Das Ausbleiben eines libyschen Erben ist bezogen auf die genealogische Begründung der Herrschaft der Römer durch Eneas. Der Liebesakt auf der Jagd hat sein Analogon in der Geburt des Silvius in einem Wald in Italien (V. 350,4f.). Als Eneas Karthago verläßt, segelt ein doppelt belasteter Held davon: Die Flucht aus Troja und Didos Selbstmord überschatten seine italische Zukunft. Zwar ist Eneas' heroische Biographie dem Walten der Götter unterworfen, doch kann jene mythologische Dimension der fata den 'mittelalterlichen' Helden nur noch bedingt - in einer schillernd bleibenden Wirkung göttlicher Providenz entlasten. Hetzt bei Vergil auf Betreiben Junos die Furie Alekto zum Widerstand gegen Aeneas, so tragen bei Veldeke die italische Königin und ihr Verbündeter Turnus rechtliche Gründe vor, die den Krieg gegen den Trojaner legitimieren.34 Die christliche Welt des mittelalterlichen Lesers hat keinen Platz für die anthropomorphen Götter, die im antiken Epos Krieg und Unglück verantworten. 35 Mit der Zurückdrängung der mythologischen Realität der Götter in den mittelalterlichen Eneasromanen ist zugleich die Begründungsstruktur des geschichtlichen Handelns des Helden zerbrochen. Die Preisgabe Trojas, die Verwicklung in Didos Tod, das Unrecht gegen Turnus, die Erschlagung des jugendlichen Pallas all das bringt Eneas ins Zwielicht. 36 Gebunden in den Fakten, so wie sie Vergil vorgab, und entbunden von der Mythologie der Aeneis wird Eneas den mittelalterlichen Erzählern zum problematischen Helden. Das Gedächtnis des Lesers, dies versuchen die folgenden Interpretationen zu zeigen, bildet den Ort, an dem seine Rehabilitierung erfolgt.

III Die Dido-Episode erzählt den Untergang einer Herrscherin durch die Macht der Minne. 37 In Italien verhilft die Minne Eneas zur Herrschaft. Liebeshandlung und Krieg sind eng miteinander verknüpft. Die dramaturgisch wichtigste Rolle hierbei spielt die italische Königin. Hatte sie zunächst mit Hilfe des Turnus den militärischen Widerstand gegen Eneas mobilisiert, so ist sie in einem zweiten Anlauf 34

Zum Roman d'Eneas siehe Schöning (Anm. 30), S. 291-295.

35

Vgl. Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. 2., verbesserte Aufl. (Grundlagen der Germanistik 7) Berlin 1977, S. 85f.; Kartschoke (Anm. 1), S. 866-868. Vgl. Kartschoke (Anm. 1), S. 876; Kasten (Anm. 10), S. 237f., 240, 242; Liebertz-Grün (Anm. 11), S. 57, 62-64; Syndikus (Anm. 18), S. 104-106, sowie Dittrich (Anm. 13), S. 156-162. Zur Kritik am antiken Aeneas vgl. Herzog (Anm. 2), S. 87f.

36

37

Vgl. Syndikus (Anm. 18), S. 62-64, 71 und öfter.

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bemüht, mittels der Liebe Eneas' Glück zu vereiteln: Lavinia soll Turnus lieben und den Trojaner hassen (V. 261,4ff.). Wieder geht es der Königin um das riche, und insofern setzt ihr erstes Minnegespräch mit Lavinia ihre politische Rede gegen Latinus fort.38 Doch hat sich inzwischen die Lage verändert. Eneas ist nicht mehr der Fremdling, der um Frieden und Sicherheit bittet (V. 113,15ff.), sondern seine Truppen stehen bereits vor Laurentum. In der Absicht, die Stadt zu erobern, läßt Eneas das Lager aufschlagen. Noch in der Nacht wird sein prächtiges Zelt aufgebaut (ezne was niht dorch were [V. 247,31]), das weithin sichtbar seinen Besitzanspruch auf Italien unterstreicht (daz wart dorch herschaft getän [V. 247,27]).39 Zur Herkunft des Zeltes bemerkt der Erzähler: daz hete im frouwe Dldo | gegeben dorch minne (V. 247,6f.).40 Die Erinnerung an Dido erfolgt zu einem Zeitpunkt, als der Krieg in Italien in seine entscheidende Phase gelangt ist. Das Zelt vergegenwärtigt noch einmal Eneas' Aufenthalt in Karthago, wo ihm die Liebe Didos die Herrschaft über das Land einbrachte; es erinnert den Leser an die Macht der Minne, Herrschaft zu geben und Herrschaft zu zerstören. Die Beschreibung des Zelts bereitet so den Übergang von der Kriegshandlung zwischen Eneas und Turnus zur Liebeshandlung zwischen Eneas und Lavinia vor. Die Entscheidung des Kriegs in der Schlacht wird durch die Liebesentscheidung Lavinias substituiert.41 Durch einen Waffenstillstand kann Latinus die Belagerung Laurentums verhindern.42 Der König, sich an das Orakel der Götter erinnernd (wand er mit ir geböte | in diz lant komen is [V. 257,30f.]), will den Frieden; doch Turnus, obschon militärisch geschwächt und politisch isoliert, beharrt auf seinem weltlichen Recht. Ein Zweikampf mit Eneas soll die Entscheidung um Frau und Reich herbeiführen. Ein Termin wird festgelegt, die Waffenruhe bis dahin verlängert. Doch ist damit kein wirkliches Spannungselement geschaffen. Vielmehr weiß der Leser aus der Verheißung des Anchises, daß die Prinzessin Eneas' Frau werden wird. Wie es für die Dido-Geschichte galt, so ist auch hier das Ergebnis bekannt. Ohne daß es - wie dort - noch eigens betont würde, wird auch die Lavi-

38

Vgl. Wenzelburger (Anm. 4), S. 167.

39

Die Bewohner Laurentums glauben, es sei eine Burg: si sprächen nach wäne, daz die Troiäne werben mit der gotes kräht, wände sie an einer naht ein solhe borch heten geworht. des wart ir angest unde ir vorht gemeret, daz tet in diu not (V. 248,21-27).

40

Ohne Parallele im Roman d'Eneas (Anm. 9), V. 7290ff.

41

Vgl. unten, S. 69 mit Anm. 45. Später wird die Stadt doch in Brand gesteckt und bis zur inneren Stadtmauer verwüstet (V. 320,14ff.). Doch ist dies als Verteidigungshandlung gegen die Truppen des Turnus inszeniert, welche den Frieden brechen.

42

Heifried Vögel

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nia-Handlung unter einer Wie-Spannung erzählt. Dabei wird die Minne zwischen Eneas und Lavinia - und dies spart die Unterweltsprophetie noch aus - zum ausschlaggebenden Faktor im Kampf um die Herrschaft. Es ist eine Liebe auf den ersten Blick, die dem Schema 'gegenseitige Minne' gehorcht.43 Die schon erwähnte Liebesintrige der Königin ist mit einer konkreten Drohung verbunden: Wirde ich des innen, daz du Eneam wilt minnen und uns so enteres, daz dü din herze keres an den bösen Troiän, ich heize dich ze döde slän. (V. 266,1-6)

So weit wird es nicht kommen, doch nimmt der Konflikt hier eine überraschende Drehung. Herrschaft und genealogischer Auftrag des Eneas erscheinen nicht mehr nur abhängig vom siegreichen Ende des Kriegs, sondern sind gerade auch auf die Person der Prinzessin bezogen: Mit einer toten Lavinia ließe sich weder ein Reich erben noch eine Dynastie begründen. Andererseits ist ihre Liebe die Voraussetzung für Eneas' Erfüllung seiner geschichtlichen Mission. Abzulesen ist dies einem Monolog der Lavinia, aus dem deutlich wird, daß nicht der Ausgang des Zweikampfs mit Turnus, sondern allein ihre Minne Eneas' Herrschaft ermöglicht: die gote müzens walden, daz Eneas der here gestadege sin ere und behabe sinen lib, wände Turnüses wib ne wil ich niemer werden, alle die uf der erden ie worden und noch leben ne mohten mir den rät gegeben noch dar zu getwingen mit deheiner sIahte dingen, ich wolde e ersterben, e ez ieman mohte erwerben, daz ich in wolde minnen, und soldich dar mit gwinnen allez ertriche. (V. 275,4-19)

43

Vgl. Rüdiger Schnell, „Die 'höfische' Liebe als 'höfischer' Diskurs über die Liebe". In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hg. von Josef Fleckenstein. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100) Göttingen 1990, S. 231-301, hier S. 253-257.

Das Gedächtnis des Lesers

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Das würde umgekehrt für Eneas gelten, wenn Lavinia Turnus liebte. So aber entlastet die Liebe den Helden. Nicht der Krieg, sondern die Minne verschafft ihm letztlich die Herrschaft. Gleichzeitig scheint die Gefährdung Lavinias durch die Qualen der Minne und die Gefährdung ihrer Liebe durch den Einfluß der Mutter die Erfüllung der fata noch einmal in Frage zu stellen. Die Darstellung der Liebeshandlung, die über weite Strecken aus der Sicht der Figuren erfolgt, gerät zum rhetorischen Spiel mit dem Gedächtnis des Lesers. Sowohl Lavinia als auch Eneas befurchten, durch (einseitige) Liebe ihr Leben zu verlieren.44 Doch heben jene Reminiszenzen an die unglückliche Liebe Didos (vgl. V. 52,19-22 und öfter) die Gegenseitigkeit der Liebe zwischen Eneas und Lavinia nur um so stärker hervor. Dabei betonen beide Figuren die Ausschließlichkeit ihrer Minne. Eneas etwa gesteht sich ein: ob al diu werlt wäre min, | sone gewunne ich nimmer ander wib (V. 293,32f.), und auch Lavinias Minne gilt einzig Eneas. Niemals würde sie Turnus lieben, und wenn er ihr die Welt schenken könnte.45 Während die Figuren ihr persönliches Glück beschäftigt, wird der Leser an das Weltreich der Römer, das geschichtliche Ziel ihrer Liebe, erinnert. Die dreifache Begründung von Eneas' Herrschaft durch die Götter, den Krieg und die Liebe verwirklicht die Bestimmung der fata, den Heilsplan des christlichen Gottes. Im alles entscheidenden Zweikampf zwischen Eneas und Turnus werden jene Komponenten der Vorsehung zusammengeführt. Erst hier wird die Allmacht der Liebe vollständig enthüllt.46 Der Ausgang des Kampfs ist bekannt. Anstelle einer Totenklage hebt der Erzähler Turnus' ritterliche Tugenden hervor. Der Totenpreis erinnert noch einmal an die Vorherbestimmung von Eneas' Sieg: Turnus het anders in erslagen (V. 332,26; vgl. 328,15f.). Jene Erinnerung an die vom Leser gewußte Vorsehung wird jedoch überschrieben von der Erinnerung an die Wirkung der Minne. Die Göttin der Liebe selbst verschafft Eneas eine Rüstung, die ihn vor jeglicher Verwundung schützt. Noch ehe der Erzähler die Waffen genauer beschreibt, 44

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46

Eneas: wandich ne mach doch niht genesen, \ es ne werde mir schiere btiz (V. 293,24f.); Minne, sal ez lange weren, \ so miiz ez mir am leben gän (V. 294,10f.). Lavinia: daz ich in minne und her mich niht \ so ne mach ich niht genesen (V. 272,12f.); Minne, sal ich iht lange leben, \ so must du mir tröst geben (V. 273,5f.); wandich schiere sterben miiz, \ mir ne werde der hitze büz (V. 285,17f.). Zur Minne als Krankheit vgl. Stebbins (Anm. 12), S. 78-101. Vgl. V. 275,40-276,2; 280,33-36; 343,24-27 sowie 275,10-19, zitiert oben S. 68. Zum Motiv siehe etwa Heinrich von Morungen, Lieder. Mittelhochdeutsch - Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung, Kommentar. Hg. von Helmut Tervooren. 2., verbesserte und bibliographisch erneuerte Ausgabe. Stuttgart 1992, XXII l,6f., dazu den Kommentar S. 173, sowie Kartschoke (Anm. 1), Kommentar zu 293,32f. - Später schwört Lavinia bei ihren Göttern, sich das Leben zu nehmen, falls Eneas erschlagen würde (V. 323,31-36, ohne Parallele im Roman d'Eneas; vgl. Kistler [Anm. 27], S. 176). Entsprechend hatte die Königin ihrer Tochter die Amor-Statue im Tempel erklärt: daz bezeichent die Minne, \ diu gewaldech is ubr alliu lant (V. 264,22f.; ohne Parallele im Roman d'Eneas). Der Topos verweist auf die epische Realität. Vgl. V. 261,28ff.; 262,34f.; 273,34ff. sowie Wenzelburger (Anm. 4), S. 167f.

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deutet er an, daß sie Turnus am Ende das Leben kosten (V. 159,16ff), und im Rahmen der Zweikampfschilderung wird der Leser noch einmal an die Qualitäten der Rüstung erinnert: des verlos Turnus sin leben (V. 326,27). Die Ausstattung des Helden mit einzigartigen Waffen folgt einem verbreiteten Muster heroischer Dichtung.47 In den mittelalterlichen Eneasromanen ist das Motiv in signifikanter Weise mit der Liebesthematik verflochten. Ohne Vorgabe Vergils werden die Waffen dort mit einer bei Ovid erzählten Liebesaffäre der Venus mit Mars in Verbindung gebracht.48 Der eifersüchtige Vulkan stellt den Ehebruch öffentlich bloß, und Venus verbannt ihn dafür aus ihrem Bett. Die Rüstung ist der Preis der Versöhnung. Ohne daß sich die motivischen Linien im einzelnen interpretatorisch weiter verfolgen ließen, deutet die Götterepisode auf die Koinzidenz von Liebe und Kampf im Konflikt um die italische Herrschaft voraus.49 Schon weil Lavinia Turnus nicht liebt, hat er das Reich verloren (jä hazzich heren Turnüm | me dan deheinen man [V. 274,20f.]). Nicht nur das Orakel der Götter steht gegen Turnus, sondern auch und vor allem die Liebe. Die epische Metapher hierfür sind die Waffen der Venus. Während Lavinia hofft, daß ihre Liebe Eneas im Kampf helfen wird (her sal ouch vehten deste baz [V. 285,34]), befurchtet dieser zunächst, die Folgen der Liebe könnten seine Kampfkraft beeinträchtigen (daz benimt mir schier die maht | und den ttb und die ere [V. 294,4f.]). Später empfindet er freilich zehnfache Kraft durch die Minne (V. 300,4ff.). Das Motiv reicht bis in die Schilderung des Zweikampfs hinein. Lavinia sieht vom Turm aus zu und bedauert, Eneas keine Liebespfänder geschickt zu haben.50 Doch sie weiß, daß er ihre Liebe erwidert und daß ihn dies stärken wird (her sal deste sterker sin | und deste küner sibenvtw/[V. 324,6f.]). Als Eneas, von Turnus hart bedrängt, Lavinia am Fenster erblickt, faßt er einen grimmigen höhen müt (V. 327,24) und versetzt seinem Geg-

47

48 49

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„Dies ist auch der tiefere Grund dafür, daß er [der Dichter] hier die mythischen Schwerternamen der germanischen und fränkischen Heldensage zitiert (160,20ff.); deshalb betont er nachdrücklich, daß Eneas allein solcher Waffen wert war (161,16ff.). Nur der beste Held verdient die besten Waffen und wird nicht erst durch sie zu dem, der er ist. Einen Feigling hätte auch die Kunst eines Volcanus nicht retten können" (Kartschoke [Anm. 1], S. 873). Dazu zuletzt Kistler (Anm. 27), S. 77-80. Dittrich (Anm. 21), interpretiert die Göttergeschichte als ein „Zwischenspiel zu den beiden Minnehandlungen um Dido und Lavinia", als „künstlerische Überleitung von der DidoMinne unter dem Zeichen unrehter minne zur Lavinia-Liebe als Ideal rehter minne" (S. 121); dagegen kritisch Wenzelburger (Anm. 4), S. 189, Anm. 209, sowie Brandt (Anm. 11), S. 206, der die Götterhandlung als Verweis auf die Koppelung von Minne und Krieg versteht (ähnlich auch Stebbins [Anm. 12], S. 151). Kistler (Anm. 27) zieht „prunkende Gelehrsamkeit" und „Lust am Erzählen" (S. 95f.) als Grund für die Einlage in Erwägung. V. 322,8ff. Die fiktiven Liebesgaben sind bedeutungsvoll auch auf Eneas' Rüstung bezogen: Ein Haarband sollte vor Kopfwunden schützen; ein Schleier sollte die Lanze härten; ein Ring sollte das Schwert schärfen.

Das Gedächtnis des Lesers

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ner einen furchtbaren Schlag (dö nähete im ein unheil [V. 327,36]). 51 Die Waffen der Venus und die Minne Lavinias fuhren die Entscheidung herbei. Doch Lavinias Minne ist nicht göttlichen Ursprungs. Gleich nach dem ersten Liebesgespräch mit der Mutter sieht sie vom Fenster aus den minnesälegen Troiän (V. 267,II), 5 2 und sie verliebt sich auf der Stelle; dasselbe gilt für Eneas. 53 Damit aber verschiebt sich die Begründungsstruktur seiner Herrschaft. Die durch die Augen entstandene Liebe erweist sich als die Bedingung für die Erfüllung der fata\ die Götter enbieten und wissagen, was die menschliche Liebe bewirkt.54

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Ohne Parallele im Roman d'Eneas (Anm. 9), vgl. aber V. 905Iff. Zur Stelle Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10) München 1989, S. 228f., sowie Wenzelburger (Anm. 4), S. 250f., der im übrigen zahlreiche Einzelheiten bezüglich der Überschneidung von Kriegs- und Minnehandlung bespricht. Zusammenfassend Brandt (Anm. 11), S. 221f. Vgl. auch V. 334,28ff. Brandt (Anm. 11), S. 211-213, stellt fest, daß das Epitheton sälich allein Eneas zugeordnet wird (der sälige Troiän [V. 180,25]; her is ein sigesälich man [V. 257,18]; der lobesälige man [V. 322,13]). Vgl. auch Wenzelburger (Anm. 4), S. 100 Anm. 121. Zur Liebe der Lavinia: V. 267,8ff.; 269,2ff.; 271,Iff.; 276,6ff. Zur Liebe des Eneas: 291,8ff. Zur 'Blickminne' ausführlich Schnell (Anm. 26), bes. S. 241-274. Wenzelburger (Anm. 4), S. 193f., hebt die Parallelität von Waffenhilfe und 'Entzündung' der Minne durch Venus hervor; die Fatalität der Minne betont Kistler (Anm. 27), S. 196-198. Hingegen zeigt Schnell, S. 215-217, daß der Pfeilschuß der Venus die natürliche Entstehung der Minne lediglich bildlich umschreibt; zustimmend Schöning (Anm. 30), S. 266. Wichtig für die Entstehung der Liebe bei Eneas ist zudem der Brief, den ihm Lavinia durch einen Pfeilschuß zukommen läßt (V. 290,Iff.; 295,35ff ; vgl. Stebbins [Anm. 12], S. 121, und Rusinek [Anm. 29], S. 20f.). In dieser Logik ist Eneas' letzte Erinnerung an Dido zu verstehen: ich Wiste wol daz frou Didö von minnen leit gröze not, do si ir selben tet den töt. war mir dö zer selber stunt zehen teil so von minnen kunt, als ich sider hän vernomen, ichn wäre nie von ir komen. (V. 296,10-16) Nur weil Eneas keine Liebe für Dido empfindet, gehorcht er dem Willen der Götter und verläßt Karthago. Kistler (Anm. 27), S. 142, interpretiert dies als „nachträglichen Ehrenrettung der Dido"; Kartschoke (Anm. 1), Kommentar zu 292,26, als nachträglichen Freispruch des Eneas von einer „möglichen Schuld an Dido". Vgl. aber V. 296,17-19: Diu was mir (sprach her) vile holt, von diu hän ich sunde und scholt, daz sie verlos ir lib. Dido andererseits weiß sich selbst für ihr Unglück verantwortlich (vgl. Urban Küsters, „Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer". In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. Hg. von Gert Kaiser. [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 12] München 1991, S. 9-75, hier bes. S. 52f.).

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IV Auch in noch anderer Weise ist Venus, ist die Liebe an der Konsolidierung von Eneas' Herrschaft in Italien beteiligt. Derselbe Bote, der die Rüstung des Vulkan überbringt, meldet den Auftrag der Göttin, Eneas solle Euander um Waffenhilfe ersuchen (V. 163,15ff.).55 Euander ist König von Pallanteum, das zwei Tagesreisen von der Burg Albane entferntliegt, aldä Röme nü stet (V. 167,39).56 Als Feind des Turnus (der was Turnd vil geve [V. 163,28]) und als Freund des Eneas (sin geslehte erkander [V. 170,17]) schickt Euander seinen Sohn Pallas und zehntausend Männer in den Krieg. Der Pallas-Gestalt kommt eine herausragende epische Bedeutung zu.57 Wie bei Vergil vorgegeben, wird Turnus Pallas erschlagen, und Eneas wird Turnus dafür das Leben nehmen.58 Eneas' Klage um den jugendlichen Helden schließt auch Selbstvorwürfe ein: ich solt din hän gehütet baz | in stormen und in striten (V. 218,16f.).59 Eben erst hatte Pallas das Schwert erhalten, und der Erzähler betont seine Unerfahrenheit im Kampf (V. 206,29ff.).60 Auch die Königin gibt Eneas die Schuld an Pallas' Tod. In ihrer Trauer sagt sie sich los von den Göttern, ezn si daz sie mich rechen an Enease dem Troiän, der dich liez ze töde slän, dazer dir ze helfe niene quam. dö man dir daz leben nam, was her dö entsläfen? (V. 222,20-25)

Die Klage des alten Königs hingegen besitzt einen anderen Akzent. Mit dem Tod des einzigen Sohnes (V. 221,10) stirbt auch das Geschlecht des Euander:

55

Bei Vergil erhält Aeneas den Auftrag vom Flußgott Thybris.

56

Vgl. V. 173,16f., dazu den Kommentar von Kartschoke (Anm. 1) sowie den Roman (Anm. 9), V. 4803ff.

57

Vgl. Dittrich (Anm. 13), S. 253-257. Das Eingreifen des Pallas in den Krieg ist mit einem zeichenhaften Vorgang verbunden. Noch bevor Eneas und Pallas nach Albane zurückkehren, läßt Turnus die Schiffe der Trojaner verbrennen (V. 178,39ff.) und sorgt damit selbst für die Unumkehrbarkeit ihrer Landnahme (zum Motiv vgl. Strohschneider und Vögel [Anm. 7], S. 99f.). Darauf Bezug nehmend, ruft Pallas den fliehenden Trojanern später entgegen: 'weit ir ze Troie swimme?' (V. 203,34).

58

Dazu Werner Schröder, „Die Hinrichtung Arofels". In: Wolfram-Studien 2 (1974), S. 219— 240, hier S. 232-234.

59

Deutlicher im Roman d'Eneas (Anm. 9), V. 6147ff. Das Grün von Feldzeichen und Schild bezeichnet die Jugend des Helden. Doch erinnert die Farbe zugleich an den grünen Jagdmantel Didos (V. 60,1 lf.), an deren Tod sich Eneas ebenfalls schuldig fühlt (siehe Anm. 54). Wie Dido wird auch Pallas in einem grünen Prasin-Sarg bestattet (vgl. Stebbins [Anm. 12], S. 166f.).

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ichn hän in mime kunne deheinen frunt ze erbe, swenne so ich sterbe (daz muz ηύ vil schiere sin), Pallas lieber sun min, so blibet min riche erbelös. (V. 220,34-39)

Pallas wird als ein König bestattet. Man setzt ihm eine Krone aufs Haupt und legt ihm ein Zepter in seine Hand (V. 222,39ff.)· Durch Pallas' Tod ist die Erbfolge in Pallanteum, wo einst Rom erbaut werden wird, abgebrochen. Nach Euanders Tod ist das zweite Königsgeschlecht in Italien erloschen. Unmittelbar nach der Schilderung der Trauerfeierlichkeiten jedenfalls - und nur hier - wird Latinus als der ander kunich (V. 227,31) bezeichnet.61 Zwar spricht es der Text nicht explizit aus, daß Eneas auch über Pallanteum regiert, doch ist er am Ende König über alliu Mischen riche | vil gewaldechliche (V. 349,21 f.). 62 Die Erschlagung des Pallas - dies ist die politische Folge der Tragödie - macht Eneas zum alleinigen Herrscher über Italien.63 Pallas' Tod - daran erinnert die zitierte Klage der Königin - hinterläßt jedoch auch einen Makel am Helden Eneas. 64 In diesen Zu-

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Nicht im Roman d'Eneas. Die Handschriften variieren geriingfügig: Der andere G, dar vnd der E, vnder des der H. Zitiert nach: Heinrichs von Veldeke Eneide. Mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Otto Behaghel. Heilbronn 1882, Apparat zu Vers 8429. Der Plural riche ist mehrdeutig; vgl. Henric van Veldeken, Eneide. Hg. von Theodor Frings und Gabriele Schieb. Bd. II: Untersuchungen. (Deutsche Texte des Mittelalters 59) Berlin 1965, S. 370f. (zu V. 13308f.), mit Hinweis auf Peter von Polenz, „Das Wort 'Reich' als unpolitische Raumbezeichnung". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 76 (1957), S. 80-94, hier S. 81-84. Über die Grenzen des Königreichs von Latinus macht der Text keine genauen Angaben. Nur einmal ist angedeutet, daß auch daz lant zu Tuscäne (V. 229,4) zu seiner Herrschaft gehört. Dittrich (Anm. 21), S. 86, setzt Italje und Latium gleich. Vinzenz von Beauvais, der Isidor zitiert (Etym. XIV 4,18), beschreibt Italien wie folgt: cuius situs longitudine amplius quam latitudine a Cyrcio in Eurum extenditur, ä meridie Tyrrheno mari; ab aquilone Adriatico clauditur, ab occiduo alpium iugis finitur (Vincentius Bellovacensis, Speculum quadruplex sive speculum mains. Bd. 4: Speculum historiale. Douai 1624 [Nachdruck Graz 1965], liber I, cap. 74). Die Vorstellungen des mittelalterlichen Publikums dürften vage gewesen sein. Jedenfalls kann die Wendung Italje daz lant (V. 18,29; 29,18; 58,2; 81,37; 113,17) kaum nur auf den Herrschaftsbereich des Latinus bezogen werden. Vgl. auch V. 349,23-27. Im Roman d'Eneas (Anm. 9), V. 6167f., ist erwähnt, daß Eneas das Land mit Pallas geteilt hätte. Vgl. auch V. 4739^1742. Es mag der epischen Logik entsprechen, daß Eneas, nachdem er vom Tod des Pallas erfährt, das Geschlecht des Mezentius (im Eneasroman wird er wie bei Vergil als erster der Turnus unterstützenden Fürsten genannt) auslöscht, indem er zuerst seinen Sohn Lausus, dann ihn selbst erschlägt (V. 211,26ff.). Zu Parallelen zwischen Mezentius und Turnus in der Aeneis siehe Gabriele Thome, Gestalt und Funktion des Mezentius bei Vergil - mit einem Ausblick auf die Schlußszene der Aeneis. (Europäische Hochschulschriften XV 14) Frankfurt/M. Bern - Las Vegas 1979, S. 251-274.

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sammenhang scheint mir die narrative Aufwertung der Camilla in den mittelalterlichen Eneasromanen zu gehören. Camilla, diu kunegin von Volcäne (V. 145,39), kämpft auf der Seite des Turnus. Schon bei ihrer ersten Erwähnung wird sie mit einer ausführlichen descriptio ausgezeichnet.65 Wie Pallas hat sie nur einen Auftritt in der Schlacht. Nachdem sie vielen Trojanern das Leben genommen hat, verliert sie es selbst. Der als Feigling geschilderte Arruns durchbohrt Camilla mit einem Speer, als sie dem Leichnam des Chloreus den kostbaren Helm abnehmen will. Dies wird in Kontrast zum Tod des Pallas erzählt. Während jener im Zweikampf von Turnus erschlagen und von diesem beraubt wird (V. 207,9ff.), stirbt Camilla kampflos, ihren besiegten Gegner beraubend. Doch die Parallelen von Pallas- und Camilla-Handlung überwiegen. Auch Camillas Tod bedeutet das Ende ihres Geschlechts, denn sie hat offenbar keine Nachkommen: si wolde ir magettüm | bringen an ir ende (V. 148,12f.).66 Wie Eneas hält auch Turnus eine (in vielem an die Beklagung des Pallas anklingende) Klagerede, und auch er sorgt für die Überführung des Leichnams der Camilla in ihre Heimat (V. 248,39ff.). Wo man sich das Land Volcäne vorzustellen habe, läßt der Text offen (V. 251,12ff.). Der Leser erfährt aber, daß Camilla in einem prächtigen Mausoleum beigesetzt wird. Der Beschreibung des Grabmals geht eine Publikumsanrede voraus, die dessen Besonderheit hervorhebt: Welt ir nü rehte verstän eine rede also getan, die ir e seiden habet gehört, sö merket rehte miniu wort bescheidenliche sunder, sö moget ir hören wunder, daz mir niht vil enschadet, wie diu frouwe wart bestadet, Kamille diu werde, vil höhe enboven der erde. (V. 251.21-30) 6 7

65

Geschildert werden ihre Schönheit und ihr männlicher Habitus: sie ne tet niht alse ein wib, si gebärde als ein jungelink unde schuf selbe ir dink, als sie ein ritter solde sin (V. 147,4-7).

66 67

Vgl. V. 236,27ff. (Beschreibung ihrer Rüstung). Fromm (Anm. 1), Kommentar zu 236,20, bezieht die Figur auf Lavinia: „Glanz und Pracht der Ausstattung Camillas bilden ein wirkungsvolles Pendant zur Jägerin Dido. Camilla tritt hier gleichsam in die gegenbildliche Rolle der Lavinia ein in dem Bereich, den diese nicht ausfüllen kann" (S. 861). Ohne Parallele im Roman d'Eneas\ vgl. Fromm (Anm. 1), Kommentar zu 145,36-149,26. Eine vergleichbare Höreranrede findet sich sonst nicht im Text. Vgl. Brandt (Anm. 11), S. 89f.

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Auch das Grab des Pallas ist im Roman d'Eneas und bei Veldeke ausführlich beschrieben (V. 223,37ff.). König Euander hatte es für sich selbst herrichten lassen. Veldeke berichtet, daß die Gruft zu der Zeit, als Kaiser Friedrich I. in Rom gekrönt wurde (gewihet wart [V. 226,21]), entdeckt und geöffnet worden sei. Dabei sei das ewige Licht im Grab durch einen Windstoß verloschen.68 Der Exkurs von der Auffindung des Pallas-Grabes bestätigt den Wahrheitsgehalt der Erzählung. Er bestätigt darüber hinaus auch die geschichtliche Bedeutung des Erzählten: Durch Pallas' Tod verlöscht die zweite Dynastie in Italien; Rom wird von Eneas' Nachkommen gegründet. Dem Bericht von der Öffnung des Pallas-Grabes steht die Ankündigung des Wunderwerks des Camilla-Grabmals gegenüber (sö moget ir hören wunder),69 Bereits die Höreranrede deutet die Überbietung des Pallas-Grabes durch die Architektur des Camilla-Mausoleums an. Während der Sarg des Pallas in einem Gewölbe niht höge (V. 224,2) aufbewahrt wird, ist das Grabmal der Camilla so konstruiert, daß die Grabkammer von einem vierzig Fuß hohen Marmor-Pfeiler getragen wird, der selbst auf einem Gewölbe ruht. Auch die übrigen Einzelheiten scheinen dem Prinzip der Steigerung zu folgen.70 So ist die Grablampe an einer goldenen Kette befestigt, die vom Schnabel einer aus Stein gehauenen Taube gehalten wird. Ihr gegenüber ist eine Figur mit einem gespannten Bogen piaziert (V. 254,27ff). Falls das Grab geöffnet wird, trifft der Pfeil die Taube, so daß die Lampe zu Boden fallt und das Licht erlischt.71 Der Schütze symbolisiert den Speerwurf des Arruns. Die Taube als Signum der castitas bezeichnet die keusche Camilla.72 Während das Arrangement von Schütze und Taube auf den epischen Tod der Camilla zurückweist, beglaubigt das bei der Öffnung des Pallas-Grabes verlöschende Licht den geschichtlichen Tod des Helden. Die Grabmale als Monumente der Erinnerung erfüllen heterogene memoriale Funktionen. Sie ehren 68

Vgl. Fromm (Anm. 1), Kommentar zu 226,18-227,10. Dittrich (Anm. 13), S. 584-586, deutet dies typologisch; modifizierend Wenzelburger (Anm. 4), S. 2 7 0 - 2 8 4 (Formalisierung und Profanisierung typologischer Sinnstiftung bei Veldeke; „Feier einer ganz weltlichen Gegenwart" [S. 283]).

69

Der Dichter des Roman d'Eneas (Anm. 9) stellt das Mausoleum über die 'Sieben Weltwunder' (V. 753Iff.). Vgl. Fromm (Anm. 1), Kommentar zu 251,21-256,10; Schöning (Anm. 30), S. 219.

70

Vgl. Gabriele Schieb, „Veldekes Grabmalbeschreibungen". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle/S.) 87 (1965), S. 201-243 (dort neben ausführlichen Kommentaren genaue Vergleiche mit dem Roman d'Eneas und ein Überblick über Abweichungen in der handschriftlichen Überlieferung). - Die Illustration zum Camilla-Grabmal in der Berliner Handschrift (B) nimmt eine ganze Blattseite ein (Bl. 62 v ); Abbildung bei Fromm (Anm. 1) und bei Schieb (vor S. 225), dort auch eine Reproduktion der Darstellung in der Wiener Handschrift (w) aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts (nach S. 224).

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Zu möglicherweise orientalischen Vorbildern des Automaten ebd., S. 235f. Vgl. Wolfgang Harms, „Significant objects: a possibility of realism in early narratives". In: Realism in European Literature. Essays in Honour of J. P. Stern. Hg. von Nicholas Boyle und Martin Swales. Cambridge u.a. 1986, S. 12-27, bes. S. 15-17.

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Pallas und Camilla als ebenbürtige und gleichermaßen herausgehobene Mitkämpfer der Antagonisten Eneas und Turnus. Zugleich aber überblendet der Tod der Camilla das Geschehen um Pallas. Die Beschreibung ihres Mausoleums überstrahlt die Tragödie um den Thronfolger von Pallanteum und damit das Ärgernis seines Todes, das Eneas' Herrschaft anhaftet.

V Als Eneas in Laurentum einzieht, fuhrt er fünfzig Ritter in neuen Gewändern mit sich {gemachet als man do phlach [V. 337,23]), Trojaner und Einheimische. Im Palast wirkt alles neu: des nüwen man sö vile vant, \ daz man des alden vergaz (V. 340,16f.).73 Nach der Krönung vermeidet es der Erzähler, von Eneas als dem Trojaner zu sprechen: Er ist der 'neue' König.74 Nur noch ein einziges Mal wird Eneas' trojanischer Herkunft gedacht - im Ausblick auf die Folge der Generationen bis zu Kaiser Augustus. Dort heißt es von seinem Enkel: der hiez Silvjüs Eneas und wart rehte also getan als Eneas der Troiän an häre und an der hüte. daz markten die lute, die si beide erkanden: an füzen unde an handen mohte manz wol merken an Worten unde an werken und über allen sinen IIb. vil holt wären im diu wib. von Eneä sinem anen von dem erbetez in ane. (V. 350, 16-28)

Veldekes schon allein durch den Umfang hervorgehobene Würdigung des Silvius Eneas ist von der Forschung trotz intensiver Quellenvergleiche bislang kaum beachtet worden. 75 Bei Vergil erfahrt Aeneas vom Vater Anchises:

73

Ohne Parallele im Roman d'Eneas. Vgl. Barbara Haupt, Das Fest in der Dichtung. Untersuchungen zur historischen Semantik eines literarischen Motivs in der mittelhochdeutschen Epik. (Studia humaniora 14) Düsseldorf 1989, S. 115f.

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V. 345,37: der junge kunech) V. 348,7f.: gewaldiger kunich-, V. 348,13: kunich riche; V. 348,22: kunich märe; V. 348,39f.: Do hielt der kunich Latin \ Eneam vor den sun sin; V. 349,5: nüwe kunich; V. 349,19: kunech Eneas; V. 349,34: kunech Eneas. Vgl. LiebertzGrün (Anm. 11), S. 61 f.

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Fromm (Anm. 1), Kommentar zu 108,29, schreibt: „Er besitzt keine Sagenvergangenheit und ist eine Erfindung des Vergil, jedenfalls bei ihm allein bezeugt" (S. 818). Dittrich (Anm. 13), S. 86, 429, 432, bleibt paraphrasierend.

Das Gedächtnis des Lesers

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[...] te nomine reddet Silvius Aeneas, pariter pietate vel armis egregius, si umquam regnandam acceperit Albam.76

Im Roman d'Eneas herrscht Silvius Eneas in der vierten Generation nach Silvius: Enpres cestui quarz estera eil kiforment te portraira de nom et de grant pieti et de proece et de belte; Silvius Eneas ait a nom, molt i avra riche baron, de lui naistront et rei et dus,77

Anders als bei Vergil und im Roman d'Eneas ist Silvius Eneas bei Veldeke ein 'neuer' Eneas. Sein Vater ist in Italien geboren; aus seinem kunne gehen Romulus und Remus, die Gründer Roms, hervor. Über die Schleife der völligen Gleichheit von Silvius Eneas und seinem Großvater wird die lineare Folge der Generationen in zwei genealogische Reihen gespalten: Der landflüchtige Usurpator Eneas aggregiert zum dynastisch legitimierten italischen König Silvius Eneas, dem Stammvater der Römer. Jene Konstruktion ist erzählerisch sorgfältig vorbereitet. In seiner Rede vor dem Zweikampf mit Turnus fordert Eneas seinen Anspruch auf Italien als sein rechtez erbe ein (V. 309,13). 78 Dabei erinnert er sowohl an die eidliche Zusage von wib und riche durch König Latinus (V. 309,15ff.) als auch an seinen Ahnherrn Dardanus, den Gründer Trojas, der

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Vergil, Aeneis. Lateinisch - Deutsch. In Zusammenarbeit mit Maria Götte hg. und übersetzt von Johannes Götte. Darmstadt - München 71988, VI 768-770. Roman d'Eneas (Anm. 9), V. 2943-2949 („Nach diesem wird der vierte derjenige sein, der dir sehr ähnlich sein wird in bezug auf Namen und große Frömmigkeit, hinsichtlich der Tapferkeit und Schönheit; Silvius Eneas soll er heißen, sehr viele reiche Barone wird er haben, von ihm werden Könige und Herzöge abstammen"). wolde ich disen guten kneht verderben dorch minen hömut, dazn solde üch niht dunken gut, wandez wäre eine missetät (V. 308,24-27). Die mittelalterlichen Autoren übergehen eine Vorgabe Vergils, wonach auf dem Schild, den Eneas von Venus erhält, Szenen aus der römischen Geschichte dargestellt sind. Nur Veldeke erwähnt einen Löwen als Schildwappen (V. 162,12f.), ein Zeichen vielleicht fur Eneas' künftige Herrschaft, vielleicht auch für sein Recht; vgl. Stebbins (Anm. 12), S. 162f. Anm. 25. Zur möglichen Signifikanz des Löwen im Mittelalter vgl. die Hinweise bei David A. Wells, „Die Allegorie als Interpretationsmittel mittelalterlicher Texte. Möglichkeiten und Grenzen". In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion. Hg. von Wolfgang Harms und Klaus Speckenbach in Verbindung mit Herfried Vögel. Tübingen 1992, S. 1-21, hier S. 13 und 20f. Anm. 72.

Herfried Vögel

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einst ein mächtiger Fürst in Italien war (V. 308,30ff.).79 Der Hinweis auf Dardanus verklammert die Situation der Entscheidung im Kampf um das Reich mit der Flucht aus Troja. Schon als Eneas den Götterspruch vernimmt, daß er über mere solde varen | ze Italjen in daz lant (V. 18,28f.), erinnert er sich an Dardanus' italische Herkunft: daz weste wol der wigant, | dannen Dardanus geboren was (V. 18,30f.). Der Götterbefehl hat eine geschichtliche Referenz. Eneas' Weg in die Zukunft ist zugleich ein Weg in die angestammte Vergangenheit; der Aggressor wird zum Heimkehrer umstilisiert.80 Dabei verwischt die Erzählung Schritt für Schritt den problematischen Aspekt seiner trojanischen Identität. Als Eneas Troja verläßt, nimmt er al sin gut (V. 20,17) mit sich. In Karthago präsentiert er sich in prächtigen Gewändern als trojanischer Fürst (V. 34,Iff.). Er überreicht Dido Geschenke aus seinem Besitz, darunter ein pheller (V. 37,11), das Königin Hecuba am Tag ihrer Krönung trug. Das Gewand erinnert an Eneas' Stellung in Troja. Der Erzähler nennt ihn Herzog; die Tochter des Königs war seine Frau (V. 18,2ff.). Das kostbare Gewand stellt die Verbindung zur königlichen Familie her. Indem er es an Dido verschenkt, löst sich Eneas von seiner Vergangenheit.81 Die Geschenke für Latinus hingegen beziehen sich auf seine Zukunft. Eneas will sich niederlassen. Zepter und Krone bekunden - wie der Erzähler bemerkt - seinen Respekt gegenüber dem latinischen König (V. 113,30ff.). Doch erinnern die Königsinsignien auch an Eneas' künftige Herrschaft über Italien.82 Noch bevor die Boten von Latinus zurückkehren, errichtet Eneas Albane.83 Mit dem Bau der wehrhaften Burg findet der Trojaner zugleich 79

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Dazu ausführlich Dittrich (Anm. 13), S. 57-65, bes. S. 63f., sowie S. 358-360. Vgl. Brandt (Anm. 11), S. 226. Vgl. Kasten (Anm. 10), S. 228-230, ferner Werner Suerbaum, „Aeneas zwischen Troja und Rom. Zur Funktion der Genealogie und der Ethnographie in Vergils Aeneis". In: Poetica 1 (1967), S. 176-204, bes. S. 180-183, 193f. Bei Vergil verschenkt Eneas einen Schleier der Helena. Fromm (Anm. 1), Kommentar zu 37,12, erklärt dazu: „Bei dem schlechten Ruf, den Helena - als leichtfertig und hurenhaft während des ganzen Mittelalters besaß, mußte dies schon dem Roman unpassend erscheinen" (S. 783). Später wird Dido mit sich selbst die Erinnerung an Eneas verbrennen (V. 75,19ff.). Unter den Geschenken befindet sich auch ein goldener Pokal: Meneläüs het in ime gegeben dö her ze ime was gesant, dö her ze Troie an den sant zaller eriste quam. (V. 113,38-114,1) Die Freundlichkeit des Menelaus mag für den kundigen Leser eine versteckte Anspielung auf Eneas als den Verräter Trojas enthalten. Vgl. Hans Fromm, „Eneas der Verräter". In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. 2 Bde. Hg. von Johannes Janota u.a. Tübingen 1992, Bd. 1, S. 139-163, hier S. 152; vgl. Schöning (Anm. 30), S. 309.

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Der Text bleibt hier widersprüchlich. Vers 118,4ff. wird erwähnt, daß die Boten zurückkehren, als Eneas üf einen berch bi deme mere geritten war. Doch später heißt es: dö daz also was getan, daz der here Eneas also drüfkomen was,

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Das Gedächtnis des Lesers

eine neue Identität. Als er seine Männer zur Verteidigung ermahnt, spricht er von Erbe (unser reht erbelant [V. 165,9]) und Seßhaftigkeit (üwer selide [V. 165,32]). Zu Euander kommt Eneas mit leeren Händen. Doch ist dem König Eneas' Familie bekannt, und er erzählt sogleich von den Geschenken, die er einst in Troja von Anchises erhielt. Nicht Eneas, Euander erinnert sich. Daher läßt Eneas zur Unterhaltung der Festgesellschaft trojanische Spielleute auftreten (daz hörde gerne und gesach | der kunich Evander [V. 172,34f.]), und deshalb erzählt er - gleichsam zum Zeitvertreib während des Ritts vom Festplatz zur Burg - von der Eroberung der Stadt (dö sageterz ime rehte [...] al die rehten wärheit [V. 173,26 und 29]).84 Während er noch in Karthago persönlich betroffen wirkt, als Dido ihn an Troja erinnert ([...] ir habet begunnen \ einer rede, diu mir we tut [V. 40,8f.]), zeigt Eneas bei Euander ein objektiviertes Verhältnis zu seiner Vergangenheit. In seiner Rechtfertigung vor dem Zweikampf schließlich führt er den Untergang Trojas auf die missetät des Paris gegen Menelaus zurück. Eneas memoriert die Zerstörung der Stadt nicht mehr erzählend, sondern deutend. Zugleich vergegenwärtigt die Rede - auch dem Publikum (sumeliche hänt ez niht vernomen [V. 308,20]) - noch einmal den dreifachen Begründungszusammenhang seiner Flucht: Die Eroberung Trojas war nicht zu verhindern (dö wiste ich wärliche daz, | daz ich ez niht mohte erweren [V. 309,6f.]); die Götter befahlen die Fahrt nach Italien; das Land steht ihm als reht erbelant zu. Die Götter als Instanz der fata - so stellt es sich dar - befreien Eneas vom Verdikt seiner Flucht. Jener Entlastung des Helden durch eine schon bei Vergil dem geschichtlichen Telos der Handlung inhärente göttliche Providenz steht die memoria seiner ehrlosen Flucht gegenüber. Bis zur Verheißung des Anchises wird Eneas von 'Erinnerungsanfällen'85 an seine Flucht aus dem brennenden Troja geplagt. Als er zusehen muß, wie eines seiner Schiffe in der tobenden See versinkt, beklagt Eneas, daz her sin ende niht ennam \ zü Troie mit eren (V. 22,22f.), und als er in der Unterwelt den gefallenen Trojanern begegnet, wird sich der Held seiner Schande bewußt: dö schamete her sich sere: ez dühtin unere daz her von in gescheiden

was,

dö sach her von der horch nider, da die boten quämen wider (V. 119,32-36). Die Bilder der Berliner Handschrift (B) stellen zunächst die Ankunft der Boten, dann den Bau von Albane dar (Fromm [Anm. 1], S. 954f.); vgl. auch Dittrich (Anm. 13), S. 183f., sowie Brandt (Anm. 11), S. 218. - Die zeitliche Verschränkung von Dienstangebot durch die Boten (V. 114,6ff.) und Landnahme (die Illustration der Berliner Handschrift, Bl. 29 v , zeigt auch die Bestellung des Landes) entspricht der doppelten Verweisfunktion der Geschenke. 84 85

Im Roman d'Eneas (Anm. 9), V. 4795-4800, erzählt Euander von seiner Vergangenheit. Vgl. Herzog (Anm. 2), S. 92.

Herfried Vögel

80 der herzöge Ernas, von frunden und von mägen, die da erslagen lägen in Troie der witen. (V. 100,25-31)

Nach der Unterweltfahrt wird die Widersprüchlichkeit von Ehrverlust und Gehorsam, an der Eneas von Beginn an zu tragen hat {der gedahte im vile sere, \ dö ime diu sorge zu quam [V. 19,8f.]),86 in der Erinnerung des italischen Königspaares erzählerisch perpetuiert. Dabei wird die Gedächtnislast des Eneas auf antagonale Rollen verteilt. Während Latinus an den Willen der Götter gemahnt, häuft die Königin zahlreiche Vorwürfe gegen Eneas auf. Sie erinnert an seine Flucht und an seine Verantwortung für Didos Tod.87 Gleichzeitig wird die Erinnerung an den problematischen Helden Eneas durch die negative Charakterisierung der Königin kompensiert.88 Sie gebärdet sich unhöfisch, das Laster der ira bestimmt ihre Auftritte.89 Sie beschimpft ihre Tochter und wünscht Latinus den Tod (V. 121,7f.). In ihrer letzten Szene {si was näch üz ir sinne \ komen dorch den grözen zorn [V. 342,6f.]) straft sich die Königin, Lavinia nicht schon bei ihrer Geburt erschlagen zu haben.90 Ihre letzten Worte verfluchen die Tochter: 'des müzest du unsälich sin' (V. 343,38) 91 Danach stirbt sie selbst. Damit endet die Opposition gegen Eneas, die von der italischen Königin ausgeht und deren Fäden bei ihr zusammenlaufen.92 Mit ihrem Tod verlöscht die Erinnerung an den Flüchtling

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Vgl. Behaghel (Anm. 61), Apparat zu Vers 68. - Die Beratung mit den Getreuen (V. 19,10ff.) stellt dem Götterbefehl eine menschliche Handlungsmotivation zur Seite (vgl. Kasten [Anm. 26], S. 81 f.), doch markiert jene Szene gerade auch den Konflikt des Eneas. Die Belege vollständig bei Dittrich (Anm. 13), S. 184-199. Vgl. Kasten (Anm. 10), S. 238. - In diesen Zusammenhang gehört auch die Prognose der Königin, mit Eneas würde das Königsgeschlecht aussterben, denn er sei zur Liebe mit Frauen nicht fähig (V. 282,38ff.; deutlicher im Roman d'Eneas [Anm. 9], V. 8567ff). Sie erinnert nur daran, daß Eneas heiraten und einen Sohn haben wird. Eine weitergehende Interpretation der Stelle bei Liebertz-Grün (Anm. 11), S. 71f. V. 120,38f.: mit zorne äne minne \ gienk si vor den kunich stän. V. 266,15: in zorne gienk si hin dane. V. 284,31: in zorne sie danne streich, und öfter. Latinus hingegen spricht gezogenliche (V. 123,25; vgl. V. 124,4-9), er zeichnet sich aus durch Geduld und Liebe zum Frieden. mir is leit daz ich dich ie getrüch, daz ich dich niht ze töde slüch, als schiere so ich dich gewan [...] ez miiz diu werlt wol alliu klagen, daz dii worde ie geboren. (V. 342,17-19 und 22f.) Denselben Fluch spricht sie aus, als sie von Lavinias Liebe zu Eneas erfährt (V. 282,24); vgl. Wenzelburger (Anm. 4), S. 175f. Im Roman d'Eneas wird der Tod der Königin nicht erwähnt. Vgl. auch Fromm (Anm. 1), Kommentar zu 344,1-4, sowie Haupt (Anm. 5), S. 31-33 (zum möglichen Einfluß des Straßburger Alexander), und dies. (Anm. 73), S. 132-137.

Das Gedächtnis des Lesers

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und Usurpator Eneas. Sein Enkel, der 'neue' Eneas, ist von Geburt von jenem Erbe entlastet.

VI Veldekes Eneasroman ist in der Literaturgeschichtsschreibung wiederholt als 'Vorläufer', 'Wegbereiter' oder 'Bindeglied' hin zu den Erzählungen Hartmanns, Wolframs und Gottfrieds gewürdigt worden.93 Die Wertschätzung, die in jenen Bildern zum Ausdruck kommt, konkurriert anderseits - meist unausgesprochen mit dem Odium des 'Noch nicht', und fast will es scheinen, als habe die um Veldekes Roman mitunter heftig geführte Typologie-Diskussion ihren Schatten auch auf die Beurteilung des Verhältnisses zwischen dem 'frühhöfischen' Autor und seinen Nachfolgern geworfen.94 Vor allem aber kamen die Interpreten am Lob Veldekes durch die Dichter der nächsten Generation nicht vorbei. Gottfrieds vielzitiertes Diktum: er inpfete daz erste ris | in tiutscher zungen,95 gab und gibt Anlaß, Heinrichs Roman „im Kontext der entstehenden weltlichen Erzählkunst literarischen Anspruchs im 12. Jahrhundert" zu deuten.96 In diesem Zusammenhang haben die Forschung neben chronologischen und sprachgeographischen Problemen insbesondere die folgenden Aspekte beschäftigt: die Verbindung von militia und amor, die Minnethematik, die Erzählstruktur, Modelle der heldischen Bewährung, die Ausprägung einer volkssprachigen Redekunst. Jenen letzten Punkt hervorhebend, hat Karl Bertau von einem „Musterkatalog der rhetorischen Genera dicendi in deutscher Sprache" und von einem „literarischen Musterbuch" gesprochen.97 Während die Veldeke-Forschung der Rhetorisierung von Beschreibungen, Reden, Szenen etc. vielfach Beachtung entgegengebracht hat,98 ist 93 94

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Vgl. Kasten (Anm. 26), S. 77f. Vgl. Paul Michel, „Übergangsformen zwischen Typologie und anderen Formen des Textbezugs". In: Bildhafte Rede (Anm. 78), S. 43-71, hier S. 66. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold. Hg. von Friedrich Ranke. Dublin - Zürich 15 1978, V. 4738f. Zu den Veldeke-Referenzen bei Wolfram siehe Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs 'Parzival'. (Mikrokosmos 36) Frankfurt/M. u.a. 1993, S. 342-348 und öfter. Kartschoke (Anm. 1), S. 875. Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. 2 Bde. München 1972/73, Bd. 1, S. 548, 554. Vgl. Karl Bertau, „Versuch über den späten Chrestien und die Anfänge Wolframs von Eschenbach" [zuerst 1972]. In: Ders., Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte. München 1983, S. 24-59, hier S. 31-36. Zuletzt Nikolaus Henkel, „Litteratus - illitteratus. Bildungsgeschichtliche Grundvoraussetzungen bei der Entstehung der höfischen Epik in Deutschland". In: Begegnung mit dem 'Fremden'. Grenzen - Traditionen - Vergleiche. Akten des VIII. internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Hg. von Eijiro Iwasaki. Bd. 9: Sektion 15: Erfahrene und imaginierte Fremde. Hg. von Yoshinori Shichiji. München 1991, S. 334-345, hier S. 339f. Zum

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Herfried Vögel

anderseits deren erzählerische Bedeutung im Gesamtkonzept des Romans noch weitgehend unklar. Schon Wolfgang Brandt hielt fest, daß der Umfang der Beschreibungen „von der Funktion, die ihnen für den Handlungsablauf und den inneren epischen Vorgang zukommt, nicht mehr zu rechtfertigen" sei. Entsprechend wurde auf den Publikumsgeschmack verwiesen." Doch dürfte die „durchgängig rhetorischen Durchgestaltung" der Handlung100 weder durch den Rekurs auf ein Publikumsinteresse noch von einer für uns nicht mehr faßbaren AutorIndividualität her hinreichend zu erklären sein. Gerade der Epilog des Eneasromans will ja bezeugen, daß Veldekes 'Meisterschaft' das Interesse des Publikums weniger befriedigt als allererst hervorgerufen hat. So fand der Dichter angeblich gleich mehrere Gönner, nachdem der Roman in größeren Teilen fertiggestellt war; Auftraggeber und primärer Adressatenkreis hingegen werden nicht genannt.101 Während die wohl von Schreiberhand interpolierten Verse 352,19 bis 354,1 im Einklang mit dem Urteil späterer Autoren auf den Lobpreis von Veldekes Dichtkunst hinauslaufen,102 hebt der als authentisch angesehene Schluß den geschichtlichen Inhalt der rede hervor:

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Phänomen siehe grundsätzlich Franz Josef Worstbrock, „Dilatatio materiae. Zur Poetik des 'Erec' Hartmanns von Aue". In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30, hier S. 2-5, 9-12. Brandt (Anm. 11), S. 198. Vgl. etwa Schröder (Anm. 4), S. 101f.; Raudszus (Anm. 30), S. 63; Fromm (Anm. 69). Vgl. auch Schöning (Anm. 30), S. 334. Nikolaus Henkel, „Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessenbildung". In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hg. von Joachim Heinzle. (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14) Stuttgart - Weimar 1993, S. 39-59, hier S. 56. Vgl. Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300. München 1979, S. 115f. Zu den historischen Aussagen des Epilogs zuletzt Bastert (Anm. 14), zusammenfassend S. 265f. Die Entstehung des französischen Eneasromans hat die Forschung mit dem Haus Plantagenet in Verbindung gebracht (vgl. Schöning [Anm. 30], S. 17-22, 336; interpretierend Marilynn Desmond, Reading Dido. Gender, Textuality, and the Medieval Aeneid. [Medieval Cultures 8] Minneapolis - London 1994, S. 107-119). Dabei wurde ebenso auf dynastische Interessen am Troja-Mythos wie auf eine höfisch gebildete literarische Gesellschaft um Heinrich II. verwiesen. Nachweise im einzelnen waren freilich bis jetzt nicht zu erbringen, so daß Schöning (Anm. 30), S. 20, von einem „Topos der Literaturgeschichtsschreibung" spricht. ez düht den meister genüch (V. 352,20); daz is gnügen wizzenlich, | daz herz tihten künde (V. 352,24f.); daz getihte meisterlich (V. 353,29). Vgl. Dichter über Dichter in mittelhochdeutscher Literatur. Hg. von Günther Schweikle. (Deutsche Texte 12) Tübingen 1970, S. 17 (der künsteriche Heinrich), S. 74 (maister Hainreich), S. 75 (meister heinrich) und öfter; vgl. Kartschoke (Anm. 1), S. 843f. Bis auf die Heidelberger Papierhandschrift (h) vom Jahr 1419 überliefern sämtliche Handschriften den Epilog. Das älteste Zeugnis bietet die Berliner Handschrift (B), welche um 1220 entstand. Daß der als unecht geltende Teil des Epilogs zur 'thüringer' Schlußredaktion gehört, läßt sich aber nicht nachweisen.

Das Gedächtnis des Lesers

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Ich hart gesaget rehte des heren Enee geslehte und daz kunne lobesam, daz sint von ime quam. (V. 354,2-5)

Der Eneasroman will Geschichtsdichtung sein. Weltreichsthematik und translatio-Gedanke verbinden ihn mit dem Annolied, der Kaiserchronik und den Alexander-Erzählungen des 12. Jahrhunderts. Einziger Gewährsmann des Mittelalters für den trojanischen Ursprang103 des Römischen Reichs ist Vergil. Obwohl die lateinisch Gebildeten die Aeneis als poetisches Kunstwerk rezipierten, das auch eine philosophisch-allegorische Auslegung erlaubte, wurde eine litterale Wahrheit der Dichtung nie bezweifelt. 104 Die mittelalterlichen Eneasromane ziehen die Vorgaben Vergils auf jener historischen Verständnisebene zusammen. Dabei erzählen sowohl der Dichter des Roman d'Eneas als auch Veldeke gegen die Aeneis nach der chronologischen Folge der Ereignisse (ordo naturalis) und halten sich damit an eine Forderung historiographischer Darstellung.105 Zugleich „werden die Fülle der Ereignisse und Episoden und ihre beziehungsreiche Verbindung miteinander reduziert auf das bloße Geschehen. Das hochartifizielle Symbolgeflecht Vergils wird zurückgestutzt auf die reine Handlung". Andererseits treten Zusätze gegenüber Vergil „besonders in den (von Heinrich von Veldeke noch verstärkten) beschreibenden Partien zutage".106 Neben der Reduktion der Handlung läßt sich in den mittelalterlichen 103

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Zur Bedeutung Trojas in mittelalterlicher Geschichtsdeutung vgl. Alfred Ebenbauer, „Antike Stoffe". In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hg. von Volker Mertens und Ulrich Müller. Stuttgart 1984, S. 247-289, hier S. 257, sowie Wolfgang Harms, „Zu Ulrich Füetrers Auffassung vom Erzählen und von der Historie". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 93 (1974), Sonderheft: Spätmittelalterliche Epik, S. 185-197, hier S. 191-194. Zur 'Sagengeschichte' zusammenfassend Gerhard Binder, „Äneas". In: Enzyklopädie des Märchens 1 (1977), Sp. 509-528. Während Veldeke im Epilog die Aeneis als Quelle benennt (V. 354,16-26), beruft sich der Roman d'Eneas kein einziges Mal auf Vergil. Dies mag mit dem ambivalenten Vergil-Bild des 12. Jahrhunderts zu tun haben; vgl. dazu Otto Neudeck, „Möglichkeiten der Dichter-Stilisierung in mittelhochdeutscher Literatur: Neidhart, Wolfram, Vergil". In: Euphorien 88 (1994), S. 339-355, hier S. 349-353. Vgl. Joachim Knape, 'Historie' in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. (Saecvla spiritalia 10) BadenBaden 1984, S. 81, 360f. Zum Verhältnis von ordo artificialis und ordo naturalis in den Eneas-Romanen siehe jetzt Hans Fromm, „Die mittelalterlichen Eneasromane und die Poetik des ordo narrandt. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19) München 1996, S. 27-39. Kartschoke (Anm. 1), S. 866, 868. - In der Wiener Handschrift (w) sind neben anderen Kürzungen etwa die Grabmalsbeschreibungen gestrichen (vgl. aber Anm. 70). Henkel (Anm. 100), S. 57, bringt dies mit dem chronikalischen Überlieferungszusammenhang in Verbindung, in dem Veldekes Ernas dort steht. Während ein im engeren Sinn historisches Interesse rhetorischen Omat entbehrlich zu machen scheint, ließe sich umgekehrt Rhetorisierung kaum mit geschichtlichem Desinteresse begründen.

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Eneasromanen ein alternatives Konzept poetisch-rhetorischer Ausschmückung beobachten.107 Beide Befunde, so scheint mir, gehören zusammen. Der 'mittelalterliche' Eneas ist ein untypischer Held; seine heroische Biographie entzieht sich den bekannten Erzählmustern.108 Weder geht Eneas im heroischen Kampf unter, noch ist er der siegreiche Feldherr. Er wirbt weder um eine Braut, noch befreit er die Prinzessin von lästigen Werbern. Land und Frau werden ihm kampflos genommen (Troja) und fallen ihm kampflos zu (Karthago). Lavinia erringt er im Krieg, doch war sie dem Feind versprochen. Eneas ist ein Flüchtling und Landfriedensbrecher, er läßt Dido im Stich, er bringt Pallas den Tod und nimmt Turnus sein Land. All dies wird befohlen und eingefädelt von Göttern, an die niemand im Publikum glaubt.109 Freilich ließ sich die Instanz der Götter nicht eliminieren, ohne die Figur des Helden noch mehr zu belasten, und in diesem Zusammenhang kommt seiner transzendenten Legitimation in der Unterwelt zentrale Bedeutung zu. Die Anchises-Prophezeiung enthüllt zwar dem Leser den historischen Sinn des Götterbefehls. Damit aber sind weder die Flucht aus Troja und Didos Selbstmord vergessen, noch gewinnen die Götter dadurch an Glaubwürdigkeit. Das Wissen des Lesers um die geschichtliche Mission des Eneas bleibt überlagert von dessen problematischer Biographie. Im Italien-Teil des Romans wird jene Leser-Erinnerung erzählerisch umkodiert: Die negativ gezeichnete italische Königin erinnert an die Flucht, der handlungsschwache Latinus memoriert das Orakel der Götter, das Fatum erfüllt sich in der Alltagserfahrung menschlicher Liebe. Die langen Reden über die Minne bis hin zur Schilderung der Hochzeit (dar quämen in allen siten | die vorsten vile witen [V. 344,15f.]) verdrängen den

Usurpator Eneas aus dem Gedächtnis des Lesers.110 Der rhetorische Aufwand des 107

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In der Diskussion hat Rainer Warning mit Bezug auf die Liebesdarstellung auf die 'Romantisierung' des Vergilischen Epos hingewiesen. In weiteren Kontexten wären kultursemiotische Fragestellungen anzugehen, die Erich Kleinschmidt in diesem Zusammenhang angesprochen hat (vgl. Renate Lachmann, „Kultursemiotischer Prospekt". In: Memoria [Anm. 2], S. VII-XXVII). Darauf hat aus anderer Perspektive auch Kartschoke (Anm. 1), S. 875-877, aufmerksam gemacht. Mit der - hier allerdings zugespitzten - Problematik des Heldentyps mag es zusammenhängen, daß weder die Aeneis noch Veldekes Eneasroman, in auffalligem Gegensatz zum Alexander, mittelalterliche Neubearbeitungen erfahren haben. Ebenbauer (Anm. 103), S. 255, hält die „politische^ und ideologische^ Befrachtung" des Vergilischen Epos als Grund hierfür für möglich. Die erzählerische Arbeit am Gedächtnis des Lesers ließe sich weiter verfolgen. In Ulrichs von Türheim Rennewart wird die Problematisierung des Heidenkriegs im Willehalm aus dem Kopf des Lesers gleichsam herauserzählt (vgl. Peter Strohschneider, Alternatives Erzählen. Interpretationen zu 'Tristan'- und 'Willehalm'-Fortsetzungen als Untersuchungen zur Geschichte und Theorie des höfischen Romans. Habil. masch. München 1991, Kapitel I 6). Alexandra Stein, „Die Hybris der Endgültigkeit oder der Schluß der Ich-Erzählung und die zehn Teile von 'deß Abentheuerlichen Simplicissimi Lebens=Beschreibung,u. In: Deutsche

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Erzählens überformt die Problematik des Helden. Dabei läßt sich die DidoEpisode als 'Instruktion'111 des Lesers in jene Poetik verstehen. Hier sind die großen Themen des Eneasromans vorbereitet: die Minne, das Weltreich der Römer, der Widerspruch zwischen persönlichem Lebensentwurf und Fatalität, an dem außer Dido auch Turnus scheitert. Die Spiegelungen zwischen Didos und Eneas' gegensätzlicher Biographie, die Erinnerung an den Götterbefehl, der nicht offene Schluß der Handlung in Karthago, die Kausalität von Minne und Herrschaft und nicht zuletzt die Beschreibungen und deren Semantik - all dies instruiert in die Rezeption des Romans.

111

Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 175-197, hat gezeigt, wie die Irritation der Leser-Erinnerung bei Grimmelshausen zum Paradigma des Erzählens wird. Vgl. Harald Weinrich, „Für eine Literaturgeschichte des Lesers" [Erstfassung 1967]. In: Ders., Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. München 1986, S. 21-36, hier S. 31.

Otto Neudeck (München) Grenzüberschreitung als erzählerisches Prinzip Das Spiel mit der Fiktion in Salman und Morolf

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Kaum eine Gruppe mittelhochdeutscher Dichtungen gab - über Forschergenerationen hinweg - zu so vielen Spekulationen Anlaß wie die sogenannten 'Spielmannsepen'; 1 und auf Spekulationen gründet bis heute das literarhistorisch festgeschriebene 'Wissen' über diese kleine Gruppe von Erzählungen - so etwa hinsichtlich der (immer noch) geläufigen Gattungsbezeichnung, die auf ihre hypothetischen Urheber zurückverweist, wie auch in Hinblick auf die vermeintliche Entstehung, genauer die Kodifizierung der Epen im 12. Jahrhundert. Die lange Zeit gültige communis opinio zu den Spielmannsepen, die im folgenden - vom konkret-inhaltlichen Befund ausgehend - als Brautwerbungsepen bezeichnet werden sollen,2 läßt sich wie folgt zusammenfassen: Es handle sich um Dichtungen, die - zurückgehend auf eine orale Tradition - im Vorfeld der höfischen Klassiker verschriftlicht worden seien. Anonyme 'Spielleute' seien es gewesen, die vor dem Hintergrund der Kreuzzugskämpfe im Mittelmeerraum von der gefahrlich-abenteuerlichen Brautwerbung christlicher Könige erzählen, um ein feudaladliges Publikum in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu unterhalten.

Dies spiegelt der Forschungsbericht von Michael Curschmann, „Spielmannsepik". Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907-1965. Mit Ergänzungen und Nachträgen bis 1967. [Überlieferung und mündliche Komposition], Stuttgart 1968, symptomatisch wider: In seinem Wert als zusammenfassende Sichtung der älteren Literatur bis 1967 unbestritten, ist er doch methodisch der Tradition des Gesichteten verpflichtet, so daß deren Prämissen nicht radikal genug hinterfragt werden. Als signifikant und gattungskonstituierend wird damit das Schema von der gefährlichen Brautwerbung betrachtet, das in den einzelnen Dichtungen variiert wird. Vgl. auch Walter Haug, „Brautwerbung im Zerrspiegel". In: Sammlung - Deutung - Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. (FS Wolfgang Spiewok) Hg. von Danielle Buschinger. Stuttgart o.J. [1989], S. 179-188, hier S. 179, der ebenfalls das inhaltliche Charakteristikum mit seiner Bezeichnung 'Brautwerbungsepik' akzentuiert. Damit wären in diese Gattung die Epen König Rother, Oswald, Orendel sowie Salman und Morolf einzuordnen, nicht aber Herzog Ernst, der in zahlreichen Literaturgeschichten der 'Spielmannsepik' zugerechnet wird, da eine Brautwerbung des Helden fehlt. Auch Epen wie Kudrun oder Nibelungenlied, in denen das Erzählschema zwar verwendet wird, aber nicht im Mittelpunkt steht, würden nicht zu dieser Gruppe zählen.

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Wegen des sozial inferioren Status sowie der mangelnden Bildung der Dichter/Sänger erfolge dies - verglichen mit der höfischen Dichtung - in relativ ungeschliffener Sprache. Auch wenn ein solches Bild bis zu einem gewissen Grad überzeichnet sein mag, gilt es - trotz einiger Differenzierungen - in den Grundzügen bis heute, wie ein Blick auf die Literaturgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte zeigt. Die wissenschaftsgeschichtlichen Ursachen hierfür lassen sich bis in die Anfänge der Germanistik und damit bis ins beginnende 19. Jahrhundert zurückverfolgen; sie seien hier nur kurz angedeutet: Die volkssprachliche Literatur des Mittelalters wurde - lange Zeit unreflektiert - von einer Perspektive aus betrachtet und bewertet, die die Germanisten des 19. Jahrhunderts aus eigener Anschauung kannten, nämlich die einer literalen Kultur. Für die Hauptaufgabe des noch jungen Faches, die Konstituierung eines Textkorpus, ist diese Perspektive von Anfang an vorherrschend. Indem man einen Text-Archetypus aus den erreichbaren Handschriften herzustellen versuchte, wollte man der vermeintlichen Originalfassung eines mittelalterlichen Dichters möglichst nahe kommen. Dabei wurden die Dichtungen einer ursprünglich mündlichen Tradition undifferenziert über einen Kamm geschoren, liegen ihnen doch die spezifischen Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen einer illiteraten bzw. oral-literalen Mischkultur zugrunde. In einem mündlichen Kontext fungiert der Dichter/Vortragende in erster Linie als Medium, durch den die Tradition spricht: Er bleibt daher folgerichtig anonym. Einen Autor mit Namen und damit das Hervortreten eines Individuums kann es demgegenüber erst in einer Schriftkultur mit der Materialität des Textes geben. Die Fehleinschätzungen der Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen führten zu einem historisch inadäquaten Bild der literarischen Gesamtszenerie. Wenn das Erkenntnisinteresse darauf gerichtet ist, den 'empirischen Autor' 3 der überlieferten Dichtung zu identifizieren und zu qualifizieren, liegen diesem Bestreben letztlich die ästhetischen Maßstäbe der Goethezeit zugrunde: Individuelles Schöpfertum, Originalität und künstlerische Autonomie dienen als überzeitlicher Gradmesser für literarische Qualität. 4 Von der daraus resultierenden Abwertung der vor- und

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Die Bezeichnung geht zurück auf Umberto Eco, „Überzogene Textinterpretation". In: Ders., Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. München - Wien 1994, S. 52-74, hier S. 72f., sowie ders., „Zwischen Autor und Text" (ebd., S. 75-98), demzufolge das Wissen um den konkreten Verfasser eines Textes für die Interpretation (im Grunde) belanglos ist. Entscheidend sei vielmehr die Textstrategie, die durch einen exemplarischen Leser zu deuten ist. Auch von dieser Seite wird relativiert, was über Generationen von Germanisten hinweg im Mittelpunkt der Forschung gestanden hat: die biographistische Rekonstruktion von Wahrheit aus Dichtung.

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Indem man dann an die Dichtungen einer mündlich-schriftlichen Mischkultur diese ästhetischen Maßstäbe der eigenen Zeit angelegt hat, wurde die literarische Landschaft einer vergangenen Epoche schließlich in eine Art topographisches Profil überführt: mit Höhenkamm-

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nachklassischen Dichtungen waren auch die Epen der unbekannten 'Spielmänner'5 betroffen: Oft wurden sie als ästhetisch minderwertige Texte unterhaltenden Charakters verharmlost. Ganz in diesem Sinne skizzierte noch Theodor Frings das Epos von Salman und Morolf als klassisches „Beispiel der niederen Spielmannsdichtung nach alter Auffassung, gedichtet in einer besonderen Strophenform, gestaltet aus einem Stoff byzantinischer Prägung. Auf dem Hintergrund des Welterzählstoffes von der 'Ungetreuen Frau' erscheinen Intrigenspiel, ritterliches Getue und spielmännische Pfiffigkeit, Vornehmheit und Niedrigkeit in köstlicher Mischung, in einer absichtslosen Fabelei. Hier hat sich der Spielmann selbst gezeichnet."6 Eine solche Charakterisierung offenbart geradezu schlaglichtartig die zentralen Felder der Hypothesenbildung zu den Brautwerbungsepen: Ausgehend vom Inhalt des Epos wird versucht, dessen Genese über seinen Schöpfer historisch dingfest zu machen - um es dann in ein kohärentes literarhistorisches Vorstellungsmodell von der 'Entstehung der deutschen Spielmannsepen' einzuordnen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch das - bis in die Gegenwart reichende - Interesse an stoff- und motivgeschichtlichen Zusammenhängen; damit sollen Provenienz und Abhängigkeitsverhältnisse geklärt werden.7 Daß es sich bestenfalls um mehr oder weniger plausible Vermutungen handeln kann, da eine eindeutige Zuordnung grundsätzlich unmöglich ist, wurde selten, wenn überhaupt reflektiert. Den eigentlich problematischen Dreh- und Angelpunkt eines solchen Vorstellungsmodells bildet die Annahme, daß Salman und Morolf wie alle anderen Brautwerbungsepen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verschrifitlicht

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zonen und niedriger gelegenen Bereichen sowie mit ausgedehnten Tiefebenen, um im Bild zu bleiben. Die bis heute gängige Gattungsbezeichnung spiegelt geradezu paradigmatisch den Versuch wider, durch die Konkretisierung eines Autorprofils weiteren Erkenntnisgewinn über Texte zu erlangen, ja kann gleichsam als programmatischer Ausdruck eines solchen Bestrebens gedeutet werden. Theodor Frings, „Die Entstehung der deutschen Spielmannsepen". In: Spielmannsepik. Hg. von Walter Johannes Schröder. (Wege der Forschung 385) Darmstadt 1977, S. 191-212, hier S. 198 (zuerst 1939/40). Die intensive Suche nach Stoff- und motivgeschichtlichen Parallelen für Salman und Morolf wurde bereits von dem ersten Herausgeber des Epos, Friedrich Vogt, in einem mehr als 150 Seiten langen Vorwort zur Edition betrieben (Die deutschen Dichtungen von Salomon und Markolf. Bd. 1: Salman und Morolf. Halle/S. 1880). Aber auch in späteren Untersuchungen wurden - in der Nachfolge Vogts - immer wieder Vermutungen über mögliche 'Quellen des Spielmannsepos' aufgestellt: Edyta Polczynska, Studien zum „Salman und Morolf. Poznan 1968, vgl. S. 10, 17, 69, wobei vor allem über Einflüsse der jüdischen bzw. byzantinischen Salomo-Sage spekuliert wurde; vgl. Hendrik Willem Kroes, „Zum mhd. Salman und Morolf'. In: Neophilologus 30 (1946), S. 58-63 (zur Provenienz des Ringmotivs), sowie Maria Dobozy, „The Function of Knowledge and Magic in Salman and M o r o l f . In: The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature. Hg. von Edward R. Haymes und Stephanie Cain van d'Elden. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 448) Göppingen 1986, S. 27-41.

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wurde: Doch der Überlieferungsbefund spricht bis auf eine Ausnahme dagegen. Allein vom König Rother liegen eine vollständige Handschrift sowie mehrere Fragmente aus dem 12. oder 13. Jahrhundert vor; alle anderen Brautwerbungsepen sind nur im 15. bzw. 16. Jahrhundert tradiert, wobei der Großteil der Manuskripte aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammt.8 Nun wurde aber die Ausnahme Rother zur modellbildenden Regel erhoben, und man suchte die vermeintlich verlorengegangenen hochmittelalterlichen Urfassungen der Epen aus den erhaltenen spätmittelalterlichen Texten wiederzugewinnen: So rekonstruierte Friedrich Vogt nach Maßgabe der textkritischen Editionsphilologie einen Archetypus bzw. fiktiven Originaltext des Salman und Morolf im Stil der Stauferzeit;9 er schuf damit im nachhinein die - überlieferungsgeschichtlich fehlende Grundlage für die Hypothese von der generellen Kodifizierung der 'Spielmannsepen' im 12. Jahrhundert. Mag man aus heutiger Perspektive Vogts Rekonstruktion als Endstufe einer überzogenen Hypothesenbildung betrachten oder sie gar überspitzt als Beleg für die fiktionschaffende Kraft einer Fiktion bezeichnen, so bleibt über den Einzelfall hinaus zu konstatieren: Neben den unergiebigen Spekulationen zu den Brautwerbungsepen wurde letztlich der für die Interpretation entscheidende Text, wie er in den spätmittelalterlichen Handschriften tradiert ist, fast durchweg vernachlässigt. Dies wiegt um so schwerer, als - um mit Umberto Eco zu sprechen die im Text verfolgte Textstrategie unabhängig von einem empirischen Autor, aber auch einem empirischen Leser/Hörer zunächst der einzige Gegenstand einer Zu den Handschriftenverhältnissen für Oswald, Orendel sowie Salman und Morolf vgl. die entsprechenden Artikel von Michael Curschmann in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage 6 (1987), 7 (1989) und 8 (1992). Curschmann hält wohl - im Verweis auf thematische, stilistische, vor allem aber 'allgemeine literaturgeschichtliche Gesichtspunkte' (Curschmann [Anm. 1], S. 47) - an einer Verschriftlichung der erhaltenen Epen im Hochmittelalter fest, auch wenn dies nicht mit letzter Deutlichkeit ausgesprochen wird; er vertritt damit weiterhin die mehrheitlich vertretene Forschungsmeinung gegen Stimmen, die - vorsichtiger argumentierend - die „Wurzeln der Handschriftenstammbäume" der spätmittelalterlich überlieferten Brautwerbungsepen nicht über das späte 14. Jahrhundert hinaufdatieren möchten (Helmut De Boor, Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung. 770-1170. [Ders. und Richard Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1] München 1964, S. 262 f.; zustimmend hierzu Walter Johannes Schröder in seinem Vorwort zu: Spielmannsepik [Anm. 6], S. VII-XII). - Letztlich ist jedoch bei allen Äußerungen zur Entstehung und Verschriftlichung der Epen in ihrer überlieferten Gestalt ein diffuses Ausweichen oder gar Unbehagen spürbar - vielleicht adäquater Ausdruck dafür, daß sie einer oral-literalen Mischkultur entstammen und daher präzise Aussagen über eine (Ur-)Fassung gar nicht möglich sind. Vogt (Anm. 7). - Im folgenden wird nicht Vogts Textfassung benutzt, sondern die Edition von Alfred Kamein, der der Überlieferungsbefund des 15./16. Jahrhunderts zugrundeliegt: Salman und Morolf. Hg. von Alfred Kamein. (Altdeutsche Textbibliothek 85) Tübingen 1979. Zitate in mittelhochdeutscher Sprache, die nicht besonders gekennzeichnet sind, beziehen sich auf diese Ausgabe.

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deutenden Auseinandersetzung sein kann. Das Streben nach Gewißheit darüber, was wir nicht wissen können, weil es - zumindest für die Brautwerbungsepen des 12. Jahrhunderts - keine Antworten gibt, erweist sich sogar als eher zweitrangiges Problem bei der geradezu manisch betriebenen Suche nach dem unbekannten Spielmann. Gravierender ist, daß darüber das Vorhandene, der tradierte Text, der allein Grundlage für eine methodisch nachvollziehbare Interpretation sein kann, vernachlässigt, wenn nicht gänzlich ignoriert wurde. Ein zweites, ebenso gewichtiges Manko kennzeichnet die Forschungssituation zu Salman und Morolf wie zu den Brautwerbungsepen überhaupt: Es betrifft die historisch adäquate Miteinbeziehung der oral-literalen Mischkultur des Mittelalters bei der Beurteilung der überlieferten Texte. Zwar konnten die Forschungen von Milman Parry und Albert Lord zur oral poetry auch von der germanistischen Mediävistik auf Dauer nicht ignoriert werden; 10 und die Bedeutung der theory of oral formulaic composition fur die mittelhochdeutsche Dichtung wird regelmäßig herausgestellt, etwa wenn die Formelhaftigkeit der Sprache oder stilistische Charakteristika einer mündlichen Tradition insbesondere in den Helden- und Brautwerbungsepen untersucht werden. 11 Doch trotz des Wissens um die weitreichenden Konsequenzen der Mündlichkeit für die Konstituierung, Aufführung sowie die Tradierung von Dichtung kommen solche Ansätze nur allzu selten über das Stadium positivistischer Belegsammlungen hinaus. Noch größere Defizite zeigen sich bei der Frage nach der Bedeutung von Mündlichkeit in dem sukzessiven jahrhundertelangen Übergang in eine literale Kultur, der im Bereich des deutschen Mittelalters bis weit in die frühe Neuzeit hineinreicht. Vor diesem Hintergrund stellt sich etwa ganz konkret die Frage nach der Funktion von Mündlichkeit in den Brautwerbungsepen als Dichtungen einer ursprünglich oralen Tradition, die im Spätmittelalter - zum ersten Mal oder erneut - verschriftlicht werden. Im Blick darauf, vor allem aber ausgehend von einer Überlieferung, die nur Texte des 15. und 16. Jahrhunderts umfaßt, soll am Beispiel Salman und Morolf gezeigt werden, weshalb Brautwerbungsepen (noch) an der Wende zur Neuzeit aufgezeichnet und gedruckt werden - Epen, die durchaus früher entstanden sein mögen, allerdings in einer Form und unter Bedingungen, von denen wir nichts 10

Zur Begründung für die zögerliche, ja „negativefn] Aufnahme" der oral poetry in der Germanistik verweisen Norbert Voorwinden und Max de Haan auf die „Abneigung, Konstruktionen und Rekonstruktionen, die seit Jahren als Tatsachen akzeptiert sind, aufzugeben, d.h. sich mit einer anonymen Sängerschar zu begnügen statt der großen Dichterindividuen, 'die wir so gut kennen, deren Namen aber leider (noch) nicht bekannt sind'" (Norbert Voorwinden und Max de Haan, „Einführung". In: Oral Poetry. Das Problem der Mündlichkeit mittelalterlicher epischer Dichtung. Hg. von dens. [Wege der Forschung 555] Darmstadt 1979, S. 1-10, hierS. 3).

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In dieser Tradition steht auch Armin Wishard, Oral Formulaic Composition in the Spielmannsepik. An Analysis of Salman and Morolf. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 181) Göppingen 1984.

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wissen. Daß die spätmittelalterliche Attraktivität von Salman und Morolf- jenseits aller Spekulationen über eine Entstehung im 12. Jahrhundert - insbesondere darin liegen könnte, wie in dieser Dichtung erzählt wird, bildet die Leitthese bei der Interpretation des Epos, die in zwei Schritten erfolgen soll. Zunächst sind Thema, Gehalt und Struktur unter Berücksichtigung von Figurenzeichnung und Funktion des Religiösen zu betrachten. Angedeutet sei bereits hier, daß die parodierende Variation des Brautwerbungsschemas das Epos Salman und Morolf - metaphorisch gesprochen - zu einer Art Kontrafaktur im Rahmen der Gattungstradition macht. Dem entspricht die heterogene, ja geradezu ambivalente Konzeption der Protagonisten sowie die Instrumentalisierung beziehungsweise Relativierung des Christlichen: beides ist im Sinne einer Entideologisierung, wenn nicht gar Dekonstruktion des Tradierten zu lesen und verweist auf eine bestimmte Erzählhaltung. Im Blick auf diese Erzählhaltung und vor dem Hintergrund poetologischer Überlegungen wäre dann plausibel zu machen, daß im Epos durch permanente Akte der Grenzüberschreitung fiktionales Erzählen konstituiert wird. Dem Wissen um die ursprünglich mündliche Aufführung, ja 'Inszenierung' der Dichtung scheint dabei für die Poetik des verschrifteten Textes zentrale Bedeutung zuzukommen. Die besondere Eigenart von Salman und Morolf liegt aber vor allem darin, daß Fiktionen und fiktionales Erzählen in Gestalt des souveränen Verwandlungskünstlers Morolf selbst zum Gegenstand des Erzählens werden. Inwieweit eine solcherart komprimierte Reflexion des Fiktionalen zur großen Attraktivität dieser Brautwerbungserzählung im späten Mittelalter beiträgt, darüber kann nur spekuliert werden. Daß sie letztlich in dem 'revolutionären' Potential fiktionalen Erzählens12 und damit in dessen emanzipatorischer Komponente liegen könnte, sei hier als Vermutung vorweggenommen.

II Indem Theodor Frings die „köstliche Mischung" von Disparatem im Brautwerbungsepos Salman und Morolf hervorhebt,13 richtet er den Blick zugleich auf ein Charakteristikum der Gattung überhaupt, nämlich die Verklammerung, Überschneidung, ja die kreative Kombination heterogener Stoff-, Motiv- und Erzähltraditionen: Heroisch-feudaladlige Verhaltens- und Identifikationsmuster wie etwa Gefolgschaftstreue und Minne werden in diesen Erzählungen vor dem Hintergrund einer Mittelmeerwelt und dem Heiden-Christen-Gegensatz des Kreuzzugszeitalters thematisiert. Dabei sind Wissensbestände einer christlich-

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Eine solche Charakterisierung geht zurück auf Jurij M. Lotmans Bestimmung des Sujets eines künstlerischen Textes als „ein 'revolutionäres Element' im Verhältnis zum 'Weltbild'" {Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München 21981, S. 339). Frings (Anm. 6), S. 198.

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biblischen Tradition mit den Erfahrungen des abendländischen Laienadels im Palästina des 12./13. Jahrhunderts amalgamiert. Das strukturelle Gerüst für ein solches Amalgam liefert das Schema von der 'gefährlichen Brautwerbung', das in den einzelnen Epen jeweils mehr oder weniger modifiziert und variiert erscheint, etwa wenn es durch eine Legendenstruktur überlagert wird. Nun wurde bereits früher wiederholt auf das gängige Motivrepertoire und damit auf die immer wiederkehrenden Elemente dieses übernationalen Erzählschemas hingewiesen. Es umfaßt im deutschen Typ der Brautwerbungserzählung: „Beratung über eine ebenbürtige Frau für den Fürsten - Rat zur einzigartigen Königstochter über Meer - Ausrüstung und Ausfahrt des Fürsten oder seiner Boten mit Helfern - Ankunftslist - gefährliche Erkennung zwischen Werber und Braut - Entführungslist - Verfolgung - Ehe; die Handlung wird öfter verdoppelt: Verlust der Frau + Schema zum zweitenmal." 14 Zugrunde liegt der Handlungssequenz des Schemas „die Polarität von ranghöchstem Mann und ranghöchster Frau [ . . . ] - und dies auf dem Hintergrund der geographischen Entfernung zweier Reiche. Der Fürst ermangelt einer ihm ebenbürtigen Frau, die ihn als solche erst zur vollständig ausgestatteten Herrscherfigur macht." 15 Über die persönliche Verbindung zweier einzigartiger Figuren hinaus hat die Ehe der beiden Protagonisten insoweit eminent politische Bedeutung, als es um den Fortbestand von Herrschaft geht. Damit aber gerät im Rahmen des Brautwerbungsschemas - jeweils mehr oder weniger explizit - ein Thema in den Blick, das für ein feudaladlig geprägtes, mittelalterliches Publikum von größtem Interesse gewesen sein muß: die Herrschaftssicherung eines Königs oder Kaisers durch einen legitimen Nachfolger beziehungsweise Thronerben, 16 wobei die Voraussetzung dafür die Gewinnung einer standesmäßig gleichwertigen Partnerin ist. 17 Da sich nun eine solche einzigartige Partnerin nicht in der Nähe des Fürsten befindet, muß sie „in der Ferne - über Meer - aufgefunden und unter großen Gefahren und Mühen errungen werden. Die Entfernung vom Hofe, die gefährliche Brautwerbung aktualisiert somit die komplementäre Einzigartigkeit des fürstlichen Brautpaares." 18 Einer solchen Logik entsprechend ist „die Heimat der einzigartigen Königstoch-

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15

Hugo Kuhn, „Tristan, Nibelungenlied, Artusstruktur". In: Ders., Liebe und Gesellschaft. Hg. von Wolfgang Walliczek. Stuttgart 1980, S. 12-35, hier S. 22. Nikolaus Miller, „Brautwerbung und Heiligkeit. Die Kohärenz des Münchner Oswald". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 226-240, hier S. 231.

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Kuhn (Anm. 14), S. 23, spricht in diesem Zusammenhang vom „deutschen literarischen Typ der Brautwerbungs-Staatsaktion zur Erzielung einer legitimen Herrschaftsnachfolge".

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Genau dies ist laut Curschmann das Thema des Rother wie auch verdeckter das des Oswald (Michael Curschmann, Der Münchener Oswald und die deutsche Spielmännische Epik. Mit einem Exkurs zur Kulturgeschichte und Dichtungstradition. [Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 6] München 1964, S. 46). Vgl. Miller (Anm. 15), S. 228.

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ter eine unheilvoll-zauberhafte" und - mit Ausnahme des Rother, so ließe sich ergänzen - eine heidnische Region, ihre Entführung somit ein an Bewährungsproben reicher Weg aus dem Unheil zum Heil. Ausrüstung, Listen, Aufschübe und verdoppelte Fahrten heben die Gefährlichkeit des Unternehmens und damit den Wert des entführten Gutes ebenso hervor wie das Verdienst, das dem erfolgreichen Werber gebührt. Eine Variation ist dabei zu bedenken: Vollbringt anstelle des werbenden Fürsten ein Werbungsvermittler die Entführung der Braut, so bleiben Rang und Wert des Fürsten unterstellt, können jedoch - wie im Fall Marke/Tristan oder Gunther/Siegfried - hinter dem aktualisierten Wert des Werbungsvermittlers verblassen, so daß in einer Art Kurzschluß des Schemas die Braut nicht dem Fürsten, sondern dem Werbungsvermittler ebenbürtig und vorbestimmt scheint. 19

Hugo Kuhn hat als erster im Verweis auf den Tristan und das Nibelungenlied zu zeigen versucht, daß die Ursache für einen solchen folgenreichen Kurzschluß in einer Kontamination von Brautwerbungsschema, Minneehe-Thema und Heilbringermärchen liegt; sie bewirke in diesen beiden Dichtungen, in denen das Schema anzitiert wird, letztlich Tragik sowie den Tod der Braut und des einzigartigen Brautwerbers.20 Von einer Kontamination anderer Art hingegen scheinen die eigentlichen Brautwerbungsepen betroffen. So konnte plausibel gemacht werden, daß die verschrifteten Fassungen insoweit christlich überformt sind, als die geglückte Werbung nicht (mehr) das Ziel der Handlung ist, sondern der Held sich dem Dienst Gottes widmet. Der Brauterwerb oder -raub sei demnach als ein ursprünglich gewalthafter Akt, durch den ein Adliger sich Welt zur Herrschaftssicherung aneignet und unterwirft, problematisch erschienen; durch die Kombination mit dem Motiv der Weltabsage sei er dann gleichsam geheiligt worden. Im Verzicht auf sinnliche Erfüllung, mehr noch aber im Verzicht darauf, die Herrschaft standesgemäß zu sichern, würde somit die konsequente Weltabkehr der Mächtigen im Sinne eines christlichen Ethos dargestellt.21 Wenn dann in letzter Konsequenz 19 20

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Ebd. Vgl. Kuhn (Artm. 14), S. 15-22, vor allem S. 21: „Das Brautwerbungsschema mit dem außergewöhnlichen Werbungshelfer scheint im 12. und 13. Jahrhundert nur in Deutschland literarisch produktiv zu sein: vom Rother bis zu Kudrun und Ortnit [...], nur im Tristanroman und im Nibelungenlied wird dieses Schema gestört, gebrochen durch den Kurzschluß zwischen Werbungshelfer und Königsbraut." - Zu fassen wären in solchen Strukturexperimenten laut Kuhn die „Reflexion der obersten Laienschicht im 12. Jahrhundert, die mit Hilfe der Signifikanz von Mythen- und Märchentypen ihr soziales und personales Selbstbewußtsein kritisch diskutiert" (S. 22). Walter Haug, „Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten". In: Germanisch-romanische Monatsschrift 23 (1973), S. 129-152, entwirft eine Geschichte der Brautwerbungsepen, indem er die Entwicklung ihrer Strukturgesetzlichkeit als Folge der Auseinandersetzung mit einem christlichen Ethos (re-)konstruiert. Dabei wird die addierende Wiederholung des gesamten Handlungskreises zunächst als einzige Möglichkeit bezeichnet, das Ganze innerhalb der gegebenen Struktur zu erweitern; im Os-

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wie in Oswald oder Orendel gezeigt wird, daß sich der „göttliche Zweck der Brautwerbung als Revision derselben" enthüllt, offenbart sich - pointiert formuliert - die raffinierte ideologische Instrumentalisierung eines weltlichen Erzählschemas durch die klerikalen Vertreter der mittelalterlichen Schriftkultur. 22 Vor dem Hintergrund einer solchen notwendigerweise verkürzten Skizze zur literarischen Umsetzung des Brautwerbungsschemas im Bereich der mittelhochdeutschen Literatur ist nun das Epos Salman und Morolf genauer zu betrachten. Bereits die Ausgangskonstellation erscheint - im Vergleich zur Gattungstradition - gleichsam auf den Kopf gestellt: Der heidnische Großkönig Fore von Wendelse will Salman, dem christlichen Herrscher von Jerusalem, dessen schöne Ehefrau Salme abspenstig machen - wenn nötig mit Gewalt. Zwar scheitert Fore zunächst mit seinem Heidenheer in offener Feldschlacht vor Jerusalem; doch dem gefangenen König gelingt es, mit einem Zauberring die Königin umzustimmen: Zuerst ermöglicht sie ihm die Flucht, um dann - wiederum mit Hilfe eines Zaubermittels - selbst aus Jerusalem zu entkommen und die Frau des Fremden zu werden. Der kluge Morolf - Bruder, erster Gefolgsmann, Ratgeber und Heermeister Salmans - hat längst alles vorhergesehen: die Illoyalität der Königin wie ihre Flucht nach Wendelse. Verkleidet vermag er dann unerkannt dorthin zu kommen und Salme ausfindig zu machen. Zwar erkennt ihn die argwöhnische Königin bald beim Schachspiel, und das Leben des tollkühnen Ritters scheint verwirkt. Doch dem trickreich-listigen Gefangenen gelingt nach mehreren Versuchen die Flucht - unter Verhöhnung des mächtigen Heidenherrschers und seiner in der Fremde gewonnenen Frau. Zurückgekehrt nach Jerusalem, besteht der erfolgreiche Kundschafter darauf, daß der König selbst und allein die verlorene Frau aufsuchen muß, auch wenn ein Heer mit Morolf an der Spitze im Hinterhalt warten wird, um ihm in der Not zu wald sei es schließlich gelungen, eine neue Stufe der gattungscharakteristischen Struktur zu erreichen: „eine letzte Addition verstand sich unter der Chiffre des Verzichts als die Negation des Additionsprinzips" (S. 149f.). Vgl. auch Curschmann (Anm. 17), S. 135f. - Dem Verzicht - so wäre hier zu ergänzen - käme auch in anderen Epen dieses Typs eine entsprechende Bedeutung zu, etwa im Orendel und - mit Einschränkungen - im Rother. Vgl. hierzu auch Anm. 22. 22

Für den Oswald zeigt Miller (Anm. 15), daß das Brautwerbungsschema zum Mittel einer Heiligengeschichte wird, „die ihren religiösen und letztlich kultischen Zweck als göttliches Wirken zugleich verdeckt und exekutiert : Oswalds Weg aus der Welt (Heiligkeit) wird als Weg durch die Welt (Brautwerbung) erzählt" (S. 240). - Auch im Rother wird - allerdings nicht in letzter Konsequenz - Verzicht thematisiert, wenn das Königspaar am Ende mit einem Eremitendasein die Keuschheit wählt. Der Erbe Pippin, der Vater Karls des Großen, ist bereits gezeugt und damit die Herrschaftskontinuität gesichert. In einer solchen gleichermaßen genealogischen wie heilsgeschichtlichen Anbindung des Epos an die Lebenswirklichkeit eines adligen Publikums könnte der Grund dafür liegen, daß dieses Epos bereits im 12. Jahrhundert kodifiziert wird - in einer Zeit, in die die Heiligsprechung des ersten abendländischen Kaisers fällt.

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Hilfe zu kommen. Nur allzu schnell wird der als Pilger Verkleidete von Salme erkannt und ihrem zweiten Gatten ausgeliefert; Fore verurteilt ihn schließlich zum Tod am Galgen, nachdem der Vorgänger auf sein Recht pocht und den entehrenden Status quo nicht akzeptieren will. Erst kurz vor der Vollstreckung des Urteils kann Salman das rettende Christenheer durch einen Hornstoß herbeirufen; die Heiden werden geschlagen, und Morolf tötet Fore. Gegen den Rat des Bruders verzeiht der Kaiser seiner untreuen Frau, die ihn mit ihrer Schönheit fesselt und ihm zugleich Hoffnung auf einen Nachfolger macht; mit ihr sowie der heidnischen Schwester Fores kehren die Christen nach Jerusalem zurück. Nach einiger Zeit wiederholt sich das Ganze - allerdings um ein Beträchtliches gekürzt 23 und in modifizierter Form: Wiederum begehrt mit Princian von Akers ein Heidenkönig die schöne Salme, die inzwischen Salman einen Sohn geboren hat. Erneut durch Zauber betört, flieht die Königin; ein weiteres Mal geht Morolf verkleidet auf Kundschaft aus und entdeckt die Schwägerin in der Fremde. Doch anders als in Wendelse vermag er sich geschickt einer Gefangennahme zu entziehen, indem er permanent die Identität wechselt. Er kehrt nach Jerusalem zurück, sammelt ein Heer und entreißt die untreue Königin auch ihrem zweiten 'Entführer' mit Gewalt: Princian wird wie Fore getötet, das Christenheer kehrt mit seiner Königin zurück. Salman, der diesmal nicht an der Wiedergewinnung Salmes beteiligt ist, kann in Jerusalem die fast rituell anmutende Tötung der Königin durch Morolf nicht verhindern. Dem klagenden König führt der Bruder als Ersatz die Schwester Fores zu, die auf den Namen Affer getauft worden ist. Die kurze Zusammenfassung der erzählten Handlung zeigt, daß es im Epos immer wieder zu einer Umkehrung des Brautwerbungsschemas kommt, indem Strukturelemente beziehungsweise Positionen umbesetzt werden. Daß dies bis zu einer Relativierung, wenn nicht gar Infragestellung einiger seiner zentralen Prämissen führt und sogar darüber hinaus, sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen. Mögliche Rückschlüsse auf die Erzählhaltung wären dabei mit Blick auf den Gattungshorizont zu diskutieren. Von einer Umpolung, durch die eine Art Negativ des gängigen Strukturschemas entsteht, ließe sich zunächst mit Blick auf die Grundkonstellation in Salman und Morolf sprechen. Denn hier wirbt nicht ein junger christlicher König, der eine angemessene Ehefrau sucht, um eine jungfräuliche heidnische Prinzessin in der Ferne; vielmehr begehren zwei heidnische Könige die schönste aller Frauen und wollen sie um jeden Preis in ihren Besitz bringen - was die Wiederholung des Erzählten in zwei annähernd ähnlich strukturierten Einheiten bedingt. Diese Frau ist Christin und verheiratet mit dem Herrn von Jerusalem. Die 'Brautgewinnungs'-Fahrt der beiden Heidenkönige wird dann im punktuellen Rückgriff 23

Nimmt der erste Zyklus mit fast 600 Strophen circa 75 Prozent des Gesamtumfangs ein, so umfaßt der zweite 'nur' 200 Strophen, ein Viertel des Textes.

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auf das gängige Motivrepertoire sowie in Orientierung an der Handlungssequenz des Schemas erzählt.24 Im Gegenzug nehmen die Vertreter der christlichen Seite - als Folge des Perspektivenwechsels - die Position des düpierten heidnischen Vaters der Braut ein: Salman und seine Partei müssen die 'entführte' Frau zurückentführen. In Zusammenhang damit ließe sich schließlich auch die prominente Rolle Morolfs als Ausdruck einer Umkehrung interpretieren: Aus dem (außergewöhnlichen) Brautwerbungshelfer des Schemas wäre der (außergewöhnliche) 'Rückentführungshelfer' seines Herrn und Bruders geworden. Doch von einer konsequenten Umkehrung des Schemas, die das Epos im modernen Sinne zu einer Parodie innerhalb der Gattung machen würde, kann nicht die Rede sein. Abgesehen davon, daß es für die Entstehungszeit der Handschriften kaum vorstellbar wäre, daß Heiden dem christlichen Kaiser erfolgreich die Frau abspenstig machen, spricht der Textbefund dagegen. Die christliche Seite, die im Epos zunächst die Systemstelle der reagierenden Partei vertritt, übernimmt im weiteren Verlauf der Handlung - ganz entgegen der anfanglichen Schemalogik - auch selbst die Rolle der agierenden Partei, das heißt die des Brautwerbers: So lernt Salman in Wendelse mit der Schwester Fores seine spätere Braut kennen, während Morolf als weitsichtiger Werbungshelfer bereits hier die künftige Verbindung der beiden vorbereitet, indem er die Heidenprinzessin nach Jerusalem mitnimmt. Darüber hinaus wird der Rollenwechsel Salmans deutlich, wenn das Motiv des im Walde versteckten Heeres, das - schemagemäß - dem bedrohten Brautwerber zu Hilfe kommt, zu seiner Rettung erzählerisch eingesetzt wird. Somit wäre zu konstatieren, daß in Salman und Morolf eine eindeutige Zuordnung von Positionen, wie sie üblicherweise im bipolaren Schema der Brautwerbung erfolgt, aufgehoben wird: Sowohl die christliche wie die heidnische Seite entführen Frauen respektive Bräute, und umgekehrt werden jeweils beiden Seiten Frauen abgeworben oder geraubt. Ursache hierfür könnte die Überlagerung der Brautwerbungserzählung durch ein anderes Motiv, nämlich das der schönen, untreuen Frau sein - worauf die Forschung seit dem ersten Herausgeber des Epos immer wieder hingewiesen hat:25 Salme, der schönsten und sinnlichsten aller Frauen, sind demnach alle Männer verfallen, vom einfachsten Ritter bis hin zu König Salman (Str. 16-19). Selbst der notorisch weise Sohn des König David vermag sich der Anziehungskraft dieser Vertreterin des schwachen Geschlechts 24

So bittet Fore etwa die Seinen um Rat nach einer adäquaten Partnerin, der obligatorische alte Ritter weist auf die einzig mögliche Kandidatin in der Feme hin, Ausrüstung und Ausfahrt des Bräutigams in spe werden beschrieben; während dann aber die Ankunftslist in Jerusalem entfällt, bedient sich später Princian einer solchen, indem er - als Pilger verkleidet - unerkannt in die christliche Burg gelangt; umgekehrt wendet ein Bote Fores im Einvernehmen mit Salme eine Entfuhrungslist an, um der Königin die Flucht zu ermöglichen. Beide 'Brautwerbungsfahrten' enden schließlich erfolgreich und damit schemagerecht in der Ehe von Werber und Umworbener. Vgl. hierzu auch Anm. 14.

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Vgl. hierzu Frings (Anm. 6), S. 198, 206, 209f., sowie Curschmann (Anm. 1), S. 82.

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nicht zu entziehen. Er, wie später auch Fore und Princian müssen für den gleichsam genetisch eingeschriebenen Wankelmut des Objekts ihrer Begierde bezahlen: der christliche Kaiser mit Ehrverlust, seine heidnischen Nebenbuhler darüber hinaus mit dem Leben. Ganz im Sinne einer solchen Lesart wurde die Figur der Salme fast durchgängig negativ beurteilt. Dabei monierte man, die Königin sei nur allzu schnell bereit, ihren heidnischen Verehrern zu folgen, um sie andererseits schnöde zu verraten, nachdem sich das Blatt gewendet hat; auch wurde auf die übermäßige Grausamkeit und Rachsucht des mort grime[n] wip (Str. 221,5) hingewiesen, die an die Kriemhild des Nibelungenliedes erinnerten. Doch die Figur der Königin läßt sich nicht nach Maßgabe eines bestimmten starren Rollenklischees - negativ - vereindeutigen. 26 Dies zeigt zum einen die Art und Weise, wie die Heidenkönige ihr Einverständnis für eine gemeinsame Flucht und Zukunft erreichen. Denn ausdrücklich wird darauf verwiesen, daß Salmes Wohlwollen und ihre Zuneigung nicht von ihr selbst ausgehen, sondern in beiden Fällen nur durch magische Manipulation zu wecken sind. Und mehr noch: Salme, die von Salman zur Bewachung des gefangenen Fore bestimmt worden ist, legt sogar von sich aus den Zauberring des Heiden dem listigen Morolf zur Überprüfung vor (Str. 97f.); da selbst dieser aber das gefährliche magische Potential des Ringes nicht erkennt, nimmt die Verführung der Königin ihren Lauf. Nun mag das Motiv der schönen, aber untreuen Frau sowie das korrespondierende Motiv, daß ihr (fast) alle Männer verfallen sind, eine gewisse Rolle spielen. Doch der Schlüssel für Salmes Verhalten, wie überhaupt die auffällige Ambivalenz aller Figuren liegt in einem erzählerischen Spiel, mit dem die traditionellen Vorgaben des Brautwerbungsschemas überschritten und zur Disposition gestellt werden. Dafür ist der Blick auf die Ereignisse zu richten, die vor dem Einsetzen der erzählten Handlung stattgefunden haben und die bisher in ihren Konsequenzen für die Beurteilung des Epos unterschätzt wurden: Salman selbst hatte, wie der Erzähler gleich am Beginn, also an zentraler Stelle vermerkt, Salme geraubt; dies geschieht nicht nur - schemagerecht - ohne die Zustimmung ihres Vaters, des indischen Königs Crispian, sondern - was schwerer wiegt - auch ohne die 26

Darauf verweist bereits Hans-Joachim Böckenholt, Untersuchungen zum Bild der Frau in den mittelhochdeutschen Spielmannsepen. Ein Beitrag zur Bestimmung des literarhistorischen Standortes der Epen „König Rother", „Salman und Morolf, „St. Oswald" und „ Orendel". Münster 1971, S. 88f., 99, 107. - Im übrigen gilt dies für alle Protagonisten des Epos: für den weisen und doch so gutgläubig-naiven Salman, für die rücksichtslosanmaßenden und gleichzeitig barmherzigen Heidenkönige, für den fürsorgend-treuen und zugleich anarchisch-grausamen Morolf, für die anmutig-edle und dennoch kühl kalkulierende Affer. Die geradezu heterogene, ja ambivalente Figurenzeichnung scheint damit eine Tendenz widerzuspiegeln, die sich auch in Hinblick auf die Positionen des Werbungsschemas ablesen läßt: Eine schablonenhaft-vereindeutigende Zuordnung wird aufgebrochen, was - positiv gewertet - Komplexitätssteigerung und Differenzierungsgewinn mit sich bringt.

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Einwilligung der schönen Heidin (Str. 2,1-3,5). Damit unterscheidet sich der christliche König kaum von seinen heidnischen Nebenbuhlern. In gleicher Weise der sinnlichen Ausstrahlung und Schönheit verfallen, wissen alle drei das Objekt ihrer Begierde nur mit Gewalt und gegen dessen Willen in ihren Besitz zu bringen. Die Maßlosigkeit ungezügelten Begehrens wird dabei in Zusammenhang mit dem Status der Königin besonders deutlich. Während die Heidenkönige ihr Verlangen auf eine verheiratete Frau richten, bedarf Salman, um seine Beziehung zur Heidenprinzessin zu legalisieren, eines weiteren Gewaltaktes, ihrer (Zwangs-)Christianisierung.27 Mit Gewalt(tätigkeit), so ließe sich also pointiert sagen, würde in Salman und Morolf gegen'eine Hauptregel aller Brautwerbungserzählungen verstoßen, gegen den Konsens von Brautwerber und Braut. Letztlich gründet hierin die Grundkonstellation der erzählten Handlung, denn Salman und sein Vertreter Morolf müssen die widerspenstige Salme auch künftig gewalthaft, weil gegen ihren Willen und deshalb unter größten Gefahren zurückentführen. Aber auch den Heidenkönigen folgt die von ihnen umworbene Zwangskonvertitin nicht von sich aus, vielmehr muß ihr Wille, wenn nicht gebrochen, so doch manipuliert werden. Daß dem Konsens tatsächlich eine zentrale Funktion zukommt, zeigt schließlich die gelingende zweite Ehe Salmans mit einer anderen Heidenprinzessin: Affer willigt nicht nur von sich aus in die Verbindung mit dem König von Jerusalem ein, sondern akzeptiert auch den damit verbundenen Glaubenswechsel. Nach Beseitigung der unwilligen Salme, die durch ihre wiederholte, wenn auch forcierte Untreue Ehre und Herrschaft des Christenkönigs in Frage gestellt hatte, liest sich die von Morolf vermittelte Ehe wie eine Korrektur des Anfangs: Nicht die Konfrontation, sondern allein der Konsens des königlichen Paares garantiert die Stabilität der Herrschaft. Mit der zweiten, positiv dargestellten Verbindung kommt aber noch eine weitere Prämisse des Schemas in den Blick, die durch die erste Ehe Salmans konterkariert wird: die Einzigartigkeit der Partner. Denn erst mit Affer erhält der christliche Kaiser eine Frau, die ihm an Edelbürtigkeit und Rang gleichkommt. Als Schwester des heidnischen Großkönigs Fore steht sie zumindest in der Ständehierarchie über Salme, deren Vater Crispian neben einer Unzahl von Königen,

27

Daß davon ausgegangen werden kann, legt weniger das spätere Verhalten Salmes nahe, die den wiederholten Glaubenswechsel ohne Probleme zu vollziehen scheint, als vielmehr die Formulierung, mit der der Erzähler von ihrem Schicksal in Jerusalem berichtet: er [Salman] hatte sie uf der guten bürge

gewalticliche Jherusale.

[...] er dette sie teujfen und lerte sie den salter ein gantz jar (Str. 3 , 4 - 4 , 3 ) . Dementsprechend ist Salme auch nur ungern \ des konig Salmons (Str. 114,4f.).

wip, wie sie selbst beteuert

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Herzögen und Grafen 'nur' ein Vasall Fores ist.28 Somit erscheint auch aus dieser Perspektive Salmans zweite Ehe als Korrektur der ersten: Die ständische Inferiorität Salmes könnte als Indikator für eine problematische Beziehung betrachtet werden, in der eben nicht mehr der Beste die Beste bekommt. Ebenso wie die Qualität des Brautwerbers Salman, der wie alle Männer nur von sinnlichem Begehren geleitet ist, durch sein Motiv für die Brautwahl relativiert wird, ist auch die einzigartige Braut des Werbungsschemas im lehnsrechtlichen Zusammenhang abqualifiziert. Bereits in einer solchen Instrumentalisierung ständischen Hierarchiedenkens deutet sich ein thematischer Aspekt an, der die in ihren Prämissen in Frage gestellte Brautwerbung überlagert: die Propagierung eines heroisch-feudaladligen Ethos in der Gestalt Morolfs - der im übrigen weitaus häufiger als dinstman denn als Bruder des Königs bezeichnet wird.29 Mit ihm tritt die Figur des ersten Gefolgsmanns an die Stelle des defizienten, nicht mehr einzigartigen Paares der Brautwerbung und wird zum eigentlichen Helden des Epos.30 Im Gegensatz zu Salme steht er - bei aller anarchisch anmutenden Respektlosigkeit - stets loyal zu seinem Herrn und vermag, unbeeindruckbar durch ihre Sinnlichkeit, dessen Ehre immer wieder herzustellen. Darüber hinaus gelingt es ihm, die letztlich herrschaftsgefährdenden Folgen einer mißglückten Brautwerbung zu korrigieren. 28

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30

Bezeichnenderweise gewinnt Fore die Zustimmung Salmes fur eine gemeinsame Flucht erst, als er verspricht, ihren Vater aus seiner Abhängigkeit zu entlassen (Str. 107). Wie später bei Affer, die mit Morolf geradezu 'knallhart' über ihre Zukunft an der Seite Salmans verhandelt (Str. 584-586), spielen für die Frauen bei der Gattenwahl vor allem ganz pragmatische Gründe eine Rolle. Dem sozialen Status kommt dabei in beiden Fällen entscheidende Bedeutung zu: So kann Affer den Preis für die Bereitschaft zur Taufe, die von Morolf als Voraussetzung für die Ehe mit Salman gefordert wird, im Verweis darauf hochtreiben, von geburt ein kiinigin her zu sein (Str. 584,3); und Salme wird letztlich erst mit dem Versprechen einer personenrechtlichen Verbesserung ihrer Position zum riskanten Verlassen des Ehemanns bewogen. Damit wird deutlich, daß im Brautwerbungsepos Salman und Morolf die Mann-FrauBeziehung weniger vor dem Hintergrund eines Minnediskurses, sondern eher nach den Maßstäben feudaladligen Hierarchiedenkens zu beurteilen ist. Maria Dobozy verweist darauf, daß in den deutschen Kreuzzugsepen anders als in den französischen die „vassal cooperation with the monarch" betont werde („The Theme of the Holy War in German Literature, 1152-1190: Symptom of Controversy between Empire and Papacy". In: Euphorion 80 [1986], S. 341-362, hier S. 361). Mit Kuhn (Anm. 14) ließe sich darüber spekulieren, ob Morolf neben König und Königsbraut die Systemstelle besetzt, die im Nibelungenlied und im Tristan der einzigartige Brautwerber einnimmt; doch diesmal kann es zu keinem 'Kurzschluß', das heißt zur Minne zwischen Werber und Braut kommen, da die Prämissen des Schemas konsequent in Frage gestellt sind: Nicht nur der König, sondern auch die Braut sind nicht (mehr) einzigartig. Einzigartig ist nur der Werber - eben Morolf - in der Loyalität zu seinem schwachen Bruder. Er ist daher auch nicht für Salme 'strukturell bestimmt' wie die einzigartigen Werber Tristan und Siegfried für die einzigartigen Königsbräute Isolde und Brünhild, vielmehr ist er ihr geradezu diametral entgegengesetzt: Zwischen beiden entwickelt sich deshalb konsequenterweise keine tragisch endende Minne, sondern eine Feindschaft bis zum Tod.

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Er 'beseitigt' mit der ersten Königin nicht nur konsequent den Anlaß einer Dauerkrise im Königreich Jerusalem, sondern festigt die Herrschaft des Bruders durch Vermittlung einer geneigten und gleichwertigen Partnerin. Mit der Loyalität Morolfs, die in ihrer Beständigkeit ein Gegengewicht zum unberechenbaren, emotional-willkürlichen Verhalten der übrigen Figuren bildet, wird die Primärtugend feudaladligen Denkens thematisiert. Daß ein solches Denken auch noch in anderer Hinsicht die Handlungsführung entscheidend prägt, zeigt sich bei der Frage nach der Herrschaftskontinuität. Ihr kommt insoweit zentrale Bedeutung im Brautwerbungsepos Salman und Morolf zu, als es Salme nach der Niederlage Fores gelingt, mit der Verheißung eines Erben die Verzeihung Salmans zu erreichen (Str. 534,4-535,5). Erzähltechnisch notwendig ist dies zunächst deshalb, weil mit der Rettung Salmes die Voraussetzung für eine zweite Entführung und damit für eine Fortsetzung der Dichtung geschaffen wird. Darüber hinaus aber hat das Faktum, daß dieser Sohn tatsächlich geboren wird, weitreichende Implikationen nicht nur für die feudaladlige Überformung des Epos, sondern auch für die Struktur und schließlich sogar die Stellung des Werks in der Gattungstradition. Zum einen beleuchtet die Geburt des Kindes die große, selbstlose Verbundenheit des Gefolgsmannes mit seinem König: Morolf hatte wie ausdrücklich erzählt wird - seinen Sohn in Jerusalem zurückgelassen, als er nach Wendelse aufbrach. Der Neffe Salmans wäre nun aber - im Falle von Kinderlosigkeit - dessen Nachfolger gewesen, so daß sich, feudalrechtlich betrachtet, für Morolf und die Seinen glänzende Aussichten auf die Übernahme der Herrschaft ergeben hätten. Aus einer solchen Perspektive lassen sich die Rückentführung Salmes und später die Vermittlung Affers, die Morolf unter Gefahr für Leib und Leben bewerkstelligt, vor allem auch als bewußter Verzichtsakt des loyalen Gefolgsmannes zugunsten seines Herrn deuten. Zum anderen ergeben sich aus der Geburt des Kindes Konsequenzen für den weiteren Fortgang der Handlung und das Ende des Epos - gerade im Blick auf das Brautwerbungsschema: Hatten dort Werbung und Gewinnung der Braut im Grunde das Ziel, dem einzigartigen König eine adäquate Partnerin zuzuführen, um die Herrschaftskontinuität zu gewährleisten, so ist dieses Ziel in Salman und Morolf bereits nach dem ersten Zyklus erreicht. Hierin könnte nicht nur der strukturelle Grund dafür liegen, daß die zweite Rückentführung der Königin ohne Salman stattfindet, sondern auch dafür, daß Salme nach ihrer erzwungenen Heimkehr von Morolf getötet werden kann: sie, die durch die Flucht mit Princian erneut ihre Anfälligkeit für andere Männer bewiesen hat, ist zur Fortsetzung des Geschlechts nicht mehr notwendig. Darüber hinaus steht ein mehr als gleichwertiger Ersatz bereit: Getauft auf den Namen Affer, wird die Schwester Fores zusammen mit Salman noch 33 Jahre glücklich regieren, um dann zu sterben und gottes hulde (Str. 783,6) zu gewinnen, wie der Erzähler lapidar konstatiert. Aus solchen strukturellen Beobachtungen wird deutlich, daß Salman und Morolf im Unterschied zu Rother, Oswald oder Orendel nicht eine weitere erzählerische

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Variante des Brautwerbungsschemas darstellt, sondern vielmehr eine radikale Transformation. 31 Radikal wäre eine solche Transformation insoweit zu nennen, als über die einfache Umpolung beziehungsweise eine veränderte Zuordnung der Positionen des Schemas hinaus dessen Prämissen aufgehoben werden, so daß es schließlich sogar zu einer thematischen Überlagerung des Sujets kommen kann. Konkret gesprochen tritt an die Stelle des Brautpaares ein neuer Held, der - einzigartig in der Loyalität zu seinem Herrn - Paare zusammenführt oder trennt. Damit wird die ursprünglich bipolare Grundstruktur des Schemas, die im Christen-Heiden-Gegensatz der Brautwerbungsepen ganz konkret zum Ausdruck kommt, gleichsam dekonstruiert. Da die Umbesetzung bei weitem über die einfache Schemavariation in den anderen Brautwerbungsepen hinausgeht, könnte von einer Grenzüberschreitung in Hinblick auf die Vorgaben der Tradition gesprochen werden. 32 In gleicher Weise ließe sich die Erzählhaltung charakterisieren. Daß eine solche Einschätzung berechtigt ist, soll ein Rezeptionszeugnis des Salman und Morolf vom Beginn des 16. Jahrhunderts verdeutlichen, das den geradezu abrupten Schluß des Epos betrifft. Auch am Ende werden Gattungsgrenzen überschritten, weil von keinerlei Verzichtleistungen des Paares mit Blick auf das ewige Leben die Rede ist: Askese, Buße oder Weltflucht sind offensichtlich als Voraussetzung für das Heil nicht notwendig. Damit scheinen die Kontamination des Brautwerbungsschemas mit christlichem Gedankengut und eine entsprechende Ideologisierung, wie sie von der Forschung für die Gattung nachgewiesen 31

32

Walter Haug, „Das Komische und das Heilige. Zur Komik in der religiösen Literatur des Mittelalters". In: Wolfram-Studien 1 (1982), S. 8-31, hier S. 25f., bezeichnet bereits die Modifikation des Brautwerbungsschemas im Oswald als komische „Kontrafaktur"; doch im Vergleich zur Radikalität in Salman und Morolf erscheint eine solche Charakterisierung überzogen, denn im Oswald sind die einzelnen Positionen noch durchaus im Sinne des traditionellen Schemas besetzt und dessen Prämissen eingehalten. Vgl. hierzu S. 94f. Haug (Anm. 2), S. 185, 187, bewertet diese Grenzüberschreitung in Hinblick auf das Brautwerbungsschema negativ als 'Perversion'. Zugrunde liegt dem ein literarhistorisches Fortschrittsmodell, in dem die vorhandenen Brautwerbungsepen als das Ergebnis eines Transformationsprozesses erscheinen: Indem klerikale Literaten ein heroisch-säkulares Erzählschema im Sinne eines christlichen Ethos modifizieren, entstehe gleichsam ein literarisches Produkt positiver Sinnsetzung. In ein solches Vorstellungsmodell ist Salman und Morolf nur als Anti-Dichtung, als eine „Verhöhnung der sonst üblichen Lösungen" (S. 187) oder als „Zerstörung des Sinngefliges" (S. 188) integrierbar. Dabei bleibt die Bedeutung der feudaladligen Orientierung des Epos mit ihren Implikationen für Struktur und Figurenzeichnung ausgeblendet. In Entsprechung zur These der Gattungs-'Perversion' ist bei Haug zum einen eine einseitige Dämonisierung Salmes zu beobachten, zum anderen eine neuzeitliche Psychologisierung Morolfs. So wird dessen Loyalität und Vasallentreue zu seinem Herrn als „Liebe zu seinem Bruder" (miß)verstanden, „die bei ihm immer wieder quer zu aller Härte und allem Zynismus aufscheint". Die Ambivalenz von Morolfs Charakter wird darauf zurückgeführt, daß er „die Anfälligkeit des menschlichen Herzens für das Abgründige irgendwie versteht, ja nur weil er in einem versteckten Winkel seines kruden Wesens dazu in der Lage ist, kann er das Grundlos-Böse auch bekämpfen" (S. 188).

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werden konnte,33 ignoriert zu werden. Genau an diesem Punkt setzt nun die 'Fortsetzung' korrigierend und ergänzend an, die in einem Straßburger Druck an das Epos angefügt wurde:34 So wird zunächst von der großen Liebe des Königspaares erzählt, die Gott mit zwei Söhnen, Isaac und Robam, segnet. Ersterer tritt nach 30 Jahren die Nachfolge Salmans an,35 der sich daraufhin mit der Königin fastend und betend zurückzieht, um das ewige Leben zu erlangen. Da der sündenbeladene Dienstmann Morolf die beiden auch im Jenseits nicht verlassen will, bereut er zutiefst, fällt tot um - und wird prompt erlöst. Zusammen mit dem Königspaar, das ihm noch am selben Tag folgt, wird er in einem gemeinsamen Grab beigesetzt. Schließlich weiht auch Robam sein Leben Gott, um als Mönch zu sterben und ebenfalls erlöst zu werden. Im Verweis auf Sündenbekenntnis und Besserung endet die Fortsetzung in einem Schlußgebet. Im Mittelpunkt dieses Epilogs steht die Mechanik von Weltentsagung, Buße und Erlösung. Sie wird nicht nur in geradezu inflationärer Häufung thematisiert, sondern erscheint als erzähltechnisches Passepartout - durch die wunderbare Erlösung des zwar treuen, gleichwohl mörderischen und dämonischen Morolf. Ob es damit dem Fortsetzer ästhetisch überzeugend gelingt, ein Epos, in dem das Handeln der Figuren ausschließlich von Triebhaftigkeit oder pragmatischen Überlegungen geleitet ist, im Sinne einer christlichen Umkodierung zu 'retten', sei als Beckmesserei einer späteren Zeit dahingestellt. Zu konstatieren bleibt jedoch, daß ein solcher Kunstgriff anscheinend für notwendig erachtet wurde, um - im Rückgriff auf die Tradition - den unkonventionellen Umgang mit der Gattungskonvention zu korrigieren. Die 'Fortsetzung' läßt sich nun aber nicht nur als eine Schema-Korrektur des Dichtungsendes im Blick auf die Gattungstradition deuten; vielmehr scheint ihr Verfasser ganz grundsätzlich ein Defizit kompensieren zu wollen, daß Salman und Morolf insgesamt betrifft: die mangelnde christliche Ausrichtung und Durchdringung. Zwar bildet der Christen-Heiden-Gegensatz den Hintergrund der 33

Vgl. hierzu oben S. 94f. mit Anm. 21 und 22. - Die christliche Überformung eines weltlichen Erzählschemas läßt sich innerhalb der Gattungstradition an einer mehr oder weniger starken Tendenz zum Verzicht ablesen: Verzicht auf körperlichen Vollzug der Ehe und darüber hinaus Verzicht auf das implizite Ziel jeglicher Brautwerbung, die Gewinnung eines Nachfolgers und Erben. Die extremere Variante vertreten Oswald und Orendel, in denen das Paar infolge konsequent gelebter Enthaltsamkeit im Dienste Gottes keinen Nachfolger hat. Im Rother dagegen zieht sich das Königspaar erst aus der Welt zurück, nachdem der Erbe geboren worden ist.

34

Dieser Druck von Johannes Knoblauch aus dem Jahre 1510 ist text- und seitengleich mit einem bereits 1499, ebenfalls in Straßburg bei Mathis Hüpffuff erschienenen. Die Fortsetzung befindet sich auf den Blättern 70b-75b. Sie ist abgedruckt in der Edition von Karnein (Anm. 9), S. 259-265; vgl. die Beschreibung der Drucke in der Einleitung (ebd., S. XLIIXLIV).

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Von dem gemeinsamen Sohn Salmans und Salmes ist dabei nicht mehr die Rede; dieses Kind einer mißglückten Brautwerbung spielt bei der Herrschaftsvergabe keine Rolle.

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erzählten Handlung, doch über einige topisch gebrauchte Elemente des Genres hinaus 36 wird darauf verzichtet, das Ringen um den rechten Glauben im allgemeinen oder die Gott-Mensch-Beziehung im besonderen ausführlicher zu gestalten. Dementsprechend sind auch keinerlei Ansätze erkennbar, Rituale und Priesterschaft der beiden konträren Religionen zu differenzieren: Der Kirchgang der Heiden ist mit dem der Christen identisch, und die heidnischen Gottesdiener werden wie der christliche Klerus als Bischöfe, Pfaffen und Kapläne bezeichnet. Eine solche Einebnung der Unterschiede scheint nun durchaus konsequent für ein Epos zu sein, in dem die christliche Seite - anders als in Oswald oder Orendel keinerlei göttliche Hilfe in Form von Wundern benötigt, um ihr Ziel zu erreichen; vielmehr wird mit Morolf eine souverän handelnde Figur präsentiert, die jenseits aller christlichen Gebote - ihren Vorteil sucht und findet. Schließlich könnte sogar von einer Parodierung des direkten göttlichen Beistandes gesprochen werden, der in anderen Brautwerbungsepen zentrale Bedeutung besitzt: Nicht etwa mit der Hilfe von Engeln, sondern mit der Unterstützung einer zauberkundigen Verwandten heidnisch-magischer Provenienz gelingt Morolf die Rückentfuhrung Salmes aus Akers. 37 Dies ist kein Einzelfall. Eine Instrumentalisierung der Grablegung und Wiederauferstehung Christi stellt etwa die erste Flucht Salmes aus Jerusalem dar: Nachdem sie ein magisches Kraut zu sich genommen hat, verfallt sie in Totenstarre und wird in einen Sarg gelegt, um diesen nach drei Tagen zu verlassen; 38 und eine Anspielung auf die Veronika-Legende könnte in der Szene vorliegen, in der Affer mit ihrem Pelzmantel den Schweiß vom Gesicht Salmans wischt, als dieser zur Richtstätte geführt wird (Str. 481 f.). Als provokant-allusorisch lassen sich die Verfahren beschreiben, mit denen christliche Glaubens- und Wissensbestände im Epos wiederholt aufgerufen werden, um die Handlung - in ironischer Brechung - punktuell auf die Heilsgeschichte hin transparent zu machen. Auf die Spitze getrieben erscheint dieses doppelbödige Spiel, wenn ein solches Wissen im Bereich der erzählten Handlung funktionalisiert wird. So bittet Salman, der bereits unter dem Galgen steht, die 36

Hierzu zählt zum einen eine Kreuzzugsrede Morolfs im Vorfeld einer Schlacht, in der er auf die Hilfe Gottes für die Christen verweist (Str. 753); zum anderen betet Morolf, der im Zweikampf mit Princian in Not gerät, zu Gott um Hilfe - woraufhin dieser ihm neue Kraft gibt, so daß er den Heiden erschlagen kann (Str. 769-771). In Hinblick auf die Gebete im Epos spricht Ingeborg Köppe-Benath vom „sporadischen Aufgreifen^ eines beliebten Motivs" („Christliches in den 'Spielmannsepen' König Rother, Orendel und Salman und M o r o l f . In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur [Halle] 89 [1967], S. 200-254, hier S. 226).

37

Vgl. Str. 728-739. - Es handelt sich dabei um eine merminne, die mit ihrem Sohn Mandelger in einem Berg wohnt und über eine Schar von Zwergen gebietet. Mit dieser mume Morolfs wäre gleichsam der heldenepisch-germanische Bereich ins Spiel gebracht, dem die dunkle, dämonische Seite des Salman-Bruders entstammt.

38

Vgl. Str. 143-146. - Ausführlicher hierzu Böckenholt (Anm. 26), S. 90, sowie KöppeBenath (Anm. 36), S. 220, derzufolge eine solche „Übertragung heiligster Glaubensinhalte des Christentums auf [...] Salme [...] eine erstaunliche Profanisierung" ist.

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Heiden darum, mit einem Hornstoß die Schar der Engel herbeirufen zu dürfen, die seine Seele ins Jenseits begleiten soll. Dies wird ihm leichtfertig gewährt, und auf das Signal hin eilt das Heer seinem König zu Hilfe (Str. 494-510). Indem hier christliches Wissen um die Rettung der Seele nach dem Tod für die Rettung des königlichen Körpers vor dem Tod instrumentalisiert wird, wird dieses Wissen durch pragmatische Indienstnahme aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen und dabei relativiert. 39 Zusätzliche Verstärkung erfahrt die Relativierung dadurch, daß ganz bewußt mit der Verbindlichkeit des Religiösen selbst bei Glaubensfeinden kalkuliert wird. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Verkleidung als (christlicher) Pilger, die Morolf und anderen immer wieder einen schützenden Schafspelz für die Verfolgung höchst diesseitiger Ziele liefert. Als Höhepunkt der Infragestellung des Sakrosankten, die über dessen Instrumentalisierung noch hinausgeht, erweist sich schließlich ein Streich, den Morolf seinen heidnischen Gegnern in Wendelse gleich mehrfach spielt: Er schneidet Fore wie anderen Heiden zuvor - nicht nur eine Tonsur und 'verkleidet' ihn dadurch zum Bischof; darüber hinaus legt er ihm und Salme jeweils einen Kaplan an die Seite, so daß die Düpierung des Paares mit der Verhöhnung christlicher Würdenträger und ihres Keuschheitsideals verbunden wird. 40 Nun mag eine blasphemische Inszenierung wie überhaupt die Relativierung des Klerus und seiner Symbole den Unterhaltungswert des Epos immens gesteigert haben. Doch dahinter scheint sich - zumindest aus poetologischer Sicht weitaus mehr zu verbergen. Denn parodierende Verfahren stellen letztlich immer grenzüberschreitende Akte dar, mit denen Setzungen in Frage gestellt, wenn nicht überwunden werden, seien es Traditionen, Konventionen oder - ganz allgemein gefaßt - ideologische Konstrukte autoritativen Charakters.

III Das grenzüberschreitende Spiel wird in Salman und Morolf sowohl beim Brautwerbungsschematismus wie auch bei der Thematisierung religiös-christlicher Gegenstände äußerst konsequent betrieben. Daß hinter einer solchen Erzählhaltung das Charakteristikum des Textes sichtbar wird, nicht nur Grenzüberschreitung in Handlung umzusetzen, sondern selbst Grenzüberschreitung zu sein, soll als Orientierungspunkt für die folgende Argumentation dienen. Vor dem Hintergrund strukturalistisch-erzähltheoretischer Überlegungen, denen zufolge 'Grenz-

39

Gleiches gilt fiir die Taufe Affers. Vgl. hierzu Anm. 28. - Köppe-Benath (Anm. 36), S. 207, sowie Böckenholt (Anm. 26), S. 114, sprechen darüber hinaus mit Blick auf den Taufakt von einer „Groteske".

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Str. 481 f. - Vgl. hierzu Böckenholt (Anm. 26), S. 112.

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Überschreitung' das Grundprinzip fiktionalen Erzählens schlechthin darstellt,41 ist zu zeigen, daß in Salman und Morolf fiktional erzählt wird, indem dieses Prinzip schließlich selbst zum Gegenstand des Erzählens wird. Laut Jurij M. Lotman sind fiktionale Texte als sujethafte Texte vor allem dadurch gekennzeichnet, daß ein Akteur eine prinzipiell unüberwindbare Grenze zwischen zwei semantischen Räumen überschreitet, woraus ein Ereignis resultiert, das die Normalität durchbricht.42 In der Grundstruktur von Salman und Morolf ist diese Raummetapher, die zur Veranschaulichung symbolischer Relationen benutzt wird, in geradezu idealtypischer Weise konkretisiert. Denn im Christen-Heiden-Gegensatz liegt eine binäre semantische Opposition vor, die sich in der strikten räumlichen Trennung der beiden Sphären niederschlägt: Dem christlichen Jerusalem auf der eine Seite liegen auf der anderen die Heidenburgen Wendelse, Akers und Endian gegenüber. Getrennt sind sie jeweils durch das gefahrliche Meer, den wilden se.43 Die „Überschreitung der grundlegenden topologischen Grenze in der Raumstruktur"44 durch die Hauptakteure stellt das entscheidende Sujet dar. Dabei steht in diesem wie in allen anderen mittelalterlichen Brautwerbungsepen der geographisch-konkrete Übergang insoweit für einen symbolischen Akt, als eine Glaubensgrenze gefahrvoll überschritten wird. Morolf aber kann als 'Wanderer zwischen den Welten' bezeichnet werden: Überqueren die Könige zur 'Brautgewinnung' jeweils einmal das Meer, so zieht der loyale Dienstmann viermal aus, um die widerspenstige Königin, die zweimal über das Meer flieht, auszuspähen und zurückzuholen. Bereits mit Blick auf diese Grundstruktur wird nun die Besonderheit des Salman und Morolf im Vergleich zu den anderen Vertretern der Gattung sichtbar: Während hier der Christen-Heiden-Gegensatz bestehen bleibt, wird er dort durch Relativierung, ja Parodierung des Religiösen in seiner Bedeutung eingeschränkt, wenn nicht gar aufgehoben - was mehr oder weniger als die Grenzüberschreitung einer Grenzüberschreitung betrachtet werden könnte. Dem Phänomen der Grenze und ihrer Verletzung kommt auch in den Überlegungen Wolfgang Isers zentrale Bedeutung zu, demzufolge die drei Akte des Fingie-

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Vgl. hierzu die Erläuterungen zu Sujet und Figur in künstlerischen Texten bei Lotman (Anm. 12), S. 329-357, sowie Wolfgang Iser, „Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?". In: Funktionen des Fiktiven. Hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. (Poetik und Hermeneutik 10) München 1983, S. 121-151, vor allem S. 123-125. Das Sujet ist demnach ein 'revolutionäres Element' im Verhältnis zu einem etablierten Weltbild, es richtet sich immer gegen eine geltende Klassifikation. Dem neuzeitlichen, vielleicht aber auch schon (spät-)mittelalterlichen Einwand, Akers/ Akkon liege in Palästina und sei nicht durch das Meer von Jerusalem getrennt, könnte im Verweis auf das Grundprinzip fiktionalen Erzählens bereits hier begegnet werden: Im Sinne einer konsequenten topographischen Umsetzung der semantischen Grundopposition und damit der Dichtungsintention muß die Heidenburg Akers auf die andere Seite des Meeres verlegt werden. Vgl. hierzu das Folgende zum 'Akt der Selektion'. Lotman (Anm. 12), S. 338.

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rens, durch die das Fiktive in fiktionalen Texten konstituiert wird, grundsätzlich Akte der Grenzüberschreitung sind. Im Akt der Selektion werden die externen Bezugsfelder, aus denen die Textelemente entstammen, überschritten, aber auch die Immanenz des Textes selbst, insofern dieser in seinem Repertoire das 'Überschrittensein' der selektierten Bezugsfelder präsent hält. Dabei werden die ursprünglichen Zuordnungen der selektierten Elemente aufgehoben, ergänzt oder verändert. 45 So zeigt bereits ein Blick auf den familiären Hintergrund des Brüderpaars Salman und Morolf, daß unterschiedlichste Bereiche als Bezugsfelder dienen. Zum einen wird im Verweis auf den biblischen Hintergrund König David als Vater des weisen Salman/Salomon genannt, von dem der Sohn seine musikalischen Fähigkeiten geerbt habe; andererseits ist dieser in mittelalterlich-feudalrechtlichem Sinn als kaiser oberster Herr der Burg Jerusalem im Zeitalter der Kreuzzüge, der die Herrschaftskontinuität durch die Verbindung mit einer heidnischen Prinzessin sichert. Und schließlich kommt über seinen Bruder und ersten Vasallen Morolf noch ein weiteres Bezugsfeld in den Blick, indem von dessen zauberkräftiger Mutterschwester und deren zwergenhaftem Sohn erzählt wird: das der germanischen Heldensage und ihrer magisch-heidnischen Gegenwelt. Wenn man mit Iser davon ausgeht, daß sich in der Dekomposition der Bezugsfelder des Textes dessen Intentionalität spiegelt, so offenbart sich in einer solchen Mischung, daß über die Grenzen von Zeit und Religion hinweg heterogene, ja ambivalente Traditionsbestände amalgamiert werden - verglichen mit den anderen Brautwerbungsepen, geschieht dies in geradezu extremer Weise: Ursprünglich kohärente semantische Felder wie das biblisch-christliche oder das der germanischen Mythenwelt werden aufgebrochen, indem ein Erzähler Material daraus entnimmt und — gegen gängige Konventionen, wenn nicht Tabus verstoßend - narrativ miteinander verknüpft. Zugleich sind in diesem neuartigen fiktiven Konstrukt auch konträre Zeitkonzeptionen zusammengeführt, wenn prominente Figuren des Alten Testaments und damit einer vergangenen heilsgeschichtlichen Epoche mit Vertretern einer zeitlosen Mythologie in der Kreuzzugsära einen Verwandtschaftsverband bilden. Während im grenzüberschreitenden Akt der Selektion mit den externen Bezugsfeldern des Textes dessen Umweltsysteme konturiert werden, indem sie dekomponiert werden, erfolgt im Akt der Kombination ein Überschreiten von innertextuell hergestellten semantischen Räumen. Dies kann sich 'von einer Entgrenzung der lexikalischen Wortbedeutung über die Verletzung semantischer Räume bis hin zur Umgehung von Geltung' manifestieren. 46 Erstere offenbart sich etwa dann, wenn der (hinter-)listige Morolf einen ahnungslosen Heiden ermordet und der Erzähler dabei die Brutalität des Vorgehens mit einer scheinbar inadäquaten 45 46

Iser(Anm. 41), S. 126f., 148. Ebd., S. 133, 148.

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Charakterisierung des Mordwerkzeuges als schone und wonesam konterkariert.47 Auf einer ähnlichen Linie liegend, aber noch extremer erscheint die Tötung Salmes, die wie ein ritueller Akt vollzogen wird. Nachdem ihr Morolf im Bad die Halsschlagader geöffnet hat, preßt er ihr mit dem Blut fast liebevoll-sanft das Leben aus dem schönen Leib: er druckte sie also süsse, das ir die sele lachende von irem munde schiet. sie wuhste nit, wie es geriet (Str. 777,5-7).

In diesem Kontext ließe sich von einer Ästhetisierung des Mordens sprechen, die über eine ungewöhnliche, ja geradezu verstörende semantische Umakzentuierung auf lexikalischer Ebene erfolgt. In ihr spiegelt sich gleichsam die dämonische Ambiguität eines Charakters, der sich jeder eindeutigen Schematisierung entzieht. Eine massive 'Umgehung von Geltung', die sich hier im lexikalischen Bereich andeutet, ist auch auf höherer Ebene zu beobachten. Im Akt der Kombination werden durch Relationierung nicht nur innertextuelle Bezugsfelder aus selektiertem Material hergestellt; vielmehr werden diese Bezugsfelder wiederum selbst miteinander in Beziehung gesetzt, so daß sich neue Bezugsfelder bilden. Ein solches Feld von Beziehungen entsteht im Epos, wenn ein religiöser Diskurs, der durch den Christen-Heiden-Gegensatz konstituiert ist, mit einem feudaladligen verbunden wird. Sind laut Iser diese Felder 'in der Regel Anlaß, daß ein Held die zwischen den Feldern herrschende, im Prinzip unüberwindliche Grenze überschreitet', 48 so lassen sich die Handlungen des treuen Dienstmannes Morolf, aber auch anderer Figuren als ganz konkrete Grenzüberschreitungen mit zugleich symbolischer Signifikanz begreifen. So kommt es immer wieder zu einer Relativierung des Christlichen und seiner Verbindlichkeit, wenn christliche Elemente im Zusammenhang mit der Brautgewinnung und damit Triebbefriedigung adliger Individuen instrumentalisiert werden: etwa als Verkleidung oder gar zur Verhöhnung des Gegners. Paradigmatisch im Sinne einer solchen Relativierung wäre der Schacher um den Glaubenswechsel Affers (Str. 580-586). Nicht um ihre Seele zu retten, will sich die Heidenprinzessin taufen lassen, sondern erst nachdem ihr Morolf eine standesgemäße Zukunft an der Seite Salmans in Aussicht gestellt hat. Wenn hierbei Affer im Verweis auf ihre hohe Stellung die Taufe als Zumutung ablehnt, wird diese vor dem Hintergrund eines feudaladligen Wertesystems

47

er zoch uß ein messer schone und wonesam, es was scharff und auch lang, er stach es dem heiden durch sin hertze, das es im in der hende wider want (Str. 183,2-6).

48

Iser (Anm. 41), S. 131, betrachtet im Anschluß an Lotman eine solche Grenzüberschreitung als ein „sujethaftes Ereignis".

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diskreditiert. Eine daraus resultierende 'Umgehung von Geltung' des christlichen Sakraments findet schließlich ihre Entsprechung im Taufakt selbst, der als Burleske gezeichnet ist. 49 Grenzüberschreitung bezieht sich in den Akten der Selektion und der Kombination auf die innertextuell dargestellte Welt des Textes und seine semantischen Bezugsfelder. Demgegenüber kommt mit dem Akt der Entblößung, durch den sich ein Text als fiktional ausweist, dessen pragmatische Relation und damit sein 'Sitz im Leben' in den Blick. 50 Denn Fiktionalität ist letztlich nur über Sprechsituationen und infolgedessen über Situationsdefinitionen zu bestimmen, die von seiten jener Welt vorgenommen werden, die die Erzählung als solche wahrnimmt. Das Fiktionalitätskriterium beruht demnach auf einem 'Kontrakt zwischen Autor und Leser', dessen Regelungen den Text nicht als Diskurs, sondern als 'inszenierten Diskurs' markieren." Solche langfristig wirksamen Regelungen sind - als historisch variierende Konventionen, die Autor und Publikum teilen die literarischen Gattungen. In diesem Kontext spielt nun aber der spätmittelalterliche Überlieferungsbefund des Epos Salman und Morolf eine entscheidende Rolle - genauer das Phänomen, daß Brautwerbungsepen als Dichtungen einer ursprünglich oralen Tradition im 15. Jahrhundert verstärkt (wieder-)aufgezeichnet werden. Poetologisch ließe sich dies so erklären, daß Mündlichkeit im Medium der Schrift gleichsam re-inszeniert wird, um als Fiktionssignal zu dienen. 52 Das heißt: die Auffuhrungssituation, die die Präsentation von Dichtung in einer oralen Kultur kennzeichnet, wird beim spätmittelalterlichen Leser in Erinnerung gerufen. Durch diese 'Reinszenierung einer Inszenierung' aber kann dann im verschrifteten Epos das Als-ob des Textes angezeigt werden und sich dieser als

49 50

51

52

Str. 588,3-591,2. - Vgl. hierzu auch Anra. 28. Iser stützt sich bei seinen Überlegungen zum Akt der Entblößung, durch den eine im literarischen Text organisierte Welt zu einem Als-ob wird, auf Rainer Warning, „Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion". In: Funktionen des Fiktiven (Anm.41), S. 183-206. Der fiktionale Diskurs in den narrativen Gattungen ließe sich im Blick auf das Theatermodell insoweit als 'inszeniert' bezeichnen, als er ein Rollenspiel seitens des Autors und des Rezipienten voraussetzt. Diese Voraussetzung ist zugleich das entscheidende Fiktionalitätskriterium. Vgl. hierzu Warning (Anm. 50), S. 193f. Franz H. Bäuml, „The Oral Tradition and Middle High German Literature". In: Oral Tradition 1 (1986), S. 3 9 8 ^ 4 5 , hier S. 432f., verweist nur ganz allgemein auf die Bedeutung von „'pseudo-oral' formula" und damit „formulicity as written style" für die Überlieferung wie die Rezeption von Texten: Diese „stereotypical devices [...] 'refer to a specific (oral) type of text, and thus represent the convention which determines the composition of the written text'". Wenn nun dieser Verweis aber dazu dient, die Fiktionalität einer verschrifteten Brautwerbungserzählung zu signalisieren, ließe sich eine konkrete poetologische Erklärung dafür finden, daß eine nicht- beziehungsweise vor-literarische Form des Erzählens, genauer: das Wissen um ihren Inszenierungscharakter (re-)aktiviert wird.

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ein fiktionaler 'entblößen'.53 Die retrospektive Instrumentalisierung einer mündlichen Tradition sowie der ihr zugrundeliegenden Inszenierungssituation hat neben der poetologischen auch eine literarhistorische Bedeutung:54 Einzuordnen wäre ein solcher Befund in einen jahrhundertelangen Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. An dessen Ende - in der großen Verschriftlichungswelle des 15. Jahrhunderts55 - würde mit einem Brautwerbungsepos die Dichtung einer genuin mündlichen Kultur kodifiziert, um fiktionales Erzählen zu ermöglichen.56 Nun kann Salman und Morolf aber nicht nur - wie jeder fiktive Diskurs über den illokutionären Modus eines Als-ob-Handelns und damit als spielerisches Handeln beschrieben werden. Vielmehr besteht die Eigenart dieses fiktionalen mittelalterlichen Textes gerade darin, daß ein solches Als-ob-Handeln selbst Gegenstand des Erzählens wird. Denn Morolf stellt mit seinen vielfältigen Verkleidungen nichts anderes als eine figurgewordene Umsetzung des Fiktiven und seiner Macht dar. In konzentrierter, ja übersteigerter Form wird dies bei seiner Flucht aus Akers deutlich, wenn er nacheinander in die Gestalt eines Krüppels, Pilgers, Spielmannes, Metzgers und Krämers schlüpft (Str. 663-712). Zwar stoßen die Häscher der Königin mehrmals auf den Flüchtenden; doch sie erkennen ihn nicht, da er immer wieder die Identität wechselt, nachdem sie ihn verlassen haben. Dabei gelingt es ihm zum einen, mit virtuosem Rollenspiel auch in aussichtslosen Situationen die Oberhand zu behalten. Gleichzeitig demonstriert er, wie durch das Erzählen von fingierten Geschichten das Handeln anderer ma53

54

55

56

Demgegenüber wird im höfischen Roman das Fiktionssignal über eine fiktive Erzählerrolle konstituiert, und zwar über den schreibenden Autor als Subjekt des Rollenspiels. Warning (Anm. 50), S. 194, lokalisiert die „Selbstentdeckung eines Autors, der sich in Absetzung vom anonymen, im Erzählten aufgehenden Rhapsoden als Subjekt des Erzählens reflektiert", in den Prologen des Chretien de Troyes. In diesen Kontext gehören etwa auch die Beobachtungen Hans Ulrich Gumbrechts zur Kodifizierung von französischen Chanson-de-geste-Texten im späteren Mittelalter: „[...] ihr besonderer Reiz scheint eben darin gelegen zu haben, daß sie als schriftliche Texte mündliche Kommunikationssituationen 'inszenierten'" („Schriftlichkeit in mündlicher Kultur". In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation I. Hg. von Aleida und Jan Assman und Christof Hardmeier. München 1983, S. 158-174, hier S. 168). So betont etwa Gumbrecht (Anm. 54), S. 170f., ausgehend von volkssprachlich-historiographischen Texten im französischen Bereich, „daß sich die Volkssprache als schriftliches Medium der Laienkultur erst im XV. Jahrhundert konstituiert - und zwar ohne Rückgriff auf die zuvor entstandenen punktuellen schriftlichen Fixierungen"; er wendet sich damit „gegen die Tradition der Literaturgeschichtsschreibung, zwischen den volkssprachlichen Texten des XII. und des XV. Jahrhunderts eine Entwicklungslinie zu ziehen". Mit Aleida und Jan Assmann, „Schrift und Gedächtnis". In: Schrift und Gedächtnis (Anm. 54), S. 265-284, hier S. 272, könnte ein solches Phänomen als Ausdruck der „Überlagerung und Durchdringung bestehender Gedächtnisüberlieferungen durch die Schrift" betrachtet werden. Letztere „elaboriert, exploitiert und integriert die mündliche Tradition, setzt sie mit eigenen Mitteln fort und literarisiert sie".

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nipulierbar ist. So gibt der Gesuchte seinen Verfolgern jeweils bereitwillig Auskunft über sich selbst in seiner alten Maske - um sie dadurch ins Leere laufen zu lassen. Allein Salme vermag dieses Katz-und-Maus-Spiel zu durchschauen. Indem sie ihren Todfeind in der Figur identifiziert, die über den Maskierten zu berichten weiß (Str. 697), offenbart sie nicht nur dessen eigentliche Wesensart, sondern darüber hinaus auch den Grund und Urheber jeglicher Fiktion: den souveränen Erzähler. Darüber hinaus implizieren die (Selbst-)Inszenierungen Morolfs und seine Wandlungsfähigkeit aber noch Grundsätzlicheres. Im erstaunten Ausruf eines seiner erfolglosen Verfolger ist es ausgesprochen: sol niemant uff der strassen gan, | es si alles Morolff, | daz muß mich umer wunder han (Str. 698,3-5). Wenn in letzter Konsequenz jeder Morolf und Morolf jeder sein kann, ist die eindeutige Zuordnung von außen und innen, ist die Identität von Zeichen und Bezeichnetem aufgehoben. Indem der einzelne beliebig mit diesen Zuordnungen spielt, setzt er sich nicht nur über die Konventionalität der Zeichen, sondern noch weitergehend über die Verbindlichkeit von gesetzten, sichtbaren Ordnungen hinweg. Eine solche - im Blick auf die mittelalterliche Vereindeutigung der Weltauslegung brisante Botschaft verkörpert letztlich Morolf.57 Das durch ihn repräsentierte Prinzip des permanenten Identitätswechsels ist - nach Lotman - nicht nur ein eminent 'revolutionäres Element' im Verhältnis zu einem gegebenen Weltbild, sondern es bildet zugleich über das Agieren des 'Helden' hinaus eine Art MetaSujet: Der Grenzgänger Morolf stellt gleichsam zeichenhaft das Grundprinzip des Fiktionalen dar, die Grenzüberschreitung.58 Für den Bereich jenseits der Fiktionsschwelle und damit für die Rezipientenseite stellt sich schließlich die Frage, ob und inwieweit dieses 'Meta-Sujet' als Identifikationsangebot fungieren kann. Ersteres erscheint wegen der prinzipiell positiven Zeichnung Morolfs durchaus möglich; zur Beantwortung der zweiten Frage könnte man darauf verweisen, daß der Rezipient auf doppelte Art seinen Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont zu erweitern vermag: Erfordert bereits

57

Das rücksichtslos-unkontrollierbare Handeln dieser Figur mag sich mit ihrer vorbildhaften vasallitischen Loyalität rechtfertigen lassen - nach dem Motto, daß der Zweck die Mittel heilige. Allerdings wäre zu fragen, was überhaupt noch heilig ist, wenn im Spiel mit dem Schein schließlich sogar das Heilige selbst als Manövriermasse zur Verfügung steht: Neben der wiederholten Funktionalisierung der Pilgerrolle wird dies besonders deutlich in Zusammenhang mit der Befreiung Salmans, wenn christliches Wissen um die Rettung der Seele nach dem Tod als Kriegslist benutzt wird.

58

Bereits Thomasin von Zerclaere hatte fiktionales Erzählen, das in Form von höfischen aventiuren erfolgt, mit der Verkleidungsmetapher zu fassen und zu rechtfertigen versucht (Der Wälsche Gast. Hg. von Heinrich Rückert. [Bibliothek der gesammten deutschen NationalLiteratur 30] Quedlinburg - Leipzig 1852 [Nachdruck Berlin 1965], V. 1118-1126); hier findet ein solcher 'verkürzter Vergleich' seine poetische Umsetzung: 'Grenzüberschreitung' und damit die Bereitschaft zu einer bestimmten Grundhaltung liegen gleichsam 'verkleidet' in der Figur des Morolf und ihren Handlungen vor.

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die reflektierte Rekonstruktion jenes Wirklichkeitsmodells, das der Diskurs inszeniert, Distanznahme, 59 so könnte das souveräne Spiel des Protagonisten als emanzipatorischer und zugleich relativierender Akt gegenüber einem streng determinierten Weltbild und seinen autoritativen Setzungen interpretiert werden eines Weltbildes, das durch eindeutige, dogmatisch festgelegte Zuordnungen konstituiert wird. 60 Relativierung, Distanzierung, Emanzipation - dies sind die wirkungsästhetischen Perspektiven, die hinter der besonderen Art des Erzählens in Salman und Morolf aufscheinen und die abschließend noch einmal vor dem Hintergrund des spätmittelalterlichen Überlieferungsbefundes zu beurteilen sind. Zugleich stellt sich die Frage nach dem literarhistorischen Ort dieses Brautwerbungsepos im Zeitalter der sogenannten Ritterromantik des 15./16. Jahrhunderts. Allgemein versteht man darunter die spätmittelalterliche Rezeption vornehmlich höfischer Erzählliteratur des 12./13. Jahrhunderts, die auf das Interesse hochadliger Gönner und eines sie umgebenden exklusiven Publikums zurückgeht. Indem 'Rittertum' und die darin implizierten Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten als ideale vergangene Lebensform erinnert werden, lassen sie sich im Dienste fürstlicher Selbststilisierung - wie etwa im Ruhmeswerk Maximilians I. oder für die literarische Genealogie Albrechts IV. - instrumentalisieren.61 Gedeutet wurde eine solche Orientierung an der Tradition damit, daß „ohne sie nicht auszukommen sei in einer Zeit des Epochenumbruchs, in der objektiv zutreffende Selbst- und Weltdeutungsmöglichkeiten nicht mehr oder noch nicht zur Verfügung stehen". 62 59 60

61

62

Hierauf verweist Warning (Anm. 50), S. 204f. Das in Morolf verkörperte Grundprinzip des Fiktiven, Grenzüberschreitung zu sein, muß letztlich jede festgefügte Ordnung in Frage stellen. Denn es liefert die Grundlage dafür, neue und andere Welten vorstellbar zu machen; umgekehrt werden alle bestehenden Welten in ihrem Anspruch auf Verbindlichkeit oder gar absolute Wahrheit zumindest relativiert, wenn nicht gar in Frage gestellt oder diskreditiert. Daß die klerikalen Sachwalter eines autoritativ gesetzten Weltbildes der ästhetischen Herausforderung, die die fiktionale volkssprachliche Literatur bedeutet, von Beginn an mit Mißtrauen und Ablehnung begegnet sind, ist bekannt dies zeigt in aller Deutlichkeit eine oft zitierte Stelle aus dem Eingang der Kaiserchronik (Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hg. von Edward Schröder. [MGH. Deutsche Chroniken 1,1] Hannover 1892 [Nachdruck München 1984], V. 2 7 ^ 1 ) . Ob die Kleriker allerdings das tatsächliche Ausmaß der Konsequenzen fiktionalen Erzählens in der Volkssprache erkannt haben, ist fraglich. Vgl. hierzu vor allem Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian 1. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2) München 1982, S. 225, sowie Christelrose Rischer, Literarische Rezeption und kulturelles Selbstverständnis in der deutschen Literatur der „Ritterrenaissance " des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Ulrich Füetrers „Buch der Abenteuer" und dem „Ehrenbrief' des Jakob Püterich von Reichertshausen. Berlin - Köln - Mainz 1973. Peter Strohschneider, Ritterromantische Versepik im ausgehenden Mittelalter. Studien zu einer funktionsgeschichtlichen Textinterpretation der „Mörin" Hermanns von Sachsenheim sowie zu Ulrich Fuetrers „Persibein" und Maximilians I. „ Teuerdank". (Mikrokosmos 14) Frankfurt/M. - Bern - New York 1986, S. 463f.

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Demnach steht 'Ritterromantik' für die pragmatisch-retrospektive Suche nach einem repräsentativen Leitbild, das eine höfisch-elitäre Gesellschaftsschicht in der Literatur einer früheren Epoche findet. Als retrospektiv kann auch die spätmittelalterliche Kodifizierung des Brautwerbungsepos Salman und Morolf bezeichnet werden. Allerdings stehen hier völlig andersgeartete Interessen im Vordergrund, wenn dem Inventar der Tradition geeignetes Material entnommen wird, um mit der Mimikry des Helden im narrativen Akt das Grundprinzip fiktionalen Erzählens selbst zu thematisieren. Dient im Sinne 'ritterromantischer' Rezeption die - zuweilen äußerst reflektierte 63 - Identifikation mit ritterlich-höfischen Wert- und Normvorstellungen dazu, ein fiktives Ideal und damit literarischen Schein im Lebensvollzug umzusetzen, so wird in diesem Brautwerbungsepos nicht nur ein Spiel mit dem Schein inszeniert, sondern zugleich eine identifikatorische Rezeption hintertrieben. Zwar demonstriert der Vasall Morolf mit seiner unbedingten Loyalität die feudaladlige Primärtugend in einer Welt der Triebhaftigkeit und Gewalt; in dieser Hinsicht zumindest könnte ihm Vorbildcharakter zukommen. Doch andererseits ist eine solche dämonisch-zwielichtige Figur, deren Kennzeichen darin besteht, jeden beliebigen darstellen zu können, als Leitbild denkbar ungeeignet. Vielmehr scheint der Bedarf nach Orientierung, der die 'ritterromantisch'-nostalgische Rückschau bedingt, sogar konterkariert, indem gezeigt wird, daß der adlige 'Held' die ihn umgebende Welt erfolgreich desorientieren kann. Neben der Selbstvergewisserung wird aber auch das zweite Movens ritterromantischer Retrospektive gleichsam in pervertierter Form zur Disposition gestellt: die adäquate Selbstdarstellung beziehungsweise Repräsentation einer sozialen Elite. Denn wenn mit Morolf ein Vertreter dieser Elite permanent die Gestalt ändert, wird das Repräsentationsprinzip in dem Maße anarchisch-provokativ mißbraucht und in Frage gestellt, als außen und innen, der an der Oberfläche sichtbare Anspruch und die Wirklichkeit nicht (mehr) übereinstimmen sollen.64 Solche Rollenspiele können in Hinblick auf die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Repräsentiertem und Repräsentant und damit für den ontologischen Nexus zwischen Bezeichnetem und Zeichen, wie sie der mittelalterliche Realismus unter-

63

Vgl. hierzu Strohschneider (Anm. 62), S. 479f., sowie Müller (Anm. 61), S. 228.

64

Laut Horst Wenzel, „Repräsentation und schöner Schein am Hof und in der höfischen Literatur". In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hg. von Hedda Ragotzky und Horst Wenzel. Tübingen 1990, S. 171-208, hier S. 207, stellt mittelalterliche Literatur insoweit repräsentatives Handeln dar, als „der Autor die konsensgesicherten Zeichen höfischer Semantik ähnlich inszenierend einsetzt wie der Adel zur öffentlichen Demonstration seines Status". Für diese Repräsentation zweiter Ordnung ist die Konventionalität der Zeichen Bedingung dafür, „daß die Zeichen selbst jene Wirklichkeit suggerieren, auf die sie zu verweisen scheinen". Eine solche 'Repräsentation einer Repräsentation', die ihre Legitimation daraus ableitet, daß das Als-ob der Inszenierung eine verbindlich-unbezweifelbare Wahrheit vermittelt, wird im Salman und Morolf durch die Inszenierung von nurmehr fingierten Wahrheiten im selbstreferentiellen Rollenspiel ad absurdum gefuhrt.

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stellt, nur als subversiv oder gar destruktiv bezeichnet werden. 6 5 Zusätzliche Brisanz erhält dies dadurch, daß die Selbstinszenierungen M o r o l f s grundsätzlich mit sozialen Grenzüberschreitungen verbunden sind, die z u g l e i c h die m a s s i v e Verletzung einer poetischen Konvention darstellen: E s fällt die Ständeklausel. 6 6 Dabei mutiert der Bruder des Kaisers als Pilger, Krüppel, Metzger, Krämer oder Spielmann z u m unflätig-derben Possenreißer, der nicht nur seine heidnischen Gegner, sondern sogar den höchsten christlichen Herrscher respektlos verhöhnt und mit i h m s e i n e Späße treibt. W o m ö g l i c h ist aber auch e i n e m spätmittelalterlichen Rezipienten schließlich das Lachen i m H a l s e stecken geblieben, als der listige M o r o l f die perfekte M a s k e findet:

Nachdem

er einen ahnungslosen Juden heimtückisch

ermordet

hat,

schlüpft er sprichwörtlich in d e s s e n Haut. D a s Spiel mit der Fiktion, ein anderer zu sein, scheint prinzipiell unbegrenzbar. Vor allem dieses Spiel, das die besondere Art des Erzählens in Salman

und Morolf

kennzeichnet, m u ß auch die Zeit-

g e n o s s e n beeindruckt haben. Nur so ist der fast bewundernde H i n w e i s eines spätmittelalterlichen Erzählers zu deuten, der den Gipfel der Klugheit mit eben jener makabren Handlung gleichsetzt, Wie Morolf sich in sin hüt verwant,

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| Daz man in niht

ein alten Juden

schant

| und

61

erkant.

Wird die Manipulierbarkeit und infolge das Wissen um die Arbitrarität der Zeichen in einem spätmittelalterlichen Brautwerbungsepos derart zentral thematisiert, so hat dies aber nicht nur Folgen fur dessen literaturgeschichtliche Beurteilung in einem Übergangszeitraum. Mehr noch resultieren daraus Konsequenzen für eine Bestimmung des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, vor allem wenn ein solcher Übergang - wie etwa von Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Koppen. Frankfurt/M. 1971 - mit einem epistemologischen Paradigmenwechsel gleichgesetzt wird. Denn nicht erst im 17. Jahrhundert würde dann das Zeichen aufhören, durch Ähnlichkeit mit dem verbunden zu sein, was es markiert (ebd., S. 92). Vielmehr lassen sich hierfür bereits in einem literarischen Text des 15. Jahrhunderts Indizien finden, so daß eine wissenschaftsgeschichtlich gewonnenene Epochenmarkierung im Blick auf einen poetischen Diskurs wenn nicht grundsätzlich zu revidieren, so doch zu relativieren wäre. Mit dieser Grenzüberschreitung, die das Grundprinzip des Erzählens in Salman und Morolf auch auf ständischer Ebene umsetzt, unterscheidet sich das Brautwerbungsepos grundlegend von den spätmittelalterlichen deutschen Fassungen des Dialogus Salomonis et Marcolft: Dort ist - gattungstheoretisch korrekt - ein häßlicher Bauer der abgefeimte Schwankheld, der zotig-derb den weisen König Salomon ins Boxhom jagt und damit das Wissen einer autoritativgelehrten Tradition wie überhaupt die Gesetze des ordo zur Disposition stellt. Zu letzterem vgl. Werner Röcke, Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6) München 1987, S. 103, 115, 125, 133f. Der Hinweis auf die 'Verkleidung' Morolfs steht am Beginn der Erzählung, die bei Friedrich Heinrich von der Hagen mit Alten wibes list überschrieben ist (Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen. Bd. 1. Stuttgart 1850 [Nachdruck Darmstadt 1961], S. 193-205, hier S. 193, V. 3-5).

Klaus Speckenbach (Münster) Riter - geselle - herre Überlegungen zu Iweins Identität

Trotz vielfältiger Bemühungen hat die Forschung bis heute zu keinem Konsens in der Beurteilung des /wew-Romans gefunden. Zwar wird der doppelte Aventiureweg des Protagonisten kaum bezweifelt, doch strittig ist nach wie vor, ob ihn der zweite Kursus zu größerer Vollkommenheit führt, und wenn man das bejaht, worin dann der Mangel des ersten liegt. Für die viel diskutierte Frage nach Iweins Schuld bietet der Text so gut wie keinen Anhalt, so daß dieser Forschungsansatz kaum zu befriedigenden textgestützten Lösungen fuhren kann. Doch lassen sich Iweins Fehlschläge im Kampf gegen Ascalon und in der Fristversäumnis gegenüber Laudine nicht übersehen. Sie sind in meinen Augen überzeugend durch die noch unvollkommen ausgebildete Identität des Helden zu erklären, die, wie ich in Abschnitt I ausführen möchte, durch die drei Rollen des Liebenden, des Artusritters und des Landesherrn bestimmt ist. In Abschnitt II verfolge ich die Rezeption der Episode von Iweins Wahnsinn im 13. und 14. Jahrhundert, um durch den Vergleich unterschiedlicher Lösungen die Eigenart des Iwein im Hinblick auf die Identitätsproblematik sichtbar zu machen.

I Der Schöpfer des Artusromans, Chretien de Troyes, setzt mit seinem Yvain eine Diskussion über das Phänomen der höfischen Liebe fort, die er schon in seinen früheren Romanen, besonders im Lancelot, zu fuhren begonnen hatte.1 Anders als sein deutscher Bearbeiter Hartmann von Aue kann Chretien sich dabei an ein minnetheoretisch kundiges Publikum wenden.2 Nachdem Chretien schon im

Chrestien de Troyes, Yvain. Hg., übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff. (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 2) München 2 1983, Einleitung S. 9. Auf diese Ausgabe beziehen sich die nachfolgenden Versangaben. Vgl. auch Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. (Grundlagen der Germanistik 7) Berlin 2 1977, S. 143ff., 162. Rudolf Voß, Die Artusepik Hartmanns von Aue. Untersuchungen zum Wirklichkeitsbegriff und zur Ästhetik eines literarischen Genres im Kräftefeld von soziokulturellen Normen und christlicher Anthropologie. (Literatur und Leben N.F. 25) Köln - Wien 1983, S. 98; Rüdiger Schnell, Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Lite-

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Klaus

Speckenbach

Prolog auf den Verfall der Liebe in seiner Zeit eingegangen ist (V. 13-28), entwirft er mit der Liebe zwischen Yvain und Laudine ein der Vergangenheit angehörendes Gegenbild. Dabei ist die Entstehung dieser Liebe durchaus nicht unproblematisch, wird doch Yvain von einer übermächtigen Liebe zu Laudine erfaßt, deren Mann er unmittelbar vorher getötet hatte. Laudine entflammt (vgl. V. 1777-1784) nach vorübergehenden Skrupeln und ist sogar zur alsbaldigen Wiederverheiratung bereit. In ihrer Notlage, Quelle und Land verteidigen zu lassen, akzeptiert sie Yvain als Gemahl und Landesherrn (V. 2033-2048) und ist doch bald auch von großer Liebe zu ihm durchdrungen (V. 2139-2147). Chretien erzählt von diesen Geschehnissen unter dem Zeichen der höfischen Liebeslehre in komödienhafter Leichtigkeit. Das rhetorische Verfahren der Personifizierung der Liebe bedeutet - neben der stilistischen Funktion - für das Paar unmittelbar eine Entlastung von jeder Verantwortung. 3 Auch wenn Liebe (Amors) gelegentlich unwürdige Stätten aufsucht, diesmal ist sie bei Yvain „an den Rechten gekommen, hier wird sie in Ehren gehalten werden, und hier mag sie gerne verweilen. [...] sie hat sich an einer vortrefflichen Stätte niedergelassen, und keiner kann sie darum tadeln" (V. 1391-1393; 1404f.).4 Als wahrhaft Liebender unterwirft sich Yvain seiner Minneherrin auf Gedeih und Verderb (V. 1972—1994). Hartmann folgt fur die Entstehung der Liebe seiner Vorlage weitgehend, dabei mildert er die frauenkritischen Partien (vgl. zum Beispiel V. 1869-1888), 5 akzentuiert die Liebe bei beiden Partnern in ausgeglichenerer Weise und erweitert den Anteil der Minnepersonifizierung und damit die Entlastung der Protagonisten entschieden (vgl. V. 1537-1547; 1606f.). Iwein erkennt, daz ich ze vriunde hän erkorn mine tötviendinne, dazn ist niht von minem sinne: ez hat ir [der Minne] gebot getan (V. 1654-1657).

Entsprechend hofft er, daß vrou Minne auch Macht über Laudine gewinnen werde (V. 1623-1646). Tatsächlich kommt es bald dazu, daß die Königin die Rache für Ascalon aufgibt und Iwein von jeder Schuld freispricht: dö was gereite dä bi diu gewaltige Minne,

ratur. (Bibliotheca Germanica 27) Bern - München 1985, S. 456; Horst Brunner, „Hartmann von Aue: Erec und Iwein". In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. nen. Hg. von Horst Brunner. Stuttgart 1993, S. 97-128, hier S. 122. 3 4 5

Interpretatio-

Vgl. Schnell (Anm. 2), S. 253f., 392ff., 413ff. Zitiert wird nach der Übersetzung von Nolting-Hauff: Chrestien de Troyes (Anm. 1). Zitiert wird nach: Hartmann von Aue, Iwein. Hg. von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff. Berlin 7 1968. Auf diese Ausgabe beziehen sich im folgenden die Versangaben.

Überlegungen zu Iweins Identität

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ein rehtiu süencerinne under manne und under wlbe. (V. 2054-2057) 6

Mit Iweins Sieg über Keie und dem ehrenden Besuch von Artus und seinen Rittern hat der Roman seinen ersten Höhepunkt erreicht, Laudine erkennt, daß sie bei ihrer Heirat gut gewählt hat, alrest liebet ir der man (V. 2674). Völlig unvorbereitet trifft sie dann aber Iweins Bitte um urloup. Er will entsprechend Gaweins mahnenden Vorhaltungen seine ritterliche Tüchtigkeit nicht einbüßen und mit ihm auf Turnierfahrt gehen (V. 2913-2921). Nur unter der Bedingung, innerhalb einer Jahresfrist zurückzukehren, gesteht Laudine den plötzlichen Aufbruch zu, der Schutz des Landes und ihres Ansehens verlange unbedingt seine Anwesenheit, ein Ring soll Unterpfand ihrer Absprache sein (V. 2922-2955): ein geziuc der rede (V. 2946). Die wechselseitige Liebe, die über die Trennung Bestand hat, verbildlicht Hartmann mit der Metapher vom Herzenstausch (V. 29902994; vgl. 5457), während Chretien nur davon spricht, daß Yvains Herz bei Laudine zurückbleibt (Yvain, V. 2639-2648). In ihrer Abschiedsrede beruft sich in dem französischen Roman jedoch auch Laudine mehrfach auf ihre Liebe (V. 2564; 2570; 2576) und übergibt einen Ring als Liebesbeweis (V. 2613); er habe die Kraft, einen wahren und treuen Liebenden vor Gefangenschaft zu schützen (V. 2600-2609). Es besteht kein Zweifel, daß Chretien und Hartmann ihre Protagonisten aus einer nahezu hoffnungslosen Lage, die von Blutrache und ohnmächtiger Gefangenschaft bestimmt ist, dank der Hilfe Lunetes, vor allem aber durch das Wirken der Minne in den Glanz höfischer Liebesvollkommenheit gehoben haben. 7 Mögen auch die Turbulenzen beim Entstehen der Liebe durch ironische Erzählweise Distanz beim Publikum gegenüber dem Paar hervorgerufen haben, 8 die entstan6

Von dämonischer Minne als zerstörerischer Schicksalsmacht, die geläutert werden muß, ist hier nicht zu sprechen, wie es Jutta Goheen tut („'Bistuz Iwein, ode wer?' Hartmanns letztes Epos als Spätwerk". In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 1 [1974], S. 47-83, hier S. 75). Siehe dagegen Schnell (Anm. 2), S. 230ff., 440, 509.

7

Vgl. Hedda Ragotzky und Barbara Weinmayer, „Höfischer Roman und soziale Identitätsbildung. Zur soziologischen Deutung des Doppelweges im Iwein Hartmanns von Aue". In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 211-253, hier S. 250; Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche - Werk - Wirkung. München 2 1993, S. 205f. Volker Mertens, Laudine. Soziale Problematik im 'Iwein' Hartmanns von Aue. (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 3) Berlin 1978, S. 6Iff., unterbewertet die Bedeutung der Minne für Hartmanns Laudine. Sie ist liebende Ehefrau und Landesherrin. Vgl. Voß (Anm. 2), S. 57f. Mit Recht betont Mertens bei Laudine den landesherrschaftlichen Aspekt, siehe auch Volker Mertens, „Iwein und Gwigalois - der Weg zur Landesherrschaft". In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 31 (1981), S. 14-31.

8

Vgl. dazu Silvia Ranawake, „Zu Form und Funktion der Ironie bei Hartmann". In: WolframStudien 1 (1982), S. 75-116; Ralf Simon, Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matiere de Bretagne. (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 66) Würzburg 1990, S. 58ff.

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dene Liebe gilt dennoch als vollkommen - und das bleibt auch nicht ohne Rückwirkung auf die Liebenden. Iwein kann seine Liebe trotz Fristversäumnis und Laudines Absage an ihn vollauf bis zur Versöhnung des Paares bewahren; sein Herz ist ihr heimlich zu allen Zeiten zugewandt {Iwein, V. 5190-5192), sie kann nicht aus sinem gemüete verdrängt werden (V. 6506-6510). Entsprechend demonstrieren die Aventiuren des zweiten Kursus auch nicht die Wiedergewinnung und Bewährung einer vorbildlichen Minne, sondern die tätige Hilfe für Bedrängte. Zweimal allerdings sollen Iwein als Siegeslohn Landesherrschaft und Frau zufallen. Das Zurückweisen dieses Angebots stellt deutlich seine Minnetriuwe gegenüber Laudine heraus (V. 3750-3758; 3791-3827; 6799-6827; vgl. auch das keusche Nachtlager [V. 6574-6581]), insbesondere, wenn Iwein seine Ablehnung im deutschen Text mit der Liebe zu einer anderen Frau, eben zu seiner eigenen, begründet (V. 6803-6805). Wie sehr die Minne Antriebfeder für sein Handeln ist, wird in der Zwischeneinkehr bei Laudine und vor seiner endgültigen Rückkehr zu ihr deutlich (V. 5465-5470; 7781-7804). Auch während seiner Turnierfahrt mit Gawein besteht seine Minnebindung an Laudine fort. Zwar verstößt er gegen die gesetzte Frist, doch noch bevor ihn der Bannstrahl Laudines trifft, erinnert er sich seines Wortbruchs: sin herze wart bevangen mit senlicher triuwe: in begreif ein selch riuwe daz er sin selbes vergaz und allez swigende saz. (V. 3088-3092)

Laudines öffentliche Absage an Iwein ist bei Chretien und Hartmann unterschiedlich akzentuiert. Der französische Roman stellt Laudine als Minneherrin heraus und konzentriert sich auf den Vorwurf an Yvain, Laudine nicht wirklich geliebt zu haben. Er habe sich als wahrhaft Liebender nur aufgespielt, dann aber verräterisch ihr Herz gestohlen und es nicht sorgfaltig gehütet. Während sie in ihrer Sehnsucht jede Stunde und jeden Tag seiner Abwesenheit gezählt habe, habe er keinen Gedanken an sie verschwendet {Yvain, V. 2722-2761). Da Laudine von Yvain nichts mehr wissen will, nimmt ihm die Botin den als Liebespfand übergebenen Ring wieder ab (V. 2767-2777). Laudine als Minneherrin erweckt den Anschein, als ob Yvain im Minnedienst versagt und sogar in böser und heimtückischer Absicht mit ihrer wahren Liebe gespielt habe. Noch in der Versöhnungsszene erneuert Laudine den Vorwurf, daß er sie „weder liebt noch achtet" (V. 6763). Der Charakter der Bewährungsaventiuren widerspricht jedoch einer solchen Beurteilung Yvains entschieden, da sie dem Helden die Bewährung in tätiger Hilfe und nicht in der Minne abverlangen. Ganz offensichtlich hat Hartmann die Absage Laudines, die bei ihm Lunete überbringt, besser in sein Gesamtkonzept eingepaßt. Einerseits stellt der deutsche Erzähler eine Minne dar, die nicht als fin' amors, sondern wie im Erec als partnerschaftliche Eheliebe zu verstehen ist, andererseits betont er den landesherrschaftlichen Aspekt. Entspre-

Überlegungen zu Iweins Identität

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chend ist vom Versagen in der Liebe in der langen Anklage (Iwein, V. 3111— 3196) überhaupt nicht die Rede, sie kreist vielmehr um die triuwe, die Iwein abgesprochen wird, weil er seine Aufgabe als Ehemann und Landesherr nicht erfüllt hat.9 Statt die Beschützerfunktion auszuüben, bringt seine lange Abwesenheit Laudine in Gefahr, Ansehen und Leben zu verlieren (V. 3133-3136). Im Vertrauen auf Iweins Tüchtigkeit hatte Laudine sich und ihr Land an ihn übergeben (V. 3155-3159), nun erkennt sie nur Schmach, die er ihr bereitet (V. 3132), fühlt sich von ihm verlassen und widerrechtlich wie eine Kebse verstoßen (V. 3171). Insofern habe er als Verräter (V. 3118) zu gelten, dessen Worte und Gesinnung nicht übereinstimmen (V. 3125f.). Diese Vorwürfe und die Aufkündigung jeder Gemeinschaft mit Iwein stoßen ihn in bodenlose Verzweiflung, er wird wahnsinnig. Er verlos sin selbes hulde: (V. 3221) [...] dö wart sin riuwe also gröz daz im in daz hirne schöz ein zorn unde ein tobesuht (V. 3231-3233).

Hartmann beschließt diese Episode mit einem Erzählerkommentar, der Iweins wahres Wesen gegen die Einschätzung Laudines hervorhebt. Er war stets ein rehter adamas | riterlicher tugende (V. 3257f.), heißt es da. Wenn der Erzähler gleichzeitig vrou Minne verantwortlich für die Wirkung der Anklage, und das heißt für die Entstehung des Wahnsinns macht (V. 3254—3256), dann ist das durchaus auch als positive Aussage zu werten: Iweins Liebe zu Laudine ist so groß, daß der Entzug ihres Wohlwollens den Verlust seiner Identität herbeiführt. Die Schwere seiner Erkrankung verdeutlicht die Intensität seiner Bindung an die geliebte Frau.10 Neben deren Verlust wird Iweins Erschütterung durch die Einbuße an Ansehen11 und Herrschaft ausgelöst, aber auch durch treue Gesinnung und späte Reue (V. 3201-3215). Was Iwein auf dem ersten Aventiureweg nicht gelingt, nämlich einen Ausgleich zwischen seiner Rolle als liebender Ritter und der Sicherheit und Ansehen garantierenden Rolle als Ehemann und Landesherr herbeizuführen, stellt sich ihm im zweiten Kursus als die entscheidende Aufgabe.

9

10 11

Mertens, Laudine (Anm. 7), S. 6; ders., „Iwein und Gwigalois" (Anm. 7), S. 15f., 23; Hubertus Fischer, Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns Iwein. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 3) München 1983, S. 73, 78; Otfrid Ehrismann, „Laudine - oder: Hartmanns Iwein postmodern". In: Sammlung - Deutung - Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. (FS Wolfgang Spiewok) Hg. von Danielle Buschinger. Stuttgart o.J. [1989], S. 91-100, hier S. 94; Brunner (Anm. 2), S. 123ff. Peter Wapnewski, Hartmann von Aue. Stuttgart ?1979, S. 76. Dieser richtige Aspekt wird von Fischer (Anm. 9), S. 36 u.ö., einseitig verabsolutiert.

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Es geht um die Findung und Ausbildung einer Identität, die über die traditionelle Bestimmung durch Minne und Artusrittertum hinausgeht.12 Bis ins Hochmittelalter, so hat Luckmann ausgeführt, wurde persönliche Identität immer sozial hergestellt, das heißt, die Rollenerwartung der Gesellschaft und nicht eigenständige Reflexion bestimmt (fast) ausschließlich das Selbstverständnis des einzelnen Menschen.13 Identität entwickelt sich von außen nach innen, die Fähigkeit zu wechselseitiger 'Spiegelung' in den Mitgliedern der Gesellschaft ist Voraussetzung für die Ausbildung einer persönlichen Identität.14 „Dem einzelnen wird 'Verantwortung' für seine Handlungen von anderen Menschen aufgezwungen."15 „Der bloße Entzug der sozialen Approbation [konnte] zum Verlust der persönlichen Identität und zum Tod führen."16 Diese Feststellungen treffen präzise auf Iweins Situation zu, nicht nur auf den Ausbruch seiner Krankheit, was sofort einleuchtet, sondern auch auf die schrittweise Ausbildung seines Selbstverständnisses, bei der er lernt, der dreifachen Rollenerwartung als riter, geselle und herre zu entsprechen. Die Ausbildung von Iweins Identität läuft nicht mechanistisch ab, sondern gestaltet sich ganz individuell. Der Prozeßcharakter wird im Romangeschehen ausgefaltet und gleichzeitig die Vorbildfunktion der erweiterten Identität bewußt gemacht. Ich gehe auf diese Frage anhand von Hartmanns Roman ein und kann mich dabei zum Teil auf Ausführungen von Hedda Ragotzky und Barbara Weinmayer stützen, die mit anderer Akzentuierung

12

13

14

15 16

Schon im Erec spielt der Aspekt der Landesherrschaft eine nicht unbedeutende Rolle, s. Uwe Ruberg, „Die Königskrönung Erecs bei Chretien und Hartmann im Kontext arthurischer Erzählschlüsse". In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 99 (1995), S. 69-82, hier S. 75, 78f. Thomas Luckmann, „Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz". In: Identität. Hg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle. (Poetik und Hermeneutik 8) München 1979, S. 293-313, hier S. 294; siehe auch Fischer (Anm. 9), S. 96f.; Burkhart Krause, „Zur Psychologie von Kommunikation und Interaktion. Zu Iweins 'Wahnsinn'". In: Psychologie in der Mediävistik. Hg. von Jürgen Kühnel u.a. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 431) Göppingen 1985, S. 215-242, hier S. 234. Luckmann (Anm. 13), S. 299; Aaron J. Gurjewitsch, Das Individuum im europäischen Mittelalter. Aus dem Russischen von Erhard Glier. München 1994, S. 244f., spricht von einem sozial determinierten Individuum, vgl. ebd., S. 118, 208, 304. Max Wehrli, „Zur Identität der Figuren im frühen Artusroman. In: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. (FS Heinz Rupp) Hg. von Rüdiger Schnell. Bern - Stuttgart 1989, S. 48-57, erkennt keine persönliche, sich entwickelnde Identität im frühen Artusroman (S. 55), gleichwohl verzeichnet er eine gesellschaftliche Einwirkung auf die Identität der Romanfiguren (S. 53f.). Gerhard Hahn, „Zu den /'c/j-Aussagen in Walthers Minnesang. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988. (FS Karl-Heinz Borck) Hg. von Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, S. 95-104, hier S. 96, betont, daß der Sänger Individualität nicht „aus sich selbst", „sondern aus der totalen Ausrichtung auf einen Anderen, Höheren, Vollkommenen: die Minnepartnerin" gewinnt. Luckmann (Anm. 13), S. 299. Ebd., S. 304.

Überlegungen zu Iweins Identität

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der Frage der sozialen Identität im Iwein nachgegangen sind, die sie allerdings nur für den zweiten Kursus als gegeben ansehen.17 Wenn Iwein wiederholt sein Handeln nicht reflektiert18 und er es unter dem Zwang der Profilierung auf Keies spöttische Reden ausrichtet, dann akzeptiert er durch diese 'Spiegelung' dessen Normensystem, das - abgesehen von dem hämischen Hohn - von einem erstarrten und verzerrten Leistungs- und Erfolgsdenken bestimmt ist und der Artusidealität durchaus nicht entspricht (siehe Prolog). So kommt es unter Hinweis auf Keies beanspruchte Instanzfunktion zur Verfolgung Ascalons (V. 1056-1074), die mit dessen Tod und Iweins Gefangenschaft endet, ohne daß er irgendeinen Siegesbeweis in den Händen hielte.19 Daß Iwein seine Handlungsorientierung zu Beginn des zweiten Aventiureweges neu ausgerichtet hat, zeigt die Verfolgung des Grafen Aliers, die bei aller beziehungsreichen Parallelität zum Ascalon-Kampf mit der Gefangennahme des Grafen und eben nicht mit seinem Tod endet (V. 3766-3781).20 Aus seiner unrühmlichen Lage auf der Burg Ascalons wird Iwein durch Lunete und vrou Minne befreit, die mit ihrer Macht alle Skrupel gegenüber Keie überwindet (V. 1519-1554) und bald auch Laudine und Iwein zusammenfuhrt. In seiner großen Liebe unterwirft sich Iwein der Königin auf Leben und Tod und erkennt sie als neue unbedingte Autorität an (V. 2282-2294).21 Die Lösung von Keie wird mit Iweins Sieg über ihn glänzend demonstriert. Als Artus aus der Quelle schöpft und durch den Guß auf den Stein das Unwetter auslöst, ist Iwein zum ersten Mal als Landesherr herausgefordert, Quelle und Land zu verteidigen. Diese Schützerfunktion tritt dann aber ganz zurück gegenüber der Überwindung Keies und seines falschen Instanzenanspruchs (V. 2557-2600). Die Anerkennung der Artusgesellschaft und besonders die Freundschaft des arturischen Musterritters Gawein (V. 2616-2623) ersetzen die ungerechtfertigte Ausrichtung an Keie.22 Gaweins Rollenerwartung gegenüber Iwein entspricht dessen schnelle Bereitschaft zur 17

Ragotzky und Weinmayer (Anm. 7), S. 224. Siehe auch Timothy McFarland, „Narrative Structure and the Renewal of the Hero's Identity in Iwein". In: Hartmann von Aue. Changing Perspectives. London Hartmann Symposium 1985. Hg. von Timothy McFarland und Silvia Ranawake. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 486) Göppingen 1988, S. 129-157.

18

Rüdiger Schnell, „Abaelards Gesinnungsethik und die Rechtsthematik in Hartmanns Iwein". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991), S. 15-69, hierS. 33.

19

Ragotzky und Weinmayer (Anm. 7), S. 218. Zu den jungen Rittern, den iuvenes, siehe McFarland (Anm. 17), S. 142. Simon (Anm. 8), S. 33ff., sieht für den Iwein eine Überschneidung des Feenmärchenschemas mit dem Artusschema. Mit der Gefangennahme Aliers' korrigiert das Artusschema die Tötung des Wächters des Feenreiches (Ascalon) (ebd., S. 54). Vgl. ähnlich schon Wapnewski (Anm. 10), S. 80f.; Peter Kem, „Interpretation der Erzählung durch Erzählen. Zur Bedeutung von Wiederholung, Variation und Umkehrung in Hartmanns Iwein". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), S. 338-359.

20

21

Vgl. Ragotzky und Weinmayer (Anm. 7), S. 219ff., 226.

22

Vgl. ebd., S. 222f„ 227.

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Turnierfahrt mit dem Freund. Iweins Identität ist zu diesem Zeitpunkt durch vorbildliche Minne und Ritterschaft bestimmt und durch entsprechende 'Spiegelungen' in Laudine und Gawein angemessen ausgebildet. Die Liebes- und Ehegemeinschaft zwischen Laudine und Iwein kommt unter verschiedenartigen Voraussetzungen zustande. Während Iwein ausschließlich der Macht der Minne folgt und auf den Erwerb der Landesherrschaft keinen einzigen Gedanken richtet, ist Laudine zunächst auf Sicherung der Quelle und des Landes aus, Minne ist von der positiven Regelung dieser Frage abhängig (V. 1909-1916; 2310-2333). Iwein ist mit der Heirat zwar Landesherr geworden, aber diese Rolle ist so wenig in sein Bewußtsein eingedrungen, bestimmt so wenig sein Selbstverständnis, daß für ihn - wie auch fur Gawein - die Verpflichtung als König, das Land zu schützen, kein Hinderungsgrund ist, so bald nach Eheschließung und Herrschaftsübernahme auf Turnierfahrt zu gehen. Gaweins Plan ist sicherlich in guter Absicht gefaßt, aber praktisch fuhrt er Iweins Krise mit herauf: Her Gawein sin geselle \ der wart sin ungevelle (V. 3029f.; vgl. 3052-3056), weil er Iweins Identität nicht von der Landesherrschaft, sondern ausschließlich von Minne und Artusritterschaft bestimmt sieht.23 Entsprechend gehen seine Argumente mit den Erec-Erinnerungen und den Haushaltersorgen gänzlich an den Gegebenheiten vorbei (V. 2770-2912). Iwein nimmt Abschied von Laudine als der geliebten Frau: ouch swuor er, des in diu liebe twanc, in düht daz eine jär ze lanc, unde ern sumde sich niht me, er käme wider, möhter, e (V. 2929-2932).

Gegen Tränen müssen beide ankämpfen (V. 2960-2968), der Herzenstausch steht fur ihre Liebesgemeinschaft auch über die Trennung hinaus, aber von der Herrschaftsproblematik spricht nur Laudine, und sie täuscht sich, wenn sie ein entsprechendes Denken bei Iwein voraussetzt: Si sprach 'iu ist daz wol erkant daz unser ere und unser lant vil gar üf der wäge lit, ir enkumt uns wider enzit, daz ez uns wol geschaden mac. [...]' (V. 2935-2939)

Gerade weil Iwein Aufgaben als Ehegemahl und König nicht als Kennzeichen seiner Identität begreift,24 weil er sich in Laudine nicht als Herrschender 'spie23

Vgl. Ranawake (Anm. 8), S. 100f.; William Henry Jackson, Chivalry in Twelfth-Century Germany. The Works of Hartmann von Aue. (Arthurian Studies 36) Cambridge 1994, S. 217— 226. - Die Verurteilung Gauvains ist bei Chrötien noch deutlichen Yvain, V. 2668f.

24

Vgl. Fischer (Anm. 9), S. 77; Cormeau und Störmer (Anm. 7), S. 216; mit einem kommunikationstheoretischen Ansatz erörtert diesen Zusammenhang Krause (Anm. 13), S. 224ff.

Überlegungen zu Iweins Identität

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gelt', wie er sich in Gawein als Ritter erkennt, versäumt er die Frist. Natürlich ist Iweins Ausbleiben auch als ein Verstoß gegen die Minne zu Laudine zu betrachten. Chretien hatte ihn ja gerade zum Thema der Absage Laudines gemacht (.Yvain, V. 2722-2777). Bei Hartmann dagegen tritt diese Frage hier in den Hintergrund, denn Laudine spricht nur von Iweins Aufgaben als Landesherr (Iwein, V. 3111-3196). Doch die ungebrochene Qualität seiner Liebe scheint auf in der sehnenden Erinnerung unmittelbar bevor Lunete ihre vernichtende Botschaft ausrichtet (V. 3088-3092). Die These des Romans, daß Minne und Ehe vereinbar seien, kann am Ende des ersten Kursus nicht bestätigt werden, weil Iwein beide Lebensformen nur scheinbar zu verbinden weiß. Erst als seine Identitätsfindung im zweiten Kursus gelingt, ist mit der Versöhnung des Paares die Ausgangsfrage des Romans einer positiven Lösung zugeführt. In den letzten Jahren sind mehrere medizinhistorisch ausgerichtete Arbeiten zu der Episode von Iweins Wahnsinn erschienen.25 Wir wissen durch sie, daß Iwein an Melancholia im mittelalterlichen Sprachgebrauch (vgl. Yvain, V. 3005) erkrankt ist. Sie geht auf das Schockerlebnis einer schweren Gemütsbewegung zurück, äußert sich durch ganz bestimmte Symptome,26 erfaßt die drei Verstandeskräfte imaginatio, ratio und memoria27 und wird nur durch von außen kommende Hilfsmittel geheilt. Die konkrete Schilderung des Wahnsinns zeigt an der Wende vom ersten zum zweiten Kursus Iwein am Tiefpunkt seines Weges. Die nur unvollkommen ausgebildete Identität fuhrt zum Versäumen der Frist, die 25

26 27

Wolfram Schmitt, „Der 'Wahnsinn' in der Literatur des Mittelalters am Beispiel des Iwein Hartmanns von Aue". In: Psychologie in der Mediävistik (Anm. 13), S. 197-214; HeinzGünter Schmitz, „Iweins 'zorn' und 'tobesuht'. Psychologie und Physiologie in mittelhochdeutscher Literatur". In: Sandbjerg 85. Dem Andenken von Heinrich Bach gewidmet. Hg. von Friedhelm Debus und Ernst Dittmer. Neumünster 1986, S. 87-111, hier S. 101-103; Lambertus Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue. Im Anhang: Bernhard Dietrich Haage, Die Heilkunde und Der Ouroboros. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 103) Amsterdam - Atlanta/GA 1993, hier Haage, S. 535-539. Die Arbeit von Michael Graf, Liebe - Zorn - Trauer - Adel. Die Pathologie in Hartmann von Aues [!] 'Iwein'. (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 7) Frankfurt/M. - New York - Paris 1989, ist nur bedingt brauchbar. Graf überzieht seine medizinhistorische Interpretation und setzt voraus, daß Autor wie Publikum Spezialisten in lateinischer, höchst disparater Fachliteratur gewesen seien. Zu der Ansicht von Graf (S. 183f.), Iwein sei nicht nur an der Melancholia, sondern von Anfang an auch an der Liebeskrankheit (Amor hereos) erkrankt, siehe kritisch Haage, S. 535ff., 539, 545; vgl. auch Bernhard Dietrich Haage, „'Amor hereos' als medizinischer Terminus technicus in der Antike und im Mittelalter". In: Liebe als Krankheit. Hg. von Theo Stemmler. Mannheim 1990, S. 31-73; Werner Hoffmann, „Liebe als Krankheit in der mittelhochdeutschen Lyrik". In: Ebd., S. 221-257; Friedrich Wolfzettel, „Liebe als Krankheit in der altfranzösischen Literatur. Überlegungen zu einer Funktionalisierung des Topos". In: Ebd., S. 151-186, hierS. 169. Vgl. dazu Haage, Heilkunde (Anm. 25), S. 536f. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Übers, von Christa Buschendorf. Frankfurt/M. 1990 (Originalausgabe London - New York 1964), S. 146.

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Antwort darauf ist der vernichtende Entzug der gesellschaftlichen Anerkennung durch Laudine. Der Verlust seiner selbst ist für Iwein so vollständig, weil Laudines öffentliche Absage (durch Lunete) am Artushof erfolgt und weil er ohne ihre Liebe nicht leben kann. Wenn Iweins Wahnsinn auch als ein medizinisches Phänomen beschrieben ist, so ist der Krankheitsbericht gewiß kein Selbstzweck. Er markiert vielmehr eine Krise des Protagonisten, die ich im Hinblick auf die Identitätsproblematik weiter verfolgen möchte. Mit dem Auffinden des Kranken und seiner Heilung durch die Feensalbe 28 beginnt der zweite Aventiureweg als Erneuerung der Identität des Helden, bis er zum Schluß die soziale Approbation der Artusgesellschaft und Laudines als geliebter Frau und Landesherrin wieder errungen hat. Dabei ist es von grundlegender Bedeutung, daß Iwein nun mit Aventiuren konfrontiert wird, die Hilfe, Schutz und christliches Erbarmen für Bedrängte und Notleidende herausfordern 29 und nicht unreflektierte Selbstbestätigung wie im ersten Kursus die bewußt gesuchte Quellenaventiure oder die Turniere. Durch das Bestehen der vom Autor so bezeichnend abgewandelten Aventiuren wächst Iwein eine neue Identität zu, die auch der Beschützerrolle des Landesherrn gerecht wird. Durch wiederholte Reflexionen des Helden wird der Prozeß der Selbstvergewisserung und -erkenntnis auch fur das Publikum nachvollziehbar. Als die Gräfin von Narison mit ihren zwei Zofen den wahnsinnigen Iwein schlafend am Wegesrand findet, erkennt die eine Zofe ihn trotz seiner Nacktheit und Entstellung durch die Krankheit. Ihre Aufmerksamkeit ist dadurch besonders geschärft, daß überall von dem verschollenen Iwein die Rede gewesen ist, eine Narbe gibt ihr die letzte Sicherheit (V. 3370-3382). Ob die Zofe auch etwas von der schmählichen Absage Laudines an ihn weiß, bleibt offen, ist aber nicht sehr wahrscheinlich, äußert sie sich doch uneingeschränkt lobend über ihn und rechnet, wenn nur eine Heilung gelingt, mit seiner Hilfe gegen den ihre Herrin immer wieder bedrängenden Grafen Aliers (V. 3407-3418). Die Ursache der Erkrankung fuhrt sie auf Gift oder Minne zurück (V. 3404-3406). Damit sind noch vor der Überwindung des Wahnsinns mit der Liebe und der ritterlichen Tüchtigkeit die zwei Wesensmerkmale hervorgehoben, die bislang Iweins Identität zentral bestimmten. Sein späterer Erfolg gegenüber Aliers rechtfertigt die Hoffnungen, die man in ihn gesetzt hat. Iwein selbst hat größere Schwierigkeiten, zu seiner alten Identität zurückzufinden. Als er von der Salbung geheilt erwacht und wieder zur Sprache gefunden 28

Der magische Charakter der Salbe erscheint stark reduziert, er ist auf den Hinweis beschränkt, von Feimorgan zu stammen (V. 3423-3425).

29

Ähnlich Ragotzky und Weinmayer (Anm. 7), S. 231; vor allem aber Ingrid Hahn, „güete und wizzen. Zur Problematik von Identität und Bewußtsein im Iwein Hartmanns von Aue". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 107 (1985), S. 190-217, bes. S. 196ff.; Schnell (Anm. 18), S. 36. Gegen eine neue, erweiterte Identität sprechen sich aus Voß (Anm. 2), S. 87, 99, 126, 146, 148, 161, und Fischer (Anm. 9), S. 70, 104ff„ 134, 197.

Überlegungen zu Iweins

Identität

125

hat, reflektiert er in einem langen Monolog über sich und seine gesellschaftliche Zugehörigkeit. Diese Selbstbesinnung hat Hartmann unabhängig von seiner Vorlage eingefugt, was seine besondere Aufmerksamkeit gegenüber dem Identitätsproblem unterstreicht. 30 Iwein erwacht nicht aus einem Traum, 31 vielmehr hält er sein vergangenes Leben für einen solchen, weil er die wiedergewonnene Erinnerung an seine frühere Existenz nicht mit seinem gegenwärtigen Zustand zur Deckung bringen kann. Ein Bewußtsein von seiner Erkrankung fehlt ihm vollständig, und damit fehlt auch jede Einsicht, wie oder durch wen er in diese erbärmliche Lage gekommen ist. Ob er je etwas über sein Waldleben erfährt, verschweigt der Erzähler. Iwein rekapituliert zunächst die wichtigsten Stationen seines Lebens als angebliche Traumbilder (V. 3515-3539). 32 Dann aber entsteht wie bei Gregorius im Kloster eine innere Gewißheit seiner ritterlichen Art: 33 swie gar ich ein gebüre bin, ez turnieret al min sin. min herze ist minem libe unglich: min lip ist arm, daz herze rich. (V. 3573-3576)

Schließlich entdeckt er die bereitgelegten höfischen Kleider, die ihm aus dem angeblichen Traum so vertraut sind (V. 3584-3594). Er legt sie an: als er bedahte die swarzen lieh, \ do wart er einem riter glich (V. 3595f.). Offensichtlich ist Iwein nun wieder ein Ritter. Anders als bei dem jungen Parzival mit dem Torengewand unter der Rüstung ist hier die Schwärze der Haut ohne Signalwirkung. Bäder und gute Pflege auf der Burg der Gräfin von Narison kräftigen ihn vollständig, die schwarze Farbe verliert sich allmählich (V. 3695f.), bis er die auf ihn gesetzten Erwartung mit dem Sieg gegen Aliers erfüllen kann. Im sinnfälligen Rückbezug auf die Erwerbung von Laudine und ihres Landes lehnt Iwein jetzt Heirat und Herrschaftsübernahme ohne Nennung von Gründen ab. Man wird dies hier wie dann auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer als inwwe-Beweis gegenüber Laudine zu verstehen haben (V. 3750-3758; 37913827; 6799-6827). Durch die Antragung einer Landesherrschaft wird aber auch deutlich, daß man Iwein für fähig hält, eine solche erfolgreich auszuüben. Daß eine Situation herbeigeführt würde, in der er als Landesherr tatsächlich dieses Vertrauen rechtfertigte, verbietet die Handlung des Romans, die auf die Wieder30

Siehe auch Hahn (Anm. 29), S. 203,212.

31

Vgl. Goheen (Anm. 6), S. 47, 63ff. Iwein verschmähe die trügerischen Mächte des Traums (S. 64). Der Traum stehe als eine Art Zwischenwelt zwischen der geistigen Umnachtung und der Wachheit des erlösten Iwein (S. 65).

32

Die einzelnen Stationen werden dabei wenig präzise aufgerufen, wenn es z.B. heißt: mir ervaht min eines hant \ ein vrouwen und ein richez lant (V. 3527f.). Als ob dies Zweck und Ergebnis des Kampfes mit Ascalon gewesen wäre!

33

Gregorius, V. 1569-1624. Wolfgang Mohr, „Iweins Wahnsinn. Die Aventiure und ihr Sinn". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 100 (1971), S. 73-94, hier S. 84; McFarland (Anm. 17), S. 138-142; Jackson (Anm. 23), S. 214-217.

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zusammenführung Laudines und Iweins ausgerichtet ist. Die Herrschaft in einem zusätzlichen Land, die ja mit der Heirat der Erbin verbunden wäre, könnte nur zu unüberwindbaren Diskrepanzen fuhren. Daher muß es genügen, Iwein in der Ausübung seiner Schutzfunktionen zu zeigen, die der Rolle des Landesherrn entsprechen. Ob Iwein nach der Heilung soweit wieder zu sich selbst gefunden hat, daß er sicher weiß, wer er ist, kann nicht eindeutig gesagt werden. Die Frage zu Beginn seiner Selbstreflexion 'bistüz Iwein, ode wer?' (V. 3509), bleibt unbeantwortet. Er nennt sich nicht mit Namen, und, obwohl man ihn doch auf der gräflichen Burg erkannt hat (vgl. V. 3372-3386; 3400-3403), wird jede namentliche Anrede vermieden. Mir scheint, daß Iwein seiner selbst erst wieder ganz gewiß ist bei dem erneuten Zusammentreffen mit Lunete an der zauberwirkenden Quelle.34 Iweins Wahnsinn hat vorübergehend mit seiner Erinnerung seine Identität vernichtet, die Erkrankung und das Leben im Wald als der Gegenwelt des Hofes machen eine 'Spiegelung' in der Gesellschaft unmöglich. Iwein geht aus dieser Krankheit weder geläutert noch erlöst oder auf eine höhere Daseinsstufe gehoben hervor. 35 Vielmehr muß er nach der Heilung zu neuer Selbstvergewisserung gelangen. Auf dem Weg dahin hilft ihm seine Reflexion über seine angeborene Art und seine rechte Gesinnung, 36 die als Traum erlebte Rückerinnerung an sein früheres Leben und die Erwartung am Hof von Narison, die an den Ruhm Iweins vor der Katastrophe anknüpft. Entsprechend erwirbt Iwein sehr rasch eine ritterliche Identität zurück, die weitgehend der verlorenen entspricht. Das Minnethema bleibt bezeichnenderweise von Iwein ausgespart. Indem er mit seinem Kampf eine Dankesschuld für die Heilung erbringt (V. 3723-3727), wird zum ersten Mal von einem Beistand fur Hilfsbedürftige erzählt. Dieses Motiv findet sich nun

34

Ähnlich Cormeau und Störmer (Anm. 7), S. 213.

35

In Übereinstimmung mit Harold B. Willson, „Love and Charity in Hartmann's Iwein". In: Modern Language Review 57 (1962), S. 216-227, und Arthure T. Hatto, „'Der aventiure meine' in Hartmann's Iwein". In: Medieval German Studies. (FS Frederick Norman) London 1965, S. 94-103, interpretiert Max Wehrli, „Iweins Erwachen" [1969], In: Hartmann von Aue. Hg. von Hugo Kuhn und Christoph Cormeau. (Wege der Forschung 359) Darmstadt 1973, S. 491-510, Iweins Erkrankung, Heilung und Erwachen als eine symbolische Darstellung christlich-biblischer Vorstellungen. Sein Erwachen nehme einen österlichen Sinn an (S. 493). Dagegen stellt Alois Wolf, „Erzählkunst und verborgener Schriftsinn. Zur Diskussion von Chretiens Yvain und Hartmanns Iwein". In: Sprachkunst 2 (1971), S. 1-42, die sinnbildlich-christliche Deutung des Iwein mit starken Argumenten in Frage. David Wells, „The Medieval Nebuchadnezzar. The Exegetical Tradition of Daniel IV and its Significance for the Ywain Romances and for German Vernacular Literature". In: Frühmittelalterliche Studien 16 (1982), S. 380-432, bezweifelt die Möglichkeit einer allegorischen Deutung (S. 390). Aber auch der unmittelbare Einfluß Nebukadnezars als Prototyp des Wahnsinnigen ist um 1200 nicht wahrscheinlich und nicht nachzuweisen (S. 419, 431).

36

Die Bedeutung von Reflexion und Gesinnung im zweiten Kursus hebt Schnell (Anm. 18), S. 33, 3 5 f f , mit Hinweis auf Abaelards Gesinnungsethik hervor. Vgl. auch Hahn (Anm. 29), S. 205,209f.

Überlegungen zu Iweins

Identität

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verstärkt in allen weiteren Aventiuren des zweiten Kursus. Sie werden so gewichtet, daß deutlich wird, wie sehr das helfende Erbarmen und die Wiederherstellung von Recht neben der zwischenmenschlichen Komponente auch eine auf Gott bezogene besitzt (vgl. V. 3261-3263; 4958-4964; der Kampf für Lunetes Recht mit Gott und der Wahrheit als Mitstreiter: V. 5163-5171; 5275f.; 5482; siehe auch 642 lf; 7628), 37 was ganz zur Kennzeichnung und Profilierung von Herrschaft paßt, wie sie etwa in den Fürstenspiegeln dargestellt ist. 38 Die Transparenz für den religiösen Hintergrund zeichnet diese Aventiuren ebenso aus wie die Erwartung von Hilfe und Befreiung, der immer entschiedener und bewußter Iweins Bereitschaft zur helfenden Tat entspricht (vgl. etwa V. 3846-3859; 3866f.; 6002-6004). Iweins als Traum mißdeutete Erinnerung an sein früheres Leben hebt besonders sein Dasein als Ritter hervor. Aber auch der Erwerb von Frau und Land wie der Entzug der Gunst seiner Dame wegen der Fristversäumnis stehen ihm vor Augen (V. 3527-3539). Damit werden im Hinblick auf seine Identität insbesondere seine Rollen als riter und geselle aufgerufen. Erst als sein Weg ihn ohne bewußte Planung ein drittes Mal zu Laudines Quelle fuhrt, kommt auch die Rolle des herren wieder ins Spiel. Mit dem Erkennen der Örtlichkeit weiß er schlagartig, daß sein angeblicher Traum eine Erinnerung an sein konkretes Leben gewesen ist. dö wart sin herze des ermant wie er sin ere und sin lant hete verlorn und sin wip. (V. 3933-3935)

Eine neue Erschütterung raubt ihm die Besinnung, und er stürzt ohnmächtig vom Pferd (V. 3936-3943). Für kurze Zeit droht noch einmal ein Selbstverlust wie durch den Wahnsinn. 39 In der sich anschließenden verzweifelten Klagerede stellt sich Iwein ungeschützt seinem früheren Leben. Er erkennt, daß er das Wohlwollen seiner Herrin und damit sein ganzes Glück verloren hat (V. 3961-3992), er weiß auch, daß er allein dafür verantwortlich ist (V. 4006-4010; 4216-4219). Dabei geht es nun auch um den Verlust der Landesherrschaft: diz ist ir ere unde ir lant: daz stuont e in miner hant, daz mir des Wunsches niht gebrast (V. 3989-3991).

Die bittere Einsicht in seine Lage läßt ihn sich mit dem törichten Hahn der Fabel vergleichen, der mit einem kostbaren Fund wie Perle, Edelstein oder Gold nichts 37 38

39

Siehe Hahn (Anm. 29), S. 196ff. Vgl. Hans H. Anton, „Fürstenspiegel. Lateinisches Mittelalter". In: Lexikon des Mittelalters 4 (1989), Sp. 1040-1049, hier Sp. 1041, und Ursula Schulze, „Fürstenspiegel [...]. Deutsche Literatur". In: Ebd., Sp. 1051. Vgl. bei der Zwischeneinkehr, als Iwein Laudine erstmalig wiedersieht: V. 5194-5198.

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anfangen kann (V. 4251-4255). Die ganz unerwartete und nicht erstrebte Landesherrschaft bot Iwein Machtmittel und Ansehen (V. 3971-3973; 4250), die er ebensowenig sinnvoll hat nutzen können. 40 Torheit kennzeichnete seinen Zustand schon, bevor er wahnsinnig wurde, erst die schmerzliche Konfrontation mit der Vergangenheit weckt ein Bewußtsein seiner verpaßten Gelegenheit: äne senede swcere | so lebet ich vrilichen als e (V. 3982f.). Im Innewerden seines ganzen Verlustes {ere, schcenez wtp, lant) erkennt Iwein die reduzierte Existenz seines gegenwärtigen Lebens, der Selbstmord scheint ihm der einzige Ausweg zu sein (V. 3994-4000). Als er dann aber von Lunetes Notlage erfährt, die er mit zu verantworten hat, gesteht er zu, daß sie noch größeres Leid zu ertragen hat als er selbst (V. 4075-4079). Ausdrücklich bezieht er sein Hilfsversprechen auf die Königswürde, die er Lunete verdankt: Ez ist reht daz ich iu löne der erbceren kröne die ich von iuwern schulden truoc.

(V. 4247-4249)

Seine Aufmerksamkeit wird von seinem persönlichen Kummer auf die aktive Hilfe für die zu unrecht bedrohte Lunete gelenkt (V. 4079), 41 zum ersten Mal nach dem Waldleben gibt er sich mit seinem Namen zu erkennen: ich binz Iwein der arme (V. 4213). Wie für den armen Heinrich signalisiert das Attribut die Einbuße an gesellschaftlicher Akzeptanz und damit eine nur unvollkommen ausgebildete Identität des Helden. Iwein zieht voller Scham daraus die Konsequenz und verschweigt künftig seinen Namen. Als namenloser Ritter mit dem Löwen (V. 4741 und öfter) gewinnt er durch die nun vollbrachten Taten eine neue Identität. Erst wenn er die Verzeihung Laudines erlangt hat und damit die Folgen seiner früheren Torheit überwunden sind, will er seinen alten Namen wieder führen (V. 5496-5506). Er meint, wenn rechte Gesinnung den Ausschlag gäbe, brauchte er nicht ohne Zuversicht zu sein (V. 5517-5520; vgl. 3573-3576). Nach der Heilung vom Wahnsinn vermittelt die Erinnerung Iwein eine Identität mit den Rollen als riter und geselle. Erst bei der Begegnung mit Lunete an der Grenze seines ehemaligen Reiches nimmt er die Rolle des herren wahr, der er früher nicht hat gerecht werden können. Nach den Vorspielen der Unterstützung der Gräfin von Narison als Dank für die Heilung und der Rettung des Löwen

40

Zur Rezeption der Fabel siehe Klaus Speckenbach, „Die Fabel von der Fabel. Zur Überlieferungsgeschichte der Fabel von Hahn und Perle". In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 178-229; Gerd Dicke und Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. (Münstersche Mittelalter-Schriften 60) München 1987, Nr. 249, S. 288-293.

41

Das rechtzeitige Erscheinen zum Gerichtskampf für Lunete kann Iwein wegen anderer Verpflichtungen nur unter äußerster Anstrengung verwirklichen (V. 4829-4913; 5145-5166). Dieser Umstand korrigiert - wie die Gefangennahme des Grafen Aliers die Tötung Ascalons - ohne Kommentar das Versäumnis gegenüber Laudine.

Überlegungen zu Iweins Identität

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setzen nun ganz planmäßig und bewußt Hilfen ein, deren Erfolg Iweins Befähigung zum Herren beweisen. Die persönlichen Leiderfahrungen öffnen ihm die Augen für fremden Kummer (vgl. V. 4389^t392). Sein Ruhm als Helfer in fast aussichtslosen Notlagen verbreitet sich über die Länder, so daß er schließlich ganz zielstrebig für den schwierigen Gerichtskampf gesucht wird, den er am Artushof für die jüngere Gräfin Zum Schwarzen Dorn austragen soll. In der Erwartenshaltung von außen 'spiegelt' sich seine innere Bereitschaft zur Hilfe (V. 6002-6004), der Einsatz für andere ist Teil seiner Identität geworden. 42 Sein Gegner ist Gawein, der aber in fremden Waffen ebenso unbekannt bleibt wie Iwein selbst. 43 Der Kampf zieht sich vollkommen ausgeglichen bis zum Abend hin. Da erst lüften die beiden untereinander und etwas später auch vor dem ganzen Hof das Geheimnis ihrer Namen (V. 7471; 7483; 7601-7620). Diese Namennennung ist für Iwein die erste, nachdem er sich (vor mehr als 3000 Versen) als Iwein der arme (V. 4213) Lunete zu erkennen gegeben hatte. Ohne einschränkenden Zusatz bekennt er sich jetzt als der, der er war und nun wieder ist. Die kämpferische Gleichrangigkeit mit dem arturischen Musterritter Gawein und seine moralische Überlegenheit über ihn heben Iweins Ansehen auf eine noch nicht erreichte Stufe, die öffentliche Entehrung durch Laudines Absage ist damit aufgewogen, über sie wird kein Wort mehr verloren. Als dann durch das Erscheinen des Löwen, den Iwein für die Dauer des Kampfes eingesperrt hatte, seine Identität mit dem Löwenritter aufgedeckt wird, ist sein Ruhm nicht mehr zu übertreffen (V. 7740-7762). Es handelt sich um den Ruhm eines vorbildlichen Artusritters, den dieser außerhalb des Hofes in immer wieder abgewandelten Situationen des Schützens, des Helfens und der Sicherung von Recht erworben hatte. Der sich auf dem Weg zunächst zufällig ergebende, zum Schluß aber gezielt angeforderte Einsatz für Bedrängte und Notleidende eröffnet den Blick auf ein Wirken mit einer religiösen Fundierung und sozialen Ausrichtung, wie sie das Rittertum im ersten Kursus mit der Dominanz der Selbstbestätigung nicht erkennen ließ. Mit diesem Wirken ist insbesondere das Tun des Landesherrn beschrieben, für dessen Aufgabenbereich sich Iwein ohne Einschränkung bewährt hat. 44 Trotz seiner glänzenden Rehabilitierung in der Artusgesellschaft ist Iwein noch nicht am Ziel seines Strebens. noch wären im die sinne von siner vrouwen minne so manegen wis ze verhe wunt, in dühte, ob in ze kurzer stunt sin vrouwe niht enlöste

42

Vgl. Ragotzky und Weinmayer (Anm. 7), S. 234; Cormeau und Störmer (Anm. 7), S. 212.

43

Dazu Wolfgang Harms, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen ratur bis um 1300. (Medium Aevum 1) München 1963, S. 127-135.

44

Vgl. Mertens, Laudine (Anm. 7), S. 57ff.

Lite-

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mit ir selber tröste, so muesez schiere sin sin tot. (V. 7783-7789)

Das Thema der Liebe zu Laudine, das während der Bewährungsaventiuren meist verdeckt weiterlief, bestimmt nun wieder die Handlung der abschließenden Episode. Iwein betritt als Löwenritter den Boden von Laudines Reich, indem er wie üblich das Unwetter an der Quelle auslöst (V. 7792-7808). Man wird die Verse daz ich noch ir minne \ mit gewalt gewinne (V. 7803f.; vgl. 7795f.) nicht so verstehen dürfen, daß Iwein mit Gewalt Liebe erpressen will; 45 er will vielmehr mit dem Unwetter die Ungeschütztheit des ganzen Landes demonstrieren (vgl. V. 7809-7825) und damit die Notwendigkeit, einen neuen Verteidiger zu finden. Da für Laudine Minne und Landessicherung von Anfang an eng verbunden waren, ist Iweins Vorgehen durchaus plausibel. Er möchte sich als Beschützer der Quelle ins Spiel bringen, um auf diesem Weg auch Laudines Liebe wiederzugewinnen. Dabei könnte sich Iwein auf dem Felde bewähren, auf dem er mit der Fristversäumnis versagt hatte, nämlich den Schutz von Laudine und ihrem Land zu garantieren. Dieser Deutung entspricht, daß Lunete unter dem Eindruck des schweren Unwetters Laudine vorschlägt, den Löwenritter als neuen Hüter der Quelle zu suchen (V. 7868-7875). Indem sie listig die Identität von Iwein und dem Löwenritter ausnutzt (vgl. V. 8074) und Laudine mit einem Eid bindet, den Löwenritter mit seiner Herrin zu versöhnen, zwingt sie Laudine zum Einlenken. Die überraschte Königin verweist noch zweimal auf das Versagen ihres Mannes, der üf mich dehein ahte enhät (V. 8081; vgl. 8088). Als aber dann Iwein seine Schuld eingesteht, bereut und Besserung gelobt (V. 8102-8113), bittet sie auch ihrerseits um Verzeihung, daß sie ihm mit ihrer Absage ein so tiefes Leid bereitet habe (V. 8122-8131). Dieses Eingeständnis Laudines ist eine Erweiterung Hartmanns gegenüber Chretien. Zusammen mit der bei Hartmann anders begründeten Verstoßung Iweins verdeutlicht es eine geänderte Liebeskonzeption. Laudine ist nicht die Minneherrin, die an Iweins uneingeschränkter Liebe zweifelt, sie war vielmehr die enttäuschte Landesherrin und ist nun die verstehende Ehefrau wie Enite im Erec,46 Damit steht einer wirklichen Versöhnung nichts mehr im Wege (V. 8136). Sie wird möglich, weil Iwein seine frühere Haltung aufgegeben (vgl. V. 8135) und er auf dem zweiten Aventiureweg zu seiner gewandelten und erweiterten Identität gefunden hat, die jetzt auch den Aspekt der Landesherrschaft einschließt.

45 46

So z.B. Fischer (Anra. 9), S. 197. Vgl. Brunner (Anm. 2), S. 123f.

Überlegungen zu Iweins Identität

131

II Die gute /wez'rc-Überlieferung in Text und Bild berechtigt,47 Hartmanns Roman als Prototyp der Artusdichtung anzusehen, der das Bild von einer idealen Ritterschaft wesentlich mit geprägt hat. Als Einzelepisode hat Iweins Wahnsinn und die anschließende Heilung eine starke Wirkung gehabt. Ihr sollen - wiederum mit Blick auf die Identität - die folgenden Ausführungen gelten. Hartmann hat die Erzählung von Iweins Verstoßung und der dadurch hervorgerufenen Erkrankung sehr gleichmäßig strukturiert. Lunetes Botschaft (V. 3111-3200) und Iweins Reflexion nach dem Erwachen (V. 3505-3596) bilden den Rahmen mit jeweils rund 90 Versen, der Ausbruch des Wahnsinns (V. 3201— 3358) und seine Heilung durch die Salbe aus dem Besitz der Gräfin von Narison (V. 3359-3504) beanspruchen jeweils rund 150 Verse. Die Absage an Iwein und sein auf Selbstbesinnung ausgerichteter Monolog handeln von Zweifeln an seiner Identität. Bei unterschiedlichen Voraussetzungen und Bewertungen kann in beiden Reden keine Übereinstimmung von dem Erscheinungsbild des Helden mit einer ursprünglich idealen Vorstellung von ihm gewonnen werden. Die beiden Mittelteile stellen dagegen in dem Wahnsinnigen ein menschliches Wesen ohne Identität dar. Auch wenn Iwein seine Kleider zerreißt, die Menschen flieht und nackend in den Wald läuft, wenn seine Haut ganz den mittelalterlichen Krankheitsbeschreibungen entsprechend schwarz wird und ihm jedes Erinnerungsvermögen, jedes vernünftige Sprechen und anspruchsvolle Handeln verloren gegangen sind (zum Beispiel V. 3345-3360), so sinkt er doch nicht ganz auf die Stufe eines Tieres herab. Dank Gottes Fürsorge trifft er bei der Flucht in den Wald auf einen Knappen, dem er Bogen und Pfeile abnimmt (V. 3261-3266), so daß er sich durch die Jagd ernähren kann. Etwas später kommt es zu einer gewissen Symbiose mit einem Einsiedler, von dem er Brot und Wasser erhält, dann auch gebratenes Fleisch, und dem er seinerseits das erbeutete Wildbret übergibt (V. 3286-3344). Strukturell ist der Wahnsinnige dem urtümlichen Hirten (waltman [V. 598]) zugeordnet, dem Kalogreant während seiner Aventiurefahrt begegnet (V. 418-599). Scheint ihn sein Aussehen in die Welt der Tiere zu verweisen, so ist er doch im Gegensatz zum kranken Iwein zu vernünftigem Sprechen und Handeln befähigt und seine Identität in keiner Weise in Frage gestellt. Trotz der langsam verbesserten Lebensumstände wird Iwein erst durch die Feensalbe geheilt. Mit dem Anlegen der höfischen Kleidung hat er wieder zur ritterlichen Lebensform gefunden (V. 3594-3596). Die Rückgewinnung der alten Identität als Minner und Artusritter und ihre Erweiterung um den Aspekt der Landesherrschaft erfolgt, wie dargelegt, in mehreren Stufen. Iwein ist am Ende nicht mehr der, der er einmal war. Eine Entwicklung im psychologischen Sinn liegt freilich 47

Vgl. Hartmann von Aue, Iwein. Ausgewählte Abbildungen und Materialien zur handschriftlichen Überlieferung. Hg. von Lambertis Okken. (Litterae 24) Göppingen 1974; vgl. Cormeau und Störmer (Anm. 7), S. 227-231 (Literatur).

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nicht vor. Die Erweiterung der Identität erfolgt durch den Anstoß von außen, insbesondere durch die Erwartungen Laudines. Diese Erwartungen erfaßt Iwein erst richtig, als er die verurteilte Lunete an der Quelle trifft. Daß Iwein die Rolle des Landesherrn zunächst übersah, sich nur als Liebender und Ritter verhielt, ist die Ursache des schweren Konflikts. Interessanterweise ist in der Rezeption der Episode von Iweins Wahnsinn gerade diese Zuspitzung der Identitätsproblematik in der Form der Identitätssuche, die bei Hartmann und schon bei Chretien wesentlich den Sinn des Romans trägt, nicht beachtet worden. Am ehesten läßt sie sich bei Heinrich von dem Türlin in seiner Cröne in abgewandelter Form wiederfinden. Mitten auf seiner Aventiurefahrt zur Befreiung des Königs Flois erreicht Gawein der Auftrag der Fee Amurfina, sich zu ihr zu begeben (Diu Cröne, V. 7673ff.).48 In dem Rechtsstreit mit ihrer Schwester Sgoidamur beabsichtigt sie, Gawein zu ihrem Vorkämpfer zu machen, was wie bei der älteren Gräfin Zum Schwarzen Dorn im Iwein ein in der Sache unberechtigtes Begehren darstellt. Bald nach der Ankunft in Serre wird Gawein ans Bett Amurfinas beordert und in ein Liebesabenteuer hineingezogen. Ein Zaubertrank steigert seine Leidenschaft (V. 8467ff.), so daß er ein Hilfsversprechen gegen Sgoidamur (V. 8480ff.) und einen Treueschwur für Amurfina (V. 8593ff.) bereitwillig leistet, nachdem das Zauberschwert jeden Widerstand unmöglich gemacht hatte. Nach der Liebesvereinigung ist Gawein, der e witen | Nach vehten und nach striten \ Daz lant suocht mit vreise (V. 8633-8635), nun wirt (V. 8632; 8734), Burg- und Landesherr, geworden. Durch die Minnemagie erscheint er gleichzeitig der Sinne beraubt: Er gwan ir minne und vlös den sin (V. 8689). Der starke Zauber macht Gawein sinne lös, daß er Sich selben niht enkande (V. 8665f.), so daß er glaubt, in Serre schon dreißig Jahre Ehemann und Landesherr zu sein (V. 8667-8672). Der eigene Name ist ihm fremd und wird in seiner Umgebung nicht gebraucht (V. 86738676; 8721). Seine hervorragenden Rittertugenden hat er eingetauscht gegen die Eigenschaften des Landesherrn, so daß er an Freigebigkeit ein ander Artus (V. 8741) geworden ist. Als was er in dem lande Bi der vrouwen verlegen, Daz er liez under wegen Des ritters name solte pflegen (V. 8730-8733).

48

Heinrich von dem Türlin, Diu Cröne. Hg. von Gottlob Heinrich Scholl. (Bibliothek des Literarischen Vereins 27) Stuttgart 1852 (Nachdruck Amsterdam 1966). Auf diese Ausgabe beziehen sich im folgenden die Versangaben. Verlust der Identität durch Verzauberung siehe auch im Wolfdietrich Β (Ortnit und die Wolfdietriche. Nach Möllenhoffs Vorarbeiten hg. von Arthur Amelung und Oskar Jänicke. [Deutsches Heldenbuch 3] Berlin 1871 [Nachdruck Dublin - Zürich 1968], Str. 317-342).

Überlegungen zu Iweins Identität

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Von diesem Wandel hat zwar die Minne ihren Gewinn, aber die Ritterschaft verliert jedes Ansehen (V. 8681-8689), denn Gaweins Herz empfindet keinerlei Tapferkeit mehr (V. 8677-8680). Unerwartet wird die Gewalt des Zaubertranks gebrochen, als Gawein eine große Goldschale betrachtet, die Amurfina in einer Gesellschaft herumreichen läßt, um ihres Mannes frühere Taten vor Augen zu führen (V. 8837ff.). Die Gravuren der Schale stellen Gaweins Sieg über Laniure, den Vater Amurfinas, dar und rechtfertigen gewissermaßen Gaweins Nachfolgerschaft (V. 8853ff.; 8894ff.). Die Nennung seines Namens (V. 8923), die Kampfdarstellungen und schließlich die Beischriften (V. 8936-8959) machen Gawein stutzig. Zunächst glaubt er in dem Ritter einen Freund zu sehen, dem er - wenn er nicht träumt - vor kurzem noch begegnet sei (V. 8950-8979). Über die Erinnerung an seine früheren Taten ergründet er in einem Selbstgespräch seine Identität (V. 8980-9054), ein Messerstich in die eigene Hand (V. 9058-9063) stellt die Beziehung zur Wirklichkeit vollends wieder her. Ohne Rücksicht auf Amurfina bricht Gawein sogleich auf, um die Befreiung von Flois zu erreichen (V. 9068-9091). Die geschilderte Episode ist offensichtlich durch den Iwein beeinflußt worden. Wenn dort der durch die Absage Laudines ausgelöste Wahnsinn zu einer Identitätskrise führte, ist es hier der Trank. In beiden Romanen ist die Identität der Helden im Hinblick auf Liebe, Ritterschaft und Landesherrschaft zu betrachten. Während im Iwein schließlich alle drei Rollen vereint werden, stellt Heinrich die des Ritters konträr gegen die des Landesherrn. Letztere bedeutet für Gawein Selbstverlust, der nur durch andauernde Liebesfreuden versüßt wird, aber doch Einbuße an Ehre mit sich bringt. Seine wahre Identität findet er als Ritter, wobei nicht die Minne, wohl aber ein Leben in der Ehe ausgeschlossen ist. Aus demselben Grund entscheidet er sich gegen Erwerb von Frau und Herrschaft und für ewige Jugend, als er in einem glückseligen Frauenland vor diese Wahl gestellt wird (V. 17577-17598). Als ein schevalier errant (V. 25837) widerspricht Gawein am Ende des Romans daher auch dem Plan von König Artus, ihn während der Gralaventiure zu begleiten (V. 25786f.; 25828-25867). Eine Aventiurefahrt gehöre nicht zu den Aufgaben eines Landesherrn, der habe insbesondere den Schutz seines Landes zu garantieren. Gawein in der Cröne verwirklicht nach seinem erneuten Aufbruch nahezu das Leben, zu dem Gawein im /wem seinem Freund rät und das Gawein im Wigalois (V. 1055ff.) nach dem Verlassen seiner Ehefrau Florie wieder führt. 49 Als der Prototyp des herumziehenden Artusritters kann Gawein trotz seiner Heirat mit Amurfina nicht in ein seßhaftes Leben eingebunden werden. Eine Existenz als Landesherr und Ehemann hätte für immer seine ritterliche Identität mit Gedächtnis- und Namenverlust ausgelöscht und ihn zugleich dem Artushof entziehen und das hieße, die Artusritterschaft in Frage

49

Wimt von Gravenberc, Wigalois der Ritter mit dem Rade. Hg. von Johannes Marie Neele Kapteyn. (Rheinische Beiträge und Hülfsbiicher 9) Bonn 1926. Auf diese Ausgabe beziehen sich im folgenden die Versangaben.

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stellen müssen. Daß Gawein die Kraft findet, den angeblich lebenslangen Zauber zu brechen, zeugt von der Einsicht des Erzählers, daß der Artusroman ohne die Existenz seines Musterritters nicht vorstellbar ist.50 Gawein sorgt mit seiner Entscheidung für den Aventiureritter und gegen den Landesherrn „für die ewige Gegenwart arturischer Herrschaft".51 Ein ganz anderer Fall einer Iwein-Rezeption liegt mit dem Wigalois vor, wenn Wirnt von Grafenberg einer besonders stimmungsvollen Nachtszene seines Romans das Motiv von Iweins Erwachen einfügt. Die Szene gehört zu der ersten großen Aventiure, die Wigalois zur Erlösung des Landes Korntin zu bestehen hat. Die dabei erreichte Tötung des Drachen Pfetan wird an Bedeutung nur von dem Sieg über Roaz am Ende der Korntin-Aventiuren übertroffen. Welche Gewalt Pfetan zugesprochen wird, zeigt die Tatsache, daß Roaz als Usurpator von Laries Erbland nie gewagt hatte, sich dem Drachen entgegenzustellen, obwohl dieser Korntin immer wieder mit schweren Verwüstungen heimgesucht hatte (V. 4730-4735). Die Kämpfe gegen Pfetan und Roaz sind auf einander bezogen, sie markieren den Anfang und das Ende der Befreiung Korntins. Während Pfetan ein leibhaftiger Drache ist (wurm [V. 4692 und öfter]), den Wigalois einen Teufel nennt (V. 5084; vgl. 5080), kämpft der Heide Roaz unter dem Wappen des Drachen (V. 7366; 7390) und ist mit einem Teufel verbündet (V. 7325-7341). Beide bedrängen das Land seit zehn Jahren (V. 4692; 9334). Für jeden der Kämpfe wird Wigalois mit besonderen Waffen ausgerüstet, die ihn allererst in die Lage versetzen, die ungewöhnlichen Herausforderungen zu bestehen. Ein Priester am Hofe Laries und ihrer Mutter heftet an sein Schwert einen Segensspruch {brief) mit einem Kreuz (V. 4427-4429), wodurch Wigalois künftig vor der Macht des Heiden und dem ihm helfenden Teufel bewahrt wird (V. 7334-7341); Laries verstorbener Vater Lar [=Jorel] erscheint Wigalois und begrüßt ihn als Retter des Landes: nu hat dich got her gesant \ daz du uns erledigen solt (V. 4701 f.); er verschafft ihm eine Lanze, die ein Engel aus Indien herbeigebracht hatte. Sie ist die einzige Waffe, die den Drachen tödlich verwunden kann (V. 4748-4781; 5090-5099). Außerdem schenkt er ihm eine auf das Paradies verweisende

50

Vgl. Christoph Cormeau, 'Wigalois' und 'Diu Cröne'. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 57) München 1977, S. 140; Alfred Ebenbauer, „Gawein als Gatte". In: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Hg. von Peter Krämer. (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16) Wien 1981, S. 33-66; Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 12) Heidelberg 1994, S. 86-89. Nach Abschluß der Arbeit erschien Hartmut Bleumer, Die 'Crone' Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 112) Tübingen 1997, vgl. S. 90-105.

51

Ulrich Wyss, „Heinrich von dem Türlin: Diu Cröne". In: Mittelhochdeutsche Heldenepen (Anm. 2), S. 271-292, hier S. 279.

Romane und

Überlegungen zu Iweins Identität

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Baumblüte, die ihn gegen Pfetans Giftatem schützt (V. 4743-4746). Wigalois verwahrt sie zusammen mit dem Brot, das er von Larie zur wunderbaren Kräftigung erhalten hatte, in einer seidenen Tasche (V. 4467-4478), um sich kurz vor Kampfbeginn an Blüte und Brot zu stärken (V. 4991-5002). Zur Vorbereitung auf den Drachenkampf gehört ferner, daß Lar ihm einen mit großer Schwäche erkauften Sieg über Pfetan verheißt (V. 4777-4780). Als Wigalois nach seiner Wiederherstellung dann erneut auszieht, erhält er eine Rüstung, die ein Zwerg geschmiedet hat und die Lar schon vor langer Zeit für den künftigen Schwiegersohn bestimmt hatte (V. 6066-6090). Der gegenseitige Bezug der Kämpfe gegen Pfetan und Roaz wird weiter erkennbar, wenn Wigalois nach dem jeweiligen Sieg das Bewußtsein verliert und ihm beide Male in der Ohnmacht eine heimtückische Ermordung droht, die von dritter Seite gerade noch verhindert werden kann (V. 5384-5392; 7908-7930). Die Bedeutung von Lanze und Schwert wird abschließend dadurch herausgestellt, daß sie Larie bei dem Krönungszug als die Waffen des Sieges zur Schau vorangetragen werden (V. 9369-9385). Entsprechend der Vorhersage gelingt Wigalois die tödliche Attacke gegen Pfetan, doch das sterbende Ungeheuer kann ihn noch ergreifen und einen Abhang hinab an das Gestade eines Sees schleudern, wo er wie tot in tiefer Ohnmacht liegenbleibt (V. 5120-5133). Arme Fischersleute finden ihn und rauben ihm Waffen und Kleidung (V. 5314—5360). Um seines Todes ganz sicher zu sein, will die Frau ihn im See ertränken (V. 5373-5396). Dann aber weckt der schöne Körper in ihr eine plötzliche Liebe, daß sie Wigalois etwas zu trinken einflößt, was ihm das Leben rettet (V. 5433-5457). dem vil Übeln wibe gap diu minne guoten muot, als si noch vil mangem tuot, wan si dem kucte sin leben dem si den tot e wolde geben (V. 5464-5468).

Den raschen Gesinnungswandel der Fischersfrau kommentiert Wirnt als eine liebenswerte Eigenschaft der Frauen überhaupt (V. 5470-5479), er spielt dabei ironisch auf Hartmanns Verteidigung Laudines an, nachdem diese so schnell den Gedanken der Rache für Ascalon aufgegeben hatte (Iwein, V. 1871-1888). Als die Armen mit ihrer Beute über den See davongerudert sind, erwacht Wigalois und kann sich seine Lage nackend am Ufer des Sees nicht erklären {Wigalois, V. 5802-5836), sein bisheriges Leben hält er fur einen Traum (V. 5808).52 Zwar besinnt er sich auf seine Eltern Florie und Gawein, auch an seine 52

Walther von der Vogelweide hat dieses Motiv in seine Elegie (L. 124,1 = Cor. 97) übernommen: Owe war sint verswunden alliu miniu jär! | ist min leben mir getroumet, oder ist ei wär? (L. 124,1 f.) Das vergangene Leben scheint gegenüber den Veränderungen der Gegenwart ohne Realität wie ein Traum zu sein. Doch bringt die Gegenwart dem erwachten Ich gerade keine Vertrautheit, sondern ein starkes Fremdheitsgefiihl (vgl. 124,5f.). Das Ich ist

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Herrin Larie muß er denken, doch dann zweifelt er an seinem Namen und damit an sich selbst und hält sich schließlich für den Sohn eines unfreien Bauern (V. 5833-5836). Erst der Fund von Laries Tasche stellt eine Verbindung zur Realität wieder her und beendet damit die Unsicherheit über seine wahre Identität und ruft zugleich Sehnsucht nach der geliebten Frau hervor. Bald darauf wird er von Beleare gefunden, aus seiner unwürdigen Lage befreit und auf ihrer Burg gesund gepflegt, mit Bad und neuen Kleidern erquickt (V. 5960-5979). Der intertextuelle Zusammenhang der skizzierten Episode mit Iweins Erwachen liegt klar auf der Hand. Während Iwein nach der Heilung durch die Salbe wieder zu Bewußtsein kommt, weckt Wigalois ein Schluck Wasser aus der Ohnmacht. Beide finden sich in einem desolaten Zustand, nackend und ungeborgen liegen sie in fremder Landschaft, beide zweifeln an ihrer Identität und halten ihr vergangenes Leben für einen Traum. Während Iwein in einem längeren Prozeß kraft seiner angeborenen Art, in Erinnerung an seine Rittertaten und schließlich in der Konfrontation mit Lunetes Not seiner selbst wieder sicher wird, findet Wigalois durch den Fund der Tasche sehr rasch zu sich und in die Wirklichkeit zurück. Iweins Wahnsinn und Heilung zwischen dem ersten und dem zweiten Aventiureweg markieren eine tiefgreifende Krise des Helden. Der Hauptteil des Wigalois ist ebenfalls durch zwei Aventiureketten gekennzeichnet, die der Erprobung des Helden und der Erlösung des Landes dienen. Strukturell hätte man Ohnmacht und Erwachen von Wigalois zwischen diesen beiden Ketten erwarten können. 53 Doch da die Figur des Wigalois von Wirnt als Heidenbekämpfer und Retter ohne Krise konzipiert ist, 54 verwirft der Autor auch die Symbolstruktur

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einsam geworden, die Vergangenheit wird als irreal erlebt, die Gegenwart als ganz fremd. Eine Anspielung auf den Iwein zeigt auch Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (ed. v. Keller, V. 14070-14163), als Achill an seiner Identität zweifelt. Gegenläufig zu diesen Erwartungen erhält Wigalois zwischen den beiden Aventiurereihen Gewißheit über seine Identität, indem er erfährt, wer sein Vater ist (V. 4793-4809). Zur Struktur Joachim Heinzle, „Über den Aufbau des Wigalois". In: Euphorien 67 (1973), S. 261-271; vor allem Cormeau (Anm. 50), S. 23ff.; vgl. Mertens, „Iwein und Gwigalois" (Anm. 7), S. 20. Zum Wigalois zuletzt: Ingrid Hahn, „Gott und Minne, Tod und triuwe. Zur Konzeption des Wigalois des Wirnt von Grafenberg". In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Helmut Brall, Barbara Haupt und Urban Küsters. (Studia Humaniora 25) Düsseldorf 1994, S. 37-60; Volker Honemann, „Wigalois' Kampf mit dem roten Ritter. Zum Verständnis der Hojir-Aventiure in Wirnts Wigalois". In: German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. (FS Roy Wisbey) Hg. von Volker Honemann u.a. Tübingen 1994, S. 347-362. Zur fehlenden Krise repräsentativ Walter Haug, „Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer 'nachklassischen' Ästhetik". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 204-231, hier S. 208-210; zur Rolle des Heilsbringers siehe Klaus Grubmüller, „Artusroman und Heilsbringerethos. Zum Wigalois des Wirnt von Gravenberg". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 107 (1985), S. 218-239; Peter Kern, „Die Auseinandersetzung mit der Gattungstradition im Wigalois Wimts von Grafenberg". In: Artusroman und Intertextualität. Hg. von Friedrich Wolfzettel. (Beiträge zur deutschen Philologie

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des D o p p e l w e g e s . Er verzichtet zwar nicht auf das Krisenzitat, fügt e s aber in den anderen Kontext der christlichen Erlösungstat und d e s Erwerbs einer Landesherrschaft ein. M a n könnte m e i n e n , daß W i g a l o i s ' Erwachen ein blindes M o t i v sei u n d daß damit die A n s p i e l u n g auf Iweins Krise ins Leere führe. Vergleicht m a n d i e Episode aus beiden R o m a n e n , so wird j e d o c h deutlich, daß Wirnt Hartmann nicht einfach sinnlos nachahmt, sondern daß er sich auf ihn distanzierend und z u w e i l e n auch ironisch bezieht, u m so auf e i n e n veränderten Handlungssinn aufmerksam zu machen. S c h o n die Umstände, die zu Wahnsinn und Ohnmacht führen, sind sehr verschieden. W a s bei I w e i n die A b s a g e Laudines in e i n e m inneren V o r g a n g bewirkt, wird bei W i g a l o i s durch äußeres K a m p f g e s c h e h e n i m D i e n s t für Larie hervorgerufen. B e i d e S z e n e n , die v o n d e m Erwachen der H e l d e n erzählen, erfahren eine erotische Eintönung. Im Iwein

bestreicht die Z o f e den S c h l a f e n d e n g e -

67) Gießen 1990, S. 73-83. Volker Mertens, „gewisse lire. Zum Verhältnis von Fiktion und Didaxe im späten deutschen Artusroman". In: Ebd., S. 85-106, spricht von Wigalois als von einer Art „weltlichem Legendenheiligen" (S. 87). Auch Ingeborg Henderson, „Selbstentfremdung im Wigalois Wimts von Grafenberg". In: Colloquia Germanica 13 (1980), S. 35-46, hatte schon die Bedeutung des Religiösen im Wigalois hervorgehoben. Wenn sie aber von einer Schuld des Protagonisten spricht und von einer Krise, die im Drachenkampf und den sich anschließenden Selbstzweifeln gesehen und als Strafe Gottes interpretiert wird (S. 40), kann ich ihr nicht folgen. Die Klage Wigalois' über seine elende Lage und die Suche nach einer Erklärung (dar zuo lid ich den gotes zorn [V. 5857]) leiten seine Auffindung unmittelbar ein. Eine mögliche Krise kommt gerade nicht zur Entfaltung. - Einen ähnlichen Interpretationsansatz verfolgt Carola L. Gottzmann („Wirnts von Gravenberc Wigalois. Zur Klassifizierung sogenannter epigonaler Artusdichtung". In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 14 [1979], S. 87-136, und [z.T. wörtlich übernommen und im folgenden zitiert] dies., Deutsche Artusdichtung. Bd. 1: Rittertum, Minne, Ehe und Herrschertum. Die Artusepik der hochhöfischen Zeit. [Information und Interpretation 2] Frankfurt/M. - Bern New York 1986, S. 292-329, 365-368). Ohne ihre Methode auch nur ansatzweise zu rechtfertigen und am Text abzusichern, wird von Gottzmann das Romangeschehen über weite Strecken allegorisch gelesen. Der Drache ist „Inbegriff des Chaos" (S. 310), Graf Moral „Inbegriff des christlich-sozialen Wertesystems" (S. 309), das Schwert „bedeutet" „die reinigende Kraft und göttliche Gerechtigkeit" (S. 315), der Morast die „Gottferne" und der Nebel den ,,Unglauben[]" (S. 316). Adan „verkörpert" „den neuen ere-Begriff, welcher durch christlich-soziale Werte bestimmt sein wird" (S. 318). Wigalois' „Erwachen zu neuem Leben [...] signalisiert, daß er nur durch das Leiden in der Nachfolge Christi das in Sünde verfallene Reich wahrhaft erlösen kann. Der Sieg über den Drachen steht damit in der Tat symbolhaft für die Überwindung der Unmoral, die das teuflische Reich ermöglichte [...]" (S. 313). „Wigalois [...] vermag nur im Zustand der Unschuld eine Wirkung auf seine Mitmenschen [sc. die Fischersfrau] auszuüben. Auch das Böse schreckt angesichts der wahren Werte, die der nackte Körper sichtbar werden läßt, vor der totalen Vernichtung zurück" (S. 311). In der Konsequenz des nicht gerechtfertigten methodischen Vorgehens und haltloser Spekulationen wird Gottzmann nur von ihrer Schülerin übertroffen: Gisela Lohbeck, Wigalois. Struktur der bezeichenunge. (Information und Interpretation 6) Frankfurt/M. - Bern - New York 1991. Vgl. dazu die vernichtende Kritik von Ingrid Hahn. In: Arbitrium 10 (1992), S. 292f.

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gen Geheiß der Gräfin von Narison von Kopf bis Fuß mit der Wundersalbe,55 hier tränkt die verliebte Mutter von sechs Kindern den Ohnmächtigen, nachdem sie ihn eben noch hat töten wollen. Die Zofe bringt Kleider zu Iwein, die Fischersleute rauben solche samt den Waffen, Iwein wird zufällig am hellen Tag am Wegesrand von adliger Gesellschaft gefunden, die beiden Armen suchen bei Nacht am weglosen Seeufer nach Gras und finden dabei den Bewußtlosen. Daß die Fischersleute durch den Leichenraub aus ihrer Armut erlöst werden, geht auf Gottes Barmherzigkeit zurück (Y. 5302-5305; 5314-5318), so wie es Gottes Fürsorge war, daß Iwein beim Ausbruch seiner Krankheit auf einen Knappen stieß, dem er Pfeile und Bogen abnahm, um damit im Wald sein Leben zu fristen (Iwein, V. 3261-3274). Die Zofe versteckt sich, um Iweins Schamgefühl nicht zu verletzen, Wigalois flieht beim Auftritt von Beleare in eine Höhle und wagt sich aus Scham lange nicht hervor. Frau von Narison erhofft sich von dem Geheilten Hilfe gegen Aliers, Beleares Ehemann Moral ist schon vor dieser Szene aus der Gewalt des Drachen befreit. Beide hohen Damen pflegen den Geretteten gesund, baden und kleiden ihn und rüsten ihn später jeweils aus. Diese Ausrüstung erfolgt für Wigalois durch Beleare, nachdem er sich von Kampf und Sturz erholt und in der Haltung des trauernden Melancholikers seine Sehnsucht nach neuem Kampf indirekt zu verstehen gegeben hatte (Wigalois, V. 6017-6028). Wenn Wigalois auch nicht an der Melancholia erkrankt ist wie Iwein, so sorgt Wirnt mit der Schilderung der für die Situation etwas zu pathetischen Trauergebärde doch für eine Anspielung auf Hartmann und für eine Distanzierung zugleich.56 Während die Gräfin von Narison Iwein mit Rüstung und Waffen versieht, um Aliers einen ebenbürtigen Kämpfer entgegenstellen zu können, den Waffen aber jede tiefere Bedeutung abgeht, ist die Ausrüstung für Wigalois differenzierter zu betrachten. Durch den Leichenraub der Fischersleute sind ihm sämtliche Kleider und Waffen abhanden gekommen. Ihm fehlen der Waffenrock von Larie, sein Helm und Schild mit dem Fortunarad als Helmzier und Wappen,57 das von dem Priester geweihte Schwert, das er seit seiner Schwertleite fuhrt (V. 1647-1652),

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Man wird trotz des erotischen Flairs nicht annehmen dürfen, daß hier symbolisch eine sexuelle Handlung zum Ausdruck kommt, wie Graf (Anm. 25), S. 137ff., meint. Hans-Jochen Schiewer, „Prädestination und Fiktionalität in Wirnts Wigalois". In: Fiktionalität im Artusroman. Hg. von Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel unter Mitarbeit von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1993, S. 146-159, spricht davon, daß mit der Entproblematisierung des Protagonisten die Problematisierung der anzitierten literarischen Sinnentwürfe einhergeht (S. 152). Gert Kaiser, „Der Wigalois des Wirnt von Grävenberc. Zur Bedeutung des Territorialisierungsprozesses für die 'höfisch-ritterliche' Literatur des 13. Jahrhunderts". In: Euphorien 69 (1975), S. 410-443, interpretiert die etablierte Landesherrschaft des Protagonisten als Kontrafakt zum Hartmannschen Artusrittertum (S. 421, 442f.). Vgl. V. 1862f.; 5559-5561; 6147f.; 1826-1831; 5570f.; zum Schildwappen mit der Tafelrunde (V. 5612-5637; 6160-6166) vgl. Kern (Anm. 54), S. 79f.

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der Harnisch und der magische Gürtel von seiner Mutter Florie. Insgesamt ist der Verlust einschneidend, vor allem da die Überwindung des Teufelsbündlers Roaz nur mit Hilfe des Schwertes möglich ist (vgl. V. 7334-7341). An ihm hängt Wigalois' ganzer Erfolg, hängt die Befreiung Korntins. Ein Krisensignal, das Wirnt der nächtlichen Szene am See durch die Anspielung auf den Iwein verleiht, erscheint also trotz Lars Voraussage auf einen Sieg (V. 4828-4830) als angebracht. Durch die Aufmerksamkeit einer Zofe kann Beleare dann aber Waffen und Rüstung von dem Fischer ohne größere Schwierigkeiten zurückgewinnen (V. 54805504; 5727-5734; 5787f.), so daß sich der Zweifel, ob Wigalois seine Bestimmung wird erfüllen können, so schnell verflüchtigt wie der Zweifel des Helden an seiner Identität. Sobald er es wünscht, wird er mit seinen alten Waffen gewappnet (V. 6146-6181), nur der von Pfetan zerdrückte Harnisch wird durch den von König Lar bestimmten ersetzt (V. 6071-6078). Allein der magische Gürtel, den die arme Frau unbemerkt von ihrem Mann an sich genommen hatte (V. 5349-5355), bleibt verloren (V. 5990-6016).58 Es handelt sich um den Gürtel, der seinem Träger Unüberwindlichkeit im Kampf und Unwiderstehlichkeit in der Minne sichert. Ihn hatte König Joram Ginover für einen Tag überlassen, um die Artusritter dann zu einem Kampf um ihn herauszufordern. Sein Besitz bewirkte Jorams Sieg über Gawein und für diesen später den Zugang ins Feenreich, schließlich erhält ihn Wigalois von seiner Mutter Florie zum Geschenk (V. 282-635; 1190-1213; 1362-1377). Bei allen bisherigen Kämpfen hat er den Gürtel unter seiner Rüstung getragen. Wigalois weiß, wie bedeutend sein Verlust ist, doch er will nicht danach fragen, sondern sich der kommenden Aventiure im Vertrauen auf Gottes Hilfe stellen (V. 5992-6010). sin ist nie so ungehiure ichn welle dä tot geiigen, od mit der gotes kraft gesigen. (V. 6003-6005)

Während Pfetan noch mit der Lanze des Engels und mit Hilfe des Gürtels aus dem Feenland besiegt wird, stehen die kommenden Kämpfe unter dem ausschließlichen Schutz Gottes; mehrfach antwortet er auf ein Gebet Wigalois' mit einem Wunder, das den Helden errettet.59 Wie bei dem Zweifel über seine Identität und dem Diebstahl des Schwertes so ist auch mit dem Verlust des Gürtels eine mögliche Krise angedeutet, aber gerade nicht ausgeführt. Dieser dreifache Hinweis auf eine Krise, die sich nicht ereignet, verstehe ich als bewußtes Abset-

58

Vgl. Cormeau (Anm. 50), S. 43f.; siehe auch Max Wehrli, „Wigalois" [1965], In: Ders., Formen mittelalterlicher Erzählung. Zürich - Freiburg/Br. 1969, S. 223-241, hier S. 231. Werner Schröder, „Der synkretistische Roman des Wirnt von Gravenberg. Unerledigte Fragen an den Wigalois". In: Euphorien 80 (1986), S. 235-277, hält den Verlust des Gürtels für ein „blindes Motiv" (S. 262), vgl. zur ganzen Episode ebd., S. 265-267.

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Vgl. V. 6494-6507; 6861-6909; 7113-7132; 7269f.; siehe auch schon das Gebet vor dem Drachenkampf (V. 5079-5085). Vgl. Kaiser (Anm. 56), S. 418.

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zen von Hartmanns Romanentwurf. Der problemlose Paradigmenwechsel von dem magischen Schutz zur bewahrenden Allmacht Gottes macht deutlich, daß Wigalois für die weiteren Korntin-Aventiuren vor allem als Heilsbringer und weniger als Minneritter, dem der Erfolg durch die Gabe seiner Mutter sicher ist, auftreten wird. Der Wechsel erfolgt konfliktfrei ohne schroffes Entgegensetzen der Mächte und ist dem Protagonisten bewußt. Entsprechend dem final auf die erfolgreiche Überwindung der heidnischen Herrschaft über Korntin ausgerichteten Konzept schützt jetzt die göttliche Gnade vor allen Gefahren. So ist es konsequent, wenn Wirnt bei dem erneuten Aufbruch seines Helden in Anlehnung an Hartmanns Erec (V. 8119-8158) das Gottvertrauen hervorhebt, das Wigalois besitzt und das durch keinerlei Aberglauben eingeschränkt ist (Wigalois, V. 6182-6200): er het in gotes gnäde ergeben | beidiu sele unde leben (V. 6199f.). Das Märe Der Bussard und der umfangreiche Prosa-Lancelot-Roman greifen ebenfalls das Motiv des Wahnsinns auf. Anders als Chretien und Hartmann sind die anonymen Autoren dabei nicht vorrangig an der Identität ihrer Protagonisten interessiert, sie wollen vielmehr die Gewalt der Liebe demonstrieren, die bei Verlust der geliebten Frau zum Wahnsinn der Liebhaber fiihrt. Das Märe gehört zum verbreiteten Mageionentypus mit einer Brautwerbung im Zentrum.60 Allein die deutsche Version enthält die Episode vom Wahnsinn des englischen Königssohns,61 sie ist Teil des geläufigen Schemas von Trennung und Wiedervereinigung der Liebenden. Daß Hartmanns Iwein dafür das Vorbild abgegeben hat, ist unübersehbar, doch auch von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur sind deutlich Einflüsse festzuhalten. Partonopier hatte nach der Verstoßung durch Meliur verwahrlost und mit langen struppigen Haaren in der Wildnis Zuflucht gesucht (Partonopier, V. 9700ff.).62 Er lebt von Laub und Gras (V. 1051 Off.) und läuft wie Nebukadnezar, das bekannte biblische Beispiel eines Wahnsinnigen (Dan 4,25-31), 63 vor lauter Schwäche auf allen Vieren {Partonopier, V. 11014ff.). Doch während seiner ganzen Leidenszeit ist Partonopier bei klarem Verstand und wird daher auch von einer für Iwein so bezeichnenden Selbstentfremdung verschont.64 Das Motiv des Wahnsinns wird erst von

60

61 62

Hans-Friedrich Rosenfeld, „Der Bussard (früher 'Der Busant')". In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage 1 (1978), Sp. 1145— 1148, hierSp. 1146. Eugen Glaser, Über das mhd. Gedicht: Der Busant. Diss. phil. Göttingen 1904, S. 30ff., 89. Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlaß von Franz Pfeiffer hg. von Karl Bartsch. Wien 1871, Nachdruck mit einem Nachwort von Rainer Gruenter. (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters) Berlin 1970.

63

Vgl. Wells (Anm. 35).

64

Auch Gauriel wird nach der Übertretung des Rtlhmungsverbotes und der Verstoßung durch seine Herrin nicht wahnsinnig, sondern nur mit entstellender Krankheit bestraft (V. 225ff.). Später gewinnt er ihre Gunst zurück und wird nach vollständigem Einstreichen mit einer Zaubersalbe (siehe Hartmann) geheilt (V. 3113ff.); siehe Der Ritter mit dem Bock. Konrads

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Irekel ihrer Schwester Meliur gegenüber als fiktives Argument eingeführt (V. 11358-11361), um ihr Mitleid und ihre Gunst für den aus ihrem Umkreis verbannten Geliebten zu provozieren. Konrad spielt damit auf das bekannte Vorbild des Iwein an, ohne das Motiv selbst aber zu übernehmen. Im Hinblick auf die Erkrankung folgt der Bussard vor allem Hartmann. Der englische Prinz war mit seiner Geliebten, der französischen Königstochter, in einen Wald geflohen, um ihre Verheiratimg mit dem König von Marokko unmöglich zu machen. Bei einer Rast raubt ein Bussard dem Prinzen einen Ring. Bei der Verfolgungsjagd verirrt er sich und findet zu seiner Geliebten nicht wieder zurück. Große Verzweiflung erfaßt ihn daraufhin {Der Bussard, V. 576ff.), 65 daß er schließlich den Verstand verliert. Sin leit, sin jämer was so stark, daz im hirn' unde mark Verswant, daz er von sinnen kam (V. 605-607).

Er zerrt seine Kleider vom Leib, geht auf allen Vieren (V. 610-617) und ist schließlich von Haaren ganz überwuchert (V. 804-806). Jäger stoßen auf den wilden Mann, der vor den Hunden auf einen Baum geflohen war, und nehmen ihn gefangen (V. 771-790). Doch der Herzog des Landes erbarmt sich seiner und leitet die Heilung mit warmer Speise, guter Unterkunft, Bad, Haarschnitt, Salbung und Kleidung ein (V. 791-822). Bei einer Beizjagd auf einen Bussard hätte er seine Heilung und Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft erweisen können, wenn es nicht zu einer Art Rückfall gekommen wäre (V. 823ff.). Die Irritation des Hofes kann behoben werden, als der junge Mann sein ungebärdiges Verhalten mit dem Erzählen seiner Geschichte erklärt, was eine Erkennungsszene und das gute Ende einleitet. Die Wahnsinnsepisode im Bussard ist nicht durch Lossagen der Geliebten, sondern durch das Verirren im Wald vorbereitet. Entsprechend ist die Erkrankung nur Ausdruck großer Verzweiflung, nicht aber einer inneren Krise. 66 Der Prinz muß nicht zu einer neuen Haltung gelangen, die Zusammenfuhrung mit seiner Geliebten ist nur von dem Zufall der äußeren Umstände abhängig. Hartmanns komplexe Erzählweise ist im Bussard nicht rezipiert. von Stoffeln „Gauriel von Muntabel". Neu hg., eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Achnitz. (Text und Textgeschichte 46) Tübingen 1997. 65

66

Zitiert nach: Gesamtabenteuer. Hg. von Friedrich Heinrich von der Hagen, Bd. 1. Stuttgart Tübingen 1850 (Nachdruck Darmstadt 1961), Nr. XVI, S. 331-366. Ähnlich liegt der Fall bei Johannes von Soest, Die Kinder von Limburg (um 1480) (nach Cod. Pal. Germ. 87 hg. von Manfred Klett. [Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 4] Wien 1975), als die Königin Sibilla den Liebesantrag des Ritters Evax ablehnt. Evax reißt sich die Kleider vom Leib, wird handgreiflich und daher in Fesseln gelegt (VI 2 5 0 f f ) . Als er nach einem Jahr einen Gunstbeweis empfängt, bessert sich seine Verfassung sofort (VI 65Iff.), ein Wandel seiner Identität ist durch die Krankheit nicht eingeleitet.

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Im Prosa-Lancelot erkrankt Lancelot dreimal an Wahnsinn, weil er glaubt, die Gunst Ginovers verloren zu haben, oder weil er fürchtet, ihre geliebte Gegenwart nicht wieder erleben zu können. Dieser Wahnsinn ist als Steigerung des gedencken und der Ohnmächten des Protagonisten zu verstehen, die ebenfalls durch eine innere oder äußere Distanz zur Geliebten immer wieder hervorgerufen werden.67 Einige Anregungen mag der altfranzösische Lancelot en prose von Chretiens Yvain erhalten und über eine mittelniederländische Zwischenstufe dem deutschen Text vermittelt haben, insgesamt sind die Wahnsinns-Episoden des Prosaromans doch sehr eigenständig und entsprechend der Minneproblematik ausgeführt. Im Zentrum steht nicht die Entfaltung einer Identität, sondern die Existenz des Minneritters und seine immer wieder gefährdete Liebesbeziehung zu Ginover. Im Zusammenhang des Schottenkrieges gerät Lancelot mit anderen Rittern beim Versuch, König Artus zu befreien, in einen Hinterhalt. Die Trennung von Ginover unmittelbar nach ihrer ersten erfüllten Liebesbegegnung (Lancelot, I 462,16-25) 68 löst bei Lancelot eine heftige Tobsucht aus. Das heubt begunde im ytel zu werden, beide von gedencken und von ruwen und von dem das er der spise nit nüczet (I 466,25-27). Um der Unruhe durch seine Raserei zu begegnen, läßt man ihn durch eine Hintertür laufen (I 467,4-11). Aber auch unter den Leuten des Artusheeres verhält sich Lancelot völlig unberechenbar, er schlägt um sich, beißt und wirft schließlich mit Steinen. Nur als er zufallig in das Quartier der Königin läuft, beruhigt er sich etwas in ihrer Gegenwart, ohne sie allerdings zu erkennen (I 467,29-468,5). Das Umhängen des wundertätigen Schildes der Frau vom See hat eine besänftigende Wirkung, die Heilung damit gelingt jedoch nicht Ginover, sondern erst der in Sorge herbeigeeilten Ziehmutter Lancelots (1469,30^470,3). Sie salbt ihm die Schläfen und die Stirn ein (nicht den ganzen Körper wie die Zofe bei Iwein), läßt ihn tief schlafen und danach baden (I 470,612). Als Ginover ihm nach der Heilung von seinem Wahnsinn erzählt, kann er sich an die Krankheit nicht erinnern. Nur der Besuch der Frau vom See hat eine dunkle Ahnung zurückgelassen, 'ich wonde aber das mirs getreumet were' (I 471,36-472,1). Neun Tage erholt sich Lancelot in der Kammer der Königin. Dann kann er wieder in die Kämpfe eingreifen und durch den Sieg alle Gefangenen befreien. Die Krise Lancelots in der Tobsucht ist durch die Trennung von der geliebten Frau hervorgerufen. Nachdem die Heilung durch die zauberkundige Frau vom 67

Dagmar Hirschberg, „Die Ohnmacht des Helden. Zur Konzeption des Protagonisten im Prosa-Lancelot. In: Wolfram-Studien 9 (1986), S. 242-266, hier S. 259-266; vgl. auch Lancelot und Ginover (Prosalancelot I und II). Nach der Edition von Reinhold Kluge übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff. 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters 14 und 15. Bibliothek deutscher Klassiker 123) Frankfurt/M. 1995, Anm. zu I 1248,31 und zu II 306,34-308,10.

68

Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147 hg. von Reinhold Kluge. 3 Bde. (Deutsche Texte des Mittelalters 42, 47, 63) Berlin 1948, 1963, 1974.

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Identität

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See geglückt ist, kann die Situation für das wiedervereinigte Paar trotz des Ehebruchs als geklärt gelten, beide können so weiterleben wie vorher. Die Episode dient in erster Linie der Darstellung von Lancelots grenzenloser Liebe. Zum zweiten Mal verliert Lancelot den Verstand unter vergleichbaren, aber doch abgewandelten und komplizierteren Umständen. Aus Eifersucht gegenüber Ginover hat Morgane Lancelot in ihr Gefängnis gebracht. Sie läßt ihn erst frei, als er einen Hungerstreik androht und die Zusicherung gibt, bis Weihnachten den Artushof- und das heißt die Königin - nicht aufsuchen zu wollen (I 594,12-20). Vorher hatte sie ihm einen täuschenden Traum eingegeben, der ihm vorgaukelt, daß Ginover einen anderen Ritter liebe (I 593,26-594,2). Lancelot steht also unter doppeltem Druck: Einmal muß er an die Untreue Ginovers glauben, andererseits kann er sich wegen des Eides nicht persönlich über die wahren Verhältnisse Sicherheit verschaffen. Eine Aussprache mit seinem Freund Galahot schlägt fehl, weil er diesen nicht auf seiner Burg antrifft (I 596,18-29). Alda wart sin ruw groß und großer, das er sere krancken begund an dem libe, und das heubt begund im iteln von wachen und von vasten (I 596,30f.). Nachts springt er nur mit einem Hemd bekleidet aus einem Fenster und läuft fort (I 596,36-597,1). Diesmal hat die Frau vom See große Schwierigkeiten, den Erkrankten aufzuspüren, sie studiert ihre Bücher, wirft das Los und entdeckt ihn schließlich nackt im Wald von Cornwall. Er ist so entstellt, daß sie ihn nur an einem Ring identifizieren kann (I 598,5-12). Nachdem sie Lancelot in ihrem Reich geheilt hat, erlebt er nach neuem gedencken umb das groß leit das er gelitten hett umb sin frauwen, der fruntschajft er nymer gewinnen wonde (I 598,14f.), einen Rückfall, dessen Ursache die Frau vom See richtig erfaßt. Daher beschreibt sie ihm genau, unter welchen Umständen er die Königin am nächsten Himmelfahrtstag sehen wird (I 598,20f.; 598,27-599,4). Mit dieser Aussicht ist die Heilung gesichert. Während Lancelots Wahnsinn in Schottland durch die Gefangennahme und die damit verbundene Trennung von Ginover hervorgerufen wurde, ist die zweite Erkrankung doppelt motiviert, nämlich durch die physische Distanz aufgrund der eidlichen Verpflichtung, den Hof zu meiden, wie auch durch den Zweifel an Ginovers Treue. Die dritte Wahnsinnsepisode steht der des Yvain/Iwein am nächsten, weil hier wie dort die geliebte Frau dem Mann ihre Gunst entzieht. Sie ist im ProsaLancelot besonders ausführlich gestaltet und steht am Ende des Lancelot propre in wichtiger Position. Vorbereitet wird die Episode durch einen sinnbildlichen Alptraum Ginovers (II 227,11-23), der die Königin ihrerseits bis an die Schwelle des Wahnsinns bringt (II 228,22).69 Als Ginover das zweite durch Täuschung herbeigeführte Beilager von Lancelot und Amide, der Tochter des Gralkönigs, bemerkt, fühlt sie sich betrogen und sagt sich daher von ihm für immer los: 'Ach 69

Klaus Speckenbach, „Form, Funktion und Bedeutung der Träume im Lancelot-Gral-Zyklus". In: I sogni nel medioevo. Seminario internazionale. Roma 1983. Hg. von Tullio Gregory. (Lessico Intellettuale Europeo 35) Rom 1985, S. 317-356, hier S. 331-333.

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Klaus

Speckenbach

diep und verreter, wie darstu solch bubery in myner kammern triben? Fluh bald von hinnen, und gesehe ich dich nymer me komen an die ende da ich bin, du solts nit gut haben!' (II 781,9-11) Lancelot verläßt Camelot sofort, ohne mit jemandem zu sprechen. Er klagt über sein Unglück, rauft sich die Haare, zerkratzt das Gesicht und flüchtet in den dichtesten Wald. Tagelang bleibt er ohne Essen und Trinken, bis er syn synne verlor (II 781,15-782,8). Für den Artushof ist das Abhandenkommen Lancelots von einschneidender Bedeutung. Auch wenn die Königin bald ihre harte Reaktion bereut (II 782,26f.; 784,2-6), so nimmt das Fest zur Feier des Sieges im Flandernkrieg doch ein plötzliches Ende, und eine jahrelange, mit vielen Opfern und vergeblichen Mühen verbundene Suche nach dem besten Ritter beginnt. Die ganze Zeit über ist die Tafelrunde verstreut, der Hof bleibt verlassen und ohne seine festliche Mitte.70 Vergleichbar ist die Situation nur mit der Gralsuche, die zur völligen Verödung von Camelot führt und die sich unmittelbar an die Lancelot-Suche anschließt (Gral-Queste, III 1-384). Erzähltechnisch dienen die Aventiuren der Lancelot-Suche dazu, Parceval als den neuen Ritter einzuführen, der schließlich Lancelot finden und im Rahmen der Gralgeschichte eine hervorragende Rolle spielen wird. Die lange Ausführung von Lancelots Krankheit liest sich als eine Aventiurefahrt eines zwar unsinnigen, aber doch glänzenden Ritters. Hält Lancelot sich beim Ausbruch des Wahnsinns auch im Wald auf, so führt ihn sein Weg später doch wieder in die höfische Gesellschaft. Wie Iweins angeborene Art an seinem Jagdinstinkt (Erwerb von Pfeil und Bogen, regelmäßiges Jagen) erkennbar wird, so entspricht dem bei Lancelot der Umgang mit Kriegswaffen. Als er nackend und einsam zum ersten Mal auf Menschen stößt, ergreift er ein Schwert und zerschlägt damit einen Schild (II 802,9-21), ohne sich davon abbringen zu lassen. Blyans erkennt sein ritterliches Wesen und nimmt Lancelot gefesselt mit auf seine Burg, wo sich bei guter Versorgung sein Zustand bald derart bessert, daß nur noch die Füße gefesselt bleiben (II 805,14-25). Als Blyans dann durch eine Übermacht von Feinden in Lebensgefahr gerät, zerreißt Lancelot die restliche Fesselung, greift in die Kämpfe ein und rettet seinen Wohltäter (II 807,4—28). Bei einer Wildschweinjagd kann Lancelot den Eber zwar stellen und töten, aber er selbst wird am Schenkel schwer verwundet (II 808,18-809,15). So sinnvoll er bei dem Kampf und der Jagd mit den Waffen umgeht, seine Wunde weiß er nicht zu behandeln und ist auf die zufällige Hilfe eines Einsiedlers angewiesen. Doch Lancelot wehrt diese ab und schlägt mit dem Schwert nach dem Helfer (II 809,27-810,3). Allererst erkant der einsiedel syn torheit und hatt syn groß beduren, wann eryn syn ducht von hohem geschlecht (II 810,4f.). Wieder muß Lance-

70

Zu den seltenen Hoffesten und den langwierigen Bemühungen des Helden, an den Hof zurückzukehren, vgl. Klaus Speckenbach, „Lancelots Einkehr am Artushof zwischen Mißlingen und Erfolg". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 181-201.

Überlegungen zu Iweins Identität

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lot gefesselt werden, damit er in der Klause von der Wildschweinwunde geheilt werden kann. Doch sein Wahnsinn hat sich währenddessen verstärkt, unbemerkt verläßt er die Klause, mager, dürre und kale und ermclich gecleyt (II 810,16f.) gelangt Lancelot ohne bewußten Plan nach Corbenic, dem Gralschloß. Zunächst bleibt er unerkannt, wird bei aller Verspottung doch gut versorgt, bis eines Tages Amide den Schlafenden an seiner Schönheit trotz aller Entstellung erkennt (II 812,1-22). Eine im abenturlich[en] pallast in Gegenwart des Grals verbrachte Nacht führt schließlich zur endgültigen Heilung des Wahnsinnigen (II 813,21814,18). Eine Erinnerung an die Zeit seiner Krankheit hat er nicht, doch bald besinnt er sich auf Ginovers Zorn, die Ursache seines ganzen Unglücks (II 815,14—19). Er zieht sich auf die nahegelegene 'Fremde Insel' zurück, wo er nach langem Suchen von Parceval und Hector gefunden und von dort zur versöhnten Königin zurückgeführt wird.71 Die demütig in der gesellschaftlichen Isolation ersehnte Gunstbezeugung - durch sein Schildzeichen symbolisch dargestellt - wird Lancelot von Ginover erneut gewährt. Die breit erzählte 'Krankheits-Aventiure' Lancelots betrifft einen Zeitraum von mehreren Jahren (allein zwei Jahre hält er sich bei Blyans auf [II 808,17]). Sie wird von den Tafelrittern als Lancelot-Suche erlebt, die sich von Hoffest zu Hoffest erstreckt. Der Schwere der Krankheit korrespondiert die scheinbar endgültige Verstoßung durch Ginover wie auch die Heilung durch den Gral (und nicht etwa durch die Frau vom See). Insgesamt bedeutet dieser Erzählabschnitt eine besonders intensive Darstellung von Lancelots unbedingter Liebe, so wie auch Iweins Wahnsinn seine große Zuneigung unterstreicht (siehe oben). Wird diese Liebe durch Trennung oder - gravierender noch - durch Absage in Frage gestellt, führt die große Gemütsbewegung beide Helden in den Wahnsinn, der durch verbesserte Lebensumstände zwar gemildert, endgültig aber nur durch übernatürliche Mittel wie Feensalbe und Gral geheilt werden kann. Die Einwirkung des Grals ergibt zu diesem Zeitpunkt des Geschehens keinen Hinweis auf einen überhöhten religiösen Sinnzusammenhang, wie er für die Gral-Queste festzumachen ist. Wohl aber wird deutlich, daß die magischen Kräfte der Frau vom See ihren Schützling nun nicht mehr erreichen. Lancelots ehebrecherische Liebe zur Königin ist jedoch vor und nach der Heilung unverändert, sie ist beschrieben durch unbedingte Treue, Hingabe und Gehorsam bis zur Selbstaufgabe. Sie erfüllt sich aber ganz in der Immanenz. Nachdem die Liebe sich einmal entwickelt hat, unterliegt sie auch keiner Veränderung mehr, ebensowenig wie Lancelots Identität. Nach den Erkrankungen erfahrt sie keine neue Ausrichtung, vielmehr

71

Dazu siehe Dieter Welz, „Lancelot auf der 'Fremden Insel'. Zur strukturellen Lektüre einer Episode aus dem deutschen Prosa-Lancelot". In: Acta Germanica 11 (1979), S. 53-75. Nach Abschluß dieser Arbeit erschien: Dirk Matejovski, Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt/M. 1996, vgl. bes. S. 120-196, und Individuum und Individualität im Mittelalter. Hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer. (Miscellanea Mediaevalia 24) Berlin - New York 1996.

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wird der alte Zustand fortgeschrieben. Ein Paradigmenwechsel erfolgt erst während der Gralsuche. Iwein gerät nur einmal in eine Identitätskrise, die nach der Heilung vom Wahnsinn zu einem Neuansatz und einer Identitätserweiterung führt. Lancelot wird in seiner Existenz dadurch immer wieder bedroht, daß er an erneuter Liebesbegegnung mit Ginover zweifeln muß. Derart wiederholbare Krisenmomente verdeutlichen unter anderem die Labilität und Gefährdung der Lancelotliebe, die aber überraschenderweise im Tod des König Artus nicht in der Katastrophe, sondern in der Entsagung endet. Der Blick auf die Rezeption unterstreicht die Eigenart der Romane Chretiens und Hartmanns. Beiden Autoren dient die Erkrankung an Wahnsinn als Demonstration der unbedingten Liebe ihrer Protagonisten, was der Behandlung des Motivs im Prosa-Lancelot und Bussard entspricht. Zugleich verbinden Chretien und Hartmann die Episode aber auch mit einer den Sinn der Romane prägenden Identitätskrise, die Yvain/Iwein auf dem zweiten Aventiureweg überwindet. In der Rezeption wird diese spezielle Kombination von Minne und Identitätssuche in keinem Fall übernommen, ebenso bleibt das Strukturschema des Doppelweges ungenutzt. In der Cröne erlebt Gawein durch den Zaubertrank auch einen tiefgreifenden Selbstverlust. Seine Überwindung gelingt ihm einerseits ganz analog zu Iweins Reflexion in der Rückbesinnung auf seine ritterlichen Taten, andererseits aber in der Absage an die Lebensform als Ehemann und Landesherr, was konträr den Lösungen Chretiens und Hartmanns gegenübersteht. - Das Erwachen Wigalois' aus der Ohnmacht nach dem Sturz an das Seeufer ist zwar deutlich auf Iweins Erwachen aus der Krankheit bezogen, aber auf charakteristische Weise abgewandelt. Die Frage nach der Identität wird ebenso leicht zu neuer Selbstgewißheit geführt, wie das für den Kampf gegen Roaz unentbehrliche Schwert schnell wieder in Wigalois' Besitz kommt. Eine mögliche Krise zeichnet sich ab, wird aber dann ganz bewußt vermieden. Am Ende des Romans vereinigt Wigalois die Rollen des Minners, Artusritters und Landesherrn problemlos in sich, während Yvain/Iwein zu dieser Rollenharmonie erst gelangt, nachdem er durch Krise und Erkenntnisprozeß geführt ist. Die besondere Leistung Chretiens und Hartmanns ist es, die Identitätsproblematik zu einem Grundthema ihrer Romane gemacht zu haben.

Alexandra Stein (München)

vntz daz sin hant den spiegel gar zebrach Reflexionen über die Destruktion virtueller Realität in hern reymars 'Mir ist geschehen als eime kindeline'

I

Das Lied Mir ist geschehen als eime kindeline ist in zwei respektive drei Handschriften überliefert: der Großen Heidelberger oder Manessischen Liederhandschrift (C), dem seit 1945 verschollenen Troßschen Fragment (Ca), das eine Kopie der Manessischen Handschrift aus dem 15. Jahrhundert darstellt, und dem Hausbuch des Michael de Leone (E), welches um 1350 in Würzburg entstanden ist. Allgemein geht man davon aus, daß C nur die erste Strophe eines ursprünglich mehrstrophigen Liedes enthält, wie es mit einigen Modifikationen in Ε verschriftlicht ist. Dieser Darstellung liegt jedoch eine Vorentscheidung zugrunde, nämlich die, daß die ein- und die vierstrophige Fassung dasselbe Lied seien - nur mehr oder weniger vollständig überliefert.1 Ich möchte diese Möglichkeit nicht grundsätzlich ausschließen, gebe jedoch zu bedenken, daß - mit der gleichen Berechtigung, wie ich meine - die Frage nach dem Verhältnis beider Textzeugen auch anders beantwortet werden kann. So ist vorstellbar, daß die in C überlieferte Fassung - wie auch andere Heinrich von Morungen zugewiesene Einzelstrophen2 - durchaus als selbständiger Text verstanden und tradiert wurde. Daneben muß der in Handschrift Ε unter dem Namen reymars überlieferte Text nicht unbedingt als ein etwas verderbtes Zeugnis3 des von C apokopierten Originals gelten, sonVgl. z.B. Klaus Speckenbach, „Gattungsreflexion in Morungens Lied Mir ist geschehen als einem kindeline (MF 145,1)". In: Frühmittelalterliche Studien 20 (1986), S. 36-53, hier S. 37f., oder Hubert Heinen, „Reinmar als Narziss: zu MF 145,1 e". In: 'Dä hoeret ouch geloube zuo.' Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. (FS Günther Schweikle) Hg. von Rüdiger Krohn in Zusammenarbeit mit Wulf-Otto Dreeßen. Stuttgart - Leipzig 1995, S. 51-64, bes. S. 51f. und 54-56; vorsichtiger äußert sich Günther Schweikle in der Rezension zu Helmut Tervooren, Reinmar-Studien (1991). In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 104-109, hier S. 108; siehe auch ders., Reinmar der Alte. Grenzen und Möglichkeiten einer Minnesangphilologie. Habil. masch. Tübingen 1965. Vgl. z.B. Min herze, ir schoene und diu minne (MF 134,6); Vrowe, wilt du mich genern (MF 137,10); Vrowe, mine swcere sich (MF 137,17) u.a. Vgl. z.B. Antonin Hruby, „Historische Semantik in Morungens Narzissuslied und die Interpretation des Textes". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42 (1968), S. 1-22, hier S. 2.

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Alexandra Stein

dem kann auch als Rezeptionszeugnis der einstrophigen Fassung verstanden werden, insofern das Lied dort aufgegriffen, an signifikanten Stellen verändert und durch neue Strophen erweitert wird. Die Frage, ob in C eine verkürzte Fassung, in Ε eine dem Original sehr nahe kommende Version oder eine erweiterte Abart, vielleicht sogar nur eine Manifestation aus zahlreichen anderen mündlichen Varianten aufgezeichnet ist, läßt sich allein auf der Basis der beiden Textzeugen nicht beantworten. Ich möchte daher weniger Vermutungen über einen sich wie auch immer konkretisierenden 'Urtext' und dessen Verfasser äußern, als die Texte in der überlieferten Form ernst nehmen und mich auf diese konzentrieren. 4

II Die in C überlieferte einstrophige Fassung ist in der Diktion des Hohen Sanges verfaßt und stellt eine Mannesklage über eine unerfüllte Minnebeziehung dar. Sie setzt ein mit den Worten Mir ist geschehen, und im Folgenden berichtet ein sich im Sang aktualisierendes ich von dem Leid, das ihm einst widerfahren ist und über das es nun nachdenkt. Erst in den letzten drei Versen der Strophe kommt das ich jedoch genauer auf die von ihm verhandelte Beziehung zwischen sich und seiner vrouwe zu sprechen: also dähte ich iemer vrö ze sine, do ich gesach die lieben vrouwen mine, von der mir bi liebe leides vil geschach. (I 6 - 8 ) 5

Implizit werden in diesen Zeilen drei Zeiten greifbar: zum einen eine Zeit, in der sich das ich falscher, weil ausschließlich freudiger Hoffnung hingab. Diese wird abgelöst durch einen Zustand, der von der Erfahrung geprägt ist, daß die vrouwe bi liebe auch leit vermittelt. Wodurch diese veränderte Einsicht hervorgerufen wird, ist nicht benannt. 6 Die dritte Zeitphase schließlich unterscheidet sich kate4

Zur Frage der Verfasserschaft siehe zuletzt Albrecht Hausmann, Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität eines hochminnesängerischen CEuvre. Diss, masch. München 1996.

5

Zitiert nach: Des Minnesangs Frühling. 38., erneut revidierte Auflage mit einem neuen Anhang. Bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Stuttgart 1988. Siehe dazu Otto Ludwig, „Komposition und Bildstruktur. Zur poetischen Form der Lieder Heinrichs von Morungen". In: Zeitschrift für deutsche Philologie 87 (1968), Sonderheft, S. 48-71, hier S. 51; Hruby (Anm. 3), S. 7; Hans-Herbert Räkel, „Das Lied von Spiegel, Traum und Quell des Heinrich von Morungen (MF 145.1)". In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 7 (1977), Heft 26, S. 95-108, hier S. 99; Christoph Huber, „Narziß und die Geliebte. Zur Funktion des Narziß-Mythos im Kontext der Minne bei Heinrich von Morungen (MF 145,1) und anderen". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 587-608, hier S. 590; Speckenbach (Anm. 1),

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gorial von den beiden anderen, insofern sie nicht als Vergangenheit des ich reflektiert, sondern als sich in der Gegenwart aktualisierende Auffuhrungssituation inszeniert wird. Den eingangs zitierten Zeilen ist nun eine Aussage vorgeschaltet, in der das ich seine eigene Situation mit einer allgemeinen, nicht singular ihm selbst korrelierten Erfahrung vergleicht: Mir ist geschehen als einem kindeline, daz sin schoenez bilde in einem glase gesach unde greif dar nach sin selbes schine sö vil, biz daz ez den spiegel gar zerbrach. Dö wart al sin wunne ein leitlich ungemach. (I 1-5)

Der mit den Lexemen 'als' (I 1) und 'also' (I 6) verbundenen Aufforderung zur Referentialisierung nachzukommen, erweist sich jedoch als schwierig.7 Zwar läßt sich dem kindelin relativ eindeutig die erste Vergangenheitsphase des ich zuordnen, insofern das sehen des bildes mit dem sehen der vrouwe korrespondiert,8 doch stellt sich bereits hier die Frage, ob die vrouwe allein das Abbild, das Medium (Spiegel) oder aber beides zusammen9 repräsentiert. Trifft demzufolge der Akt der Zerstörung nur die Integrität des Mediums - wobei dann zu fragen ist, worauf dieses zu beziehen wäre - oder auch die des bildes respektive der vrouwe'? Welches Geschehen innerhalb der Minnebeziehung ist mit dem Ergreifen und Zerstören des Spiegels korreliert? Und schließlich: Meint der Ausdruck von der mir bi liebe leides vil geschach, daß sich - wie beim kindelin - vröude in leit verwandelt hat, oder ist dem ich von seiner vrouwe beides zugleich zugefügt worden?10 Der Text, wie er in Handschrift C überliefert ist, verweigert eine eindeutige Beantwortung dieser Fragen. Dies muß nicht unbedingt einer verderbten Überlieferung angelastet werden, wiewohl ich diesen Fall nicht grundsätzlich ausschließen möchte. Daß seine Elemente nicht gänzlich zur Deckung gebracht werden

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S. 43, sowie zuletzt Beate Kellner, „Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedercorpus Heinrichs von Morungen". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 119 (1997), S. 33-66. Huber (Anm. 6), S. 590, beschreibt das Verhältnis der Vergleichskomponenten als „Bildund [...] Auslegungsteil", relativiert dies später jedoch: „Wir zögern. Die Auslegung, die den Sinnbezug auf das Minnethema herstellen sollte, ist unklar und verschweigt Wesentliches. [...] Die klare Zeitstruktur des Vergleichs verschiebt sich in der Auslegung. Im übrigen verbleiben Leerstellen der Deutung. Gerade der wichtigste Punkt ist dunkel: Warum und wie kommt es zum Einbruch des Leides?" (ebd.) Roswitha Wisniewski, „Narzißmus bei Heinrich von Morungen". In: Festschrift Helmut de Boor zum 75. Geburtstag. Hg. von den Direktoren des Germanischen Seminars der Freien Universität Berlin. Tübingen 1966, S. 20-32, hier S. 20. Vgl. Speckenbach (Anm. 1), S. 44; siehe dort, Anm. 34 und 35, auch den Überblick bezüglich der anderen genannten Positionen. Vgl. Rakel (Anm. 6), S. 99.

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können, liegt auch im Wesen des Vergleichs selbst begründet, und vielleicht ist es gerade die Offenheit seiner Struktur,11 welche die Einzelüberlieferung rechtfertigt und den Reiz dieser Strophe ausmacht.12 Wie immer man den Sachverhalt bewerten will, so sollte doch bei der Suche nach der Referentialleistung des sogenannten Bildes nicht übersehen werden, daß in dieser Strophe ein eigenartiges Spannungsverhältnis zwischen vergangenem und gegenwärtigem Geschehen aufgebaut wird, insofern die Handlungsweise des kindelins in dem Augenblick, in dem sie der Sänger thematisiert, von diesem wiederholt wird: Hoher Sang zeigt sich [...] zentral als Minnewerbung, das singende Ich ist das um die Liebe der Dame - auch im Medium seines Sanges - werbende Ich, das Singen von dieser Werbung erscheint als diese selbst. 13

Auch wenn der als haptisch ausgewiesene Zugriff des kindelins hier durch den Versuch substituiert ist, die Distanz zur vrouwe im ifterat-Modus des Sanges zu verringern, steht - so die Konvention - hinter diesem Bemühen doch das gleiche Ziel wie hinter jenem: Der Versuch der Annäherung ist auch in der Ausübung des Sanges enthalten und - gerade weil die vrouwe als unnahbar inszeniert wird - dort zudem als Beweis einer das ich auszeichnenden stcete positiv konnotiert. Vor dem Hintergrund des als vergangen thematisierten Geschehens wird somit die drohende Gefahr sichtbar, der sich das ich entsprechend der Sängerrolle, die es einnimmt, durch seine Werbung aussetzt: Auch der gegenwärtige Sang kann zur Vernichtung der 'vrouwe' fuhren, wenngleich nicht der Zugriff als solcher das schoene bilde zerstört, sondern einzig derjenige, welcher der materiellen Qualität des Spiegels unangemessen ist, den Körper des Mediums durchdringt und dessen Oberfläche verletzt.14 Mit der Zerstörung des Mediums ist aber auch das bilde unwiederbringlich verloren, und retrospektiv ergibt es in meinen Augen Sinn, daß die beiden Vergleichselemente nicht vollständig aufeinander applizier-

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Vgl. ebd., S. 100; anders dagegen Ludwig (Anm. 6), S. 52, der diese Offenheit als einen Verlust der Vergleichsfunktion beschreibt. Vgl. Heinen (Anm. 1), S. 54. Peter Strohschneider, ,,'nu sehent, wie der singet!' Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang". In: 'Auffährung' und 'Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994. Hg. von Jan-Dirk Müller. (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17) Stuttgart Weimar 1996, S. 7-30, hier S. 14. Vgl. Margot Schmidt, „Identität und Distanz. Der Spiegel als Chiffre in der höfischen Dichtung des Mittelalters". In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 19 (1978), S. 233-255, hier S. 242: „Der Spiegel wird zerbrochen, weil nach ihm 'gegriffen' wird, und zwar so vil biz daz er in Scherben zerbricht. Das hartnäckige Insistieren, nicht eher zu ruhen, bis daß ein Grund erreicht wird, selbst wenn er sich in der Zerschlagung als Abgrund und unendliches Leid auftut, kennzeichnen die beiden [...] Zeilen [...] als gewichtigen Mittelpunkt." Schmidt sieht hier jedoch ganz allgemein das Problem der maze verhandelt (vgl. ebd., S. 244f.) und bezieht die Textstelle nicht auf das Bemühen um einen entweder vergeblichen oder aber zerstörerisch wirkenden 'Zugriff, wie ihn der Hohe Sang präsupponiert.

W z daz sin hant den Spiegel gar

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bar sind, der Text hier mit Leerstellen operiert.15 Denn wäre der letzte, das bilde zerstörende Zugriff des ich auf der Handlungsebene konkret zu benennen, wäre die vrouwe, in deren dienst es sich - noch immer - mit seinem Sang stellt, faktisch destruiert,16 wäre der Sang mit der damit verbundenen Rollenübernahme unvereinbar, könnte so nicht mehr gesungen werden.17

III Die Feststellung, der Text arbeite mit Leerstellen, um - innerhalb der Konvention - seine eigene Existenz rechtfertigen zu können, mag als Zwischenergebnis zunächst befriedigen; die Funktion des Spiegelgeschehens ist damit nicht geklärt. Ich möchte mich dem Problem daher zunächst mit einer elementaren Frage annähern, nämlich der Frage, wonach das kindelin eigentlich greift. Der Gegenstand als solcher ist eindeutig zu identifizieren: Es ist ein Spiegel. Aber nicht er ist das Objekt der Begierde, sondern das virtuelle Abbild, das er erzeugt.18 Doch selbst die Antwort, das kindelin greife nach dem bilde, da dies das Objekt seines Begehrens darstelle, enthält nur die halbe Wahrheit, denn sie unterliegt einer einseitigen Perspektivierung; sie unterschlägt die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen kindelin und Objekt. Es ist auch der vom Objekt ausgehende Aufforderungscharakter, der 'Appell der Dinge', der von jenem ausgeht, das Begehren weckt und das kindelin handeln läßt:19 Erst die vom kindeline wahrgenommene Schönheit des bildes läßt in ihm den Wunsch konkret werden, jenes zu berühren.20

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16

17

Vgl. auch Hruby (Anm. 3), der davon ausgeht, „daß das Spiegelgleichnis nicht in der ersten, dafür aber in der letzten Strophe zu seinem vollen Abschluß gebracht wird" (S. 7), oder Huber (Anm. 6), der betont, daß erst „die zweite Strophe auf diese Skizze mit leeren Flächen ein anderes Bild projiziert" (S. 591). Dies um so mehr, als die Destruktion des Spiegelglases - im Unterschied zu einer Wasseroberfläche - als irreversibel vorgeführt wird. Diese Ambivalenz scheint zumindest für Ε nicht traditionsfähig gewesen zu sein; siehe dazu unten S. 157ff.; vgl. auch die Beobachtungen Strohschneiders (Anm. 13), S. 16f., zu MF 166,1 Iff. in E.

18

Vgl. Speckenbach (Anm. 1), S. 44. Explizit betont Hruby (Anm. 3), S. 8, die Virtualität des Spiegelbildes: „Bei Morungen dagegen greift das Kind nicht nach dem Spiegel, sondern bezeichnenderweise nach sin selbe schine, was offensichtlich eine Formulierung ist [...], die den imaginären Charakter dieser besonderen Liebeserfahrung unterstreicht." Für Hruby ist Imagination jedoch unauflöslich mit Spiritualität verknüpft (siehe ebd., S. 16f.).

19

Siehe dazu Edgar De Bruyne, Etudes d'esthetique medievale. 3 Bde. Brügge 1946, Bd. 3, S. 80-82; Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter. Übers, von Günter Memmert. München - Wien 3 1995 (Originalausgabe Mailand 1987), S. 120; sowie Karl-Heinz zur Mühlen, „Affekte II". In: Theologische Realenzyklopädie 1 (1977), S. 599-612, hier S. 603.

20

Dietmar Peschel, „Ich, Narziß und Echo. Zu Heinrichs von Morungen: Mir ist geschehen als einem kindeline"'. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 30 (1980), S. 25—40, geht

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Das Spiegelbild ist jedoch durch das bedingt, was sich vor dem Spiegel befindet. Die Attraktivität des virtuellen Bildes, die auf das kindelin zurückwirkt, wird von diesem selbst erzeugt:21 Was es affiziert, ist nicht ein fremdes Gegenüber, sondern das dem eigenen Körper eingeschriebene Unbekannte, das nur,

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davon aus, daß es sich hierbei um eine „dichterische^ Rekonstruktion der kindlichen Erfahrung" (S. 28) handele. In der Diskussion der Vorlage, für die ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte, wurde das 'Spiegelstadium' als Phase der frühkindlichen Entwicklung genannt und auf Jacques Lacan („Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949". In: Das Werk von Jacques Lacan. In deutscher Sprache hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger. Bd. 1: Schriften 1. Ausgewählt und hg. von Norbert Haas. Weinheim - Berlin 2 1986, S. 61-70) verwiesen. Ich denke jedoch, daß der verhandelte Text nicht im Sinne einer modernen Psychologietheorie interpretiert werden darf. Die Darstellung kindlichen Verhaltens unterliegt hier - unbeschadet der sich darin manifestierenden frühkindlichen Entwicklung - meiner Meinung nach einem ganz anderen Frageinteresse als es die moderne Psychologie verfolgt und ist auf ersteres hin funktionalisiert. Mit Herbert Kolb, Der Begriff der Minne und das Entstehen der höfischen Lyrik. (Hermaea N.F. 4) Tübingen 1958, S. 27ff., und Hruby (Anm. 3) bin ich ohne deren Interpretation im Detail übernehmen zu wollen - der Ansicht, daß der Text auf Problemkonstellationen mittelalterlicher Erkenntnistheorie rekurriert. Siehe in diesem Zusammenhang auch Elisabeth Schmid, „Augenlust und Spiegelliebe. Der mittelalterliche Narziß". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 551-571, hier S. 556ff., die Kolbs und Hrubys Thesen kritisch hinterfragt und modifiziert. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Kellner (Anm. 6), S. 63f.: „Im Narzißlied wird die Beziehung des Ich zur vrouwe über die Vergleiche mit dem Kind, das sich im Spiegel oder in der Quelle erblickt, als Selbstprojektion dargestellt. Die Dame entspricht dem Spiegelbild des Ich, seinem schaten. Damit zerfällt der 'Realitätsstatus' der Dame zur 'Ich-Projektion' in Spiegel- und Quellvergleich bzw. im komplementären szenischen Bild des Traumes zur Traumimagination. Wenn im Traum der zweiten Strophe analog zu den Vergleichen der ersten und dritten Strophe der 'Realitätsstatus' der Dame aufgehoben wird, erklärt sich auch, warum es im Text des Liedes kein Erwachen aus dem Traum geben kann. Das Lied macht den Status der Dame als fiktionalen zum Thema." Während ich jedoch - wie auch Peter Bründl, „unde bringe den wehsei, als ich wcen, durch ir liebe ze grabe. Eine Studie zur Rolle des Sängers im Minnesang von Kaiser Heinrich bis Neidhart von Reuental". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 44 (1970), S. 409-432, hier S. 419 - dazu tendiere, dies als Reflexion über das eigene poetologische Schaffen zu interpretieren, propagiert Kellner (Anm. 6), S. 64, eine tiefenpsychologisch orientierte Auslegung: „Es [das Ich] verharrt wie ein kint der wisheit unversunnen in seiner narzißtischen Bindung. Diese verhindert zwar - ganz im Sinne der Freudschen Libidotheorie - die Öffnung des männlichen Ich auf ein weibliches Du, aber sie wird andererseits zur Bedingung der Möglichkeit des fortgesetzten Sangs, der Klage wie des Preises [...]." Im Hinblick auf poetologische Implikationen des Begriffes 'bilde' siehe Jan-Dirk Müller, „Walther von der Vogelweide: Ir reinen wip, ir werden man". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 124 (1995), S. 1-25, hier S. 16 Anm. 54, der unter Hinweis auf L 72,37ff., bes. 73,16 nach Hs. E, darauf aufmerksam macht, daß auch Walther „die vrouwe als Projektion des Sängers bezeichnet [hat]", und dies poetologisch begründet (ebd., S. 16). Vgl. zudem Ich wcene nieman lebe (MF 138,17), bes. 138,25ff. und 139,1 Iff.

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weil unbekannt, als fremd erfahren wird. Die Wahrnehmung der - eigenen Schönheit führt nun aber nicht, wie es von mittelalterlichen Philosophen propagiert wird, zu einem intellektuellen Erkennen, das frei von affektivem Begehren seine Befriedigung in der bloßen Anschauung des Schönen fände; die Schönheit des eigenen Abbilds erweckt im kindeline vielmehr das Verlangen nach dem Besitz des perzipierten Objektes und läßt in ihm den Wunsch entstehen, den visuellen in einen taktilen Dialog zu überfuhren und so die Differenz zwischen 'Ich' und vermeintlichem 'Du' zu reduzieren.22 Das kindelin nimmt die Aufforderung an und sucht sie zu erfüllen, solange, bis es den Gegenstand, der jene formuliert, zerstört hat. Der Versuch des Zugriffs jedoch muß scheitern, denn die hier als 'real' ausgewiesene Grenze ist nicht der Abstand zweier Körper, sondern der Körper eines Mediums, das einen Körper (kindeline) abbildet: Es ist das Glas des Spiegels.23 Das Abbild ist nicht drei-, sondern zweidimensional flächig. Der optische Eindruck von Räumlichkeit täuscht. Die Wahrnehmung dessen, was Gesichts- und Tastsinn übermitteln, ist nicht kompatibel, wenn das Gegenüber - der Spiegel in seinem Wesen verkannt, das virtuelle Abbild, das mit seiner Hilfe hervorgerufen wird, mit einem 'realen' Körper verwechselt wird. Das Spiegelbild existiert, sobald und solange sich das kindelin vor dem intakten Spiegel befindet, und es erzeugt in dem Augenblick seinen Appell, in dem es 22

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Zur Diskussion dieser Probleme in der mittelalterlichen Philosophie siehe vor allem Edgar De Bruyne, L'esthetique du moyen äge. (Essais Philosophiques 3) Louvain 1947, S. 145ff. Satirisch persifliert wird der Versuch, die minne zum eigenen Abbild in eine konkrete Berührung zu überführen, im Reinhart Fuchs'. Der Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich. Unter Mitarbeit von Katharina von Goetz, Frank Henrichvark und Sigrid Krause hg. von Klaus Düwel. (Altdeutsche Textbibliothek 96) Tübingen 1984, V. 831-850, 864-876 sowie 901ff. Zur Ausführung mittelalterlicher Spiegel siehe Wilhelm Wackernagel, „Ueber die Spiegel im Mittelalter". In: Ders., Kleinere Schriften. Bd. 1: Abhandlungen zur deutschen Alterthumskunde und Kunstgeschichte. Leipzig 1872, S. 128-142, bes. S. 13Iff.; Gustav F. Hartlaub, Zauber des Spiegels. Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst. München 1951, S. 41 und 186, sowie Peschel (Anm. 20), S. 29. Dort findet sich auch der Einwand, daß mittelalterliche Spiegel wenig 'realistisch' seien: „Das Zauberhafte am Spiegelbild, stelle ich mir vor, ist gerade die unähnliche Ähnlichkeit. Davon ist bei Morungen keine Rede. Sein Spiegel-Bild mutet mich auch clichehaft an, weil es, bis auf die Seitenverkehrtheit, ein ideales Abbild sein könnte. [...] Das ganze Bild [vom Kind, das in den Spiegel schaut] scheint sich auf kaum eine Wirklichkeit, wirkliche Erfahrung zu beziehen, es kommt mir vor, als wäre es schon immer ein Bild gewesen. Der Vergleich kommt mir schief vor, bevor er noch ausgeführt ist. Das Bild enthält etwas Paradox-Anachronistisches insofern es, wie mir scheint, erst mit unserer Kenntnis von Spiegel, Kindheitsgeschichte, Spiegelphase zu verstehen ist." Der Einwand scheint mir jedoch irrelevant insofern, als bereits die Vorstellung von der Möglichkeit einer 'originalgetreuen' Wiedergabe genügt, um letztere in einem Argumentationszusammenhang zu legitimieren. Vgl. z.B. Lamprechts Alexander nach drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besangen und den lateinischen Quellen. Hg. und erklärt von Karl Kinzel. (Germanistische Handbibliothek 6) Halle/S. 1884, V. 5591-5595 und 61356150, wo Candacis ein Portrait Alexanders hat anfertigen lassen und diesen daran erkennt.

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von dem kindeline wahrgenommen wird. Zerbricht nun der Spiegel, so entschwindet mit dem Medium auch das im virtuellen Raum des Spiegels 24 existente Spiegelbild. Die Folge davon ist leif. Dö wart al sin [des kindelins] wunne ein leitlich ungemach (I 5). Mit der Verkehrung von wunne in leit ist ein komplexer Vorgang verbunden, der mit der Vorstellung des 'Umschlags' von einer positiven zu einer negativen Gestimmtheit nur ungenügend erfaßt wird. Die Empfindung von leit setzt voraus, daß das 'virtuell-reale' Spiegelbild von den sensus exteriores aufgenommen und über die vis imaginativa in die memoria und damit in ein 'imaginativ-virtuelles' überführt worden ist.25 Denn der Appell, den es erzeugt hat, bleibt bestehen und geht jetzt von den höhergestellten sensus inter lores des kindelins selbst aus. Konnte sich letzteres bei der Wahrnehmung des Spiegelbildes noch der - irrigen - Hoffnung hingeben, es vermöchte dieses in seiner Körperlichkeit zu berühren, so muß es nun erkennen, daß das Objekt seiner Sehnsucht unerreichbar geworden ist. Eingeschrieben ist seiner Trauer ein hierarchisiertes Verhältnis, welches zwischen ihm, dem kindeline, und seinem Abbild aufgebaut wird und welches sich über das Verursachen und Erleiden von Schmerz ausdifferenziert:26 Es ist 'der Andere', der durch sein Entschwinden Kummer hervorruft, und ohnmächtig muß das kindelin hinnehmen, was es sich selbst zufugt.

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Ich verwende diesen Begriff, um einerseits die Gemeinsamkeit von Spiegel (Strophe I), Traum (Strophe II) und Zukunftsvision (Strophe III) zu beschreiben, andererseits aber auch die Inkompatibilität der einzelnen Räume markieren zu können. Zu welchen terminologischen Schwierigkeiten Begriffe wie 'Vergleich', 'Text', 'Flügel- und Traumbild', 'Bild', 'Bild im Bild' etc. fuhren können, zeigen die Arbeiten Ludwigs (Anm. 6), bes. S. 55f. und 66ff., und Räkels (Anm. 6), bes. S. 103f. Siehe dazu E. Ruth Harvey, The Inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance. (Warburg Institute Surveys 6) London 1975, bes. S. 17, sowie Mary J. Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. (Cambridge Studies in Medieval Literature 10) Cambridge 1990, S. 46ff., bes. S. 56 (dort auch weiterführende Literatur); verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf Thomas von Aquin, Summa theologica II, 36.2, der anmerkt, daß der Schmerz über den Verlust eines bereits besessenen Gutes größer ist, als der über den Verlust eines nur erhofften. Daß die vrouwe, die 'Herrin', dem ich übergeordnet ist und durch ihre Unantastbarkeit die Unüberwindlichkeit der bestehenden Distanz dokumentiert, sich das hierarchische Verhältnis beider somit weniger in der Explikation ständischer Ungleichheit als vielmehr in der Zufugung und dem Erleiden von Schmerz (leit) manifestiert, gehört zu den Charakteristika des Hohen Sangs. Siehe dazu Günther Schweikle, Minnesang. Stuttgart 1989, bes. S. 168-171; ders., „Die frouwe der Minnesänger. Zu Realitätsgehalt und Ethos des Minnesangs im 12. Jahrhundert". In: Ders., Minnesang in neuer Sicht. Stuttgart - Weimar 1994, S. 29-66, hier S. 51; sowie Claudia Händl, Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 467) Göppingen 1987, S. 28f. Schmidt (Anm. 14), S. 243, dagegen sucht das im Narziß-Lied aufscheinende Hierarchieverhältnis konkreter zu fassen und durch die Tradition des Marienpreises zu legitimieren.

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Die zunehmende Differenz zwischen eigener Person und einem als 'Gegenüber' wahrgenommenen Selbst manifestiert sich in drei Stufen: Der ihm zugehörige Körper ist für das kindelin zunächst ohne Interesse; die Vollkommenheit der eigenen Schönheit, zu der auch das Gesicht gehört,27 kann von ihm ohne mediales Hilfsmittel nicht wahrgenommen werden. Das Abbild aber, das der Spiegel vor Augen hält, fuhrt zu einem auf Berührung ausgerichteten Begehren, dem jedoch die materia des die Wahrnehmung ermöglichenden Mediums entgegensteht. Der unablässige Versuch, die Differenz zwischen Selbst und eigenem Abbild haptisch zu überwinden, führt, sobald er von Erfolg gekrönt scheint, zur Zerstörung des Mediums und damit auch des Abbilds.28 Das vom Spiegel erzeugte bilde verliert infolgedessen seine 'virtuell-real' verankerte Lokalisierung. Es existiert nurmehr in der immateriellen Form der memoria. Je größer aber der Abstand zu dem begehrten Objekt ist, desto mehr wächst dessen Attraktivität und je mehr die Erkenntnis über die Unüberwindbarkeit der Distanz ins Bewußtsein dringt, um so höher ist die sich im Ausmaß des Leides konkretisierende Wertschätzung, welche vrouwe und Abbild erfahren.

IV Moderner Logik erscheint die durch den Vergleich vorgenommene Korrelation von Spiegel- und Minnegeschehen nun paradoxal konstruiert - und dies in mehrfacher Hinsicht. Der androgyne Status des kindelins verschleiert, daß (männliches) bilde und vrouwe in ihrer Attraktivität als Sexualobjekt im Grunde nicht substituierbar sind. Eine homoerotische Beziehung, wie sie die minne zum eigenen Abbild impliziert, und wie sie — nebenbei bemerkt - der Ovidsche Narcissus-Mythos29 27

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29

Siehe dazu Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Hg. von Ernesto Grassi und Walter Hess. (Kunstgeschichte. Deutung Dokumente. Geschichte der Ästhetik 2) Köln 1963, S. 36ff., sowie Eco (Anm. 19), S. 132f. Zum „Paradox einer Werbung, deren Ziel die Erfüllung einer Liebe ist, die gerade nicht erreicht werden darf' siehe Kellner (Anm.6), S. 33 mit Anm. 2. Die Frage, ob überhaupt und, wenn ja, inwieweit das sogenannte Narziß-Lied auf den von Ovid überlieferten Mythos rekurriert, wurde von der Forschung immer wieder thematisiert. Den Ausgangspunkt der Diskussion bildete zunächst die dritte Strophe des Liedes, wie es in Des Minnesangs Frühling abgedruckt ist, doch wurde aufgrund struktureller Analogien auch die erste Strophe in diese Überlegungen mit einbezogen (so beispielsweise Kellner [Anm. 6], S. 58). Zur Problematik der Ovid-Rezeption siehe die Zusammenstellung verschiedener Stellungnahmen bei Valentin Schweiger, Textkritische und chronologische Studien zu den Liedern Heinrichs von Morungen. Freiburg/Br. 1970, S. 310f.; zuletzt suchte Wisniewski (Anm. 8), S. 28-32, die konkreten Überlieferungszusammenhänge zu eruieren. Sie geht davon aus, daß Heinrich von Morungen zum einen über den von Carl von Kraus in den Anmerkungen seiner Morungenausgabe abgedruckten Text eines provenzalischen Liedes und zum anderen über Albrechts von Halberstadt Übersetzung der Metamorphosen den Mythos

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durchaus konnotiert,30 ist im Kontext der Hohen Minne undenkbar. Nur unter der Prämisse, daß die Schönheit des kindelins nicht geschlechtsspezifisch kodiert ist, gelingt es, die beiden konkurrierenden Modelle - Sänger wirbt um vrouwe / das vom Medium reflektierte Selbstbildnis - miteinander zu verbinden. Die durch Konvention bedingte Asexualisierung des bildes31 verweist darauf, daß es hier wie Vinge in anderem Zusammenhang bemerkt - weniger um „self-love" als „love for the reflection" geht.32 Damit stimmt überein, daß die scheinbare In-

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vermittelt bekam. Problematisch ist, daß das letztere Werk nur bruchstückhaft überliefert ist und von Wisniewski über die Bearbeitung Jörg Wickrams 'rekonstruiert' werden muß. Die Authentizität des bei von Kraus abgedruckten Liedes wurde inzwischen von Peter Hölzle, ,^4issi m 'ave cum al enfanpetit eine provenzalische Vorlage des Morungen-Liedes Mirst gesehen als eime kindeline (MF 145,1)?". In: Melanges d'Histoire Litteraire, de Linguistique et de Philologie Romanes. (FS Charles Rostaing) 2 Bde. Liege 1974, Bd. 1, S. 447^67, nachhaltig in Frage gestellt. Zur Verarbeitung des Mythos im Narziß-Lied - mit unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Elemente - siehe auch die Arbeiten von Frederick Goldin, The Mirror of Narcissus in the Courtly Love Lyric. Ithaca/NY 1967, S. 153-160; Schmidt (Anm. 14); Schmid (Anm. 20); Huber (Anm. 6), S. 593-606; Speckenbach (Anm. 1), S. 43; Heinen (Anm. 1), S. 57, und Kellner (Anm. 6), S. 58; sowie vor allem auch Louise Vinge, The Narcissus Theme in Western European Literature up to the Early 19lh Century. Lund 1967, bes. S. 70f., die spezifische Transformationen bei der Adaptation des Mythos in den mittelalterlichen Werken herausarbeitet. Zu psychologischen Implikationen des Mythos sowie des mittelalterlichen Textes siehe vor allem Räkel (Anm. 6), S. 104ff., und Huber (Anm. 6), S. 607f.; sowie die bereits 1981 geäußerte und meiner Ansicht nach zutreffende Kritik von David F. Hult, „The Allegorical Fountain: Narcissus in the Roman de la Rose". In: Romanic Review 72 (1981), S. 125-148, hier S. 127: „As a myth, however, the tale leaves itself open to multiple readings, of which the modem one is simply one version. As a matter of fact, the most common reading of Narcissus in the courtly context treated him as an analogue to the courtly lover who cannot attain what he most desires (the Lady). Such a reading completely ignores what the modern world finds essential in the myth, the turning inward toward the self." Siehe in diesem Zusammenhang auch Nancy Karl Hayes, „Negativizing Narcissus: Heinrich von Morungen at Julia Kristeva's Court". In: The Journal of the Midwest Modern Language Association 22 (1989), S. 43-60, die das Gedicht im Sinne einer sich ausdifferenzierenden Spannung zwischen Subjekt und Umwelt interpretiert, wobei ihr methodischer Zugriff von den Theorien Freuds, Elias' und Kristevas bestimmt ist. Ebenfalls auf Freud und Elias basiert Jürgen Kühneis Interpretation („Heinrich von Morungen, die Höfische Liebe und das 'Unbehagen in der Kultur'". In: Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter. Hg. von Ulrich Müller, Franz Hundsnurscher und Cornelius Sommer. [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 440] Göppingen 1986, S. 253-282), der jedoch stärker die Notwendigkeit der Domestikation des Aggressions- und Destruktionstriebs im Sinne der Kulturentwicklung betont. Vgl. Publius Ovidius Naso, Metamorphoses. Hg. von William S. Anderson. Korrigierter Nachdruck der 5. Auflage. Stuttgart 1993, V. 415ff., bes. 450ff. Zu anderen Formen der Amalgamierung und Transformation 'narzißtischer' Liebe im Hinblick auf ein heterosexuelles Verhältnis siehe Vinge (Anm. 29), bes. S. 65. Präsupponiert man die Überlieferungstradition des Ovidschen Narcissus-Mythos als Quellenreservoir des Narziß-Liedes, so hat man hier zumindest eine Funktionsverschiebung der Erzählelemente in Rechnung zu stellen.

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kommensurabilität der Vergleichselemente (männliches) 'bilde" und 'vrouwe' durch den unterschiedlichen Reflexionsstatus aufgefangen wird, den kindelin und r'c/z-Instanz des Textes aufweisen: Ersteres begehrt das bilde in dem Glauben, daß es sich um den real existierenden Körper eines anderen handele. Die zcA-Instanz dagegen reflektiert über die eigene zu diesem Zeitpunkt bereits der Vergangenheit angehörende Selbsttäuschung, die sowohl die Verkennung einer nur virtuell existierenden Realität als auch die irrtümliche Objektivierung des eigenen Körpers mit einschließt: Mir ist geschehen als einem kindeline | daz sin schoenez bilde in einem glase gesach (I lf.). Nicht egofixierte Selbstliebe, wie sie der Mythos diskutiert, ist somit das zentrale Thema des Textes, sondern die Enttäuschung darüber, daß die in ihrem Wesen auf die vrouwe ausgerichtete minne selbstreferentiell auf das ich zurückweist. Aber auch die Korrelation zwischen dem Aktanten des Bildes, dem kindelin, und dem rollenspezifischen Verhalten des Sängers weist neben kommensurablen Elementen gewisse Inkohärenzen auf. So ist im Spiegelgeschehen die bis zum Äußersten gesteigerte praesentia in absentia erreicht, als das bilde nur mehr in der leidvollen Erinnerung des kindelins existiert. Das Sänger-ich dagegen befindet sich - so der fiktive Kontrakt - noch auf der Stufe aktiver Annäherung, denn es umwirbt die vrouwe mit seinem Sang, und dies ist sinnvoll nur in deren Anwesenheit. Ließ nun die in C überlieferte Strophe die Korrelation von Bildspender und -empfänger in der Schwebe, parallelisiert die vierstrophige Fassung Spiegel- und Minnegeschehen sehr viel enger.33 Die in C thematisierte Ambivalenz der von der vrouwe erzeugten Affekte - liebe bi leide - wird im Narziß-Lied vereindeutigt, die Möglichkeit, Freude zu empfinden, als vorübergehende Täuschung decouvriert.34 Nicht mehr um Freude und Leid geht es mehr, sondern ausschließlich um den von der vrouwe zugefugten Schmerz: von der mir hertzeleides vil geschah. Die stringentere Korrelation des Fatums von Bildaktant und ich aber erhöht die paradoxale Spannung, die dem Textgefüge inhärent ist, denn die Liebe zum zerstörten Abbild durchbricht die traditionellen Konventionen der Aufftihrungssituation: Zwar inszeniert der Sänger noch immer seine Werbung und präsupponiert damit die Anwesenheit seiner vrouwe, gleichwohl ist deren Präsenz - nimmt man die Bildlichkeit des Vergleichs ernst - nicht mehr gegeben:

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Zur Idealität der Narcissus-Minne, die von deren absoluter Hingabe abgeleitet wird, siehe Vinge (Anm. 29), S. 71, und Speckenbach (Anm. 1), S. 43. Letzterer konnotiert die stcete des minnenden ich jedoch ausschließlich mit dem kontemplativen Anblick des eigenen Selbst, wie ihn die vierte Strophe thematisiert - und nicht mit dem permanenten und vergeblichen Versuch, sich durch einen das Medium nicht verletzenden 'Zugriff' dem Abbild zu nähern (ebd.).

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Heinen (Anm. 1), S. 56, spricht in diesem Zusammenhang von „Überlieferungspannen" respektive „Vortragsvarianten".

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Der Spiegel ist zerbrochen, das bilde zerstört, die vrouwe verschwunden. Was bleibt, ist die Trauer über die vergangene Erscheinung.35 Im Zusammenhang mit der Existenz respektive Nicht-Existenz der vrouwe drängt sich jedoch noch eine weitere Frage auf, nämlich die, wie das ich seine eigene vrouwe zu erzeugen vermag oder, anders formuliert, wie es sich mit Hilfe eines Mediums selbst projizieren und diese Projektion als unerreichbares summum bonum konzipieren kann. Weder auf der Handlungsebene des Textes noch auf der Ebene inszenierter Auffuhrung läßt sich darauf eine Antwort finden, denn beide Male präsupponiert die Konvention die vrouwe als ein real existentes Gegenüber.36 Virtuelle Realität aber entzieht sich dieser Vorgabe, weshalb ich an dieser Stelle einige die Bedingungen des Hohen Sangs betreffende Überlegungen einfügen möchte.37 Die in Strophe I erwähnte vrouwe bleibt selbst unter Anrechnung stereotyper Modalitäten ungewöhnlich blaß. Allenfalls kann ihr - und auch das nur indirekt und durch das bilde vermittelt (I 2) - Schönheit zugewiesen werden. Trotzdem ist sie singulär. Paradoxerweise ausgerechnet durch ein Epitheton, das sie mit allen anderen im Hohen Sang angesprochenen vrouwen teilt: Es ist das Possesivpronomen 'min , das sie einem ich zuordnet, dessen Besitztum attribuiert und unverwechselbar macht.38 Ungeachtet des Faktums, daß die vrouwe als dem ich übergeordnet inszeniert wird, obliegt es dem Sänger, ihre Vortrefflichkeit coram publico zu verbreiten. Damit aber wird der Sang zum Indiz ihrer Vollkommenheit und das sich auf der Handlungsebene konstituierende Hierarchieverhältnis erfährt eine Relativierung insofern, als es eigens dem ich obliegt, die Vortreff35

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In Scheltstrophen wird die inszenierte Werbung zwar auch als eine aller Wahrscheinlichkeit nach vergebliche inszeniert, aber die Anwesenheit der vrouwe wird dort nicht in Frage gestellt. Versteht man die vrouwe als 'reales' Gegenüber des ich, gerät dieser Zusammenhang meist aus dem Blickfeld; vgl. beispielsweise Emst von Reusner, „Hebt die Vollendung der Minnesangkunst die Möglichkeit von Minnesang auf? Zu Morungen Ich hörte uf der heide (MF XXIII; 139,19) und Mir ist geschehen als einem kindeline (MF XXXII; 145,1)". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 572-586, hierS. 581.

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Vgl. Dierk Rodewald, „Morungens Lied vom Singen (MF 133,13)". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 95 (1966), S. 281-293, hier S. 288f., der bereits auf die Reflexion poetischer Produktion in MF 133,13 aufmerksam machte; zum Narziß-Lied selbst siehe Gert Kaiser, „Narcissusmotiv und Spiegelraub. Eine Skizze zu Heinrich von Morungen und Neidhart von Reuental". In: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. (FS John Asher) Hg. von Kathryn Smits, Werner Besch und Victor Lange. Berlin 1981, S. 71-81, hier S. 74, sowie Heinrich von Morungen, Lieder. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung, Kommentar von Helmut Tervooren. [Verbesserte und bibliographisch erneuerte Ausgabe] Stuttgart 1992, S. 188, und vor allem Speckenbach (Anm. 1). Bründl (Anm. 21), S. 420, sieht in dem Lied eine „durch die Sprache in ihrer anthropologischen Tragweite reflektierbar gewordene, vorsprachlich antizipierte Bewußtseinsformel" diskutiert.

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Siehe auch Schweikle, „Die frouwe der Minnesänger" (Anm. 26), S. 49ff.

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lichkeit der vrouwe vor den Augen der Öffentlichkeit zu sanktionieren. Explizit thematisiert wird dieser Zusammenhang beispielsweise in Walthers sumerlatenLied: Hceret wunder, wie mir ist geschehen von min selbes arebeit: mich enwil ein wip niht an gesehen, die bräht ich in die werdekeit, Daz ir muot so höhe stät. jon weiz si niht, swenn ich min singen läze, das tr lop zergät. (L 72,37ff.; Ε 84) 39

Im Narziß-Lied werden die konventionellen Vorstellungen nun noch stärker aufgebrochen, denn das ich erhebt die vrouwe nicht mehr nur ins Licht der Öffentlichkeit, sondern stellt sie als Projektion des eigenen Selbst dar.40 Damit wird der Realitätsstatus der vrouwe aufgegeben,41 diese als Schöpfung des ich erklärt. Als Medium, in dem sich die virtuelle Realisation der vrouwe formiert, erscheint der Sang, in dessen sukzessiver Konkretisation /'cA-Subjekt42 des Textes und vrouwe 39

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41 42

Siehe dazu auch Strophe L 73,5ff. (E 86f.), sowie die Ausführungen Händls (Anm. 26), S. 37. Siehe dazu auch die Ausführungen Müllers (Anm. 21), S. 15f., zu Walther von der Vogelweide. Obwohl Müller bei Walther das Verhältnis von ich und bilde „auf das Verhältnis des Poeten zu seinem Objekt" bezieht (ebd., S. 16), weist er dem bilde bei Heinrich von Morungen nicht nur im Hinblick auf Diu vil guote (MF 137,1 f. nach Hs. A; siehe ebd., S. 15f.), sondern auch im Hinblick auf das Narziß-Lied eine Spec«/«m-Funktion zu, derzufolge die vrouwe dem Werbenden sein „besseres Bild zurückspiegelt" (ebd., S. 15). Eine ähnliche Argumentation findet sich auch bei Huber (Anm. 6), S. 595. Mag es für MF 137,1 zutreffend sein, daß dort der vrouwe eine Vorbildfunktion zugewiesen wird, d.h. das ich nicht sich selbst sieht, sondern das programmatische Vorbild, dem es sich annähern soll - siehe auch die in den anderen Handschriften überlieferte Lesart wunne statt bilde - , so scheint mir der Sachverhalt in 145,1 ein anderer zu sein, insofern das bilde hier als Selbstprojektion des ich gezeigt wird, das hierarchische Verhältnis also im Sinne einer selbstreflexiven ästhetischen Vollkommenheit, die jedoch nicht unhinterfragt bleibt, funktionalisiert wird. Vgl. Hausmann (Anm. 4); Kellner (Anm. 6), S. 63. Damit meine ich weder ein „Handlungssubjekt" (Rainer Warning, „Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion". In: Funktionen des Fiktiven. Hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. [Poetik und Hermeneutik 10] München 1983, S. 183— 206, hier S. 186) noch eine vom Einzelsubjekt abgelöste Tradition des Singens und Wissens (Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. Übersetzt von Klaus Thieme. [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 18] München 1994 [Originalausgabe Paris 1984]). Als icft-Subjekt möchte ich vielmehr die virtuelle Realabstraktion bezeichnen, die durch das Lexem 'ich' in einem Text evoziert wird: Jedes einzelne Lied markiert - meist durch die Signalwirkung der ihm eigenen Melodie unterstützt - einen bestimmten Modus der Aussage und kreiert damit ein für diesen Text spezifisches ich, das mit dem Körper des Vortragenden - sei es der 'Verfasser der Erstfassung', sei es ein die Urfassung wissentlich oder unwissentlich modifizierender 'Bearbeiter' oder ein den Text reduplizierender ' Sänger' - eine singulare symbiotische Verbindung eingeht. Diese, den einzelnen Liedern inhärenten /c^-Subjekte können zwar - vgl. die (Euvre-Bildung einzelner

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ihre Kontur erhalten. Die im Narziß-Lied implizit enthaltene Reflexion über den poetologischen Schaffensprozeß tritt dabei in Konkurrenz zu der dem ich attribuierten Sängerrolle.43 Das Paradoxon, das sich daraus ergibt, kann nun gewertet werden als Inkohärenz des Textes oder aber als 'Metametapher' der dem Hohen Sang inhärenten paradoxalen Konstruktion: dem sich immer wieder perpetuierenden Bestreben des ich, das als unerreichbar definierte Ziel zu erreichen. In den nachfolgenden Strophen werden im Rahmen dieser Problemkonstellation dann die Reaktionsmöglichkeiten des ich diskutiert.

V

Zunächst wird ein neuer virtueller Raum eröffnet:44 die Welt des Traumes.45 Das, was bisher dem Verdikt der Unmöglichkeit unterlag, scheint sich hier erfüllen zu können. Statt leit wird ein von vreude geprägtes Gegenprogramm vorgeführt: Minne die der werlede ir fraude meret seht die brahte in traumes wis die frauwen min da min lip an slaffe was gekeret

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Autorenprogramme - als Facetten eines übergeordneten Gesamtzusammenhangs erscheinen, doch müssen sie sich darin nicht erschöpfen, wie konkurrierende Liedfassungen sowie Zuschreibungsdivergenzen zeigen. Siehe in diesem Zusammenhang auch Gerhard Hahn, Walther von der Vogelweide. München - Zürich 1986, S. 97, der die Möglichkeit in Betracht zieht, daß Spruchdichtung weniger etwas 'abhandelt' als zur Diskussion stellt, so daß ein Vortragender ein Problem aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen vermag, indem er in dem oben genannten Sinne verschiedene /c/i-Subjekte hervortreten läßt: „Wenn man annimmt, daß Walther [...] vor einem bestimmten Publikum nicht ein umgrenztes Thema abhandeln, sondern thematisieren wollte, was er in diesem Publikum an dauernden und gerade aktuellen Bewußtseinsinhalten, an verschiedenartigen Interessen und Bedürfnissen, Hoffnungen und Befürchtungen und zugleich an Erwartungen gegenüber einem Sängerauftritt voraussetzen konnte, dann mögen manche Strophen ein und desselben Tones, die verschiedenen Vortragsgelegenheiten anzugehören scheinen, doch beim selben Auftritt vor demselben Publikum erklungen sein." Zur Reflexion der Metonymie von Affekt und Ausdruck respektive Minner und Sänger bei Heinrich von Morungen siehe Strohschneider (Anm. 13), bes. S. 13ff.; zur Disjunktion der Rolle von Künstler und Minnedienst Leistenden bei Walther siehe Müller (Anm. 21), bes. S. 8ff. Zur Terminologie siehe oben Anm. 24. Während Friedrich Vogt (Des Minnesangs Frühling. Hg. von dems. 2. Auflage. Leipzig 1911, S. 395) moniert, daß Morungen „ein eigenartigefs] Traummotiv eingelegt [hat], das nicht recht logisch mit den beiden entlehnten Bildern verkettet ist", verstehen Hruby (Anm. 3), S. 9, und Huber (Anm. 6), S. 591, Strophe II als Fortsetzung der Vergleichsstruktur der ersten Strophe. Vorsichtiger argumentiert Speckenbach (Anm. 1), S. 44. Ob in traumes wis hier einen realen Traum meint oder aber einen Zustand, der als traumhaft erfahren wird, mag dabei offen bleiben. Zur Diskussion des Begriffs siehe Speckenbach (Anm. 1), S. 44 Anm. 38.

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vnd ersach sich an die besten wunne sin do sach ich ir liehten fügenden ir werden schin schon vnde auch fiter alle wip geheret (II 1-6).

Dann jedoch wird ein Makel deutlich, der - so Hruby - wie ein leichter Schatten über der strahlenden Vollkommenheit der Geliebten liegt:46 nuewen daz ein luetzel was verseret ir vil fraudenrichez mundelin (II 7f.).

Es geht hier aber um mehr als nur um einen 'Makel'. Die Idealität der vrouwe ist in ihrer Gestalt verkörpert. Darauf verweist die chiastische Verschränkung der Attribute in Vers II 5, wo die tugent der vrouwe als lieht, ihr schin als werde bezeichnet wird.47 Wenn nun der Mund der vrouwe versehrt ist, so ist damit auch das summum bonum als solches zerstört - die Vorstellung einer 'nur partiell eingeschränkten' Vollkommenheit, wie sie durch die Formulierung nuewen daz ein luetzel was verseret \ ir vil fraudenrichez mundelin (II 7f.) nahegelegt wird, ist bei näherer Betrachtung eine contradictio in adjecto,48 Kann der Mund durch seinen Kuß keine vreude mehr vermitteln, vermag auch die vrouwe ihre Funktion nicht mehr zu erfüllen. Die Minderwertigkeit der Dame aber wirkt - so die Konvention der Sängerrolle - auf das minnende ich zurück: Sein sanc ist dienst und setzt voraus, daß die vrouwe dieses dienstes würdig ist. Ist sie es nicht, so fällt dies auch auf das ich zurück.49

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Vgl. Hruby (Anm. 3), S. 9. Allerdings relativiert Hruby selbst seine Aussage, wenn er darauf hinweist, „daß es die Konvention des Minnesangs nicht leidet, eine Unvollkommenheit der Liebesherrin überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn ein Klagelied deswegen anzustimmen" (ebd., S. 10). Der Ausdruck kann nicht, wie von Kraus vorschlug, als werde fügende und liehter schin reformuliert werden, denn dies würde die unauflösliche Einheit von innerer und äußerer Schönheit, die gerade durch die Zuordnung der Epitheta zum Ausdruck gebracht wird, zerstören. Siehe dazu auch Huber (Anm. 6), S. 591 Anm. 11. Von Reusner (Anm. 36), S. 583 Anm. 26, beispielsweise ordnet den Mund und die Wunde unterschiedlichen 'Realitätsgraden' zu, um so das Problem zu umgehen. Vgl. zum Beispiel auch Uns ist zergangen (MF 140,32), 141,8ff.; episch entfaltet wird dies bei Ulrich von Liechtenstein; siehe dazu auch Müller (Anm. 21), S. 15: „Der Makel, der das bilde [bei Walther, L 66,30] zerstört, färbt auf den ab, der es gefeiert hat"; und zu Heinrich von Morungen: „Zwischen beiden [vrouwe und Werbendem] herrscht ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. In Morungens Narzißlied wird sie als wechselseitige Verletzung phantasiert: der unbesonnene Griff nach dem eigenen Bild, das Verschwinden des Bildes, der zerbrochene Spiegel kehren wieder als der Versehrte Mund der Geliebten" (ebd.).

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Die defizitäre Hebungszahl des die Unvollkommenheit der vrouwe verhandelnden Verses, die von Kraus durch Konjektur zu glätten suchte,50 ist mehr als nur eine formale Korrespondenz zu dessen inhaltlicher Aussage;51 sie ist Zeichen der unauflöslichen Einheit von ich und vrouwe und sie thematisiert diese Identität bis zum Äußersten,52 nämlich der Formulierung schlechter Kunst: Das verserte mundelin der vrouwe ist materialisiert im unvollkommenen Sang, der dem Mund des Sängers entstammt.Was aber ist Ursache dieser Verunstaltung, die sich in Sang und vrouwe manifestiert?53 In den vorhergehenden Versen wird ein Zusammentreffen des ich mit der Geliebten entfaltet: sin lip hatte sich bereits dem Schlaf anheimgegeben, als ihm die Minne seine vrouwe zufuhrt. Anwesend sind somit nur ich, vrouwe und Minne. Was nun folgt, enttäuscht jedoch die vom Text lancierten Erwartungen des Rezipienten: Zwar wird das btligen durch rhetorische Finesse als folgerichtige Konsequenz der Begegnung nahegelegt - da min lip [...] ersach54 sich an die besten wunne sin | do sach ich [...] (II 3-5) - doch nur, um letztlich ausgespart zu bleiben. Mit dem Anblick der vrouwe ist auch die Wahrnehmung des verserten mundelins korreliert, womit Strophe sowie in traumes wis erfolgende Begegnung enden. Es erfolgt keine Vereinigung der Liebenden,55 nicht einmal eine Berührung zwischen ich und vrouwe wird erwähnt.56 Es bleibt beim bloßen Blickkontakt. Auf der Handlungsebene des Textes wird die Ursache für die Versehrung nicht genannt, eine körperliche Verletzung der vrouwe durch das ich nicht thematisiert. Löst man sich jedoch von der Vorstellung, die vrouwe sei ein reales Gegenüber und versteht man die erste Strophe der Ε-Fassung auch als eine Art Rezeptionsanweisung für den nachfolgenden Text, erscheint der Sachverhalt in einem anderen Licht: Nicht jeder Zugriff des kindelins fuhrt zur Zerstörung des Abbilds, sondern nur derjenige, der dem Medium unangemessen ist. Ist nun dem Element 'Spiegel' der Hohe Sang korreliert, so verweist die Konnotation sexueller Vereinigung, wie sie in Strophe II projektiert wird, nicht nur auf einen die

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ir vil vröuden richez mündelin, Lücke bei Lachmann und Haupt sowie Vogt; die Handschrift selbst weist keine verderbte Stelle auf.

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Vgl. auch Rodewald (Anm. 37), S. 283, der bereits 1966 das monierte 'Fehlen einer Silbe' in dem Lied Leitliche blicke als „subtile Nuancierungskunst Morungens" beschreibt. Eine gegenseitige Widerspieglung von ich und vrouwe - allerdings in positivem Sinne und demzufolge unter Auslassung der Verse II 7f. - beschreibt Hruby (Anm. 3), S. 9.

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Eine prägnante Zusammenfassung verschiedener Stellungnahmen findet sich bei Huber (Anm. 6), S. 606f.

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Zur Problematik der Zuordnung siehe Speckenbach (Anm. 1), S. 45, der ebenfalls min lip als Subjekt auffaßt. So Tervooren (Anm. 36), S. 206: „Nur in troumes wis vermag Morungen das Höchste zu finden, nur dort erfüllt sich sein leidenschaftliches Verlangen nach Vereinigung mit der Geliebten." Weitere Beispiele finden sich bei Speckenbach (Anm. 1), S. 45 Anm. 43.

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Vgl. Speckenbach (Anm. 1), S. 47.

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Konventionen der Gattung verletzenden Tabubruch, insofern hier die Erfüllung der Sehnsucht imaginiert wird, sondern diese Imagination wird zudem auch als eine öffentliche inszeniert: Minne die der werlede ir fraude meret \ seht die brahte in traumes wis die frauwen min [...] (II, lf.). 57 Der 'falsche Zugriff führt, selbst wenn er als Traumvision realisiert wird,58 im Sinne der von ihm coram publico aktualisierten Grenzüberschreitung zur Destruktion von Vollkommenheit bei Sang und vrouwe.59

VI In der dritten Strophe wird erneut ein virtueller Raum erzeugt, in dem Geschehen sich außerhalb der als real inszenierten Handlungsebene des Textes entfalten kann. Das Lexem 'suelle' markiert den Entwurf einer Zukunftsvision: Groz angest han ich des gewunnen daz verblichen suelle ir munt60 so rot (III lf.).

Im Kontinuum der Zeit, welches der Potentialis begründet, wird deutlich, daß sich die Verletzung ausweiten wird, wobei das Erbleichen der Lippen den Tod der vrouwe61 konnotiert.62 Im Verzicht auf diese Zukunft beginnt das ich daher erneut zu klagen: des han ich nu nuewer clage begunnen sit min hertze sich ze sulcher swere bot daz ich durch min auge schauwe suelche not (III 3-5).

Mit Speckenbach bin ich der Ansicht, daß der Sang nicht niuwe genannt wird, „weil er neuartig ist, sondern weil er erneuert wird".63 Er ist „vom Lobpreis der

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Hervorhebung von mir, A.S. Speckenbach (Anm. 1), S. 50f., funktionalisiert die Traumvision im Hinblick auf die inszenierte Realität der Handlungsebene und spricht demzufolge von einem „Wamtraum". Ein Blick auf Friedrich von Hausen (MF 48,23) und Walther von der Vogelweide (L 74,20) mag dies verdeutlichen. Dort wird die Liebeserfüllung, die auf der Handlungsebene des Hohen Sangs ausgeschlossen ist, als Traumvision thematisiert. Zugleich jedoch wird die Regelverletzung durch die Enttäuschung des ich lizensiert, welches bei seinem Erwachen um das entschwundene Glück trauert. Das Narziß-Lied negiert diese Möglichkeit und vertritt damit eine sehr viel radikalere Position. Siehe dazu auch Speckenbach (Anm. 1), S. 46f. Auch hier suchte von Kraus den Sang durch Konjektur (mündelm) zu glätten, wobei, wie ich meine, die thematisch gewordene Abhängigkeit von Abbild und Medium zerstört wird. Vgl. Reinmar, Lieber bote, nu wirp also (MF 178,1), 178,29ff. Vgl. beispielsweise Räkel (Anm. 6), S. 101, oder Speckenbach (Anm. 1), S. 45. Speckenbach (Anm. 1), S. 50. Dagegen versteht Bründl (Anm. 21), S. 419, dies als „Rückverweis auf frühere Liedproduktion". Daß mit dem Begriff „stilistische, nicht [...]

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vrouwe bestimmt [...] und von der Entbehrung ihrer Nähe, so wie die vierte Strophe ihn Wort werden läßt".64 Doch meint niuwe klage65 nicht einfach eine Wiederholung der vorhergehenden, sondern markiert auch die veränderte Position, die das ich jetzt einnimmt.66 Die durch die Inszenierung virtueller Räume (Traum; Zukunftsvision) ermöglichte Visibilisierung kann vom ich sinnlich wahrgenommen werden (daz ich durch min auge schauwe suelche not [III 5])67 und eröffnet damit den Weg zu gesteigerter Erkenntnis. Die klage reformuliert dabei zwar das für den Hohen Sang konstitutive Faktum, daß die verehrte vrouwe unnahbar sei, doch geschieht dies nicht (mehr) aufgrund einer Setzung. Dem Sang liegt vielmehr eine gleichsam experimentell gewonnene und damit potenzierte /ezY-Erfahrung zugrunde, die im und vom Text selbst vorgeführt wird: Ausnahmslos jeder haptische Zugriff, der Erfolg verspricht, ist dem Medium unangemessen und zerstört sowohl dieses als auch die vrouwe. Erneut rekurriert der Text dann auf die in der ersten Strophe verhandelte Situation des kindelins. Dabei werden jedoch Modifikationen deutlich, welche eine gewandelte Haltung des Bildaktanten und damit des ich widerspiegeln: Die bestehenden Bedingungen werden nun nicht mehr in Frage gestellt, sondern akzeptiert: des han ich nu nuewer clage begunnen sit min hertze sich ze sulcher swere bot daz ich durch min auge schauwe suelche not sam ein kint daz wisheit vnversunnen sinen schaten6s ersach in einem brunnen vnd den minnen muoz vntz an sinen tot (III 3-8).

Nicht mehr von einem kindeline, sondern von einem kint ist die Rede, und auch wenn dieses an wisheit vnversunnen ist, wird es doch nicht mehr mit der Dimi-

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chronologische Fragen" verbunden sind, darauf verwies bereits Rodewald (Anm. 37), S. 285 Anm. 2. Speckenbach (Anm. 1), S. 50. Huber (Anm. 6), dem ich mich anschließe, spricht von einem „poetologischen Stichwort" (ebd., S. 591); zum Begriff siehe auch Leitliche blicke (MF 133,13), 133,15, und Min liebeste undouch min erste (MF 123,10), 124,6f. Anders dagegen Huber (Anm. 6), S. 592, sowie Speckenbach (Anm. 1), S. 51: „Was bei dem ungenannten Narziß fehlende Einsicht und damit ein Mangel ist, schlägt bei dem Sänger um in ein Dennoch, das Gestalt wird im Lied und das die künstlerische Frucht seiner beständigen Liebe bedeutet." Vgl. Speckenbach (Anm. 1), S. 49. Negativ akzentuiert ist der Begriff'Schate' bei Theodor Frings und Elisabeth Lea, „Das Lied vom Spiegel und von Narziss. Morungen 145,1, Kraus 7. Minnelied, Kanzone, Hymnus. Beobachtungen zur Sprache der Minne. Deutsch, Provenzalisch, Französisch, Lateinisch". In: Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur (Halle) 87 (1965), S. 40-200, hier S. 75. Mit Speckenbach (Anm. 1) verstehe ich Schate als Synonym für bilde. Zur Diskussion des Begriffs siehe ebd., S. 43 mit Anm. 28f.

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nutivform belegt.69 Der Spiegel, ein von Menschen künstlich geschaffenes Reflexionsmedium, ist durch die einer natürlichen Ordnung zugehörige Quelle substituiert, deren Oberfläche - im Unterschied zum Spiegelglas - durch jede noch so leise Berührung gefährdet ist. Der durch das summum bonum erzeugten Begierde nach der Vereinnahmung der 'vrouwe' im Sinne eines Besitzes folgt die - gezwungenermaßen - selbstgenügsame Freude an der ästhetischen Erkenntnis des Schönen.70 Das kint verharrt im kontemplativen Anblick seines Abbildes, ein wie auch immer gearteter Zugriff erfolgt nicht mehr. Medium und Schate bleiben unangetastet und leiten damit - so meine These - einen 'Abgesang auf den Sang' ein.

VII Zunächst beginnt die letzte Strophe ganz traditionell mit einem Lobpreis der vrouwe, der in eine klage des ich übergeht: Hoher wip von lügenden vnd von sinnen die enkan der himel niender vmmevan so die guoten die ich vor vngewinnen vremden muoz vnd immer doch an ir bestan (IV 1-4).

Die Worte, mit denen die vrouwe gepriesen wird, verweisen wohl weniger auf den 'blasphemischen Charakter' der Lobpreisung,71 als daß sie vom Aufwand zeugen, der notwendig geworden ist, um die werdekeit der auf das ich zurückweisenden vrouwe unangetastet erscheinen zu lassen: Ist die qualitas beider durch den Text unauflöslich miteinander verwoben, so kann ein im Text diskutierter Tabubruch nicht ohne Folgen bleiben. Funktion des Frauenpreises ist es

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Vgl. Huber (Anm. 6), S. 590: „Das Ich erlebt die Fixierung als erotische Spannung und schreitet von der Illusion über das Spiegelbild zur Desillusion vor, ohne die Fixierung lösen zu können." Speckenbach (Anm. 1), S. 42, differenziert zwar zwischen einem „kleinefn] Kind" und einem „anderefn] kint, vielleicht einfem] Jüngling", die ein unterschiedliches Verhalten zeigen, spricht jedoch dem kint im Vergleich zum 'kleinen Kind' einen Zuwachs an Erkenntnis ab: „Auch ihm [dem anderen kint] fehlt es an Einsicht, daß es, als es sein Spiegelbild in einem Quell erblickte und zu lieben begann, nur sich selbst und kein wirkliches Gegenüber liebte. Anders als das kint in der ersten Strophe zerstört dieses kint die Spiegelung nicht, es muß vielmehr sinen schaten bis an sein Lebensende, d.h. für immer lieben" (ebd.).

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Zum philosophischen Hintergrund dieser Auseinandersetzung siehe De Bruyne (Anm. 22), S. 145ff. So zuletzt Heinen (Anm. 1), S. 58; vgl. auch Anton E. Schönbach, Beiträge zur Erklärung altdeutscher Dichtwerke. Erstes Stück: Die älteren Minnesänger. (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Classe 141,2) Wien 1899, S. 149, sowie Peter Kesting, Maria-Frouwe. Über den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide. (Medium aevum 5) München 1965, S. 108.

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daher, die Destruierung der 'vrouwe', die im virtuellen Raum (Traum/Zukunft) vorgeführt wurde,72 aufzuheben. Die neu errungene Reflexionsstufe des ich wird dabei nicht negiert, sondern von ihm selbst in seiner Sängerrolle als enttäuschte Hoffnung rekapituliert: Owe leider io wände ichs ein ende han ir vil wunnenclichen werden minne nu bin ich vil kume an dem beginne (IV 5-7).

Dann jedoch zieht das ich die Konsequenz aus der Erkenntnis, zu der es durch die virtuelle Projektion des Traumbildes gefuhrt worden ist: Wie das hint in die Quelle blickt, ohne dem Wunsch nach Berührung nachzugeben und dadurch die Oberfläche des Wassers samt seines eigenen Abbildes zu verletzen,73 so hört auch das ich auf, sich seiner vrouwe durch Sang anzunähern.74 Es verstummt.75 Das Lied schließt mit den Worten: des ist hin min wunne vnd auch min gerender wan (IV 8). Das Schweigen des zcA-Subjekts und damit des Sängers gehört, wie ich meine, hier konstitutiv zum Sang dazu. Wie das kint versinkt das ich in kontemplative Anschauung. War der Sang Ausdruck seines gerenden wans, so ist jener mit diesem entschwunden76 - und mit dem Sang verschwindet schließlich auch die selbstreferentielle Projektion, als welche die vrouwe inszeniert wurde.

VIII Wird das Medium, der Sang nicht mehr gefüllt, unterbleibt seine Konkretisation im Singen, hören mit dem Medium auch /c/;-Subjekt und vrouwe auf zu existieren.77 Unabhängig davon, daß dies für jedes gesungene Lied gilt, scheint mir die Besonderheit hier darin zu liegen, daß das Ende einer sich nur in der Gegenwär-

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Vgl. auch Hruby (Anm. 3), S. 11. Siehe dazu auch Schmidt (Anm. 14), S. 245. So auch Wisniewski (Anm. 8), bes. S. 22 und 24. Vgl. auch Tervooren (Anm. 37), S. 188: „Das Lied endet mit der Abschwörung des wanes, d.h. der für den Minnesänger geradezu lebenswichtigen Illusion, trotz allem die liebende Zuneigung der Geliebten erreichen zu können." Anders dagegen Speckenbach (Anm. 1), bes. S. 51 und 52f., und von Reusner (Anm. 35), S. 582. Siehe dazu auch Hruby (Anm. 3), S. 19. Anders Speckenbach (Anm. 1), S. 53: „Aber anders als dieser [Narziß] verharrt der Sänger nicht im stummen Leid, sondern formt es zu Kunst, wobei er es zugleich mit dem Frauenpreis verbindet, um auch seine gesellschaftliche Funktion des Freudestiftens zu erfüllen." Vgl. auch Wol ime, daz er ie wart geborn (MF 158,1), 158,27f., sowie Müller (Anm. 21), S. 16, zu Walther L 73,16.

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tigkeit des Singens verwirklichenden Kunst im und vom Text selbst inszeniert und thematisiert wird.78 Durch die seinem Ende vorausgehende akustische Konkretisation kann der Sang jedoch wahrgenommen und über die vis imaginativa in die memoria des Rezipienten überführt werden. Dessen Situation ist damit deqenigen des kindelins vergleichbar, denn wie diesem ist ihm das Objekt seines Begehrens, die durch den Sang vermittelte vröude,79 entschwunden. Gerade in der bis zum Äußersten gesteigerten praesentia in absentia aber entfaltet das Begehrte seine größte Attraktiviät - und dies gilt sowohl für die besungene \rouwe, als auch für den gesungenen Sang. Nicht allein leit über die vergangene vröude ist es, was zurückbleibt,80 sondern mit diesem verbunden ist auch ein Zuwachs an Erkenntnis. Dieser erschöpft sich - so meine Thesen - nicht allein in der Auslotung der Grenzen des Hohen Sangs; auch wenn hochwertige Kunst und hochwertiges Können sich nur im 'richtigen Zugriff auf das Medium zu realisieren vermögen und Kunstfertigkeit sich nicht zuletzt darin manifestiert, wie weit man sich der Grenzen des Mediums nähern kann, ohne dieses zu zerstören.81 Es scheint mir vielmehr kein Zufall zu sein, daß der Text mit der Forderung nach seiner eigenen Re-Konstruktion durch den Rezipienten operiert:82 Anhand der beiden, die Strophen I, III und IV betreffenden Vergleiche (als [I 1] also [I 6] sowie sam [III 6]) wird letzterer explizit angewiesen, zwei Elemente aufeinander zu beziehen und hermeneutisch aktiv zu werden: Das beide Elemente verbindende tertium vermag sich nur im virtuellen Raum der Vorstellung zu materialisieren. In der zweiten Strophe wird ein anderes Verfahren gewählt; hier ist die Forderung nach virtueller Realisierung als Imperativ formuliert: seht die [minne] brahte in traumes wis die frauwen min (II 2). Die Involvierung des Rezipienten aber ist funktional begründet, denn wenn Erkenntnis auf sinnliche Wahrnehmung angewiesen ist,83 kann das eigene Unbe78

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Vgl. beispielsweise auch Walther L 115,6. Zum angesprochenen Phänomen siehe auch Katharina Wallmann, Minnebedingtes Schweigen in Minnesang, Lied und Minnerede des 12. bis 16. Jahrhunderts. (Mikrokosmos 13) Frankfurt/M. u.a. 1985, S. 73-90, bes. S. 78ff. Vgl. beispielsweise auch Min liebeste undouch min erste (MF 123,10), 123,37. Gegen Räkel (Anm. 6), S. 102. Vgl. beispielsweise Räkel (Anm. 6), S. 102, oder Schmidt (Anm. 14), S. 245, zu Strophe I: „Eine Zerstörung löst derjenige aus, der es wagt, die Distanz zu überschreiten und den Grund zu ergründen." Vgl. auch Hult (Anm. 29), S. 143, der die Adaptation des Narcissus-Stoffes im Hinblick auf den Roman de la Rose untersucht: „The paradox of Narcissus is not 'Why one cannot possess oneself but rather 'Why one needs to go beyond oneself". Hult stellt die Frage jedoch auf der Handlungs-, nicht auf der poetologischen Ebene. So bereits Ludwig (Anm. 6), S. 68 und 70f., und sich auf ihn beziehend Huber (Anm. 6), S. 592. Siehe dazu auch Bründl (Anm. 21), S. 419, sowie Helmut Tervooren, „Heinrich von Morungen". In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage 3 (1981), Sp. 804-815, hier Sp. 812; Speckenbach (Anm. 1), S. 42, und Heinen (Anm. 1), S. 55. Siehe dazu auch Carruthers (Anm. 25), S. 54.

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kannte nur mit Hilfe eines Mediums 'vor Augen geführt' und - im doppelten Sinne des Wortes - 'reflektiert' werden. Um den durch Selbstprojektion im virtuellen Raum der Kunst ermöglichten Erkenntniszuwachs vorzuführen, dringt der Sang dabei an die Grenzen seiner eigenen medialen Existenz vor und dokumentiert gerade durch die Zerstörung der von ihm auf verschiedenen Ebenen erzeugten virtuellen Realitäten deren Notwendigkeit.

Daniel Rocher (Strasbourg)

Monumenta amoris zwischen Unterhaltung und Kult Die Funktion von Leichs und sene-maeren in Gottfrieds Tristan

In seinen Bemerkungen eines Philologen zur Memoria} fugte Friedrich Ohly vor einigen Jahren Gottfrieds von Straßburg Unternehmen in die Tradition der Gedächtnisverwalter ein, die ihre Mühe darauf verwendeten, daß die Taten und Leiden der größten Menschen der Vergangenheit, unserer Ahnen, nicht endgültig für die Menschheit verlorengingen - die Menschheit als untrennbare Gemeinschaft der Toten und der Lebenden. Er fährte naturgemäß zum Nachweis dieser Absicht die ersten Verse von Gottfrieds Prolog an:2 Gedaehte mans ze guote niht, von dem der werlde guot geschiht, so waerez allez alse niht, swaz guotes in der werlde geschiht.

Dies mag allerdings wie ein Prolog-Topos klingen, aber das Ende des Prologs, wo Tristans und Isoldes Geschichte praktisch für eine profane 'Legende' (im buchstäblichen Sinn: legendä) ausgegeben wird, die liebet liebe und edelt muot (V. 174), fordert uns auf, die Eingangserklärung ernst zu nehmen: Gottfried will ein monumentum amoris errichten, das es uns nicht erlaubt, die berühmten Liebenden und ihre Lehre zu vergessen - die heutige und künftige Gemeinschaft der edelen herzen soll von dieser Lehre für ihr eigenes Liebesleben profitieren, dieses 'Brot' essen, um wirklich leben zu können. Dabei erhebt der Dichter seinen eigenen Anspruch auf Anerkennung: Er hat sich diese Aufgabe der Denkmalerrichtung vorgelegt (V. 46), um den edelen herzen zu 'behagen'. Wie versteht er aber diese hage? 1. Er will den edlen Herzen kurzewile verschaffen, ihre Liebesnot gering[en], sie ze halber senfte bringe[n], ihren Mut entsorge[n] (V. 71-80): gleichsam eine

Friedrich Ohly, Bemerkungen eines Philologen zur Memoria. Münstersche Abschiedsvorlesung vom 10. Februar 1982. München 1991 [zuerst in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch. (Münstersche Mittelalter-Schriften 48) München 1984, S. 9-68], zu Gottfried S. 49-52. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isolde. Hg. von Friedrich Ranke. Dublin - Zürich 14 1969. Ohly (Anm. 1), S. 49.

Daniel Rocher

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Psychotherapie - sozusagen eine Beschwichtigung der Angst durch Erzählung und Homöopathie (V. 97-100). 2. Er will sie aber auch durch seine Erzählung in größere senegluot (V. 112) versetzen, noch mehr geherze[n] (V. 118), ihr Liebesweh (V. 116) noch steigern, denn das verlangen sie (V. 117), also das Gegenteil einer Beschwichtigung! Haben wir es hier mit einem zwiefachen, ja widerspruchsvollen Anspruch zu tun? Soll dem Denkmal ein Januskopf aufgesetzt werden, dessen rechtes Gesicht melancholisch lächelt, während das linke vor Leidenschaft glüht? Die Frage kann direkt an das tatsächlich errichtete und tradierte Denkmal gestellt werden, kann aber auch über einen Umweg beantwortet werden: Man erinnert sich nämlich, daß in Gottfrieds maere (V. 73 etc.) andere sozusagen wie russische Puppen eingeschachtelt sind, allerdings weniger erzählt als angeführt, was aber nicht besagt, daß sie ohne Bedeutung sind. Peter Ganz hat die ovidischen Reminiszenzen, von denen diese maeren zeugen, bei Ovid aufgespürt,3 nicht nur in den Heroides, sondern auch in den Metamorphosen, den Amores und den Remedia Amoris, welche Ovid als eine Art Liebeslehrer auch für Gottfried ausweisen. Allerdings stammen mehrere exempla, die Gottfried anfährt, nicht unmittelbar aus Ovids Werken, sondern aus Hyginus' Fabulae, wie von Fritz Peter Knapp nachgewiesen wurde.4 Nichtsdestoweniger bleiben sie ovidischen Geistes, und Roy Wisbey deutete sie einerseits als Warnungen vor den Gefahren des stultus amor, andererseits typologisch als Präfigurationen der wahren Liebe, die erst mit dem Antitypus Tristan / Isolde ihre Vollendung erfuhr.5 - Ich will etwas anders verfahren und nicht nur die maeren, sondern auch die Leichs verschiedener Provenienz in situ betrachten, das heißt im engeren Erzählzusammenhang, wo sie von Gottfried erwähnt werden; dadurch könnte es uns gelingen, besser zu verstehen, warum er sie anfuhrt, welche Funktion diese schattenhaften kleinen monumenta im Gerüst des großen monumentum erfüllen. Zunächst jedoch eine Vorbemerkung: Die Tristan-Dichter der version commune, Beroul und Eilhart, scheinen keine ähnlichen Zitate in ihren Gedichten gebraucht zu haben. Berouls Fragment ist allerdings zu kurz, um das mit aller Sicherheit behaupten zu können, aber für Eilharts Werk gibt es keinen Zweifel, selbst wenn die Überlieferung vollständiger Handschriften erst später einsetzt: 3

Peter Ganz, „Tristan, Isolde und Ovid. Zu Gottfrieds Tristan Z. 17 182ff.". In: Mediaevalia litteraria. (FS Helmut de Boor) Hg. von Ursula Hennig und Herbert Kolb. München 1971, S. 397-412.

4

Fritz Peter Knapp, Der Selbstmord in der abendländischen Epik des Hochmittelalters. Heidelberg 1979, S. 258. Ich wurde an Knapps Fund durch einen Vortrag von Christoph Huber bei einem Tristan-Kolloquium auf dem Mont Saint-Michel in der Normandie, September 1995, erinnert.

5

Roy Wisbey, „Living Tristan". In: Gottfried Anglo-North American Studies 23) Cambridge

in the Presence of the Past: Exemplary Perspectives in Gottfried's von Straßburg and the Medieval Tristan Legend. Papers from an Symposium. Hg. von Adrian Stevens und Roy Wisbey. (Arthurian - London 1990, S. 257-276.

Leichs und 'sene-maeren'

in Gottfrieds

'Tristan'

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Niemals wird ein maere oder ein Leich genannt, obwohl Kurneval dem Kind Tristant harpfen und singen beibringt6 (V. 132). Keine Vortragsszene wird berichtet, in keiner Situation, obwohl Isaldes Monolog auf dem Schiff von Eilharts höfischem Anspruch zeugt - Bezüge auf andere epische oder lyrische Lieder gehören nicht dazu, (wie das Verhältnis zu Veldekes Eneit auch beschaffen sein mag). Bei Thomas sieht es nun anders aus: In den erhaltenen Fragmenten (zu denen jetzt ein neu entdecktes hinzugekommen ist)7 gibt es eine Szene, die wohl in das letzte Viertel des Gedichts gehört, also in den Teil, den Gottfried nicht mehr geschrieben hat - eine Szene, die Isolde darstellt, allein in ihrem Zimmer, bevor ihr der eifersüchtige Cariado die Nachricht von Tristans Heirat mit Isolde Weißhand bringt: En sa chambre se set un jor Ε fait un laipitus d'amur: Coment dan Guirun fu surpris, Pur l 'amur de la dame ocis Qu 'il sur tute rien ama, Ε coment Ii cuns puis dona Le euer Guirun a sa moillier Par engin un jor a mangier, Ε la dolur que la dame out Quant la mort de sun ami sout. (V. 781 ff.) [In ihrem Zimmer sitzt sie eines Tages, und macht (oder: singt 8 ) einen traurigen Liebesieich (der erzählt), wie Herr Guirun überfallen und wegen der Dame, die er über alles liebte, umgebracht wurde, wie dann der Graf tückischerweise Guiruns Herz seiner Frau zu essen gab, und welches Leid diese empfand, als sie den Todes ihres Freunds erfuhr.]

Der Leich, um den es hier geht, ist also ein lai narratif du eozur mangi, ein herzmaere wie die verschollene französische Erzählung, die wohl Konrads von Würzburg gleichnamiger Dichtung zugrunde liegt und etwas später den Stoff zum Roman du Chatelain de Coucy (Ende des 13. Jahrhunderts) lieferte. Thomas spielt auf eine in seiner Zeit wahrscheinlich ziemlich bekannte Erzählung an,

Eilhart von Oberg, Tristrant. Edition diplomatique des manuscrits et traduction en franfais moderne avec introduction, notes et index. Hg. von Danielle Buschinger. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 202) Göppingen 1976. 7

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Das kürzlich entdeckte Fragment aus Carlisle wurde von Ian Short im Sammelband Tristan et Yseut. Les premieres versions europiennes. Hg. von Christiane Marchello-Nizia u.a. Paris 1995, S. 123-127, veröffentlicht. Den übrigen Text zitiere ich nach Thomas, Les Fragments du Roman de Tristan. Hg. von Bartina H. Wind. (Textes Littiraires Franfais 92) Genf - Paris 1960, streiche aber Ii in V. 786, wie Felix Lecoy in seiner Ausgabe, Le Roman de Tristan par Thomas. Paris 1991, V. 838. fait un lai ist zweideutig, wie mir von mehreren Romanisten (namentlich Laurence Harf) bestätigt wurde; es kann ebensowohl „komponieren" wie auch „vortragen" bedeuten.

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deren Inhalt er immerhin für sein Publikum zusammenfaßt, während er Ysolt (vielleicht) für seine trouveuse ausgibt. Sie (komponiert und) singt den Leich, spielt dabei auf einem nicht genannten Instrument (V. 791 f.), und in diesem Moment kommt der Mann, der ihr Tristans 'Verrat' melden soll - was hat diese Begegnung wohl zu bedeuten? Jedenfalls eine Haltung des Dichters Thomas, die Beroul und Eilhart vollkommen fremd ist: Kunst greift in das Leben ein, um eine Wende im Leben der Figuren zu signalisieren, ihre Stimmungen mitzugestalten. Das Komponieren und Singen von Guruns Leich signalisiert, daß Ysolt immer noch an ihrer Liebe, an ihrem Freund hängt, daß sie aber auch an seine Treue fest glaubt, gerade im Moment, wo ihr sein vermeintlicher Treuebruch berichtet wird (vermeintlich, da doch Tristan in der Hochzeitsnacht wegen seiner Liebe zu ihr die Ehe mit Ysolt as Blanches Mains nicht vollziehen konnte). Der Gurun-Leich dient somit als ein Kommentar, der unter dem Schein der Dinge die Wahrheit enthüllt. Und der Spott, den Ysolt gleich darauf auf den 'Unglückshäher' (fresaie V. 823) Cariado richtet, bestätigt das: Nicht Cariado ist der Sieger in diesem Wortgefecht, sondern sie durch ihren Witz, und das heißt: Sie enthüllt mit ihrem Leich die Wahrheit, Tristan und sie bleiben einander bis in den Tod treu. Ob Thomas andere Leichs in seinem Gedicht anführte und auf die gleiche Weise gebrauchte, können wir leider aus der Saga nicht erfahren: Die Tristrams Saga9 erwähnt in mehreren Kapiteln (Kap. 22, 30, 49-50, 69, 72) Leichs, beziehungsweise Musikspiele, nennt aber nur einmal, in Kap. 22, den Geirnis-Leich, den der junge Tristan an Markes Hof spielen hört, und der mit dem Gurun-Lied in Gottfrieds entsprechender Szene wohl gleichzusetzen ist.10 Wenn das schon in der Vorlage, also in der Thomas-Handschrift stand, die der Bruder Robert übersetzte, dann hat Thomas wenigstens zweimal - für die Jugendszene und für Ysolt im Zimmer - denselben Leich angeführt und ausschließlich diesen genannt. Eine etwas irritierende Feststellung, die aber nicht zu stimmen braucht, die sogar höchst wahrscheinlich nicht stimmt: Wenn wir nämlich Kap. 72 der Saga, das die Szene 'Ysolt im Zimmer' (V. 781ff.) übersetzt, vergleichen, dann heißt es bei Bruder Robert, daß Ysolt ein trauriges Liebeslied komponierte:" Wie bei Thomas (?) macht sie das Lied, ein trauriges Liebeslied wie der Gurun-Leich auch eines ist, aber die Angaben über Titel und Inhalt sind getilgt. Bruder Robert können wir also kein grenzenloses Vertrauen schenken, in seiner Frömmigkeit mag er sich geweigert haben, Werbung für unkeusche Gedichte durch Titelnennung zu machen, wie er auch die Liebesszene auf dem Schiff, das Ysolt nach Cornwall bringt, vollkommen aussparte (Kap. 46). Unter diesen Umständen lautet das Fazit unserer Beobachtungen zu Thomas' Fassung: Häufig wird der Vortrag von

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10

11

Ich benutze die Übersetzung der Saga durch Regis Boyer in Tristan et Yseut (Anm. 7), S. 783-920. Regis Boyer meldete allerdings auf dem oben erwähnten Kolloquium auf dem Mont SaintMichel (Anm. 4) einige Zweifel an dieser Identität an. Tristams Saga (Anm. 9), S. 886: La reine [...] composait un lai sur I 'amour triste.

Leichs und 'sene-maeren'

in Gottfrieds

'Tristan'

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Leichs erwähnt, allerdings keiner in der Minnegrotte wie später bei Gottfried aber auch da könnte Bruder Robert getilgt haben und das einzige Mal, wo wir wissen, um welchen Leich es sich handelt, linterstreicht er Isoldes Melancholie und ihre Ahnung der Wahrheit ihrer Liebe, ihrer Gegenseitigkeit, ihres künftigen traurigen Ausgangs. Sie mag noch so süß singen (V. 791, 794), Wehmut und Hellsicht herrschen hier vor. Wie steht es nun aber bei Gottfried? Bei Gottfried werden nicht weniger als 5 Leichs und 4 maeren genannt, und zwar in vier verschiedenen Szenen des Romans: Als sich der junge Tristan an Markes Hof etabliert (V. 3525ff.) - in der Gandin-Episode (V. 13346 ff.) - vor der Minnegrotte (V. 17189ff.) - am Hof von Arundel, als Tristan vor Isot Weißhand musiziert. In der ersten Szene erkennt der junge Tristan den Leich, den ein Galois (V. 5313), ein Harfner aus Wales, vor Marke eben spielte, als den bretonischen Leich von Gurun (es scheint hier eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Galois, Parmenois und Britunen angedeutet zu werden), und auf die erstaunte Frage des Harfenspielers, ob das kint sich auch im Harfenspiel verstehe, spielt dieses sine leiche von Britun (V. 3560). Aber nur ein solches Lied wird genannt, der Leich von der vil stolzen vriundin | Gralandes des schoenen (V. 3586f.). Schließlich - in derselben Szene - spielt er noch, auf Verlangen des Königs, einen senelichen leich ( de la curtoise Tispe | von der alten Babilone (V. 3615ff.). Wir erfahren nachträglich, daß er seine Leichs nicht nur auf der Harfe gespielt, sondern dabei auch gesungen hat, und zwar in den verschiedenen Sprachen der Leichs, ob bretonisch, walisisch, lateinisch oder französisch (V. 3627f.), so daß jedes Mal wenigstens ein Teil seines mehrsprachigen Publikums (vgl. V. 3696ff.) den Inhalt mitbekommen hat. - Was ist aber diesen drei Leichs gemeinsam, selbst wenn die ersteren zwei für bretonisch erklärt werden, während der dritte ausdrücklich dem Altertum zugeschrieben wird und tatsächlich daher stammt? Zweifelsohne der tragische Ausgang, bei dem jedes Mal der Liebhaber wegen oder für die Geliebte stirbt, dann (wenigstens in den zwei letzteren) die Geliebte für ihn - vorausgesetzt, daß Fritz Peter Knapp recht hat, wenn er den Graland-Leich nicht mit dem Lai de Graelent, sondern mit einer Fassung des Coeur mange identifiziert.12 Natürlich besingt der junge Tristan hier unbewußt und naiv das tragische Liebesschicksal, das auch ihn treffen wird. Um so auffalliger ist es dann, wenn immer wieder die süeze hervorgehoben wird, womit zunächst der Harfner, dann Tristan ihre Leichs vortragen (vgl. V. 3517, 3555, 3568, 3624). Aber diese süeze, diese Musikalität wirkt auf seltsame Weise: Marke wundert sich über Tristans Talente, sein Hof gerät sogar in Verzückung, doch so, daß dabei Gedanken 'geweckt' werden: daz maneger da stuont unde saz der sin selbes namen vergaz: da begunden herze unde oren

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Knapp (Anm. 4), S. 201 Anm. 10.

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tumben unde toren und uz ir rehte wanken; da wurden gedanken in maneger wise vür braht. da wart vil ofte gedaht: 'a saelic si der koufman der ie so höfschen sun gewan!' (V. 3591 ff.)

Es entsteht eine psychologische Situation, die schwer zu bestimmen ist: Markes edle Umgebung freut sich über die Unterhaltung, die ihr geboten wird, wird aber auch in Verwirrung und nachdenklichen Zustand gebracht. Entzückung also im heute gewöhnlichen und im ursprünglichen starken Sinn des Wortes, und dazu noch die rege Tätigkeit der Einbildungskraft. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß der Sänger ein fröhlich aussehender Jüngling ist, über dessen Namen 'Tristan' Markes Jäger kurz vorher erstaunten, da ihnen vielmehr juvente tele et la riant | diu schoene jugent, diu lachende des angeblichen Kaufmannssohns aufgefallen war (V. 3140f.). Was er nun singt, widerspricht ebensosehr seiner Erscheinung wie sein 'trauriger' Name. Der Vortragsabend führt somit eine merkwürdig zweideutige Stimmung herbei, eine Mischung von Lust und Leid, von Begeisterung und Nachdenken ... wie im Prolog gemeldet! Die nächste Szene, in der ein solcher Leich vorkommt und genannt wird, verstärkt diesen Eindruck: Es ist die Gandin-Episode, wo Tristan durch sein Harfenspiel Isolde zurückgewinnt, die der irische Baron Gandin, ein hochmütiger Isolde-Verehrer, durch seine Rotte als don contraignant Marke abverlangt und abgeführt hatte. Gandin hatte Marke und seinem Hof einen Leich vorgetragen, der in allen sanfte tele (V. 13199): Der Titel des Leichs ist nicht genannt, aber noch einmal wird die senfte daran besonders geschätzt und gelobt. Und auch das will er nun vom beaz harpiers Tristan haben, als dieser vor seinem Zelt auftaucht, wo er die weinenden Isote in seinen Armen hält (V. 13291): Er will, daß Tristan Isolde tröste (V. 13309), und das gelingt auch, indem Tristan so rehte süezen einen leich (V. 13321) auf seiner Harfe spielt - auch hier ohne Titel: der Isote in ir herze sleich und ir gedanken alle ergie so verre, dazs ir weinen lie und an ir amis was verdaht. (V. 13322ff.)

Also Trost, „Verdenken" (Träumen bei Verlust des klaren Bewußtseins), „Gedanken" - dieselbe bizarre Mischung wie damals an Markes Hof, als das Kind für ihn sang, dies aber jetzt mit der köstlichen Zutat, daß Isolde ausgerechnet von ihrem amis in dieses 'Verdenken' an ihn versetzt wird! Und damit ist es nicht getan, sondern auf Gandins Verlangen muß Tristan noch einen Leich spielen, und diesmal ist es ein ganz spezifisches Verlangen von Gandin: Er will den leich von Didone hören - den Leich von der verlassenen Königin, für eine andere Kö-

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'Tristan'

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nigin, den ihr amis eben dadurch befreien wird! Es ist wirklich unmöglich, hier wie beim 'Verdenken' an den Geliebten vor dem Geliebten ... und dem NichtGeliebten, einen feinen humoristischen Unterton zu überhören, der, von süeze noch einmal begleitet (V. 13359) - oder sie begleitend - , die wehmütigen Akzente stark relativiert. Daß aber ausgerechnet der Mann, der durch die Gewalt der List (denn der don contraignant ist eine Form der Gewalt) die Königin Isolde ihrer Umgebung entrissen hat, den Dido-Leich hören will, macht den Humor der Szene eher unheimlich: Die Freude an der Kunst kann auch eine böse Freude sein, die Mythen der Vergangenheit eine Gelegenheit, nicht an ihnen zu lernen oder auch die Vorgänger (die 'Präfigurationen') zu ehren, sondern sich einfach durch sie unterhalten zu lassen. Dann trüge diese Kunst überhaupt keine Verantwortung, und das heißt: Sie hätte kein Gewicht mehr. Die Gandin-Episode, die wir eben besprochen haben, könnte auch in anderer Hinsicht diese mögliche Gewichtslosigkeit der Kunst in der höfischen Welt, aus der Gandin stammt, nahelegen. Sie teilt nämlich mit der Szene, wo das kint (der Jüngling)13 an Markes Hof singt, einen gemeinsamen Zug: Die anspielende Art der Anführung von bekannten Leichs. Kein Wort über ihren Inhalt, höchstens ein Epitheton für den Helden und / oder die Heldin: stolz, schoene (V. 3586f.), curtoise (V. 3616). Da fragt man sich vielleicht, wieso denn Gottfrieds Publikum so anspruchslos war, sich mit dieser Erzählgeste zufrieden zu geben. Die Technik der Anspielung kann aber auch das genaue Gegenteil signalisieren: die enge Vertrautheit der höfischen Zuhörer mit den Stoffen, die ihnen vorgetragen werden. Wenigstens einige der Zuhörer mögen so gebildet sein,14 daß sie durch bloße Nennung des Titels an den Inhalt erinnert werden und sich somit den Eindruck vorstellen können, den diese Leichs auf Markes Ritter und Damen beziehungsweise auf Gandin und Isolde machen (im Fall Gandins: auf ihn machen sollten). Allerdings bedeutet Bildung nicht notwendig, daß man die exempla, die Lehren von Literatur oder Kunst, sei es für Selbst- und Welterkenntnis oder für die eigene Lebensführung, ernst nimmt! Hier ist mit der Möglichkeit der reinen Unterhaltung durch aufregende exempla zu rechnen, die von Kirchenlehrern auch bei Benutzung in der Predigt befürchtet wurde. - Nun kommt aber in Gottfrieds 13

14

Das Wort kint hat bekanntlich eine weite semantische Ausdehnung im Mittelhochdeutschen. In Vers 2131 erfuhren wir, daß Tristans 14. Lebensjahr vür kam, darauf aber reist er durch sein Land hin und her, um es kennenzulemen, und dann kommen noch die norwegischen Kaufleute. Tristan ist also wohl etwa 15-jährig zu denken, als er nach Cornwall kommt (vgl. aber V. 3719: ein vierzehenjcerec kint). Zur Bildung des höfischen Publikums, insbesondere der quasi litterati, das heißt der gebildeteren Laien, sowie zur unterschiedlichen Fähigkeit eines Publikums, das kaum lesen kann und fast alles beim bloßen Hören erfassen muß, die Absichten und Anspielungen des Autors zu verstehen, vgl. neuerdings Dennis H. Green, „Vrume ritr und guote vrouwen \ und wise phaffen. Court Literature and its Audience". In: German Narrative Literature of the Twelflh and Thirteenth Centuries. (FS Roy Wisbey) Hg. von Volker Honemann u.a. Tübingen 1994, S. 7-26.

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Roman ein dritter Fall solcher Verwendung der profanen Liebesgeschichten, der keine Zweifel mehr an ihrer Ernsthaftigkeit zuläßt: Es geschieht während Tristans und Isoldes idyllischen Waldlebens. Tristan ist ja kein kint mehr, er ist vor Jahren zum Ritter geschlagen worden; er hat gegen Morolt gekämpft und ihn besiegt und getötet, ist dabei selbst fast tödlich verwundet worden, fuhr dann übers Meer, um sich heilen zu lassen, ist dadurch nicht nur mit der Fremde, sondern auch (anscheinend zum ersten Mal), mit der Frau in Kontakt getreten, die ihn retten - und ihm das Weibliche (die anima) offenbaren wird (Isolde die Mutter und Isolde die Tocher übernehmen hierbei dieselbe Funktion). Diese bekannten Phasen der Geschichte zähle ich nur auf, um ihre Bedeutung als Initiationsstufen hervorzuheben: Durch Kampf, Todeserfahrung (am anderen und fast an sich selbst), Schmerz, Fremde und Frau ist Tristan zu sich gekommen. Als aber sein Herr und Onkel Marke ihn von seiner angeborenen Umgebung, der höfischen Gesellschaft, mit Isolde zusammen verbannt, machen sie dann eben zusammen eine neue und ganz außergewöhnliche Erfahrung, nämlich diejenige der Zweisamkeit, einer Zweisamkeit aber, die deshalb eine gerade schar ist (V. 16852), weil sie diesmal nicht nur heinlich under in sind wie auf dem Schiff, das sie aus Irland brachte (V. 12391). Jene 'Heimlichkeit' stand nämlich im Zeichen einer rein sinnlichen Leidenschaft, deren wisheit unde sin (V. 12379) nur darin bestand, von der Gelegenheit zu profitieren. Sie Schloß alle anderen aus (selbst Brangaene, die sich diskret zurückgezogen hatte, um sie in Frieden zu lassen), und sie war dennoch unvollkommen, weil die vorvorhte dessen, was sie in Cornwall erwartete, ihnen „wehtat" (V. 12395): Das Schuldgefühl entsprang der De-Solidarisierung mit der übrigen Menschheit, mit der sie nichtsdestoweniger weiter zusammenleben mußten. Aber jetzt sind sie (vor allem Tristan, dessen früheren Lebenslauf wir besser kennen), herangereift, reif für wahre, volle, sinnlich-geistige Liebe, die sich zwar nicht nach der höfischen Gesellschaft mit ihrer vröude (V. 16867) sehnt, dennoch die Solidarität mit ihren höheren Werten nicht leugnet: Auf das bezzer leben an Markes Hof verzichten sie leichten Herzens, aber nicht auf ihre ere dort (V. 16875-16877), was erklärt, warum sie in ir herzen vro sein werden, wenn Marke sie zurückruft (V. 17695). Aber schon mitten im Idyll bezeugen sie ihre Verbindung als reife Liebende mit der höheren Menschheit der edlen Herzen, als sie im Schatten der Linde vor der Minnegrotte ir senemaere triben: von den, die vor ir jaren von sene verdorben waren: si beredeten unde besageten, si betrureten unde beclageten, daz Villise von Traze, daz der armen Canaze in der minnen namen geschach; daz Biblise ir herze brach durch ir bruoder minne;

Leichs und 'sene-maeren' in Gottfrieds 'Tristan'

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daz ez der küniginne von Tire und von Sidone, der seneden Didone durch sene so jaemerliche ergie. (V. 17185ff.)

Diese Litanei ist, wie schon oben erwähnt,15 beinahe die Übersetzung einer Stelle von Hyginus' Fabulae, am Anfang des Kapitels 243, mit dem Titel quae se ipsae interfecerunt. Unter mehreren Aspekten ist diese Art, den antiken Text anzuführen, höchst interessant, wenn auch nicht rest- und fraglos interpretierbar. Ich bezeichne zunächst einige Aspekte durch Stichwörter: Vorläufer, sene, Klage, Todeserwähnung, nur Frauen, noch einmal Dido, keine Musik. Zum ersten Mal sehen wir Tristan und Isolde zusammen der Liebeshelden der Vergangenheit gedenken, und zwar als ihrer Vorläufer in der sene, und da ist wiederum zweierlei zu unterscheiden: der 'Vorläufergedanke' impliziert, daß die Menschen der Vergangenheit nicht mehr nur Themen für rührende Liederabende hergeben, sondern daß die zwei Liebenden, die ihrer hier und jetzt gedenken, eine Kontinuität zwischen den alten Zeiten und ir jaren herstellen; 'gedenken' heißt also hier: diese exempla dem eigenen Leben, ins eigene Leben integrieren und wieder aufleben oder weiterleben lassen als dessen Präfigurationen (Wisbey). Das war dem Kind Tristan unmöglich, weil es vollkommen unerfahren war; das kam Gandin gar nicht in den Sinn, als er sich den Dido-Leich vortragen ließ, er verlangte nur Unterhaltung. Andererseits charakterisiert die sene alle diese Geschichten: Durch dieses nachdrücklich wiederholte Wort (senedaere V. 17183, senemaere V. 17184, sene V. 17186) erfahren wir viel mehr über das Grundgefuhl, das dieses Erzählen hervorruft, als durch das flüchtig verwendete seneliche[ri\, das an Markes Hof die noten von Guruns Leich (V. 3524), dann den Leich von Tispe (V. 3615) kennzeichnete: Von der Musik war da die Rede, nicht von den Erinnerten, nicht von den Erinnernden, die sene blieb sozusagen am Kunstwerk kleben, wurde nur teilweise verinnerlicht (im 'Verdenken' der höfischen Zuhörer). Der dritte Aspekt ist die Klage (V. 17188): Das schmerzliche Element, das schon in der sene liegt, entfaltet sich ganz, in den maeren und in denjenigen, die sie sich wieder erzählen, nicht mehr nur als de-siderium (das Leid des Nichtsehen-könnens, der Trennung, des Verlangens, und die Identifizierung der Heutigen mit den leidenden 'Vorläufern'), sondern als die schmerzvolle Einsicht in das fatum, das endgültige Wort des Schicksals, das die Liebende (wir kommen noch auf dieses Femininum zurück) von dem Geliebten trennte und sie dadurch zum Tode verurteilte. Mithin kann man nicht mehr von süeze sprechen, vom ästhetischen Genuß, der die höfischen Zuhörer solcher Geschichten von den Gestalten distanzierte, das heißt von mehr oder weniger unverbindlicher Unterhaltung. Tristan und Isolde „beklagen" das tragische Ende von Liebenden, denen es Jämmerlich erging": Durch Erwähnung oder Andeutung dieser Liebestode regt

15

Vgl.Anm. 4.

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Gottfried jetzt seine Zuhörer oder Leser dazu an, die Empfindungen seiner Helden bei ihrem Gedenken zu teilen (während es für die Episode des Vortrags an Markes Hof kaum möglich war), ihre Klage nachzuvollziehen und sich ihrer Ahnungen noch besser als sie bewußt zu werden. Im Schicksal der antiken Heldinnen, die das Tabu des Inzestes oder das Primat der Politik ihrer Geliebten beraubte, ahnen Tristan und Isolde, die das feudal-christliche Gesetz der Ehe früher trennte und bald wieder und viel schlimmer trennen wird, unbewußt eine innige Verwandtschaft mit ihrem eigenen Schicksal, die Vorbestimmung zur verbotenen Liebe und zum daraus folgenden Tod, die sie selbst dem Gedächtnis der Nachkommen einprägen wird. Wie die antiken Helden sind sie ein Grenzfall, aber ein solcher, der eine Möglichkeit des Menschseins, der conditio humana, auf 'pathetische' Weise darstellt: die Möglichkeit, daß ein Hauptbedürfnis des Individuums mit denjenigen der Gesellschaft beziehungsweise mit dem institutionellen Kode nicht zu vereinbaren ist. Die Verknüpfung der antiken Helden mit ihrem eigenen Schicksal, die Errichtung der kleinen monumenta um ihr großes monumentum macht dessen Sinn um so sichtbarer und verständlicher. Etwas kann allerdings dabei überraschen: Ihre 'Vorläufer' sind lauter Vorläuferinnen, und damit hängt vielleicht zusammen, daß die einzige Gestalt aus diesen maeren, die zweimal im Roman erwähnt wird, Dido ist: im Leich, der von Gandin verlangt wurde, und jetzt unter den Frauen, quae se ipsae interfecerunt, aus Hyginus' fabulae. Warum nur Frauen, warum vor allen Dido, wenn hier Mann und Frau zusammen sind, wenn Tristan Isolde nicht verlassen, Isolde an seinem Verrat nicht sterben wird? Blickt man über die Zufälle der antiken Tradition hinaus,16 so erkennt man, daß diese Beschränkung der Opferrolle auf Frauen doch ihren Sinn für Gottfried (ob bewußt oder unbewußt) haben sollte. Hier scheint jede Interpretation unverbürgt zu sein, die Erklärung durch eine besondere Affinität des Dichters Gottfried zum Weiblichen wäre denkbar, reicht aber als Erklärung nicht aus. Vielleicht kommt eine kulturgeschichtliche Betrachtung der Wahrheit näher: In der feudalen Gesellschaft wie im klassischen Altertum hat der Mann mehr Freiheit und politische Verantwortung, so daß in der Wirklichkeit und noch mehr im Imaginären die Privatrolle der Liebenden, Wartenden, Leidenden und Verlassenen der Frau zukommt, selbst wenn hier, in dieser Geschichte, Tristan genauso und manchmal sogar mehr leidet und wartet als Isolde. Es bleibt noch ein Aspekt zu prüfen, vielleicht der bedeutungsvollste von allen, jedenfalls der symbolträchtigste: Tristan und Isolde „bereden", „besagen" diese Geschichten, sie spielen sie nicht, sie singen sie nicht, obwohl doch ein Dido-Leich existiert, wie man es seit der Gandin-Episode weiß. Das heißt, daß jetzt, wo die Liebenden alle Muße haben, sich nur der Liebe zu widmen, das (Nach)-Denken über die Liebe, die Ergründung ihres Lebenssinns, die Bildung 16

Zufälle der Tradition - oder eine Quasi-Systematik, die diejenige von sozialer Wirklichkeit und Mentalität widerspiegelt, die wir auch als Ursache erwägen? Ovids Heroiden enthalten, von 21 Liebesbriefen, nur 3 von Männern, dafür 18 von Frauen.

Leichs und 'sene-maeren'

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einer Gemeinschaft der Liebenden über die Grenzen von Zeit und Tod den Vorrang haben vor dem künstlerischen Genuß an der musikalischen Form der Leichs. Jedoch nachher gehen Tristan und Isolde, wohlgemerkt wenn sie der maere [...] | vergezzen wolten under in (V. 17201f.), in die Grotte, wo sie dann senelichen unde suoze (V. 17207) musizieren: Man kann nicht deutlicher sagen, daß Liebesgedächtnis und -erkenntnis und künstlerische Unterhaltung jetzt zwar radikal verschiedene Verhaltensweisen geworden sind, selbst wenn sie ein gemeinsames Element aufweisen: die sene. Im Gespräch vor der Minnegrotte war die sene der Anfang der Weisheit (etwa wie timor initium sapientiae für die Kleriker war), der Anfang der Einsicht in die Schicksalsgemeinschaft, die die jetzigen Liebenden mit denjenigen von früher teilen. Aber die Zwei- oder Mehrdeutigkeit dieser sene, wie wir sie in der Jugend- und der Gandin-Episode festgestellt hatten, war nicht mehr vorhanden; die Erinnerung an die Liebesheldinnen der Antike schuf nunmehr Klarheit, erkannte der rede des Dichters, ob Vergil, Ovid, Hyginus oder Gottfried, seine Rolle und seinen Ernst zu als Gedächtnisträger, als Denker und Pfleger der Liebe. In der Grotte dagegen gewinnt die sene ihre frühere Zweideutigkeit zurück, indem sie wie damals an Markes Hof mit süeze verbunden ist (V. 17207, 17217). Damit ist nicht gesagt, daß Gottfried die Lust, die wunne an der siiezen Minne (V. 17213, 17222), also das Lustprinzip von Liebe und Kunst prinzipiell verurteilt, sondern nur, daß es nicht genügt, um die Liebe in ihrer Tiefe zu reflektieren und die „edlen Herzen" zu befriedigen. Der Erkenntnisdrang und Aufbewahrungswille, der in der Memorialisierung der großen Liebeslegenden steckt, muß ab und zu dem Lustprinzip Platz machen, ohne daß er mit ihm verwechselt wird. Dieses Verständnis der MinnegrotteEpisode widerspricht Roy Wisbeys Deutung, in der das Musizieren in der Grotte als die typologische Vollendung (der Antitypus) der melancholischen Vorläuferlegenden verstanden wird. 17 So geistreich diese Interpretation auch sein mag, so scheint sie mir doch die angedeutete Unterscheidung zwischen Aspekten und Rollen von Musik und Dichtung zu übersehen. Ein letztes Mal hören wir in Gottfrieds unvollendeter Dichtung von einem Leich, als Tristan in Arundel wiederum vor einem ganzen Hof (V. 19206ff.) den edelen leich Tristanden (V. 19201) komponiert und dabei oder nebenbei (die Stelle ist nicht völlig klar) das refloit singt: 'hot ma drue, Isot mamie, en vus ma mort, en vus ma vie'. (V. 19212f.)

Alle Zuhörer auf der Burg Karke freuen sich, weil sie glauben, er meine mit diesem Refrain ihre Isot, Isot as blanschemains. Doch Tristan meint vielmehr die andere Isot, die einzige, die wirklich sein Leben ist und sein Tod sein wird. Diesmal erscheint die Kunst mehr denn je als eine Mischung von Wahrheit und

17

Wisbey(Anm. 5), S. 271.

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Rocher, Leichs und 'sene-maeren'

Lüge, von Offenbarung und Verhüllung, schon im Herzen des Künstlers selbst, der nicht ganz absichtlich sein Publikum betrügt. Die Hauptsache für ihn: Indem er Herzog Jovelins Hof unterhält, kann er sich durch seinen autobiographischen Leich - auch Marie de France berichtet davon18 - 'uns', dem 'unzeitgemäßen' Publikum zeigen, 'wie er ist', in seiner ewigen, denkwürdigen Wahrheit, welche das Publikum in der Fiktion nicht akzeptieren könnte. Hierin, ebenso wie in der Stelle über das Gedenken an die Vorgänger oder Vorläuferinnen vor der Minnegrotte, haben wir vielleicht einen Teil der Antwort auf die Frage, die wir eingangs stellten, nämlich ob wir in Gottfrieds Tristan ein monumentum amoris mit doppeltem Gesicht, mit zweideutigem Sinn besitzen. Die Anfuhrung älterer monumenta amoris dient dazu, die Möglichkeit von Wahrheitsenthüllung und -Verhüllung, von Ernst und Spaß, von rechtem und Unrechtem Gebrauch der Kunst zu demonstrieren. Das gilt natürlich auch für das Tristan-Denkmal: Es kann zum Spaß, zur Unterhaltung, und auch zur Beschwichtigung der edlen Herzen dienen, die es sehen und hören, und die wohl selbst auch die Ängste und Qualen der Liebe aus eigener Erfahrung kennen. Wenn sie aber die Stufe erreichen, wo sie höherer Liebe fähig sind, dann werden sie die legenda richtiger lesen, sie werden zur substantifique moelle der Fiktion gelangen, oder mit Gottfrieds Worten das „Brot" des Lebens in der triuwe und staete der senegluot und selbst in der Todesbereitschaft entdecken, die damit unentrinnbar verbunden ist.

18

Marie de France, Chievrefoil. In: Les Lais de Marie de France. Hg. von Jean Rychner. Paris 1978, V. 112f.: Tristram, ki bien saveit harper, En aveit fet un nuvel lai. Nach Abschluß des Manuskripts erschien Ulrike Draesner, „Zeichen - Körper - Gesang. Das Lied in der Isolde-Weißhand-Episode des Tristan Gotfrits von Straßburg". In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider. (Germanisch-romanische Monatsschrift. Beiheft 13) Heidelberg 1996, S. 77-100.

Uwe Ruberg (Mainz)

'Lancelot malt sein Gefängnis aus' Bildkunstwerke als kollektive und individuelle Memorialzeichen in den Aeneas-, Lancelot- und Tristan-Romanen*

In seinem frühen Pionier-Beitrag zur literarhistorischen Erschließung des deutschen Prosa-Lancelot kennzeichnete Wolfgang Harms 1963, ausgehend von den Indizien des Erkennens, Verkennens oder Verbergens gemeinsamer Bindungen, den Protagonisten Lancelot - im Unterschied zu Gawan - als „Ritter der ichbezogenen, zweiseitigen Bindungen"; Lancelot, „dessen Wesen die Form der überindividuellen Gemeinschaft fremd ist", werde in Notzeiten des Artushofes „auserwählt, eben diese Form zu retten".1 Seither hat wie das Erkennen auch das Erinnern in der erzählten Welt des Lancelot-Gral-Prosaromans manche Aufmerksamkeit der Forschung beansprucht. Die aktiv erhellende Erinnerung, die Inhalte der Vergangenheit wiedergewinnt oder erst richtig erkennen hilft, und insbesondere das schwer brütende, immobilisierende gedenken, das einst glückverheißende Werte und Lebensformen vom Untergehen bedroht zeigt, hat Friedrich Ohly in die Perspektiven seiner memoria-Abhandlung einbezogen.2

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Dank für klärende und weiterführende Diskussionsbeiträge schulde ich neben den Teilnehmern des Reisensburger Kolloquiums auch den Hörern der Vortragsfassung beim IX. Weltkongreß der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft in Vancouver (15. 8. 1995) und bei der Mainzer Philosophischen Fakultätsgesellschaft (8. 2. 1996). Wolfgang Harms, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300. (Medium Aevum 1) München 1963, S. 199f. - Der komplexe literarische Individuierungsprozeß wurde wiederholt bemerkt, jedoch bis heute eher provisorisch behandelt; siehe Xenja von Ertzdorff, „Tristan und Lancelot. Zur Problematik der Liebe in den höfischen Romanen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts". In: Germanisch-romanische Monatsschrift 64 (1983), S. 21-52, bes. S. 22 und 42; Christoph Huber, „Von der Gral-Queste zum Tod des Königs Artus. Zum Einheits-Problem des Prosa-Lancelot". In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. (Fortuna vitrea 1) Tübingen 1991, S. 21-31, hier S. 37; vgl. auch Anm. 25. Friedrich Ohly, Bemerkungen eines Philologen zur Memoria. Münstersche Abschiedsvorlesung vom 10. Februar 1982. München 1991 [zuerst in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch. (Münstersche Mittelalter-Schriften 48) München 1984, S. 9-68], S. 59-64 (mit Bezügen zur Melancholia); siehe auch das Kapitel „Die reaktivierte Zeit: Erinnerung und gedenckenu bei Uwe Ruberg, Raum und Zeit im Prosa-Lancelot. (Medium Aevum 9) München 1965, S. 173-176.

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Angeknüpft sei heute bei den Funktionen von Memorialbildern und -räumen, die - wie auch für die hochmittelalterliche Zeit vorauszusetzen ist - eine weit in die Lebenspraxis hineinreichende Erfahrung visueller Vergegenwärtigung vermittelt haben. Den Bildern speziell widme ich mich nicht zuletzt in der Erwartung, daß die seit längerem intensivierten Forschungen zum intermedialen Zusammenwirken von Text und Bild dazu angetan sind, auch fur die Leistungen beschriebener, erzählter oder ausgelegter Bilder i n n e r h a l b eines Textes, hier eines epischen Kontextes, differenziertere Aufschlüsse anzubahnen. Die Lancelot-Trilogie, zwischen 1215 und 1230 in Nordfrankreich entstanden, sollte durch die um 1250 einsetzende Übertragung ins Deutsche zum „Frühaufsteher" unter den deutschen Prosaromanen werden. Das immense Werk bietet nicht weniger als eine summierte und neuinterpretierte Geschichte der gesamten arthurischen Welt, indem es drei Erzählkomplexe entfaltet und miteinander verflicht: Lancelots Individualgeschichte von der Kindheit bis zu Alter und Tod, die Vita seines Sohnes Galaad, mit der die unüberbietbare und unwiederholbare Vollendung aller Gralabenteuer einhergeht, und - als Substrat - nach glanzvoller Höhe Verfall und Untergang des Artusreiches. Die Trilogie will mit ihren drei Teilromanen - Lancelot (mit Agravain), GralQueste und Tod des Königs Artus - als eine konzeptionelle Einheit en bloc genommen werden. Ihr spannungsreiches Gesamtpanorama ruft noch heute Bewunderung hervor. 3 Weit ausgreifende höfisch-weltliche und geistliche Dimensionen des Werkes sind in seinem Großgefüge, das in Kluges Ausgabe 4 des deutschen Textes gegen 55000 gut gefüllte Druckzeilen zu bändigen hat, ungeachtet mancher ungelöster Rätsel erzählerisch zur Anschauung gebracht. Erinnerungshilfen und Erinnerungsinhalte mit kollektiver Gedächtniszielsetzung sind in der erzählten Welt gleichsam institutionalisiert, denn Artus läßt in einem hoheitlichen Akt die Berichte der Aventiure-Ritter authentisch durch vier Hofschreiber aufzeichnen - im Sinne einer Chronik-Fiktion für das gesamte Werk. Darüber hinaus werden Gawans Großtaten während seiner erfolgreichen Suche nach Lancelot zu bleibendem Gedächtnis seiner Leistung in Stein gemeißelt (I 445,12ff.). 5

„Lancelot: ein Ereignis der deutschen Gegenwartsliteratur": so ist Hans-Herbert Räkels emphatische Besprechung der vorzüglichen Neuausgabe betitelt {Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 235 vom 10. Oktober 1995, S. L 24): Lancelot und Ginover (Prosalancelot I und II). Nach der Edition von Reinhold Kluge übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff. 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters 14 und 15. Bibliothek deutscher Klassiker 123) Frankfurt/M. 1995. Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147 hg. von Reinhold Kluge. 3 Bde. (Deutsche Texte des Mittelalters 42,47, 63) Berlin 1948, 1963, 1974. Nachweise zu ruhmvoll literarisierten bildlichen Darstellungen Gawans auf einem Wandteppich, auf Kultgegenständen sowie als lebensgroßes Standbild im französischen und deutschen arthurischen Roman bei Christoph Cormeau, „Zur Gattungsentwicklung des Artusromans nach Wolframs Parzival". In: Spätmittelalterliche Artusliteratur. Ein Symposion der neusprachlichen Philologien auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft. Bonn

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Lancelot dagegen entzieht entscheidende Begegnungen seiner Berichtspflicht bei Hofe, erstes Indiz, daß seine Person in einen Hiatus zwischen kollektiver memoria und individueller Erinnerung gestellt ist. Innerhalb der Gesamtstruktur kommt einer Reihe von Szenen Schlüsselcharakter zu, weil sie sich nicht nur punktuell spezifisch herausheben, sondern zugleich in weit entfernte Teile der Trilogie ausstrahlen. Solche Schlüsselszenen die Fahrt auf dem Schandkarren, das Überqueren der schmalen, messerscharfen Schwertbrücke (Szenen, die auch in der reichen französischen Handschriftenillustration favorisiert wurden und die in der späteren literarischen Rezeption ihre produktive Rolle gespielt haben) - betreffen nicht von ungefähr in aller Regel die unvergleichliche, schicksalhafte Liebe zwischen dem besten Ritter Lancelot und der höchsten Dame, Königin Ginover an Artus' Seite. Als in der Divina Commedia unter Vergils Führung Dante im zweiten Kreis der Hölle (Inf. V) die der luxuria Schuldigen leiden sieht, steigert sich sein Mitleiden zur Ohnmacht angesichts der Lebensgeschichte von Paolo da Rimini und Francesca, die einander zu lieben begannen, als sie bei ihrer gemeinsamen Lektüre des Prosa-Lancelot an eine Schlüsselszene, die erste Liebesbegegnung Lancelots und Ginovers, gelangten. Francesca erklärt: Doch eine Stelle hat uns überwältigt. Als wir gelesen, daß in seiner Liebe Er das ersehnte Antlitz küssen mußte [...] Verführer war das Buch und der 's geschrieben. An jenem Tage lasen wir nicht weiter6

Lancelots erwidernder Kuß, an den hier erinnert wird, aber mehr noch Ginovers voraufgegangener Kuß besiegeln einen a priori eheähnlich unauflösbaren, Dienst und Leidenschaft einschließenden Liebesbund. Um die Fernwirkungen dieser Verbindung, zumal ihrer von Lancelot als Tremendum erfahrenen Ursprünge, geht es auch in jener anderen Schlüsselszene der Trilogie, die im Zentrum unserer Überlegungen stehen soll. Lancelot als Maler, der die Wände seines nicht unwirtlichen, aber trostlosen Gefängnisses mit Fresken belebt - dies ist gewiß eine der überraschendsten, ei1982. Hg. von Karl Heinz Göller. (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur 3) Paderborn u.a. 1984, S. 119-131, hier S. 125. Dante Alighieri, Die göttliche Komödie. Übersetzt von Hermann Gmelin. Stuttgart 1959, S. 27, V. 127-138. Zu Francescas Umakzentuierungen der Kuß-Szene des Prosa-Lancelot vgl. Anna Hatcher und Mark Musa, „The kiss Inferno V and the Old French Prose Lancelot'". In: Comparative Literature 20 (1968), S. 97-109, mit Berücksichtigung der Miniaturen französischer Lancelot-Codices (S. 102f.); dazu auch Ruberg (Anm. 2), S. 62-65. Zur Wirkungsgeschichte der Szene in Literatur und Forschung Willi Hirdt, „Ein Kuß mit Folgen. Zum 5. Gesang des Inferno in der Divina Commedia". In: Sprache und Literatur der Romania. Tradition und Wirkung. (FS Horst Heinze) Hg. von Irmgard Osols-Wehden, Giuliano Staccioli und Babette Hesse. Berlin 1993, S. 29-37.

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genartigsten und anrührendsten Szenen im gesamten Lancelot-Gral-Roman. Auf der Suche nach seinem in Gefangenschaft verschollenen Halbbruder Hector und seinem Vetter Lionel ist Lancelot durch List und falsche aventiure-Versprechungen in die Gewalt der zauberkundigen Artusschwester Morgane geraten. Ohne sich selbst zu erkennen zu geben, setzt sie ihn nun ein drittes Mal gefangen, weil er, wie sie schon früher einsehen mußte, ihre Liebe aus Treue zu Ginover nie erwidern würde. Unter der Wirkung eines sedierenden Gifttranks und eines ins Hirn geblasenen Zauberpulvers vegetiert er drei Monate in Morganes Waldschloß in einem verschlossenen Raum, bis er in der Weihnachtszeit durch sein vergittertes Fenster einen Maler erblickt, der une ancienne histoire,7 ein alt Historien (II 476,16) als Wandgemälde darstellt. Lancelot schließt aus den beigegebenen Inschriften (vermutlich Namen, Tituli oder Sprechbänder), daß es sich um die Geschichte der Flucht des Aeneas aus Troja handelt. Dieses 'Kunstereignis' weckt in ihm den Wunsch, er wolt in der kamern main, darinn er gefangen lag, von der die er so lieb hett und sere begeret zu sehen von wolgefallen und zuchtikeit, die er zu dicken malen an syner frauwen der koniginne gesehen hatt (II 476,18-20). Daß Lancelot sogleich daran denkt, Ginover bildlich darzustellen, läßt darauf schließen, daß er in der Szenenfolge aus der AeneasGeschichte8 prominent die karthagische Königin Dido wahrgenommen hat. Wie Aeneas liebt Lancelot eine koniginne ohne die gesellschaftliche Sanktionierung einer Eheschließung; schon deshalb ist eine Darstellung Lavinias als spätere Gemahlin des Aeneas in Latium kaum in Betracht zu ziehen. Mittelalterliche Wandmalereien zum Excidium Troiae und zur Flucht des Aeneas sind zwar weder erhalten noch rekonstruierbar, maßgeblich für die Vorstellung von den zu erwartenden Bildinhalten dürften jedoch ohnehin Miniaturfolgen in illustrierten Aeneas-Dichtungen und mehr noch literarische Beschreibungen entsprechender bildlicher Darstellungen gewesen sein. Nirgends fehlt die Dido-Begegnung als erste wesentliche Station9, so daß die „arthurische Kurzfassung" der Aeneas-

Lancelot. De la quete d'Hector par Lancelot [...]. Hg. von Alexandre Micha. Paris - Genf 8

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1980, Bd. 5, S. 52. Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, bespricht Lancelots Wandbilder als „Textur von schriftlichen und ikonischen Zeichen" (S. 303ff.) und parallele literarische „Gedächtnisräume" (S. 304-320), übergeht jedoch den Impuls durch die Aeneas-Bilder (S. 305). Beispiele sind die Bildgeschichten auf Enides Sattel in Chretiens Erec et Enide, V. 5292ff. (ed. Mario Roques), und in Hartmanns von Aue Erec, V. 7556ff. (ed. Leitzmann / Wolff / Cormeau / Gärtner), sowie in der Cröne Heinrichs von dem Türlin ein kostbarer, für das Weihnachtsfest in König Artus' Palast bestimmter Wandteppich, auf dem unter anderem dargestellt ist, Wie Troie zevüeret lac \ Und der jcemerliche slac, | Der an Didön ergienc, | Do sie Eneam enpflenc (ed. Scholl, V. 528-531). Weitere Beispiele aus der frühen französischen Literatur bei Otto Söhring, „Werke bildender Kunst in altfranzösischen Epen". In: Romanische Forschungen 12 (1900), S. 491-640, hier S. 495, 554ff., 583, 602f. - Die deutschen literarischen Troja-Memorialbilder bespricht eingehend Haiko Wandhoff, „Gemalte Erirnie-

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Geschichte, wie sie in Wirnts Wigalois anzitiert wird, durchaus repräsentativ erscheint. Der Prinzessin von Persien wird vorgelesen, wie Troje zevuort wcere und wie jamerliche Eneas der riche sich danne stal mit sinem her vor den Kriechen üf daz mer, wie in vrouwe Dido enpfle, und wie ez im dar näch ergie als es iu ofte ist geseit. (ed. Kapteyn, V. 2715-2722)

Fast durchweg wird auf das Glück und das Unglück dieser Dido-Aeneas-Liebe abgehoben. Ähnlich gemischt sieht der Erzähler auch den Antrieb zu Lancelots Malambitionen in seiner Hoffnung, daß ihm jedes Anblicken des GinoverPorträts Erleichterung in seiner beschwerniß (II 476,21) bringen werde. Vom Aeneas-Maler bereitwillig mit den erforderlichen Malutensilien ausgestattet, braucht Lancelot nicht lange zu überlegen, wie er seinen Bilderzyklus beginnen soll. An den Anfang gehört seine Geburt als Minneritter - am ersten Tag schafft er vier Szenen am Artushof zu Camahelot, wie er erschrack von der Schönheit syner frauwen der konigin als er sie von erst ane sah (II 477,3f.). Aus seiner Jugend bleibt ihm nur das Geleit zum Artushof durch die Frau vom See, seine „gute", mütterlich liebende und fördernde Fee, darstellenswert. Nicht ihre voraufgegangene gewichtige Ritterlehre setzt den Anfang der Bildersequenz. Anders als Parzivals Mutter und Gurnemanz hatte sie die Minnethematik ausgespart, auch späterhin nur punktuell in der Verpflichtung auf hohe und emporfuhrende Minneziele „nachgetragen" (I 176,7f.): Lancelot bedarf anscheinend keiner Minnelehre, wie er auch die Freskomalerei nicht erst zu lernen braucht: Diß macht er alles des ersten tags - heißt es wohl im Anklang an den Schöpfungsbericht10 Genesis l,3ff. - und die bild waren so wol und behentlich gemacht als hett er all syn leptag das hantwerck getriben (II 477,6f.), im Wortlaut erinnernd an das [...] cuncta quae fecerat, et erant valde bona (Gen 1,31). Morgane, die „böse" Fee, die verführerische, eifersüchtige, im Prosa-Lancelot erstmals dem Helden schadende, entdeckt bei ihrem heimlichen nächtlichen Treiben die Bilder, und mit dem Sensorium der liebenden Frau erkennt sie sogleich, daß Lancelot nur dank seiner Liebe zu Ginover - durch brinnender lieb willen - zur Malkunst befähigt wurde (II 477,19). Wie Morgane es voraussieht, stellt Lancelot in seiner neuen Kreativität in chronologischer Folge alle Begegnungen seines Lebens dar,

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rung. Vergils Aeneis und die Troja-Bilddenkmäler in der deutschen Artusepik". In: Poetica 28 (1996), S. 66-96. Generelles zur epischen und bildkünstlerischen Schöpfungsanalogie bei George Kurman, „Ecphrasis in Epic Poetry". In: Comparative Literature 26 (1974), S. 1-13, hier S. 3f.

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die als denkwürdige Stationen seiner Ginover-Liebe zu gelten haben. Ostern hat er sein Werk vollendet. Schon vom ersten Morgen an wendet er sich als Liebender jedem einzelnen Ginover-Porträt zu, als erlaube es ihm den Umgang mit der leibhaftigen Königin: Und alle morgen, als er off stund, da ging er zu yglichem bilde, das gemalet was in wyse der koniginne, und kust es an die äugen und an den munt so lieblich als were es sin frauw die koniginn selber gewest; dann schrey er und clagt sich vor yglichem bild. Und als er dann lang syn ungluck geclagt hett, da lieff er zu den bilden und umbfing sie und trost sichselber und vertreib sin zytt da mit (II 483,20-25).

Nicht nur die affektorientierte Intensität dieses Berichtes schützt die Redeweise vom 'Zeitvertreib' des Gefangenen davor, als 'Freizeitmalerei' eines adligen Dilettanten mißverstanden zu werden. Allein seine Bilder machen ihm seine Isolation erträglich, der Umgang mit ihnen ist eine Konkretionsleistung der Not unverbrüchlicher Fernliebe, verbunden mit 'legendärer' consolatio-Praxis: Die Memorialzeichen verlassen ihren abgeleitet-sekundären Status und stellen durch Bild und Schrift Realpräsenz wieder her. Die Umarmung der Ginover-Bilder bereitet schließlich auch Lancelots konkreten Ausbruch vor.11 Als ihm im nachösterlichen Frühling eine besonders schöne rote Rose im Garten vor seinem Fenster dank seiner Imaginationskraft zu einem Bild Ginovers wird, zerbricht er die Gitterstäbe des Fensters, um die Rose zu nehmen, aus Minne-, nicht aus Kampfbegehren (II 484f.). So haben letztlich die gemalten Memorialbilder der Flucht des Aeneas über verschiedene Zwischenstufen Lancelots Flucht aus seiner Gefangenschaft, dadurch aber auch die Preisgabe seines Memorialraumes bewirkt. Lancelots liebender Umgang mit seinen Ginover-Bildern wäre auch mit einer Diagnose „krankhafte hospitalistische Entgleisung am Surrogat" oder „sublime Form des Wahnsinns" nicht adäquat erfaßt, vielmehr scheint die ihm mögliche Form der täglichen Tröstung gerade zu verhindern, daß er dem Wahnsinn12 erneut anheimfallt. Seine latente Gefährdung durch Wahnsinn hätte man sich als akut vorzustellen, wenn etwa Eifersuchtsgedanken seine Ginover-Liebe hier zusätzlich belasten würden. Ein entsprechend warnender Vorklang auf Lancelots liebende Zuwendung zu den von ihm gemalten Ginover-Porträts läßt sich im 11

Anders Michel Zink, der durch die Umstände der Selbstbefreiung die Gemälde Lancelots zu enttäuschender Kraftlosigkeit degradiert sehen möchte: „Elle [sc. la peinture] trahit doublement Lancelot, puisqu'il ne saurait en tirer l'energie necessaire pour s'evader, pour s'arracher au souvenir et ä l'imaginaire et pour retourner au reel, et puisqu' eile livre le secret de ses amours" („Les toiles d'Agamanor et les fresques de Lancelot". In: Litterature 38 [1980], S. 43-61, hier S. 58f.).

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Zu Lancelots Wahnsinn siehe Ruberg (Anm. 2), S. 98, 176; Dirk Matejovski, Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt/M. 1996, S. 156-184; Klaus Spekkenbach, „Riter - geselle - herre. Überlegungen zu Iweins Identität". In diesem Band S. 115-146, bes. S. 141-145.

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Verhalten der Königin selbst im Wetterleuchten einer von Trennung, Ungewißheit und Sorge überschatteten Phase ihrer Liebe vernehmen. In einem schweren Traum erblickt sie Lancelot, der zwar zum Hof zurückkehrt, ihr jedoch vermeintlich Anlaß zur Eifersucht gibt. Sie verstößt ihn, sieht ihn in Wahnsinn stürzen. Daraufhin gerät sie selbst in einen halluzinatorischen Wachtraum, hält in ihrer Vermischung von Trance, Sehnsucht und Verwirrtheit ein hölzernes Ritterstandbild in ihrem Schlafgemach für den heimkehrenden Lancelot, spricht es an und umarmt, sich hingebend, das Bildnis (II 228,6-21). 13 Anders als die Mehrzahl literarischer Bildbeschreibungen, die innerhalb mittelalterlicher Texte einer kollektiven Memoria dienen, hat die Schilderung der Gemälde Lancelots mit den erklärten Zielen rhetorischer Ekphrasis wenig gemein. Detailliertere Beschreibungen von Bildszenen oder programmatischen Bildfolgen innen und außen an Sakralbauten, in offiziellen und in privaten Räumen von Palästen, auf Stadtmauern, selbst auf den Mauern des Irdischen Paradieses, auf Wandteppichen, Zelten und Betten, auf Waffen, Sätteln, Gewändern, Trinkgefäßen und Spiegeln, nicht zuletzt auf Sarkophagen und Mausoleen - sie alle können sich im Dienst der repraesentatio verselbständigen, aus ihrem Kontext lösen. Nicht so die Beschreibungsprosa zu den Lancelot-Bildern. Sie hält sich hier von ekphrastischem Raffinement fern; ihr Ehrgeiz zielt nicht auf quasimalerische detaillierte Anschaulichkeit, sondern allein auf den Erinnerungswert der Bilder. Dies fuhrt uns zum Aeneas-Bezug zurück, zur ersten Bildbeschreibung in Vergils Aeneis, die ebenfalls gleich mehrfach „funktional bezogen" 14 bleibt. Nach seiner Flucht aus Troja, einer Wendemarke seines Lebens, betrachtet Aeneas in Karthago die Wandbilder im Junotempel und entdeckt überrascht, daß sie den Untergang Trojas darstellen. Unter Tränen erblickt er auch sich selbst im vergeblichen Kampf mitten unter den griechischen Fürsten (I 453—493). In seinen Schmerz darf sich Zuversicht mischen, weil sich nach dem Zeugnis der Bilder der Ruhm der Trojaner weithin ausgebreitet hat. Er erkennt: [...] auch hier findet Tugend ihre Belohnung, Mißgeschick Tränen; auch hier rührt leidende

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Zur Surrogatfiinktion des Bildes in dieser Idol-Liebe und ihrer kathartischen Auflösung Wenzel (Anm. 8), S. 308; zur zusätzlichen prognostischen Funktion dieses Ginover-Traumes im Hinblick auf die Zeugung des Gralhelden durch Lancelot siehe Klaus Speckenbach, „Form, Funktion und Bedeutung der Träume im Lancelot-Gral-Zyklus". In: I sogni nel medioevo. Seminario internazionale Roma 1983. Hg. von Tullio Gregory. (Lessico Intellettuale Europeo 35) Rom 1985, S. 317-356, hier S. 331f.; siehe auch Mireille Demaules und Christiane Marcello-Nizia, „Träume in der Dichtung. Die Ikonographie des Lancelot-Graal". In: Träume im Mittelalter. Ikortologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani und Giorgio Stabile. Stuttgart u.a. 1989, S. 209-226, hier S. 215f. mit Farbabb. 37. Walter Haug, „Gebet und Hieroglyphe. Zur Bild- und Architekturbeschreibung in der mittelalterlichen Dichtung". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 106 (1977), S. 163-183, hier S. 167. Die Troja-Memorialbilder im karthagischen Junotempel fehlen im französischen Roman d' Eneas und bei Veldeke; dazu Wandhoff (Anm. 9), S. 66ff„ 95f.

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Menschheit die Herzen (I 461 f.; übers, von J. Spitzenberger). Während Aeneas die Troja-Bilder betrachtet, trifft die Gründerin Karthagos und Stifterin des Junotempels, Königin Dido, ein; aus der ersten Begegnung mit Aeneas erwächst ihre schicksalschwere Liebe. Als Muster literarischer Bildbeschreibung galten Literaturkundigen gewiß noch vorrangig vor Didos Junotempel - Veldeke (V. 5666ff.) und Gottfried von Straßburg (V. 4932ff.) bezeugen es - die Schilde des Aeneas und des Turnus in Vergils Darstellung, die selbst bereits an epische Traditionen seit dem homerischen Achilles-Schild anknüpft. 15 Auch diese Motivik der bildlich sprechenden Schilde machte sich der Prosa-Lancelot zu eigen, wiederum im Sinne einer objektiven Besiegelung der Lancelot-Ginover-Liebe. Die Frau vom See ließ der Königin Ginover als Geschenk einen gespaltenen Schild überbringen. Der Schild wird nur am oberen Rand notdürftig zusammengehalten, dort wo die beiden auf dem Schild abgebildeten Figuren, der beste aller lebenden Ritter und die schönste Dame, in Kuß und Umarmung verbunden waren (I 342,3Iff.). Gawan, dem maßgeblichen Artusritter, gelang es nicht zu erfragen, welche Bewandtnis es mit dem bebilderten Schild haben sollte (I 361,11-20). Ginover verwahrte den geheimnisvollen Schild in ihrem Schlafgemach, um ihn alle Morgen zu betrachten. Er soll - so lautet die Prophezeiung - nahtlos zusammenwachsen, sobald Lancelots und Ginovers Liebe „vollkommen" sein wird - und das heißt unmißverständlich, sobald beide auch körperlich eins sein werden (I 343,6-8). In der Tat ist der Schild „geheilt", nachdem eines Tages, eines Nachts, Lancelot und die Königin alle die freude die zu recht mynnere haben sollen (I 462,19) erfahren haben. Die einzigartige höchste Liebe scheint - nicht nur nach dem ausdrücklich bestätigenden Urteil der Fee vom See (I 470,26-32) - zu Recht jede Leidenschaft einzuschließen, bis sie später, vor allem im Licht der rigorosen Wertsetzungen der geistlichen Ritterschaft in der Gral-Queste, angefochten und verworfen wird. Wie sehr das Bild des liebenden Paares auf dem geheilten Schild auch in Lancelots Erinnerung bis ins Vorfeld der Gral-Suche hinein durchträgt, wird offenkundig, als Lancelot, nach der durch die Gralsfamilie ins Werk gesetzten Zeugung seines Sohnes Galaad von Ginover verstoßen, sich einen schwarzen Schild anfertigen läßt, auf dem ein Ritter zu sehen ist, der eine Königin kniefällig um Verzeihung bittet. 16 Daß die Schlüsselszene „Lancelots Gefängniskunst" im immensen Gesamtwerk zwar inselhaft, aber doch nicht isoliert steht, ist noch an der Entstehung eines weiteren Gemäldes zu zeigen, das gleichzeitig Memorial- und PrognoseFunktion übernimmt. Wie in Ginovers oben herangezogener Eifersuchtsnacht liegt ein Unheilstraum zugrunde, der diesmal Artus widerfährt. In der Nacht, in der er mit seiner Schwester im Inzest Mordret zeugte, sah er, wie ein Drache aus ihm hervorging, der sein Land verheerte, sein Volk tötete und schließlich ihm 15 16

Kurman (Anm. 10), hier S. 6. Mit Steinhoff (Anm. 3), Kommentar, Bd. 2, S. 953.

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selbst tödliche Wunden zufugte. Von diesem Traumbild läßt Artus, der ansonsten diesem Untergangsszenario 17 gegenüber blind und untätig verharrt, ein Wandgemälde im Stephansmünster von Camahelot anfertigen, im all syn leptag des ein gedechtniß zu haben (II 600,1; remembrance, ed. Micha, Bd. 5, S. 221). Bei der Ortswahl für das Gemälde mag unausgesprochen die Hoffnung auf eine apotropäische Wirkung des Sakralraumes Artus geleitet haben. Lancelot, von einem Eremiten auf dieses allegorische Bild und seine Bedeutung vorbereitet, wird als Teilnehmer eines Festgottesdienstes in St. Stephan beim Betrachten des Gemäldes von Zorn und Trauer erfaßt und versinkt in dumpfes gedenken (II 671) über das unabwendbare katastrophale Ende der Artuswelt, das nicht zuletzt dank seiner Ritterleistungen lange aufgehalten werden konnte, bis es im Vater-SohnKampf durch die gegenseitige Erschlagung Artus' und Mordrets besiegelt wurde. Nachdem der Artushof während der Gralsuche sämtlicher Ritter eine Phase der Unterminierung seiner bisherigen zentralen Normen hinnehmen mußte, wird schließlich der Untergang der höfischen Welt durch eine kalkulierte Spätwirkung der von Lancelot gemalten Fresken dramatisch instrumentiert, allerdings keineswegs verursacht noch primär verschuldet, wie es ja schon der Drachentraum des Königs andeutete. Morgane hatte seinerzeit den Maler Lancelot gewähren lassen (am Ende gar sein Malen bewußt provoziert?), um eines Tages zur Rache für ihre verschmähte Liebe ihren Bruder Artus vor die kompromittierenden Bilder zu fuhren. Lancelot war es damals in den dargestellten Szenen einzig um die visuelle Vergegenwärtigung Ginovers im Rahmen der selbsterlebten Schlüsselszenen bei Hof gegangen; Morgane war in der Lage gewesen, die wahren Zusammenhänge anhand der Figurenkonstellationen zu identifizieren, und sie versuchte daraufhin, die privaten - dennoch beschrifteten - Memorialbilder den Regeln der kollektiven Memoria auszusetzen. Artus, der weiterhin geneigt bleibt, die Gerüchte um die ehebrecherische Liebe seiner Gemahlin als unglaubwürdig gelten zu lassen, hält sich ganz an die ausführlichen Bildlegenden; 18 er ist auf die sozusagen urkundliche Beweiskraft der Schrift angewiesen, die ihn zu rechtlichen Rückschlüssen aus dem Zeugniswert auch der Bilddokumente nötigt

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Auf Vorprägendes in der Judas-Legende mit ihrem Unheilstraum in der Zeugungsnacht des Verräters machte Speckenbach (Anm. 13), S. 328f., aufmerksam.

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Dementsprechend zeigt die Miniatur 'Artus in Betrachtung der Fresken Lancelots in Morganes Schloß' (siehe Abb. S. 190) je fünf geschlossene Textzeilen unter den einzelnen Szenen, nicht Tituli, Namenbeischriften oder Sprechbänder, wie sie für die Lancelot anregenden Aeneas-Fresken vorauszusetzen waren. Zu dieser und einer zweiten, ihr auch zeitlich nahestehenden späten Miniatur, in der die Beischriften unter den Wandbildern fehlen, näheres bei M. Alison Stones, „Images of temptation, seduction and discovery in the Prose Lancelot: A preliminary note". In: Wiener Jahrbuch fur Kunstgeschichte 46/47 (1993/94), S. 725-735, 885-888, hier S. 725-729 mit Abb. 2. Weitere Darstellungen dieser Szene konnte Μ. Alison Stones, die beste Kennerin der reichen Bildausstattung in den Lancelot-Codices, bisher ebensowenig namhaft machen wie eine Abbildung des malenden Lancelot in seinem Gefängnis (siehe ebd., S. 726f., 728, und brieflich am 19. August 1995).

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'Artus in Betrachtung der Fresken Lancelots in Morganes Schloß' (zu Anm. 18). (Paris, Bibl. Nat., fr. 112, III, fol. 193v, aus dem Jahr 1470)

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(III 465,7ff.). Aus der Sorge, seiner Königsherrschaft die rechtliche Grundlage zu entziehen, läßt Artus Lancelots Bildersaal vor den Augen der Öffentlichkeit weiterhin verschlossen halten; 19 das Enthüllungspotential der Bilder und Beischriften bleibt auch nach der Rückkehr an den Hof faktisch wirkungslos. 20 Für Lancelot stand die bildkünstlerische Darstellung seiner Liebesbindung an Ginover offenkundig so weit jenseits gesellschaftlicher Rücksichten, daß er, insbesondere durch die unverschlüsselten Beischriften, gegen seine frühere Gewohnheit die vor allem Ginover schützende Verborgenheit außer acht ließ. Daß er zu Darstellungsformen einer kollektiven Memorialpraxis seine Zuflucht nahm, wurde provisorisch außer Kraft gesetzt dadurch, daß er erst zu malen begann, nachdem er die Tür zu seinem Gefängnis-Innenraum auch von innen verschlossen hatte: und spart die thur zu, das nymands gesehe was er mechte (II 476,25f.). Die zusätzliche bildnerische Sublimierung sollte und konnte anscheinend den Rang der Liebe noch einmal derart steigern, daß sie dem Konflikt mit der gesellschaftlichen Ehre noch lange entzogen blieb. Der Versuch visueller Perpetuierung endet, nicht sogleich nach Lancelots Selbstbefreiung aus Morganes Gewahrsam, sondern erst nach langer Inkubationszeit, letztlich doch in der unfreiwilligen Preisgabe des Geheimnisses. Lancelots Wandgemälde, als individuelle Überlebenshilfe ins Werk gesetzt, wirken sich nach Morganes Indiskretion und der Inaugenscheinnahme durch Artus als neue verhängnisvolle Gefährdung aus, weniger für das Liebesschicksal als für den Bestand des Artusreiches. Was der individuellen memoria Verlebendigung und Dauer verschaffte, trägt zugleich zum Untergang der ihre Inhalte hervorbringenden Gesellschaft bei. Nicht erlaubt erscheint mir allerdings der Umkehrschluß, der Bilderzyklus, verstanden als „metakünstlerische utopisch positive Fassung der Liebe zwischen Lancelot und Guinevere", werde „auf der Ebene des Werkes selbst als Illusion entlarvt"; 21 der tragische Ausgang der arthurischen Geschichte desavouiert nicht die Zustände und Momente der durch Lancelot ins Werk gesetzten Wirklichkeitssteigerung. Wenig überzeugend erscheint es auch, als Sinnzentrum des Komplexes 'Flucht des Aeneas' den Untergang Trojas anzunehmen und ihn mit dem Unter-

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Mario Bastide, „La mort du Roi Artu, roman de Pobstination et du gächis". In: La mort du Roi Arthur ou le crepuscule de la chevalerie. Hg. von Jean Dufournet. Paris 1994, S. 217— 240, hier S. 224ff. Michele Remakel, Rittertum zwischen Minne und Gral. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen 'Prosa-Lancelot'. (Mikrokosmos 42) Frankfurt/M. 1995, S. 47f.; Cornelia Reil, Liebe und Herrschafi. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot. (Hermaea N.F. 78) Tübingen 1996, S. 74f., in Auseinandersetzung mit Valeria Bertolucci, „Amor dipinto. Icone della rivelazione amorosa nel Lancelot en prose". In: Miscellanea di studi. (FS Aurelio Roncaglia) Hg. von Roberto Antonelli u.a. Modena 1989, S. 131-156. Karl Heinz Göller, „Die Bedeutung des Gefängnisses in Malorys Morte Darthur". In: Artusroman und Intertextualität. Beiträge der Deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft Frankfurt/M. 1989. Hg. von Friedrich Wolfzettel. (Beiträge zur deutschen Philologie 67) Gießen 1990, S. 35-56, hier S. 47.

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gang des Artusreiches zu korrelieren, um auf diesem Wege die Ehebruchs- und Eifersuchtshandlungen um Menelaos - Helena - Paris und Artus - Ginover Lancelot als ursächlich für die jeweiligen Katastrophen von Reich und Feudalkultur zu setzen.22 Der Aufbruch des Aeneas aus Troja wird im hohen Mittelalter, auch in der Bildkunst, in aller Regel unter positiven Vorzeichen des göttlichen Rettungs- und Neugründungsauftrags gewertet.23 Daher liegt es näher, das Bild der Zerstörung Trojas schon im grandios geschilderten Eingang der Lance/oi-Trilogie aufgenommen zu sehen, wenn der junge Protagonist auf der Flucht aus der niederbrennenden väterlichen Feste Trebe durch die Frau vom See gerettet und für seinen Weg durch die Artuswelt vorbereitet wird. Demgegenüber bleibt eine Interpretation, Lancelot könnte „als Gegenbild zum Reichsgründer Aeneas konzipiert" 24 sein, ohne Evidenz, weil sie der Ehe des Aeneas mit Lavinia in Latium Lancelots vermeintlich „zerstörerische Liebe" diametral und apodiktisch entgegengesetzt sieht. Eine solche einengende Schuldzuweisung wird jedoch weder der komplexen Ursachenverkettung für den Untergang des Artusreiches noch der bis zuletzt auflebenden Bewunderung und Sympathie für die Lancelot-Ginover-Liebe gerecht. Hat schon in den volkssprachigen Aeneasromanen des 12. Jahrhunderts die Minnethematik das Thema der Staatslegitimation zurückgedrängt, so sucht der Prosa-Lancelot jenseits verbürgter sinngebender Muster kraft seiner verabsolutierenden Macht der Liebe entschieden und wohl nicht nur für den Protagonisten nach fortschreitender Individuierung, 25 die sich ohne Heilsverlust nur im Verzicht auf eigene Herrschaft und letztlich außerhalb 22

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Gerhard Wild, „Von der 'Chambre aux images' zur 'Camera obscura': Medienimagination im Lancelot, bei Guillem de Torroella, in den libros de caballerias, bei Cervantes und Proust". In: De Orbis Hispani Unguis litteris historia moribus. (FS Dietrich Briesemeister) Hg. von Axel Schönberger und Klaus Zimmermann. 2 Bde. Frankfurt/M. 1994, Bd. 1, S. 683-715, hierS. 686ff. Nachweise bei Christine Ratkowitsch, Descriptio picturae. Die literarische Funktion der Beschreibung von Kunstwerken in der lateinischen Großdichtung des 12. Jahrhunderts. (Wiener Studien. Beiheft 15) Wien 1991, S. 51 und 66. - Die positiven Aeneas-Wertungen im Roman d' Eneas (V. 31-82) erscheinen mir eher relevant als die kritischen Äußerungen Benoits im Roman de Troie\ Raum für eine beabsichtigte Ambiguität im Prosa-Lancelot sieht Douglas Kelly, „Lancelot et Eneas: une analogie dans le Lancelot en prose". In: Lancelot - Lanzelet, hier et aujourd'hui. (FS Alexandre Micha) Hg. von Danielle Buschinger und Michel Zink. (Wodan 51) Greifswald 1995, S. 227-232, hier S. 230. Elisabeth Lienert, „Ritterschaft und Minne, Ursprungsmythos und Bildungszitat - TrojaAnspielungen in nicht-trojanischen Dichtungen des 12. bis 14. Jahrhunderts". In: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen. Hg. von Horst Brunner. (Wissensliteratur im Mittelalter 3) Wiesbaden 1990, S. 199— 243, hier S. 213, Überlegungen Hartmut Kuglers aufgreifend. Zu einer einseitig verschärften Destruktionsthese gelangt Wandhoff (Anm. 9), S. 91. Zur Problematik einer neuen positiven Individualität „an der Schwelle zu einer subjektiven Fiktionalität" im Prosa-Lancelot Walter Haug, „Das Endspiel der arthurischen Tradition im Prosalancelot". In: Ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen 1995, S. 288-300, hier S. 296ff.; siehe auch Anm. 2.

'Lancelot malt sein Gefängnis aus'

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der Gesellschaft in Ansätzen zu verwirklichen vermag. So ist es nur konsequent, daß sich Lancelot als Künstler gerade dadurch auszeichnet, daß er nicht mehr, wie der Aeneas-Maler in Morganes Schloß und noch langehin die bildenden Künstler im Mittelalter, vorgegebene, und das heißt zumeist: 26 durch autoritative Literatur vorgegebene, als 'historisch' geltende Figurenkonstellationen oder bestimmte Themenprogramme darstellt. Lancelots Bilderzyklus ist neu: eben 'autobiographisch' begründet und legitimiert. Die 'Flucht des Aeneas' ist für Lancelot Anstoß, „Aufruf zur Selbstbehauptung" 27 , also positiv konnotierte Inspirationsquelle; sie meint in der Verbindung von Kampf und Liebe Vorbildung, aber nicht Vorbildlichkeit, denn im Blick auf ihre Unwandelbarkeit, Unauflösbarkeit und Dauer, wenn auch instabile Dauer, ist die Ginover-Liebe der DidoLiebe überlegen. 28 Die Kategorie des Überbietens und der Überlegenheit im edlen Wettstreit gehört zur 'Suche nach dem besten Ritter' 29 und somit zu den Grundmustern des Prosa-Lancelot, wie sie schon in der Historia regum Britanniae Geoffreys von Monmouth vorgegeben war (König Artus in Konkurrenz zu Karl dem Großen) und wie sie auch anderen Artusromanen eigen ist: Hartmanns Erec wird für den Tag seines Turniersieges als Bester in Britannien selbst Gawan vorgezogen und vorgeordnet (Erec, V. 2756-2763); Heinrichs von dem Türlin Cröne problematisiert in einem Akt der Wolfram-Rezeption die Rangrivalität zwischen Gawan und Parzival. Lancelots „bebildertes Gefängnis" steht in intertextuellem Wettstreit mit Tristans „Bildersaal". Die anglonormannische Tristan-Version des Thomas von Bretagne wußte von einem höhlenartigen Memorialraum mit nahezu

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Frühe Ausnahmen für die Freskenausstattung dürften im Feld herrscherlicher Historien- und Gesta-Malerei zu suchen sein; Einzelfälle bei Walther Lammers, „Ein karolingisches Bildprogramm in der Aula regia von Ingelheim". In: Festschrift für Hermann Heimpel. Hg. von den Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Göttingen 1972, Bd. 3, S. 226289, bes. S. 229f.; Beispiele des 14. Jahrhunderts bei G. Troescher, Burgundische Malerei. Berlin 1966, S. 27f. Elizabeth Lawn, „Gefangenschaft". Aspekt und Symbol sozialer Bindung im Mittelalter dargestellt an chronikalischen und poetischen Quellen. (Europäische Hochschulschriften I 214) Frankfurt/M. - Bern - Las Vegas 1977, S. 239. Füetrers Rezeption der Wandgemälde Lancelots fehlt für subtilere intertextuelle Fragestellung die Aussagekraft, denn in seiner knappen Prosaversion und entsprechend auch in seinem strophischen Lannzilet ist der Hinweis auf die Lancelot stimulierende Darstellung der 'Flucht des Aeneas' ebenso fortgefallen wie Lancelots liebender Umgang mit den gemalten Ginover-Bildern; Ulrich Füetrer, Prosaroman von Lanzelot. Nach der Donaueschinger Handschrift hg. von Arthur Peter. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 175) Tübingen 1885 (Nachdruck Hildesheim - New York 1972), S. 207: Er sach ainen maier malen. Er pat, das er im werchzeüg und varben lieh. Unter funktionalem Aspekt wird lediglich Morganes Verratsplan angekündigt; vgl. Ulrich Füetrer, Lannzilet aus dem Buch der Abenteuer (Str. 1123-6009). Hg. von Rudolf Voß. Paderborn u.a. 1996, Str. 3673-3678. Näheres bei Uwe Ruberg, „Die Suche im Prosa-Lancelot". In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 92 (1965), S. 122-157, bes. S. 127-144.

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lebensecht ausgestatteten Skulpturen, in der Mitte ein Abbild der von Tristan getrennten Blonden Isolde, der er sich in seiner Sehnsucht bald klagend und zürnend, bald trostsuchend und liebevoll umarmend zuwandte. 30 Tristan hatte diese Abbilder von Kunsthandwerkern herstellen lassen, nicht, wie Lancelot, selbst hervorgebracht. Während Tristans Liebesbezeugungen einer mechanistischmagischen körperhaften Illusionierung zugewandt waren, sind Lancelots Umarmungen durch die in seiner Malerei evozierte Realpräsenz Ginovers möglich geworden. Der repräsentativ idealisierten Isolde-Figur im zeitenthobenen architektonischen Arrangement steht Lancelots Ginover im miterinnerten lebensgeschichtlichen „Kontext des Liebe-Aventiure-Bezugs" 31 gegenüber. Tristans eigenste Kunst, eine der frühen Voraussetzungen seiner höfischen Vollkommenheit und seiner Wirkungsmöglichkeiten, ist in den Texten der version courtoise die Musik, im Horn- und Harfenspiel und im Gesang, auch in selbstkomponierten Leichs der Liebe. Gut denkbar, daß, auch weil Tristan in der Musik exzellierte, Lancelot es in der Nachbarkunst Malerei als einziger Artusritter zu literarischem Ruhm gebracht hat. Lancelot und Tristan, zumal durch ihre spezifische Liebesproblematik in Verwandtschaft und Konkurrenz - das wäre ein anschließendes Thema, an dem, ausgehend von der gemeinsamen Motivik, auf dem hier betrachteten Feld zum Beispiel von der Fernwirkung der PygmalionTradition,32 die je eigenen unterscheidenden Motivationen besonderes Interesse verdienten.

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Ch. Gidney, „The Salle aux images: Thomas' contribution to the Tristan Legend". In: Les bonnes Feuilles 6 (1976), S. 48-58; Wenzel (Anm. 8), S. 308f.; ders., „Imaginatio und Memoria. Medien der Erinnerung im höfischen Mittelalter". In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt/M. 1991, S. 57-82, hier S. 67-70; Volker Mertens, „Bildersaal - Minnegrotte - Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im Tristanroman". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117 (1995), S. 40-64, hier S. 4 1 ^ 6 .

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Dazu Reil (Anm. 20), S. 72. Jean M. Dombush, Pygmalion's Figure: Reading old French Romance. Lexington/KY 1990, setzt die „image-making scenes" in den Tristan- und Lancelotromanen (zum bebildertem Gefängnis S. 99-139), primär unter erzählstrategischen Aspekten, mit der Rezeption des ovidischen Pygmalion, des Bildners und seiner Liebe zur von ihm geschaffenen Statue, im Roman de la Rose in Beziehung.

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Nach Abschluß dieses Manuskripts erschien, mit Einschluß medialitätstheoretischer Ansätze ebenfalls auf subjektive Erinnerung und kollektive memoria in ihrer spannungsvollen Bezogenheit ausgerichtet: Klaus Ridder, „Ästhetisierte Erinnerung - erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde". In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 27 (1997), Heft 105, S. 62-85.

Frank Büttner (München) Vergegenwärtigung und Affekte in der Bildauffassung des späten 13. Jahrhunderts

I

Von Italien ausgehend vollzog sich in der europäischen Malerei um 1300 ein tiefgreifender Wandel. Die Kunstgeschichtsschreibung hat sich seit ihren Anfängen immer wieder fasziniert mit diesem Umbruch befaßt, und sie hat ihn stets mit einem Namen verknüpft, dem Namen Giottos. Vasari, der 'Vater der Kunstgeschichte', erinnerte die Künstler daran, daß sie nicht nur der Natur, dem immerwährenden Vorbild ihrer Kunst, Dank schuldig sind, sondern gleichermaßen auch Giotto danken müßten, „weil, nachdem gute Malerei und Zeichnung durch die Verheerungen der Kriege lange Jahre ganz zu Grunde gegangen waren, durch die Gnade des Himmels er allein, obwohl noch unter ungeschickten Meistern geboren, die fast erstorbene Kunst wieder erweckte und so erhob, daß sie vorzüglich genannt werden konnte".1 In der Tat kann der Wandel kaum deutlicher gezeigt werden als durch einen Vergleich der Werke Giottos mit denen seiner Vorgänger. In S. Francesco in Assisi hatte Giotto im Zyklus der Franzlegende2 eine Reihe von Szenen dargestellt, die in der kaum mehr als sechs Jahrzehnte alten ikonographischen Tradition des Heiligen bereits etabliert waren. Eine davon ist die Vogelpredigt des hl. Franziskus (Abb. 1). Auf dem anonymen Altarretabel der Bardi-Kapelle in S. Croce in Florenz, das vor 1266 entstanden ist (Abb. 2),3 steht der Heilige mit

Giorgio Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Übersetzt von Ludwig Schorn und Ernst Förster. 8 Bde. (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart - Tübingen 1832-1849) Neu hg. und eingeleitet von Julian Kliemann. Worms 1983, hier Bd. 1, S. 133; vgl. Giorgio Vasari, Le Vite depiü eccellentipittori, scultori edarchitettori. Hg. von Gaetano Milanesi. 9 Bde. Florenz 1878-1885, hier Bd. 1, S. 369. Es sei hier erlaubt, diesen Zyklus als Werk Giottos in Anspruch zu nehmen, ohne erneut die komplexe und kontroverse Diskussion um die Autorschaft aufzurollen. Vgl. 800 Jahre Franz von Assisi. Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters. Katalog der Ausstellung Krems 1982, S. 533-536. Das Retabel wird dort in die Zeit zwischen 1254 und 1266 datiert. Rona Goffan, Spirituality in Conflict. Saint Francis and Giotto's Bardi Chapel. University Park/PA - London 1988, S. 29, datiert die Tafel 1245/50. Da die Ikonographie eindeutig auf die Franciscus-Vita des Celano zurückgeht, darf als terminus ante das vom Orden 1266 ausgesprochene Verbot dieses Textes gelten.

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Abb. 1: Giotto: Die Vogelpredigt des hl. Franziskus (Assisi, S. Francesco); Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Abb. 2: Vita-Retabel des hl. Franziskus (anonym, vor 1266), Nr. 7: Die Vogelpredigt des hl. Franziskus (Florenz, S. Croce, Capeila Bardi); Institut für Kunstgeschichte der LudwigMaximilians-Universität München.

seinen Begleitern am linken Bildrand, rechts erhebt sich ein ornamental gestalteter Baum, auf dem einige Vögel sitzen. Die Fläche zwischen Baum und Franziskus wird ausgefüllt durch schematisch aufgereihte Vögel, die auf vierfach wiederholtem Bodenstreifen sitzen. In Assisi gibt es ein derartiges Übereinander in der Fläche nicht. Hier haben sich die Vögel auf dem Bodenstreifen versammelt, der zwar eine begrenzte, aber doch durch die Plastizität der beiden Figuren und die Anordnung der Vögel eine nachvollziehbare Raumtiefe hat. Weitere Vögel, von denen man nur noch die Schemen erkennt, kommen herabgeflogen, und der Heilige beugt sich zu seinen ungewöhnlichen Zuhörern hinab. Der Bildraum wird in beiden Werken auf ganz unterschiedliche Weise aufgefaßt. Der Meister des Bardi-Retabels erwartet von dem Betrachter, daß er sich auf das bildspezifische Ordnungsschema - die Anordnung der Vögel in der Fläche einstellt und in eine Wirklichkeitsvorstellung übersetzt. Beim Werk Giottos ent-

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fällt dieser Akt des Transponierens: Während er sich vor dem Florentiner Bild sagen muß, daß das Übereinander eigentlich ein Hintereinander bedeutet, so entspricht in Assisi unten und oben, vorne und hinten im Bild der Lage und den Richtungen, die die Darstellungsgegenstände auch in der Wirklichkeitsvorstellung haben. Der Betrachter muß keinen Unterschied machen zwischen seiner Orientierung im Bild und seiner Orientierung in der Wirklichkeit. Die Bildordnung ist auf seine Wirklichkeitsorientierung ausgerichtet. 4 Damit ist die Voraussetzung geschaffen, daß der Bildraum und der Realraum, in dem sich der Betrachter befindet, miteinander verbunden werden und schließlich ineinander übergehen können. Der Betrachter kann den Bildraum als Fortsetzung des wirklichen Raumes denken, und er kann sich den Bildraum über den Bildrahmen hinaus fortgesetzt vorstellen: Das Bild wird zum Wirklichkeitsausschnitt. Diese Verbindung von Betrachterwirklichkeit und Bild wird durch eine Reihe weiterer Gestaltungselemente gestärkt, beispielsweise durch das sogenannte Standortlicht, bei dem die Lichtfiihrung im Bild mit der realen Lichtsituation des Raumes, in dem sich das Bild befindet, übereinstimmt. Auch hier war es Giotto, der nach ersten Anfängen in Assisi das Standortlicht in seinen Fresken in der Arena-Kapelle in Padua perfektionierte. Ein weiteres wesentliches Element in der neuen Bildauffassung ist die Verdichtung der Bilderzählung zur Darstellung eines Handlungsmomentes. Zu der räumlichen Dimension kommt die zeitliche: Das Bild kann vom Betrachter als hier und jetzt sich ereignend erfahren werden. Statt der Lektüre von visuellen Zeichen, die in der Imagination des Betrachters in eine deutliche Vorstellung von dem gemeinten Geschehen übersetzt werden müssen, bietet das neue Bild dem Betrachter das Geschehen in sinnlicher Präsenz, fingiert die Gegenwart eines längst vergangenen Geschehens. Auch wenn sie uns in den Werken Giottos erstmals in vollkommener Entfaltung entgegentritt, war diese neue Bildauffassung kein einsamer Geniestreich, sondern Resultat einer komplexen Entwicklung, in der ein ganzes Bündel von Faktoren wirksam wurde. Unter den kunstgeschichtlichen Faktoren wäre an die neue Welle eines byzantinischen Einflusses zu erinnern, die Italien nach 1200 erreichte: In der Ostkirche gab es bereits seit dem 11. Jahrhundert in der Ikonenmalerei Neubildungen, in denen die Figuren „rhetorische Sprecherrollen" überDaß Giotto zugleich der kompositioneilen Flächenordnung neues Gewicht gibt, die Spannungsverhältnisse, die sich aus der Lage der Bildgegenstände zueinander und im Rahmengeviert ergeben, in einer zuvor kaum geahnten Weise auszunutzen versteht, ist in der kunstgeschichtlichen Forschung von Hetzer über Frey bis zu Imdahl immer wieder betont worden (Theodor Hetzer, Giotto. Seine Stellung in der europäischen Kunst. Frankfurt/M. 1940; Dagobert Frey, „Giotto und die maniera graeca. Bildgesetzlichkeit und psychologische Deutung". In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 14 [1952], S. 73-98; Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie - Ikonologie - Ikonik. München 1988). Festzuhalten ist aber, daß die Flächenordnung bei Giotto nie der Wirklichkeitsorientierung des Betrachters widerspricht, ihr also untergeordnet ist.

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nahmen, eine „beseelte Malerei", so die Bezeichnung der Zeitgenossen, die die Beziehung zwischen Betrachter und Bild intensivierte.5 Ein besonders wichtiges und von der kunstgeschichtlichen Literatur noch kaum aufgegriffenes Kapitel wäre der Einfluß der mittelalterlichen Optik, die ihre Blütezeit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erlebte.6 Zu berücksichtigen wäre auch der Wandel in der Auffassung der Predigt und der religiösen Meditation, der einherging mit dem Erfolg und der Ausbreitung der neuen Bettelorden. All dies kann und soll hier nicht geleistet werden. Die vorliegende Studie soll sich auf ein Teilproblem konzentrieren, das zumindest von Seiten der Kunstgeschichte bislang nicht in den Blick genommen wurde, nämlich die Bedeutung der scholastischen Psychologie, speziell die Lehre von der Wahrnehmung und den Affekten, für den Wandel der Bildauffassung.

II In seinem Rationale divinorum officiorum, das bis in das 17. Jahrhundert hinein immer wieder aufgelegt wurde, widmete Wilhelm (d.Ä.) Durandus von Mende (1230/31-1296) der Bilderfrage ein eigenes Kapitel. Dort heißt es: Picture et ornamenta in ecclesia sunt laicorum lectio et scripture, unde Gregohus: 'Aliud est picturam adorare, aliud per picture ystoriam quid sit adorandum addiscere, nam quod legentibus scriptura hoc ydiotis cernentibus prestat pictura, quia in ipsa ignorantes uident quid sequi debeant, in ipsa legunt qui litteras nesciunt'. [...] Sed nos illas non adoramus, nec deos appellamus, nec spem salutis in eis ponimus quia hoc esset ydolatrare, sed ad memoriam et recordationem rerum olim gestarum eas ueneramur

Vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990, S. 292ff.; zur Rezeption der byzantinischen Ikone in Italien im 13. Jahrhundert: ders., Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion. Berlin 1981, S. 199ff. Zu diesen Zusammenhang vgl. Klaus Bergdolt, „Bacon und Giotto. Zum Einfluß der franziskanischen Naturphilosophie auf die Bildende Kunst am Ende des 13. Jahrhunderts". In: Medizinhistorisches Journal 24 (1989), S. 25-41. Der Verfasser des vorliegenden Textes bereitet eine Studie zu diesen Fragen vor. Guillelmus Durantis, Rationale diuinorum officiorum I-IV. Hg. von Anselme Davril und Timothy M. Thibodeau. (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 140) Turnhout 1995, S. 34f. (Lib. I, cap. 3: De picturis et cortinis et ornamentis ecclesie): 'Die Bilder und Ornamente in den Kirchen sind Lektüre und Schriften der Laien. Weswegen Gregor d.Gr. sagt: Eines ist es, die Bilder anzubeten, ein anderes, durch die Geschichten der Bilder zu lernen, was anzubeten ist. Denn was den Lesekundigen die Schrift, das bietet der Wahrnehmung der Unkundigen die Malerei, weil in ihr jene lesen, die die Schrift nicht verstehen. [...] Wir beten jene [Bilder] nicht an, nennen sie nicht Götter noch setzen wir unsere Hoffnung auf Heil in sie, denn das wäre Götzendienst, sondern ehren sie zur Erinnerung und Vergegenwärtigung der vergangenen Taten.'

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200 und wenig später:

Pictura namqueplus uidetur mouere anitnum quam scriptura. Per picturam quidem res gesta ante oculos ponitur quasi in presenti gerfi uideatur, sed per scripturam res gesta quasi per auditum, qui minus animum mouet, ad memoriam reuocatur. Hinc etiam est quod in ecclesia non tantam reuerentiam exhibemus libris quantam ymaginibus et picturis.9

Ähnliche Definitionen der Funktion des Bildes finden wir auch in früheren Schriften über den Gottesdienst, auf die sich Durandus stützte, etwa im Mitrale des Sicard von Cremona.10 Am prägnantesten wird sie in der Gemma animae des Honorius Augustodunensis formuliert: Ob tres autem causas fit pictura: primo, quia est laicorum litteratura; secundo, ut domus tali decore ornetur; tertio, ut priorum vita in memoriam revoceturNeben dem hier nicht weiter zu verfolgenden Argument, daß Malerei dem Schmuck der Kirchen diene, werden zwei Gründe für die Bilder angeführt, die in der Diskussion über die Bilder ein fester Topos waren, daß die Bilder lectio laicorum sind und helfen, das Vergangene ins Gedächtnis zurückzurufen. Als Autorität für beide Argumente wurde üblicherweise Gregor d.Gr. zitiert.12 Das dritte Argument des Durandus jedoch, daß das Bild die Seele stärker zu bewegen vermag als die Schrift, fehlt bei Honorius wie bei Sicard. Wenn man zunächst einmal nicht nach den Ursprüngen dieses Argumentes fragt, sondern nach den nächstliegenden Quellen, aus denen Durandus geschöpft haben könnte, so wird man auf die Sentenzenkommentare des Bonaventura und des Thomas

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Die zitierte Ausgabe hat an dieser Stelle generi videatur. In verschiedenen älteren gedruckten Ausgaben (z.B. Lyon 1506 und allen späteren dort erschienenen Ausgaben, ebenso Venedig 1519 und später) fehlt der Passus quasi [...] uideatur. Wo dieser Passus jedoch erscheint, beispielsweise in den Ausgaben Nürnberg 1494, Straßburg 1501, Hagenau 1509, heißt es stets: quasi in presenti geri uideatur. Guilelmus Durantis (Anm. 7), S. 36: 'Die Malerei scheint die Seele mehr zu bewegen als die Schrift, durch die Malerei nämlich werden die Taten vor die Augen gestellt und scheinen gleichsam gegenwärtig zu geschehen. Durch die Schrift werden die Taten gleichsam durch das Gehör, das die Seele weniger bewegt, in Erinnerung gerufen. Deswegen auch erweisen wir in der Kirche den Büchern nicht solche Verehrung wie Bildern und Malereien.' Sicardus Cremonensis, Mitrale seu de officiis ecclesiasticis summa. In: Patrologia Latina. Bd. 213. Paris 1855, Sp. 13^136, hier Sp. 40. Die Zuschreibung des Werkes an Sicard kann, soweit ich sehe, nicht als völlig sicher gelten. Honorius Augustodunensis, Gemma animae sive de divinis officiis et antique ritu missarum. In: Patrologia Latina. Bd. 172. Paris 1895, Sp. 541-738, hier Sp. 586: 'Aus drei Gründen wird Malerei gemacht: erstens, weil sie die Lektüre der Laien ist; zweitens, damit das Haus mit solcher Zierde geschmückt werde; drittens, damit das Leben der Vorfahren in Erinnerung gerufen werde.' Die beiden loci classici sind der Brief an den Bischof Serenus von Marseille (Gregorius Magnus, Epistolarum libri XIV. In: Patrologia Latina. Bd. 77. Paris 1896, Sp. 431-1368, hier Sp. 1128 [XI, 13]), aus dem auch Durandus in dem angeführten Text zitiert, und der Brief an Secundums (ebd., Sp. 991 [IX,52]).

Vergegenwärtigung und Affekte

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von Aquin verwiesen. Die von Petrus Lombardus aufgeworfene Frage, ob die humanitas Christi Anbetung fordere, wird von den ersten Kommentatoren genutzt, die Grenzen zwischen wahrer und falscher Anbetung abzustecken. In diesem Zusammenhang lenkten schon Alexander von Haies13 und Albertus Magnus14 auf das Problem der Bilderverehrung. Ihre Antworten fielen ganz im Sinne der durch das zweite Konzil von Nicaea (787) festgelegten Linie aus: Nicht dem Bild, sondern dem Prototypus gilt die Anbetung.15 Bonaventura ging in seinem Sentenzenkommentar, den er während seiner Lehrtätigkeit in Paris zwischen 1248 und 1253 verfaßte, einen entscheidenden Schritt weiter, indem er nach der Funktion der Bilder für den Menschen fragte. Von dem von Honorius Augustodunensis und anderen formulierten Katalog der Bildfunktionen ausgehend zeigt er, daß es gerade die Schwäche des Menschen ist, die die Verwendung von Bildern notwendig macht: [...] imaginum introductio in Ecclesia non fuit absque rationabili causa. Introductae enim fuerunt propter triplicem causam, videlicet propter simplicium ruditatem, propter affectum tarditatem et propter memoriae labilitatem.16 Thomas von Aquin, der seinen Sentenzenkommentar ebenfalls in Paris und nur wenig später, nämlich zwischen 1253 und 1257, verfaßte, folgte Bonaventura, wenn auch mit kleinen Abänderungen: 13

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Alexander von Hales, Glossa in quatuor libros sententiarum Petri Lombardi. 4 Bde. (Bibliotheca Franciscana Scholastica medii aevi 12-15) Quaracchi 1951-1957, hier Bd. 3 (1954), S. 109 (lib. III, dist. IX, art. 10). Albertus Magnus, Commentarii in III Sententiarum. In: Ders., Opera Omnia. Hg. von St6phane Cesar Auguste Borgnet. 38 Bde. Paris 1890-1896, Bd. 28. Paris 1894, S. 174 (lib. III, dist. IX, art. 4): Dicendum, quod Dens non debet adorari nisi in imagine statuta in memoriam suae figurae, quam pro nobis assumpsit, hoc est in figura crucis et passionis, et aliorum sacramentorum quae pro nobis suscepit, sicut nativitatis, baptismatis, et resurrectionis, et hujusmodi. Hujusmodi enim adoratio in mortua imagine adprototypum refertur, ut dicit Damascenus. Albertus Magnus bezieht sich hier auf Johannes Damascenus, Pro sacris Imaginibus Orationes tres. In: Patrologia Graeca. Bd. 94. Paris 1864, Sp. 1227-1420, hier Sp. 1362, ein Zitat nach Basilius d.Gr., De Spiritu Sancto. In: Patrologia Graeca. Bd. 32. Paris 1886, Sp. 67-218, hier Sp. 149 (18,45). Vgl. Hieronymus Menges, Die Bilderlehre des hl. Johannes von Damaskus, Münster 1938. Eine konzentrierte Zusammenfassung der byzantinischen Bilderlehre bietet Klaus Wessel, „Bild". In: Reallexikon zur byzantischen Kunst 1 (1966), Sp. 616-662; zu Johannes Damascenus Sp. 647ff. Heinrich Denzinger, Enchiridon symbolorum definitionum et declarationum de rebus fldei et morum. 37. Auflage. Hg. von Peter Hünermann. Freiburg/Br. u.a. 1991, S. 276f. (Nr. 600603). Der auf Basilius d.Gr. zurückgehende Satz (vgl. die vorhergehende Anmerkung) wurde damit zum Dogma erhoben. Bonaventura, Commentaria in quatuor libros Sententiarum Magistri Petri Lombardi. 4 Bde. In: Ders., Opera omnia. 10 Bde. Quaracchi 1882-1902, Bd. l ^ t , hier Bd. 3, S. 203 (lib. III, dist. IX, art. I, quaest. II): 'Die Einfuhrung von Bildern in die Kirche geschah nicht ohne vernünftigen Grund. Sie wurden nämlich aus dreifachem Grund eingeführt, nämlich wegen der Ungebildetheit der einfachen Menschen, wegen der Langsamkeit der Affekte und wegen der Schwäche des Erinnerungsvermögens.'

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Fuit autem triplex ratio institutionis imaginum in Ecclesia. Primo ad instructionem rudium, qui eis quasi quibusdam libris edocentur. Secundo ut incarnationis mysterium et sanctorum exempla magis in memoria essent, dum quotidie oculis repraesentantur. Tertio ad excitandum devotionis affectum qui ex visis efficacius incitatur quam ex auditis.17

Das seit Gregor d.Gr. wohlbekannte Argument der Belehrung durch die Bilder steht am Anfang, lediglich insofern modifiziert, als hier nicht die Laien insgesamt, sondern nur die Ungebildeten als Adressaten der Bilder genannt werden. Das in der vom Aquinaten gewählten Reihenfolge zweite Motiv, das der Erinnerung, scheint ebenfalls seit Gregor d.Gr. vertraut zu sein, doch das magis bei Thomas sollte aufhorchen lassen: Es geht hier nicht nur um Erinnerung überhaupt, sondern um ihre Intensität, um einen Aspekt also, der in der älteren Tradition der Bilddiskussion so nicht in Erscheinung trat. Bonaventura verdeutlichte ihn: [Die Bilder wurden eingeführt] propter memoriae labilitatem, quia ea quae audiuntur solum, facilius traduntur oblivioni quam ea quae videntur. Frequenter enim veriflcatur in multis illud quod consuevit dici: verbum intrat per unam aurem et exit per aliam. Praeterea, non semper est praesto qui beneficia nobis praestita ad memoriam reducat per verba.1'

Bilder haften besser im Gedächtnis als Worte: Das war die Grunderfahrung, auf der die antike ars memoriae basierte.19 Den Kirchenvätern war dieses Wissen

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Thomas von Aquin, Commentum in tertium librum Sententiarum Magistri Petri Lombardi. In: Ders., Opera Omnia. Hg. von Stanislas Edouard Frette. Bd. 9. Paris 1889, S. 155 (lib. III, dist. IX, quaest. I, art. II): 'Es gab einen dreifachen Grund für die Aufstellung von Bildern in der Kirche. Erstens zur Unterrichtung der Ungebildeten, die durch sie gleichsam wie durch Bücher belehrt werden. Zweitens, damit das Mysterium der Inkarnation und die Beispiele der Heiligen besser in Erinnerung seien, wenn sie täglich vor Augen geführt werden. Drittens zur Erregung des Affektes der Andacht, der durch Gesehenes wirksamer angeregt wird, als durch Gehörtes.' Bonaventura (Anm. 16), Bd. 3, S. 203 (lib. III, dist. IX, art. I, quaest. II): [Die Bilder wurden eingeführt] 'wegen der Schwäche des Gedächtnisses, weil das, was nur gehört wird, leichter dem Vergessen anheimfällt, als das, was gesehen wird. Oft und in vielem erweist sich als wahr, was man zu sagen pflegt, das Wort geht zu einem Ohr hinein und zum anderen hinaus. Außerdem steht nicht immer jemand zur Verfügung, der uns die erwiesenen Wohltaten durch Worte in Erinnerung zurückruft.' Vgl. die Simonides-Legende, mit der die 'Erfindung' der ars memoriae erklärt wurde: Cicero, De oratore II, 357; hier der entscheidende Satz: Vidit enim hoc prudenter sive Simonides sive alius quis invenit, ea maxime animis effingi nostris, quae essent α sensu tradita atque impresso; acerrimum autem ex omnibus nostris sensibus esse sensum videndi; qua re facillime animo teneri posse ea, quae perciperentur auribus aut cogitatione, si etiam commendatione oculorum animis traderentur (Marcus Tullius Cicero, De oratore. Über den Redner. Übers, und hg. von Harald Merklin. Stuttgart 1976, S. 434). Zur ars memoriae vgl. Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Berlin 1990.

203

Vergegenwärtigung und Affekte

noch wohlvertraut. 2 0 Im Mittelalter trat die Gedächtniskunst zunächst in d e n Hintergrund, wurde dann aber v o n den Scholastikern erneuert und zu e i n e m „Höhepunkt der Wirkungsgeschichte" geführt. 2 1 Entscheidend dafür war die R e z e p t i o n der aristotelischen P s y c h o l o g i e . 2 2 moria,

Me-

so führte T h o m a s in s e i n e m Aristoteles-Kommentar aus, bezieht sich i m -

mer auf früher W a h r g e n o m m e n e s oder Gedachtes. 2 3 D i e Wahrnehmungsbilder (species)

werden der Phantasie oder imaginatio

niscentia

als Phantasmata wieder hervorgerufen w e r d e n können. 2 4 D i e s e Phan-

tasmata, die T h o m a s als similitudines sogar mit der pictura

sensibilium

eingeprägt, die i m A k t der oder imago

remi-

charakterisiert und

vergleicht, spielen für das D e n k e n und Erkennen eine ent-

scheidende Rolle. W i e die Sinne durch die W a h r n e h m u n g s g e g e n s t ä n d e b e w e g t werden, so der Intellekt durch die Phantasmata. 2 5 O h n e Phantasmata ist der S e e l e ein D e n k e n und Erinnern nicht m ö g l i c h . 2 6 Natürlich kann auch Gedachtes erinnert werden, d o c h T h o m a s unterscheidet z w i s c h e n memorabilia sensibilia

zurückgehen, und memorabilia

per accidens,

per se, die auf

die sich auf

intelligibilia

beziehen, die aber auch nicht ohne Phantasmata erinnert werden können: Et inde est quod ea quae habent subtilem et spiritualem considerationem, minus possumus memorari. Magis autem sunt memorabilia quae sunt grossa et sensibilia. Et oportet, si aliquas intelligibiles rationes volumus memorari facilius, quod eas alligemus quasi quibusdam aliis phantasmatibus, ut docet Tullius in sua Rhetorical 20

21 22

23

24 25

26

27

Vgl. Hieronymus, In Hieremiam libri VI. (Corpus Christianorum. Series Latina 74) Tumhout 1960, S. 176 (IV,2): magis mente retinetur, quod oculis cernitur. Die anschaulichste Beschreibung des Gedächtnisses als Aufbewahrungsort sinnlicher Wahrnehmungen gibt Augustin in den Confessiones. (Corpus Christianorum. Series Latina 27) Turnhout 1981, S. 16Iff. (Buch 10). Yates (Anm. 19), S. 54ff. Ich beziehe mich im folgenden auf Robert E. Brennan, Thomistische Psychologie. Eine philosophische Analyse der menschlichen Natur. (Deutsche Thomas-Ausgabe. Ergänzungsbd. 1) Graz 1957, und Fritz Leist, Die sensus inferiores bei Thomas von Aquin. München 1940. Thomas von Aquin, In Aristotelis libros de sensu et sensato, de memoria et reminiscentia commentarium. Hg. von Angeli M. Pirotta. Turin 1928, S. 108 (lect. I, Nr. 307). Vgl. ebd., S. 116 (Nr. 328). Thomas von Aquin, In Aristotelis librum de anima commentarium. Hg. von Angeli M. Pirotta. Turin 1925, S. 183 (Nr. 770); Thomas von Aquin, De anima (Anm. 23), S. 116 (Nr. 328) und S. 119 (Nr. 343). Thomas von Aquin, De anima (Anm. 25), S. 183 (Nr. 772); Thomas von Aquin, De memoria (Anm. 23), S. 11 Iff. (lect. II, Nr. 31 Iff.). Thomas von Aquin, De memoria (Anm. 23), S. 114 (Nr. 326): 'Daher kommt es, daß wir die Dinge, die subtil und geistig erwogen werden müssen, schlechter erinnern können. Besser zu erinnern sind Dinge, die stark und sinnlich wahrnehmbar sind. Deshalb ist es notwendig, wenn wir gedankliche Erwägungen besser erinnern wollen, sie mit irgenwelchen anderen Phantasmata zu verknüpfen, wie Tullius [Cicero] in seiner Rhetorik lehrt.' Der Hinweis auf Cicero bezieht sich auf die Rhetorica ad Herennium, 111,24, den Abschnitt über die Mnemotechnik. Thomas von Aquin hat diese Auffassung in der Summa theologica wiederholt (II-II q. 49 a. 1 ad 2): intentiones simplices et spirituales facilius ex anima elabuntur nisi quibus-

204

Frank

Büttner

Aus der im Anschluß an Aristoteles entwickelten Psychologie ergaben sich Argumente für eine Rechtfertigung der Bilder, durch die die bisherigen Vorstellungen vertieft und erweitert wurden. Bilder waren unverzichtbar, weil sich der Gläubige ohne sie kaum ein sicheres Vorstellungsbild von Christus, den Heiligen und den Glaubenswahrheiten überhaupt schaffen konnte, und sie mußten vor allem für jene, deren Bildung und Intellekt nicht ausreichte, in sich Vorstellungsbilder für die intelligibilia des Glaubens zu erzeugen, ständig präsent gehalten werden. Bonaventura hat dieser Auffassung im Hinblick auf die unterste Stufe menschlichen Erkennens grundsätzlich zugestimmt. Dies belegt nicht nur die angeführte Passage aus dem Sentenzenkommentar, sondern beispielsweise auch das zweite Kapitel des Itinerarium mentis in Deum?% Das dritte von Thomas für die Bilder vorgebrachte Argument, das zwar bei Durandus, nicht jedoch bei Sicard und Honorius Augustodunensis begegnete, daß nämlich Bilder den Affekt der Andacht anzuregen vermögen, bezog seine Überzeugungskraft ebenfalls aus der neuen Psychologie. Ausführlicher noch als Thomas hatte Bonaventura dieses Argument in seinem Sentenzenkommentar herausgestellt: Propter affectus tarditatem similiter introductae sunt, videlicet ut homines, qui non excitantur ad devotionem in his quae pro nobis Christus gessit, dum ilia aure percipiunt, saltern excitentur, dum eadem in ßguris et picturis tamquam praesentia oculis corporeis cernunt. Plus enim excitatur affectus noster per ea quae videt quam per ea quae audit. Unde Horatius: Segnius irritant animos demissaper aurem, Quam quae sunt oculis subiectaßdelibus et quae Ipse sibi tradit spectator,2'

dam similitudinibus corporalibus quasi alligentur: quia humana cognitio potentior est circa sensibilia. (Thomas von Aquin, Summa theologica. Hg. von Petrus Caramello. 3 Bde. Turin 28

29

- Rom 1952-1956, hier Bd. 3, S. 248) Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum. De reductione artium ad theologiam. Hg. und übers, von Julian Kaup. München 1961, S. 77ff. Im weiteren allerdings unterscheidet sich Bonaventura von der aristotelischen Psychologie dadurch, daß er für die Erkenntnistätigkeit der Seele als höchste Stufe über der Wahrnehmung des sinnlich Gegenwärtigen und der Erinnerung des Vergangenen die göttliche Illumination voraussetzt (vgl. ebd., S. 96f.). Bonaventura, Commentaria (Anm. 16), Bd. 3, S. 203 (lib. III, dist. IX, art. I, quaest. I): 'Sie sind gleichfalls wegen der Langsamkeit der Affekte eingeführt worden, damit nämlich Menschen, die nicht zur andächtigen Betrachtung dessen, was Christus für uns getan hat, angeregt werden, wenn sie es hören, wenigstens dazu angeregt werden, wenn sie es in Figuren und Bildern gleichsam gegenwärtig mit den körperlichen Augen wahrnehmen. Denn unser Affekt wird mehr durch das erregt, was wir sehen, als durch das, was wir hören. Weswegen Horaz schreibt: Schwächer rührt die Seelen, was hinabgeschickt wird durch das Ohr, als das, was durch die verläßlichen Augen vorgestellt wird und was der Betrachter sich selbst vermittelt.' - Das Horaz-Zitat entstammt der Epistula ad Pisones (Ars poetica), V. 180-182.

Vergegenwärtigung

205

und Affekte

Völlig neu war auch diese Ansicht von der affektiven Wirkung der Bilder nicht. Einmal mehr war es Gregor d.Gr., auf den sich die Verteidiger der Bilder berufen konnten. Dieser hatte an Secundinus Ikonen übersandt und dazu geschrieben: Scio quidem quod imaginem Salvatoris nostri non ideo petis, ut quasi Deum colas, sed ob recordationem fllii Dei in ejus amore recalescas, cujus te imaginem videre desideras.i0 In der Auseinandersetzung mit den Bilderstürmern wurde dann allerdings nachdrücklich betont, daß die Urbilder Ursache der Affekte sind.31 Der oben schon angesprochene, von Basilius d.Gr. geprägte Kernsatz der Bilderlehre: 'Die Verehrung des Bildes geht über auf das Urbild'32 wurde analog übertragen auf die Wirkung der Bilder auf den Betrachter: Die affektive Wirkung geht auf das Urbild zurück. Die Gleichsetzung von Bild und Schrift, wie sie in den Kanones des Konzils von Konstantinopel33 festgehalten wurde, und vor allem die in den Libri Carolinί'34 geforderte Begrenzung der Funktion der Bilder auf das didaktische Element ließen die affektive Wirkung der Bilder zumindest in der westlichen Überlieferung35 in den Hintergrund treten. Der Auffassungswandel, den die angeführten Stellen von Bonaventura und Thomas von Aquin belegen, ist wieder im Zusammenhang mit der AristotelesRezeption zu sehen. Die Sinneswahrnehmung prägt nach Thomas der Seele die species, die intentionale Form der Wahrnehmungsgegenstände, ein. Zugleich spricht sie das sinnliche Strebevermögen an. Je nach dem, ob dieser Gegenstand ein Gut oder ein Übel darstellt, ob er gegenwärtig oder abwesend, ob erreichbar oder unerreichbar, werden die „begehrfahigen" oder „kampffähigen" Strebevermögen und die ihnen zugeordneten Affekte (passiones) erregt.36 Die Affekte können nicht allein von sich aus den Menschen zur Tätigkeit bewegen, sondern

30

Gregorius Magnus, Epistolarum libri (Anm. 12), Sp. 991 (IX,52): 'Ich weiß, daß du das Bild unseres Erlösers nicht begehrst, um es wie einen Gott zu verehren, sondern um in der Erinnerung des Gottessohnes in Liebe zu dem zu entbrennen, dessen Bild du zu sehen begehrst.'

31

Beispielsweise im 2. Konzil von Nikaia (787): 'Je häufiger sie [sc. die Bilder Christi, Mariens und der Heiligen] nämlich durch [... !] eine bildliche Darstellung angeschaut werden, desto häufiger werden auch diejenigen, die diese betrachten, emporgerichtet zur Erinnerung an die Urbilder und zur Sehnsucht nach ihnen.' (Denzinger [Anm. 15], S. 276, Nr. 601) Basilius d.Gr., De Spiritu Sancto (Anm. 14), Sp. 149 (he tes eikonos time epi to protötypon diabamei); dieser Satz wurde auch in den Akten des Konzils von Nicaea zitiert (vgl. Denzinger [Anm. 15], S. 277, Nr. 601) und erhielt so kanonische Gültigkeit.

32

33 34

35

36

Vgl. Denzinger (Anm. 15), S. 301 f., Nr. 653-656. Gert Haendler, Epochen karolingischer Theologie. Eine Untersuchung schen Gutachten zum byzantinischen Bilderstreit. Berlin 1958, S. 113ff.

über die

karolingi-

Auf die Neuerungen einer 'beseelten Malerei' in der Ostkirche wurde oben, Anm. 5, hingewiesen. Eine schematische Übersicht über die Strebevermögen (appetitus concupiscibilis und appetitus irascibilis) und die ihnen zugeordneten positiven und negativen Affekte bei Brennan (Anm. 22), S. 134f.

Frank Büttner

206

sind dem Willen unterworfen.37 Andererseits haben die Affekte einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf den Willen.38 Damit erhält die sinnliche Wahrnehmung zusätzliches Gewicht, denn die passiones müssen bewegt werden, um ihrerseits zu bewegen. Zwar können Affekte auch durch die Phantasie und die Erinnerung geweckt werden, doch am intensivsten sind jene Affekte, die durch die Präsenz des Gegenstandes selbst verursacht werden. In dem Artikel, der die Frage behandelt, ob Hoffnung und Erinnerung Ursache der Ergötzung (delectatio) seien, stellt Thomas fest: maxima est delectatio quae fit per sensum, qui requirit praesentiam rei sensibilis. Secundum autem gradum tenet delectatio spei, in qua non solum est delectabilis coniunctio secundum apprehensionem, sed etiam secundum facultatem vel potestatem adipiscendi bonum quod delectat. Tertium autem gradum tenet delectatio memoriae, quae habet solam coniunctionem apprehensionis.39

Schon Augustin hatte in seinen Confessiones darauf hingewiesen, daß wir uns zwar unserer Seelenbewegungen erinnern können, die erinnerten Affekte jedoch den ursprünglichen nicht gleichen.40 In dem Artikel über die Andacht (devotio), die ein dem Willen zuzurechnender religiöser Akt ist, der von Affekten begleitet wird und, wie der Wille selbst, durch Affekte bewegt werden kann, schreibt Thomas, daß Gott die äußere Ursache der Andacht sei, meditatio und contemplatio aber ihre innere Ursache. Sed ex debilitate mentis humanae est quod sicut indiget manuduci ad cognitionem divinorum, ita ad dilectionem, per aliqua sensibilia nobis nota. [...] Et ideo ea quae pertinent ad Christi humanitatem, per modum cuiusdam manuductionis, maxime devotionem excitant.41 Dies können natürlich auch Erzählungen bewir37

Thomas von Aquin, Summa theologica (Anm. 27), Bd. 1, S. 397 (I q. 81 a. 3): Sed homo non statim movetur secundum appetitum irascibilis et concupiscibilis; sed expectatur imperium voluntatis, quod est appetitus superior.

38

Ebd., Bd. 2, S. 53 (I—II q. 9 a. 2), wo dargelegt wird, daß der Wille nicht despotisch, sondern in einem principatu regali seu politico herrscht: Unde et irascibilis et concupiscibilis possunt in contrarium movere ad voluntatem. Et sie nihil prohibet voluntatem aliquando ab eis moveri. Daß der Wille in gewisser Weise sogar auf die Affekte angewiesen ist, sagt Thomas ebd., S. 359 (I-II q. 77 a. 6): non enim potest voluntas intense moveri in aliquid, quin excitetur aliqua passio in appetitu sensitive.

39

Ebd., Bd. 2, S. 387 (I-II q. 32 a. 3): 'Am größten ist die Ergötzung, die durch den Sinn erfolgt, der die Gegenwart des Wahrnehmungsgegenstandes erfordert. Den zweiten Grad hält die Ergötzung der Hoffnung inne, in der nicht nur die Verbindung hinsichtlich der (inneren) Wahrnehmung ergötzlich ist, sondern auch hinsichtlich der Möglichkeit oder Fähigkeit, das Gut zu erlangen, das ergötzt. Den dritten Grad aber nimmt die Erinnerung ein, die nur die Verbindung der (inneren) Wahrnehmung hat.'

40

Augustinus, Confessiones (Anm. 20), S. 16Iff.

41

Thomas von Aquin, Summa theologica (Anm. 27), Bd. 3, S. 387 (II-II q. 82 a. 3): 'Es liegt an der Schwäche des menschlichen Geistes, daß er es nötig hat, wie zur Erkenntnis der Göttlichen Dinge, so zur Ergötzung durch irgenwelche bekannte sinnliche Gegenstände hinge-

Vergegenwärtigung

und Affekte

207

ken, doch wirksamer ist dies mit Bildern zu erreichen, denn sie bieten - wenigstens dem Scheine nach - Gegenwärtiges, das unmittelbarer auf die Affekte wirken kann als das nur Gehörte, das sich auf Vergangenes bezieht. Bonaventura brachte in der oben angeführten Stelle im Sentenzenkommentar genau dies zum Ausdruck und bekräftigte es mit dem Horaz-Zitat. Der Unterschied zur Auffassung der Kirchenväter liegt darin, daß die sinnfällige Präsenz des Dargestellten im Bild primäre Ursache seiner affektiven Wirkung ist. Thomas erkennt auch, daß schon das Bild selbst, insofern es ein die Wirklichkeit nachahmendes Kunstwerk ist, eine affektive Wirkung ausüben kann. In den Erörterungen über die delectatio stellt er fest, daß zwar die intellektuellen Ergötzungen die höchsten sind, die körperlichen, durch die Sinne erfahrenen Freuden jedoch heftiger, wobei, wenn es um die Erkenntnis geht, diejenigen der visuellen Wahrnehmung noch über denen der anderen Sinne stehen.42 Die Wahrnehmung des Schönen erfreut den Betrachter unmittelbar.43 Ursache der delectatio kann schließlich auch Bewunderung sein: Et propter hoc omnia mirabilia sunt delectabilia, sicut quae sunt rara: et omnes repraesentationes rerum etiam quae in se non sunt delectabiles; gaudet enim anima in collatione unius ad alterum, quia conferre unum alteri est proprius et connaturalis actus rationis, ut Philosophus dicit in sua 'Poetica \44

Diese Freude an der Nachahmung hat allerdings auch ihre problematischen Seiten: Sie steht, beispielsweise in der Freude an Schauspielen, der lasterhaften Neugierde nahe 45 und sie war eine Ursache der Idolatrie, denn die kunstvoll gefertigten Bildwerke beeindruckten mit ihrer perfekten Nachahmung die rohen

42

43

führt werden muß. [...] So erregt das, was zum Menschsein Christi gehört, durch die Art einer gewissen Hinführung am meisten zur Andacht.' Ebd, Bd. 2, S. 148f. (I-II q. 31 a. 5); S. 149 (I-II q. 31 a. 6): Si igitur loquamur de delectatione sensus quae est ratione cognitionis, manifestum est quod secundum visum est maior delectatio quam secundum aliquem alium sensum. Ebd., Bd. 1, S. 27 (I q. 5 a. 4 ad 1); dazu Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter. Übers, von Günter Memmert. München 1991 (Originalausgabe Mailand 1987), S. 122ff.

44

Thomas von Aquin, Summa theologica (Anm. 27), Bd. 2, S. 157 (I-II q. 32 a. 8): 'Und deswegen ist alles Wunderbare ergötzlich, genauso wie die seltenen Dinge; und auch alle Darstellungen von Dingen, auch wenn sie an sich nicht ergötzlich sind; es erfreut sich nämlich die Seele daran, eines mit dem anderen zu vergleichen, weil das Vergleichen eines mit dem anderen ein eigentümlicher und naturgemäßer Akt der Vernunft ist, wie der Philosoph in seiner Poetik sagt.' Thomas bezieht sich hier auf Aristoteles, De arte poetica liber, 1448b; er kannte dieses Werk allerdings wohl nur durch die lateinische Übersetzung der expositio des Averroes: Averrois expositio poeticae. In: Aristoteles Latinus, Bd. 33: De Arte Poetica. Hg. von Lorenzo Minio-Paluello. Brüssel - Paris 1968, S. 45. Auf dieses Argument kommt Thomas auch an anderer Stelle zurück, z.B. Summa theologica (Anm. 27), Bd. 1, S. 8 (I q. 1 a. 9): repraesentatio enim naturaliter homini delectabilis est.

45

Ebd., Bd. 3, S. 726 (II-II q. 167 a. 2).

208

Frank Büttner

und ungebildeten Menschen so, daß sie sie als Götter verehrten. 46 Derartige Überlegungen mögen wohl dazu beigetragen haben, daß Thomas den Konsequenzen, die sich aus der auf der Nachahmung gründenden affektiven Wirkung der Bilder ergaben, einen Riegel vorschob. Schon im Sentenzenkommentar wies er unter Berufung auf Aristoteles daraufhin, daß wir ein Bild zum einen um seiner selbst willen betrachten können, zum anderen aber um dessen willen, dessen Abbild es ist.47 Damit war er wieder bei der althergebrachten Verweisfunktion der Bilder: Sed imagines pictae non sunt imagines per similitudinem in natura, sed per institutionem ad signißcandum; unde et ex hoc non acquiritur eis nisi honor relatus ad alterum,48 Diese Bedenken wurden jedoch in der weiteren Rezeption der Argumente, mit denen Bonaventura und Thomas die Bilder gerechtfertigt hatten, zurückgestellt. Aegidius Romanus hat in seinem Sentenzenkommentar die Argumente des Aquinaten genau wiederholt, ebenso Johannes Baibus von Genua in seinem gegen Ende des 13. Jahrhunderts verfaßten Catholicon.49 Sie galten auch im späten 15. Jahrhundert, wie eine Predigt des Dominikaners Fra Michele da Carcano belegt, der sich nicht auf seinen Ordenslehrer, sondern auf Bonaventura stützt, der deutlicher als Thomas die scheinbare Präsenz des Dargestellten im Bild hervorgehoben hatte. 50 Dieser Gedanke war von Durandus sogar noch verstärkt worden mit dem eingangs dieses Abschnitts zitierten Satz, daß in der Malerei uns die Taten vor Augen gestellt werden und sie gleichsam gegenwärtig sich abspielend gesehen werden. Hier ist vollends deutlich, daß die Vorstellung von der Präsenz der Wirkungsmacht des Heiligen, die für Bild und Reliquie gleichermaßen galt,51 46

47

48

49

50 51

Ebd., Bd. 3, S. 450 (II-II q. 94 a. 4): Secundo propter hoc quod homo naturaliter de repraesentatione delectatur, ut Philosophus dicit, in 'Poetica' sua. Et ideo homines rüdes a principle videntes per diligentiam artificum imagines hominum expressive factas, divinitatis cultum eis impenderunt. Thomas von Aquin, Commentum (Anm. 17), S. 155 (solutio 2): imago potest dupliciter considerari, vel secundum quod est res quaedam, et sic nullus honor ei debetur, sicut nec alii lapidi vel ligno, vel secundum quod est imago. Et quia idem motus est in imaginem inquantum est imago, et in imaginatum; ideo unus honor debetur imagini et ei cujus est imago; et ideo cum Christus adoretur latria, similiter et ejus imago [...]. Ebd., S. 156 (lib. III, dist. IX, quaestio 1 a. 2, solutio 5): 'Aber die geraalten Bilder sind nicht Bilder wegen der Ähnlichkeit in der Natur sondern wegen der Einrichtung, etwas zu bedeuten; weswegen von ihnen Ehre nur erworben wird bezogen auf ein anderes.' Aegidius Romanus, In tertium librum Sententiarum commentaria. Rom 1623, S. 377 (zu dist. IX, q. 2 a. 2); Johannes Baibus von Genua wird zitiert bei Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Übers, von HansGünter Holl. Frankfurt/M. 1977 (Originalausgabe Oxford 1972), S. 55. Der Text zitiert bei Baxandall (Anm. 49), S. 56. Wessel (Anm. 14), Sp. 849, schreibt im Zusammenhang mit dem Bildbegriff des Johannes Damascenus: „Somit ist der Abgebildete im Bild selbst zugegen, aber nicht substantiell, sondern geistig und nach seiner Wirkungsfähigkeit". Vgl. auch Menges (Anm. 14), S. 39. Zum Begriff der praesentia in der Reliquienverehrung vgl. Renate Kroos, „Vom Umgang mit Reliquien". In: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik. Katalog der Ausstel-

Vergegenwärtigung

und Affekte

209

von der Vorstellung einer fiktiven Gegenwart historischen Geschehens im Bild abgelöst wird. Der Wunsch nach dieser fiktiven Gegenwärtigkeit regte sich auch in der gleichzeitigen Andachtsliteratur. Der Impuls zu dem ganz bemerkenswerten Aufschwung, den diese Literaturgattung seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nahm, scheint von den Franziskanern ausgegangen zu sein.52 Das bekannteste Beispiel dafür sind die unter dem Namen Bonaventuras tradierten Meditationes vitae Christi.53 Noch vor diesen scheint ein Libellus mit Passionsbetrachtungen entstanden zu sein, der in seiner Vorrede das Prinzip dieser Andachtsübungen artikuliert: Necessarium etiam esse, ut aliquando ista cogites in contemplatione tua, ac sipraesens tum temporis fuisses, quandopassus fait.54 Der heilige Franziskus selbst war es, der die überwältigende Wirkung der fiktiven Gegenwärtigkeit des biblischen Geschehens vor Augen geführt hat, als er zur Weihnachtsmesse in Greccio eine Krippe aufstellen, Ochs und Esel herbeifuhren ließ und eine Puppe in die Krippe legte, die den Anwesenden, als Franziskus sie auf den Arm nahm, lebendig zu werden schien.55

III Bonaventura und Thomas von Aquin waren, als sie ihre Vorstellungen vom Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Affekten darlegten, den Möglichkeiten der Kunst ihrer Zeit vorausgeeilt. Ihre theoretischen Überlegungen, die den klerikalen Auftraggebern, zumindest den Ordensmitgliedern unter ihnen, bekannt gewesen sein dürften und von ihnen weitervermittelt werden konnten, mußten von den Malern als Aufforderung verstanden werden, sich mit größter Intensität dem Problem der Naturnachahmung zu widmen, um in ihrer Kunst die lung Köln 1985. Hg. von Anton Legner. 3 Bde. Köln 1985, Bd. 3, S. 25-49, hier S. 38. Das Problem der praesentia in Schrift und Bild behandelt Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 305ff.; allerdings müßte dort stärker im Sinne des hier angesprochenen Vorstellungswandels differenziert werden. 52

David Freedberg, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response. Chicago - London 1989, S. 168ff.; James H. Marrow, Passion Iconography in Northern European Art of the Late Middle Ages and Early Renaissance: A Study of the Transformation of Sacred Metaphor into Descripte Narrative. (Ars Neerlandica 1) Kortrijk 1979.

53

Meditationes vitae Christi. In: Bonaventura, Opera Omnia. Hg. von Adolphe Charles Peltier. 15 Bde. Paris 1864-1871, Bd. 12, S. 510-630. De meditatione passionis Christi per septem diei horas Libellus. In: Patrologia Latina. Bd. 94. Paris 1862, Sp. 561-568. In der Patrologia ist es unter den Dubia des Beda Venerabiiis aufgenommen worden; zur Datierung ins 13. Jahrhundert vgl. Freedberg (Anm. 52), S. 171.

54

55

Bonaventura, Legenda Sancti Francisci. In: Ders., Opera omnia (Anm. 16), Bd. 8. Paris 1898, S. 504-579, hier S. 535 (cap. X). Die Legende wird schon in der ersten Viten-Fassung des Celano überliefert.

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erwünschte Fiktion sinnlicher Gegenwärtigkeit zu realisieren. So haben diese Überlegungen einen wesentlichen Impuls für den Umbruch in der Malerei gegeben, der sich um 1300 in Italien vollzog. Ein weiterer Faktor in diesem Wandel, dem, soweit ich sehe, von der Kunstgeschichte bislang keine Beachtung geschenkt wurde (vielleicht weil er dem eigentlich künstlerischen Wandel vorausliegt), ist der fundamentale Paradigmenwechsel in der Auffassung vom Akt des Sehens, der sich damals vollzog.56 Bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts galt im Westen die Lehre, die letztlich auf Plato zurückging und von Augustin und allen Autoritäten geteilt wurde, nach der das Auge sieht, indem es einen Sehstrahl, eine Art 'Augenfeuer' oder 'Augenlicht' aussendet, das mit dem Tageslicht verschmilzt und so verstärkt die Gegenstände erfaßt und die Informationen über sie dem Auge und der Seele zurückbringt.57 Gegen diese 'Sendetheorie' setzte sich mit der Rezeption des Aristoteles und der arabischen Optik, vor allem dem Werk Alhazens, das in seiner lateinischen Fassung De aspectibus oder Perspectiva hieß, um die Mitte des 13. Jahrhunderts die 'Empfangstheorie' durch.58 Zunächst verschaffte Albertus Magnus der Auffassung des Aristoteles neue Geltung, nach der das Sehen dadurch erfolgt, daß vom Gegenstand ausgehend eine Veränderung des Mediums bewirkt wird, die sich in das Auge fortsetzt.59 Roger Bacon war es dann vor allem, der die Auffassung des Alhazen bekannt machte und sie mit der Theorie des Aristoteles zu verbinden suchte.60 Kernpunkt ist die Lehre von der Ausbreitung der species, die sich als eine vom Gegenstand ausgehende nicht-materielle Kraft durch das Medium bewegen, um vom Auge empfangen zu werden.61 Auch die Sehtheorie des Aristoteles konnte darin wiedergefunden werden.62 Es ist hier nicht möglich und nicht notwendig, die 'neue' Sehtheorie, die vor allem von Mitgliedern des Franziskanerordens weiterentwickelt wurde, im Detail und in den verschiedenen in der Folgezeit erarbeiteten Varianten zu erläutern. Es soll nur herausgestellt werden, daß sie eine neue Vorstellung von der Wirkungsweise des Bildes nach sich ziehen mußte. Von der 'Sendetheorie' her war es die 56

Zum folgenden: David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. Übers, von Matthias Althoff. Frankfurt 1987 (Originalausgabe Chicago 1976).

57

Lindberg (Anm. 56), S. 161ff. Zu den antiken Sehtheorien vgl. auch Gerard Simon, Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. Übers, von Heinz Jatho. München 1992 (Originalausgabe Paris 1988). Zu Alhazen (Abu 'Ali al-Hasan, um 965 bis um 1039) vgl. zusammenfassend Lindberg (Anm. 56), S. 118.

58

59

Ebd., S. 191 ff.

60

Ebd., S. 195ff.

61

Vgl. Katherine H. Tachau, Vision and Certitude in the Age of Ockham. Optics, Epistemology and the Foundations of Semantics 1250-1345. (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 22) Leiden u.a. 1988, S. 3ff. Thomas von Aquin, De Anima (Anm. 25), S. 144 (Nr. 418 zu Aristoteles 418b), verwendet den Begriff der species, um die Theorie des Aristoteles zu erklären.

62

Vergegenwärtigung

und Affehe

211

Aufgabe der Kunst, die Wirklichkeit nachzuformen. Dem Sehstrahl wurde in dem Grad Wirklichkeitsillusion geboten, in dem das Bild mit seinem Vorbild übereinstimmte. Die Kunst mußte den Wirklichkeitsgegenstand nachformen. Die von Plinius überlieferten Täuschungslegenden belegen diese Sehweise.63 Das plastische Bildwerk, wenn es farbig gefaßt war, war danach der Gipfel der Naturnachahmung. Für die 'Empfangstheorie' gingen vom Bild wie von jedem Gegenstand species aus. Der für die Bildauffassung entscheidende Unterschied liegt nun darin, daß das Bild als etwas gedacht werden konnte, das species aussendet, die denjenigen species entsprechen oder möglichst ähnlich sind, die vom Naturgegenstand ausgehen. Eine reale Übereinstimmung von Bild und Abbild war nicht mehr nötig. Das Illusionspotential lag nicht in der konkreten Entsprechung der Formen, sondern in ihrer übereinstimmenden Erscheinung.64 Die eingangs erläuterte Bildauffassung Giottos, die systematisch auf die Wirklichkeitsorientierung der Betrachter ausgerichtet ist, ist die Konsequenz aus diesem Auffassungswandel. Statt die Entwicklung dieser neuen Bildauffassung, die vielfältige Anregungen aus der zeitgenössischen Lehre von der Optik empfangen hat, darzulegen, möchte ich nur einen Text anfuhren, der zeigen kann, daß die Bildwirkung im Zeitalter Giottos tatsächlich so wie hier erläutert aufgefaßt wurde. Boccaccio, der in seinem Dekamerone Giotto als Meister feierte, der alle Dinge der Natur täuschend ähnlich nachzuahmen weiß, spricht in seinem DanteKommentar generell und ohne den Namen eines Künstlers zu nennen von der Wirkung der Malerei. Ausgangspunkt ist Dantes Vers che l'arte vostra quella [sc. la natura], quando puote, segue (Inferno XI,103f.). Die Kunst der Menschen, so erläutert Boccaccio, folgt der Natur inquanto, secondo che ne bastano le forze dello 'ngegno, c 'ingegnamo nelle cose, le quali il naturale esemplo ricevono, fare ogni cosa simile alia natura, intendendo, per questo, che esse abbiano quegli medesimi ejfetti che hanno le cose prodotto dalla natura, e, se non quegli, almeno, inquanto si pud, simile α quegli [...] Sforzasi il dipintore che la figura dipinta da se la quale non e altro che un poco di colore con certo artificio posto sopra una tavola, sia tanto simile, in quello atto ch 'egli la fa, α quella la quale la natura ha prodotta, e natural-

63

Beispielsweise der Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios (Plinius, Naturalis historia, lib. XXXV,65): Der Vorhang, den Parrhasios über sein Bild gemalt hatte, schien dem Malerkollegen Zeuxis die Sache selbst zu sein.

64

Während eine Täuschung im Sinne der 'Trauben des Zeuxis' oder des 'Vorhangs des Parrhasios' (vgl. die vorhergehende Anmerkung) eine l:l-Entsprechung der Größen von Naturvorbild und Abbild voraussetzt, kann nach den von der mittelalterlichen Optik postulierten 'Gesetzen' der Ausbreitung der species, die sich vom Gegenstand ausgehend zum Auge hin kontinuierlich verkleinern, eine illusionistische Wirkung auch von einem Bild ausgehen, das den Gegenstand verkleinert zeigt: Hier liegt ein Quellpunkt für die Entwicklung der perspectiva artificialis.

Frank Büttner

212 mente in quello atto si dispone, che essa possa gl'occhi de'riguardanti

ο in parte ο in tutto

ingannare, facendo di si credere che ella sia quello che ella non e.65

Daß der Argumentation Boccaccios die Theorie von der Ausbreitung der species zugrunde liegt, braucht sicher nicht eigens dargelegt zu werden. Die Wirkung der Bilder Giottos liegt natürlich nicht nur in ihren mimetischen Qualitäten. Auch ihre Affektwirkung ist immer wieder betont worden, beispielsweise von Alberti. 66 Der Affektbezug, der nach dem Dargelegten bereits in der visuellen Erscheinung der Bilder liegt, ist durch die Ausdrucksgestaltung noch ganz entschieden verstärkt worden. Zusammen mit der oben erläuterten 'Wirklichkeitsorientierung' und der Beschränkung der Darstellung auf einen Handlungsmoment trägt sie dazu bei, daß das Bild als ein vor den Augen des Betrachters sich abspielendes Geschehen 'erlebt' werden kann. Der Gewinn, den diese Errungenschaften für die Bildwirkung zweifellos bedeuteten, hatte jedoch für die sakrale Funktion des Bildes auch entschieden negative Seiten. Die Möglichkeit, daß Bild und Wirklichkeit zwar nicht der Sache, aber doch der Erscheinung nach miteinander verwechselt werden konnten, untergrub den Verweischarakter des Bildes. Der Zeichencharakter des Bildes wurde aufgelöst, der nicht zuletzt deswegen so wichtig war, weil er die Lesbarkeit nach dem mehrfachen Schriftsinn erleichterte und damit ein dem Schriftverständnis analoges Bildverständnis ermöglichte. Das als Fiktion von Wirklichkeit auftretende Bild rückt die visuelle Erscheinung der Bildgegenstände in den Vordergrund und trug so zur Auflösung des allegorischen Universums des Hochmittelalters bei.67 Die potentiell ständige Präsenz der heiligen Geschichte in den Bildern machte die individuelle Arbeit des Erinnerns überflüssig. In der Bildandacht konnte man sich der scheinbar lebendigen Erscheinung der Heiligen im Hier und Jetzt hingeben. Das sichtbar Gegenwärtige war geeignet, den Weg zur spirituellen und mystischen Betrachtung zu versperren. Die größte Gefahr für die

65

Giovanni Boccaccio, Comento alia Divina Commedia. Hg. von Domenico Guerri. Bari 1918, S. 82: 'Daß eure Kunst jener (nämlich der Natur) folge, wenn sie kann [...]. [Sie tut es,] soweit die Kräfte des Geistes dazu ausreichen, insofern, daß wir uns bemühen bei den Dingen, die ein natürliches Vorbild haben, alle Dinge der Natur ähnlich zu machen, in der Absicht, daß sie dadurch jene gleichen Wirkungen haben, wie die durch die Natur hervorgebrachten Dinge, und wenn nicht jene, so doch wenigstens, soweit es möglich ist, jenen ähnliche. [...] Es strengt sich der Maler an, daß die von ihm gemalte Figur, die nichts anderes ist, als ein bißchen Farbe mit einer gewissen Kunstfertigkeit auf eine Tafel aufgebracht, in der Haltung, in der er sie schafft, derjenigen, die die Natur hervorgebracht hat und die sich natürlicherweise in jener Haltung aufgestellt, dieser so ähnlich sei, daß sie die Augen der Betrachter teilweise oder ganz täuschen kann, indem sich von sich glauben macht, etwas zu sein, was sie nicht ist.'

66

Leon Battista Alberti, De pictura. In: Ders., Opere volgari. 3 Bde. Hg. von Cecil Grayson. (Scrittori d'Italia 218, 234, 254) Bari 1960-1973, hier Bd. 3, S. 75 (II, 42).

67

Vgl. das Kapitel „Thomas von Aquin und die Auflösung des allegorischen Universums" bei Eco (Anm. 43), S. 109ff.

Vergegenwärtigung

und Affekte

213

sakrale Funktion aber lag darin, daß in der Dominanz der Wahrnehmung des Bildes als Nachahmung, die ja nach Aristoteles und Thomas Quelle der Ergötzung ist, der Kunstcharakter ganz in den Vordergrund tritt und zu einem Eigenwert wird, der mit der sakralen Aussage konkurriert und sie überschattet oder gar verdrängt. Diese Gefahren, die hier nur thesenartig aufgereiht werden konnten, sind in der Bilderkritik der Folgezeit, vor allem in den Diskussionen im Vorfeld der Reformation und in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit, sehr wohl gesehen worden.68 Die bezeichnende Reaktion der katholischen Kirche war der Versuch einer Rückkehr zur Bildauffassung der alten Kirche, vor allem die Wiederherstellung des Verweischarakters, der in den Dekreten des Tridentiner Konzils festgeschrieben wurde.69 Der grundsätzliche Wandel, der sich um 1300 vollzogen hatte, war jedoch nicht mehr rückgängig zu machen.

68

Vgl. zum Beispiel die Thesen des Zürcher Chorherm Rudolf Koch 1524, referiert bei Christine Göttler, „Die Disziplinierung des Heiligenbildes durch altgläubige Theologen nach der Reformation. Ein Beitrag zur Theorie des Sakralbildes im Obergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit". In: Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. von Bob Scribner und Matthias Warnke. (Wolfenbüttler Forschungen 46) Wiesbaden 1990, S. 269-297.

69

Dekret über die Anrufung, die Verehrung und die Reliquien der Heiligen und über die heiligen Bilder, 3. Dez. 1563: Denzinger (Anm. 15), S. 578f. (Nr. 1821 -1825).

Franz Josef Worstbrock (München) Hartmann Schedels Lib er antiquitatum epigrammatibus

cum epitaphiis

et

Zur Begründung und Erschließung des historischen Gedächtnisses im deutschen Humanismus

I

Herrlichkeit und Größe und in Ruinen versunkene Herrlichkeit und Größe: für sie war das antike Rom seit dem 12. Jahrhundert, war es noch im 19. das Beispiel ohnegleichen.1 Keine Stadt ist Rom als Urbs des Orbis, keine seiner Ruinendauer je nachgefolgt. Von keiner anderen hat gesagt werden können: Par tibi, Roma, nihil, cum sis prope tota ruina. quam magni fueris integra, fracta doces,2

und keine hat Vergänglichkeitsgefühl und Weltschmerz, keine auch das Nachdenken über Geschichte inspirieren können wie das in seinen Ruinen überdauernde alte Rom. Die Auflösung der antiken Gestalt der Stadt, die sich seit dem 6. Jahrhundert vollzog, war nicht nur ein Werk von Kriegsgewalt und fortschreitender VerZum europäischen Diskurs über Rom in seinen Ruinen seien hier allein einige wenige breiter orientierende und forschungsgeschichtlich erhebliche Darstellungen genannt: Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter vom V. bis zum XVI. Jahrhundert. Hg. von Waldemar Kampf. München 1978; Arturo Graf, Roma nella memoria e nelle imaginazioni del medio evo. Torino 21923 (zuerst 1881); Fedor Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter. Die geistigen Grundlagen der Renaissance. München 1926 (Nachdruck Darmstadt 1959); Walther Rehm, Europäische Romdichtung. München 2 1960; Tilmann Buddensieg, „Gregory the Great, the Destroyer of Pagan Idols". In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 28 (1965), S. 44-65; Roberto Weiss, The Renaissance Discovery of Classical Antiquity. Oxford 1973; Norbert Miller, Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi. München - Wien 1978; Richard Krautheimer, Rome. Profile of a City 312-1308. Princeton/NJ 1980; Rom - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Hg. von Conrad Wiedemann. (Germanistische Symposien. Berichtsbände 8) Stuttgart 1988, darin S. 197-344 die Abhandlungen der Sektion 'Rom'. Eine Anthologie aus 22 Jahrhunderten Romdichtung, vom griechischen Rom-Hymnus des Melinno bis zu Giovanni Pascoli: Bernhard Kytzler, Roma aeterno. Lateinische und griechische Romdichtung von der Antike bis in die Gegenwart. (Bibliothek der Alten Welt 100) Zürich - München 1972. Hildebert von Lavardin, De Roma, V. lf. (Hildeberti Cenomannensis episcopi Carmina minora. Hg. von A. Brian Scott. Leipzig 1969, Nr. 36, S. 22).

216

Franz Josef Worstbrock

ödung, sondern auch ihrer Transformation in die petrinische Urbs.3 Siedelte seit dem 7. Jahrhundert innerhalb des gewaltigen Mauerrings der einstigen Weltstadt nur noch eine verstreute Einwohnerschaft, so übertraf Rom jede andere Stadt nun durch seine illustre Zahl von Kirchen.4 Ziel der ständigen Pilgerreisen war einzig das neue christliche Rom, die Stadt der Apostel und der Märtyrer. Der Besucher hatte zwar, wie am besten das noch vorkarolingische 'Einsiedelner Itinerar'5 lehrt, in Fülle auch besondere andere Sehenswürdigkeiten vor Augen, die markant am Wege zu den Gräbern und Kirchen der Heiligen lagen, Thermen, Foren, Triumphbögen, Obelisken, Statuen. Doch fanden die Zeugen des verfallenen heidnischen Rom in den frühmittelalterlichen Jahrhunderten niemandes nachhaltige Beachtung6 - es sei denn als tote Objekte, die Quader, Säulen, Marmor für andere Bauten in und außerhalb Roms herzugeben hatten.7 Auch für Chronisten und Dichter wurden die Ruinen Roms vorerst kein konzentrierendes Thema. Der erst neuerliche Versuch, ein einzelnes Distichon aus Alkuins umfänglichem Gedicht über die normannische Zerstörung des Klosters Lindesfarne8 als einen ersten Fall von „humanistischer Ruinenpoesie", gar „Ruinenromantik" auszugeben, dürfte unter die Kategorie auffälliger historischer Mißgriffe zu buchen sein.9 Die aurea Roma, von der nichts als wüste Ruine geblieben:

3

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Zum siedlungsstrukturellen Niedergang und Wandel der Stadt Rom in der Spätantike und im frühen Mittelalter vgl. den Überblick von Girolamo Amaldi und Federico Marazzi, „Rom". In: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 967-972. Das 'Einsiedler Itinerar' (siehe Anm. 5), ein wohl nach älteren, spätantiken und frühmittelalterlichen Karten gearbeiteter Führer durch die Stadt Rom, verzeichnet 118 Kirchen, vier Klöster und zwei Oratorien. Zur mittelalterlichen Erscheinung Roms in seinen Kirchen vgl. Gerd Tellenbach, „Die Stadt Rom in der Sicht ausländischer Zeitgenossen (800-1200)". In: Saeculum 24 (1973), S. 1-40, hier S. 3, 13 und 34. Tellenbach zählt im 'Einsiedler Itinerar' allerdings nur 66 Kirchen. Aktuelle Ausgabe und Kommentierung des Itinerarium Einsidlense: Die 'Einsiedler Inschriftensammlung' und der Pilgerführer durch Rom. Hg. von Gerold Walser. (Historia. Einzelschriften 13) Stuttgart 1987, S. 143-211. Laut Walser, S. 9, hat Bernhard Bischoff 1986 in der Einsiedler Handschrift (frühes 9. Jahrhundert) die Arbeit eines Fuldaer Mönchs erkannt. Vgl. Tellenbach (Anm. 4), S. 11, 15 und 34f. Methodisch geordnetes Resümee der Forschung bis 1968: Arnold Esch, „Spolien. Zur Wiederverwendung antiker Baustücke und Skulpturen im mittelalterlichen Italien". In: Archiv für Kulturgeschichte 51 (1969), S. 1-64. Zur Spolienmode in der römischen Architektur des frühen 12. Jahrhunderts: Peter Cornelius Claussen, „Renovatio Romae. Erneuerungsphasen römischer Architektur im 11. und 12. Jahrhundert". In: Rom im hohen Mittelalter. Studien zu den Romvorstellungen und zur Rompolitik vom 10. bis zum 12. Jahrhundert. (FS Reinhard Elze) Hg. von Bernhard Schimmelpfennig und Ludwig Schmugge. Sigmaringen 1992, S. 87-125, hierS. 119-122. Alkuin, De clade Lindisfarnensis monasterii. In: Poetae Latini aevi Carolini. Hg. von Ernst Dümmler u.a. 4 Bde. (MGH, Antiquitates. Poetae Latini medii aevi 1-4) Hannover 18811923 (Nachdruck Stuttgart 1978), Bd. 1, S. 229-235, V. 37-41. Alexander Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. München 1984, S. 86: „[...] an diese Tradition [sc. der Anthologia Graeca] an-

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Roma, caput mundi, mundi decus, aurea Roma, Nunc remanet tantum saeva ruina tibi,

hat für Alkuin nur das Beispiel der drei Weltmonarchien, die vorhergegangen waren, wiederholt, hat damit gleich ihnen das Gesetz der Vergänglichkeit erfüllt, dem seit dem Sündenfall alles Irdische, Natur wie Geschichte, unterliegt. Das Beispiel der Reiche, Roms als des letzten, ist bei Alkuin Teil eines ausgreifenden Panoramas der in stetem Vergehen begriffenen Welt. Unter dieser Kontextbedingung fungiert bei Alkuin das Angedenken Roms, nur unter ihr wird es legitim. Alkuins Sicht auf die Stadt, deren Macht und Glanz verfallen sind: Gloria castrensis gladiis aequata remansit, Lutea pars tegetum sola videtur iners,

belehrt, Schmerz vermittelt sie nicht; Klage über den Untergang auch dieses Menschenwerks bleibt aus. Wenn Alkuin sonst von der urbs, dem caput orbis, der maxima Roma, den auratae Romanorum arces spricht, meint er nie mehr das gefallene heidnische, sondern stets das christliche Rom, die Stadt der Apostel und der Märtyrer,10 das neue Rom der Kirche und der Päpste.11 Die erhabenen

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11

knüpfend eröffnete Alkuin die humanistische Ruinenpoesie"; S. 132: „[...] Ruinenromantik, wie sie Alkuin, Hildebert von Lavardin und Poggio Bracciolini beseelte". Demandt läßt den Kontext der Alkuin-Verse gänzlich außer Acht. Aber auch ohne diesen läßt sich den Versen „Ruinenromantik" nicht abgewinnen. Von Alkuin fuhrt in der Sache auch kein Weg zu Gedichten der Anthologia Graeca zurück, selbst wenn man eine Alkuin erreichende Wirkungsgeschichte griechischer Dichtung unterstellen könnte. Anders und treffend zu Alkuins RomVersen Tellenbach (Anm. 4), S. 11: „Auffallend ist, wie selten Ruinen bemerkt werden. Alcuin sah sie und empfand sie als schauerlich." Die geschichtliche Neubestimmung Roms als Stadt der Apostel und Märtyrer, exemplarisch vorgenommen in Papst Leos des Großen Predigt zu Peter und Paul (Migne, PL 54, Sp. 422428), war seit Ambrosius ein festes Thema spätantiker und frühmittelalterlicher christlicher Dichtung. Herausragend der Laurentius-Hymnus in Prudentius' Peristephanon (dazu Vinzenz Buchheit, „Christliche Romideologie im Laurentius-Hymnus des Prudentius". In: Polychronion. [FS Franz Dölger] Hg. von Peter Wirth. [Corpus der griechischen Urkunden des Mittelalters und der neueren Zeit D 1] Heidelberg 1966, S. 121-144); bekannte frühmittelalterliche Specimina: der Rhythmus Ο Roma nobilis (dazu Ludwig Traube, Ό Roma nobilis'. Philologische Untersuchungen aus dem Mittelalter. [Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologische Klasse 19,5] München 1891, S. 299309) und Flodoards von Reims monumentales Gedicht De Christi triumphis apud Italiam (Migne, PL 135, Sp. 491-886). MGH Poetae Latini (Anm. 8), Bd. 1, S. 206 (Epitaphium Aelberhti, V. 9): Romam cunctis venerandam gentibus urbem; S. 2425: Urbs, caput orbis, [...] maxima Roma; S. 245 1 : Roma potens, mundi decus, inclyta mater, S. 25863: caput mundi·, Epistolae Karolini aevi. Bd. 2. Hg. von Emst Dümmler u.a. (MGH, Epistolae. Epistolae [in Quart] 4) Hannover 1895 (Nachdruck Stuttgart 1994), S. 295 : fumo sordentia Turonorum tecta auratis Romanorum arcibus praeponere. - inclita Roma\ zuerst Vergil, Aeneis 6,782; maxima Roma: Aeneis

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Rangprädikate des antiken Rom hat er dem neuen vermacht, hat den Ruhm des vergangenen Rom im Rom der Kirche aufgehoben; nur in den identischen Rangprädikaten blieb der verloschene Glanz des alten Rom präsent. Wie Alkuin hielten es auch die anderen Schriftsteller der karolingischen Epoche.12 Erst Jahrhunderte später, mit dem 12., rücken die römischen Ruinen näher, beginnen sie als eigener Gegenstand Betrachtung und Nachsinnen zu faszinieren,13 voran in zwei namhaften und lange wirkenden Texten, in den Mirabilia Romae und in Hildeberts von Lavardin Elegie De Roma, die auch problemgeschichtliche Prägnanz besitzen. Unter dem gewiß nicht authentischen, aber schon früh geläufigen Titel Mirabilia Romae geht der erste Versuch einer gesammelten Beschreibung großer Architektur des antiken Rom, verfaßt von einem ortskundigen Betrachter der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts.14 Der ungenannte und nicht sicher identifi-

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5,601; maxima rerum Roma: Aeneis 7,603; caput orbis: Ovid, Amores 1,15,26, Metamorphoses 15,435, Fasti 5,93; aurea Roma: Ovid, Ars amatoria 3,113. MGH Poetae Latini (Anm. 8), Bd. 1, S. 11314: inclyta Roma-, Ermoldus Nigellus, ebd., Bd. 2, S. 2679; S. 92 23 : Aurea Roma-, Hrabanus Maurus, ebd., S. 161': Sedis apostolicae princeps, lux aurea Romae; Florus von Lyon, ebd., S. 5406: inclita Roma·, S. 664 (Titulus 'Ad portam Viridariam', V. 9): Roma caput orbis, splendor, spes, aurea Roma·, Sedulius Scottus, ebd., Bd. 3, S. 17023: aurea Roma; S. 18823: Aurea Roma cluit Petro Pauloque refulgens; S. 175" und 19147: maxima Roma; Heiric, ebd., S. 44050: caput [...] orbis rerum permaxima Roma; Epistolae Karolini aevi (Anm. 11), S. 502" (Cathuulfus an Karl den Großen): [...] quod auream et imperialem Romam intrasti. Daneben Modoin, Ecloga 1,27 (MGH Poetae Latini [Anm. 8], Bd. 1, S. 385), Aurea Roma iterum renovata als Periphrase Aachens. - Vgl. auch die Sammlung ausgewählter Stellen zu „Rom als caput mundi und aurea Roma in der Literatur des IV. bis X. Jahrhunderts" bei Percy Ernst Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. 2 Bde. Leipzig u.a. 1929 (Nachdruck Darmstadt 21957), Bd. 1, S. 37f. Schramm trifft keinerlei Unterscheidung, ob sich die zitierten Belege auf das heidnisch-antike oder das christliche Rom der Apostel und ihrer Nachfolger beziehen; darauf kommt es indes an. In Verbindung mit seinen Darlegungen S. 30-32 könnte man den Eindruck gewinnen, die Belege sprächen allererst vom antiken Rom, doch dies ist nur selten der Fall. Vgl. Friedrich von Bezold, Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus. Leipzig 1922, S. 46-52; William S. Heckscher, Die Romruinen. Die geistigen Voraussetzungen ihrer Wertung im Mittelalter und in der Renaissance. Würzburg 1936; James Bruce Ross, „A Study of Twelfth-Century Interest in the Antiquities of Rome". In: Medieval and Historiographical Essays. (FS James Westfall Thompson) Hg. von James Lea Cate und Eugene N. Anderson. Chicago 1938, S. 302-321; Tellenbach (Anm. 4), S. 35-38; Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst. Frankfurt/M. 1979 (Originalausgabe Stockholm 1960), S. 82f. und 359f.; Weiss (Anm. 1), S. 4-13; Herbert Bloch, „The New Fascination with Ancient Roma". In: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. Hg. von Robert L. Benson und Giles Constable. Oxford 1982, S. 615-636. Ausgabe der ältesten Redaktion der Mirabilia Romae: Roberto Valentini und Guiseppe Zucchetti, Codice topografico della cittä di Roma. Bd. 3. Roma 1946, S. 17-65. Zur Analyse der Mirabilia·. Heinrich Jordan, Topographie der Stadt Rom im Alterthum. Bd. 2. Berlin 1871, S. 357-536; Schneider (Anm. 1), S. 174-177; Ross (Anm. 13), S. 312-316; Dale Kinney, „Mirabilia urbis Romae". In: The Classics in the Middle Ages. Hg. von Aldo S. Bernardo und

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zierte Autor nutzte in einem kleineren ersten Teil (Kap. 1-10, 14), welcher katalogartig die Monumentalarchitektur (Mauern, Tore, Triumphbögen ...) verzeichnet, auch ältere topographische Abrisse, rückte danach als zweiten Teil (Kap. 1112, 15-18) ein Ensemble legendarischer und anekdotischer Erzählungen ein, die sich an einzelne Bauwerke und Statuen knüpften. Erst in einem dritten Teil (Kap. 19-31) kam er zur eigentlichen Beschreibung; er absolvierte sie in der Art eines Rundgangs durch die Stadt. Eine Reportage der römischen Ruinen in ihrem vorfmdlichen Zustand erwartet den Leser jedoch auch hier nicht, vielmehr Station für Station eine merkwürdig wiederherstellende Schilderung, welche, durchweg im Präteritum gehalten, die alte Erscheinung der Monumente vor Augen zu fuhren meint. Das Ruinenhafte, alle Eindrücke von Zerstörung und Zerfall werden überschritten in eine vorgestellte Vergangenheit der noch unversehrten Bauten. Daher läßt sich auch Klage des Autors über Trümmer und Verlust nicht vernehmen. Die Mirabilia liegen in zahlreichen um- und weitergeschriebenen, nach und nach bis zur Unkenntlichkeit veränderten Redaktionen vor, die als Pilgerfuhrer dienten und als solche noch im 16. Jahrhundert im Druck erschienen.15 Sie wurden anderseits reichlich in chronikalischer Literatur exzerpiert16 und konnten auch auf diesem Wege die Vorstellung von Rom und seinen Monumenten Jahrhunderte hindurch prägen wie kein anderes Buch. Mit einem Pilgerfuhrer hat die ursprüngliche Fassung der Mirabilia noch nicht zu schaffen. Auftretend zuerst um 1140 und vermutlich damals entstanden,17 fallt sie in die Frühzeit der römi-

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Saul Levin. (Medieval and Renaissance Texts and Studies 69) Binghamton/NY 1990, S. 207-221; vor allem Robert L. Benson, „Political Renovatio: Two Models from Roman Antiquity". In: Renaissance and Renewal (Anm. 13), S. 339-386, hier S. 352-355. Nachweise und Materialien dazu bei Nine Robijntje Miedema, Die 'Mirabilia Romae'. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung mit Edition der deutschen und niederländischen Texte. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 108) Tübingen 1996. Die mit Abstand wirkungsvollste historiographische Rezeption war die im Chronicon Martins von Troppau (weit über 400 Handschriften). Bezeugt sind die Mirabilia zuerst als Teil des vor dem 26. 9. 1143 entstandenen Liber politicus (= polyptychus), der in der Tradition Benedikt, einem Kanoniker von St. Peter, zugeschrieben wurde, ihn aber bis auf einen Widmungsbrief und den kompilierten Ordo Romanus wahrscheinlich nicht zum Verfasser hat (vgl. Schimmelpfennig). Ein zweites Mal treten die Mirabilia um 1155 hervor; sie gingen damals, neu redigiert, in die Graphia aureae urbis Romae ein. Ungeachtet der nicht strikt zu sichernden Entstehungszeit der Mirabilia waren sie ausweislich des Liber politicus und der Graphia im Rom der 40er und 50er Jahre offenbar ein aktueller Text. Der genannte Benedikt galt seit Louis Duchesne („L'Auteur des Mirabilia". In: Melanges d'archeologie et d'histoire 24 [1904], S. 479-485) wegen beträchtlicher inhaltlicher Übereinstimmungen seines Ordo Romanus mit den Mirabilia auch als deren Verfasser. Textgeschichtliche Untersuchungen Schimmelpfennigs zum Liber politicus haben diese Annahme inzwischen jedoch fraglich gemacht. Vgl. Bernhard Schimmelpfennig, Die Zeremonienbücher der römischen Kurie im Mittelalter. (Bibliothek des Deutschen Histori-

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sehen Autonomiebewegung, einer Rebellion gegen den Papst als Stadtherrn, die als Wiederherstellung altrömischer Senatsgewalt verstanden und anerkannt sein wollte.18 Die Renovatio senatus war kein Programm der Rückkehr in die vorchristliche römische Republik, keine Verleugnung Roms als Stadt der Kaiser, im Gegenteil: Die Ära der christlichen Kaiser von Konstantin bis Justinian glaubten Sprecher der Commune sogar als die beste Zeit würdigen zu können, die Stadt und Reich je hatten.19 Auch in den Mirabilia ist Rom keine Stadt der Päpste; keiner der großen Namen - Silvester, Leo, Gregor - wird auch nur genannt. Was es an Rom zu rühmen gibt, ist allein seine antike Herrlichkeit. Deren Zeugen stammen freilich fast ausschließlich aus vorkonstantinischer Zeit oder werden vom Autor in diese verlegt. Insoweit kann er seinen Gegenstand abschließend resümieren als die 'in heidnischer Zeit' (tempore paganorum) erbauten 'Tempel und Paläste der Kaiser, Konsuln, Senatoren, Stadtpräfekten'. Wer den Beschreibungen folgt, wird bemerken, daß sie, je einläßlicher sie ausfallen, in Fülle Details von Glanz und Kostbarkeit vorweisen, die keineswegs der Wahrnehmung des Beschreibenden entstammen. Vom Circus Maximus heißt es: Der Circus des Priscus Tarquinius war von wunderbarer Schönheit. Er war so abgestuft, daß kein römischer Besucher den anderen am Sehen hinderte; oben säumten ihn Bögen, die ringsum mit Glas und gelbem Golde getäfelt waren; [...] in der Mitte ragten zwei Obelisken, der kleinere hatte 87, der größere 122 Fuß; auf der Spitze des Triumphbogens am Eingange stand ein Pferd aus vergoldeter Bronze, welches im Antritt begriffen schien, als wollte es eine Rennstrecke laufen, auf dem zweiten, am Ende errichteten Bogen ein anderes vergoldetes bronzenes Pferd in ähnlicher Pose [...]. 20

Versuchen die Mirabilia, die verloschene Eindruckskraft der Monumente zu erneuern, setzen sie doch nicht zur Nachzeichnung antiker architektonischer, gar plastischer Form an, sondern sind ganz auf die Vergegenwärtigung von Glanz

18

19 20

sehen Instituts in Rom 40) Tübingen 1973, S. 6-16; ders., „Die Bedeutung Roms im päpstlichen Zeremoniell". In: Rom im hohen Mittelalter (Anm. 7), S. 47-61, hier S. 50. Zur möglichen zeitgeschichtlichen Situierung der Mirabilia Romae vgl. Eugenio Dupre Theseider, L'idea imperiale di Roma nella tradizione del medioevo. Mailand 1942, S. 124-141, und vor allem Robert L. Benson, „Political Renovatio·. Two Models from Roman Antiquity". In: Renaissance and Renewal {Kam. 13), S. 339-386, hier S. 340-359. Vgl. ebd., S. 342f. Valentini und Zucchetti (Anm. 14), S. 58f.: Circus Prisci Tarquinii fuit miraepulchritudinis, qui ita erat gradatus, quod nemo Romanus offendebat alterum in visu ludi. In summitate erant arcus per circuitum vitro et fulvo auro laqueati. [...] In medio erant duae aguliae: minor habebat octoginta Septem pedes semis, maior CXXII. In summitate triumphalis arcus, qui est in capite, stabat quidam equus aereus et deauratus, qui videbatur facere impetum, ac si vellet currere aequum. In alio arcu, qui est in fine, stabat alius equus aereus et deauratus similiter [...].

Hartmann Schedels

'Liber

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antiquitatum'

und Größe eingestellt.21 So kann man verfahren, wenn alles auf die Erweckung des Bilds der Aurea Roma, der Glanzerscheinung, ankommt und diese genügt. Seine Art und Absicht dergestalt verklärender Erneuerung hat der Autor selber treffend zu Protokoll gegeben. Nach Kräften habe er sich bemüht, so sein Schlußwort, die in 'Gold und Silber, Erz, Elfenbein und kostbaren Steinen erstrahlende Schönheit [der Bauten] durch schriftliche Aufzeichnung in das Gedächtnis der Späteren zurückzufuhren': scriptis ad posterum memoriam [...] reducere. Rückführung, Wiederherstellung des glänzenden Bilds der alten Roma, damit sie ihr Angedenken bei den Nachfahren habe, so lautet sein Hauptanliegen. Es sekundiert dem Renovatio-Anspruch der römischen Commune.22 Die Vorstellung von der einstigen Pracht und Schönheit der römischen Bauten, welche die Mirabilia ausbreiten, ist erdacht, mögen auch gerade für die wiederkehrenden Züge ihrer Beschreibungen, für die vergoldeten Bronzen, für die vielfarbigen Verkleidungen von Wänden mit kostbarem Stein, für die goldenen Feldertäfelungen der Decken, Architekturschilderungen antiker Dichter und Geschichtsschreiber - Schilderungen keineswegs stadtrömischer Architektur wirksam gewesen sein.23 Es ist erdachte Antike, literarisch genährte und ohne Kenntnis konkreter historischer Kontur erdachte, die der Autor der Mirabilia beschrieb. Der Anspruch auf das Gedächtnis der Nachkommen, den er für die Herrlichkeiten des paganen Rom erhob, setzte eine entspannte Sicht auf das Verhältnis von antiker und christlicher Welt voraus, wie sie in der sogenannten Renaissance of the Twelfth Century auch sonst zum Zuge kam: Die Tempel und Paläste, Bö-

21

Zwanzigmal ist vom Gold der Statuen, der Bögen, des Zierrats die Rede; anderes Material des Prunks: Kristall, Porphyr, Edelgestein. Beschrieben werden Werke mire magnitudinis et pulchritudinis (Kap. 21, 22, 24 und 26). Zwölfmal wird die Wirkung des Wunderbaren (mirum, mirificum, mirabile) vermerkt. - Inspirierende Überlegungen zur kunsthistorischen Einordnung der Beschreibungen in den Mirabilia bei Claussen (Anm. 7), S. 122 und 124. 22 Das Programm der römischen Commune und ihres Anführers Arnold enthielt so, wie es Gunther von Pairis im Ligurinus (3,330-340) referiert, ebenfalls die Forderung baulicher Wiederherstellung: Quin eciam titulos Orbis renovare vetustos, Patricios recreare viros priscosque quirites,

[...]

23

Lapsa ruinosis et adhuc pendencia muris Reddere primevo Capitoliaprisca nitori Wenige Beispiele: Livius 41,20,9, Tempel des Iupiter Capitolinus in Antiochia: templum non laqueatum auro tantum, sed parietibus totis lamina i η au r α tum. Lukrez 2,28: laqueata aurataque templa. Vergil, Aeneis 1,726: dependent lychni laquearibus aureis.

[...]. Mirabilia urbis Romae, Kap. 19: basilica [...] ex mirifico musivo laqueata α uro et vitro. Kap. 23: muris [...] vitro et auro undique coopertis et miris operibus laqueatis. Kap. 26: arcus [...] vitro etfulvo auro laqueati.

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gen und Säulen entstammen zwar einem tempus paganum, aber das Heidnische der antiken römischen Welt haftet an der reprojizierten Herrlichkeit der Monumente nicht; diese erscheint als eine von christlicher Einrede unabhängige Qualität für sich. Den Gedanken eines ästhetischen Selbstwerts antiker Monumente hatte zuvor schon - nach seinem Rombesuch 1100/1101 - und wohl als erster Hildebert von Lavardin in seiner Elegie De Roma {Par tibi, Roma, nihil [...])24 gefaßt, ihn aber, indem er ihn an die Ruinen selber heftete, anders und weit eindringlicher gefaßt, als ihn der Autor der Mirabilia mit seinem Blick auf die Aurea Roma ausdrückte. Hildeberts Gedicht ist Trauer über den unwiederbringlichen Verlust des nie wiederholbaren Größten, das Rom war, Trauer aber, die Halt findet an dem, was blieb, was selbst als Torso und Ruine noch Unvergleichlichkeit zeigt: tantum restat adhuc, tantum ruit, ut neque pars stans aequaripossit, diruta nec reflci. (V. 23f.)

Es sind Götterbildnisse, bei denen die Elegie am Ende verweilt, Werke von Menschenhand, aber vollkommener in ihren Zügen, als natura sie Göttern je hätte verleihen können. Die Kunst der Skulpturen, sie übersteigt in der Wahrnehmung ihres späten Betrachters das, was sie darstellen, heidnische Göttlichkeit, und so zieht Verehrung auf sich nicht so sehr das Götterbild als vielmehr das Werk des Künstlers, das sich über seinen Zweck erhebt: vultus adest his numinibus potiusque coluntur artificum studio quam deitate sua. (V. 35f.)

Mit einer knappen Schlußwendung (V. 37f.) steckt Hildeberts Elegie der Bewunderung des einmaligen Rom freilich bedauernd eine - nicht überraschende Grenze: Eine urbs felix konnte das alte Rom nicht werden; daran hinderten es seine Herren, da sie sich dem christlichen Glauben versagten. Eine Minderung, gar ein Widerruf trifft die Größe und Schönheit, die aus den erhaltenen Fragmenten erstrahlen, damit nicht. Den Widerruf besorgte erst Hildeberts zweite RomElegie.25 Sie ist von Rom selber gesprochen, aber vom neuen christlichen Rom; es stellt sich als triumphierende Negation des alten heidnischen Rom dar; dieses

24

Ausgabe: Scott (Anm. 2). Zu Hildeberts bekanntestem und viel interpretiertem Gedicht vgl. Bezold (Anm. 13), S. 46-48; Schramm (Anm. 12), S. 296-305; Ross (Anm. 13), S. 304-308; Rehm (Anm. 1), S. 43-61; Wolfram von den Steinen, „Rom Cäsars - Rom Petri". In: Neue Schweizer Rundschau N.F. 17 (1949/50), S. 701-706; Peter von Moos, Hildebert von Lavardin 1056-1133. Humanitas an der Schwelle des höfischen Zeitalters. (Pariser Historische Studien 3) Stuttgart 1965, S. 240-258 (mit weiterer Literatur). - Belege der langen Wirkungsgeschichte bei Bezold (siehe oben), Scott (S. 22-24, Testimonien), von Moos (S. 2 4 1 243).

25

Ausgabe von Scott (Anm. 2), Nr. 38.

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mußte untergehen, mit allem, was an ihm bedeutend war, um des Siegs des Kreuzes willen. Die Hinwendung zum alten Rom, zu der seine bewunderten steinernen Reste veranlaßten, hat bei Hildebert wie in den Mirabilia mit einem Interesse an historischer Wiedererkennung nicht zu schaffen. Die Ruinen wurden ihnen als Gegenstand und Mittel einer forschenden Rekonstruktion der geschichtlichen Welt, der sie entstammen, nicht bedeutsam. Sicherlich hätte einem solchen Interesse bereits die christlich-pagane Differenz widerstanden, die beide Autoren zwar begrenzen, aber nicht tilgen konnten, und sie konnten diese auch nur begrenzen, indem sie Bauten oder Skulpturen im Blick auf ein gesehenes oder vorgestelltes Ideal von Schönheit und Glanz dem Makel des Heidnischen entzogen und neutralisierten. An die historische Physiognomie antiker Bauten und Skulpturen kamen sie unter diesen Bedingungen nicht heran. So wird man urteilen, daß in Hildeberts Betrachtungen und denen der Mirabilia Suche nach vergangener geschichtlicher Gestalt nicht ansetzte, konkrete geschichtliche Erinnerung nicht zu entstehen vermochte.

II Die Ruinen Roms waren durch die Jahrhunderte stets zugänglich und waren, näher oder entfernter, auch bekannt, den Römern selber, den zahllosen Pilgern und Reisenden, und sie konnten bewußter Gegenstand trauernder Bewunderung und ästhetischer Wahrnehmung werden wie bei Hildebert, Gegenstand erdachter Rückerinnerung an Glanz und Größe wie in den Mirabilia. Als Markierungen Roms in seiner Gesamtheit und als Denkmale römischer Geschichte aber kamen sie vor Petrarca nicht in Betracht. Mit Petrarcas Rombesuch im Jahre 1337 und seinem brieflichen Bericht über ihn an Giovanni Colonna, der ihn auf der Wanderung durch die römische Ruinenlandschaft begleitet hatte,26 datiert ein epochaler Bedeutungswandel der römischen Ruinen und, unmittelbar mit ihm verbunden, einer der bekannten folgenreichsten Wendepunkte des europäischen Geschichtsdenkens. Der Anblick der römischen Ruinen bleibt in Petrarcas Romschilderung ohne ästhetische Reaktion. Keine der Stätten und keines der Monumente, die er nennt, 26

Francesco Petrarca, Le familiari [Familiarium rerum libri]. Hg. von Vittorio Rossi. Bd. 2. Florenz 1934, S. 55-60, Epist. VI 2. Zu Petrarcas Brief vgl. die klassische Analyse von Theodor E. Mommsen, „Petrarch's Conception of the 'Dark Ages'". In: Speculum 17 (1942), S. 226-242; auch P. Blanc, „La construction d'une utopie neo-urbaine. Rome dans la pensee, Taction et l'ceuvre de petrarque de 1333 ä 1342". In: Jerusalem, Rome, Constantinople. L 'image et le mythe de la ville au Moyen Age. Hg. von Daniel Poirion. (Cultures and civilisations medievales 5) Paris 1986, S. 149-168. Zu den beiden Fassungen des Briefs und ihrer Datierung Ε. Η. Wilkins, „On Petrarch's Ep. Fam. VI.2". In: Speculum 38 (1963), S. 620622.

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beschreibt er auch. Was er in ruinenhafter Dispersion vor sich sieht, ordnet er, alles einzelne als Ereignisträger identifizierend, in ungefährer Chronologie zu einem Stationenfeld der römischen Geschichte von ihrer Vorzeit - Euanders Königsburg am Palatin - und ihren frühesten Anfängen an bis zu Konstantin I. Indem er der Ruinengestalt der Stadt ein Gerüst ihrer alten Geschichte abliest und diese mit Konstantin begrenzt, vollzieht er bereits einen zweiten entscheidenden Schritt, die Einteilung der Geschichte in zwei scharf voneinander getrennte Epochen, in die historiae antiquae, die er soeben anhand der Ruinen abgeschritten hatte, und in die historiae novae, die Zeit von Konstantin an bis in seine Gegenwart. Während alle christlichen Geschichtsdenker vor Petrarca Geschichte, in welcher Gliederung auch immer, als einen von Anbeginn der Zeiten stetigen Verlauf vorgestellt hatten, las Petrarca die Wende zu den historiae novae als den Beginn von Niedergang und Verfinsterung gegen die vorangehende Epoche der historiae antiquae, eines Zeitalters des Lichts.27 Der zuvor nie gedachte Fall eines Bruches in der Geschichte und das mit diesem sich verbindende Konzept der Umkehrung aller bisherigen Wertungen von heidnischer Antike und christlicher Ära bedeuten auch dies, daß die Epoche der historiae antiquae, für Petrarca einfach das Rom der Könige, der Republik, der vorchristlichen Kaiser, nun als eigenes und gar nicht überholbares Zeitalter emstgenommen und orientierender Maßstab allen Erneuerungswillens werden konnte. Petrarcas Bericht seiner römischen Ruinenwanderung ist in eine Gruppe von Texten eingegangen, mit denen um 1504 Hartmann Schedel28 nach vorhergehendem eigenen Prologus seinen Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus29 eröffnete, ein Opus immensum, wie er das riesige Sammelwerk nannte,30

27

An Petrarcas Datierung des Niedergangs mit Konstantin dem Großen und Papst Silvester schließt sich, im Blick auf das Ende der antiken Kunst, exakt Lorenzo Ghiberti in seinen Commentarii an: Adunche al tempo di Constantino imperadore et di Silvestro papa sormontd su la fede christiana. Ebbe la ydolatria grandissima persecutione in modo tale, tutte le statue et le picture furon disfatte et lacerate di tanta nobiltä et anticha et perfetta dignitä [...]. Finita che fu l'arte stettero e templi bianchi circa d'anni 600 (Lorenzo Ghiberti, Denkwürdigkeiten (I Commentarii). Hg. von Julius von Schlosser. Bd. 1. Berlin 1912, S. 35).

28

Zusammenfassend zu Hartmann Schedels Person und Werk: Beatrice Hernad und Verf., „Schedel, Hartmann". In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage 8 (1992), Sp. 609-621.

29

München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 716. Eine zureichende Beschreibung der von der heutigen Schedelforschung kaum noch zur Kenntnis genommenen Handschrift fehlt; eine solche Beschreibung, die Schedels zahllose Quellen zu verifizieren hätte und erst auf dieser Grundlage Schedels eigene Beiträge und Formulierungen festzustellen vermöchte, wäre Sache einer aufwendigen eigenen Arbeit. Zum Inhalt, provisorisch und summarisch: [Karl Halm,] Catalogus codicum Latinorum bibliothecae regiae Monacensis. Bd. 1,1. München 2 1892, S. 181-183. Wesentliche Mitteilungen zum Clm 716 machte zuerst Giovanni Battista de Rossi, „Dell' Opus de antiquitatibus di Hartmanno Schedel Norimbergese". In: Memorie dell' Institute di corrispondenza archeologica 2 (1865), S. 501-514. Verstreute wichtige Hinweise: Wilhelm Wattenbach, „Hartmann Schedel als Humanist". In: Forschungen zur

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ein Autograph von annähernd 700 Folioseiten mit Hunderten von Einzeltexten. Es reicht mit wichtigem Material bis in Schedels Paduaner Studienjahre 1463— 1466 zurück, ist als ganzes aber ein Werk des alten Schedel, größtenteils 15021504 geschrieben, insgesamt 1505 vollendet, aber danach bis 1512 noch ergänzt und für weitere Eintragungen offengehalten.31 Schedel war in Deutschland der erste, der sich mit Roms Ruinen beschäftigt hat, nicht, weil er sie selber gesehen hätte, sondern weil er an die Ruinen, so wie sie bei italienischen Humanisten seit Petrarca zum Gespräch geworden waren, die Frage geschichtlichen Vergessens und Gedenkens, Vergehens und Überlebens knüpfte, die Ruinen samt den auf ihnen vorfindlichen Inschriften dabei als neue und einzigartige Quellen geschichtlicher Bezeugung erkennend. Im Uber antiquitatum cum epitaphiis et cum epigrammatibus enthält das einleitende programmatische Corpus (Bl. 15 r -30 r ) ausschließlich Texte italienischer Humanisten, sämtlich, wie auch die Überschrift De vetustatibus vrbis Rome et eius ruina bekundet, Texte über die römischen Ruinen: Voran Poggios beschreibende Klage über die Ruinen Roms 32 ; danach den Brief des Giovanni

30

31

32

deutschen Geschichte 11 (1871), S. 351-374, hier S. 367, 369f. und 372f.; Richard Stauber, Die Schedeische Bibliothek. Ein Beitrag zur Geschichte der Ausbreitung der italienischen Renaissance, des deutschen Humanismus und der medizinischen Literatur. Freiburg/Br. 1908, S. 51, 79f. und 94-97; Alice Wolf, ,,'Adamas mourned by the nymphs' in Schedel's 'Liber antiquitatum'". In: Journal of the Warburg Institute 2 (1938/39), S. 80f.; Poggio Bracciolini, De varietate fortunae (Anm. 32), S. 55f. - Zum Titel von Schedels Werk siehe Anm. 41. Bl. 13v, Schlußsatz der Vorrede: Sed iam immenso Operi manum apponamus. Mit dem gleichen Satz hatte zuvor Flavio Biondo die Vorrede seiner Roma instaurata (siehe unten S. 239 mit Anm. 79) beschlossen. Leere Blätter: 14r"v, 31v, 32v, 53v, 56v, 57r, 58r, 59r v usf. Später eingefugte Blätter mit Nachträgen: Bl. 256, 273f., 285, 293-295. Nachträge auf zunächst leer gebliebenen Blättern unter anderem 30v (aus Konrad Peutingers 1505 in Augsburg erschienenen Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum et eius dioecesi), 66v, 68r_v, 247v, 254v (vom Jahr 1508), 255r_v (vom Jahr 1512), 327-328 v (Trierer Inschriften, Beitrag von W. Pirckheimer 1512), 335 v -337 v (Additio de Lugduno [Lyon]). In der Einleitung zu den Antiquitates italienischer Städte (Bl. 18Γ) äußert Schedel die Erwartung, daß seine Sammlungen Spätere zur Ergänzung und Vollendung reizen möchten, ut tandem opus absolutum cum laude compleatur. Der Clm 716 hat zwei Blattzählungen, eine von Schedel selber besorgte und eine neuere (20. Jahrhundert), von Grund auf revidierte und vollständige; diese ist hier und im folgenden zugrundegelegt. Es handelt sich um einen Auszug aus dem ersten Buch von Poggios De varietate fortunae. Ausgabe: Poggio Bracciolini, De varietate fortunae. Edizione critica con introduzione e commento a cura di Outi Merisalo. (Annales Academiae scientiarum Fennicae Β 265) Helsinki 1993; S. 91 3 -97 235 entsprechen Schedels Auszug. Poggios Beschreibung der Ruinen Roms ist eine ursprünglich selbständige Schrift, die in abschließender Fassung bereits um 1430 vorlag und erst spät in das zwischen circa 1432 und 1448 in mehreren Stufen entstandene größere Werk De varietate fortunae einging, Hauptstück seines 1. Buches wurde. Sie hat dementsprechend auch eine separate Überlieferung, und dieser wird Schedel seinen Text entnommen haben. Vermutlich hat er Poggios Schrift während seiner Paduaner Studienjahre

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Antonio Campano über den verheerenden Eindruck, den der schmähliche Zustand der Reste des alten Rom auf ihn gemacht hat;33 einen ähnlich brandmarkenden Auszug aus Boccaccios De casibus virorum illustrium\M schließlich Petrarcas Epist. fam. VI 2; teils eingestreut, teils angeschlossen sind diesen Prosastücken fünf Carmina, darunter das Epigramm des Aeneas Silvius über die fortschreitend aufzehrende Plünderung der römischen Ruinen35 und das vehemente Klagegedicht De desolatione urbis Romae des Galeottus Martius36. Die neun Texte, die Schedel zur programmatischen Eingangsgruppe des Uber antiquitatum zusammenstellte, sprechen nicht alle auf gleichgerichtete Weise über das Thema der Ruinen. Allein Petrarcas Brief läßt aus den Ruinen ein definiertes historisches Kontinuum erstehen, das der antiquae historiae. Grundton aller übrigen sind Schmerz und Groll über den Anblick fortschreitender Verelendung, den das Gesicht des alten Rom zeigt. Da bleibt an den Ruinen wenig zu bewundern, wenig zu rühmen. Poggio dokumentiert das Bild des Zerfalls am genauesten, aus naher Beobachtung; er ist auch aus einem weiteren Grunde die für Schedel wichtigste Stimme. Mit seinem Freund Antonio Loschi hat Poggio sich auf dem Kapital, dem höchsten Punkt der Stadt, niedergelassen und überblickt sie von dort in ihrer gesamten Ausdehnung. Während Loschi im Vergleich von Roms einstiger und nun zerschmetterter Größe sich dem Staunen über die grandiose Gewalt der Fortuna hingibt, läßt das Leidensbild der Stadt für Poggio nur Klage übrig: Nichts sieht man mehr heil, und daß überhaupt noch zerrüttete und zerfressene Reste stehen, rührt nur von Fortunas Unachtsamkeit in ihrem vernichtenden Spiel; verstümmelt liegt danieder, was einst vollendet und glänzend sich erhob, ist häßlich geworden, deformiert, kaum mehr identifizierbar. Poggio verlegt sich nicht auf allgemeine Klage, sondern fuhrt die Trostlosigkeit ungeschminkt Beispiel fur Beispiel vor Augen. Überdies aber haben die der Fortuna noch entgangenen Re(1463-1466) kennengelernt. Eine Paduaner Überlieferung, ebenfalls zusammen mit Petrarcas Colonna-Brief Fam. VI 2, in Oxford, Bodl. Library, Ms. d'Orville 513, Mitte 15. Jh., Bl. 4 6 53 v (Pogii Florentini oratoris et hystorici libellus de edificiis urbis Rome veteribus et nouis). Zur Text- und Überlieferungsgeschichte von Poggios De varietate fortunae vgl. die Ausgabe von Merisalo, S. 13-23, 55f. (Schedels Abschrift), 68f. (Oxforder Hs.); ders., „Aspects of the Textual History of Poggio Bracciolini's De varietate fortunae". In: Arctos 22 (1988), S. 9 9 112. Schedels Abschrift war anscheinend Vorlage fur einen Straßburger Druck von 1510; dazu Outi Merisalo, „Le prime edizione stampate del De varietate fortunae di Poggio Bracciolini II". In: Arctos 20 (1986), S. 101-129. 33

Campano, Brief an Matteo Ubaldi. In: Iohannes A. Campanus, Opera. Rom 1495 (GW 5939), Bl. [a8]r_v.

34

Giovanni Boccaccio, De casibus illustrium virorum VIII 17, Faksimile der Ausgabe Paris: Jean Petit, o. J., besorgt von Louis Brewer Hall. Gainesville/FL 1962, S. 203f.

35

Inc. Oblectat me Roma tuas spectare ruinas (Bertalot, Initia 3995). Auch in der wichtigsten Sammlung der Carmina Galeottos im Clm 650 (aus Schedels Besitz), Bl. 35Γ-353'. Ausgabe: Galeottus Martius, Carmina. Hg. von Ladislaus Juhäcz. (Bibliotheca scriptorum medii recentiorisque aevorum) Budapest 1932, S. 12-14, Nr. VII.

36

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ste die unwürdigste Behandlung und weitere Zerstörung von den Händen ignoranter Römer selbst zu dulden: Teile antiker Gebäude sind mit modernen verbaut und dienen als Salzkammern, im Theater des Pompeius weidet das Vieh, man gräbt Quader und Säulen aus, um aus ihnen Kalk zu gewinnen, und ähnliche Greuel mehr. Poggios demonstrierendes Pathos der Trostlosigkeit erzeugt Widerstand, entläßt den Appell, der Deformierung und Demolierung Einhalt zu gebieten, zu retten und zu bewahren, was noch übrig ist, den Appell, obscura oblivio, das Dunkel des Vergessens, nicht weiter um sich greifen zu lassen. Regelmäßiges Element von Poggios Ruinenbeschreibungen ist der Hinweis auf Inschriften, die sich an den Monumenten noch finden und die er teilweise im Wortlaut zitiert. Er verfugte über sie bereits aus eigenen älteren Sammlungen.37 Der Begründer einer planvollen Epigraphik, der er ist, hat sie als vergessene und verschollene Zeugen, nicht anders als Handschriften antiker Autoren, von früh an wiederaufzufinden und zugänglich zu machen gesucht. Inschriften können die Verifizierung unbekannter oder verkannter Monumente gestatten und deren ursprünglichen Lebensort kenntlich machen. Mangelnden Sinn fur Inschriftensuche stellte Poggio noch an Petrarca fest; auch dieser sei der vulgären Legende erlegen, bei der Cestius-Pyramide handele es sich um das Grab des Remus, weil er es versäumt habe, die von Gebüsch verdeckte Inschrift der Pyramide aufzuspüren.38 Inschriften gehören zum Gegenstandsfeld Ruine. Sie sind die letzte Kunde, durch die das steinerne Bruchstück noch über seine Herkunft zu sprechen, durch die es ein Gegenstand konkreter Erinnerung zu bleiben vermag. Diesen Zusammenhang von Ruine und Inschrift hat erst Poggio gesehen und konsequent verfolgt. Er hatte auch für Hartmann Schedel Geltung. Die Stimmen italienischer Humanisten über die Ruinen Roms, die Schedel eingangs seines Liber antiquitatum versammelte, sind Stimmen seiner Wahl. Sie wollen nicht ohne Schedels eigene Vorrede gehört werden; in deren Licht wird deutlicher sichtbar, welchem gemeinsamen Sinn sie Schedel unterstellte. Der sich über 16 Seiten breitende Prologus (Bl. 6-13 V ), der da beginnt: Quecumque ortum habent, occasum tandem pacientur, ist ein Exemplar von Vergänglich-

37

Zu Poggios epigraphischen Interessen und Arbeiten vgl. Emst Walser, Poggius Florentinus. Leipzig 1914, S. 145; Weiss (Anm. 1), S. 6 3 - 6 6 und 147; Poggio (Anm. 32), Kommentar, S. 180-190. Walser nannte Poggios epigraphische Pionierleistung, die 1429 veröffentlichte 'Sylloge', eine Sammlung meist römischer Inschriften, deren Entstehung bis 1403 zurückreicht, sein bedeutendstes Werk. Ausgabe der Sylloge Poggiana: Corpus inscriptionum latinarum. Bd. 6,1. Berlin 1876, S. XXVIII-XL. Zu Poggios Modellierung der Majuskeln in der von ihm entwickelten 'Humanistenschrift' nach den Majuskelformen römischer Inschriften vgl. Bertil L. Ullmann, The Origin and Development of Humanistic Script. (Storia e Letteratura 79) Roma I960, S. 54-56.

38

Poggio (Anm. 32), S. 93: Quo magis miror integro adhuc epigrammate doctissimum uirum Franciscum Petrarcham in quadam sua epistula [Farn. VI 2, 5 - 1 4 ] scribere id esse sepulchrum Remi, credo secutum uulgi opinionem non magnifecisse epigramma perquirere fructicetis contectum [...].

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keitsrede, das in der Massierung der Loci und der Beispiele von Vergänglichkeit seinesgleichen sucht. 39 Einem Panorama von vielerlei Art Hinfälligkeit des Menschen selber folgen Seite um Seite die civitates, nationes, urbes, imperia, die alle untergegangen sind, als letzte der Städte die größte, 'die je die Sonne beschienen hat', das antike Rom. Das Ganze der Geschichte ist bis hierher nichts als eine riesige und weiterhin offene Ansammlung von Vergänglichkeit - ein alter Gedanke, träte auch hier irdischer Zeitlichkeit jenseitige Ewigkeit, hiesigem Vergehen dortige Dauer gegenüber. Doch dies ist nicht der Fall. Schedels allgemeines Vergänglichkeitsgemälde trägt den Impuls in sich, Vergänglichkeit selbst aufzuheben. Ihrem Gesetz, das erst dann gesiegt hat, wenn Vergängliches auch vergessen ist, kann begegnet werden einzig durch Gedächtnis. Die Möglichkeit des Gedächtnisses ist eine Frage seiner Herstellung. Für das geschichtliche Gedächtnis kommt es allererst darauf an, dem Hinfälligsten, nämlich dem Älteren und Ältesten - und das sind die antiquitates mit ihren epigrammata und epitaphia - nachzuspüren, es wiederzuentdecken, zu sichern, zu bewahren. Instrument der Bewahrung aber ist die Schrift. 40 Schedel faßt den Gedanken einer Memorialkultur, die nicht christliche Memoria meint, sondern irdische geschichtliche, tendenziell menschheitlich geschichtliche Memoria. Sein Liber antiquitatum greift weiter, als sich die romorientierten Italiener, die er berief, äußerten, greift grundsätzlich über Rom und über die Antike hinaus. Aber Roms Ruinen blieben das unvergleichliche Paradigma von Vergänglichkeit und Vergessen und das am eindrücklichsten appellierende Paradigma, geschichtliche Memoria aufzubauen und zu bewahren. Roms Ruinen waren der Ausgangspunkt, und nur über ihre Schwelle hat sich sein Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus entfaltet.

39

40

Auch der Prologus harrt noch der Quellenanalyse. Sichere Hinweise auf italienische Quellen: Bl. 9V ist in die Zahl der untergegangenen Reiche eingereiht hoc nostrum Imperium·, Bl. 1Γ wird die Romani Imperij Inclinatio auf Alarichs Eroberung der Stadt datiert. Deutlich beteiligt sind, wenn auch kaum mit längeren wörtlichen Auszügen, Flavio Biondos Historiarum ab declinatione Romanorum decades. Bl. 12r: Cum nulla siquidem tanta sunt hominum constructa manibus opera, que non ruant, obscurentur et vetustatis morsus non reformident, nisi litterarum decor substentet, illustret et juuenescere faciat [...].

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III Schedel hat dem Uber antiquitatum41 ein Registrum generale vorangestellt (Bl. 2-3 v ); dessen Rubriken geben die abschließende Gliederung des in mehreren Stufen entstandenen Werks an. Schon dem Registrum entnimmt man, daß der Liber zwei Opera vereinigt, das unter dem Datum 1504 abgeschlossene große OPVS DE ANTIQVITATIBVS CVM EPITAPHIIS*2 (Opus I', Bl. 5-296 v ), dessen wichtigster Gegenstand Rom, das antike und das christliche, ist, und das weitaus kleinere OPVS DE ANTIQVITATIBVS CVM EPIGRAMMATIBVS INCLITE GERMANIE43 ('Opus II', Bl. 298r-344r), ein nachträglich begonnenes und erst 1505 vollendetes zweites Opus44, welches jedoch, bewußt auf das erste bezogen, dieses mit seinen deutschen antiquitates fortsetzt. Jedes der beiden Opera ist mit eigener Vorrede versehen. Die hier bereits erläuterte ist die des Opus I'; sie spricht desungeachtet als Rede über das Gedächtnis des Vergangenen für das zweite Opus mit. Schedel hat nach Beendigung des zweiten beide Opera gemeinsam binden lassen,45 dem Codex dabei außen den Gesamttitel Liber antiquitatum Cum Epitaphijs Epigrammatibus Ac plerisque alijs oblectatione et laude dignis46 gegeben, ihm vor allem aber vorn, vor Beginn des Textes, einen zweiseitigen Holzschnitt Roms und am Schlüsse einen ebenso zweiseitigen Nürnbergs einfügen lassen.47 Damit trat der ein größeres 'römisch-(griechisch-) italienisches' und ein kleineres 'deutsches' Opus umfassende Codex als eine bipolare Komposition in Erscheinung. Sie war freilich erst ein später, letzter

41

42

43 44

45

Schedel hat für das Gesamtwerk an verschiedenen Stellen zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Titel formuliert. Der hier verwendete Titel ist ein gekürzter Wortlaut des von Schedel letztwillig, beim Einband des Gesamtwerks, gewählten Titels (dazu unten mit Anm. 46). Er enthält alle wesentlichen Merkmale der sonstigen Titel- und Untertitelversionen. Dieser Wortlaut des Titels Bl. 5r. Die Überschrift des Prologs (Bl. 6') variiert den Titel: PROLOGVS IN LIBRVM ANTIQ VITA TV Μ CVM EPIG RAMMATIBVS INCIPIT FOELICITER. Bl. 296": Epitaphia ac Epigrammata [...] Collegi ea Ego Hartmannus Schedel [...] Anno domini Millesimo Quingentesimo Quarto, per tempus autumnale. Bl. 298': Prefacio in opus sequens de antiquitatibus cum epigramatibus inclite Germanie. Bl. 344': Finis foelix operis varij de antiquitatibus cum epigramatibus ac laude Germaniae Laus Deo 1505. Auf dem Spiegel des hinteren Buchdeckels steht Schedels eigenhändiger Einbandvermerk: Ligatus Anno domini 1504 die 20 Decembris [...]. Dieser Vermerk kann sich dem Datum nach, das er angibt, nur auf einen Einband des 'Opus I' beziehen; am 20. 12. 1504 bestand demnach nicht einmal der Plan eines fortsetzenden 'Opus II'. Der vorliegende Einband, der beide Opera faßt, konnte nur 1505 oder zu einem noch späteren Zeitpunkt hergestellt werden.

46

Dieser Titel steht in Textura auf einem Pergamentschild, das der Vorderseite des vorderen Buchdeckels aufgeklebt ist.

47

Beide Holzschnitte stammen aus Schedels Weltchronik (dort Bl. L V I f - L V I I l ' Rom und Bl. XCIX V -C' Nürnberg) und sind anscheinend noch von denselben Stöcken genommen.

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Werkgedanke für die unter wechselnden Gesichtspunkten gewachsene Kompilation.48 Während das kleinere 'Opus II' oberhalb seiner Kapitelfolge keine höhere Ebene der Gliederung aufweist, ist das große Opus I' weiter unterteilt, dem Registrum zufolge zunächst in zwei Partes. Die erste Pars, 330 Seiten stark (Bl. 6 179v), konzentriert sich, wenngleich nicht ausschließlich, auf Rom und die Antike; dem Material der Antiquitates und Epigrammata geht hier das erläuterte Ensemble von Rom-Texten italienischer Humanisten voran. Dieser Teil ist der älteste, ist sogar, versehen mit eigenem Kolophon, 49 ein von Schedel ursprünglich als abgeschlossen und selbständig betrachtetes Werk, das für sich einmal in den Druck gehen sollte. Die zweite Pars ist nochmals geteilt. Sie hat in ihrer größeren ersten Hälfte (Bl. 181 -243 v ) Antiquitates und Epigrammata italienischer Städte zum Gegenstand, und mit diesen hat Schedel das Werk zunächst wiederum abschließen wollen. 50 Die kleinere andere Hälfte der zweiten Pars (Bl. 245-296 v ) versammelt Epitaphia ac Epigrammata auf berühmte Männer und Frauen sowohl der Antike wie neuerer Zeiten; mit ihnen endet das Opus I'.51 48

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50

51

Schedel hat die Handschrift außerdem mit sieben Kupferstichen versehen, fünf von Jacopo de' Barbari und zwei anderen; er klebte sie vorhandenen Blättern der Handschrift auf. Die Stiche wurden indes im frühen 19. Jahrhundert herausgelöst und der Graphischen Sammlung in München übergeben, gleichzeitig aber durch Kopien (Lithographien) ersetzt. Abbildung aller Stiche bei Biatrice Hemard, Die Graphiksammlung des Humanisten Hartmann Schedel. (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge 52) München 1990: S. 52: Jacopo de' Barbari, Mann mit Krug und Wiege. Clm 716, Bl. 78". S. 140: Jacopo de' Barbari, Judith mit dem Haupte des Holofernes. Clm 716, Bl. 4r. S. 141: Jacopo de' Barbari, Hl. Katharina von Alexandrien. Clm 716, Bl. 346v. S. 168: Christus. Clm 716, Bl. 4av. S. 276: Drei Landsknechte im Gespräch. Clm 716, Bl. 345r. S. 290: Jacopo de' Barbari, Allegorie der Vanitas. Clm 716, Bl. 29v. S. 293: Jacopo de' Barbari, Frau mit Kind und Spinnrocken. Clm 716, Bl. 79r. Der Kolophon Bl. 179v: Antiquitates Cum Epigrammatibus Greets & Latinis : Et permaxime urbis Rome : que in ea exarata ac gesta sunt per varia tempora. A doctissimis eruditissimisque viris summa vigilantia et perscrutacione collecta. Finiunt foeliciter. Perscripsi hec Rara opera multo ingenio ac prece deprompta breui sermone ut postea in Lucem referre queant. Ego Hartmannus Schedel Artium ac utriusque medicine doctor. Anno domini Μ ccccc iiij. Nuremberge. Das Schlußkapitel dieser ersten Hälfte der zweiten Pars: PRECONIVM, GLORIA AC LA VDES STATVS VRBIS ROME NVNC EXTANTIS wird ausdrücklich als ein solches eingeführt: Cum in prineipio ab Vrbe Roma exorsi sumus: ut finis initio equetur, Comparationem in calce operis adiungemus (Bl. 24 Γ), und Bl. 243v steht der Kolophon: Antiquitates Rerum Italicarum: & preeipue Rome cum Epigramatibus: Et aliqua Rerum Graecarum monumenta Finiunt Foeliciter. Scripsi Ego Hartmannus Schedel Nürembergensis. Artium ac vtriusque medicine doctor. Anno domini. M.CCCCC1II1. Laus Deo. Bl. 296v: Epitaphia ac Epigrammata [...] Finiunt foeliciter. Collegi ea Ego Hartmannus Schedel Nürembergensis: Artium ac vtriusque medicine doctor. Anno domini Millesimo Quingentesimo Quarto, per tempus autumnale; Deo Optimo Maximo Laudes.

231

Hartmann Schedels 'Liber antiquitatum'

Der Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus ist somit in vier Stufen entstanden. Ihre von Schedel selber Zug um Zug bezeugte Sukzession ist seinem Registrum generale, einer Gesamtordnung letzter Hand, nur noch teilweise ablesbar: Entstehungsstufen

1(1502-1504)

11(1504)

III (Herbst 1504)

IV (1505)

Bl. 6 - 1 7 9 v

Bl. 181 -243*

B1.245-296 v

Bl. 298-344 r Prologus

Prologus Rom in seinen Ruinen Griechische Altertümer Etruskische Altertümer Epigrammata aus Rom und andere

Italienische Städte

Epitaphia und Deutsche Städte Epigrammata auf berühmte Männer und Frauen

Register Secunda pars

Prima pars 'Opus I'

'Opus II'

Die der ersten Stufe folgenden weiteren, die Antiquitates und Epigrammata der italienischen Städte (II), die Epitaphia ac Epigrammata auf berühmte Männer und Frauen (III), schließlich die Antiquitates cum epigrammatibus Deutschlands (IV), sind von ihr dem Gegenstande nach und auch struktur- und quellentypisch jeweils verschieden, und so veränderte, weitete sich mit jeder neuen Stufe die Konzeption des Werks. In der ersten Stufe des Liber kompilierte Schedel nach dem Prologus ausschließlich Schriften und Sammlungen anderer, ganz oder in Auszügen bis hinunter zu einzelnen Briefen und Gedichten; über eigene Funde, die hier hätten eingehen können, verfugte er nicht. Anders der als Serie sieben italienischer Städte mit ihren Antiquitates und Epigrammata verfaßte zweite Teil; in ihm brachte er, voran für Padua und Venedig, erste eigene Aufzeichnungen von Inschriften ein.52 Wieder anders der entstehungsgeschichtlich dritte Teil mit den Epitaphia ac Epigrammata auf berühmte Männer und Frauen; er hat mit Inschriften und echten Epitaphien nur wenig zu schaffen, sein Material ist weit überwiegend literarisch und verdankt sich Schedels Belesenheit in ungezählten

52

Die hier nach Maßgabe fremder und eigener Quellen getroffene Unterscheidung des entstehungsgeschichtlich ersten und zweiten Teils trifft Schedel ähnlich in der Einleitung des zweiten Teils (Bl. 181r) selber: Positis Deo auxiliante ac perscriptis Antiquitatibus cum Epigramatibus, Epitaphijs et alijs, que ab ext er is viris eloquentissimis acuratissimisque accepimus, Deinceps que Ego Hartmannus Schedel nurembergensis artium ac vtriusque medicine doctor patauinus perlustrans plerasque regiones, nobilia loca, vrbes insignes reper i ac libros clarissimorum virorum conquirens: Eorum Antiquitates ac rerum gestarum per modum epitomatis cum epigramatibus [...] describere [...] decreui [...].

232

Franz Josef Worstbrock

Büchern. Der vierte Teil, die deutschen Antiquitates cum epigrammatibus, ist ein Gegenstück zum zweiten, knüpft wie dieser an frühere eigene Inschriftensammlungen an. Jeder der vier Teile war in sich unabschließbar, und so blieb der in seinen verschiedenen Stufen fortschreitende Uber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus insgesamt ein offenes Werk. Die großen Rubriken und auch die 50 Abschnitte mit ihren Titeln, welche das Registrum generale auffuhrt, lassen nur unvollkommen erkennen, was der Uber zwischen den beiden Holzschnitten Roms und Nürnbergs tatsächlich enthält. Hier hat nicht professionelle Disziplin die Hand geführt, nicht genaue thematische Distinktion und strikter Ordnungssinn, vielmehr ergeht sich, am freiesten im großen ersten Teil, der Prima pars des 'Opus I', ein schweifender Sammler, der reichlich auch Zufälliges und Abseitiges aufnimmt, ungewogenes Kleingut einstreut und auch viel Persönliches. Ungeachtet seiner heterogenen Entstehungsstufen und seiner mancherlei Diffusionen in der Wahl und Anordnung des Materials hat das monumentale Ganze dennoch seinen Bau. Schedels Quellen sind verschiedener Art. Er ist, und dies will bemerkt sein, der erste in Deutschland, der Inschriften beharrlich gesucht und aufgezeichnet hat.53 Er sammelte seit 1462, 54 an Orten, die seine Lebensstationen waren, und

53

54

Die wichtigsten übrigen Schedel-Handschriften mit (meist autographen) Einträgen und kleinen Sammlungen von Inschriften und (literarischen) Epitaphien: Clm 72, Bl. 230'; Clm 78, Bl. 44 v , 49', 59 v -61 v , 64', 78v, 127v, 141', 152', 206', 206v, 207'; Clm 215, Bl. 48v, 49v, 50r, 53v, 55v, 257r; Clm 362, Bl. 34v ; Clm 369, Bl. 96-110', 155v, 158 -160'; Clm 414, Bl. 2 1 22', 209-215"; Clm 418, Bl. 110', 125-127', 133'-135 v , 155v; Clm 424, Bl. l r ; Clm 428, Bl. 273-275 v ; Clm, 443, Bl. 134'; Clm 504, Bl. IIV, 205v, 206'-214 v , 221 v -222 v , 268v, 272 r ; Clm 518, Bl. 180v; Clm 526, Bl. 146r; Clm 650, Bl. 358'; Clm 663, Bl. 162'; Clm 692, Bl. 158'. Text der Inschriften, die der junge Schedel 1462 in Tangermünde und Wilsnack notierte: Clm 215, Bl. 49 v . Die an einer Kapelle in Tangermünde gefundene Inschrift ist im Uber Bl. 324 v -325' wiederholt. Paul Joachimsohn (Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus. Leipzig 1910, S. 87), der über Schedels Inschriftensammlungen ein günstiges Urteil hatte, wollte als Schedels wesentliche Anreger „die Söhne des alten Gossembrot und besonders Sigismund Meisterlin" betrachten. Diese Annahme läßt sich indes so wenig sichern wie die andere naheliegende, sein Leipziger Lehrer Peter Luder, dem er nach Padua folgte, habe sein epigraphisches Interesse geweckt. Man kann nur feststellen, daß Inschriften Schedel von Anbeginn seines Paduaner Aufenthalts in einem Maße fasziniert haben wie nicht zuvor. Alle anderen nennenswerten Inschriftensammler unter den deutschen Humanisten, die man kennt - Jakob Wimpfeling, Thomas Wolf der Jüngere, Jakob Merstatter, Johann Hebelin von Heimbach, Dietrich Gresemund, Konrad Peutinger, Willibald Pirckheimer und andere - , sind jünger und begannen später. In Deutschland werden erst um 1500 das Aufspüren und das Studium von Antiquitates ein Element des Humanistenlobs; vgl. den Brief des Ulrich Zasius an Thomas Wolf den Jüngeren zu dessen Ausgabe von Konrad Peutingers Sermones convivales. Straßburg 1506, Bl. Aiij': Wolf habe in Rom unter Lebensgefahr abstrusa ignotaeque Romanae vetustatis monumenta ausfindig gemacht und studiert. Wimpfeling (Brief an Trithemius, 1492) rechnet die alten Inschriften, die er in Mainz und in vielen rheinischen Klöstern gesehen und gelesen hat, zu den

Hartmann Schedels 'Liber antiquitatum'

233

auf Reisen. Fündig wurde er in Padova, Conegliano, Venedig, 55 Treviso, Amberg, Regensburg, Eichstätt, Speyer, Köln, Aachen, Maastricht, Lüttich, Brügge und einigen anderen Städten. Zum andern haben ihm Freunde Beachtliches beigesteuert, vor allem die Nürnberger Lorenz Beheim und, nachträglich 1512, Willibald Pirckheimer. Das meiste aber entstammt nicht seiner Autopsie oder der seiner Freunde, sondern ist Abschrift aus Sammlungen anderer; es sind weit überwiegend italienische Vorgänger. Die den Sammler Schedel maßgeblich inspirierende Phase waren seine Paduaner Studienjahre (1463-1466). Hier hatte er Poggios Beschreibung der römischen Ruinen mit ihren mannigfach inserierten Inschriften kennengelernt,56 bereits das Officialium urbis Romae compendium des David Subtilis, das Opusculum De notis iuris des M. Valerius Probus und die zwölf Epitaphia Ciceronis kopiert,57 den hauptsächlich von dem Paduaner Giovanni Bernardo delle Valli geschriebenen Clm 78 mit den Venedig-Gedichten des Gianantonio Porcelio erworben,58 nahezu alle Epitaphe des Padua-Kapitels gesammelt59 und auch das auffälligste Stück des Liber antiquitatum angelegt, den Auszug aus den archäologischen Aufzeichnungen des Ciriaco d'Ancona von

55

56 57

58

59

Zeugnissen autochthoner deutscher Kulturblüte (Jakob Wimpfeling, Briefwechsel. Hg. von Otto Herding und Dieter Mertens. München 1990, S. 205 und 202 Anm. 2); zur Bedeutung von Epitaphien als Geschichtsquellen: ebd., S. 614. Zu Schedels verschiedenen Besuchen Venedigs vgl. seine Notiz Bl. 203 v : Cum post adeptum in Gymnasio Liptzensi liberalium arcium magisterium statueram ingredi Italiam. Cum peterem antiquissimam vrbem Paduam, vbi Studium medicine florebat, prius visere vrbem Venetam nobilem libuit, dumque Padue degebam, ob varia negocia sepius eam accessi. Perlustrans in ea loca aliqua que propter angustiam temporis epitaphia pauca colligere potui, iam perscribam. Siehe oben Anm. 32. David Subtilis (Bl. 173-179'): Clm 369, Bl. 88-94 v , mit der Datierung Padua, 10. März 1465. 'De notis' des Valerius Probus (Bl. 106-108', Auszug): Clm 369, Bl. 82-87 v . Die zwölf Epitaphia M. Tullij Ciceronis summi Oratoris xii sapientum senis versibus edita (Bl. 245-246") stehen, geschrieben von Schedels Hand, in seiner in Padua erworbenen Cicero-Handschrift Clm 277, Bl. 2 r -3 r . Zur Herkunft und Datierung des Clm 277 siehe den Kolophon am Ende von De natura deorum, Bl. 183r: Μ. T. Ciceronis de natura deorum libri tres finiunt foeliciter Anno m cccc° Ixv die 7 mensis maij padue. Die im Liber, Bl. 202 v -203 v eingetragenen Venedig-Gedichte Porcelios (Bertalot Nr. 3873 und 5472) stehen im Clm 78 auf Bl. 46'~v; in beiden Handschriften ist ein Iohannes Antonius Romanus als Autor genannt. Der Clm 369 enthält auf den Blättern 96-103 r - in anderer Anordnung - bereits 32 von den 44 Epitaphen und Epigrammen des Padua-Kapitels im Liber (Bl. 18Γ-196'), aber auch einige Stücke des Venedig- und des Mailand-Kapitels (Bl. 204'-205 r und 22 Γ)- Ferner gehen im Clm 369, Bl. 101", 103v und 110' fünf der sieben Texte des kleinen Conigliano-Kapitels (Bl. 207-208') voran. Nach den Paduaner Studienjahren (1463-1466) hat Schedel (um) 1468 in den Clm 369 auch in Deutschland notierte Inschriften eingetragen, die im Liber antiquitatum wiederkehren: Bl. 103 v -104 r zwei Inschriften aus St. Gereon in Köln (Liber, Bl. 330v—33 Γ) und Bl. 158 v -159 v zwei aus St. Marien in Brügge (Liber, Bl. 335™).

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seinen Reisen der Jahre 1443-1446 nach Griechenland und in die Ägäis (Kykladen).

IV Der Auszug aus Ciriacos Reisebericht (Bl. 32 r -62 v ) 60 eröffnet, nach vorhergehendem ganzseitigen Zwischentitel AVSPICE CHRISTO ANTIQVITATES VETVSTORVM EX VARUS REGIONIBVS COLLECTE INCIPIVNT FOELICITER (Bl. 31r), Schedels Dokumentation der Antiquitates und Epigrammata/ Epitaphia, das eigentliche Werk, eröffnet es gewählt und eindrucksvoll. Schedel hat seiner verschollenen Vorlage neben den griechischen Inschriften in großer Zahl Skizzen und Zeichnungen von Tempelruinen, Säulen, Kapitellen, Reliefs, Torsi entnommen und sie wiederholt. Dadurch unterscheidet er sich vom Großteil der übrigen Ciriaco-Überlieferung, welcher Abbildungen nicht kennt, und unterscheidet sich von ihm ebenso dadurch, daß er die Reiseschilderungen des Ciriaco rigide verkürzt.61 Die Dokumente der antiquitas waren sein Thema, nicht 60

61

Der Auszug, eingangs (Bl. 33r unterer Rand) mit dem titelartigen Vermerk Cycladum nobilia Monumenta comperta versehen, enthält Bl. 33-51 v (59 v ?) Aufzeichnungen und Abbildungen von Antiquitates in Mykonos, Delos, Naxos und Paros; er ist von Bl. 52' an nur noch lückenhaft ausgeführt; Bl. 60' setzt er, nun ohne Zeichnungen, wieder mit einer geschlossenen Folge von Inschriften aus Delphi, Euboia, Athen, Korinth, Pergamon, Sparta und Alexandria ein. Beschreibung des Ciriaco-Teils des Clm 716: Otto Jahn, „Intorno alcune notizie archeologiche conservateci da Ciriaco di Ancona". In: Bulletino dell'Instituto di corrispondenza archeologica (1861), S. 180-192. Jahn teilte S. 184 als erster mit, daß fflr Albrecht Dürers Zeichnungen Arion auf dem Delphin (Wien, Kunsthistorisches Museum, Ambraser Kunstbuch [Winkler 662], um 1514) und Allegorie der Beredsamkeit (ebd. [Winkler 664]) Schedels Abbildungen im Ciriaco-Teil (Bl. 58" und Bl. 42' [Hermes-Merkur]) die Vorlagen waren. Vgl. auch Josef Dernjac, „Die Handzeichnungen im Codex latinus Monacensis 716". In: Repertorium für Kunstwissenschaft 2 (1879), S. 304-307. Abbildungen: Albrecht Dürer, 1471-1528. Das gesamte graphische Werk. Bd. 1: Handzeichnungen. München 1970, S. 737 und 739. Fedja Anzelewsky, Dürer-Studien. Untersuchungen zu den ikonographischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen seiner Werke zwischen den beiden Italienreisen. Berlin 1983, S. 184, vermutet auch für Dürers Holzschnitt eines antiken Theaters (die erste seiner Terenzillustrationen) die Vorlage in einer entsprechenden Zeichnung des Ciriaco-Teil des Clm 716 (Bl. 39v). - Von Ciriacos Hermes-Merkur-Zeichnung findet sich ein dem Schedeischen sehr ähnliches Exemplar im Ciriaco-Auszug der Bodleian Library Oxford, MS Can. misc. 280, um 1470/80, Bl. 68'; Abbildung bei Charles Mitchell, „Ex libris Kiriaci Anconitai". In: Italia medioevale e umanistica 5 (1962), S. 283-299. - Vermutlich entstammt auch die griechische Inschrift (mit lateinischer Übersetzung) für Kaiser Hadrians Sohn Antoninus Pius, inc. AYTOKPATOPI ΚΑΙΣΑΡΙ ΘΕΟΥ ΑΔΡΙΑΝΟΥ ΥΙΩ ΘΕΟΥ ΤΡΑΪΑΝΟΥ, auf Bl. 91'~ν des Clm 716 einer Ciriaco-Handschrift; eine formulartypisch eng verwandte Inschrift für Trajan, inc. ΑΥΤΟΚΡΑΤΟΡΙ ΚΑΙΣΑΡΙ ΘΕΟΥ ΝΕΟΥ ΝΕΡΟΥΑ, steht auf Bl. 70v des Ciriaco-Auszugs der oben genannten Handschrift der Bodleian Library. Als geschlossenen Textteil beließ er nur dessen antikisches zweites Merkurgebet (Bl. 41v). Zu Ciriacos vier Merkurgebeten siehe Karl August Neuhausen, „Die Reisen des Cyriacus

Hartmann Schedels 'Liber

antiquitatum'

235

die Reisen des Ciriaco, der bei ihm als Autor unkenntlich wird.62 Schedels Versuch der archäologischen Dokumentation war im deutschen Humanismus gänzlich ohne Vorgang.63 Dem Ciriaco-Auszug Schloß Schedel ohne Schnitt eine andere, aber letzte Antikenabbildung an, die eines Grabreliefs aus Ostia (Bl. 63r), fuhr auf dem nächsten Blatte fort mit einer griechischen Inschrift von der Milvischen Brücke und einem in seiner Graphie kryptischen, heute nicht mehr nachweisbaren Epitaphium aus Zwickau (Bl. 65r_v) und kam nach zwei leeren Blättern, die erst nachträglich gefüllt wurden,64 zu Tibur (Tivoli), zu Giovanni Campanos Descriptio Tiburispulcherrima (Bl. 69r-70r).65 Campanos Schilderung, die über das moderne Siedlungsbild des Ortes stumm hinwegsieht, entfuhrt in eine ideale amöne Ländlichkeit: Weinlauben, Obstgärten, rauschende Bäche, der Anio, stete Brise von Süden, die Kulisse der Berge, die den weiten Blick säumen, der über Täler und Hügel hinweg den verschlungenen römischen Aquädukten folgt, unbesiegten vestigia vetustatis, die der Zeit widerstanden. Die Mauern der mächtigen alten aedificia, sie zieren die Landschaft: totum honestant agrum. Vieles ist in die Erde gesunken, und allenthalben liegen römische Gräber, aber es zeigen sich auch Säulengänge, fallen schöne Marmorreliefs mit lebensvollen Szenen in den Blick, stehen Statuen, an denen man die Meisterschaft des Künstlers bewundert. Es sei alles so beschaffen, daß man sich wie im Altertum selber vorkomme: ut in vestustate te esse censeas. Trauer über Verfall und Ruinen hat hier kein Wort, Würde und Schönheit der Antike wirken wie still bewahrt, anders als in Rom selber mit seinem Raubbau an den Monumenten, über den Campano zornig erschrak. Campanos idealische Tibur-Schilderung steht in Schedels 'Opus' für sich. Sie gibt keine Inschriften her, auch sonst kein Wissen, ist ein ästhetisch suggestiver Text, welcher die Reste vergangener Antike als Appell einer ruhenden Schönheit inszeniert, die genossen und verehrt werden will. Von Tibur kehrte Schedel nach Rom zurück: mit einem Blatt, das die Aufschrift ANTIQVITA TES VRBIS ROME und die antikisierende Zeichnung eines

von Ancona im Spiegel seiner Gebete an Merkur (1444-1447)". In: Diesseits- und Jenseitsreisen im Mittelalter. Hg. von Wolf-Dieter Lange. (Studium Universale 14) Bonn 1992, S. 147-169. Mit einer Ciriaco-Ausgabe haben begonnen Edward W. Bodnar und Charles Mitchell, Cyriacus of Ancona's Journeys in the Propontis and the Northern Aegean 14441445. (Memoirs of the American Philosophical Society 112) Philadelphia 1976. 62

Die in der 1. Person berichtende Redeform ist durchgehend getilgt.

63

Schedel hat, anscheinend noch vor 1500, einen zweiten Codex mit Inschriften angelegt, auch diesen mit Zeichnungen der Inschriftenträger (Gefäße, Grabsteine usf.): München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 27313, Bl. 2 - 3 5 ' , Uber epigraphicus. Dieser Codex, der Fragment geblieben oder nur fragmentarisch überkommen ist, wird hier nicht berücksichtigt.

64

Die Nachträge stammen teilweise aus Peutingers Romanae vetustatis fragmenta. Erhard Ratdolt 1505.

65

Campanus (Anm. 33), Bl. [a8]r.

Augsburg:

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Architekten auf dem Hintergrunde antiker Bauten (Ausschnitt des Colosseum) trägt (Bl. 71r); es dient als Titelblatt italienischer Texte, zweier Sonette und eines Gedichts Antiquarie prospetiche Romane Composte per prospectiuo Melanese de pictore (inc. Ο sommo Apollo, ο eterna influentia), das in 134 Terzinen Skulpturen und Monumente des antiken Rom feiert (Bl. 72-78 1 ). Es folgen Bl. 80-90 r , fingierte Zeugen einer historisch älteren, vorrömischen Schicht, etruskische Inschriften, die Annius von Viterbo66 gefunden haben will. 67 Die Bll. 93 v -105 v wenden sich erneut nach Rom zurück; sie enthalten eine Sammlung von nahezu 140 antiken Inschriften, meist Epitaphen, aber auch amtliche Epigraphik, die nach Schedels Auskunft Lorenz Beheim in Rom aufgenommen haben will, 68 ihm jedenfalls zugänglich gemacht hat. Es sind sämtlich Stücke des vorchristlichen Rom. Als Schlüssel zur zuverlässigen Lesung der Originalinschriften fügte Schedel Verzeichnisse usueller epigraphischer Abkürzungen und ihrer Interpretamente bei (Bl. 106 r -108 r ), darunter Exzerpte aus De notis iuris des M. Valerius Probus.

66

67

68

Etruskische Altertümer hatten das Interesse italienischer Humanisten seit Flavio Biondos Italia illustrata. Zu Annius von Viterbo und seinen etruskischen Erfindungen: Weiss (Anm. 1), S. 114, 119f. und 125f.; ders., „Traccia per una biografia di Annio da Viterbo". In: Italia medioevale e umanistica 5 (1962), S. 425-441; ders., „An unknown epigraphic tract by Annius of Viterbo". In: Italian Studies presented to Ε. R. Vincent. Hg. von Charles Peter Brand u.a. Cambridge 1962, S. 101-120. Vgl. auch Massimo Miglio, „Annio, Giovanni". In: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), Sp. 665. Schedel, der gewiß noch keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Annius' Mitteilungen hatte, entnahm sie zu einem Teil (Bl. 76 v -77 v ) vielleicht dem Druck Johannes Annius, Commentaria super opera diversorum auctorum de antiquitatibus. Rom 1498 (GW 2015), von dem er ein Exemplar (München, Bayerische Staatsbibliothek, 2° Inc. c. a. 3610) besaß. Nach einigen griechischen Inschriften (Bl. 82 v -83 v ) stehen Bl. 84 v -85 v wiederum 'etruskische' Inschriften, Bl. 87 v -90 v ihr von Annius Papst Alexander VI. gewidmeter Kommentar. Überschrift Bl. 93r: Haec Antiquitatum Monumenta ad Memoriam posteritatis aedita. Laurentius Pehem Germanus: Ε marmoribus ac sacris publicisque locis accuratissime in vnum Collegit. Ebenso deutlich schon im Prologus (Bl. 12r-v): Ego Hartmannus Schedel [...] quae monumenta [...] colligere potui [...] (in) vnum corpus complexus sum: Et primo ab exteris attamen eruditissimis: vt a Poggio Florentino [...] Atque a doctore Laurentio Beham Qui per annos ferme duos & viginti, Cum Cardinali Rodrico de Borgia vicecancellario, Postea Alexandre vi. papa appellate: dapiferi ac familie munus gessit, Pleraque ex collapsis ediflciorum ruinis Epigramata ac antiquitates rimatus est. Giovanni Battista de Rossi hat im Corpus inscriptionum latinarum, Bd. 6,1. Berlin 1876, S. XLII, nachgewiesen, daß die Inschriftensammlung, die Schedel von Beheim erhielt, auch in zwei älteren Handschriften vorliegt und bereits um 1430 entstanden ist (Anonymus Marucellianus), Beheim also schwerlich ein originäres Eigentum an ihr geltend machen konnte. Zu Lorenz Beheim (1457-1521), der 22 Jahre in Diensten des Rodrigo Borgia, des späteren Papstes Alexanders VI., war, vgl. die gründliche Studie von Christa Schaper, „Lorenz und Georg Beheim, Freunde Willibald Pirckheimers". In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 50 (1960), S. 120221.

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'Liber

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Zwei Sammlungen von Inschriften nun des christlichen Rom, die Karl VIII. gewidmete Sammlung des Petrus Sabinus69 und eine Sammlung von Epitaphien der Päpste, die sich aus Exzerpten der um 1160/70 verfaßten und um 1192 erweiterten Descriptio basilicae Vaticanae des Petrus Mallius70 ergeben sollte, brach Schedel nach kurzem Angang jeweils ab (Bl. 109-11 l r und Bl. 112-115 v ). 71 Nach den beiden fragmentarisch belassenen Stücken liest man über 60 Blätter hin eine umfängliche diffuse Folge von Texten, in die immer wieder auch einzelne Epitaphe und spätrömische Epigramme fallen, die im übrigen aber das Thema der Antiquitates beliebig überschreitet und zeitweilig verliert. Sie hat einen Zusammenhalt bestenfalls darin, daß Rom, doch meist nun das zeitgenössische päpstliche Rom, das Zentrum bleibt. Berichte und Carmina sind gesammelt zu Ereignissen der Papstgeschichte vom Tode Sixtus' IV. (1484) bis in die Jahre Alexanders VI. (1492-1503) und Pius' III. (1503), Dokumente zur päpstlichen Türkenpolitik, Carmina auf Personen des päpstlichen Hofes.72 Es fehlen darunter nicht Carmina deutscher in Rom lebender Verfasser, des Engelhard Funck,73 des Jakob Questenberg,74 und es liegt die Vermutung nahe, daß Schedel diese Carmina wie auch alle die zeitgenössischen römischen Texte von den Freunden in Rom selber zugeflossen sind. Den römischen Teil und damit die erste Fassung des Uber beendete er mit dem Officialium urbis Romae compendium des David Subtilis (Bl. 174-179'), einer Erklärung antiker römischer Staats- und Heeresämter. Der Gegenstandsbereich des Memoria-Buches, der seinen Ausgang vom antiken Rom genommen hatte und ungeachtet weiterer Ausgriffe und freier Abschweifungen von Rom dominiert blieb, erweiterte sich mit dem zweiten Teil des

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72

Zur ungedruckten Sammlung des Petrus Sabinus siehe Corpus inscriptionum latinarum. Bd. 6,1. Berlin 1876, S. XLV. Ausgabe der Descriptio basilicae Vaticanae des Petrus Mallius bei Valentini und Zucchetti (Anm. 14), S. 376^142; Schedels Exzerpte S. 394f. und 399f. Die Exzerpte aus Petrus Mallius hat Schedel anscheinend fortsetzen wollen; er ließ im Anschluß an sie nicht weniger als sechs Seiten (Bl. 114-116 v ) frei. Bl. 126 ν -136 Γ , 140Γ-143Γ, 1 5 0 - 1 5 Γ , 154-156', 159 v -165 v , 166 v -168 r , 169 v -170 v .

73

Carmina Funcks: Bl. 152 v -154 v , 159 v -163 v u. 169 v -170'. Engelhard Funck (1450-1513) aus Schwabach in Franken war von 1480 bis etwa 1500 in Rom als Anwalt tätig. Er galt bei den deutschen Humanisten seiner Zeit als namhafter Dichter. Vgl. Hugo Holstein, „Ungedruckte Gedichte oberrheinischer Humanisten". In: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte N.F. 4 (1891), S. 446-459; Otto Herding, Jakob Wimpfelings 'Adolescentia'. München 1965, S. 376f. mit Anm. 156f., 379.

74

Bl. 165Γ—166v Carmina an Lorenz Beheim, darunter eines von Questenberg. Jakob Questenberg (1460-1527), Doktor des Kirchenrechts, anerkannter Gräzist, befreundet mit Lorenz Beheim, war päpstlicher Brevenschreiber am Hofe Alexanders VI. Vgl. F. Gilldner, „Jakob Aurelius Questenberg, ein deutscher Humanist in Rom". In: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 38 (1905), S. 213-276; [Dieter Harlfinger,] Graecogermania. Griechischstudien deutscher Humanisten. (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 59) Weinheim 1989, S. 218-223.

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'Opus I' um eine neue Dimension: Nicht allein Rom, das antike und danach das christliche, sind mit ihren Antiquitates und ihren Inschriften erinnerungswürdig, sondern auch andere bedeutende Städte und ihre Viri illustres. Schedel schritt hier indes zu Exempla ausschließlich italienischer Städte voran, zu Padua (Bl. 181r-196r) und Venedig (Bl. 198r-206r), bedachte en passant auch Conigliano und Treviso (Bl. 207r-208v), die ihm aus seiner Studienzeit vertraut waren, kam zu Florenz (Bl. 209-215 v ) und Mailand (Bl. 216r-222r) und kehrte danach nochmals zu Rom (Bl. 223r-243v) zurück. Die italienischen Städte aber, Padua, Venedig, Florenz, Mailand, erscheinen hier nicht schon deshalb als bedeutsam, weil auch sie antike Gründungen sind, Padua - nach der Sage - an Alter Rom gar um 440 Jahre übertrifft (Bl. 181v), sie ragen vielmehr als nachantike, seit dem hohen Mittelalter aufgestiegene Städte hervor. So erweitert sich mit ihnen der Gegenstandsbereich der Memoria grundsätzlich auch in der Zeitlage: Gedächtnis und Rühmung greifen in die mittelalterliche Ära und die jüngere Vergangenheit bis zu Schedels eigener Zeit aus und gewinnen in ihnen ihren neuen Schwerpunkt. Die Kapitel über die italienischen Städte setzen sich jeweils aus zwei Texttypen zusammen, einer Stadtbeschreibung und einem Ensemble von Epitaphen und Epigrammen; die Epitaphe können zu einem Teil der Stadtbeschreibung inseriert sein. Die Beschreibungen, bis zum Dreifachen umfangreicher als die entsprechenden in Schedels Weltchronik,75 sind, ausgenommen die Rom-Beschreibung, Flavio Biondos Italia illustrata exzerpiert.76 Es sind Landes urbium,77 welche deren gewohnten Typus aber dadurch hinter sich lassen, daß sie die Lobrede als chronistischen Abriß der Stadtgeschichte ausbringen. Die Stadt als umgrenzter und bebauter räumlicher Zusammenhang bleibt ganz außer Betracht. Daher ist auch die Architektur der Stadt mit Vorzug Stationen der Stadtgeschichte eingeordnet, so wie sich die Baugeschichte mit Gründung und Wachstum, Macht und Wohlstand der Stadt, mit ihrem Wiederaufbau nach Zerstörungen, mit einem bedeutenden Stadtherrn unmittelbar verbindet. Zur Präsentation der Städte als

75

Vgl. in der Weltchronik Padua Bl. XLIIIf, Venedig Bl. XLIH v -XLIIII r , Treviso Bl. LIV, Florenz Bl. LXXXVI v -LXXXVII r , Mailand Bl. LXXIIr, Rom Bl. LVII'-LVIIf.

76

Flavius Blondus, Italia illustrata. Verona 1482 (GW 4423); hier Padua Bl. [H 8 ] r - f (Nona regio, Marchia Tarvisina)·, Venedig Bl. [G 7] V -H iijv (Regio octava, Venetiae); Florenz Bl. [A 8] V -B V (Secunda regio, Etruria); Treviso (Tarvisium) Bl. I ijr {Nona regio, Marchia Tarvisina)·, Mailand Bl. [G 5] V -[G 6] v (Regio septima, Lombardia). Schedels stets ziemlich wörtliche Exzerpte sind von unterschiedlicher Dichte, bisweilen mit kleinen Auszügen aus anderen Quellen kompiliert. Die darstellerische Konzeption der Italia illustrata, die geographisch-landschaftliche Einordnung aller Stadtbeschreibungen, ist, wie sich versteht, an Schedels Exzerpten nicht mehr kenntlich.

77

Dazu die methodisch fundierte und interpretatorisch ergiebige Arbeit von Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 88) München - Zürich 1986, bes. S. 17-37.

Hartmann Schedels 'Liber

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erinnerungswürdiger Orte gehören die Viri illustres, die in ihnen gelebt und deren Ruhm mitbegründet haben. Die wesentliche Neuerung der Städtekapitel ist die Aufzeichnung von Epitaphen und anderen Inschriften, im Falle Paduas die Aufzeichnung nahezu 40 meist von Schedel selbst vor Ort aufgenommener originaler Epitaphe (Bl. 183r, 184-185 r , 186 r -187 r , 188r_v, 192-196 r ): der Kaiserin Bertha (Gemahlin Heinrichs IV.), des ersten Bischofs Prosdocimus und anderer geistlicher Personen, bekannter Kriegshelden wie des Gattamelata, vor allem aber zehn bedeutender Ärzte und acht namhafter Juristen der Universität; hinzukommen später geschaffene Epitaphe für Antenor, den nach der Sage trojanischen Gründer der Stadt, für den Apostel Lukas, für den römischen Juristen Paulus, mehrere für Livius, die alle in Padua ihre Gräber haben. Die Sammlung ist wiederum gemischt mit anderem inschriftlichen Versgut, Gebeten an Maria und die heilige Justina und 27 Aufschriften einer allegorischen Bildergalerie in den Gerichtsräumen des Palazzo. Die Inschriften in Venedig, Florenz, Mailand, die Schedel verzeichnete, sind nicht ebenso zahlreich; sie konzentrieren sich auf die Mächtigen, die Dogen in Venedig, die Sforza in Mailand, in Florenz auf die Humanisten. Das die Antiquitates und Epitaphia der italienischen Städte beschließende Rom-Kapitel (Bl. 223-243 v ) ist als Fortsetzung der ersten Sammlung von Antiquitates urbis Romae (Bl. 71r ff.) entworfen, 78 wird aber im gegebenen Zusammenhang der Städtereihe in einem ersten Teil mit einer ausgedehnten Beschreibung der Stadt bestritten; sie besteht aus einem Kompendium von Flavio Biondos drei Büchern der antiken Roma instaurata.19 Der Inschriftenteil dagegen gehört fast ganz dem christlichen, dem päpstlichen und kurialen Rom. Er hebt auffällig nach Zahl und Präsentation der Texte Pius II. (Aeneas Silvius Piccolomini) heraus,80 den Schedel als den ihm nächsten und wichtigsten Schriftsteller verehr78

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80

Vgl. die Überschrift Bl. 223': DE ROMA[E] EP IG RA MA TIB FS QVE IN PRIORIBVS NON SVNT PERSCR1PTA ET POSTEA PER ME COLLECT A FVERVNT; ähnlich wiederholt auf Bl. 23 l r . Flavius Blondus, Roma instaurata. Verona 1481 (GW 3324). Schedels kompilierte Auszüge, die etwa ein Viertel des Umfangs der Roma instaurata erreichen, weithin wörtliche Auszüge, wiederholen nicht Biondos Rombild in nur verkleinertem Maßstab; dies läßt schon der Verzicht auf Biondos ausgedehnte Beschreibung der castra und anderer militärischer Anlagen des alten Rom erkennen; Schedel erwähnt sie nicht einmal. Seine Biondo-Rezeption, die hier nicht näher verfolgt werden kann, verdiente eine eigene Studie. Keine Person unter Hunderten hat in Schedels Liber eine ähnlich auszeichnende Wiedergabe ihres Epitaphs erhalten wie Bl. 236 r Pius II. mit der ganzseitig in monumentaler Capitalis ausgeführten Aufzeichnung der von seinem Neffen Francesco Todeschini Piccolomini formulierten Grabschrift. Ihr gehen Bl. 235r~v eine kurze Vita, ein zweites Epitaph, ein weiterer biographischer Abschnitt und ein von Aeneas selber verfaßtes Mariengedicht voran, und ihm folgen Bl. 236 v -238 v ein drittes Epitaph und zwei Preisgedichte auf ihn, dazu ein Epitaph auf den Patriarchen Alexander von Aquileja aus Aeneas' eigener Feder und eine Ansprache, die er 1462 in Rom bei der Überfuhrung des Hauptes des Apostels Andreas hielt. Sechs weitere Carmina des Aeneas finden sich Bl. 22r, 146r~v, 151 v -152 r , 235 v , 278 r ; schließlich eröffneten

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te. Den Beschluß des Kapitels macht unter der Überschrift PRECONIVM GLORIA AC LAVDES STATVS VRBIS ROME NVNC EXTANTIS eine Synkrisis der antiken Roma vetusta und der päpstlichen Roma praesens (Bl. 241-243 v ), eine geschlossene Wiederholung des Epilogs von Biondos Roma instaurata,81 Der letzte Teil des O p u s I' erweitert den Gegenstandsbereich der Epitaphe und Epigramme seiner Entstehungsstelle entsprechend um eine dritte Stufe. Die nahezu 250 EPITAPHIA AC EPIGRAMMATA ORATORVM, POETARVM ET CLARISSIMORVM VIRORVM [...] samt EPITAPHIA PRAECLARISSIMARVM MVLIERVM gelten Personen aller Zeiten, und es sind weit überwiegend nicht verortete, von Stein oder Erz abgelesene Epitaphe, sondern literarische Epitaphe, die nie Inschrift gewesen sind, Texte von vornherein literarischer Memoria. Die Unterscheidung des inschriftlichen und des nichtinschriftlichen Gedenkepigramms, die schon auf den früheren Stufen des Uber nach und nach gefallen war, ist hier vollends aufgehoben. Schedel hat der Fülle eine Ordnung zu geben versucht, sie in fünf Gruppen aufgeteilt, deren jede mit Epitaphen ihrer höchsten Repräsentanten beginnt: 1. EPITAPHIA ΟRA TOR VM (Cicero ...), Bl. 245-247 v , 2. EPITAPHIA POETARVM (Vergil...), Bl. 248-254(256/, 3. EPITAPHIA ILLVSTRIVM VIRORVM AC FORTIVM (Hector, Achill, Alexander, ... Kaiser Sigismund,... Karl der Kühne ...), Bl. 257-273(274) v , 4. EPITAPHIA CELEBERRIMORVM AC DOCTISSIMORVM VIRORVM ET ALIORVM QVI SANCTITATE : VIRTVTE : DOCTRINA : ALIQVO ELECTISSIMO ARTIFICIO ETC. FLORVERVNT (Christus, Johannes der Täufer, Petrus, ... Hieronymus, ... Gratian, ... Gerson, ... Johann von Dalberg ...), Bl. 275 r -285 v , 5. EPITAPHIA CLARISSIMARVMMVLIERVM: QVE VIRTVTE : ARTE : AVT ALIQVA NOTA CLARVERVNT (Maria, Anna, Katharina, ... Lucretia, ... Dido,...), Bl. 286 r -296 r . Die fünf Gruppen unterscheiden bedeutende Männer und Frauen, unterscheiden im übrigen sachlich nach Qualitäten, Fähigkeiten, Werken, durch die sie alle hervorragten oder doch namhaft waren. Eine wertende Unterscheidung zwischen den Zeiten, älteren und jüngeren, zwischen antiker und christlicher Welt lassen sie nicht aufkommen. Christliche und pagane Epitaphe und Gedenkepigramme stehen hier wie auch sonst in Schedels Liber als Teile eines gleichen Ganzen der

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und schlossen Auszüge aus seiner Türkenrede von 1454 Schedels Lob der Deutschen am Ende des 'Opus II' (siehe unten S. 242 mit Anm. 87). Mit elf eigenen Texten und sieben auf oder über ihn ist er im Liber die mit Abstand am häufigsten präsente Person. Biondo (Anm. 79), Bl. e iiij-[e 5]v. Schedels letzter Satz (Vnde breuifiiturum apparet [...] ac potencia uideamur) stammt aus Biondos Vorrede an Papst Eugen IV. (Bl. a r ).

Hartmann Schedels 'Liber antiquitatum'

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Denkwürdigkeit ohne Anstoß nebeneinander.82 Das christliche Epitaph, auch das echte, von einem Grabmal genommene, mahnt hier nicht mehr zu persönlichem religiösen Gedenken. Es gilt ein Prinzip der Denkwürdigkeit, das säkulare Bedeutsamkeit zur Bedingung hat, anderes nicht.83

V

Daß in seiner Sammlung der Antiquitates, Epitaphia, Epigrammata die deutsche nacio nahezu leer ausgegangen war, dieser zutreffende Befund, der befremdlich wirken werde, hat Schedel am Ende bewogen, einen eigenen 'deutschen' Teil, ein OPVS einzig DE ANTIQ VITA TIB VS CVM EPIGRAMA TIB VS INCLITE GERMANIE (Bl. 299-344 r ), nachzutragen. Unter den Gründen, die er in der Prefacio (Bl. 299-301 v ) für das offen bekundete Defizit geltend macht, wiegen ihm vor allem zwei, der Mangel an bedeutenden Schriftstellern, welche die Überlieferung von den Deutschen früherer Zeiten hätten bewahren können, und die zahlreichen Kriege, die in Deutschland antiquitas und epigrammata im Laufe der Jahrhunderte fast ganz vernichtet hätten. Die Spärlichkeit des Materials, die Schedel sich auf diese Weise erklärt, stand auch dem neuen Vorhaben bedenklich im Wege. Was Schedel aus 16 deutschen und burgundischen Städten84 an epigraphischem Material beigebracht hat, bleibt hinter dem, was sich ihm an Inschriften allein aus Rom bot, in der Tat unvergleichlich zurück. Daß er sich dennoch entschloß, wenigstens zu beginnen, wenigstens einen Schatten (quasi umbram) von deutschen Antiquitates vorzuweisen, begründet er mit demselben Leitsatz, dem schon anfangs die Vorrede des Opus Γ zur Begründung des Werks im ganzen zustrebte: Da alles der Vergänglichkeit anheimfallt, nichts Großes lange Bestand hat, vermag ihm Widerhall zu dauerhaftem Gedächtnis nur die rerum inscriptio zu schaffen. Daher gebieten aber auch die wenigen vetusta-

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Es sei beachtet, daß Schedel Christus nicht durch einen Offenbarungstext oder das Wort einer theologischen Autorität einführt, sondern durch das Zeugnis eines jüdischen Geschichtsschreibers, den Bericht im 18. Buch der Antiquitates des Flavius Josephus, somit als Weisen, Wundertäter, Lehrer, nicht aber in seiner Göttlichkeit: Fuit autem hisdem temporibus Jesus sapiens vir, si tarnen virum eutn nominare fas est. Erat enim mirabilium operum effector, et doctor omnium eorum hominum, qui libenter audiunt, que vera sunt [...] (Bl. 275r). Durch diese Wahl setzt er sich indes nicht Zweifeln an seiner Rechtgläubigkeit aus; sie ist vorgenommen in den Grenzen seines Gedächtnisbuches. Das Prinzip menschheitlicher Denkwürdigkeit ist zuerst in Boccaccios De mulieribus claris Prinzip einer Sammlung von Personen geworden. In der Reihenfolge des 'Opus II': Nürnberg, Amberg, Regensburg, Salzburg, Augsburg, Ulm, Bamberg, Würzburg, Mainz, Trier, Köln, Aachen, Lüttich, Antwerpen, Brügge; nachgetragen: Lyon. Einige weitere Städte (Frankfurt, Maastricht, Antwerpen, Mechelen) erscheinen nur in einer beschreibenden Skizze, weitere noch in einem summarischen Überblick (Bl. 324v).

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tes der Deutschen, die überdauert haben, ihren Untergang nicht zuzulassen und sie mit allen Kräften herauszustellen.85 Der konzeptionellen Verbindung des deutschen 'Opus II' mit dem um Rom zentrierten großen 'Opus I' fehlt es auch sonst nicht an deutlichem Ausdruck. Durchgeführt als Serie von Städte-Kapiteln, die sich jeweils in eine Stadtbeschreibung und eine Anzahl von Epitaphen und Epigrammen teilen, wiederholt das 'Opus II' in Thema und Anlage das zweite Stück des 'Opus I', die Präsentation der Antiquitates und Epitaphia italienischer Städte.86 Beschloß dort den Städte-Teil der epideiktische Epilog PRECONIVM GLORIA AC LAVDES STATVS VRBIS ROME NVNC EXTANTIS, so hier der Epilog LAVS ET PRECONIVM NOBILISS1ME GERMANIE(Bl. 338-343 v ). Die programmatischen und strukturellen Reprisen des 'Opus II' verknüpfen es mit dem Opus I', schaffen Zusammenhang, doch nicht ohne Differenz. Im nachgetragenen O p u s II' verbindet sich mit dem Memoria-Diskurs von vornherein ein zweiter, der humanistische Diskurs 'Deutsche Nation': Arm an Antiquitates und an scriptores ihrer langen Vergangenheit, darin Rom und Italien gänzlich unterlegen, müssen die Deutschen ihre vergessene, verschüttete Geschichte noch suchen und wiederfinden, um zeigen zu können, wer sie waren und wer sie sind. Diese Gesprächslage teilt Schedel mit den Wortführern des deutschen Humanismus um 1500, Celtis und Wimpfeling. Wie sie kann er, um Rang und Rolle der deutschen Nation zu bezeichnen, vorerst einzig auf die Translatio imperii verweisen - die kulturelle Translatio ist noch auf dem Wege. Daher ist das Thema seiner epilogischen LAVS ET PRECONIVM NOBILISSIME GERMANIE einzig, aber machtvoll der Preis der Deutschen als der Träger des römischen Kaisertums, durch das Gott sie über alle anderen Völker erhoben, aber auch zum Schutz der Christenheit bestellt habe, Preis der nie besiegten Deutschen und ihrer virtus und nobilitas, durch die sie zu Ahnherren des europäischen Adels geworden seien.87 85

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87

Bl. 300 r : Gesta quoque Germanorum eorumque opera magnißca nec longo tempore duratura sunt, cum tempestate, vi ac vetustate pereant. Aliud igitur erit resonantissimum ad sempiternam memoriam Rerum earum per celebratissimos viros inscriptio illudque in primis videri solet honestissimum videlicet Germanorum vestustates omni cura facere preclaras et quo maxime possimus studio aut/actis aut dictis illustrare nec eas pati occidere, quamquam perpaucae extent. Für die Beschreibungen der deutschen Städte bediente Schedel sich einschlägiger Stücke der eigenen Weltchronik. Darauf weist er selber vorweg hin (Bl. 303 v ): Harum sequentium Vrbium preclarissimarum et aliarum in Germania et Italia etc. descriptiones vberius perscripsimus in Cronica cum figuris et imaginibus, vbiplura laude digna reperiemus. Nunc que magis antiquitates et epigramata respiciunt subiungemus. Die Beschreibung Nürnbergs allerdings hat er größtenteils der Norimberga des Conrad Celtis entnommen. Der ins höchste Pathos greifende Eingang von Schedels Epilog und ebenso die Schlußpartie stammen ad verbum aus der - das gleiche in gänzlich anderer Absicht vortragenden - Rede des Aeneas Silvius zur Abwehr der osmanischen Expansion auf dem Frankfurter Reichstag von 1454. Text der Türkenrede: Pii II. P. M. olim Aeneae Sylvii Piccolominei Senensis Ora-

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Die im Epilog des deutschen 'Opus II' beschworene politische Fortdauer Roms im römisch-deutschen Kaisertum respondiert dem Epilog des Städte-Teils im Opus I'; nach diesem stellt sich, mit den Worten Flavio Biondos, Roms Fortdauer im kirchlich-kurialen Rom dar. Die beiden Epiloge geben den weitesten Zusammenhang, den Schedels Liber erreicht, erst in der Schlußkonzeption erreicht. Er macht den Liber, der mit Rom in seinen Ruinen begann, insgesamt zu einem 'römischen' Buch. In Schedels Sicht auf die zwiefache, die päpstliche und die kaiserliche Fortdauer Roms aber hat der Glaube an die Kontinuität des römischen Imperium im deutschen Kaisertum das größere Gewicht. Mit dem Preis der kaiserlichen Germania setzte er seinem Liber den Schlußstein. Die Rahmung des Liber in die großen Holzschnitte Roms und Nürnbergs88 festigte die umgreifende römisch-deutsche Kontur des Gesamtwerks. Blickt man zurück von Schedels Epilog auf die Sache des Liber, die Sammlung der Antiquitates, Epitaphia, Epigrammata selber, zeigt sich, bei aller krausen und zerfließenden Ordnung im einzelnen, eine in den größeren Linien sich durchsetzende Konzeption. Die Kompilationen des Liber schreiten von den Ruinen Roms, der appellierenden Beklagung ihres weiteren Verfalls, zur bewahrenden Aufzeichnung originärer griechischer und römischer Inschriften, über Rom und die Antike hinaus zu den Antiquitates und Epitaphia bedeutender Städte, zu vielfältigen Epigrammen schließlich, die unabhängig von Ort und Zeitpunkt ihrer Entstehung Akte des Gedenkens sind. Die Stufe um Stufe sich vollziehende Ausweitung des Gegenstandsfeldes, welches durch einen deutschen Anteil zu ergänzen nur spärlich gelang, Postulat blieb, erbrachte ein einzigartiges Großwerk, das sich zu seiner Zeit auch in seinem Leitgedanken neu und einzigartig ausnimmt, dem bereits in Schedels Prefacio gedachten Leitgedanken des Aufbaus einer universellen säkularen Memorialkultur. Mit ihm waren die Traditionen mittelalterlichen Gedenkens89 historisch überschritten.

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89

Hönes poliücae et ecclesiasticae. Hg. von Johannes Dominicus Mansi. Pars 1. Lucca 1755, S. 263-285; Schedels Auszüge: S. 274, Ζ. 11-29 (Eingang) und S. 274, Z. 29 - S. 275, Z. 5 sowie S. 275, Z. 26-20. Auf den Nachweis der weiteren Quellen sei hier verzichtet. Schedels Nürnberg-Beschreibung (Bl. 304-308') unterstellt den Anspruch der Stadt, seit alters Vorort des Reichs zu sein: Unter den verschiedenen Erklärungen des Namens der urbs Germanie tocius opulentissima et pulcherrima steht die Namensform Neromberga und deren Ableitung von Kaiser Tiberius Nero oder auch seines Bruders Drusus Nero voran; Wahrzeichen der Stadt ist die Kaiserburg, Cesarum et Rhomanorum Regum domicilium', die Stadt, decus imperii, beherbergt die Reichsinsignien seit ihrer Überführung von Prag durch Kaiser Sigismund. Dazu grundlegend die Beiträge des Bandes Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hg. von Karl Schmid und Joachim Wollasch. (Münstersche Mittelalter-Schriften 48) München 1984.

Erich Kleinschmidt (Köln)

Formation und Differenz Funktionale Konstellationen frühneuzeitlicher Etymologik

Wenn sich frühneuzeitliche Gelehrsamkeit dem Etymologisieren zuwandte,1 so bewegte sie sich im methodischen Stiftungsrahmen antiken Sprachwissens. Denkweisen und Verfahren sind dort in einer Weise festgelegt, daß sich mit ihnen scheinbar problemlos arbeiten ließ. Ein selbständiger Neubeginn stand deshalb zunächst nicht zur Debatte.2 Die Ordnung eines etymologischen Diskurses gründet dabei auf den gelehrten Verfahren, wie sie seit Marcus Terentius Varros (116-27 v. Chr.) Grundlagenwerk De lingua latina7, eingeführt waren, der seinerseits in ihm ältere, hellenistische Sprachtheorien tradierte. Varro unterschied vier Zugangsweisen (V,7) bei der etymologischen Analyse,4 deren numerische Systematik indes bei näherer Betrachtung keineswegs eindeutig nachzuvollziehen ist. Faktisch wird ein strukturelles Repertoire entwikkelt, das Erklärungen und Ableitungen ermöglicht und als gedankliche Figuren

Zur Praxis des Etymologisierens in der frühen Neuzeit vgl. zuletzt Andreas Gardt, Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 108 [232]) Berlin New York 1994, S. 361-364. Ebd., Anm. 64, die ältere Literatur zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Tradition. - Verweisreiche Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Etymologie finden sich bei Jost Trier, „Etymologie". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 2 (1972), Sp. 816-818, und vor allem bei Roland Bemecker, „Etymologie". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 1543-1556. Auf einen differenzierten, näher zu untersuchenden Übergangsmodus zwischen frühneuzeitlicher und mittelalterlicher Etymologie hat grundlegend verwiesen: Wolfgang Harms, „Funktionen etymologischer Verfahrensweisen mittelalterlicher Tradition in der Literatur der frühen Neuzeit". In: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Hg. von Wolfgang Harms und Jean-Marie Valentin. (Chloe. Beihefte zum Daphnis 16) Amsterdam 1993, S. 1-17. De lingua latina ist nur fragmentarisch überliefert. Ausgabe des Erhaltenen (Buch V - X von insgesamt 25): Marcus Terentius Varro, De Lingua Latina. Hg. von Georg Goetz und Friedrich Schöll. Leipzig 1910. Das ursprüngliche Werk behandelte die Etymologie in Buch IIVII, die Bücher VHIff. waren der Wortbildung und Flexionslehre gewidmet. Vgl. dazu - neben der älteren Arbeit von Robert Schröter, Studien zur varronischen Etymologie. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Abhandlungen der Geistesund Sozialwissenschaftlichen Klasse [1959] Nr. 12) Wiesbaden 1960 - ausführlich Wilhelm Pfaffel, Quartus gradus etymologiae. Untersuchungen zur Etymologie Varros in „De lingua latina". (Beiträge zur klassischen Philologie 131) Königstein/Ts. 1981, S. 14ff.

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begründet. Die angebotenen Muster verfugen über eine eigene Logik, die weniger in ihrer abstrakten Ausbildung als in der Art ihres Einsatzes Probleme aufwirft. Für den ersten etymologischen Deutungszugang gilt dies noch am wenigsten, weil er auf der für jeden kompetenten Sprachnutzer unmittelbaren, kausalisierten Evidenz von Ableitungen beruht (zum Beispiel fluvius zu fluere). Eine zweite Ebene der Erklärung betrifft bei Varro nur dichterisch neugebildete Wörter, deren Bildung (Derivation, Komposition, Onomatopöie) lediglich formal erklärt wird. Dies Verfahren gilt als eine historisch schon überholte Praxis der grammatica antiqua. Die dritte Stufe behauptet einen erkenntnistheoretischen Mehrwert, der sich auf den Anspruch einer Etymologie als Ausfluß von (spekulativer) philosophic! gründet, womit auf Prinzipien der stoischen Sprachtheorie rekurriert wird. Sie läßt sich auf alle vorkommenden Wörter und nicht nur auf die dichterischen anwenden. Zum Einsatz kommen semantische Tropi (Denkfiguren) wie Ähnlichkeit (Analogie), Gegensatz (Antiphrase), Relation (Teil/Ganzes), Kausalität (Ursache/Wirkung) usw.,5 mit deren Hilfe qualitative Worterklärungen vorgenommen werden. Scheinbar außerhalb dieser Systematik, die kaum im strengen Sinne eine solche zu nennen ist, kennzeichnen die varronische Etymologie noch zwei Verfahren der Erläuterung, die allerdings in der Folge besonders wirksam geworden sind.6 Das eine läßt sich als ein historisch-antiquarisches Verfahren beschreiben, das auf eine im aktuellen Wortgebrauch nur noch verborgene Ursache (causa) zielt. Historisches Wissen über vergessene Bräuche, Zustände und Vorgänge erlaubt es, eine Wortgeschichte zu geben. Das zweite bei Varro häufig gehandhabte etymologische Verfahren, das sich zuweilen mit dem ersten kreuzt, läßt sich als grammatisches7 bezeichnen, da es Lehnwortableitungen aus anderen Sprachen und archaisches Wortmaterial untersucht. Beide Konzepte bilden die Grundlage fur das, was Varro als vierte Stufe und zugleich als 'Königsweg' 8 der Etymologie bezeichnet. Er besteht in der Verbindung von Wissen (scientia) und Meinung (opinio), womit eine als sprachwirklich behauptete und eine nur hypothetisch angenommene Rekonstruktion voneinander abgegrenzt und zugleich als sinnvolle erkenntnisleitende Kopplung, wie sie auch 5

6 7 8

Der griechische Neuplatoniker Proklos (41CM85 n. Chr.) zählt 14 etymologische Tropi auf. Vgl. Schröter (Anm. 4), S. 46ff. Vgl. dazu Pfaffel (Anm. 4), S. 31 ff. Vgl. ebd., S. 35ff. Varros Text ist an dieser Stelle (V,8) in der erhaltenen Überlieferung korrumpiert, so daß die Lesart für den vierten Grad, ubi est aditum et initia regis nur zu erschließen ist. Vgl. Pfaffel (Anm. 4), S. 231 (mit Verzeichnis der Lesarten), bzw. S. 244, mit einer eigenen Konjektur ubi est adytum et initia regis („wo das Allerheiligste und die Mysterien des Königs sind"). Die Konjektur erscheint mir überzogen, da eine naheliegende Auflösung nutzlos aufgegeben wird. Setzt man an die Stelle von 'Mysterien' für initia die gängige Metonymie 'Anfangsgründe', so wirkt auch aditus weitaus plausibler.

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ein Arzt handhabt (V,8), eingeführt wird. Darin steckt der Versuch, Identitäten verborgener oder unbekannter Herkunft diskursiv im Rahmen von Regeln zu gewinnen und zu sichern. Die varronische Etymologie, diese disciplina originum verborum (V, suprascriptio), interessiert weniger in ihrer 'wissenschaftlichen' Relevanz9 als in ihrer geschichtlich wirksamen Vorbildlichkeit für die Art und Weise eines gedanklichen Umgangs mit Sprache auf der Wortebene. Etymologie als Denkform10 erscheint hier als weiter tradierbare Summe römisch-antiker Aneignung griechischer Vorgaben, an deren Anfang neben poetischen Namensspielereien Piatons Dialog Kratylos oder von der Richtigkeit der Benennungen steht. Was dort philosophisch grundlegend angedacht wird, erscheint bei Varro in eine linguistische Technik verwandelt. Er sieht die Wörter als Auflage (impositio) gegenüber den Dingen (V,l; VIII,7 beziehungsweise 27), deren faktische Urheberschaft allerdings im Dunkeln bleibt. Die Frage, wonach ein Wort benannt und wofür es verwendet wird," setzt angesichts von wahrgenommener Gegebenheit aktueller Sprache ein. Genealogie und Funktion der Wörter zu klären markiert das Erkenntnisinteresse des Sprachnutzers, wobei die doppelt eröffneten etymologischen Perspektiven bei genauerer Betrachtung in eine nur diachron und synchron aufgesplittete Funktionsgeschichte münden. Angesichts des in der Antike allgemein zugestandenen Werkzeugcharakters von Wörtern12 verwundert diese Pragmatik nicht. Die Eigenwertigkeit des genealogischen Aspekts kommt eher in der Entstehungsfrage von Sprache zum Tragen. Genealogisches Denken, das seine Wurzel in der Anthropologie der Verwandtschaft hat,13 begründet sprachliche Kontinuität und klärt Abstammungsverhältnisse.14 Umgekehrt erlaubt die Annahme einer Wortgenealogie den Blick in die Vergangenheit, weil das Gegenwärtige Spur (significatio) eines Ursprünglichen sein muß. Die Leistung der Wörter besteht in ihrer Bedeutung, so daß die etymologische Spurensuche sich einer gegenwärtigen wie vergangenen Referenzialität zu versi-

9

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11 12

Zum gegensätzlichen Status antiker und moderner Wortursprungsforschung vgl. ClemensPeter Herbermann, „Moderne und antike Etymologie". In: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 95 (1981), S. 22-48. So lautet der Titel eines materialreichen Exkurses in Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern-München 11 1993 (zuerst 1948), S. 486-490. Varro (Anm. 3), V,2: verbi naturae sint duae, a qua re et in qua re vocabulum sit impositum. Vgl. Piaton, Kratylos. In: Ders., Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Bd. 3: Phaidon. Symposion. Kratylos. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Leon Robin und Louis Meridies. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt 3 1990, 388a-c.

13

Vgl. dazu im mittelalterlichen Bezugsraum literarischer Texte Ralph Howard Bloch, Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Age. Chicago - London 1983.

14

Vgl. schon Platon, Kratylos (Anm. 12), 393b-c.

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ehern sucht, um eine 'Geschichte' entwerfen zu können. Der Etymologe versucht, Wörter erzählen zu lassen. Dieser Impuls taucht schon früh reflektiert im Zusammenhang der 'redenden Namen' im Epos auf, sei es als begriffliche Lesart (Hektor als 'der Führer', Thoas als 'der Stürmische' usw.), sei es als narrative Ableitung wie für das Mädchen Alkyone, das (nach Ilias 9,56Iff.) so heißt, weil ihrer Mutter das unglückliche Schicksal des Alkyon-Vogels zustieß. Aber auch Piaton liest aus den Namen Eigenschaften und Verhaltensweisen und damit eine personale Geschichte ab. 15 Das narrative Element der Etymologie wird von ihm aber nicht nur als sekundäre Auslegung funktionalisiert, sondern auch als primärer Vorgang der Wortentstehung eingebracht. Er geht davon aus, daß bei der Genese von Begriffen „ein ganzer Satz zu einem Worte geworden" sei.16 Dies wird dann am Beispiel „Mensch" (änthropos) vorgeführt, der die sprachliche Zusammenziehung eines Satzes über denjenigen sei, der „zusammenschaut, was er gesehen hat".' 7 Der Mensch als der sinnlich Erkennende trägt so die Geschichte seiner episteme als Namen mit sich. Eine etymologische Narrativierung schließt deren Hermetik wieder kommunikabel auf. Steckt in diesen Zuordnungen neben archaischen Vorstellungen von der Magie der Namen auch die sprachphilosophische Überzeugung, daß das Wesen der Dinge in ihren Bezeichnungen aufscheine, 18 so zeigt die weitere Entwicklung eine deutliche Tendenz zur phantasierten Namensdeutung. Was aus gelehrter Sicht im Hinblick auf reale sprachliche Gegebenheiten suspekt erscheinen mag, gewinnt als mentale und psychische Signatur Bedeutung. Das Spiel mit den Wörtern entbindet zum einen narrative Erklärungsqualitäten, zum anderen eröffnet sie für uns den Blick auf dabei leitende Interessen und Dispositionen. Wer die Geschichte der älteren, 'spielerischen' Etymologie zu lesen versucht, die sich selbst als ernsthafter und selbstverständlicher Teil des rhetorischen Systems verstand, öffnet ein ergiebiges, deiktisches Repertoire kultureller Bewußtseinsgeschichte. Dies gilt in gleicher Weise auch für die mental aufschlußreichen Verfahren der Volksetymologie (Paretymologie). 19 Das methodische Instrumentarium 'kreativer' Etymologie erweitert sich über Varro hinaus kaum, wenn auch er selbst nicht der eigentliche Vermittler bleibt. Für das Mittelalter wird dies vor allem Isidor von Sevilla, dessen rhetorische und wissenschaftliche Enzyklopädie ihre Summen unter dem programmatischen Stichwort der genetischen Etymologie versammelt: Etymologiarum sive originum libri XX. Wissen aus der Kenntnis von Ursprüngen herzuleiten, hat dabei weniger mit historischem Denken zu tun, obwohl bei den Erklärungen auch ge15 16 17 18 19

Vgl. die Beispiele ebd., 395a-c. Vgl. ebd., 399b. Ebd., 399c. Vgl. die Belege aus der antiken Rhetorik-Tradition bei Curtius (Anm. 10), S. 486. Vgl. dazu den anregenden Überblick bei Vittore Pisani, Die Etymologie. Geschichte - Fragen - Methode. Aus dem Italienischen übersetzt von Irene Riemer. (Internationale Bibliothek fiir allgemeine Linguistik 26) München 1975, S. 143ff.

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schichtliche Ableitungen auftauchen. Sie sind aber eher eine Sonderform als das generelle Modell. Der gedankliche Rückbezug auf den Ursprung gehört in das geläufige Muster eines der Antike und weit darüber hinaus bis in die frühe Neuzeit gültigen Verfallsmodells. Der Wandel der Lebenswirklichkeit und damit auch der Sprache ist kein Fortschritt, sondern Abfall vom ursprünglichen Idealzustand. Wenn dieser auch nicht selbst wiederherstellbar ist, obwohl Wünsche nach reformatio und restitutio dies artikulieren, so bleibt doch der Impuls, von ihm und der in ihm enthaltenen Macht zu wissen und diese Kenntnis zu überliefern. Ihm verdankt Isidors Werk Anlaß und Wirkung. Einer Etymologie, die die Frage nach der origo vocabulorum stellt, sollte es nach Isidor darum gehen, die vis verbi vel nominis per interpretationem zu sammeln beziehungsweise zu erwerben (colligere).20 Damit ist ein hermeneutischer Zugang formuliert, um in den Wörtern einen sprachlichen Sinn, die vocis ratio21 zu finden. Die (ein Gewaltmoment einschließende) Kraft (vis) der Wörter ist ihre Bedeutung. Sie zu entbinden macht das Eindringen in das funktionale Zentrum der Sprache aus. Etymologie erweist sich so betrachtet keineswegs als intellektuelle Spielerei, sondern als Erschließung eines kommunikativen Machtraumes, dessen Regeln man zu entwickeln, zu verstehen und zu beherrschen sucht. In der Suche nach der Macht der Wörter steckt aber zugleich das Wissen von deren Gefahrdung, vom Sich-Entziehen und vom Verlust des Sinns. Das Bewußtsein eines sprachlichen Grenzgangs kennzeichnet den etymologischen Diskurs, dieses „Spiel" des „Tauschs" von Zeichen in einer „Philosophie der universellen Vermittlung".22 Schon die varronischen Systematisierungen einer etymologischen Methodik und alle ihr folgenden antiken wie nachantiken Ansätze lassen erkennen, daß in der sprachlichen Ursprungssuche keine irrationalistische Spekulation stattfindet, wie das aus heutiger Sicht leicht scheinen mag. Die Entwicklung einer defmitorischen Nomenklatur (ex causa, ex origine, ex contrariis, ex nominum derivatione, ex vocibus usw.)23 und die Anbindung an die rhetorische Logik verweisen klar darauf, daß der Etymologie ein organisatorischer und disziplinierter Anspruch unterlegt wurde, der auf vernünftig begründeten Denkprinzipien beharrt. Eine analogische Ableitung24 zum Beispiel hat dann zwar keine sprachwissenschaftlich haltbare Wirklichkeit für sich, aber sie ist sehr wohl eine rational akzeptable, weil sprachlogische Strategie, Erkenntnis zu organisieren. Daß die 20

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Isidoras Hispalensis, Etymologiarum sive originum libri XX. Hg. von Wallace Μ. Lindsay. Oxford 1911 (Nachdruck ebd., 5 1985), hier lib. 1,29,1. So die Definition der Etymologia bei Julius Caesar Scaliger, Poetices libri Septem. FaksimileNeudruck der Ausgabe Lyon 1561. Hg. von August Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 2 1987, S. 142 A. Vgl. dazu Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. München 1974, S. 34. Hier nach Isidor (Anm. 20), 1,29,4ff. Zur Bedeutung eines analogistischen Ansatzes im Sprachdenken der frühen Neuzeit vgl. Gardt (Anm. 1), S. 370ff.

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Analogie eine selbstverständliche und notwendige methodische Bedeutung (vis) für die Sprachtheorie25 besaß, war seit der Antike Gemeingut, denn um Zweifelhaftes zu klären, mußte (und wollte) man es auf etwas Ähnliches beziehen, an dem kein Zweifel besteht, so daß 'Ungewisses durch Gewisses' bewiesen wird.26 Analogien herzustellen kann man als Spielerei ansehen, wenn man dies will, man kann aber im vergleichend querenden Verknüpfen sprachlichen Materials,27 das sich als Suche nach der nominis causa28 verstand, auch eine kreative IdeenWerkstatt sehen, die ihren Eigenwert hat. Das Urteil über das, was als etymologische Technik erlaubt oder verboten ist, kann von kulturellen Rahmenbedingungen nicht absehen. Die barocke Literaturtheorie entwickelt so im Kontext manieristischer Konzepte die Vorstellung einer Etimologia Arguta, deren Scharfsinn und auch Witz darin besteht, etwas con l 'acutezza dell 'ingegno dal vicin nome zu suchen (ricercare).29 Zum Ziel wird hier nicht eine philologische Rekonstruktion ursprünglicher Bedeutung, sondern die anregende, ingeniöse Verknüpfung von sprachlich disparatem Material. Grundlage dieses Verfahrens, die dem Diskurs über den Wortursprung eine bewußt erstrebte, gedankliche Diskontinuität einfugt, ist eine wirkungsästhetisch organisierte Rhetorik, deren Effekte als nur willkürliche Optionen einzustufen, Leistung und Zielsetzung verkennt. Etymologie ist ein Modus der rhetorischen Topologie, deren Strategie auf eine fortschreitende Enthüllung gerichtet ist. Dadurch gewinnt die Frage nach dem vergessenen Wortursprung ihr Interessenprofil. Die etymologischen Techniken überfuhren Sprache in eine neu entdeckte, bewußte Präsenz, die im alltäglichen, spontanen Gebrauch verloren ist. Im Aufdecken ihres Ursprungs wird die Repräsentanz der Wörter ihres unreflektierten Konventionalismus entkleidet und in eine neu durchdachte oder auch nur spekulativ entworfene Differenz überführt. Der Gewinn liegt in jedem Fall darin, dem Logos eine Geschichte seiner Möglichkeit zu geben. Die Etymologie versucht, den Vertrag zwischen Signifikant und Signifikat zu begründen und nicht einfach nur als gegeben hinzunehmen. Dies öffnet den Blick

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Die latinitas beruht nach griechisch-alexandrinischem Vorbild bekanntlich auf vier Grundlagen: natura, ratio, consuetude und auctoritas, wobei natura dem griechischen Begriff etymologia, ratio der analogia, consuetudo dem diälektos und consuetudo schließlich der historia entspricht. Vgl. Willy Sanders, „Grundzüge und Wandlungen der Etymologie". In: Etymologie. Hg. von Rüdiger Schmitt. (Wege der Forschung 373) Darmstadt 1977, S. 7^19, hier S. 16f.

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Vgl. hierzu M. Fabius Quintilian, Institutionis oratoriae Libri XII. Hg. von Ludwig Rademacher. 2 Bde. Leipzig 1965, 1,6,4: Eius [sc. analogia] haec vis est, ut id, quod dubium est, ad aliquid simile, de quo non quaeritur, referta et incerta certis probet.

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Zur Systematik vgl. Isidor (Anm. 20), 1,28,1, der acht Modi benennt: qualitas, comparatio, genus, numerus, flgura, casus, extremitas similium sibyllarum, similitudo temporis. Vgl. Quintilian (Anm. 26), 1,6,38.

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Vgl. Emanuele Tesauro, II Cannociale Aristotelico. Berlin - Zürich 1968, S. 382.

Hg. von August Buck. Bad Homburg -

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für einen zerbrechlichen Sprachkonventionalismus. Die Sprache der Dinge und die Sprache der Wörter werden dabei auf eigenwillige Art vermischt. Die Wörter werden zur anzeigenden Spur einer zu lesenden Welt, was sie selbst zu eigenen 'Texten' macht. Was normalerweise nur Ausdruck von Sinn ist, wechselt selbst auf die gegenständliche Ebene des zu Lesenden. Etymologie ist Lektüre des Worts und sie entwirft ihrerseits so einen bemächtigenden Kommentar sprachlicher Wirklichkeiten. Dies beinhaltet mehr als ein schlicht interpretatives Funktionsverständnis von Etymologie, wie es die antiken Rhetorik-Autoren und ihre Rezipienten aus späteren Epochen definitorisch ansetzten. Was sie zu höherer Bestimmtheit aufwertet, ist erst ein frühneuzeitlich ausdifferenzierter Denkrahmen, der sich in der gedanklichen Ausbildung der Emblematik niederschlägt. Um sie zu legitimieren, mußte ein eigenwertiger ikonischer Zeichenwert akzeptiert werden, dessen ursprüngliches Muster man in den Hieroglyphen zu entdecken meinte. In der renaissancehumanistisch unterstellten Annahme ihrer zugleich rätselhaften und doch evidenten 'Weltreferenz' 30 artikuliert sich das Bedürfnis nach einer unmittelbaren Sprache, wo die Dinge selbst bezeichnen. Ihre 'Botschaft' galt es zu entschlüsseln, was die Zuordnung von auslegender Textualität forderte. Überträgt man die ikonische Hermeneutik der Hieroglyphen auf die performative Materialität der Wortzeichen, so erschließt sich der Denkraum, in dem eine frühneuzeitliche Etymologik handelte. Die Wörter werden durch sie neu auf ihre 'Signatur' hin gelesen, dieses von Paracelsus erfundene signatum signum.31 Wie dieser im 'Buch der Natur' bildzeichenhaft lesen wollte, so beanspruchten die gelehrten Etymologen gleiches im 'Buch der Sprache'.32 Die Zeichensprache der Sprachzeichen als 'Wahrsprechung' (veriloquium),33 das heißt verbum ex

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Zum Begriff vgl. Jan Assmann, „Im Schatten junger Medienblüte. Ägypten und die Materialität des Zeichens". In: Materialität der Kommunikation. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Unter Mitarbeit von Monika Eisner u.a. Frankfurt/M. 1988, S. 141— 160, hierS. 153. Vgl. Theophrast von Hohenheim genannt Paracelsus, Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Medizinische und naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Bd. 12: Astronomia Magna oder die ganze Philosophia [...] (Probatia particularis in scientiam signatam). Hg. von Karl Sudhoff. München - Berlin 1929, S. 175. Eigenwilliger und bedeutender Vertreter einer Sprachsignaturenlehre ist dann Jakob Böhme. Vgl. dazu (im Zusammenhang der Natursprachenlehre) ausfuhrlich jetzt Gardt (Anm. 1), S. 89-100. Im Gegensatz zum durchweg belegten liber naturae gibt es keinen frühneuzeitlichen oder auch sonstigen Beleg für einen liber linguae. Trotzdem halte ich aus methodisch veranschaulichenden Gründen die Einführung dieses Parallelbegriffs, der mit entsprechenden Buch-Topoi (Buch des Gedächtnisses/der Erfahrung/der Geschichte usw.; vgl. die Belege bei Curtius [Anm. 10], S. 593, Register s.v. Buchmetaphorik) korrespondiert, für sinnvoll, weil so das etymologische Umgangsverhalten angemessen charakterisiert wird. Vgl. Scaliger (Anm. 21), S. 131 D, im Definitionszusammenhang der Etymologia. Veriloquium ist dabei nur 'wörtliche' Übersetzung von griechisch etymologia, die auf Cicero, Topica

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verbot ableitend zu entschlüsseln, war ihr Anliegen. Die methodischen Möglichkeiten dafür kamen zum Teil aus der philosophischen und der ihr folgenden rhetorisch-grammatischen Lehrtradition. Doch trat noch anderes hinzu, das von dort nicht zu beziehen war. Der Blick auf das sprachliche Material mußte sich verändern. Den dinglichen Charakter der Sprache selbst galt es zu entdecken. Zum einen trat er in der Schrift auf, zum anderen aber in der substantiellen Elementarität der Wörter. Im Falle von Zusammensetzungen (vor allem bei Namen) war diese scheinbar leicht aufzudecken oder zu (er)fmden. Philipp erscheint dann als Zusammensetzung von philos und hippos?5 also als derjenige, der sein Pferd liebt. Lassen sich Wörter nicht auf diese Weise segmentieren, so gilt es ihren Kern zu klären, so daß auf mulier 'Frau' das Bedeutungssubstrat mollis 'weich/mild/ zärtlich' projiziert wird: quasi Mollier.36 Die linguistisch fragwürdige Basis37 spielt hierbei keine Rolle, entscheidend ist die Entdeckung eines Bedeutung induzierenden Systems hinter der Sprache, daß diese als ein Netz von 'sprechenden' Bezügen erscheinen läßt. Das Phantasma einer 'Sprachlogik' 38 kommt hier zum Zuge, deren Strukturen im etymologischen Diskurs aufscheinen. Gelehrte frühneuzeitliche Praxis verfährt dabei nach den erprobten und verinnerlichten Grundsätzen der Rhetorik, die aus ihrer Technik der Stoffbeherrschung das operative Inventar zur Verfugung stellt, wie ein Gesamtes variabel aufzubereiten sei. Zwei Gestalttypen des Ganzen sind dabei abzugrenzen 39 Die eine betrifft eine zeitlich und räumlich vorgefundene Gesamtheit, in deren Invarianz man nutzend eintritt. Zu diesem Typus zählt die Sprache als ein in sich ru-

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7,31 zurückgeht. Dieser zieht selbst aber seiner Neubildung begrifflich doch die Bezeichnung notatio vor, die auf dem aristotelischen Terminus symbolon fußt (ebd.). Vgl. diese Definition für das veriloquium bei Quintilian (Anm. 26), 1,6,28: nam verbum ex verbo ductum, id est veriloquium [...]. Vgl. Tesauro (Anm. 29), S. 382. Ebd., S. 382, als angebliche Fundstelle aus Varro: Et Mulier, che secondo Varrone prendre il nome della mollezza, quasi Mollier. In Wirklichkeit geht das Varro-Zitat auf Lactanz zurück: item mulier, ut Varro interpretatur, a mollitie immutata et detracta littera, uelut mollier (Lucius C.F. Lactantius, Opera Omnia. Bd. 2/1: Libri de Opiflcio dei. Hg. von Samuel Brandt und Georg Laubmann. [Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum 27,1] Prag Wien - Leipzig 1893, 12,17 [S. 46]). Zur schwierigen Etymologie von mulier vgl. Alois Walde und Johann Baptist Hofmann, Lateinisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 3 1954, Bd. 2, S. 122. Diese Vorstellung geht auf Umpolungsprozesse im Wissenschaftssystem des 12. Jahrhunderts zurück, worauf Curtius (Anm. 10), S. 66, mit Nachdruck verwiesen hat. Um sprachliche und literarische Studien gegenüber dem neuen Führungsanspruch von Theologie und Philosophie zu legitimieren, wird der traditionellen grammatica das Kriterium aufgesetzt, eine grammatica speculativa zu sein und sie so als 'Sprachlogik' höher bewertbar zu machen. Vgl. dazu Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie. München 3 1967, S. 31f., § 56, der die beiden Typen als „zirkuläres Ganzes" und als „lineares Ganzes" begrifflich etwas problematisch differenziert.

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hendes System. Die zweite Ausformung erfaßt ein Ganzes, das in der aktuellen Realisierung erst konkretisiert wird. Hierzu zählen die Rede, der Satz, das Wort und der Laut. Die aktive Anpassung erfolgt mit der Hilfe von vier Änderungskategorien: Hinzufugung (adiectio), Auslassung (detractio), Platzwechsel von schon Existentem (transmutatio) und Austausch zwischen Vorhandenem und Neuem (immutatio).40 In diesem abstrakten Instrumentarium artikuliert sich eine hochintellektualisierte Praxis materiellen Gestaltens, deren Anwendung im etymologischen Diskurs diesen nicht zur Sonderform werden läßt. Die Definition und Variation des Wortkörpers folgt den allgemeinen Regeln einer rhetorischen Verfahrenslogik. Das Spezifische des Einsatzes liegt im Ziel, der utilitas causae. Wie der Redner fur etwas persuasiv vereinnahmen möchte, so will der Etymologe über die Arbeit am behandelten Wort diesem seine ursprüngliche Bedeutung und damit sein wahres Wesen (etymon) wiedergeben. Die Rede darüber und die dabei eingesetzten Techniken ganzheitlicher Figuration dienen dazu, (sprach)geschichtlich eingetretene Überschichtungen zurückzunehmen. Da dies unter dem Anspruch wahrer Signifikation geschieht, geht es um kein philologisches, sondern um ein ethisch gebundenes Interesse. Daran erinnert die stete Kritik gegen die stolzen Grammatici und Sophisten mit ihren verkehrten Wortauslegungen, von denen etliche aus den Worten die Meinungen, etliche aus den Meinungen die Worte erzwingen wollen, wie Agrippa von Nettesheim sarkastisch anmerkt.41 Überlagert sich in diesem Angriff auch eine weitläufigere hermeneutische Problematik mit dem spezielleren Zugriff der Etymologie, so weist das Argument doch auf den grundsätzlichen Zusammenhang von Wortsinn und Wahrheit. Er ließ sich auf vielerlei Weise austragen, wie dies das ganze mittelalterliche Gedankengebäude vom geistigen Schriftsinn zur Genüge illustriert. Jenseits spiritueller Bedeutungsgewinne kommt der Etymologie aber eine besondere Funktion zu. Ihr Wahrheitsbegehren hängt mit der Suche nach dem Ursprung der Wörter zusammen. J.C. Scaliger verknüpft denn auch seine assertio Etymologiae mit der sie motivierenden Frage: Quid enim occultius veritate?42

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Vgl. ebd., S. 32, §§ 59-62. Agrippa ab Nettesheim, De incertitudine et vanitate scientiarum declamatio invectiva [...]. Köln: Theoderich Baum 1586, Bl. C5V (Kap. III De grammatica): Sunt inßnita horum similia: et miserandum est aetate nostra, quantas contentiones et errores moveant pertinaces grammatici et superbi sophistae suis perversis vocabulorum interpretationibus, dum alii ex verbis colligunt sententias, allii contra ex sententiis colligunt. - Die deutsche Fassung zitiert nach: Agrippa von Nettesheim, Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. Hg. von Fritz Mauthner. München - Wien 1913 (Nachdruck Wiesbaden 1969), Bd. 1, S. 33 (Kap. 3). Julius Caesar Scaliger, De causis linguae Latinae libri Tredecim [1540]. Heidelberg 1623, S. 446 (Kap. CXV).

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Für das antike Sprachdenken genügte die grundsätzliche Verknüpfung von Wahrheit und Bedeutung. Im christlichen Sprachbewußtsein wird diese allgemeine Legitimation überhöht. Der Gewinn eines 'richtigen' Wortwissens über die gedankliche Rekonstruktion einer wahren Urszene allen Sprechens {der einigen sensualischen Zungen, darinnen alle Sprachen liegen)43 gewährt Anteil an der paradiesischen Stiftung der Sprache, am adamitisch 44 geprägten Wort. Die philosophische und rhetorische Medialität der Etymologie schafft dann Zugang zur göttlichen Wahrheit, was vor allem im Mittelalter zu hochkomplex aufgefächerten Zugangsbemühungen bewog. 45 Etymologie wird so zum Träger eines geheimen Wissens, das die Wörter und die sie bildenden Buchstaben zum Gegenstand einer geradezu meditativen Praxis 46 macht. Derartige Verinnerlichungen und Überhöhungen sind für den etymologischen Diskurs nur zeitweise von Gewicht gewesen. Seine Verbindung mit der allegorisierenden Textpraxis des Mittelalters beruht auf einer gemeinsamen Schnittstelle, dem Wort. Dient die geistige Schriftsinnauslegung aber einer spirituellen und heilsgeschichtlichen Funktionalisierung, so hat diese für die Etymologie nur wenig Bedeutung. Sie beharrt auf dem eigentlichen Wortkörper, seinem Zeichencharakter und dessen medialer Auslegung. Ordnet die Allegorese den Wörtern zusätzliche Signifikate zu, so geht es der etymologischen Bemühung um die Aufdeckung eines Signifikaten Bedeutungskerns, der von allen historischen wie aktuellen Überlagerungen befreit werden muß. Die ontologische Entität der Phänomene (im Falle des allgemeinen Wortschatzes) und der Personen (im Falle der Namen) wird dabei als objektive Basis angenommen. Die Schriftsinndeutung hingegen sucht nach den möglichen Aufladungen für die genutzten Erscheinungsformen sprachlicher Gegebenheit und schreitet dabei metonymische Spielräume von pluraler Abweichung aus. Der etymologische Diskurs der frühen Neuzeit kennt keine Arbitrarität des sprachlichen Zeichens, obwohl dies die scheinbar willkürlichen Ableitungen und vielfach assoziativen Vernetzungen zwischen Wörtern unterschiedlicher Sprachen nahezulegen scheinen. In diesem Ausschreiten von Herkunftsbedeutungen und ihrer die sprachliche Vielfalt querenden Identifikation steckt kein Gedanke an Willkür. Die Etymologie gründet sich vielmehr auf die Überzeugung einer 43

Jakob Böhme, Mysterium Magnum, oder Erklärung über Das Erste Buch Mosis [1623], zitiert nach Gardt (Anm. 1), S. 26.

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Vgl. Gen2,19f.

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Vgl. dazu umfassendes Material bei Roswitha Klinck, Die lateinische Etymologie des Mittelalters. (Medium Aevum 17) München 1970, unter anderem S. 186 zu Thomas Cisterciensis (12. Jh.), der einzelne Wörter wie notae behandelte, die etymologisch aufzulösen sind. In einem Lautbild sieht er (durch Kombination mit der Textallegorese) drei- oder vierfache Sinnebenen konkretisiert und entwickelt dementsprechend eine drei- beziehungsweise vierfache Wortetymologie.

46

Vgl. dazu Friedrich Ohly, „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter" [1958/59], In: Ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 2 1983, S. 1-31.

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subtantiellen Invarianz der Wörter. Deren performative Zeichenrealität steht dem zwar als Störfaktor entgegen, ist aber aufzulösen. Welche Bemühungen dafür aufgewandt wurden, diese in allen Wörtern vorhandene Ursprünglichkeit im konkreten Sprachmaterial aufzudecken, darauf verweisen schon antike Konjekturen. Beliebt war das Verfahren, durch Hinzufugung, Umstellung oder Weglassung von Buchstaben Gemeinsamkeiten und Beziehungen zu konstruieren. Barocke Gelehrsamkeit bringt dies zur Hochblüte, wenn der niederländische Polyhistor Vossius (1577-1649) einen De literarum permutatione tractatus verfaßt, in dem er eine umfangreiche systematische Liste von etymologischem Phonemwandel entwirft.47 Ob dieser zum Teil sogar sprachhistorisch zutrifft oder ob er schierer (von Vossius ernst gemeinter) Spekulation entspringt,48 spielt fur den darin aufscheinenden Denkhorizont keine Rolle. Entscheidend ist das Muster eines universalen Sprachbaus, der auf Exaktheit gründet. Mit diesem planmäßig umzugehen, ist die ratio des etymologischen Wissens, das unter der wandelbaren Gestalt der Wörter ihre ursprüngliche Form und eigentliche Bedeutung erkennt. Die Renaissance-Debatten um eine Ursprache, die dann im 17. Jahrhundert zur Idee einer Natursprache wird, zentrieren sich in ihrem Bemühen, die Nähe oder Ferne der aktuellen Sprachen davon zu erörtern, um den Gewinn von Eigentlichkeit. Das erklärende Spiel mit den Signifikanten, wie sie etymologische Technik in gelehrter oder auch laienhafter Praxis betreibt, verhandelt stets im Hinblick auf den bedeuteten Sinn der Wörter, auf ihre Signifikate. Sie bilden den Schnittpunkt aller sprachlich wahrnehmbaren Performanz. Das Wesen der Dinge geht ihren Bezeichnungen voran, deren formale Vielfalt daraufhin wieder zurückzulesen ist. Die Auslegung des Ursprungs von Wörtern beschäftigt sich mit der verwirrenden Welt der Sprachzeichen, in der Ordnung nur aus der immer schon vorhandenen Existenz von vorgängigen Vorstellungen und Bedeutungen zu gewinnen ist. Der etymologische Diskurs setzt in der Sprache noch vor aller jüdischchristlichen Schöpfungslegitimation ein konstellatives Ursprungssystem voraus, das als immer schon gegeben gedacht wird. Daraus ergibt sich für die Signifikanten eine Selbstpräsenz der Eigentlichkeit. Die etymologische Lektüre der Wörter erschließt diese als Spuren eines verborgenen Systems von bezeichneter Wahrheit. Im Horizont dieses Denkens hat eine philologische Faktizität kaum einen

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Der Traktat war mir zugänglich im Vorspann zu Gerardus Johannes Vossius, linguae Latinae. Amsterdam: Elzevier 1662.

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Z.B. stellt Vossius das Wandlungsgesetz „CH mutatur in M" auf und führt als Beispiel lateinisch mille an, das von griechisch chilioi komme (ebd., Bl. Bl v ). Die Bedeutungsgemeinschaft Ί 0 0 0 ' führt zur Annahme einer phonematischen Varianz, die ftir Vossius systematischen Stellenwert hat. Faktisch liegen die hier nicht näher zu erörternden Verhältnisse weitaus komplizierter. Vgl. Johann Baptist Hofmann, Etymologisches Wörterbuch des Griechischen. München 1950 (Nachdruck Darmstadt 1966), S. 418.

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Stellenwert. Was zählt, ist allein der dechiffrierende, aufhebende Zugriff auf die Ausdruckssubstanz. Die frühneuzeitliche Suche nach dem Ursprung der Wörter denkt diese als mikrologische Anordnungen einer ganzheitlichen Wahrheit, die in ihnen aufzuschließen ist. In ihrer Medialität selbst wird keine unmittelbare Gewißheit zu erreichen sein, da der Sprache aufgrund ihrer metaphysischen Begründung ihr Geheimnischarakter nicht nehmbar ist. Die Sprache vermag nicht hinter ihren Ausgangspunkt zurückzugehen. Sie kann sich aber der Präsenz ihrer Ausdrucksträger versichern. Die gedankliche Grundlage des etymologischen Diskurses folgt deshalb einer theologischen Exegesestruktur, die nicht Enthüllung will, die das Geheimnis des göttlichen Wortes vernichtete, sondern dessen Offenbarung, die ihm gerecht wird. Den Weg, auf dem dies möglich ist, hat das System des mehrfachen Schriftsinns gewiesen. Es geht um ein Verfahren der Metonymisierung, der Begriffssubstitution, das nicht in einer endgültigen Bedeutung zur Ruhe kommt. Die gelehrte Etymologie des 16. und 17. Jahrhunderts entwirft und unterstellt für die Wörter, deren Herkunft sie sich zuwendet, eine wesenhafte Präsenz ihrer Gegenständlichkeit, ohne daß in den meisten Fällen eine wirkliche, konkrete Referenz bestünde. Die begriffliche Besetzung ist 'blind', das heißt sie kann sich einer begründenden Identität ihres Ursprungs nicht versichern. Die semantische Überschreibung, wie sie im etymologischen Deutungsakt dieser Epoche vorgenommen wird, ist vielmehr nur das Ergebnis einer figurativen Tauschrede. Der Tiefenstruktur der etymologischen Sinnbesetzungen liegt, was, obwohl naheliegend, leicht übersehen wird, eine metonymische Basisfunktion zugrunde. Die scheinbare Willkürlichkeit etymologischer Lesarten, die zum Beispiel Wein (vinum) und Kraft (v;.v) programmatisch zusammenzwingt (a vi enim vinum dictum est),49 enthüllt über den klanglichen Bezug (der stym nach) die tropische Herkunft des sprachableitenden Diskurses. Sein rhetorischer Ort ist die Metalepsis (transumptio). 50 Sie bezeichnet die Technik des kontextuell falschen semantischen Tausches von Synonymen. Die Bedeutung von zwei Wörtern ist in ihren jeweiligen Ursprungstexten möglicherweise gleich, doch heißt dies noch nicht,

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Hieronymus Emser, „Quadruplicia auff Luters Jungst gethane antwurt, sein reformation belangend". In: Luther und Emser: Ihre Streitschriften aus dem Jahr 1521. Hg. von Ludwig Enders. 2 Bde. (Flugschriften aus der Reformationszeit 8f.; Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 83f. 96-98) Halle/S. 1892, Bd. 2, S. 129-183, hier S. 145: Dartzu sag ich, das vnsere vorfaren, die orsten Tewtschen, ir getzing vnd sprach nit alwegen auß der ethimologey, ankunfft oder bedewtung, sonder vil malnn aleyn der stym nach auffgesetzt, als das sie vinum weyn vortewtschet haben, welches doch, wo der ethimologey nachgegangen, nit weyn, sondern was krefftigs oder gewaltigs heissen must, α vi enim vinum dictum est.

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Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, Bd. 1, S. 295, §570 (mit Hauptverweis auf Quintilian [Anm. 26], VIII,6,37ff.).

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daß sie aus dem ersten Text einfach in den zweiten übernommen werden könnten. Quintilian gibt als Beispiel51 canere 'singen' und dicere, das neben gängigem 'sprechen' nur in besonderen Fällen auch 'singen' bedeuten kann. Dies beinhaltet, daß dicere im 'richtigen' Kontext zwar durch canere ersetzt werden könnte, doch nicht umgekehrt canere durch dicere. Der metaleptische Synonymengebrauch hat in der Regel verfremdende Wirkung, was ihn als Tropus in der Komödie beliebt macht, doch kommt er verbreitet auch in der Namensetymologie zum Zuge. Diese Verortung ist weniger in ihrer begrifflichen Zuspitzung als in einem grundsätzlichen Sinn für das Funktionsverständis der frühneuzeitlichen Etymologie belangvoll. Sie erweist sich als Teil einer figurativen Rhetorik. Wenn Rabelais im Gargantua (1,16) den Namen einer Region la Beauce mit je trouve beau ce erklärt, so argumentiert er von einem textuellen Tausch semantischer Präsenz her, der sich (wie meist in der Renaissance- und Barocketymologie)52 noch stark aus der Mündlichkeit ableitet. Die hier witzig gemeinte Erläuterung nutzt den phonetischen Anklang, um einen an sich unverstandenen Landesnamen 'übersetzen' zu können. Dabei spielt wie in vielen anderen Fällen eine affektiv empathisierte Zielkomponente für die Benennungsmotivik eine wichtige Rolle. Der etymologische Diskurs stellt sich rhetorisch betrachtet als verkürzte Form einer exkursartigen Schlußrede (peroratio)53 dar, die entweder auf Herabsetzung (indignatio) oder Vereinnahmung (conquestio) hin angelegt ist. Rabelais zentriert sein etymologisches Begehren positiv. Andere etymologisieren etwa bei Namen bewußt verletzend, um damit eine soziale oder politische Wirkung zu erzielen (zum Beispiel Luder/Luther).54 Derartige Projektionen wie auch Fischarts geläufiges Etymologie-Zitat vom Presbyter als prae aliis bibens ter$s lediglich als Spiel oder willkürlichen Akt einzuschätzen und sie so zu intellektualisieren läßt den Impuls des dabei Geschehenen verloren gehen. Diese etymologischen Ableitungen sind kein Ergebnis rationaler Philologie, deren Fehlen man bedauern oder kritisieren könnte, son-

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Vgl. Quintilian (Anm. 26), VIII,6,38. 'Phonetische' Lesarten spielen vor allem auch in der sprachvergleichenden Etymologie des Barock eine Rolle, um ursprachliche Zusammenhänge (mit Akzent auf dem Vorrang der eigenen Nationalsprache) behaupten zu können. Vgl. etwa die Listen bei Wolfgang Lazius, De gentium aliquot migrationibus, sedibus fixis, reliquiis, linguarumque initiis et immutationibus ac dialectis libriXII. Frankfurt/M.: A. Wechel Erben 1600, z.B. S. 42 zu frz. tousiours [sie!] = dt. taug alle tag. Vgl. dazu Lausberg (Anm. 50), Bd. 1, S. 236ff„ §§ 43 Iff. Vgl. z.B. Bernd Möller und Karl Stackmann, Luder - Luther - Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen. (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologischhistorische Klasse [1981] Nr. 7) Göttingen 1981, und Harms (Anm. 2), S. 7f. Vgl. Johann Fischart, Geschichtklitterung (Gargantua). Hg. von Ute Nyssen. Düsseldorf 1963, S. 298,14f. (im Umfeld etlicher weiterer Etymologien dieser Art).

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dein sie entspringen einer kontemplativen Einlassung. Den Wörtern wird nachgehört und nachgelesen, um ihnen etwas abzugewinnen. Was dabei herauskommt, muß zwar auch theoretisch in signifikatorischen Rastern dargestellt werden, doch sind diese lediglich funktionales Medium der wahrnehmenden Schau. Die Wörter werden zu Klängen und Bildern, was sie zum einen schon aus ihrer normalerweise gegebenen Kontextualität herauslöst. Sie vereinzeln zu Tonfolgen und Ikonen, die vom jeweils betrachtenden Subjekt aufgefüllt werden. Dieses tauscht sein Empfinden und Überlegen in jene Bedeutung eines realen Scheins, die ihm aus den zu Ideogrammen56 geronnenen Wortpotentialen entgegentritt. Ob dabei eine mittelbare Übermächtigung oder ein aktives Hineinlesen statthat, läßt sich im konkreten Fall nicht immer entscheiden. Es ist der gleiche Spielraum zwischen Inspiration und Kalkül, in dem sich die etymologische wie alle Diskursherrschaft bewegt. Für sie entscheidet produktiv der Gewinn einer Tauschgleichung, die Logik der immanenten Äquivalenz. Wörter dekontextualisiert zu lesen, wie es im etymologischen Zugriff geschieht, setzt voraus, daß diese selbst zu einer ganzheitlichen 'Textsumme' werden. Deren Lektüreangebot ist zunächst stumm, was sie der 'Sprache der Dinge' verwandt macht. Wie jene aber als beredte Spur des Makrokosmos gelesen werden kann, so vermag auch das Einzelwort als eine lebendige, wenn auch verschlüsselte Mitteilungsform vom fordernden Begehren nach der darin verborgenen Botschaft erschlossen zu werden. Da das Verlangen nach dem Sinn hinter den Wörtern mobil ist, ergeben sich Bewegungen im Modus der Lesarten, die jedoch in dieser Eigenschaft - einmal formuliert - als Stillegungen funktionieren. Diese 'archaische' Etymologie ist zugleich Öffnung und Festlegung, Phantasma und Gesetz. Das macht sie zu einem faszinierenden Effekt frühneuzeitlicher Unruhe, jener intellektuellen Aufbrüche und Möglichkeiten, in denen die Sehnsucht nach Ordnung im Chaos stets anwesend wirkt. Auf der Ebene einer semantisierten Lautlehre findet sich in frühneuzeitlicher Etymologie konkretisiert, was als rahmendes Paradigma die forschenden Fragen nach der Urbedeutung der Wörter ermöglicht. Diese verfugen als ursprachliche Schöpfungskonstrukte über den gleichen Status wie die Objekte der Natur. Sie sind Maskierungen der gleichen göttlichen Substanz und können dann als deren Emanation gelesen werden. Die 'Sprache' der Wörter selbst wird als konkrete Schrift erkennbar und verständlich. Das Muster derart gedachter Sprachprojektion findet sich bei Philipp von Zesen, der die Vorstellung einer an der Struktur der vier Weltelemente57 orientier56

57

Vgl. Jean Paulhan, Lapreuvepar l'etymologie. Paris 1953 (Nachdruck Cognac 1988), S. 28 (unter Berufung auf Paul Claudel). Vgl. Philipp von Zesen, Rosen-mänd [1651], In: Ders., Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen. Bd. 11. Berlin - New York 1974, S. 189: Wie Got und die Natur dem gantzen Runde der weit vier uhrwesen gegeben / daraus alles / was in der weit ist / bestehet /[...] so seind auch unserer spräche nicht mehr als vier uhrlauter gegeben / und diesen [...] noch vier mitgehülfen oder mitlauter zugeordnet [...].

Formation und Differenz

259

ten Urlautschrifit entwickelt. Deren konsonantische Seite ('uhr-mitlauter') umfaßt b, d, 1 und s, die durch die vier Vokale ('selb-lauter') a, e, u und ο zur Wortbildung fähig werden. Daraus resultieren die vier 'Ursilben' ab / ed / ul / os.5* Zesen analogisiert nun die sprachlichen mit den stofflichen Urelementen: Die erste bezeuchnet uns das wasser / die zweite die erde / die dritte die luft / die Vierde das feuer / und die ersten zwo sinken im aussprechen gleichsam niederwerts wie wasser und erde: die andern zwo aber steigen aufwerts / wie luft und feuer.59 Mit diesem Modell ausgerüstet, kann man in Apollo/Appollo ein Ab d.i. wasser / und bolle / (POLUS) d.i. kugel lesen, so daß der mythische Göttername zur Chiffre einer 'Wasserkugel' wird, weil die sonne in ihrem auf-gange gleichsam als eine feurige kugel oder feuer-bal / aus dem wasser gleichsam herfür gewallet körnt.60 Die 'buchstäblich' elementarisierte Lesung erlaubt den Gewinn der Figuralität. Apoll ist die Metapher einer sinnlichen Weltwirklichkeit, die ein zweites Mal als Wort und Rede ersteht. Der Schatz etymologischen Wissens ist ein diskreter, den auf unterschiedliche methodische Weise aufzuschließen, ein in jedem Sprachhandeln enthaltenes Verlangen gewillt erscheint. Dem lebendigen Wort in der kulturellen Arbeit eine Herkunft zu geben, zielt darauf, Rede und Text eine zusätzliche Authentizität zu verleihen. Strittig war dabei von Anfang an die Begründung sprachlicher Glaubwürdigkeit. Ob die Wörter von Natur aus (physei) oder durch Vertrag und Übereinkunft (thesei) legitimiert sind,61 bleibt seit Piaton letztlich aporetisch, wenn auch folgenreich denk- oder eher phantasierbar, um der Vorfindbarkeit der Sprache einen Grund jenseits ihrer Präsenz zu geben. In der Entscheidung zwischen unveränderbarem, natürlichem Sprachursprung und einem gesellschaftlich wandelbaren Geneseprozeß nistet gleichermaßen der Wunsch, Wortsinn und Wahrheit zur Deckung zu bringen. Die Frage nach dem etymon logos wurzelt so im ethischen Begehren,62 das auf nachvollziehbare Evidenz geschlossenen Wissens drängt.63 Was in der frühneuzeitlichen Etymologie als phantastische Entgrenzung erscheint, beruht auf einem Denken, das gerade auf Definition und Festschreibung zielt. Das Bedeut-

58

Vgl. ebd., S. 179.

59

Ebd., S. 179. Ebd., S. 179.

60 61 62

63

Vgl. Piaton, Kratylos (Anm. 12), 383a (physei-Thcse) bzw. 384d (iAesei'-Annahme). Vgl. Vossius (Anm. 47), S. 198, die Definition und Ableitung von ETYMON als vera nominis, sive appellationis ratio vel quae saltern pro vera adfertur, ab έτος vel έτεος, hoc est άληΰήζ, ut Hesychius exponit. Ihre sinnfällige 'klassische' Ausprägung repräsentieren Isidors Etymologiarum sive originum libri XX (Anm. 20), die eine enzyklopädische 'Summe' allen Wissens unter der katalogisch aufgefächerten Signatur 'wahren' Ursprungs sind. - Als barockes Beispiel für eine „Mischung zwischen etymologischem Wörterbuch und enzyklopädischem Lexikon" (Gardt [Anm. 1], S. 11) wäre etwa die Geistliche / Weltliche / vnd Häußliche SprachenSchule von Bartholomaeus Scheraeus (Wittenberg 1619) zu nennen.

260

Erich

Kleinschmidt

same an diesem Gegensatz von äußerem Eindruck und innerem Streben liegt darin, daß der etymologische Diskurs für die aus- und einschließenden, an- und abwesenden Sprachbewegungen sichernde Supplemente aufsucht. Die Ungewißheit allen Wortsinns, die zu beseitigen es großer, differenzierter Anstrengungen bedarf, läßt sich so über metaphysische Postulate einer göttlichen Sprachstiftung und kosmologischen Einschreibung hinaus in der Entdeckung einer zweiten deiktischen 'Schrift' aufheben. Diese Denkfigur birgt etymologische Suche seit ihren antiken Anfängen. Der formale Blick auf die instrumentelle Methodik der etymologischen Theoretiker sollte nicht die Wahrnehmung verschleiern, daß der Ansatz, das 'wahre' Wort zu suchen, ein Moment der Hinzufugung darstellt. Der Wunsch nach dem 'natürlichen' Ursprung, sei dieser primär oder als Form einer verhandelten Setzung gedacht, bewirkt, daß die Präsenz der Wörter verschoben und überlagert werden muß. Etymologie wird damit zu einer kulturellen techne, die einen Rohzustand gegenwärtiger Wörtlichkeit überarbeitet und ergänzt. Was wie eine Entkleidung von Überschichtungen aussieht, erweist sich eigentlich als Gewinn wesenhafter Sprachlichkeit, der Sprach' an sich.64 Der etymologische Diskurs substituiert deshalb weniger eine begrifflich verlorene Welt der Zeichen, obwohl dieser Ansatz sein ideeller Ausgangspunkt ist. Er dient aber als Impuls dafür, daß in den Wörtern nicht nur die Medialität des Ausdrucks, sondern auch die Macht ihrer steten Reformulierung gesehen wird. Sie ist keine des Kommentars, dieser prozessualen Abgleichung von Wort- und Sinnfeldern. Die frühneuzeitliche Etymologie legt die Wörter nicht einfach aus, sie kodiert vielmehr deren Funktionsgesetz tiefenstrukturell um. Ihnen wird eine zweite Stimme, eine zweite Schrift gegeben. Die Wörter füllen im symbolischen Tausch den Ort einer Referenzstelle doppelt auf. Zum einen ersetzen sie als Signifikanten, die wie Geldmünzen funktionieren,65 innerhalb einer Darstellungsfunktion die gegenständliche Welt. Zum andern vertreten sie appellfunktional als eigenwertige Vorstellungsräume ein anderes, verborgenes Begriffswissen. Sie sind gestaffelte notiones von notiones im Sinne J.C. Scaligers.66 Die zweite Perspektive umschreibt die etymologische Disposition, vorhandener Begrifflichkeit neue, fremde und verborgene Bedeutungen zu entlocken. Diese Leistung ist jenseits einer primären sinnlichen Wahrnehmung ein Akt intellektueller Projektion, einer Beziehungsbewegung. Per medium humanum, nicht als unmittelbare 'Selbstlehre' (autodidaxis) der Dinge 64

Justus Georg Schottelius, Ausführliche Arbeit Von der teutschen Haubt-Sprache. Neudruck der Ausgabe Braunschweig 1663. Hg. von Wolfgang Hecht. Tübingen 1967, S. 1007.

65

Vgl. dazu Zesen (Anm. 57), S. 103: die yvörter gelten als das geld. Zur wirkungsmächtig vor allem auf Horaz zurückgehenden Tropierung vgl. Harald Weinrich, „Münze und Wort. Untersuchung zu einem Bildfeld". In: Ders., Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 276-290.

66

Vgl. Scaliger (Anm. 42), S. 137f.: Sicut igitur imagines rerum sunt notiones intellectui. ita voces sunt notionum illarum notiones, et vocum ipsarum scripta quoque sunt notiones, ut talis ordo naturae sit.

261

Formation und Differenz

(res) stellen sich jene Ebenen zweiten Sinns (duo sensus) ein, von denen das gelehrte frühneuzeitliche Sprachdenken67 wußte und fasziniert war. Die etymologische Arbeitsweise der frühen Neuzeit 'benennt' in ihrer Relektüre die Wörter nicht neu. Sie versucht deren Wesen aus den in den Ausdrücken, aber auch aus den phonetischen und buchstäblichen Materialitäten zutage tretenden Spuren herauszulesen und offen zu manifestieren. Gedankliche Grundlage ist dafür eine selbstaffektive Rhetorik des Supplements, die sich nicht mehr auf eine festgeschriebene vorgängige Erfahrung der Signifikate stützt, sondern die mobile Begrifflichkeit erzeugt. Das mag sachlich als Akt und Ergebnis von Spekulation wirken, doch vollzieht sich etwas anderes, das man (mit Hegels Formulierung für das Verhältnis von Inhalt und Form) als „das unmittelbare Sichübersetzen des Inneren ins Äußere und des Äußeren ins Innere"68 funktional umschreiben könnte. Die Etymologien des 16. und und 17. Jahrhunderts wirken als solche Vorgänge des 'Sichübersetzens', die ein Draußen und Drinnen, Erscheinung (Performanz) und Wesen (Substanz) queren. Es geht im Hin- und Hergehen zwischen Wortpräsenz und Wortursprung um den Gewinn von Differenzen, aus denen sich Bedeutung projizierende Funken schlagen lassen. Diese können frühneuzeitlich sehr konkret erzeugt werden. Das etymologische Verfahren der conversio69 besteht zum Beispiel schlichtweg darin, ein Wort im Hinblick auf seine Bedeutung sowohl vorwärts wie rückwärts zu lesen. Fischart läßt so Keiser Cyrus, der nach dem Hund Kyrr, der ihn gesäugt habe, benamt worden sei, durch hindersich lesend ein Reich (rykk) verkünden.70 Die Technik der Buchstabenvertauschung und -ergänzung, um 'ursprüngliche' und 'sprechende' Lautungen (oratio zu oris ratio und ähnliches)71 zu erreichen, kennzeichnet in gleicher Weise die Herstellung von verstetigt mobilen Differenzen. Der Versuch, einen gedanklichen Überbau für den etymologischen Diskurs der frühen Neuzeit und dessen Formationsleistung gegenüber der Sprache zu finden, führt zur Frage nach der hierbei gültigen Theorie von Bedeutung. Die etymologische Praxis der Epoche unterläuft erkennbar das systematische, stillstellende Strukturmodell von Signifikat und Signifikant Saussurescher Provenienz. 67

Vgl. ebd., S. 137: Ergo rerum notiones α rebus in mentem primum per sensus sine medio humano profectae sunt: intelligo autem per sensus omnes eaque scientia άυτοδίδαζις dicta est: aut per medium humanum, quoniam non ab rebus, sed a notionibus, quae essent in docentis intellectu prodiere in duos sensus.

6g

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. Hamburg 8 1991, S. 142, § 147.

69

Vgl. dazu (und zum Beleg) Gerd Schänk, Etymologie „Geschichtklitterung". Freiburg/Br. 3 1991, S. 89. Vgl. Fischart (Anm. 55), S. 154, 29ff.

70 71

Vgl. die Beispiele bei Schänk (Anm. 69), S. 78f.

und Wortspiel in Johann

Fischarts

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Ihr Ziel, kaskadierende Differenzen in den Akten sinnsetzender Auffüllungen zu erzeugen, läßt ein Prinzip ständiger Bewegung erkennen, das die Fülle der definitorischen Festschreibungen überhaupt erst ermöglicht. Die vorphilologische Art der Etymologie funktioniert als ein Generierungsapparat von Wortsinn, der dessen Tilgung und Fixierung, seine Ab- und Anwesenheit allerdings nicht klar voneinander trennt. Die Etymologie, wie sie Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit üben, ist damit ein Produktionsort, an dem sich zwar die Formierung von Signifikanz vollzieht, ohne diese jedoch wirklich einzuholen. Es ereignet sich vielmehr ein steter Austausch und ein Zirkulieren von Elementen. Dies Verfahren unterläuft faktisch die metaphysische Legitimation von Bedeutung, obwohl deren Existenz an sich zu den immer behaupteten Grundannahmen der Sprachauffassung zählt. Der etymologische Diskurs bewegt sich in dieser Spannung, zum einen unangreifbare Bedeutungsfundamente rekonstruieren und damit einen transzendenten Sprachursprung bewahren zu wollen, zum anderen aber jede konventionalisierte Festlegung von Wortbedeutung immer wieder in Frage zu stellen. Die Verfahrensweisen der 'älteren' Etymologie verunsichern die Gewißheit eines zentrierten Wortwissens, das auf der strikten Abgrenzung zwischen Sinn und Unsinn, zwischen Akzeptablem und Unakzeptablem beruht. Die scheinbar spielerische, Ursache und Wirkung tauschende Art der Deutung, die für ein philologisch diszipliniertes Strukturdenken nicht erträglich ist, erweist sich in der Hüllform rhetorischer Tropen geborgen im Kern als weitgehend unbewußte, aber gespürte Wahrnehmung sprachlicher Unscharfe. Man fühlt, daß Wörter und Texte über ihre primäre Signifikation hinaus Sinn tragen. Dieser empfundene und zugleich begehrte Überschuß setzt den etymologischen Diskurs in Gang, dessen spurenlesende Aktivität Bedeutung diffundiert und ihn damit heutigen Denkweisen der Dekonstruktion verwandt erscheinen läßt. Die Etymologie der frühen Neuzeit hat etwas von jenem entbindenden, ,,systematische[n] Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen, der Verräumlichung [espacement], mittels derer sich die Elemente aufeinander beziehen",72 die Derrida als differance, als jene vorartikulative, aber alle Textualität in Gang setzende „Bildung der Form"73 zu benennen versucht. In der Suche nach dem Etymon tritt frühneuzeitlich diese gedankliche Disposition nach einem Ort auf, wo das Wort noch vor seiner weiteren Festlegung in einer Art urszenischer Potentialität erscheint. Das Phantasma einer in der Schwe72

Jacques Derrida, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Hg. von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Dorothea Schmidt. (Edition Passagen 8) Graz - Wien 1986, S. 67, bzw. Positions [...]. Paris 1972, S. 38: „La differance, c'est le jeu systematique des diffirences, des traces de differences, de Γ espacement par lequel les elements se rapporte les uns aux autres."

73

Jacques Derrida, Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt/M. 4 1992, S. 110 (mit abweichender Übersetzung „Formation"), bzw. De la grammatologie. Paris 1967, S. 92: „La diff6rance est done la formation de la forme."

Formation und Differenz

263

be gehaltenen Sprache, die ihren Ursprung unausgetragen zugleich definiert wie transzendiert, zieht aus dem vielschichtig inspirierten Einblick in die Unsicherheit aller Textualität gleichermaßen ernsthafte wie ironische Folgen sprachlicher Inszenierung. In der Rhetorik der gewissen Rede und Schrift steckt so immer auch die etymologisch entdeckte wie geborgene Subversion einer Redtorich,74 Der Diskurs darüber ist stets bestimmt von jener „verdächtigen Unruhe von Kämpfen, Siegen, Verletzungen, Überwältigungen und Knechtschaften in so vielen Wörtern, deren Rauheiten sich seit langem abgeschliffen haben."75

74

Vgl. Fischart (Anm. 55), S. 361,23: der Ciceronisch Retorich Zirfarben (Text der Ausgabe von 1590). Die Lesart Redtorich steht noch in der Erstausgabe von 1575.

75

Foucault (Anm. 22), S. 7.

Hartmut Freytag (Hamburg)

memoria, amicitia und Gelehrtenkultur in der Stadt der frühen Neuzeit Die Hommage an Philipp Melanchthon und den Rat der Stadt Lübeck im Stadtlob des Petrus Vincentius von 15521

Der Gegenstand meines Erinnerns, die lateinischen Disticha des Petrus Vincentius auf Lübeck, sind so sehr in Vergessenheit geraten, daß sie - wenn ich recht sehe - in keiner literaturhistorischen Abhandlung des 19. und 20. Jahrhunderts erwähnt werden. Da die Verse selbst und auch ihr Autor heute wohl niemandem bekannt sind, möchte ich Vincentius und sein Stadtlob auf Lübeck eingangs auf die Weise vorstellen, daß ich den öffentlichen Festakt, für den sein Vortrag bestimmt war, zu vergegenwärtigen suche; denn das Gedicht war nicht eigentlich für die stille Lektüre gedacht, sondern für ein bestimmtes Ereignis. Und wie bei andern Gelegenheitsgedichten ist der Anlaß auch für dieses Poem bekannt. Sogar seine Vortragssituation läßt sich rekonstruieren, und zwar bis hinein in Details wie den Zeitpunkt, das Gebäude, ja den hierfür gewählten Raum, seine Größe, sein Äußeres und sogar seine Dekoration - ganz abgesehen davon, daß wir uns von der einen Person des Autors und Vortragenden ein Bild machen und uns den Kreis seiner Zuhörer vorstellen können. Am Dienstag, den 8. November 1552, vier Tage nach seinem Dienstantritt als Rector der Lübecker Lateinschule, trägt Petrus Vincentius wahrscheinlich in Anwesenheit von Bürgermeister und Rat, der Geistlichkeit, weiteren Honoratioren und gebildeten Bürgern der Stadt, dem Lehrerkollegium und den Schülern vermutlich im säulengeschmückten alten Kapitelsaal des Franziskanerklosters St. Katharinen, dem bis zu 200 Zuhörer fassenden Auditorium seiner neuen Wir-

Das Stadtlob des Petrus Vincentius zitiere ich, um dem Leser die vertrautere Graphie und Interpunktion zu präsentieren, nicht nach der Rostocker Ausgabe des David Chytraeus von 1552, sondern nach folgender hiernach gedruckten Edition: Petri Vincentii de origine, incrementis et laudibus Lubecae elegia, praefatione ac notis instructa atque [...] renovata α Ιο. Henr. α Seelen. Lübeck 1755. - In der Regel übernehme ich die Orthographie und Interpunktion der Vorlage, unterscheide aber generell zwischen (konsonantischem) ν und (vokalischem) u; die bei von Seelen unterschiedenen Buchstaben Schaft-s und Rund-s gebe ich gleichermaßen mit s wieder. Die Verszählung habe ich hinzugefügt. Weil von Seelen offensichtlich ein Distichon fortgelassen hat, zähle ich nach Vers 114 ein Verspaar nach der Rostocker Ausgabe des Chytraeus dazu. - Für wesentliche Anregungen zu diesem Aufsatz danke ich Wolf-Dieter Hauschild (Münster), Walther Ludwig (Hamburg) und Walter Thüringer (Heidelberg).

266

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Freytag

kungsstätte,2 zu Ehren der Stadt, die ihn vielleicht auf Melanchthons oder Bugenhagens Empfehlung hin berufen hat, sein für diesen Anlaß verfaßtes Stadtlob von 215 lateinischen Disticha nicht weniger als 45 Minuten lang wohl großenteils auswendig (memoriter) vor. Dabei schmückt die Nordwand, vor der der Redner leicht versetzt gestanden haben wird, ein 'Riesenholzschnitt'3 von reichlich 3 m Länge und etwa 70 cm Höhe mit einem großen Stadtportrait Lübecks, das der Formschneider Elias Diebel kurz zuvor in unmittelbarer Nachbarschaft zur Lateinschule geschnitten und gedruckt hatte. Aus der vita des Autors sei folgendes berichtet: Peter Vietz, mit humanistischem Gelehrtennamen Petrus Vincentius, wurde 1519 in Breslau geboren und nach seinem 1538 begonnenen und mit dem Magister abgeschlossenen Studium in Wittenberg bei Luther und Melanchthon 1541 Lehrer an der Lorenz-Schule in Nürnberg. Auf Empfehlung des in Norddeutschland wirkenden Reformators Johannes Bugenhagen wurde Vincentius 1543 auf eine Professur in Greifswald berufen und kam von dort 1549 nach Lübeck, wo er 1552 Rector der Lateinschule wurde. 1557 folgte Vincentius dem Ruf nach Wittenberg, wo er über den Tod Philipp Melanchthons (1560) hinaus neben diesem lehrte, bis er 1565 als Rector an die Lateinschule in Görlitz berufen wurde, die er nach ihm Philippicum nannte. 1569 wurde Vincentius Rector der Lateinschule in seiner Heimatstadt Breslau, wo er am 1. Oktober 1581 starb. - Neben kleineren poetischen Werken hat der Gelehrte theologische, historische und rhetorische Abhandlungen hinterlassen.4 Sowohl sein poetisches Interesse als auch seine nahe Verbindung zu Melanchthon dokumentiert die Tatsache, daß Vincentius die zuvor in drei Bü2

Vgl. Ernst Deecke, „Zur Geschichte unseres Schulhauses". In: Festschrift zur Vierhundertjahrfeier des Katharineums zu Lübeck 1531-1931. Hg. von Richard Schmidt. Lübeck 1931, S. 68-109, bes. S. 81 und 87f. - Torsten Albrecht (Lübeck) danke ich dafür, daß er mir mithilfe alter Baupläne des Katharineums erklärt hat, warum der hinreichend große und damals von außen heizbare Kapitelsaal für Vincents Vortrag vorzüglich in Frage kommt. - Mit dem Ortsadverb hic spielt Vincentius übrigens auf den Schauplatz seines Vortrags an: Hic ubifunigeris habitata est fratribus aedes, | Cumque rota et gladio stat Catharina suo, \ Nunc habitant Musae - ('Hier, wo die kuttetragenden Brüder ihr Haus hatten und Katharina mit ihrem Rad und Schwert verherrlicht wurde, wohnen jetzt die Musen' [387-389]). Rad und Schwert - die hier genannten Attribute der Heiligen - gehören zu den ins Auge fallenden Kunstwerken (279), die Vincentius in der descriptio urbis allgemein hervorhebt und die Diebels Holzschnitt auf dem Katharinenkloster zeigt. Dieses kennzeichnet das im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg bewahrte Exemplar (S.P. 6582a) auch als Schule.

3

Der von Max Geisberg geprägte Begriff 'Riesenholzschnitt' hebt „das erstaunliche Format vieler Holzschnitte des 16. Jahrhunderts hervor, die aus mehreren Einzelblättern zusammengeklebt erst ein Bild oder einen Fries ergeben" (Horst Appuhn und Christian von Heusinger, Riesenholzschnitte und Papiertapeten der Renaissance. Unterschneidheim 1976, S. 5). Diebels Riesenholzschnitt ist aus zwei Lagen von je 12, also aus 24 Blättern zusammengefügt.

4

Vgl. Johann Heinrich von Seelen, Athenae Lubecenses. Bd. 3. Lübeck 1721, S. 72-79; Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts - VD 16, Bd. 21, V 1085-1098.

'memoria', 'amicitia' und Gelehrtenkultur

267

ehern edierten Epigrammata seines Lehrers erstmals in sechs Büchern herausgegeben hat. Diese beste Edition der Melanchthon-Epigramme wurde mehrmals nachgedruckt (1575, 1579, 1583, 1592). Auf ihr basiert auch Bretschneiders Edition im Corpus Reformatorum,5 Während die bisher zu Vincentius und seinem Vortrag genannten Daten in älteren bio- und bibliographischen Nachschlagewerken sowie auf der Titelseite und im Vorwort der Herausgeber zu den Ausgaben des Gedichts von 1552 und 1755 nachzulesen und aus der Baugeschichte des ehemaligen Katharinenklosters zu erkennen sind, läßt sich ein anderer historischer Bezug, hinter dem sich eine Hommage an den Reformator Melanchthon verbirgt, nur aus dem Gedicht selbst erschließen. Um dies zu erklären, muß ich weiter ausholen. Nachdem Vincentius wenig mehr als die Hälfte des Stadtlobs gesprochen und nach dem Prolog die Geschichte von der Gründung Lübecks in der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum Besuch Karls IV. im Jahr 13756 skizziert und interpretiert hat, bricht er die descriptio, in der er den Einzug des Kaisers in Lübeck prunkvoll inszeniert, plötzlich ab und fügt eine Zeitklage im Stil der laudatio temporis acti ein (215-222). Hieraufnimmt er den bis dahin gesponnenen Faden der lübeckischen Geschichte nicht wieder auf, sondern erinnert kurz an den Ausgangspunkt, die Gründung der Stadt (223f.), um gleich danach aus den wechselvollen Ereignissen ihrer Geschichte, die er durch das Rad der Fortuna illustriert, ein christlich bestimmtes Fazit zu ziehen (225-250): Fortuna habe Lübeck nie von Grund auf zerstört (225-228), sie zeige vielmehr die barmherzige Güte Gottes, mit der er die Wechselfälle der unsteten Fortuna lenke; diese selbst sei nicht allmächtig, weil sich das mobile fatum nach Gottes Willen ausrichte (231 f.). Ihn allein sollten die Städte fürchten, verehren und lieben (233f.). - Im folgenden Exkurs predigt der Schulmann Vincentius, Gott allein schmücke die Städte, helfe und schütze gegen Verderben (235f.): Möge auch Xerxes mit seinen Heeren (239f.) und Neptun mit seinen Fluten drohen (241), möge auch Vulkan Feuer aus dem Ätna schleudern (242-244) und mögen sich auch alle Elemente gegen die Stadt verschwören (245f.), so helfe ihr doch Gott, dem die Natur folge und der die Feinde vertreibe (247-250). Gleich nach dem Fortuna-Exkurs wendet sich Vincentius von der Vergangenheit ab und der Gegenwart zu; dabei fordert er seine Zuhörer demonstrativ auf, nicht mehr nach exempla früherer Jahrhunderte zu suchen, sondern den Blick auf die vor aller Augen entfaltete Ansicht Lübecks zu lenken (251-272), aus der zu ersehen sei, daß Gottes Gnade auf der Stadt ruhe. Denn die von seiner Hand nach so vielen Wechselfällen des Schicksals bewahrte Stadt erhebe ihr strahlendes

5

6

Philipp Melanchthon, Opera quae supersunt omnia. Hg. von Carolus Gottlieb Bretschneider. 28 Bde. (Corpus Reformatorum 1-28) Halle/S. 1834-1860, Bd. 10, S./Sp. 457-672. In seinem Vorwort begründet der Editor, warum er der Ausgabe des Petrus Vincentius folgt (S./Sp. 465-468). Vincentius datiert Karls IV. Besuch in Lübeck auf das Jahr 1374 (197-199).

Hartmut

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Freytag

Haupt empor zu den goldenen Sternen (259f.). Indem der Redner sein Auditorium jetzt angesichts des Stadtportraits rhetorisch fragt: 'Siehst du, wie die hohen Türme, von denen so manchen | eine goldene Krone schön schmückt, den Äther durchschneiden?' (Nonne vides altae ceu findant aethera turres, \ Aurea quarum aliquas rite corona decef! [261 f.]), belegt er die Richtigkeit seiner Beobachtung nicht nur durch den Augenschein von Diebels Stadtansicht, sondern auch durch das Zeugnis Philipp Melanchthons: 'Denn daß es die Krone ist, als die die Wenden Lübeck benannten, | sagst du mit BONNUS als deinem Zeugen, gelehrter PHILIPP' (Namque corona quod est, Henetos [lies: Venetos] dixisse Lubecam, | BONNO teste tuo, docte PHILIPPE, refers. [265f.]). Mit diesen Worten lenkt Vincentius - auch den Titel des Holzschnitts vor Augen7 - den Blick von der goldenen Krone als Schmuck einiger Kirchen auf die goldene Krone als das Zeichen für die Vorrangstellung Lübecks. Mit der erneuten Apostrophe, welche die descriptio urbis, das gerade mit dem Hinweis auf das Stadtportrait eingeleitete Meisterstück des Gedichts, unterbricht, wendet sich der Redner nicht an seine Zuhörer, sondern an Melanchthon. Ihn, seinen Lehrer, Freund und Förderer, ruft er jetzt an, nachdem er vor der Zäsur desselben Pentameters seines vier Jahre zuvor gestorbenen älteren akademischen Bruders und Amtsvorgängers Hermannus Bonnus gedacht hat. Dieser Melanchthon-Schüler war der erste Rector der Lateinschule und erste Superintendent Lübecks gewesen. Mit der Deutung des slavischen Lubeca als 'Krone' flicht Vincentius in sein Gedicht ein gelehrtes Aper