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German Pages [151] Year 2021
Philosophie für ein gutes Leben
Eduard Zwierlein
Erkenne dich selbst!
B
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495824054
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Eduard Zwierlein Erkenne dich selbst!
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
sapere aude – aude vivere
https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Eduard Zwierlein
Erkenne dich selbst!
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de
Coverbild: Segelboote auf dem Staffelsee (Ausschnitt); © PK-Photos – iStock – GettyImages Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49152-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82405-4
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Inhalt
Vorbemerkung 1. 2.
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Erkenne dich selbst – Der ursprüngliche Sinn eines antiken Weisheitsspruchs
9
Erkenne dich selbst – Leitmotiv abendländischen Denkens
18
3.
Du bist wie alle
39
4.
Niemand ist wie du
56
5.
Du bist dir selbst entzogen
80
6.
Du musst dich selbst annehmen
90
7.
An den Früchten werdet ihr sie erkennen
104
8.
Erwachen – Fragen – Suchen
118
9.
Selbsterkenntnis ist ein Abenteuer ohne Ende
129
Herangezogene Literatur
143
Empfohlene Lektüre
146
Bildnachweise
147
Personenregister
149 5
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Vorbemerkung
(Unbekannt) Der Mensch bringt sein Haar täglich in Ordnung. – Warum nicht auch sein Herz?
Philosophie ist von Anfang an Welt- und Lebensorientierung. Sie versucht zu verstehen, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Goethe), aber auch der Sehnsucht des Menschen nach einem gelungenen oder glücklichen Leben entgegenzukommen. Darum ist die Philosophie ursprünglich stets Lebenskunst, der Versuch also, dem Menschen in seiner Lebensführung vernünftige Orientierung und Handreichung zu geben. Die Grundfragen der Lebenskunst sind über die Zeiten hinweg keinen allzu heftigen Schwankungen unterworfen; denn sie haben es ja vor allem mit dem »Wesen« oder der »Lage« des Menschen zu tun, und dieses Menschsein ist, auch wenn seine Kontexte sich wandeln, in seinen Grundzügen und Grundfragen recht konstant. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, rechtlichen oder ökonomischen Gegebenheiten erlauben dem Menschen unterschiedliche Spielräume, um sein Wesen heraus zu experimentieren. Auf diese Weise entstand im Laufe der Zeit ein reicher Schatz an Einsichten, Ideen und Inspirationen für die Grundfragen der Lebenskunst, die die persönliche Suche nach einem eigenen Verständnis und eige7 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
nen Antworten hilfreich unterstützen. Ohne gelehrten Aufwand und in verständlicher Sprache greifen wir auf diesen Schatz zurück in der Absicht, damit die ein oder andere Inspiration oder Nachdenklichkeit beim Leser auszulösen. Der Sinn kann nur sein, dass diese Überlegungen zur Lebenskunst anregen, sie für die eigene Lebenskunst zu prüfen und im besten Falle ihr einzufügen. Erkenne dich selbst ist eine der maßgeblichen Weisheitsformeln der Philosophie und ein Leitmotiv ihres Nachdenkens. Es ist nicht einfach klar, wer und was wir sind. Vielmehr sind wir uns als Frage gegeben und haben die Aufgabe, diese Frage, die wir sind, zu verantworten. So verwickelt uns das Problem der Selbsterkenntnis in das Abenteuer lebendigen Philosophierens und legt den Grundstein für eine aufgeklärte Lebenskunst. Der Verlagsleitung des Verlages Karl Alber, Herrn Lukas Trabert, sage ich meinen herzlichen Dank für die kluge und umsichtige Begleitung dieses Bandes; vor allem aber für die Bereitschaft, mit diesem ersten Band eine kleine Reihe zur Lebenslust aus der Taufe zu heben. 1
Mit diesem ersten Band wird eine auf zehn Bände geplante Reihe der Lebenskunst eröffnet.
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1. Erkenne dich selbst – Der ursprüngliche Sinn eines antiken Weisheitsspruchs
Beginnen wir den Rückgang zum antiken »Erkenne dich selbst« über eine Zwischenstation und lassen wir uns durch einen mittelalterlichen Spruch mitten in das Thema des Nachdenkens über Selbsterkenntnis hineinführen: 2 Ich bin, ich weiß nicht wer. Ich komm, ich weiß nicht woher. Ich geh, ich weiß nicht, wohin. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.
Dreimal führt der Spruch das Nichtwissen an. Woher, wohin, wer – das sei alles zuletzt und in seiner Tiefe nicht einfach klar und gewusst. Ludwig Wittgenstein schreibt in seinen Philosophischen Untersuchungen einmal: »Ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus.‹« Aber ist dann die Selbsterkenntnis überhaupt ein philosophisches Problem?
Vgl. dazu ausführlicher E. Zwierlein, Magna quaestio. Der Mensch als große Frage. Essay zur Grundlegung der Philosophie. Berlin 2013.
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Würden wir denn sagen, dass wir uns im Blick darauf, wer wir sind, nicht auskennen? Die Formel »Erkenne dich selbst« war auf einer Wand in der Tempelvorhalle des Apoll in Delphi angebracht. Er soll von einem vorsokratischen Philosophen stammen, der als einer der sieben Weisen gilt, die von Platon in seiner frühen Schrift Protagoras aufgelistet werden. Manchmal wird er Thales zugeschrieben, wahrscheinlicher aber handelt es sich um einen spartanischen Politiker und Gesetzgeber aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus mit Namen Chilon von Sparta. Dass sein Weisheitsspruch den Tempel des Gottes Apoll ziert, gibt uns einen ersten Hinweis darauf, was das »Erkenne dich selbst« ursprünglich im Sinn hat. Wir entdecken die ursprüngliche Bedeutung des Spruchs, wenn wir bemerken, dass der Spruch als Imperativ auftritt: Erkenne dich selbst! Er stellt dem Menschen eine Forderung. Es ist der Gott Apoll, der den Menschen zur Selbsterkenntnis auffordert. Doch warum? Als apollinische Weisheit macht sie den Menschen im Unterschied zu den Göttern auf seine Sterblichkeit, Unvollkommenheit und Hinfälligkeit aufmerksam. In dem römischen Mosaik aus der Kirche San Gregorio in Rom ist dieser Gedanke eingefangen. Das Mosaik verbindet den delphischen Spruch mit dem Bildnis eines Skeletts und erinnert so wie ein memento mori (bedenke, dass du sterben musst; sei dir bewusst, dass du sterblich bist) an die Vergänglichkeit des Menschen.
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Römisches Mosaik, Kirche San Gregorio, Rom (1. Jh. n. C.)
Die Welt der Götter und die der Menschen ist durch eine fundamentale Trennung geschieden. So versteht auch Seneca in seiner Trostschrift an Marcia zum frühen Tod ihres Sohnes das »Erkenne dich selbst« als mahnende Erinnerung an die Zerbrechlichkeit des Menschen: »Was du hoch schätzt und was du verachtest – ein und dieselbe Asche wird es gleich machen.« Im Vergleich zur göttlichen Vollkommenheit ist der Mensch ein sehr begrenztes, sterbliches Wesen. Hält sich der Mensch aber für Gott, verliert er seine Menschlichkeit. Er fällt aus dem ihm zu- und angemessenen Ort seiner Mitte und seinem Maß. Menschlich ist der Mensch nur, wenn er die Grenzen erkennt und 11 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
anerkennt, die ihm als Mensch durch seine Sterblichkeit und Unvollkommenheit gezogen sind, und er sich in Maß und Mitte aufzuhalten bereit ist, die ihm zugewiesen sind. Diese goldene Mitte, nicht das schlechte Mittelmaß, ist auch das Leitprinzip der Ethik und der Politik bei Aristoteles. Das gute Verhalten, das er Tugend nennt, ist seinem Wesen nach Mitte. Es vermeidet das Schlechte, das sich ins Grenzenlose des Übermaßes, des Zuviel, oder des Mangels, des Zuwenig, stürzt. Lebenskunst der Selbsterkenntnis ist ein vernunftbestimmtes Wählen dessen, was uns als Menschen angemessen ist. Gut für uns aber ist allein der Wille, sich in der dem Menschen angemessenen Mitte zu halten und die Extreme zu meiden. So kann auch Blaise Pascal sagen: »Wenn man die Mitte aufgibt, heißt das, man gibt die menschliche Natur auf.« Auf die Frage »Was ist der Mensch?« antwortet er entsprechend, dass er zwischen All und Nichts situiert sei, ein Nichts vor dem Unendlichen und ein All gegenüber dem Nichts. Denn er positioniert den Menschen in einer eigenartigen »Mitte« zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Licht und Dunkel, zwischen Größe und Elend, zwischen Wollen und Nicht-Können, auch wenn es sich nur um den Anschein einer Mitte handelt, da er die genaue Mitte nicht kennt. Wer seine Grenzen nicht kennt und anerkennt, verfällt der Anmaßung, der Hybris. Die Hybrisgefahr ist hier nicht nur eine ethische, sondern auch eine des Erkennens. Erkenntnistheoretischer Hochmut, so Pascal, 12 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
überschätzt die Fassungskraft der Vernunft: »Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischen nichts und allem, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu erfassen; das Ende der Dinge und ihre Anfänge sind ihm in einem undurchdringlichen Geheimnis unerbittlich verborgen.« So ist die Gesamtposition des Menschen schließlich »utopisch«, und er selbst versteht sich als ein sonderbares »Zwischenwesen«, als Anschein einer Mitte, einer weiten und schwankenden Mitte, eigentümlich eingespannt zwischen den Abgründen des unendlich Großen und des unendlich Kleinen. Auf eindrucksvolle Weise illustriert die Geschichte von Ikarus und seinem Vater Dädalus das Problem der Mitte und Hybris, die Gefahr, das »goldene Mittelmaß« (Horaz) zu verlieren. Der Ikarus-Mythos erzählt vom verlorenen Maß, von Vermessenheit, von Selbstüberschätzung und Überheblichkeit, vom Überschreiten der zu beachtenden Grenzen und dem Frevel an der Mitte. Um ihrer Gefangenschaft auf Kreta zu entkommen, und da die See- und Landwege bewacht waren, ersann Dädalus einen Ausweg durch die Luft. Er konstruierte mit Hilfe von Stangen, Wachs und Federn Flugwerkzeuge, mahnte seinen Sohn aber, weder zu tief zur Feuchte des Meeres noch zu hoch in die Hitze der Sonne zu steigen. Um der Grenze der Gefangenschaft zu entkommen, wurde also ein neuer Weg gefunden. Doch auch dieser Weg verlangt nach seiner Mitte. Weder zu viel nach unten noch zu viel nach oben, 13 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
beides bedeutete den Tod. Ikarus aber wurde übermütig, die Tragödie nahm ihren Lauf und seine hochfliegenden Pläne brachten ihm den tödlichen Sturz in die Tiefe. Hochmut kommt vor dem Fall. Jacob Peter Gouwi hat den dramatischen Moment, den Fall des Ikarus, entsprechend eingefangen: Dass der Mensch über sich hinaus will und darin eine ständige Versuchung hat, Grenzen zu sprengen, zeigt seine Ambivalenz. Diese Sehnsucht erinnert ihn, so könnte man mit Platon sagen, an einen göttlichen Ursprung, der noch in ihm nachklingt. In seinem Denken und Handeln wird er permanent versuchen, etwa vorliegende Grenzen zu verschieben oder zu durchbrechen. Dies ist sogar notwendiger Teil seiner Menschwerdung. Ein anderer Teil fordert ihn aber ebenso kontinuierlich auf, seine grundsätzliche Begrenztheit im Erkennen und Handeln zu sehen und zu respektieren, um sich nicht ins Maßlose zu verlieren und Tabus zu brechen, die seine Fähigkeit zum Glück erschüttern könnten. Der Mensch ist nämlich nicht nur mit Gott verwandt, sondern auch etwas von ihm sehr Verschiedenes. Der Spruch mahnt und warnt den Menschen also, sein rechtes Maß zu erkennen, seine Grenzen zu sehen und sich nicht zu überschätzen. Als Gegengift zur Hybris könnte er also einfach heißen: Bedenke, dass du nur ein (endlicher, sterblicher, unvollkommener) Mensch bist – und kein Gott. 3 Dass dies in die richtige Richtung Psalm 90 fordert den Menschen auf, klug zu werden, indem Gott ihn lehre zu bedenken, dass er sterben muss.
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Jacob Peter Gouwi: Der Fall des Ikarus (1636)
weist, wird unterstützt durch den Umstand, dass nach Platons Frühdialog Protagoras diese Inschrift gleich neben einem berühmten anderen Weisheitsspruch zu lesen war: »Nichts im Übermaß«. Beide Weisheitssprüche erläutern einander. Sie stimmen darin überein, dass Maß zu halten das Beste für den Menschen sei. Doch kehren wir noch einmal zu Wittgensteins Charakteristik eines philosophischen Problems zurück 15 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
und fragen wir uns, ob wir uns tatsächlich im Blick auf die Frage, wer wir sind, nicht auskennen. Sind wir uns denn nicht das allernächste und am meisten vertraute Phänomen? Wo sollten wir uns denn mehr auskennen als bei uns selbst? Aber stimmt das wirklich? Dass wir mit uns vertraut sind, wollen wir nicht bestreiten. Wenn wir allerdings noch einmal den mittelalterlichen Spruch über das Nichtwissen aufgreifen, so könnten wir sagen, dass wir mit uns als mit einem Nichtwissen oder einem Geheimnis vertraut sind. Wir können einiges über uns sagen und von uns erzählen. Aber je mehr wir zu uns erwachen, umso mehr wundern wir uns. Wir staunen über unsere Verfassung. Darüber, wie wir komponiert sind. Wir verstehen nach und nach, dass wir uns aufklären müssen, um Licht in unsere Sache zu bringen. Ganz allmählich sehen wir, dass wir für uns selbst eine Aufgabe sind. Es ist nicht einfach klar, was und wer wir sind, und warum wir das sind, was und wer und wie wir sind, und was aus uns werden kann und soll. Wir entdecken uns, um es mit den Worten von Augustinus aus seinen Bekenntnissen zu sagen, als eine große Frage, eine magna quaestio. Unsere Verantwortung ist es, auf diese Frage, die wir sind, zu antworten. Und auch wenn wir sie nicht abschließend lösen können, so können wir uns doch immer mehr in sie vertiefen, um uns angemessener zu verstehen und angemessener zu leben. Menschen als Menschen sind Sterbliche. Das ist die wesentliche Einsicht, die eine Vergleichsanthropologie des Menschseins und Gottseins herausstellt. Von dieser 16 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
ersten und ursprünglichen Bedeutung aus hat das delphische Motto einen universalen Siegeszug durch das abendländische Denken genommen und vielfältige weitere Sinnbedeutungen hervorgebracht. Wir lassen uns durch diese Deutungen inspirieren und nehmen die Spur von fünf besonderen Aspekten der Selbsterkenntnis auf. 4 Sie sind Fragen, die sich an uns richten, um die Fraglichkeit unseres eigenen Menschseins näher zu beleuchten: • • • • •
Wer oder was bin ich überhaupt als Mensch? Wer oder was bin ich als dieses besondere Wesen? Wer oder was bin ich in meiner Selbstverborgenheit oder meinem Selbstentzug? Wer oder was bin in der Annahme meiner selbst? Wer oder was bin ich als Aufgabe ohne Ende?
Andere mit der Selbsterkenntnis verbundene Fragen, wie etwa: Werde, der du bist oder Ganz/heil werden sind so umfangreich und bedeutungsvoll, dass sie eine separate Betrachtung verdienen und in anderen Bänden der Lebenskunstreihe vorgestellt werden.
4
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2 Erkenne dich selbst – Leitmotiv abendländischen Denkens
(Sokrates) Ein Leben ohne Selbsterforschung aber verdient gar nicht gelebt zu werden.
Bevor wir auf diese fünf Fragen des eigenen Menschseins in den nachfolgenden Kapiteln näher eingehen, kommen wir noch einmal kurz auf die Inschrift im Apollotempel zurück. Wenn wir nämlich die abendländische Philosophie wie eine große Erzählung oder eine symphonische Dichtung zu den großen Fragen verstehen, die die Menschen bewegen, dann ist der delphische Spruch eines der zentralen Leitmotive dieser Philosophie, der sie durch den Fortgang der Zeit in unterschiedlichen Variationen begleitet und prägt. Im Gewebe des philosophischen Nachdenkens sind sie wie immer wiederkehrende Fäden eingesponnen, die das Gespräch über die Jahrhunderte hinweg als Ganzes zusammenhalten und charakterisieren. Der erste und ursprüngliche Sinn des Spruchs »Erkenne dich selbst« ist, wie wir gesehen haben, eine Warnung vor Hochmut und eine Mahnung, Maß und Mitte so zu finden, wie sie dem Menschen angemesse18 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
nen sein können. Jedenfalls sollten sich die unvollkommenen und sterblichen Menschen nicht mit den vollkommenen und unsterblichen Göttern verwechseln. Wie eine Ouvertüre zu einer Reise durch die Zeit setzt die Inschrift einen Prozess der Reflexion in Gang, der um Begriffe wie Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, Selbstbeziehung, Selbstverhältnis oder Selbstbestimmung kreisen wird. Allerdings ist diese Reise der Selbsterkenntnis durchaus mühevoll. Kant sagt, sie »ermüdet unsre Kraft sehr, fällt uns beschwerlich, und hat wenig Unterhaltendes«. Außerdem müssen wir uns gut davor hüten, dass die Selbsterkenntnisneigung sich nicht chronifiziert und womöglich eine pathologische, skrupulöse Selbstbeobachtung wird, die uns erschöpft und aufzehrt. Wir können Selbsterkenntnis nach Kants Vorschlag sinnvoll praktizieren, wenn wir uns von Zeit zu Zeit selbst reflektieren bzw. ein gezieltes Interesse an Selbstaufklärung der menschlichen Verfassung haben: »Müssen wir uns damit beschäftigen, die Gedanken auf uns selbst zu richten, und uns selbst zum Gegenstande unserer Gedanken machen? Es kann seyn, daß jemand auf sich selbst acht hat, um zu speculiren, und den Menschen überhaupt zu studiren, wie die thun, welche die Natur des Menschen untersuchen. Dieses Beobachten der Triebfedern der menschlichen Handlungen ist ein ruhiges Studium, wo wir mit unsern eigenen Gedanken gleichsam spielen, um daraus zu sehen, welches Spiel die Natur mit den innern Anlagen aller Menschen vornimmt.« 19 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Aus der Vielzahl der Überlegungen, die mit der Selbsterkenntnis verbunden sind, greifen wir uns nur noch drei weitere Gesichtspunkte etwas genauer heraus. Zum einen interessiert uns, worauf das Wort »selbst« in »Erkenne dich selbst« abzielen könnte. Des Weiteren wollen wir die erkenntnistheoretische Problematik, die in der Selbsterkenntnis liegt, besser verstehen. Schließlich benötigen wir ein Verständnis dafür, dass Selbsterkenntnis und Selbstbildung miteinander verknüpft sind. Beginnen wir mit diesem letzten Punkt, der für die Lebenskunst besonders wichtig ist. Auch hier können wir schon an Einsichten Platons anknüpfen. Er ist nämlich wie sein Lehrer Sokrates davon überzeugt, dass reine, theoretische Selbsterkenntnis nutzlos wäre. Der Mensch ist ja vielmehr einer, der unfertig ist und der erzogen werden, aber vor allem sich selbst bilden muss. Darum besteht Sokrates, wie im Eingangszitat zu diesem Kapitel ersichtlich, auf der Unersetzbarkeit der Selbsterforschung, deren wichtigste Leistung es nach seiner Auffassung ist, zwischen guten und schlechten Lebensweisen zu unterscheiden und die jeweils beste auszuwählen. Dieser Linie folgen auch die Denker der Stoa, Epiktet oder Mark Aurel etwa, wenn sie uns zur Selbstprüfung ermahnen, damit wir nicht wie Eintagsfliegen unser Leben vertändeln, dahinleben und nicht zur Selbsterkenntnis finden. In diesem Sinne kann auch ein berühmter mittelalterliche Philosoph, Petrus Abaelardus, eines seiner Werke Ethik oder Erkenne dich selbst und ähnlich ein neuzeitlicher Philosoph, 20 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Arnold Geulincx, seines Erkenne dich selbst oder Ethik nennen. Wissen wird hier also zugleich in seiner praktischen Dimension als Ge-Wissen angesprochen und mit der Ethik verknüpft wird. So nimmt uns beispielsweise Platon in seinem Meisterdialog Phaidros an einem schönen Tag mit zu einer Flussszene in Athen, wo Sokrates und sein Gesprächspartner Phaidros gerade einen wunderbaren Schattenplatz unter einer Platane gefunden haben. Sokrates erklärt, dass er sich nicht über irgendwelche anderen komplizierten Themen den Kopf zerbrechen werde, solange er in der notwendigen und ersten Aufgabe der Selbsterforschung noch nicht vorangekommen ist: »Ich kann noch immer nicht nach dem Delphischen Spruch mich selbst erkennen. Lächerlich also kommt es mir vor, solange ich hierin noch unwissend bin, an andere Dinge zu denken.« Nicht theoretisches Wissen ist maßgeblich, sondern Selbsterkenntnis, um sein Leben gut zu führen. Es kommt auf die Einheit von Lehre und Leben, die Übereinstimmung von Theorie und Praxis, die Kongruenz von Reden und Handeln an. Da Sokrates in der Selbsterkenntnis aber noch nicht so weit ist, will er sich um diese Unwissenheit genauer kümmern. Das Ziel der Bildung ist entsprechend für Platon ein Leben im Guten, ein Leben, das sich am Guten sein Maß nimmt. Selbsterkenntnis dient folglich unter der Idee des Guten dazu, ein besonnenes oder maßvolles Denken zugleich im Einklang mit einem maßvollen Reden und Handeln zu entwickeln. Der Vorrang der Ethik ist 21 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
schließlich daran zu erkennen, dass sie das Wichtigste ist und dem Denken sein Ziel gibt. Auch die Entscheidung selbst, dass Theorie und Praxis Hand in Hand gehen sollen, ist bereits eine ethische. Dass Wissen in diesem Sinne immer Ge-Wissen ist und Selbsterkenntnis sowohl theoretische als auch praktische Bedeutungen umfasst, ist ein Gedanke, der sich auch noch im Idealismus bei Kant und Fichte findet. Selbsterkenntnis begründet nämlich nicht nur die theoretische Philosophie, sondern unter dem Gesichtspunkt von Freiheit und Autonomie als Selbstbestimmung auch die praktische. So bestimmt Kant Philosophie als »die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt«, und in seinem unvollendeten »Spätwerk«, dem opus postumum, einem Manuskript, das eher einer Ideensammlung gleicht, formuliert er programmatisch: »Philosophie ist 1. Autognosie 2. Autonomie. Wissenschaft u. Weisheit.« Theoretisches Wissen oder aber Selbsterkenntnis nur als l’art pour l’art fördert die Aufgaben der Lebenskunst, die doch die eigentlich dringenden sind, nicht. So wird verständlich, dass Selbsterkenntnis sehr bald Selbstfürsorge wird, indem sie den Forderungen der Selbstbildung oder der Selbstgestaltung ihre Klärungen als eine Art Kompass und Leuchtfeuer zur Verfügung stellt. In einem wichtigen Punkt allerdings unterscheidet sich die platonische Lebenskunst von der modernen. Da nicht der Mensch das Maß der Dinge ist, sondern nach seiner Auffassung das göttliche Gute, an dem er 22 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
sich messen soll, bedeutet Selbsterkenntnis nicht »Erkenne dein Selbst oder dich selbst«, sondern »Erkenne, was für dich selbst als Mensch gut und notwendig ist«, nämlich die Ausrichtung auf etwas, was dir ein Maß gibt, die »Idee des Guten«. Doch schon bei den Stoikern, Seneca etwa, wird das Maß aus der platonischen Idealwelt herausgenommen und stattdessen darin gefunden, in Übereinstimmung mit der (eigenen) »Natur« zu leben, sei diese nun göttlichen Ursprungs oder auch nicht. Die erste Fassung des Spruchs begrenzt den Menschen durch den Vergleich mit dem Göttlichen auf sein Menschen-Maß. »Erkenne dich selbst« ist ein Demutsappell. Kant fasst das ähnlich auf, wenn er sagt: »Die erste Wirkung der Selbsterkentnis ist die wahre Demuth aus der Vergleichung seiner selbst mit dem Gesetze – die zweyte ist das Bewustseyn der Erhabenheit seiner Naturanlage«. Doch diese Selbsterkenntnis ist nur der »Anfang der Weisheit«. Wenn man aber den Spruch nun anders und weiter in Anspruch nimmt, nämlich so, dass wir tatsächlich aufgefordert sind, eine noch ausstehende, ungeklärte Arbeit zu leisten, nämlich über uns nachzudenken und uns selbst zu verstehen, dann beginnt etwas Neues. Was kann das Ziel dieses Nachdenkens sein, wenn wir uns »selbst« erkennen sollen? Wenn wir »selbst« in »erkenne dich selbst« gezielt klein schreiben, setzen wir den Akzent reflexiv. Der Satz bedeutet dann in etwa »erkenne dich selbst darin oder dabei, wenn du dich selbst zu erkennen unter23 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
nimmst«. Versuchen wir zu begreifen, was wir tun, wenn wir uns selbst erkennen, dann handelt es sich bei dieser Selbsterkenntnis um Erkenntnis von Erkenntnis. Wir halten uns gleichsam einen Spiegel vor die Nase, um zu sehen, was wir tun und sind, wenn wir erkennen. Wir entwickeln also eine Art von Erkenntnistheorie, in der wir uns als Erkennende selbst untersuchen und dadurch Erkenntnis von uns als Erkenntniswesen und den dabei vollzogenen Erkenntniswegen gewinnen. Diese Untersuchung ist formal auf den Erkenntnisprozess und thematisch auf das Erkenntnisfähige in uns bezogen. Stellen wir uns hingegen das »Selbst« im delphischen Spruch großgeschrieben vor, so suchen wir nach etwas, was wir manchmal als Variation von »Ich« betrachten, öfter jedoch als Alternative zum »Ich« ansehen, etwa nach dem Muster: »Wer bin ich denn eigentlich?« oder »Vom Ich zum (wahren) Selbst«. Diese Lesart können wir im Unterschied zur vorherigen als »material« bezeichnen. Denn hier geht es nicht um das Erkennen selbst, sondern um das Erkennen eines Selbst als Objekt, d. h. als eines besonderen oder eigenständigen Themas, Inhalts oder Gegenstandes. Andere Beispiele für eine solche inhaltliche Lesart des Selbst als ein eigenes Thema des Erkennens sind denkbar. So könnte sich Selbsterkenntnis etwa auf unseren Leib beziehen, auf unsere Seele oder auf das wahre oder authentische Selbst. Bei Descartes wiederum ist das Ziel der Selbsterkenntnis unbezweifelbare Selbstgewissheit, die dann als unerschütterliches Fun24 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
dament und Ausgangspunkt für das weitere Philosophieren in Anspruch genommen wird. In der Lebenskunst steht vor allem der Gebrauch des Wortes »das Selbst« bzw. das »wahre Selbst« im Mittelpunkt. Die letzte Frage, die wir wenigstens kurz anreißen sollten, betrifft die Probleme, die dem Erkennen selbst innewohnen. Sokrates nahm das Orakel von Delphi zur Erklärung dafür, warum es ihn als den weisesten der Menschen auszeichnete. Der Grund ist einfach. Im Unterschied zum Scheinwissen der Menschen, die behaupten, sie wüssten Bescheid über die Dinge, ohne dass dies bei genauer Prüfung tatsächlich der Fall ist, ist die Weisheit des Sokrates primär die, dass er sich bewusst ist, dass er nichts weiß. »Erkenne dich selbst« weist auf ein fundamentales Nichtwissen hin. Das Bewusstsein dieses Nichtwissens nimmt das Motiv der Gefährdung durch Hybris und damit einen Grundzug der ursprünglichen Bedeutung des »Erkenne dich selbst« noch einmal auf. Um sein Nichtwissen zu wissen ist jedenfalls besser, als sich in Scheinwissen oder Falschwissen einzurichten. Selbst das penetrante Fragen des Sokrates ist zunächst nichts anderes als die Aufhebung einer Überheblichkeit. Der Athener war ja berühmt für seine Fragekunst, mit der er seinen Mitbürgern klarmachte, dass sie in vielen Dingen nur ein Scheinwissen besaßen. Indem Sokrates gern und viel fragte und dabei radikal in Frage stellte, ging er seinen Landsleuten mächtig auf die Nerven. Dabei können wir die zwei Seiten der Fragekunst gut erkennen. Das Ziel war zunächst einmal 25 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
negativ, den vermeintlichen Wissensbesitz durch strenge Prüfung als brüchig zu erweisen, das Bescheidwissen der Halbgebildeten zu untergraben, die Selbstverständlichkeit des vermeintlichen Wissens als haltlos zu erschüttern. Interessant ist es aber nun, wie Sokrates seine Fragekunst mit dem elterlichen Erbe in Verbindung bringt. Während sein Vater als Steinmetz und Bildhauer arbeitete, ein vortreffliches Bild für die pädagogischen Absichten des Sokrates, war seine Mutter von Beruf Hebamme. Hebammen sind die Expertinnen, Schwangeren dabei zu helfen, ihre Kinder zu bekommen. Die Hebammenkunst, die Mäeutik, ist das überaus passende Bild, das Sokrates der Fragekunst positiv zur Verfügung stellt. Indem sein bohrendes Fragen das Scheinwissen zerstört, öffnet es nämlich den Raum der existenziellen Seelsorge. Fragen sind Hebammenkunst, Versuche »geistiger Geburtshilfe«, um den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen und Selbsterkenntnis aus dem Nichtwissen heraus zu fördern, nachdem zuvor das Pseudowissen erschüttert und abgelegt wurde. Selbsterkenntnis ist, so wird der Gedanke im platonischen Frühdialog Charmides ausgeführt, eine Besonnenheit, die zu unterscheiden weiß, was man weiß und was nicht. Jedenfalls gehört es zur sokratisch geprägten Lebenskunst, dass wir die Fragen des Lebens und des Erkennens nicht einfachhin beantworten können, indem wir auf irgendwelche vorgegebene Wissensbestände zurückgreifen. Vielmehr müssen wir in das Fragen selbst einsteigen, uns befragen und befragen lassen, so 26 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
dass wir uns im Vertiefen dieses Weges, dem FrageWeg, mehr und mehr auf die Spur kommen. Der archimedische Punkt dieses Fragens bildet der delphische Imperativ »Erkenne dich selbst«. In dieser Tradition der Selbsterkenntnis finden wir viele klangvolle Namen wie etwa Cicero oder Seneca oder auch Montaigne, der in seinen Essais sich selbst als exemplarische Gestalt beobachtet und studiert. Vor allem das eindrucksvolle Kapitel »Über die Erfahrung« kreist auf vorzügliche Weise um das »Erkenne dich selbst« als einem unendlichen Thema des Lernens. Und auch Pascal, der sich auf Montaigne bezieht und ihn kritisiert, weil er sich zu wichtig nehme, sagt doch: »Man muss sich selbst erkennen. Wenn das nicht helfen sollte, das Wahre zu finden, so hilft es wenigstens dabei, sein Leben einzurichten, und es gibt nichts Richtigeres.« Wissen ist immer auch Wissen von den Grenzen des Wissens, was nach Kant ja »das nöthigste aber auch das schwerste« ist. Nur dies kann als richtiges Denken angesehen werden, welches danach fragt, wo seine Grenzen verlaufen, sich ihrer bewusst zu sein und sie zu beherzigen. Das »Erkenne dich selbst« fordert also dazu auf, ein grenzbewusstes Denken zu praktizieren. Für die grenzbewusste Weisheit des Denkens, die sich dann einstellt, wenn sich seine Wissens- und Kompetenzansprüche als brüchig erweisen, findet Pascal die eindrucksvolle Formulierung von der »ignorance savante qui se connaît«, also einer wissenden oder klugen Unwissenheit, die um sich selbst weiß. Mit dieser Formulierung zielt er auf ein ethisches Moment im 27 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Prozess des Erkennens, auf eine Demut der Vernunft. Demütig ist die Vernunft nur dann, wenn sie sich in ihre Grenzen bescheidet und in ihr selbst ein Gegengift für Selbstüberschätzung findet. Demut ist Ausdruck des reflektierten und angenommenen Nichtwissens und das Heraustreten aus der Denkfalle des endgültigen, dogmatischen Bescheidwissens. Gleichwohl taucht hier sehr bald eine Spannung auf. Wie das Bild Der Vogel Selbsterkenntnis zeigt, kann die Selbsterkenntnis den Hochnäsigen und Naseweis in die Nase zwicken, um ihn an die rechte Bescheidenheit zu erinnern. Dann sagt das Bild: Führ dich doch nicht an der Nase herum! Du musst doch nicht, was dich noch gar nicht juckt und brennt, entfachen und anfeuern wollen. Andererseits kann das Bild mahnen, dass wir uns schon bei der Nase packen müssen, um uns ernsthaft und in der Tat selbst zu erkennen. Ob das aber tatsächlich möglich ist und wir uns nicht erneut und nur auf andere Weise wieder an der Nase herumführen? Jeder Philosoph kann zwar zugeben, dass wir nur Menschen und keine Götter sind. Doch einige sind der Auffassung, dass es etwas Göttliches in uns gibt, nämlich genau jenes, was uns zu Erkennenden macht. So meint etwa Aristoteles, dass dem Menschen das, was dem Gott beständig und glückselig gelingt, nämlich vollkommene Selbsterkenntnis, dem Menschen wenigstens zuweilen möglich sei. Das aber erweckt sowohl Zuspruch als auch Widerspruch. Von hieraus nimmt das Thema der Selbsterkenntnis in seinen verschiede28 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Anonym: Der Vogel Selbsterkenntnis (Nimm dich selbst bei der Nase; 17. Jh.)
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nen Varianten einen zunächst beispiellosen Aufstieg, der seinen Höhepunkt in der Neuzeit bei Descartes, Leibniz, Rousseau und Locke, dann vor allem bei Kant sowie im Idealismus Fichtes, aber auch Hegels findet. Die wachsende Individualisierung und Subjektivierung verändert das Verständnis des »Erkenne dich selbst« massiv. Menschliche Selbsterkenntnis fügt sich nicht mehr in eine vorgegebene Ordnung ein, die sie in der eigenen Seele nachbildet. Vielmehr wird sie der Quellpunkt, aus dem die ganze Welt entworfen wird. Auf den höchsten Höhen ist Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein nun der absolute Punkt der theoretischen und praktischen Begründung der Philosophie geworden. Die nachidealistischen Philosophien Schopenhauers und Nietzsches eröffnen jedoch wenig später bereits eine Philosophie des Verdachts gegen die Selbsterkenntnis und beginnen mit ihrer systematischen Relativierung und allmählichen Destruktion. Sie wollen den Menschen erneut in die Nase zwicken. So meint Nietzsche, wir seien uns zutiefst »unbekannt«: »Jeder ist sich selbst der Fernste«. Die Aufforderung des »Erkenne dich selbst« müsse man daher geradewegs eine »Bosheit« für die Menschen nennen, da diese sich doch durch ihre permanenten Selbsttäuschungen als die ungeeignetsten Wesen der Selbsterkenntnis erweisen. Man müsse also ein »unbezwingliches Misstrauen gegen die Möglichkeit der Selbst-Erkenntnis« hegen. In der frühen Phänomenologie Husserls ist das »phänomenologische Ich«, ähnlich wie bei Sartre, nur 30 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
der Name eines subjektlosen Bewusstseinsstroms. Philosophische Konkurrenten wie »Leben«, »Existenz« oder »Dasein« verstoßen das Ich mehr und mehr von seinem Thron. Allenthalben wird auf die Endlichkeit und Abhängigkeit des Ich und des Selbstbewusstseins von Bedingtheiten aufmerksam gemacht: auf das Unbewusste, auf die Sprache, auf Geschichte und Gesellschaft. Ich, Selbst, Bewusstsein – das sind Vokabeln, die ihre prominente Sonderrolle heute weithin eingebüßt haben und vielfach bereits als Illusionen oder irrtümliche Ideen angesprochen werden. Wie weit und rasend schnell hat sich diese Sicht der Dinge etwa von der Auffassung Kants entfernt. Für ihn war das Ich nicht nur eine logische Funktion, die alle Gedanken und Handlungen begleiten muss, sondern »der stärkste Gedanke, den ein Mensch fassen kann«, das, was uns zu Personen macht. Ging er dabei noch von der Überlegung aus: »Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen«, so wendet sich alsbald das Blatt. Das »Erkenne dich selbst« gerät mehr und mehr in eine Krise. Vorstöße aus den Wissenschaften, namentlich aus den Neurowissenschaften, tragen ihren Teil zur Relativierung oder sogar Eliminierung der Selbsterkenntnis bei. So kehren wir, zwischen neuen Überheblichkeiten und Übertreibungen, wieder, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, zu Demut und Bescheidenheit zurück, die Phänomen und Begriff der Selbsterkenntnis von Anfang an als Motive begleitet haben. 31 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
In seinem frühen Dialog Charmides hat Platon erstmals viele wesentliche Fragen und Probleme, die mit der Selbsterkenntnis verbunden sind, aufgezeigt und diskutiert. Hieran konnten die nachfolgenden Denker und Schulen anknüpfen, um sie immer weiter aufzufächern. Die Ernte, die uns die bisherige Philosophiegeschichte der Selbsterkenntnis eingefahren hat, ist daher vor allem ein vielfältig differenziertes Bild an Fragen. Und da Philosophie ja unter anderem Differenzierungskunst ist, steht ihr dies sehr gut zu Gesicht. Um einen Eindruck hiervon zu gewinnen, führen wir nur einige der erkenntnistheoretischen Detailfragen an, die das Problem der Selbsterkenntnis begleiten. Ist Selbsterkenntnis eher ein Selbstwahrnehmen wie in einem Spiegel oder doch eher ein sich selbst hervorbringen? Ist Selbsterkenntnis Grundlage und Fundament für Erkenntnis aller anderen Dinge oder selbst seinerseits fundiert und abhängig von anderem? Gibt es einen Träger der Selbsterkenntnis, jemand, der Adressat ist, einer, der sich seiner selbst bewusst ist, der auch durch die Zeit hindurch eine Identität des Bewusstseins oder doch mindestens ein Bewusstsein der Identität besitzt und für den alle die Dinge sind? Oder weisen uns andere Phänomene, z. B. selbstvergessene Hingabe, Konzentration, Schlaf, Ohnmacht und andere Formen der Bewusstlosigkeit, Kreativität und nicht-intentionale Zustände in eine andere Richtung: einen primär ichlosen Bewusstseinsstrom von Erlebnissen? Erwachen wir aus einem unbewussten Selbstverhältnis erst allmählich zu einem bewussten, ausdrück32 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
lichen, klaren Selbstverhältnis? Und wie hängen beide miteinander zusammen? Weiß die Selbsterkenntnis von sich selbst nur, dass ich bin oder auch was ich bin? Was denkt das Selbstbewusstsein, wenn es sich selbst denkt, und wie gelangt es von sich hin zu einem Erkennen der Welt? Wie hängen also Gegenstands- und Selbstbewusstsein, Selbstanschauung und Weltanschauung miteinander zusammen? Besitzt die Selbsterkenntnis entsprechend auch die Werkzeuge zur Erkenntnis der Dinge der Welt? Und wie schafft sie den Übergang zu dem, was etwas anderes ist als sie selbst? Oder erkennt sie sich selbst nur auf dem Weg durch die Dinge der Welt? – Brechen wir die Reihe möglicher weiterer Fragen an dieser Stelle ab. Solche und ähnliche Fragen werden jedenfalls durch das Problem der Selbsterkenntnis aufgeworfen. Sie berühren auch mit mehr oder weniger Gewicht die Frage des Zusammenspiels von Lebenskunst und Selbsterkenntnis. Zusammen bilden sie ein verwirrendes Gebilde, in das das Abenteuer der Selbsterkenntnis verstrickt ist. Wahrscheinlich steckt in allen Teilantworten, die auf diese Fragen gegeben werden, ein relatives Recht an Wahrheit. Möglicherweise gibt es einen übergeordneten Gesichtspunkt, den wir bisher nicht haben finden können, von dem aus alle relativen Gesichtspunkte, so sehr sie sich unmittelbar zu widersprechen scheinen, ein gemeinsames Bild ergeben. Doch trotz einiger recht tollkühner Ambitionen, die in der Regel reduktiv statt integrativ sind, gibt es niemand, der ernsthaft mit dem Stein der Weisen in der Hosen33 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
tasche klimpern könnte. Das Zauberstück, alles, was hier an Fragen auftaucht, angemessen und widerspruchsfrei in eine konsistente Theorie der Selbsterkenntnis zu bringen, ist noch keinem gelungen. Die Frage nach uns selbst, die mit den vielen anderen Fragen verwoben ist, ist die Frage nach dem Menschen als einem Rätsel und Geheimnis. Die vielen anderen Fragen, von denen zuvor einige aufgeführt wurden, sind nicht notwendig zuerst zu beantworten, um ein gutes Leben führen zu können. Ähnlich wie wir keine besonderen Kenntnisse der Mechanik, Physiologie oder Mikrophysik des Atmens haben müssen, um gut atmen zu können. Man muss kein Lungenspezialist sein, um im Allgemeinen und lebenspraktisch gut mit dem Atmen zurechtzukommen. Goethe hat das »bedeutende Wort … Erkenne dich selbst« darum auch wie vor ihm schon Kant von allen tiefschürfenden »psychologischen Quälereien« freihalten wollen und vorgeschlagen, es bedeute einfach: »Gib einigermaßen acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst.« Entsprechend müssen wir nicht wissen, wie Selbstwissen in uns möglich ist, um uns selbst im Blick auf ein gelungenes Leben zu erforschen. Wir müssen nicht verstehen, was mentale Zustände sind, um uns als Personen lebenspraktisch zu verstehen. Wahrscheinlich könnte dieses Spezialwissen uns helfen, weniger zu irren. Es könnte uns helfen, manchen Verwirrungen zu entkommen, falls sie nicht nur 34 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
auf eine höhere Ebene gehoben werden. Doch die Fragen, die hier auftauchen, sind so schwierig, dass wir sie insgesamt als ein letztlich unergründliches und unerschöpfliches Forschungsgebiet begreifen müssen. Auch für dieses gilt: vita brevis, ars longa – kurz ist das Leben, lang die Kunst, die Dinge zu erforschen. Wollten wir die »endgültigen« Ergebnisse der Wissenschaft oder der Heilkunst oder der Philosophie abwarten, um richtig und gesund und wahr leben zu können, so wären wir völlig verloren. Diese Diskurse scheinen ohne Ende zu sein. Endgültige, fraglose Ergebnisse werden wir hier wohl niemals erwarten können, und es muss ein gutes Leben auch wenigstens einigermaßen einzurichten sein, ohne auf diese großen Künste als etwas zu warten, das uns ein abschließendes Wort gibt. Selbsterforschung und Selbstfürsorge suchen zu verstehen, wer und was wir sind, um gut leben zu können. In diese gewaltige »große Frage«, die wir uns selbst sind, können wir uns, so scheint es, immer nur mehr vertiefen. Definitiv beantworten können wir sie nicht. Die, die hier verkünden, sie könnten uns eine abschließende Antwort geben, sind sophistische Großsprecher, Lügner und Täuscher. Die heutige Krise der Selbsterkenntnis ist nichts als die ewige Krise, die mit dem Wort »Selbsterkenntnis« schon immer angezeigt wurde, nur eben in heutigem Gewand. Klugerweise halten wir es dort aus, wo Platon im Charmides den Dialog enden lässt: unentschieden und wohl auch unentscheidbar im Weglosen, im Nichtwissen. Doch raten können wir uns selbst und gegenseitig, was wir für die 35 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Fahrten auf dem stürmischen Meer des Erkennens und des Lebens als das beste Floß ansehen, so sehr es auch zerbrechlich sein mag: den nach allem Abwägen, so Platon, uns jeweilig am »schwersten widerlegbar« scheinenden Gedanken zu finden und ihm zu folgen. Wir hatten gesagt, dass die These, der Mensch sei wenigstens zeitweilig in der Lage zu vollkommener Selbsterkenntnis, Widerspruch erweckt. Der Grund dafür scheint nun der zu sein, dass wir strukturell in einer Nichtidentität auch des Erkennens stecken, so sehr wir uns vielleicht nach einer vollendeten Selbstdurchsichtigkeit sehnen mögen. Immer, wenn wir etwas klar und vollkommen zu erkennen suchen, so lautet der Einwand, setzen wir eine Maschinerie der Differenz in Gang. Es treten dann drei Dinge auseinander in einen Abstand und Bruch, der nicht für Menschen zu überbrücken ist: das, was erkennt, der Erkennende, das erkennende Subjekt zum einen, zum zweiten der Akt des Erkennens selbst, der versuchte Brückenschlag, und das, was erkannt wird, das Erkannte, das erkannte Objekt zuletzt. Zwischen diesen dreien aber herrscht ein »zwischen«, das heißt ein Abstand, eine Trennung, ein Entzug. So, als ob wir etwas gerne »unmittelbar«, d. h. »ohne Vermittlung«, wahrnehmen oder fühlen oder denken wollten, während wir doch dabei und dafür tausend Mittel in Anspruch nehmen müssen. Die Strukturbrüche des Erkennens verbinden sich mit der Herrschaft der Zeit. Die Zeit zerdehnt uns in einen Prozess, in dem wir nicht mehr »eins« und mit uns »identisch«, sondern »entzweit« sind. Wir Men36 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
schen, deren Engel die Zeit ist (Friedrich Schiller), müssen daher wohl auf die Idee kommen, uns der Zeit zu überlassen und durch die Zeit hindurch einen zweiten Prozess in Gang zu setzen, der uns vielleicht wieder aus ihrem Mahlwerk befreit. Schließlich ist es die Zeit selbst, die nicht nur über uns Gericht hält, so dass wir eben die Zeitlichen genannt werden. Sie ist auch das Geschenk, dass wir noch Zeit haben, um uns in das einzufinden, was uns angemessen ist. Ein Erfassen durch Identität, ohne dass auch nur ein Hauch »zwischen« dem Erkennenden und dem Erkannten stünde, scheint uns, so wie wir sind, nicht menschenmöglich. Vollkommenes Selbstverstehen, ganze Selbsttransparenz, vollendete Durchsichtigkeit, das scheint es nur für die Götter, nicht aber für Menschen zu geben. Vielleicht rühren wir daran oder haben einen Traum davon. Paulus spricht dies im 1. Korintherbrief auf seine Weise aus: »Wir sehen nämlich jetzt durch einen Spiegel rätselhaft, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt worden bin.« Es gibt eine verborgene Fülle, die das Fassungsvermögen des Denkbaren übersteigt: »Der Mensch übersteigt den Menschen unendlich.« (Pascal) Wir sind ganz vorläufig im Verhältnis zu dem, was sich entzieht, unverfügbar ist und sich all unseren Definitionsversuchen entzieht. Darum bleibt dem Menschen »jetzt« auch nur ein Sehen durch einen Rätsel-Spiegel, der unbegreifliche Blick in ein dunkles Bild und ein
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bruchstückartiges Erkennen. Aber »vorläufig«, das bedeutet auch: unterwegs, auf dem Weg. Die vorangegangenen Gedanken erinnern uns jedenfalls daran, dass die Lebenskunst und in ihr die Selbsterkenntnis keine Früchte sind, die uns leicht in den Schoß fallen. Sie hängen zum Teil in schwierigen Höhen, sind schwer zu ernten; und selbst wenn es uns gelungen ist, eine kleine Ernte für uns einzufahren, so haben wir noch keine Sicherheit, ob sie genießbar ist, uns schmecken wird und von uns verdaut werden kann. Vieles ist hier zu lernen und zu beachten. Selbsterkenntnis ist also durchaus Arbeit. Doch sie lohnt es uns damit, dass wir in der Kunst des Lebens wachsen und die hierbei notwendigen Einsichten und Könnerschaften entwickeln.
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3 Du bist wie alle
(Fjodor Dostojewski) Die Ameise kennt die Formel ihres Ameisenhaufens, die Biene die Formel ihres Bienenstocks … Nur der Mensch kennt seine Formel nicht.
Mit allen Lebewesen teilen wir Menschen das Biomolekül DNA. Sie ist der biologische »Bauplan« des Lebens. Mit allen Menschen teilt jeder von uns eine humanspezifische DNA als Informationsträger des Erbguts. Diese DNA des Menschen gilt seit dem Jahr 2003 als vollständig »entschlüsselt«, d. h. als vollständig sequenziert. Das meiste, was in den Genen vor sich geht, harrt aber immer noch der wissenschaftlichen Erforschung. Würde diese Forschung erfolgreich sein, könnten wir von einer DNA-Formel für den Menschen sprechen. Wäre dies die Formel, von der Dostojewski spricht? Wohl kaum. Wir hätten dann zwar wieder einen Meilenstein in der biologischen Betrachtung des Menschen erreicht. Aber die philosophische Selbsterkenntnis sucht eine Allgemeinheit für alle Menschen, die von anderer Art ist als die wissenschaftliche. Wir können das vielleicht besser verstehen, wenn wir den Begriff einer Vergleichsanthropologie benutzen. Hierbei vergleichen wir den Menschen mit etwas anderem, um 39 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
das Spezifische, das Besondere des Menschen durch eben jenen Vergleich zu finden. So haben wir gesehen, dass der erste Gebrauch des delphischen Spruchs »Erkenne dich selbst« durch solch einen Vergleich geprägt war. Der Mensch wurde mit den Göttern verglichen. Das Besondere, das dieser Vergleich für den Menschen erbrachte, war, dass er ein endliches, unvollkommenes, sterbliches Lebewesen ist (das sich nach Vollkommenheit und Unsterblichkeit sehnt). Einem solchen Wesen sagt der Weisheitsspruch: Bescheide dich! Du bist nur ein Mensch, aber kein Gott! Wenn wir den Menschen mit den Tieren vergleichen, dann wird oft darauf abgehoben, dass er ein selbstbewusst-reflexives Wesen ist. Vergleichen wir ihn mit einer Maschine, etwa einem Computer, so ist es vielleicht seine spezifische Emotionalität oder Kreativität, die ihn von allem anderen unterscheidet. Alle diese Vergleichsanthropologien haben ihren methodischen Zugang wie die wissenschaftliche Betrachtung des Menschen gewissermaßen von außen. Sie betrachten den Menschen als einen Gegenstand oder ein Objekt, das beobachtet, untersucht und analysiert wird. Bestimmte wertvolle Einsichten, Merkmale, Kenntnisse stellen sich dann ein. Ist es aber das, was wir in der philosophischen Selbsterkenntnis suchen? Ohne dass diese derart gewonnenen Einsichten unwichtig wären, wählen sie doch einen methodischen Zugang, neben dem es noch einen bedeutungsvollen anderen für den Menschen gibt. Sie gehen, wie gesagt, gleichsam von außen auf einen Gegenstand zu, um ihn 40 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
aus der Perspektive der dritten Person zu betrachten. Wir haben aber für uns selbst die ausgezeichnete Möglichkeit, uns aus unserem Erleben heraus in der Perspektive der ersten Person zu erschließen. Wir wissen dann nicht nur etwas über etwas, sondern wir wissen von den Dingen um die Dinge. Wir reden nicht nur über Liebe oder Schuld oder Vertrauen wie von außen über empirische Gegenstände, sondern wir wissen von der Liebe um die Liebe, von der Schuld um die Schuld. Wir haben sie erlebt, wissen, wie es sich anfühlt, darin zu sein, und können nun dieses gehaltvolle implizite Wissen, das uns in der Selbsterfahrung gegeben ist, als Selbsterkenntnis auf den Weg bringen. Setzen wir noch einmal bei der wichtigen Formulierung Augustins ein, dass wir uns selbst nicht in völliger Durchsichtigkeit, sondern als eine »große Frage« gegeben sind. Wäre damit nur einfach eine partielle Selbstintransparenz gemeint, könnte man mit Thomas Hobbes Selbsterkenntnis als Versuch einer noch ausstehenden Selbstlektüre kennzeichnen; denn er übersetzt das »Erkenne dich selbst« in ein »read thyself«: »Lies dich selbst«. Hobbes wollte zwar nicht das individuelle Herz ergründen, sondern im eignen Herzen den »jedermann«, die Menschheit suchen, um von hieraus seine Staatstheorie zu erläutern. Aber das muss uns jetzt nicht kümmern. Immerhin, er stellt sich dieses Erkennen des menschlichen Herzens als eine Art Lektüre vor. Lies im Herzen der Menschen, d. h. in deinem eigenen, dann wirst du verstehen, wie der Mensch ist. Wenn schon die Metaphorik des Lesens eine ge41 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
wisse Entspanntheit anzeigt, die vielleicht nur noch erfordert, dass wir etwas mehr oder ein wenig genauer lesen als bisher, bis wir dann endlich verstehen, so treiben postmoderne Denker die Entspanntheit im Literarischen noch weiter. Sie finden die Aufgaben im Narrativen, ersetzen die Metaphorik des Lesens durch die Metaphorik des Erzählens, so dass nun aus dem »Erkenne dich selbst« ein »Erzähle dich selbst« wird. Für Augustinus aber ist die große Frage des Menschen nicht nur eine der mangelnden Transparenz, die durch Lesen oder Erzählen kompensiert werden könnte. Augustinus ist ein existentieller Denker. Der existentielle und mit ihm auch der erkenntnistheoretische Selbstbezug des Menschen ist für ihn wie ein Drama aufgebaut, aus dem alle Komödien und Tragödien des Lebens erwachsen, die das Menschengeschlecht inszeniert. Er weiß, dass mit dem »Erkenne dich selbst« ein tiefes menschliches Eigeninteresse angesprochen ist. Menschen wollen, wenn irgend möglich, wahre Erkenntnisse, die ein gutes oder gelungenes Leben ermöglichen. Es geht um viel, vielleicht um alles, worum es uns gehen kann, darum nämlich, ob das Leben glückt. Nietzsches »letzte Menschen«, die mit dem »kleinen Glück« selbstzufriedenen Spießbürger, sozusagen Postmoderne avant la lettre, können sich am Ende mit ein wenig Selbstlektüre und Selbsterzählung zufriedengeben. In ihnen sind das Feuer und die Kraft des Fragens fast verloschen, in ihnen ist auch das Drama des Menschseins beinahe schon verblasst. In Augustins dramatischer Auffassung des menschlichen 42 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Lebens bedeutet Selbsterkenntnis hingegen, die große Frage, die der Mensch ist, mit aller möglichen Leidenschaft zu erobern. Der Mensch als große Frage ist also ein FrageWesen. 5 Er hat viele Fragen und stellt viele Fragen. Er stellt auch vieles in Frage. Vieles ist ihm fraglich. Vor allem aber: er ist sich selbst eine Frage. Wir können sagen, dass das »Wesen« des Menschen eine Art von Frage-Sein ist. Die Dostojewski-»Formel«, nach der der Mensch sucht, um sich zu verstehen, kann an dieser Stelle ansetzen. Wir wissen nicht (genau), wer oder was wir sind. Geben wir uns also nicht vorschnell eine Antwort, sondern versuchen wir, die Frage, die wir sind, genauer und tiefer kennen zu lernen. Dass wir eine Frage sind und uns als Frage-Sein aufgegeben sind und uns ver-antworten müssen, das ist nun die Grundeinsicht der Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis ist folglich ein Verstehen des Frage-Seins, das wir sind und das allen Antwortmöglichkeiten vorausliegt. Die Forderung »Erkenne dich selbst« des Gottes Apoll verweist uns auf das Frage-Sein des Menschen. Die »große Frage« gleicht dabei einem unendlich großen Land, dessen Kartographie weiterer Klärung harrt, einem dunklen Erdteil oder vielleicht dem Meer selbst, offen für alle Fahrten, die noch unternommen werden können. Aber die Schiffe für die größeren Reisen auf Ausführlich dazu: Eduard Zwierlein, Magna quaestio. Der Mensch als große Frage. Essay zur Grundlegung der Philosophie. Berlin 2013.
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diesem Meer müssen erst noch gebaut werden. Es können keine Schiffe sein, die aus dem Material und der Methodik der Wissenschaften hergenommen sind: sie können auf diesem Meer nicht so segeln, wie wir es hier brauchen. Denn es ist ein Meer, das aus der Perspektive der ersten Person befahren wird. Der wissenschaftliche Schlüssel schließt kein einziges Schloss, das eine Tür zu dem Reich der Existenz und des Selbst-Bewusstseins in der Perspektive der ersten Person öffnen würde. Die Exkursionen in dieses unbekannte Land des FrageSeins sind ohne Ende. Und doch, so scheint es, laufen alle Fäden der Welt- und Selbstdeutungen in ihm zusammen. Aus welchem »Stoff« ist dieses Frage-Sein gemacht bzw. aus welchen Umständen geht es hervor? Dazu machen wir hier drei kurze Vorschläge. Das Frage-Sein hängt offensichtlich mit dem Umstand zusammen, dass wir uns auf zwei Weisen gegeben sind, die wir aber nicht auf einen Nenner bringen können. Wir haben zwei Zugänge oder zwei Wege zu uns selbst, finden zwei verschiedene Türen vor. Wir haben zwei Schlüssel zu uns zu selbst. Und der Schlüssel zum einen Schloss schließt nicht das andere. Viele Formulierungen sind den Menschen zu dieser Doppelcodierung der menschlichen Selbsterfahrung eingefallen, mit denen sie auf immer neue Weise diesen Dualismus zweier Hinsichten umschrieben haben. Wir sprechen beispielsweise von einer Innen- und einer Außenperspektive, einer Perspektive der ersten und der dritten Person. Wir sagen Leib und wir sagen Seele oder Körper und Geist oder Materie und (Selbst-) 44 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Bewusstsein. Wir sind Sinnenwesen und Vernunftwesen. Wir entdecken uns als Subjekt und Objekt. Descartes spricht von der ausgedehnten Welt der Dinge und der Denkwelt, Pascal davon, dass wir weder Engel noch Tier sind, Kant von einer Anthropologie in physiologischer und einer in pragmatischer Hinsicht, also vom Menschen als Natur- und als Freiheitswesen. Nietzsche kennzeichnet die Doppelstruktur des Menschen durch die Symbolik von Apollinisch und Dionysisch. Wir denken an den Zentaur, den Januskopf, Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die Beispiele lassen sich fast beliebig fortsetzen und auch verkomplizieren. Klar ist, dass wir einen zweifachen Zugang zu uns haben. Wir sind irgendwie das eine und das andere. Der Haken ist das »und«: Wie der Zusammenhang sein soll, ist unklar. Alle Versuche, sie aufeinander zu reduzieren, konnte die jeweils andere Erfahrungsseite nicht befriedigen, so dass dieser »natürliche Dualismus« von zwei Selbstgegebenheiten nicht oder doch nur durch Gewalt zur Deckung gebracht werden kann. Und diese EntZweiung schlägt auf die Selbsterkenntnis durch, wie Romano Guardini es formuliert: »Ich bin mit mir selbst uneins; deshalb weiß ich nicht um mich.« Beständig geht ein Riss, eine vielleicht nur »haarschmale und doch so tief trennende Ferne« durch mich hindurch, »die zwischen mir und mir-selbst liegt«. Wir erleben uns spannungsreich als problematische Zweiheit, der jeder seine eigenen beruhigenden Antworten zu geben versucht. Eine Visualisierung, die dieses Zwei-Sein symboli45 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Yin und Yang
siert, finden wir in der Darstellung von Yin und Yang. Die Abbildung zeigt sehr schön, dass sich nicht nur zwei verschiedene Seiten einander berührend und ergänzend zu einem Ganzen fügen, sondern im jeweiligen Gegensatz die andere Seite durch einen Punkt sichtbar ist. Die Gegensätze durchdringen einander wechselseitig, ohne ineinander aufgelöst werden zu können. Wir verstehen also, dass das Frage-Sein des Menschen zuallererst mit einer tiefen Schwierigkeit verbunden ist, die er weder durch Erklären noch durch Verstehen beheben kann. Er ist sich auf eine zweifache Weise gegeben und hat keine überragende Antwort, sie befriedigend unter einen Hut zu bringen. So besteht das Frage-Sein also zunächst in dem Umstand, dass der Mensch ein Zwei-Sein (von Hinsichten) ist. Die Selbsterkenntnis wird dies festhalten. Mit diesem Zwei-Sein verbindet sich als nächster Gesichtspunkt das Zwischen-Sein des Menschen. Das 46 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Zwi-schen ist eine Erinnerung an die Zwei. 6 Der Mensch ist, wie wir im ersten Kapitel angesprochen haben, in Raum und Zeit positioniert im Anschein einer Mitte zwischen Klein und Groß, Nichts und All, Anfang und Ende, Geburt und Tod, Woher und Wohin, Sein und Nichts, Sein und Werden, Zeit und Ewigkeit, zwischen introvertiert und extrovertiert, Sache und Beziehung, Licht und Schatten: mal mehr auf dem einen Bein, mal mehr auf dem anderen. Die lateinische und griechische Bezeichnung für Mensch gibt uns für dieses Zwischen-Wesen, das wir sind, einen nächsten Wink. Auf Lateinisch heißt Mensch nämlich homo. Homo aber kommt von Humus. Der Mensch ist der, der von unten kommt, aus der Erde, der Irdische, mit den Füßen auf dem Boden, im Erdreich gewurzelt, aus dem Reich der Pflanzen und Tiere stammend. Erdwesen, erdgebunden, erdverhaftet, von unten. Adam, d. h. der Mensch, ist Adamah, d. h. vom Erdboden hergenommen. Anthropos hingegen sagt der griechische Begriff. Hier ist der Mensch das Wesen, das aufrecht steht und seinen Blick aufwärts zum Himmel und nach oben auf die Sterne richtet. Wie Kant es entsprechend vom Menschen sagt, dass er ein Wesen sei, »das aufrecht zu stehen und den Himmel
Twi ist die indogermanische Wurzel, die unseren Worten wie zwi-schen, zwei, Zweifel, Zwietracht, Entzweiung usw. zugrunde liegt. Wir sehen sie auch z. B. sehr schön in dem englischen Wort twi-light = Zwielicht.
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Horizontlinie
anzuschauen gemacht« ist. Stern und Staub ist der Mensch. Der Mensch als Zwischen-Sein ist das Wesen, das aus der Erde stammt und auf der Erde steht und das zugleich die Augen zum Himmel erhebt und Ausschau hält. Der Mensch ist Wesen mit Wurzeln und Flügeln, Tag und Nacht, zwischen Himmel und Erde situiert: der Horizont, der dünne Streifen des Übergangs, ein utopisches Wesen im Übergang. Wie es die dünne Horizontlinie im Foto zeigt, ist er ein sonderbares Zwischenwesen im Übergang. Dabei gleicht er manchmal mehr einer kontrastvollen Hell-Dunkel-Malerei, einem Claire obscure oder Chiaroscuro. Andererseits ist der Mensch einer Art Zwielicht vergleichbar. Nicht einer zwielichtigen Gestalt, sondern geformt aus dem doppelten Licht im Übergang, dem Mondlicht der Nacht 48 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
und dem Sonnenlicht des Tages, wie es die Morgendämmerung oder die Abenddämmerung zeigen: nicht ganz dunkel und nicht ganz hell, vielmehr ein Sfumato, das schon die Mona Lisa Leonardo da Vincis lächeln ließ und in dem die Kontraste weich verschwimmen, zerfließen und ineinander übergehen. Der Mensch hat keine völlige Klarheit und Eindeutigkeit, weder über sich noch über die Welt. Und er befindet sich nicht in völliger Dunkelheit oder Unwissenheit. Er ist in-zwischen und da-zwischen. Dies ist seine Lage. Der Mensch ist ein Zwischen, weil er nicht in der Eins ist, sondern in der Zwei: er ist nicht in der Einheit, nicht im Einklang, nicht im Einssein. Diese Eins ist vielleicht ein anderer Name für Glück, so wie Aristoteles es verstanden hat: nämlich als Selbstbefreundung. Denn nur da, wo ein Wesen in Dissonanz ist, braucht es überhaupt die Selbstbefreundung. Dies nun, dass etwas aussteht, wonach wir streben, lässt als dritten Gesichtspunkt Phänomene der Bewegung, Unruhe und Sehnsucht hervortreten. Weil der Mensch als Zweiund Zwischen-Sein keinen klaren Ort, keine wirkliche Heimat besitzt, sondern sich in Übergängen hin und her bewegt, können wir ihn ein utopisches Wesen nennen. Seine Verfassung entspricht dabei einem Unterwegs-Sein. Weg ist eines der Urworte, der großen Metaphern, die wir besitzen. Der Weg ist das, auf dem wir gehen und fahren und so unsere Er-fahrungen machen. Wer erfahren ist, ist jemand, der viel herumgekommen ist und auf vielen Wegen sich kundig gemacht hat. Der 49 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Weg ist nicht nur außen, sondern auch innen: das, was uns bewegt und in Bewegung bringt oder hält. Unsere Sinn-Orientierung, unserer Sinnen und Trachten folgt den Wegen, die unsere leiblichen und geistigen Reisen verfolgen; denn sinnan bedeutet so viel wie gehen, reisen, fahren, streben, sinnen oder trachten nach etwas. Wir erinnern uns an Hölderlins bekannte Zeilen aus dem Schicksalslied des Hyperion: Doch uns ist gegeben Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab.
Dass uns das Unterwegs-Sein »gegeben« ist, wie Hölderlin sagt, ist doppeldeutig. Es ist eine Gabe, eine Mitgift, ein Muss sogar: so sind wir verfasst. Es ist aber auch eine Aufgabe, das Gegebene zu ergreifen und zu erfüllen. Als Wegwesen, als homo viator (Gabriel Marcel) durch und durch, gleicht der Mensch einem Wanderer oder Pilger auf der großen Reise seines eigenen Lebens. Ja, Leben selbst ist ein Weg: vita via, eine Reise der Selbsterkenntnis und Selbstwerdung. Wie im mittelalterlichen Spruch am Anfang des ersten Kapitels ist das Nichtwissen über sich selbst mit einem Kommen und Gehen verbunden: ich komm, ich weiß nicht woher; ich geh, ich weiß nicht wohin. Noch wissen wir 50 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
nicht, wer und was wir sind, was wir sein werden, sein können und sein sollen. Im Unterwegs-Sein ergreift sich der Mensch als Aufgabe: Erkenne dich selbst! Alle Wege sind Wege zu unserem wahren Selbst. Die Reise geht zu uns selbst, zu dem, was wir eigentlich sind. Diese Wanderschaft bringt uns auf eine spannende Spur. Wir können die Verfassung des Menschen als Unterwegs-Sein durch eine weitere Metaphorik gut kennzeichnen. Es geht um den Eros und darum, dass der Mensch durch den Eros charakterisiert wird. Was bedeutet es aber, dass der Mensch eine Eros-Struktur besitzt, dass er ein erotisches Wesen ist? Zwischen Himmel und Erde ist der Raum des Menschen als homo und anthropos, und dieser Raum wird beherrscht vom Gott Eros, der im Menschen zwischen Himmel und Erde vermittelt, aber auch die Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern darstellt, damit sich das, was getrennt ist, wieder findet und eint. Die Geschichte des Eros ist aufschlussreich. Platon hat in seinem Gastmahl dazu viele Anregungen gegeben. Diese Geschichte vom Eros erläutert die Natur des Menschen, und seine Entstehung ist erhellend für das Wesen, das wir sind. ??o1??Wir kennen Vater und Mutter des Eros und den Tag seiner Zeugung. Sein Vater heißt Poros, ein Begleiter und Diener der Aphrodite. Sein Name bedeutet Bruch, Furt, Weg. Er ist ein Wegfinder, Sohn der Klugheit: ein Liebhaber und Jäger alles Schönen und Guten, ein Meister der Mittel und Wege, ein kluger Fährmann, der sucht, ob sich nicht vielleicht doch 51 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
eine Furt oder Brücke oder ein Übergang von einer Uferseite zur anderen Seite des Lebens finden lässt. Die Mutter ist Penia, was so viel wie Armut oder Notdurft bedeutet. Trunken von Nektar schläft Poros am Geburtstag der Aphrodite, der Göttin der Schönheit, mit Penia und zeugt so den Eros. Eros aber wird durch diese Umstände zu dem Gott, den die Liebe zum Schönen charakterisiert, mehr noch: er ist der Liebesdrang, Schönes zu zeugen und hervorzubringen, die schöpferische Liebe. Er ist die liebende Sehnsucht nach dem Schönen und hebt sich als Mittler von der Erde hoch zum Himmel. Auf der Erde gibt es Anzeichen des Schönen. So geht er sodann, angelockt durch diese ersten Vorzeichen, auf Wanderschaft und zieht himmelwärts nach oben, wo die Sehnsucht die Fülle des Schönen vermutet, und reist zwischen Himmel und Erde hin und her. Zwischen Himmel und Erde, gleichsam als ihr natürlicher Horizont, ist der Mensch gestellt. Die Grenze, die feine Horizontlinie zwischen Himmel und Erde, zwischen »diesseits« und »jenseits«, ist der Raum des Humanen für ein Wesen, das beide Sphären berührt und durch beide gefordert ist. Als diese Grenze oder Horizontlinie ist der Mensch ein »Zwischeninne«: »ein »Zwischen«, eine »Grenze«, ein »Übergang«, ein »Gotterscheinen« im Strome des Lebens und ein ewiges »Hinaus« des Lebens über sich selbst«, wie Max Scheler es ausdrückt. Dass der Mensch keinen definitiven Ort hat, wo er zu Hause ist, dass er keinen sicheren Ort besitzt, wo er Antwort auf sich findet, lässt ihn auf 52 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
die Reise gehen und die Horizonte immer wieder verschieben. Der Mensch ist unterwegs zu sich selbst. Der Gott dieses »Zwischen« ist Eros. Er lockt über den Fluss hinweg hinter den Horizont, wo das Versprechen eines unendlich Schönen liegt. Zu dieser Schönheit zieht und drängt er, indem er das Verlangen nach dem Schönen weckt, den Drang nach Erkenntnis nährt und die Sehnsucht nach Ewigkeit anfacht. Aus dem Menschen macht er eine erotische Existenz, ein Wesen der Sehnsucht. Wahre Sehnsucht ist, mit Goethes Wort, immer auf etwas Unerreichbares gerichtet. Der Eros öffnet die Grenze des Menschen für Grenzverschiebungen. Er will ihn weit über die Grenze(n) hinaus heben und bewegt die sterblich Begrenzten über Grenzen hinweg. Er hebt empor, heraus aus dem Alltäglichen und Selbstverständlichen, und bringt uns auf die eigentümliche Reise zu uns selbst. Eros ist der Gott der Menschen. Er macht ihn also zum erotischen Wesen und Künstler, d. h. zu einem Wesen der Sehnsucht nach dem Schönen, ausgespannt zwischen Himmel und Erde, die er zu vereinen sucht. Weil das Wesen der Eltern als doppeltes Erbe in ihm ist, wandert der Mensch arm und bedürftig, als Mängelwesen, notdürftig durch die Zeit und sehnt sich dabei nach allem Schönen und Guten. Es ist der Eros, in dessen Penia-Poros-Motiv das mütterliche Erbe der Armut und das väterliche der Wegsuche im Menschen walten, so dass dieser stets dem Guten und Schönen nachstellt und auf jedem Pfad nach gutem Leben ausspäht. Eros bringt die Wanderschaft der Selbsterkenntnis, zwingt 53 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
auf den Weg und veranlasst die Suche nach dem schönen Anderswo. Nicht selten aber gerät der Weg der Selbsterkenntnis in eine A-porie, in die Ausweglosigkeit. Endet der Weg und kündigt sich Weglosigkeit an, so stellt sich mit der Aporie die Ursituation des radikalen Fragens. Der Mensch entdeckt sich selbst dabei als große Frage. Von dem Fragen, das aus diesem Frage-Sein entspringt, gilt Heideggers Wort: »Das Fragen baut an einem Weg.« Gegen die A-porie erhebt sich Poros. Es muss ein neuer Bruch ins Dickicht des Undurchdringlichen gewagt werden, der einen neuen Weg öffnen soll. Wege und Auswege aus dem Ausweglosen werden gesucht. Der Mensch muss sich neue Wege ersinnen, für die es noch gar keine Wegbeschreibungen gibt. Jeder neue Weg führt über das Gegebene hinaus. Überall sucht sich die Sehnsucht ihre Furt, ihren Durchgang, ihre Brücke, auf jedem Weg und Pfad späht sie aus nach Übergang und Überfahrt zum Schönen. Immer in Bewegung, lebt das Wegwesen sein Leben im Zeichen des Eros. Für das zentaurische Wesen »Mensch« ist der Eros die Chiffre, die zwischen Leib und Geist, zwischen beschränkter Individualität und überindividueller Einheit, zwischen Zeit und Ewigkeit, Immanenz und Transzendenz, Erde und Himmel, zwischen Unwissen und Weisheit als der »philosophische« Gott vermittelt. Fassen wir nun kurz zusammen. In diesem Kapitel haben wir das »Erkenne dich selbst« auf den Menschen im Allgemeinen gerichtet. Wir verstanden den delphi54 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
schen Spruch nun so, dass er sagt: Mensch, erkenne dich selbst! Erkenne dein Mensch-Sein! Wir haben dabei nicht einen wissenschaftlichen Weg von außen gesucht, sondern sind von der Selbsterfahrung und dem Selbsterleben des Menschen ausgegangen. So wollten wir eine Art philosophischer DNA oder eine Dostojewski-Formel für den Menschen überhaupt finden, eine Art Grammatik der menschlichen Existenz, wie sie wohl für jedermann existieren könnte. Dabei stieß die Selbsterkenntnis bei der Befragung der Selbsterfahrung zuletzt auf eben dieses Fragen selbst. Der Mensch ist nämlich genau das Wesen, das nach sich selbst fragt, weil es keine fraglose Klarheit über sich besitzt. Verstehen wir nun den Menschen als große Frage nach sich selbst, können wir versuchen, dieses FrageSein näher zu erläutern. Dazu diente uns der Blick auf das Zwei-Sein des Menschen, sein Zwischen-Sein und zuletzt sein Unterwegs-Sein. In der berühmten Metapher vom Menschen als Eros-Wesen konnten wir viele Aspekte dieser Erläuterung der Natur oder Lage des Menschen wiedererkennen. Voll von Sehnsucht ist der Mensch bewegt vom Ausgriff nach dem Schönen und Guten, d. h. auf dem Weg aus der Zwei in die Eins. Alles Sein des Menschen ist Suchen, alles zu sich erwachte Sein ist Fragen, das sich nur vorübergehend in fragmentarischen und provisorischen Antworten beruhigen kann. So ist unsere Lage.
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4 Niemand ist wie Du
(Johann Gottfried von Herder) Jeder Mensch hat ein Bild in sich, was er sein und werden soll; solange er das noch nicht ist, ist noch Unfriede in seinen Gebeinen.
Im vorigen Kapitel haben wir darüber nachgedacht, wie das »Erkenne dich selbst« für das Menschsein überhaupt verstanden werden könnte. Nun verändern wir den Fokus. Wenn Selbsterkenntnis nicht nur nach der allgemeinen Verfassung des Menschseins überhaupt fragt, nach etwas, das alle mit allen irgendwie teilen und das den Menschen vielleicht zu etwas Besonderem im Unterschied zu allem anderen machen mag, sondern nach dem, was das Besondere an dem je einzelnen Menschen im Unterschied zum Mitmenschen ist, so fragen wir nach dem, was jedem Einzelnen eigentümlich ist. Es geht also nun um den Akzent, den wir so setzen können: Erkenne DICH selbst. »Erkenne dich selbst« ist dabei nicht auf einfache Weise lebenspraktisch gemeint, etwa so, dass wir beobachten und begreifen, wie unser Charakter, unser Naturell, unser Temperament, unsere Stimmungen usw. beschaffen sind. All dies ist wichtig und kann uns helfen, z. B. um unseren Alltag durch einen klugen 56 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Umgang mit Nahrung, Schlaf, Lebensort, Rhythmen u. a. oder unseren Umgang mit anderen Menschen passender zu gestalten. 7 Hier aber verfolgen wir eine andere Frage. Stellen wir uns vor, wir sehen uns Fotos von uns selbst als kleines Kind oder Baby an. Ich bin nicht mehr dieses kleine Kind, das ich da auf den Fotos sehe. Dennoch werde ich sagen, dass ich es bin. Ich werde sagen, dass ich dann und dort geboren wurde, selbst wenn ich keine Erinnerung daran habe. Was macht mich eigentlich zu einem besonderen Ich selbst, das ich wiedererkenne oder von dem ich eine Einheit behaupte? Bin ich etwas Einzigartiges? Was genau wollen wir dabei wissen? Jedenfalls ist dies die Frage nach einem Individuationsprinzip? Andererseits zeigen mir die Kinderfotos, dass die Frage nach mir selbst noch eine andere Richtung einschlägt. Denn offensichtlich »bin« ich ein Wesen der Zeit, so dass mein Sein mit dem Werden verbunden ist. Der Mensch ist ja ganz offenkundig auch seine Geschichte. Hier entsteht die Frage nach der Identität in der Zeit. So ist der Mensch ein eigenartiges »Werdesein«, um das sich eine Vielzahl subtiler philosophischer Probleme rankt. Einige dieser Probleme werden andernorts besprochen werden. 8 Hier konzentrieren Der zehnte Band, der diese Lebenskunstreihe beschließen soll, ist angedacht, auf diese Frage zu antworten. Er wird voraussichtlich den Titel tragen: Lebenskunst – Philosophie für einen Tag. 8 Im Band 2 dieser Lebenskunstreihe unter dem Titel: Werde, der du bist. 7
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wir uns ganz auf die Frage, ob es etwas gibt, was mich einzigartig macht. In einem bekannten Gedicht aus seinem Stundenbuch geht Rainer Maria Rilke auf das Thema ein, wer genau er denn nun ist: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge zieh’n. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang, und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.
Der Dichter spricht zunächst anscheinend von so etwas wie den Jahresringen von Bäumen, ein aufwachsendes Verstehen und Integrieren, die sich über die Dinge ziehen. Die zweite Strophe bezeichnet die Bewegung des Menschen im Angesicht Gottes, d. h. aller Dinge, unter dem Bild des Turmes als ein Kreisen um ihn. Auch so können die »Ringe« verstanden werden, als Kreisbewegungen um den Turm. Jedenfalls versucht der Mensch, seine spezifische Besonderheit auf dies »alles« hin zu klären. Rilke verwendet dafür drei exemplarische Bilder. Ist es etwas, das sich im Turm birgt und Herberge findet, ein Falke, etwas, das den Turm umtost und an ihm zerrt und rüttelt, ein Sturm, oder etwas, das den Turm bestaunt und verehrt, ein großer Gesang? Dabei hält der Dichter in offener Frage, wie Sokrates, sein Nichtwissen fest. Er weiß es nicht, noch 58 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
nicht; aber der Versuch, es herauszufinden, muss unternommen werden. Wir können vielleicht zunächst sagen, dass es zum Wesen des Menschen allgemein gehört, Besonderung oder Individualisierung oder Personalisierung erleben und auslösen zu können. Das Allgemeine des Menschen ist es, etwas Besonderes zu sein und zu werden. Was ist aber dieses besondernde oder individualisierende Prinzip? Wir meinen nicht, dass es Raum und Zeit sind. Dass wir leiblich eine spezifische Raum-Zeit-Stelle einnehmen, macht uns zu Individuen im Sinne von klar identifizierbaren Exemplaren einer Gattung. Auf die Frage: Wer bist du? erhalte ich dann die Antwort: Dieser da-jetzt. Ist es das, was wir wissen wollten, als wir nach unserer Einzigartigkeit fragten? In diesem Sinne ist alles, was ist, etwas Besonderes; denn jedes Ding hat seine Raum-Zeit-Stelle bzw. die faktische Kette aller Raum-Zeit-Stellen, die es einnehmen wird. Oder ist es vielleicht unser Körper, unser Leib, unsere Materie, die unser Besonderssein ausmacht? Schließlich erkennen wir einander, wenn wir uns begegnen, an den Körpern, die wir sehen, so dass wir es hier mit etwas zu tun haben, was eine gute intersubjektive Zugänglichkeit hat. Jeder Leib aber ist einzigartig durch seine Grundstruktur und seine Geschichte. Niemals finden wir zwei Leiber, die identisch wären. Ist es also dieser Leib mit diesen Spuren all dessen, was ihm widerfahren ist, der uns einzigartig macht? Da wir das Problem der Veränderung des Leibes in der Zeit hier nicht behandeln, machen wir nur darauf aufmerksam, 59 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Paula Modersohn-Becker, Zwei Studien zu einem Selbstbildnis
dass der Gedanke, es sei der Körper das Prinzip der Individuation, doch wohl für alle Materie gilt. Im Februar 1906 schreibt Paula Modersohn-Becker an ihren Worpsweder Freund Rilke: »Und nun weiß ich gar nicht wie ich mich unterschreiben soll. Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker, Ich bin Ich, und hoffe es immer mehr zu werden.« Auch hier taucht, mit den ganz persönlichen Umständen ihres Lebens verknüpft, das Motiv des sokratischen Nichtwissens auf und deutet die Selbstvergewisserung des eigenen Ichs auf ein eigentümliches Werdesein. In immer neuen Selbstbildnissen sowohl des ganzen Lei60 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
bes als auch anderer Größen des Bildausschnittes, vor allem aber des Antlitzes, versucht die Künstlerin, der leiblichen Präsenz das Geheimnis des persönlichen Ichs zu entlocken, die Seele im Gesicht freizulegen. Das bin ich. Hier sehen wir Studien, also vorläufige Skizzen, Entwürfe, Wagnisse. Die beiden Studien sind wie Essays. Montaignes Selbstbildnisse sind seine Essais. Er wagt den Essay über sich selbst: »je m’essaye«, ich versuche es, über mich zu schreiben, mich darzustellen und zu finden. Dies bedeutet: Ich studiere mich selbst in meinen verschiedenen Lebenssituationen, untersuche mich genau, ich probiere mich aus; probiere viele Möglichkeiten und experimentiere, mache Versuche mit mir selbst, so dass sich dann vielleicht aus vielen Fragmenten ein Gesamt-Bild zusammenfügen lässt. In einem ähnlichen Sinne sind die Selbstbildnisse Modersohn-Beckers schöpferische Versuche und Selbststudien. Hand in Hand mit der Entwicklung einer eigenen Bildsprache forscht sie nach ihrem besonderen Selbst, das sie immer wieder aufs Neue porträtiert. Diese Selbstporträts versuchen, sich selbst zu entdecken, das wirklich Charakteristische, unverwechselbar Besondere, die eigene, individuelle Kraft, das Eigentümliche ans Licht zu bringen. Der erstickende Sand, der sich über das Leben legen will, muss immer wieder vertrieben und das Bild des Besonderen unter dem Bild des Allgemeinen befreit werden. Alles, was ist, ist ein Unikat. Nicht nur das Originalgemälde etwa, sondern auch alle seine Kopien wer61 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
den sich nicht nur von ihm, sondern auch untereinander unterscheiden. Kein Replikat gleicht dem anderen. Man muss nur genau genug untersuchen. Auch kein Stein auf der ganzen Welt gleicht völlig einem anderen, sonst wäre er dieser andere Stein. Nicht nur durch die Raum-Zeit-Stelle, sondern auch in der Materie gibt es stets mindestens minimalste Unterschiede. In der Natur herrscht immer Differenz. Die Natur liebt die Verschiedenheit. Unser besonderes Sein wäre in diesem Sinne nicht sehr besonders, sondern mit dem Allgemeinen vielleicht so verknüpft, wie Goethe es in Wilhelm Meisters Lehrjahren äußert: »Das Allgemeine und Besondere fallen zusammen; das Besondere ist das Allgemeine, unter verschiedenen Bedingungen erscheinend.« Ist es diese materielle Differenz, die wir als unsere Einzigartigkeit im Sinn hatten? Oder ist es eher, was anderen weniger leicht zugänglich ist als der Körper, vielleicht unser eigener Geist, unser Bewusstsein? Unser Wach-Bewusstsein, das aber doch durch vieles unterbrochen wird, z. B. durch den Schlaf, scheint ein Strom von verschiedenen mentalen Zuständen zu sein, der dahinfließt. Jeder einzelne Zustand ist rasch vorüber. Sollte dieser einzelne Zustand das gesuchte Prinzip der Individuation sein? Oder ist es vielmehr die ganze Kette, die durch die Kraft der Erinnerung zusammengehalten oder zusammengefügt wird? Liegt dann das Besondere im Gedächtnis? Das Gedächtnis ist ein heikles Vermögen. An vieles scheinen wir uns nicht mehr erinnern zu können. Manches andere, an das wir uns zu erinnern glauben, haben 62 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
wir uns erfunden. Aus Zufällen formen wir uns im Nachhinein Notwendigkeiten, aus denen wir sodann ein geheimes Baugesetz ersinnen. An manches andere wiederum wollen wir uns gar nicht mehr erinnern, so wie Nietzsche es in Jenseits von Gut und Böse formuliert: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.« Und wenn wir vielleicht das Gedächtnis verlieren, z. B. durch eine Demenz, verlieren wir dann auch unsere personale Identität und unsere Einzigartigkeit? Wenn der Pfleger Sie dann noch mit ihrem eigenen Namen anspricht, ist das nur eine Floskel, die ins Leere spricht, Höflichkeit für die Angehörigen, oder etwas, das so ähnlich ist, wie wenn ich sage: ich wurde dann und dann da geboren? Dass unser Gedächtnis fehlbar ist, ist allerdings kein Einwand dagegen, dass es mit dem Prinzip der Individuation verbunden ist. Es macht es nur nicht einfacher, wenn unsere Erinnerungen trügerisch sein können. Es wäre möglich, dass es etwas gibt, ein X, das in der Lage ist, die Einheit unserer leiblichen und seelischgeistigen Erfahrungen zu garantieren oder herzustellen, inklusive des Umstandes von Fragilität, Täuschung, Brüche usw., die sich in unserer Existenz finden. Ob es der lebende und sich selbst organisierende Organismus als eine substantielle Einheit ist oder der Geist als eine substantielle Einheit oder etwas anderes, falls überhaupt, – wir wissen es nicht. Gibt es dieses X? Wer bin ich denn nun eigentlich, der, in all den Zufälligkeiten von Raum und Zeit verstrickt, dieses We63 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
sen geworden ist und als und in diesem Wesen zu sich selbst erwacht. Ist dieses Wachwerden selbst wieder nur ein undurchschauter Bedingungszusammenhang? Wer genau bin ich denn, wenn ich nach meinem »innersten Wesen« oder meinem »wahren Selbst« oder »eigentlichem Ich« zu fragen beginne? Wer fragt hier wonach? Sind wir durch die Sprache verhext? Wir sind, wenn wir existentiell nach uns selbst fragen, weder ein Raum-Zeit-Punkt noch seine Serie oder Kombinationen. Was aber dann? Ist das qualitative Prinzip doch ein biographisches? Sind es unsere Fähigkeiten, seelischen Kräfte, Charaktereigenschaften, Temperament, Lebensereignisse, Begegnungen und Beziehungen, die uns ausmachen? Dieser psychische, soziale, kulturelle, sprachliche und historische Stoff ist es, auf den wir zurückgreifen, wenn wir gebeten werden zu sagen, was und wer wir sind. Wir erzählen dann für uns wichtige Begebenheiten, die wir für andere aus unserem Lebenslauf herausgreifen. In der Tat ist dieses Gewebe unserer Biographie ein sehr intimer Ort unserer Selbstverwirklichung, einer Auto-Biographie. In ihm zeigen wir uns, ja, werden wir recht eigentlich erst wir selbst. Wir kommen, wie wir sagen, allmählich zu uns selbst. Offensichtlich kommen wir nur zu uns selbst, indem wir in und durch diese biographischen Medien hindurchgehen. Aber sind wir dies? Ist es dies, was uns einzigartig macht? Oder sind dies alles Geburtshelfer und Artikulationsfelder unserer Einzigartigkeit? Wer ist der Erzähler der Erzählung, der alle Momente der Geschichte 64 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
hält, zusammenknüpft und unter dem Gesichtspunkt einer Einheit organisiert? Die Personwerdung ist die nicht vergegenständlichbare Sinnhaftigkeit der großen Frage, die der Mensch ist und auf die sich ein Mensch seine geschichtliche Antwort gibt. Die Person, die in der Geschichte ihres Lebens als Autobiographie wird, ist jedenfalls eine spezifische Geschichte und kein Bündel von Merkmalen oder Eigenschaften. Herder spricht im Eingangszitat zu diesem Kapitel von einem besonderen Bild des Seins und des Werdens, das in uns sei. Dieses Bild erzeugt und inspiriert die Selbstbildung, die Bildung unseres Selbst und unserer selbst, die wir auf den Weg bringen. Wie wir sie denken sollen, ist doch recht schwierig. Sicher wäre es nicht ausreichend zu sagen, dass da etwas in uns ist, das einfach entwickelt werden muss. Sicher ist es nicht nur etwas, das von außen durch das Gesamt aller Bedingungen an uns herangetragen wird. Vielleicht ist es gut, sich von den beiden Übertreibungen zu lösen, die hier möglich sind. Weder gibt es schon eine vorgegebene definitive Einzigartigkeit, die einfach nur expliziert und ans Licht gebracht werden muss, so als ob nur nach und nach die Eierschalen von unserem unter ihnen verborgenen Selbst abfallen müssten. Noch wird unser einzigartiges Selbst durch alle die biographischen Umstände, in die wir versetzt werden, allererst geschaffen. Wahrscheinlich ist es so, dass es ein schwer zu beschreibendes Zusammenspiel all dieser Kräfte gibt, die unsere Einzigartigkeit geschichtlich »hervorbringen« in einem Prozess der Selbstwerdung, in dem wir weder 65 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
beliebig alles Mögliche werden können noch auf etwas scharf Umrissenes festgelegt sind. Innerlich und äußerlich findet ohne Ende ständige Form- und Gestaltgebung statt. Auch das ganz Neue, noch nie Dagewesenes ist möglich. In einer am Ende unaufklärbaren Melange von Gabe, Vorgabe und Aufgabe, von Tradition und Innovation, von Information und Transformation, von Innen und Außen arbeiten wir uns in einem geschichtlich-kreativen Prozess unserer Berufung entgegen. Das einzelne Selbst geht seinen geheimnisvollen Weg fortlaufender Besonderung, der immer mehr und immer deutlicher die Besonderheit ans Licht hebt, das Entfalten eines Individuums, das Werden einer Persönlichkeit, eine zweite Geburt. Es entsteht gleichsam ein Text gemeinsamer vergangener Geschichte, der aus vielen inneren und äußeren Bedingungen heraus komponiert ist, aber auch ein Text, der noch nicht zu Ende geschrieben ist. Es bleibt die Suche nach dem Unikatcharakter unabgeschlossen, dass wir immer unverwechselbarer zu uns selbst finden; ein göttliches Feuer in uns, wie Hölderlin sagt, daß ein Eigenes wir suchen. Etwas, das mir und niemandem sonst beschieden ist. Dies verwickelt das »Erkenne dich selbst« allerdings in die Schwierigkeiten eines alten Gedankens, dass nämlich das Individuum im Grunde unaussprechlich und unfassbar sei: individuum ineffabile. Nach Aristoteles ist Wissenschaft vom Einzelnen, vom Singulären und Speziellen nicht möglich. Das Individuelle ist nicht eigentlich wissbar und nicht de66 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
finierbar. Wissenschaft arbeitet mit Allgemeinbegriffen, die abstrakt sind. Das Einzelne kann, modern gesprochen, nur der Fall eines Gesetzes sein. Von allem, was den Fall »besonders« machen würde, ist abzusehen. Auf der anderen Seite kann man aber der Meinung sein, dass Personen eine andere Wissenschaft brauchen als (materielle) Dinge, z. B. vielleicht eine Existenzphilosophie, die auch nicht so statisch ausgerichtet ist wie eine aristotelische Substanztheorie, sondern das Werden, den Prozess in der Zeit betont. Doch auch damit wären wir die Schwierigkeiten, die in der konkreten Einzigartigkeit liegen, keineswegs los. Jede Person ist die exemplarische Konkretisierung des Prinzips der Besonderung, das in aller Menschwerdung zu finden ist. Davon könnte es eine Existenz-Wissenschaft geben. Den Grad der eigenartigen Fülle, die Verwirklichungsstufe der jeweiligen Besonderheit, die sich in diesem einzelnen Wesen ausgebildet hat, kann man in der Regel allerdings trotzdem immer nur näherungsweise kennzeichnen. Denn unsere Sprache ist, wie man sagt, und von wenigen Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich generisch. Das bedeutet, dass in der Sprache gewöhnlich die Tendenz vorherrscht, sich nicht auf Einzelnes und seine Spezifika zu beziehen, sondern auf ein Genus, also auf Klassen, Gattungen oder Mengen, die gerade durch Weglassen der Besonderheit gewonnen werden: auf Tomaten, auf Autos, auf Menschen. Der einzelne Mensch ist in dieser Hinsicht der gewöhnlichen Sprache eben auch nur ein Mensch,
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ein Fall, der sich unter den Begriff »Mensch« bringen lässt, und nichts »Besonderes«. Eine Sprache für einzelne Wesen in ihrer Besonderheit zu finden, verlangt sehr viel. Wenn wir aber als Lehrer einem einzelnen Schüler gerecht werden wollen, wenn wir als Richter ein gerechtes Urteil für diesen Angeklagten finden wollen, wenn wir als Psychiater ein angemessenes Gutachten für diesen psychisch Erkrankten verfassen wollen, dann müssen wir immer mit der Begriffslogik des Allgemeinen, der Abstraktionstendenz unseres Denkens und der generische Kraft der gewöhnlichen Sprache ringen, um in den Kosmos der Singularität vorzustoßen. Ein Arzt beispielsweise müsste versuchen, stets zwei Künste zu vereinen. Als Mediziner verstünde er etwas vom Menschen im Allgemeinen, als Arzt etwas von diesem Patienten in seiner Konkretheit im Besonderen. Aber auch wenn es uns gelingt, uns der konkreten Ganzheit eines Individuums anzunähern, stehen wir doch auch faktisch vor einer schier unendlichen Fülle von Eigenschaften, die die konkrete Besonderheit eines Individuums auszeichnet. Mag Annäherung vielleicht möglich sein, so ist doch diese ganze Fülle der konkreten Individuation unfassbar. Die Besonderung, die wir sind, ist das schöpferische Hervorbringen und Freisetzen und Emporschaffen eines einzigartigen Gesichts, das aus diesem Stein herausgearbeitet wird. In dem einen Baumeister wirken tausend Baumeister mit, tausend Hände arbeiten in unseren Händen mit, wenn wir den Stein formen und be68 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Paula Modersohn-Becker, Selbstbildnis Frontal, 1897/98
hauen. Die Gestaltung, die unsere einzigartige Gestalt zwischen Freiheit und Notwendigkeit freigibt, nimmt alles in sich auf, was uns widerfahren ist. Jede Nuance, jeder Geschmack, jede Moment trägt sich ein und findet einen Widerhall, und mitten in dieser Arbeit kommt es zur Emporformung eines Selbst, das neu und nie dagewesen auf seine eigene Art als konkrete Ganzheit einer autobiographischen Geschichte existiert und ein besonderes Selbstbild freilegt. Selbstbildnisse sind keine Auftragsarbeiten. Sie entstehen, wenn man so will, aus eigenem Auftrag, aus innerer Notwendigkeit. Das Selbstbildnis, das uns hier das Portrait frontal, en face zeigt und den Betrachter unmittelbar anblickt, charakterisiert die Persönlichkeit in ihrer kühnen, selbstgewissen, energievollen Seite. Wir schauen mitten in das Gesicht eines Menschen, 69 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
der uns frei und selbstbewusst entgegentritt, suchend, doch selbstsicher und voller Vertrauen in sich. In einer Fotografie oder im Hand-Spiegel sieht sich die Malerin, wenn sie ihr eigenes Portrait wagt und die individuelle Persönlichkeit aus dem fotografischen Abbild oder dem flüchtigen Spiegelbild in die Dauerhaftigkeit eines Bildes übersetzt. Und umgekehrt spiegeln die Selbstbildnisse jeweils Mosaike von Einsichten in die eigene Besonderheit und Besonderung. Kein einziges Selbstbildnis gibt die Persönlichkeit ganz wieder, nicht zuletzt, da sie ja im Werden ist. Kein einzelnes Bild fängt das Ganze ein. Über 60 Selbstbildnisse Modersohn-Beckers legen sich vielleicht allmählich zu einem größeren Bildnis der Selbstvergewisserung in der Geschichte ihrer Autobiographie zusammen. Alle Selbstbildnisse, immer wieder mit großen, weit und tief blickenden Augen, sind Versuche mit sich selbst. Versuche, sich selbst auf die Spur zu kommen. Kritischer Dialog mit sich selbst. In ihnen experimentiert die Künstlerin mit ihrem Zugang zum Unikat. Sie liefern Kostproben der Besonderheit und zeigen Stufen der Besonderung, die wir sind. Und selbst darin, dass das Gesicht, ihr Gesicht, zum Experimentierfeld für die formalen und stilistischen Möglichkeiten einer eigenen Bildsprache wird, will sie ja gerade ihr Eigenes entdecken. Da aber niemand ein abschließendes Wort für die Entzauberung all dieser Prozesse besitzt, schlage ich vor, es ganz am Ende beim Geheimnis zu belassen. Das schließt Forschung nicht aus, wohl aber Fanatismus. 70 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Der Forschung ist dort eine Grenze gesetzt, wo sie das zauberhafte Zusammenspiel aller Kräfte auf eine Formel reduziert, die wesentlichen Gesichtspunkten der Selbsterfahrung nicht mehr gerecht wird, sondern sie umbiegt, als vernachlässigbar, sekundär oder illusorisch ausgibt. Solche Vokabeln weisen in der Regel darauf hin, dass jemand einen unterkomplexen Ansatz gewählt hat, der ihm ja gefallen mag, mit dem er aber sein Thema so deformiert, dass es zwar ins Prokrustesbett seiner Theorie passt, aber eben doch nur mit abgeschlagenem Kopf oder abgeschnittenen Füßen oder zerdehnten Gliedern. Man müsste denen, die vom »nichts anderes als« reden, die die »Nichts-anderes-Alserei« predigen, doch den Theseus schicken, natürlich nur um das Bett zu zerschlagen und die Prokrustes-Ideologie zu töten. Sicher ist es nicht zu bezweifeln, dass unser eigenes Verständnis mit dem von anderen Menschen auf intime Weise verbunden ist. Wir verdanken unser Selbstsein auch einer kommunikativen Praxis. Menschen werden Menschen nur unter Menschen. Wir können die Bedeutung der soziale Praxis für unser Selbsterkennen gut mit Friedrich Schillers Gedanken ausdrücken: Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben, willst du die andern verstehn, blick in dein eigenes Herz. Diese Resonanzfähigkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass Fremd- und Selbstverständnis einander wechselseitig bedingen und hervorrufen. Doch umso mehr drängt sich der nachforschenden Selbsterkenntnis die Frage auf, ob wir nur das Resultat dieser 71 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Interaktion sind, dem wir dann den Namen eines eigenen Selbst anheften. Oder aber, ob in und unter diesen Bedingungsverhältnissen allmählich etwas erscheint, das wir als unser unbedingtes Selbst wahrnehmen und anerkennen können. Eine besondere soziale Erfahrung jedenfalls gibt es, die allen Menschen zuteilwerden kann und die sie auf ausgezeichnete Weise mit ihrer eigenen Besonderheit in Berührung bringen kann. Es handelt sich um die Erfahrung der Liebe, wie sie uns beispielsweise in der fürsorglichen Liebe der Eltern zu den Kindern, in der freundschaftlichen Liebe oder in der partnerschaftlichen Liebe begegnen kann. Für die misanthropische Einschätzung, dass die Menschen im Allgemeinen und man selbst im Speziellen nichts Besonderes seien, gibt es also ein probates Heilmittel. Liebe entdeckt und unterstützt, sofern sie nicht selbst wiederum naturalisiert wird, die Erfahrung der Besonderheit und der Besonderung wie keine andere Kraft. Sie inspiriert durch die Erfahrung: »Niemand ist so wie Du für mich« den Fortgang der Selbsterkenntnis. Alle Formen der Liebe wenden sich dem Geliebten als etwas Besonderem zu. In hervorragender Weise gilt dies wohl vor allem von der partnerschaftlichen Liebe. In einem radikal naturalistischen Universum sind wir zufällige, sterbliche und austausche Gattungsexemplare. Die Liebe setzt hier zu einer Gegenbewegung an. Sie verspricht das völlig Unwahrscheinliche, uns der Macht der Zeit, des Todes und der Zufälligkeit zu entreißen. Die Liebe formuliert ein maximales Seinskom72 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
pliment: Es ist gut, dass Du da bist. Wer jemanden liebt, ist nicht nur in gewissen Hinsichten blind, sondern auf bestimmte Weise sehend. Gern sieht er den Menschen, den er liebt, und entwickelt ein besonderes Auge, wie der mittelalterliche Theologe Richard v. St. Viktor es in eine einprägsame Formel gießt: Wo die Liebe ist, da ist ein Auge (ubi amor, ibi oculus). Das besondere Auge der Liebe ist das Auge für das Besondere: Es ist gut, dass Du da bist. Du bist etwas Besonderes für mich. Das Phänomen, in dem wir uns wechselseitig als Personen entdecken und anerkennen, wahrnehmen und begleiten, ist Liebe. Liebe ist das geistige (An-)Erkennen und personale Geschehen, in dem wir uns in unserer Besonderheit sehen können und den Prozess der Besonderung voranbringen. In der Liebe formuliert sich ein Einzigartigkeitskompliment. Ich öffne mich für den Anderen als Anderen, als eigene Wirklichkeit, die von sich selbst her für sich auf einzigartige Weise werdend ist. Der, der liebt, entdeckt den Anderen als das einzigartig Besondere und Andere. In der Liebe ist der Mensch nicht ein zufälliges, austauschbares Exemplar der Gattung Mensch, sondern eine einzigartige und unersetzliche Person. Die Liebe hebt und schärft aber nicht nur das Auge für die Besonderheit des anderen Menschen, sondern unterstützt zugleich aktiv die wachsende Besonderung seines Personalisierungsgeschehens. Liebe ist die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben (Erich Fromm). Daher begleiten und inspirieren Liebende einander auf dem Weg der Entdeckung ihrer selbst. Liebe 73 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
fördert das Wachstum und die Vertiefung der Personwerdung des Anderen und hat daran ihre Freude. Vielleicht müssen wir den Gedanken noch schärfer fassen. Lieben und Geliebtwerden unterstützen nicht nur die Erfahrung des Besonderen, sondern sie sind die Erkenntnisform des Besonderen. Liebe ist die fühlende Erkenntnis des Besonderen und dabei zugleich die bewusste aktive Förderung der Besonderung. In ihr habe ich nicht nur Zugang zum qualitativen Prinzip der Individuation, sondern sie ist dieses Prinzip. Liebe, so können wir sagen, ist das Sehen und Mitgehen, Theorie und Praxis integrierende qualitative Individuationsprinzip für unersetzliche existenzielle Einzigartigkeit. Jemand, den wir lieben, ist nicht mehr beliebig. Doch bleibt die Zuwendung der Liebe, in der sich Einzigartigkeit konstituiert, jederzeit ein prekärer Vorgang. Weil sie sich nämlich immer im Raum der Freiheit vollzieht, kann sie mehr oder weniger gelingen und sogar ganz ausbleiben. Zugleich verbindet sich die Liebe auf tragische Weise mit dem Ringen um das Todesproblem. Diese eigentümliche Verbindung, die Nietzsche an Wagners Tristan und Isolde immer besonders geschätzt und gerührt hat, in der Liebe und Tod miteinander ringen, verknüpft das »Erkenne dich selbst« ebenfalls mit der Frage der Besonderung. Allen Lebewesen droht der Tod. Jedes Gattungsexemplar spürt die empirische Macht über seine faktische Existenz. Der Umstand, dass ich sterben muss, macht aus mir ein Fragen, das nach dem Sinne seiner besonderen Existenz fragt. Früher 74 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
oder später, sagt sich der Mensch, wird die Sinnbewegung meiner Selbsterkenntnis und Selbstwerdung abgebrochen werden. Stürzt sie dann ins Nichts? Der Widerstand, der in uns gegen diese Option aufbricht, folgt aus dem Gespür, dass in unserer Personwerdung etwas beginnt, das nach einer Fortsetzung über den Tod hinaus verlangt. Wir wollen, dass es einen Sinn macht, dass es uns gegeben hat. Dass es nicht gleichgültig war, dass es uns gab. Wir protestieren dagegen, dass es egal sein könnte, ob es uns je gegeben hat. Wir sollen, wie der amerikanische Lyriker Walt Whitman es ausdrückt, zum Spiel des Lebens unseren einzigartigen Vers beitragen. Wir wollen und sollen selbst ein unsterblicher Vers werden, den niemand anderes an unserer Stelle schreiben kann. Die schöpferische Geschichte eines Werdeseins, das das Werden und Verstehen seiner Besonderung in einer komplexen Autobiographie entfaltet, erschrickt zu Tode darüber, dass der Text dieser Geschichte mit dem Abriss irgendeiner letzten Seite enden könnte. Wer liebt, ist mit diesem Ende nicht einverstanden. Im Grunde sind alle Selbstbildnisse Paula Modersohn-Beckers Studien, nicht nur die, die man maltechnisch so nennen mag. Es sind stets neue »Bemühungen«, Anläufe und Versuche, das Besondere, das »Ich bin Ich, und hoffe es immer mehr zu werden« zu skizzieren und immer wieder neu schöpferisch zu entwerfen. Ein Prozess, der, wenn er gelingt, eine fortlaufende Vertiefung ist oder, mit Rilkes Worten, ein fortlaufendes »Das ist«-Portrait auf dem Weg zum »Ich bin«, das 75 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Paula Modersohn-Becker, Selbstbildnis mit Kamelienzweig 1906/1907
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sein Anschauen niemals anschauen wird. Irgendwann aber kommt die letzte Seite im Skizzenbuch des Lebens. Keinem Menschen dürfte es gelingen, das finale und eigentliche Bild, das in uns gelegen sein mag und von dem Herder spricht, so emporzuschaffen, dass kein Unfriede mehr in unseren Gebeinen herrscht. Groß war die Überraschung, als man nach ihrem Tod im November 1907 Paula Modersohn-Beckers Atelier öffnete und die vielen Kunstschätze vorfand, insbesondere den übergroßen Reichtum der Selbstbildnisse, denen dann bereits 1908 eine erste Ausstellung gewidmet wurde. Sie hatte gemalt, wie »noch nie einer sehen und malen konnte« (Rilke). Das letzte Selbstporträt aus dem Jahr 1906/07, reich von Gauguin inspiriert, ist das Selbstbildnis mit einem Kamelienzweig. Wahrscheinlich geht es in diesem Bildnis nicht so sehr um eine symbolische Bedeutung der Pflanze selbst. Vielleicht wird die Schönheit der Natur gefeiert. Sieht man sich aber Struktur und Position des Zweiges genauer an, wie er vor die Brust gehalten ist, wirkt er eher wie ein anatomisches Detail, als sähen wir in den geöffneten Brustkorb der Frau. Wie in einer Art floraler Anatomie stilisieren sich der Stamm der Luftröhre und die sich verzweigenden Äste der Bronchien. Noch lebt dieser Leib und atmet, noch gibt es Hoffnung und Lebenskraft, sein Selbst zu bilden. Noch existiert keine Not des Atmens. »Wie schade«, Paulas letzte Worte, dass das Jahr 1907 nicht verstreichen wird, ohne dass nach einer schwierigen Schwangerschaft und Niederkunft eine Embolie ihr Luft und Leben im Kindbett 77 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
nimmt und den Prozess der Selbsterkenntnis abbricht. Sie hatte die besondere Fähigkeit, so schreibt es Rilke in seinem Requiem für eine Freundin, die Dinge zu sehen, wie sie »von innen her getrieben in die Formen ihres Daseins« sich entfalten. »Bist du noch da? In welcher Ecke bist du?«, fragt Rilke hin zu seiner verstorbenen Freundin Paula Modersohn-Becker. Alles, was lebendig ist, muss untergehen. Der drohende Verlust wirft die Frage auf: Wird der, den ich liebe, für immer, endgültig, verschwunden sein in alle Ewigkeit? Und ist dies das Schicksal aller Personen? Auch meines? Der Tod ist ein Ende. Ist er aber auch das Ende? Die Liebe rebelliert hiergegen und macht ein unglaubliches Versprechen. Sie verbindet das Einzigartigkeitskompliment mit dem Ewigkeitskompliment: Dich will ich immer lieben, nie sollst du mich verlassen, ich schwöre dir ewige Liebe. Wie erstaunlich ist das menschliche Herz, dass eine solche verzweifelte Tragik in ihm waltet. Und wie kühn sind seine Sehnsüchte. Entsprechend kann Gabriel Marcel sagen: »Jemanden lieben, heißt ihm sagen: du wirst nicht sterben«. Der, der liebt, liebt über den Triumph des Todes hinaus, den er, soweit er liebt, nicht als endgültiges und letztes Wort für die geliebte Person hinnehmen kann. In einem Zug mit der Entdeckung der spezifischen personalen Besonderheit ist der Tod nicht mehr das Untergehen eines empirischen Lebewesens. Während der Tod die große Vergleichgültigung ist, ist die Liebe das seinsbesorgte Kompliment der Besonderung, für die es die 78 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Ewigkeit erhofft: Ich will dich immer lieben, du sollst nie sterben, du sollst ewig leben.
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5 Du bist Dir selbst entzogen
(Blaise Pascal) Anfang und Ende der Dinge werden dem Menschen immer ein Geheimnis bleiben. Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er stammt, wie die Unendlichkeit zu erkennen, die ihn verschlingen wird.
Wie auf dem Bild unten mit den aufgeschlagenen Texten in einer Bücherwand, so findet sich auch unser Lebensbuch auf irgendeiner Seite geöffnet, an der wir gerade schreiben. Wir Menschen gleichen dabei dem Text einer Geschichte, von dem wir weder den Anfang noch das Ende kennen. Wir kommen aus einem unvordenklichen Anfang, den wir durch das Labyrinth unserer Erinnerungen und der Erzählungen anderer zurückführen bis an unsere Gedächtnisgrenze. Sie führen zurück in die Nacht unserer Existenz, in die dunklen Tage unserer ersten Jahre, weiter noch, in die Zeit vor unserer Geburt, in der uns bereits eine intrauterine Geschichte geprägt hat, bis hin zur Zeugung, in die ein Erbe einfließt, deren Wirkkraft auf unser künftiges Leben wir gar nicht abzuschätzen vermögen. Aber nicht nur der Anfang unserer eigenen Geschichte liegt für unsere Selbsterkenntnis im Dunkeln und ist uns entzogen, sondern auch unser Ende. Für 80 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Lebens-Geschichte(n)
jeden Menschen bedeutet der Tod ein Endgültigwerden: meine Freiheit, meine Biographie, meine Geschichte endet und gewinnt eine von mir selbst nicht mehr wissbare definitive Gestalt. Das Ende unserer Geschichte kennen wir nicht. Wenn es eintritt, wird es uns nicht mehr geben. Solange wir sind, ist es noch nicht da. Der Tod wird unser Denken und Handeln in der Zeit beschließen. Wir entgleiten und verstummen. Über die letzten Zeilen im Text unseres Lebens werden aller Voraussicht nach andere sich den Kopf zerbrechen. Ich habe kein letztes Wort für mich. Der Tod ist das Inkognito meines Selbst.
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Denken wir noch einen Augenblick über das Verhältnis von Tod und Selbsterkenntnis nach. Der Tod ist zwar sicher, aber unsicher ist nicht nur, wann er mich trifft, sondern auch, was er (für mich) ist. Der Volksmund kennt den Spruch, dass der Tod harte Kinnbacken hat. Man kann ihm seine Geheimnisse nicht entreißen. Er gibt sie nicht preis. La Rochefoucauld findet eine verwandte Metaphorik: »Weder die Sonne noch den Tod kann man fest ins Auge fassen.« Ludwig Wittgenstein spricht seine Einsicht in einer konzentrierten Formel aus: Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Für das Denken bleibt der Tod existentiell ein weißer Fleck in der Landschaft, ein unerforschtes, unbekanntes Land (terra incognita), das wir nie werden kartographieren können. Was zum Phänomen des Todes für unser Denken und unsere Erfahrung festgehalten werden muss, ist ein Moment des Nichtwissens, das mit ihm unvermeidlich verknüpft ist. Der Tod ist hier nur ein anderer Name für Nichtwissen, ein definitives existentielles Nichtwissen. »Ich weiß nicht« bedeutet so viel wie »Ich bin ein Endlicher, ein Sterblicher und kein Gott«. Der Tod ist ein Abgrund für mein Erkennen und mein Handeln. Ein Zusammenbruch all meiner Gewissheiten. In ihm müssen wir alle Fassung verlieren, ins Unfassbare stürzen und absolute Ge-lassen-heit lernen. Das Denken hat keine Meisterschaft über den Tod. Es ist nun alles »aus-gedacht«. In gewisser Weise ist er nur ein anderer Name für das Ende der Vernunft. Was den Tod angeht, sind wir alle Amateure. 82 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Da niemand ein letztes Wort über den Tod hat, sondern dieser ein letztes Wort über uns spricht, müssen wir verstehen, dass wir nicht nur keine angemessenen Worte für ihn haben, sondern sie genau deswegen auch für uns selbst fehlen. In dem durch den Tod zugewiesenen radikalen Nichtwissen erkennt das »Erkenne dich selbst« etwas von seiner bestimmenden Macht über unser Menschsein, indem er uns mit unserer eigenen Selbst-Entzogenheit und Selbst-Verborgenheit in Berührung bringt. Der Text, an dem wir schreiben, wird irgendwann vorzeitig, ohne unseren Abschluss, abgebrochen und das Buch geschlossen werden. Der letzte Schlüssel zur Selbsterkenntnis fehlt. Das »Erkenne dich selbst« ist mit dem Menschen als unergründlich-selbstverborgenem Wesen konfrontiert, als homo absconditus, wie Helmuth Plessner es nennt. In dieser Selbst-Entzogenheit ist sich der Mensch als Geheimnis gegeben. Mit der Lyrikerin Inger Christensen können wir sagen, dass der Gedanke an den Tod und die Erfahrung des Todes, insbesondere eines geliebten Menschen, uns in den Geheimniszustand des Menschen einweiht: wie die Tiefe das Wasser hochhebt zu einer Quelle hebt der Tod die Lebenden hoch zum Trinken
Wir kommen also aus einem unvordenklichen Anfang und gehen in ein unbegreifliches Ende, und dies bedeutet ständiger Entzug. Selbsterkenntnis, so ist nun be83 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
reits vielfach deutlich geworden, ist nur dann ein ehrlicher und überzeugender Vorgang, wenn sie immer auch ihre Grenzen mitbedenkt. Zur Begrenztheit des »Erkenne dich selbst« gehört wesentlich, dass die Selbsterkenntnis stets von Selbstentzogenheit und Selbstverborgenheit begleitet wird. Wie bei einem Text häufig der Kontext noch nach und nach auftaucht oder entdeckt werden muss und sich unter und hinter dem explizit Gesagten und Geschriebenen ein Subtext verbirgt, der vielleicht zwischen den Zeilen hervorlugt, so verhält es sich auch mit unserer Lebensgeschichte. Wir sind mit so vielem verwoben, das wir uns weder ausgesucht haben noch in aller Regel erkennen können, dem Jahrhundert unserer Geburt etwa, der Zeit und Welt, in die wir gesetzt sind, die Eltern, die Sprache, die Kultur, das Geschlecht und unendlich vieles mehr, das uns prägt und mit dem wir ringen. Und jenseits unseres kleinen Bewusstseinsfensters gibt es die Nacht, den Schlaf, die Träume, das riesige Reich des Unbewussten, von dem wir nur kaum mehr als die Spitze des Eisberges fassen können. Da sind unsere Stimmungen, die ihre kaum zugänglichen Wege nehmen, vor allem aber alle die vielfältigen Konstellationen, in die wir als leibliche Wesen verwickelt sind, die Wirkungen der Triebe, der Nahrung, des Schlafs, des Wohnorts, des Wetters, des Lebensraums, der Krankheiten usw. Vielleicht können wir alle diese vielfältigen Überschreibungen und Überlagerungen mit dem Bild eines Palimpsests verdeutlichen. 84 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Weil in der Antike und im Mittelalter die Schreibmaterialien, z. B. Pergament oder Papyrus, sehr wertvoll waren, wurden sie nach der ersten Beschriftung nicht einfach weggeworfen. Vielmehr wurde der erste Auftrag wieder abgeschabt, so dass sie wie bei einem Wunderblock der Kinder erneut beschrieben werden konnten. Allerdings ist durch das Abschaben die Schrift unter der Schrift nicht verloren. Durch verschiedene Verfahren ist es möglich, sie wenigstens zum Teil wieder ans Licht zu bringen. Unter den obersten Schichten des erkennbaren Textes gibt es jedenfalls viele Hypotexte, insgesamt eine Geheimschrift, ein Kryptogramm, von dem wir, je nachdem, wie weit wir mit unseren Durchleuchtungsverfahren reichen, wieder einiges zu Gesicht bekommen können. Allen vordergründigen und offensichtlichen Fragen und Antworten, die das vielschichtige Palimpsest des menschlichen Lebens ausmachen, liegt schließlich das letzte Abenteuer des Menschseins und sein rätselhafter Ur-Text des Frage-Seins als ursprüngliche Schrift selbst zugrunde. Die Selbsterkenntnis leuchtet in diese Tiefe auf ihre Weise hinein. Sie durchdringt Schicht um Schicht, um durch die Überschreibungen der Oberfläche hindurch einen Blick auf diese Tiefe, auf die ursprüngliche Schicht (Schrift) zu erhaschen und das Entzogene wieder sichtbar zu machen. Doch das Meer dieser Geheimschrift ist so groß und der Mensch eine so große Frage, dass kein Antwort-Boot seine Unerschöpflichkeit erschöpft und seine Entzogenheit vollkommen auflösen kann. 85 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Lesen wir, was Pascal in seinen Pensées über die natürliche Lage des Menschen ausführt: »Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat, und auch nicht, was die Welt und ich selbst sind; ich bin schrecklich unwissend in allen Dingen; ich weiß nicht, was mein Körper, meine Sinne, meine Seele und selbst jener Teil meines Ichs sind, der denkt, was ich sage, der über alles und über sich selbst Betrachtungen anstellt und sich nicht mehr als das übrige erkennt. Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist. Ich sehe überall nur Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom und wie einen Schatten einschließen, der nur einen unwiederbringlichen Augenblick lang dauert. Alles, was ich erkenne, ist, daß ich bald sterben muß; doch was ich am wenigsten begreife, ist gerade dieser Tod, dem ich nicht entgehen kann. Da ich nicht weiß, woher ich komme, weiß ich auch nicht, wohin ich gehe; und ich weiß allein, daß ich, wenn ich diese Welt verlasse, für immer entweder ins Nichts oder in die Hand eines erzürnten Gottes falle, ohne zu wissen, welcher dieser zwei möglichen Zustände mir ewig zuteil werden soll. So ist meine Lage: voller Schwäche und Ungewißheit.«
Pascal bringt das Nichtwissen der Selbsterkenntnis mit dem Phänomen der Kontingenz in einen Zusammenhang. »Kontingenz« bedeutet hierbei, dass ich kein notwendiges, sondern ein mögliches, aber zufälliges Wesen bin. Es ist weder notwendig, dass ich überhaupt da bin, 86 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
noch dass ich so da bin, wie ich jetzt da bin. Viele außer mir gelegene Gegebenheiten und Widerfahrnisse haben dabei ihre Hand im Spiel, dass es mich so gibt, wie es nun der Fall ist. Illustrieren wir es wieder mit Pascals Worten, der sein Erstaunen darüber äußert, mich eher hier als dort zu sehen, denn es gibt keinen Grund, warum es eher hier als dort ist, warum jetzt und nicht vielmehr früher. Wer hat mich dorthin gebracht? Durch wessen Gebot und Führung sind dieser Ort und diese Zeit mir bestimmt worden? Und noch einmal in einer anderen Variation, in der die Kontingenz durch das Fehlen eines (zwingenden) Grundes erläutert wird: Warum sind meine Kenntnisse und meine Größe beschränkt, und warum dauert mein Dasein nur annähernd hundert und nicht vielmehr tausend Jahre? Welchen Grund hat die Natur gehabt, mir ein solches Leben zu geben und diesen Lebenskreis eher als einen anderen in der Unendlichkeit auszuwählen, wo es doch für die Wahl des einen oder des anderen keinen zwingenderen Grund gegeben hat, da keiner von beiden größere Anziehungskraft besaß? Wie in diesem Bild sich tausende von Fäden in einem Netz von zufälligen oder scheinbar zufälligen Verbindungen verknüpfen, so herrscht die Kontingenz über unsere Einsicht. Unsere Fassungskraft reicht nicht hin zu erkennen, ob dem ganzen Gewebe Sinn und Ordnung und Verstehbarkeit innewohnt. Sie reicht nicht aus, falls es eine solche Ordnung gäbe, diese adäquat nachzuvollziehen. Unsere Selbsterkenntnis wagt sich in das Feld der Kontingenz und experimentiert mit 87 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Kontingenz?!
den Fäden, die das Leben spinnt, ob sich darin Muster von Sinn finden oder erzeugen lassen. Aus all diesen Gründen, dass ich nämlich kein notwendiges oder unendliches oder ewiges Wesen bin, sondern ein geschichtlich sich vollziehendes Erwachen zu mir selbst, ist die Selbsterkenntnis mit Selbstentzug oder Selbstverborgenheit verbunden und bleibt bis zum letzten Atemzug eine nicht zu vollendende Abenteuerreise des Denkens. Die Geheimschrift des Selbst kann nicht zu Ende verstanden werden, sondern ähnelt eher einer Black Box. Nie kann ich mir selbst vollkommen transparent werden. Es gibt Dunkelheit am Anfang und am Ende und ringsherum. Ein Text ohne erhellbaren Anfang, ohne erkundbares Ende, eingebettet in Kräfte und Gegebenheiten, die kaum durchschaubar sind. Sich
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als Geheimnis zu denken und anzunehmen ist darum ein integraler Bestandteil des »Erkenne dich selbst«: O ewiges Geheimnis! Was wir sind Und suchen, können wir nicht finden, was Wir finden, sind wir nicht. (Hölderlin)
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6 Du musst dich selbst annehmen
(Romano Guardini) Ich soll sein wollen, der ich bin; wirklich ich sein wollen, und nur ich. Ich soll mich in mein Selbst stellen, wie es ist, und die Aufgabe übernehmen, die mir dadurch in der Welt zugewiesen ist.2
Wer zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens aufwacht zu sich selbst und das »Erkenne dich selbst« für sich entdeckt und ergreift, entdeckt in einem Zug mit, dass bereits schon viel geschehen ist und er schon vieles geworden ist. Mein Dasein selbst, meine Existenz, verdanke ich nicht mir selbst. Andere haben mich ins Dasein gerufen. Auch mein So- und Selbstsein erwächst aus einem geschichtlichen Gewordensein, meine Selbsterkenntnis entspringt einer vorlaufenden Geschichte, der sie sich mitverdankt. Im dritten Kapitel haben wir uns dafür aus Hölderlins Schicksalslied mit den Zeilen »Doch uns ist gegeben / Auf keiner Stätte zu ruhn« den Begriff der Gegebenheit entliehen. Wir sind konfrontiert mit vielen Gegebenheiten, die uns prägen und begrenzen, Gaben, die uns Vorgaben machen, uns begaben, die zu doppelsinnigen, zweideutigen Aufgaben werden und zu Rückgaben verpflichten. Die schicksalhafte Dimension unserer eige90 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
nen Geschichte setzt den Spielraum für unsere Freiheit. Was ist uns nicht alles vorgegeben? Wir erinnern an die Zufälligkeiten der eigenen Existenz, auf die wir im vorigen Kapitel gestoßen sind: dass ich in diesem Jahrhundert und nicht in jenem Jahrhundert geboren wurde, dass ich hier und nicht dort zur Welt kam, mit diesem Geschlecht, in dieser Familie, mit diesen Eltern, diesen Geschwistern, dieser Kultur, dieser Sprache, diesen Bildungschancen. Ich habe diesen Körperbau – für den Weg der Tänzerin wenig Aussicht. Ich habe diese Hände – für die Karriere als Pianist kaum geeignet. Ich kann nicht alles Mögliche werden. Kann ich ohne Ressentiment loslassen, was ich nicht sein kann? Was weiß ich von der Herkunft und dem wahren Umfang meiner eigenen Stärken und Schwächen, meiner Anlagen, Talente und Fähigkeiten, meiner Neigungen und Tendenzen, meiner Kräfte und Kraftgrenzen? Kann ich mich wirklich sehen und annehmen? Wer sich selbst realistisch anschauen will, um sich ernsthaft anzunehmen, wird erkennen, dass die eigene Selbsterkenntnis sehr unvollkommen und lückenhaft ist. Neben mein eigenes Bemühen, den Blick auf mich zu vervollkommnen, braucht es hierbei immer auch die hilfreiche Rückmeldung von anderen Menschen. Die anderen sind nicht nur ein allgemeiner Spiegel für das Selbstverstehen, sondern eine spezifische Quelle der Einsicht für meine Historie und meine Eigenarten. Aufgeschlossenheit, offen zu sein für das Wort derjeni-
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Kann ich mich sehen?
gen, die mich kennen, ist ein wichtiger Schlüssel dafür, mehr von sich zu sehen. Doch auch wenn ich Grenzen des Verstehens auflösen mag, es bleiben die faktischen Grenzen: in mir, durch andere, durch Ressourcen. Ich brauche hier, wie man sagt, Prioritäten, die ich setzen muss. Jedenfalls aber muss ich mich annehmen lernen mit meiner ganzen Geschichte, in der sich mein geheimnisvoller Weg von Wachstum, Veränderung und Reifung bislang vollzogen hat. Alle dunklen und alle hellen Stunden, die Schmerzen, das Heitere und das Bittere – all das gehört zu mir. Diese Geschichte ist mein Geschick, wobei ich mir zugleich auch immer wieder neu selbst zum Schicksal werde. Denn jede Wahl, die ich treffe, jede Entscheidung, die ich fälle, jede Präferenz, der ich folge, und jedes neue Handeln setzt meine Geschichte so fort, 92 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
dass ich meine Schicksal vermehre, das dann wieder angenommen werden will. Auch die verpassten Chancen, die Verletzungen und die Schuld gehören dabei zu mir, und ohne sie ist Selbstannahme nicht zu haben. Wer zu sich stehen möchte und nicht vor sich selbst davonlaufen will, muss auch zu all seinen Fehlern und Irrtümern stehen und sie sich eingestehen. Aber das Schicksal gewährt nicht nur den Spielraum der Freiheit. Selbstannahme bedeutet auch, sich frei in ein Verhältnis zum Schicksal setzen zu können. Die Annahme des Schicksals, so können wir es mit einem Gedanken Robert Spaemanns formulieren, muss sich vor zwei Fallen hüten, dem Zynismus und dem Fanatismus. Der Fanatiker wird den Sinn über das Sein erheben, die Freiheit vom Schicksal emanzipieren, der Zyniker das Sein über den Sinn triumphieren lassen, so dass die Freiheit schließlich vom Schicksal verschluckt und absorbiert wird. Auch hier kommt alles darauf an, sich mit Maß und Mitte zu verbünden. Die Koexistenz von Sinn und Sein, von Freiheit und Schicksal ist die Welt des Menschen, auch wenn er sie nicht völlig miteinander versöhnen kann. Ängste setzen Grenzen, Charakter setzt Grenzen, Naturell setzt Grenzen, Wertungen, Wertschätzungen, Sympathien und Antipathien, meine Feindbilder und Sorgen setzen Grenzen. Manche Grenze muss angenommen und bejaht werden, manch andere kann ich vielleicht überspringen oder überwinden. Das bedeutet, dass ich meine Grenzen kritisch überprüfen muss. Weder darf ich mich ihnen vorschnell beugen, noch kann 93 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
ich mich in der Illusion der Grenzenlosigkeit verlieren. Ob etwas wirklich eine Grenze ist oder nur ein Scheinriese, finde ich dadurch heraus, dass ich handle, mich engagiere und etwas wage. Niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie versucht hat, sagt Goethe. Ich muss mich ausprobieren. Manche meiner »tiefen Überzeugungen« mag ich vielleicht durchschauen als Denkfalle, die mir beigebracht wurde oder in die ich mich selbst verliebt habe. Ich muss prüfen, was ich bin, was bleiben kann und was nicht. Ist die Überzeugung, dass ich nur dann als erfolgreich oder liebenswert angesehen werden darf, wenn ich perfekt bin, meine eigene Sicht oder nur eine in mir, von frühester Kindheit in mich eingetragen, eingeschrieben, eine verinnerlichte Fremdherrschaft? Nun, bevor ich sie überhaupt identifizieren und vielleicht verändern kann, muss ich sie jedenfalls als zu mir gehörig annehmen. Was wirklich unveränderlich an mir und für mich ist, braucht mein Ja, meine Annahme. Es ist der Horizont meines Handelns und Denkens. Wahrhaft Unveränderliches muss als Sinnmoment integriert werden, von dem aus der weitere Weg der Selbsterkenntnis sich öffnet. Schuld braucht Reue und Verzeihen, um nicht durch sie gebunden, auf sie fixiert zu bleiben. Reue ist die ehrliche und kritische Einsicht in meine Taten, in der wir »wider uns auf die Seite des Guten« (Romano Guardini) treten. Verzeihen bedeutet, wieder neu beginnen zu können. Die Tat bleibt, das Versäumnis existiert, aber seine lebensprägende Macht kann sich relativieren und das Faktum wird dann zu einem Moment 94 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
von Sinn, wenn die Selbsterkenntnis das Verzeihen als Mittel nutzt, ein besserer Mensch werden zu wollen als der, der ich bisher war. Doch die Annahme meiner selbst ist mit Schwierigkeiten behaftet. Ich will nicht wahrhaben, dass es diese Grenzen wirklich gibt, dass ich diese Schuld wirklich auf mich geladen habe. In die Selbsterkenntnis mischt sich Selbsttäuschung, weil ich mich so nicht annehmen will. Bewusste und unbewusste Selbsttäuschung ist ein kompliziertes und delikates Thema der Selbstannahme, das sie in ihrer Wurzel gefährdet. Wer ist schon fähig zu einer Wahrwerdung ohne Ausrede, Maske und Flucht? Vielleicht könnte man einwenden, dass Selbsttäuschung ein hölzernes Eisen, also ein unmögliches Ding sei. Man wisse doch davon, da man ja ein und dieselbe Person ist, wenn man sich selbst täuschen möchte, und daher könne das nicht wirklich geschehen. Was logisch scheint, gilt für ein historisches Bewusstsein, das mit sich selbst im Dialog ist, offensichtlich nicht so einfach. Es ist nicht typisch für uns, dass wir uns in luzider Klarheit und maximaler Selbsttransparenz gegeben sind. Wir sind kein reiner Geist. Unsere Aufmerksamkeit und Konzentration schweift in verschiedenen Graden und Richtungen selektiv hin und her. Wir sind geprägt durch mächtige Gewohnheiten, die, aus uralten Tagen herkommend, ihr Recht einfordern. Subtile Formationen fast unmerklicher Selbstdisponierungen haben sich in uns ein Wohnrecht erworben. Der Mantel des Vergessens ist über vieles, das in uns wirkt, ausgebreitet. 95 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Die meisten Dinge sind vieldeutig und erlauben es, sie, wie Kippfiguren, so oder so zu deuten – zu welcher Deutung wird meine Neigung mich ziehen? Ich kann mir in meiner Selbstunterredung einen Sachverhalt in immer neues Licht stellen, ihn beschönigen, verharmlosen, entdramatisieren, so dass aus der Selbstunterredung allmählich eine Selbstüberredung wird, die ich nicht mehr durchschaue. Ein einmal eingeübter falscher Blick erleichtert den nächsten falschen Blick ungemein und macht ihn beinahe unkenntlich. So wird es immer schwerer, seiner Falschheit noch auf die Schliche zu kommen. Dabei haben wir über viele andere wirksame Kräfte des Unbewussten noch gar nicht gesprochen. Ich will, in den Augen der anderen, und insoweit diese auch meine Augen geworden sind: in meinen Augen, ein anderer sein als ich bin. In günstigem Licht will ich dastehen. Ich will, dass man mir schmeichelt. Selbst, wenn man mir Unangenehmes sagen muss, verlangt die eigene Eitelkeit doch, dass es auf eine höhere Art als heldenhaft gelten möge, auch dieses Unangenehme so ausgezeichnet entgegenzunehmen. Und im Übrigen ist das, was vorgeworfen wurde, vielleicht ja auch nicht ganz so dramatisch wie dargestellt und im Grunde, wer weiß es schon, zuletzt etwas anderes als gemeinhin gedacht. Die Selbsttäuschung ist eine so machtvolle und tiefsitzende Kraft, dass es schon der Bereitschaft zu einer radikalen Schonungslosigkeit bedarf, um hier wenigstens ein paar Schritte weit in Licht zu kommen. Ihr 96 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Selbst-Täuschung
Opfer sind die anderen, aber auch ich selbst. Unter dem Anschein des Wahren, wie es das Bild so trefflich illustriert, haben sich unendlich viele kleine Lügen eingenistet. Kleinste Bauelemente nur, Lügenatome, leicht zu übersehen, schnell zu vergessen, im Grunde doch unbedenklich, aber bald kombiniert zu kleinen Lügenmolekülen, allerlei Gespinsten, die aufwachsen und mit frecher Sicherheit von der Selbsterkenntnis Besitz ergreifen. Aller Demut und Bescheidenheit in der eigenen Wahrheitsliebe muss man hier mit nachdenklicher Sorge, Misstrauen und Zweifel entgegentreten. Denn oft genug ist diese Demut nur geduckter Hochmut, ein kluges Versteck für Hochmut und Selbsttäuschung, eine Tarnung und nette Maske. Selbst für meine Demut will ich noch gelobt werden. Die Selbsttäuschung ist eine sonderbare Kosmetikerin der Selbsterkenntnis. Vieles, was wir nicht wahrhaben wollen, verbergen wir, bildet, tiefenpsycho97 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
logisch gesprochen, einen Schatten oder Verdrängtes. Was aber verborgen und abgespalten ist, ist deshalb keineswegs unwirksam. Hier nun kommt die kosmetische Kraft der Selbsttäuschung zu Hilfe. Das Dunkle gibt es nicht, oder es ist eigentlich nicht dunkel, sondern hell, behauptet sie und setzt für Verschleierung, Rechtfertigung oder Überhöhung alle Raffinessen ein, zu denen die menschliche Klugheit fähig ist. Unter der Selbstannahme arbeitet eine Maschinerie der Selbsttäuschung, die sich selbst nicht in die Karten schauen lassen will. Die Selbstannahme hat also ihre eigentümlichen und tiefsitzenden Schwierigkeiten mit der Selbsttäuschung. Einerseits macht sie die Selbstannahme scheinbar leichter, weil sie uns ins günstige Licht rückt. Andererseits entfernen wir uns auf betrügerische Weise von uns selbst und verlieren uns mehr, als dass wir uns finden und annehmen können. Wir weichen uns aus, sind auf der Flucht, wollen uns gar nicht ungeschminkt zur Kenntnis nehmen. Hier können wir das Wesen der Selbsttäuschung sogar als Selbstverachtung kennzeichnen. Das wahre Selbst wird nicht gezeigt, sondern verborgen, da es für mich selbst oder andere verächtlich zu sein scheint. Und diese Verbergung ist noch einmal eine Verachtung meiner selbst, weil sie nicht wahrhaftig zu sich selbst stehen will. Selbstannahme ist aber nur in Selbstachtung möglich. Ein aufgeklärtes Leben weiß, dass es in dem Bemühen, sich von Irrtum, Wahn, Täuschung und Verblendung zu befreien, nicht nachlassen soll. Ein auf98 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
geklärtes Leben weiß aber ebenso darum, dass es hier machtvolle Gegenspieler gibt und es eine Illusion wäre zu glauben, sie wären ein für alle Mal zu überwinden. Das meiste entgeht uns oder entzieht sich unserer Beeinflussungsmacht. Es ist schon viel, zu sich auch in seiner problematischen Selbstgegebenheit zu erwachen und ein wenig Fortschritt in der inneren Arbeit an sich selbst zu erreichen. Ergänzen wir das Thema Selbstannahme noch um eine theologisch-spirituelle Perspektive. Wenige Jahre vor seinem Tod berichtet Romano Guardini von einem Traum, in dem eine Stimme zu ihm oder in ihm sagte, dass jedem Mensch bei der Geburt ein Wort mitgegeben und in sein Wesen hineingesprochen wird. Dieser Logos wird »das Passwort zu allem, was dann geschieht«. Dieses Wort ist der wahre Name des Menschen, mit dem er sein Einverständnis finden und das er als sein Selbst annehmen soll. Dieses Wort, meint Guardini, ist ohne den Gottesbezug nicht verständlich zu machen. Seine Überlegungen zur Selbstannahme folgen dabei einem hebräischen Verständnis von »Name«. Denn dort ist der Name nicht »Schall und Rauch«, wie in Goethes Faust. Er ist auch mehr, als das lateinische Wortspiel nomen est omen es besagt, dass der Name nämlich eine Art charakteristisches Vor-Zeichen, also sozusagen »Programm« für etwas sei. Vielmehr bedeutet »Name« im Vollsinne Artikulation und Vergegenwärtigung des Wesens einer Person. Der wahre Name entspricht dem wahren Wesen selbst. Guardini geht in seiner Analyse der Selbst99 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
annahme zunächst davon aus, dass ihre Wurzel jenes Einverständnis sei, das ich mit mir finden müsse: »Ich soll damit einverstanden sein, der zu sein, der ich bin. Einverstanden, die Eigenschaften zu haben, die ich habe. Einverstanden, in den Grenzen zu stehen, die mir gezogen sind.« Des Weiteren verlangen die Fragen, warum ich gerade so bin, wie ich bin, und warum ich überhaupt da bin, eine Antwort, die es »von meinem unmittelbaren Sein her« nicht gibt: »Der Mensch kann sich aus sich heraus nicht verstehen«. Damit aber diesen Fragen eine sinnhafte Antwort zukommt, bedarf es des Glaubens an eine Macht, in der Sein und Sinn sich vollkommen zusammenschließen und der ich mich zugleich als unbedingt gewollt verdanke. In der Beziehung zu einem solchen Gott und in dem lebendigen Verstehen, »daß mein Anfang in Gott liegt«, ermöglicht sich die Antwort, nach der endliche Personen letztlich suchen. Im Blick auf den Menschen unterscheidet Guardini vor diesem Hintergrund zwei Dimensionen des menschlichen Namens. So wie alle Menschen eine Grammatik der Existenz und ein Prinzip der Besonderung aufweisen, so gibt es auch hier einen universellen spirituellen Namen, den alle Menschen teilen. Er besteht darin, dass Gott sie zu seinem Ebenbild geschaffen hat. Ebenbildlichkeit bedeutet, dass Gott jeden Menschen als Du und zur Gemeinschaft mit ihm erwählt: »Gott hat den Menschen in eine Beziehung zu sich gesetzt, ohne die er weder sein noch verstanden werden kann.« Dieser Gottesbezug bildet jene Vorbedingung, 100 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
»nach der wir fragen und von der es abhängt, wie weit der Mensch sich selbst versteht«. Ebenbildlichkeit bedeutet auch, dass das Wesen Gottes, seine unendliche Fülle, Schönheit und Vollkommenheit, in ein endliches Wesen vollkommen »übersetzt« ist. Die Hybris des Menschen, Urbild statt Ebenbild sein zu wollen, Gott statt Mensch, Geber statt Gabe, Anfang statt Wirkung, entfremdet ihn seinem eigenen Wesen und Wissen und lässt Name und Sein auseinandertreten, so dass diese nun »auf der Suche nacheinander sind«. Der Mensch unserer Zeit befindet sich schließlich in einer eigenartigen »Amnesie«: »Er ist wie Einer, der seinen Namen vergessen hat, denn sein Name ist eingebettet in den Namen Gottes.« Andererseits bin ich nicht nur wie alle Menschen durch ein gemeinsam geteiltes Existenzprinzip charakterisiert, sondern auch durch eine Besonderheit oder einen singulären Eigennamen, der nur mir in seiner Einzigartigkeit zukommt, ein Name, der nicht nur »mein Wesen«, sondern »meine Person« ausspräche. Würde dieser Name von uns gefunden und unsere wahres Selbst als Besonderheit einholen, würden wir uns, so Guardini, zum ersten Mal wirklich »selbst-verständlich«: »Der Name ist das Offen-Werden im Wort; das gewußte Sein.« Diesen Namen, »meinen Namen« suchen wir in der Selbsterkenntnis, weil wir ihn nicht haben, wohl aber eine leere Spur der Sehnsucht in uns vorfinden und daher Versuche einer Annäherung an das Eigentliche, den eigenen Namen unternehmen. Wir umkreisen ihn, 101 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
diesen göttlichen Eigennamen unserer Person, wie Rilke Gott, den uralten Turm. Da der Weg der Besonderung, der mich immer mehr zu meiner einzigartigen Besonderheit hinführen soll, aber nicht abschließend durch mich selbst geleistet und erfüllt werden kann, taucht an dieser Stelle das Problem von Natur und Gnade sowie von Freiheit und Gnade auf. Wenn ich von Natur aus auf etwas aus bin, das über die Kräfte meiner Natur geht, und wenn wir dies nicht unnatürlich, sondern übernatürlich nennen können, muss meiner Freiheitsgeschichte etwas Größeres zu Hilfe kommen, das meine Natur wirklich erfüllt. Guardini weist auf die Offenbarung des Johannes hin, in der unter der Zusage, dass Gott alles neu machen und heilen werde, dem geheilten Menschen ein »weißer Stein« gegeben wird: »und auf den Stein geschrieben einen neuen Namen, den niemand weiß, als der, der ihn empfängt«. Der Mensch ist eine so große Frage, dass nur ein Gott sie beantworten kann. Gott muss und will dem Menschen hilfreich entgegenkommen. Nur er kann dem Menschen seinen einzigartigen Namen sagen, so dass der Mensch sich selbst erkennt und es mit Guardinis Worten zur »Selbigkeit von Sein und Name« kommt: »Mein Sein wird vollkommen offen werden im Wort meines Heißens; dieses mein Heißen aber nicht ein Zweites sein, sondern ich selbst. Ich werde als Genannter im Sein stehen, nichts von mir mehr versteckt, und nichts unklar; alles vom Namen Gesagte aber wird wirklich sein, nichts bloß geredet, und nichts leer.« Gnade vollendet schließlich, was 102 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
der Mensch frei als eigenen Weg begonnen hat, zu einem guten Ende.
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7 An den Früchten werdet ihr sie erkennen
(Immanuel Kant) Man muß doch nicht immer spekulieren, sondern auch einmal an die Ausübung denken. Allein heutzutage hält man den für einen Schwärmer, der so lebt wie er lehrt.
Wenn wir das Wort der Kapitelüberschrift aus Matthäus 7,16 in einem ersten Sinn aufgreifen, ist es ein Zeichen für Kongruenz. Die Frucht entspricht dem, was als Saatgut verborgen in die Erde gelegt wurde. Ist das Resultat gut, war die Prämisse auch gut. Ist die Frucht ungenießbar, ist es womöglich bereits der Keim. Oder umgekehrt: Aus etwas wirklich Gutem kommt nichts Schlechtes. Unsere moralischen Einstellungen und Haltungen zeigen, was wir gut finden oder nicht. Solche Haltungen geben uns Halt. Sie halten uns auf einem bestimmten Kurs, indem sie uns wie ein Kompass navigieren. Aber halten sie auch, was sie versprechen? Oder sind sie nur Geschwätz? Wenn Haltungen nicht durch entsprechendes Verhalten eingelöst werden, bleiben sie »ungedeckte Schecks«. Die Worte »Tugend« und »taugen« hängen eng miteinander zusammen. Ob das, was jemand sagt, 104 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
etwas taugt, muss sich erst noch zeigen und beweisen. Ob seine Haltung wirklich taugt, werden wir an seinem Verhalten messen. Sagt ein Mensch, er liebe die Wahrheit und sage verlässlich die Wahrheit, wir aber bald entdecken, dass er leichtfertig mal dies, mal jenes behauptet und es mit der Wahrheit gar nicht so genau nimmt, so finden wir uns durch seine anfänglichen Worte getäuscht und belogen. Die Werke sprechen ihr Urteil über die Worte und verraten uns, dass sie bereits unwahr gewesen sind. Wir können uns natürlich viele weitere Präzisierungen sowie Einwände und Ausnahmen zu dieser Regel denken. Aber als Regel bietet sie ein gutes Orientierungswissen. Des Weiteren steckt in dem Wort Christi über die Früchte, an denen man erkennt, nicht nur eine inhaltliche Entsprechungsregel, sondern eine Idee, wie man Theorie und Praxis überhaupt verbinden soll. Wenn wir wissen wollen, was das genau bedeutet, was ein Mensch denkt oder sagt, sollen wir nicht mehr nur auf seine Worte schauen, sondern vor allem auf seine Taten und sein Leben. Dort, in den Wirkungen auf das Leben, zeigt sich jetzt das entscheidende Kriterium für die wahre Bedeutung einer Sache. Die Wahrheit begegnet uns in der tatsächlichen Bewährung. Was die Theorie (in Wahrheit) wirklich wert ist, sagt uns die Praxis (in der Tat). Das Erkennen bestimmt nicht nur das Leben, das Erkennen ist zugleich für alles Erkennen auf das Leben angewiesen. Das Leben erläutert dem Erkennen anhand der Wirkungen des Denkens, was das Erkannte im Leben wirklich bedeutet und ob es »stimmt«. 105 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Das vorangestellte Zitat aus Kants Vorlesungen über die philosophische Enzyklopädie greift ebenfalls beide Aspekte auf. Einerseits soll sich das Spekulieren bitteschön im Praxistest bewähren. Andererseits ist die Forderung vernünftig und keine Schwärmerei, dass Lehre und Leben Übereinstimmung anzielen sollten. Kant ist mit dem zweiten Aspekt in guter stoischer Gesellschaft. Epiktet etwa bringt es so auf den Punkt: Nicht Sprüche sind es, woran es fehlt; die Bücher sind voll davon. Woran es fehlt, sind Menschen, die sie anwenden. Und Seneca erinnert uns, dass uns die Philosophie lehrt zu handeln, nicht zu reden. Der erste Gedanke aber ist auf eindrucksvolle Weise vom Begründer des amerikanischen Pragmatismus aufgegriffen worden. Charles Sanders Peirce versteht die Bedeutung einer Überzeugung, ausdrücklich übrigens im Rückgriff auf Kant und auf die Bibelstelle aus Matthäus 7,16, durch eine vom ihm so formulierte pragmatische Maxime. Sie besagt, dass wir unsere Ideen und Begriffe dadurch klären, dass wir überlegen, welche möglichen praktische Konsequenzen sie denkbarerweise für uns haben werden; dann verstehen wir, was wir wirklich mit ihnen meinen. Wenn jemand beispielsweise sagt, dass der Diamant der härteste natürliche Stoff sei, dann sagt er damit praktisch: wann immer du einen Diamant hast, wirst du damit alle anderen natürlichen Stoffe ritzen können, nicht aber mit allen anderen natürlichen einen Diamanten. Wir verstehen alle diese Hinweise so, dass Erkenntnis und Leben innig verknüpft sind und dass dies auch 106 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
für die Selbsterkenntnis gilt. Ein erster Punkt: Ob das, was wir in der Selbsterkenntnis von uns denken, wirklich zu uns passt, wird uns in aller Regel erst die Umsetzung in die Praxis zeigen. Ein zweiter: Ob das, was wir von uns denken, im Leben lebbar ist, wird erst durch die Resonanz der Praxis sichtbar. Manchmal denken wir dieses oder jenes. Dann folgen wir diesen Gedanken im Leben und merken, dass es zu Wirkungen kommt, an die wir gar nicht zuvor gedacht haben. Vieles ist in Gedanken allein nicht zu erschließen und zu entscheiden. Wissen wir, ob es stimmt? Nun, dies muss sich zeigen, indem du das tust, was du darunter verstehst. So klären sich Überzeugungen. Da jeder Mensch sich zu einer bestimmten Zeit immer nur fragmentarisch oder stückweise erkennen kann, müssen wir die Praxis befragen. Wir prüfen unsere Überzeugungen, Einsichten und Vermutungen, indem wir sie wie Hypothesen einem Bewährungstest in der Praxis unterwerfen. Die Früchte, also die Wirkungen, werden uns über beides belehren, was uns was bedeutet, und ob es zu uns passt. Das heißt, die Praxis klärt und entwirrt die Theorie, ihre Begriffe und Überzeugungen, und sie erzeugt Wirkungen, an denen wir ablesen können, ob Theorie und Praxis moralisch kongruent und stimmig sind. Die Praxis gewährt der Selbsterkenntnis also zwei Früchte. Es kommt darauf an, die Gedanken zu verwirklichen, Wirklichkeit werden zu lassen. Dann trägt die Praxis zur Bedeutungsklärung dessen bei, was ich denke, indem sie den Spiegel der Wirkungen und Effekte zur Verfügung stellt. Sie macht aber zugleich dabei 107 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
auch ethisch offensichtlich, ob das, was ich lebe, mit dem zusammenstimmt, was ich denke und sage, indem sie einen Spiegel der Stimmigkeit oder Kongruenz zur Verfügung stellt. Gutes Denken muss Gutes denken. Dieses aber zeigt sich nur im Handeln, bewährt sich nur in der Tat. »Erkenne dich selbst« bedeutet nun also: Du wirst dich an deinen Früchten erkennen! Aber woran werden wir im Blick auf das »Erkenne dich selbst« die Wirkungen messen? Selbsterkenntnis, so sagten wir, ist nicht nur Nachdenken über sich selbst. Sie muss ihre Theorie mit ihrer Praxis verbinden, um als Selbsterkenntnis voranzukommen. Es gibt ein Übermaß an Selbstreflexion, die um sich selbst unfruchtbar kreist und sich nicht in Tat und Leben beweisen und bewähren will. Ob ich dieses oder jenes wirklich bin oder sein kann, ob dieses oder jenes wirklich zu mir passt oder nicht, ist in vielen Fällen durch Nachdenken allein nicht zu entscheiden. Die Selbsterkenntnis ist kein Projekt des bloßen Nachdenkens. Woran merken wir, ob die Selbsterkenntnis gelingt? Woran erkennen wir, dass wir uns selbst näherkommen, dass wir uns besser verstehen als zuvor? Es kann nach unseren bisherigen Überlegungen nicht mehr zuerst oder allein ein kognitives Kriterium sein, also beispielsweise, dass irgendeine Einsicht X uns besonders einleuchtet und zu uns zu passen scheint. Denn bei jeder neuen Einsicht wären wir wieder auf den »Wirkungs-Test« in der Praxis verwiesen. Also sollte es sowohl ein praktisches als auch ein theoretisches Kriterium sein, an dem wir eine Annäherung an 108 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
uns selbst ablesen könnten. Wahrscheinlich sogar ein Kriterium, in dem Theorie und Praxis sich kombinieren. Um zu verstehen, ob unsere Selbsterkenntnis auf einem überzeugenden Weg ist oder auf dem Holzweg, müssen wir ihre Einsichten und Vermutungen als Hypothesen in den Lebenstest bringen. Das praktische Kriterium für unsere theoretischen Überzeugungen könnten wir dann so beschreiben: diejenigen Überzeugungen von uns selbst gehören am meisten zu uns, die uns auf lange Sicht 9 fruchtbarer, kreativer, freier, wacher, stimmiger machen. Alle diese Begriffe brauchen natürlich eine weitere Klärung, weisen aber in eine Richtung. Die Überzeugungen gehören wirklich zu uns, von denen und mit denen wir lebendiger leben können. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die Überzeugungen, die uns lebendiger machen, müssen noch einen zweiten Test bestehen. Sie müssen uns nämlich auch geistig klarer machen. Durch sie sollte unsere Selbst-Verständlichkeit wachsen. Was bedeutet das? Ideen von uns selbst, die im Lebensvollzug dienlich sind, bewähren sich im Denken, wenn sie das Interesse der Selbsterkenntnis befriedigen. Die Selbsterkenntnis wird das Gedachte zwar im Selbsterleben prüfen. Alle Der Gedanke »auf lange Sicht« ist deshalb wichtig, weil wir kurzfristig positiven oder positiv scheinenden Wirkungen nur dann mehr und mehr vertrauen sollten, wenn wir die anhaltende Erfahrung machen, dass sie uns langfristig nicht zu schaden scheinen.
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Selbsterkenntnis greift aber über das jeweilige Selbsterleben hinaus auf ihr Ziel, immer mehr ich selbst zu werden. Selbsterkenntnis weist hier voraus auf das Selbstwerden als seine eigentliche Praxis. In einem Vorgang verstehe ich selbst mich immer mehr, indem ich mir selbst theoretisch und praktisch immer mehr gerecht werde. Selbsterkenntnis und Selbstwerdung ist der eine Prozess in seinem Doppelvollzug, allmählich zu sich selbst zu kommen. Theorie und Praxis sind hier zwei Seiten eines Weges, die sich ständig gegenseitig erläutern und erhellen. Das Ziel dieses Weges aber ist die Einheit und Ganzheit aller Selbstvollzüge dieses einen Menschen. Also das allmähliche Heraustreten aus der Zwei in die Eins, in Einklang, Übereinstimmung, Stimmigkeit. Darum muss sich das, was sich im Leben zu bewähren scheint und lebendiger macht, noch einmal in seiner Geeignetheit für die geistige Klärung unseres Selbst bewähren, ob es uns nämlich dabei hilft, das Selbstverstehen in Richtung auf Einheit und Ganzheit voranzubringen. Beenden wir dieses Kapitels mit einigen grundsätzliche Gedanken zum Verhältnis von Denken und Leben und ziehen wir aus ihnen unsere Schlüsse für das »Erkenne dich selbst«. Wir verstehen unser Denken erst dann richtig, wenn es sich in die Praxis begibt. Willst du dich erkennen, schau auf deine Früchte. Das Leben gewährt dem Erkennen eine Resonanz, die dem Denken mehrfach weiterhilft. Die Wirkungen einer Überzeugung klären rückwirkend die Bedeutung dessen, was das Denken gedacht hat. Das Denken verdeutlicht sich 110 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
durch sein Umsetzungsecho in der Praxis. Die Lebensantworten geben des Weiteren in dem Sinne zu denken, als Kongruenz oder Stimmigkeit geprüft werden können: entsprechen Theorie und Praxis einander? Schließlich wird aber noch etwas Weiteres deutlich, nämlich die grundsätzliche Verwiesenheit des Erkennens auf das Leben. Das Leben ist der immer wieder neu Themen öffnende und gewährende Grund des Denkens. Ja, das Leben selbst, aus dem alle Themen hervorgehen, ist das erste und letzte Thema des Denkens und dabei auch die Frage, was beide füreinander sind, worin also lebendiges Denken und denkendes Leben bestehen. Damit öffnen wir den Prozess der Selbsterkenntnis noch mehr für die Praxis. Wir sagen nicht nur, dass wir das, was wir denken und meinen, in der Praxis auf seine Tauglichkeit hin prüfen sollen. Sondern noch umfassender sehen wir nun, dass wir uns überhaupt erst zu verstehen beginnen, wenn wir auf unsere Praxis achten. Wenn wir auf sie schauen, gibt sie uns zu denken. An ihr und durch sie kommen wir uns auf die Spur und manchmal auch auf die Schliche. Willst du dich erkennen, achte auf deine Früchte. Die Theorie schärft sich ihr Sehen dadurch, dass sie durch die Praxis hindurchgeht. Das Bewusstsein findet zu sich selbst, indem es durch seine Objektivierungen hindurchgeht und in ihnen seiner selbst ansichtig wird. Hegel drückt diesen Gedanken in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts so aus: »Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich, und 111 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
zwar hier als Geist, zum Gegenstande seines Bewußtseins zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen.« Wir können diesen Gedanken Hegels, über den Umweg der Entäußerung zu sich zu finden, auch poetisch formulieren und die Selbsterkenntnis unter das Motto Friedrich Rückerts stellen: »Wirke! Nur in seinen Werken kann der Mensch sich selbst bemerken.« 10 Wir sollen, mit einem Wort Nietzsches, Experimentalphilosophen werden. 11 In den Unzeitgemäßen Betrachtungen formuliert er es so: »Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auch etwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne«. Die Experimentalphilosophie führt das Denken in den Raum der Praxis, wo die kreative Auseinandersetzung mit dem Leben die eigene Wirklichkeit hervorbringt und herausarbeitet. Das Leben bildet für das Denken eine Art Laboratorium, in dem es mit sich selbst Experimente anstellt. Philosophie ist intensivste und unerschrockenste Erfahrung des Lebens, also ernsthaft Lebensphilosophie, sie bedenkt, wie Leben funktioniert, sie reflektiert dabei das Erleben des Lebens, und sie will selbst ein Erlebnis sein, d. h. dem Leben dienen und es steigern. In der Lebenskunst ist es nicht möglich, Betrachter oder Zuschauer des Lebens zu sein. Alle theoretischen In diesen »Werken« ist natürlich auch die Rückmeldung anderer an mich mitzudenken. 11 Dass wir mit unseren Überzeugungen Lebensexperimente anstellen sollen, erinnert an das, was wir früher bereits zu Montaignes »je m’essaye« sagten: Ich muss mich versuchen. 10
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Überzeugungen werden im Lebensvollzug ausprobiert und durchgespielt. Alles Erkennen ist Versuch und Wagnis, am Probierstein des Lebens selbst die Lebensprobe zu bestehen. So muss das Denken seine Überzeugungen immer wieder in die Lebenswette einbringen, ob man von und mit ihnen wirklich leben könne. Philosophie als Lebensexperiment, als Wählen, Wetten und Wagen, als Lebensversuche führt zu der Bescheidenheit zurück, die im Wort Philosophie als »Freundschaft zur Weisheit« angelegt. Der Freund von Wahrheit und Weisheit ist nicht der, der sie besitzt, sondern der, der nach ihr sucht. Experimentalphilosophie fordert eine undogmatische Haltung, die sich vom sicheren Bescheidwissen unterscheidet. Freundschaft bedeutet, auf dem Weg zu sein, Annäherungen zu versuchen. Weisheit vermittelt dabei nicht einfach Kenntnisse, sondern eine neue Lebensweise. Das entscheidende Produkt des Philosophen, vor seinen Werken, ist sein Leben. Dies ist sein eigentliches Kunstwerk. Darauf zielt das »Erkenne dich selbst«. Das entscheidende Produkt des Experimentalphilosophen ist Werk und Wirken seines Denkens im Leben. Denn dort entscheidet sich die Fruchtbarkeit der Werke, Texte, Reflexionen und aller Selbsterkenntnis. Philosophie ist nicht primär Theoriebildung, sondern der Versuch zu leben, zu erproben, womit sich leben ließe. Philosophie ist Lebenskunde und Lebenskunst: Leben in Philosophie übersetzen und Philosophie in Leben umsetzen. Wir können auf diese Weise noch einmal nachvoll113 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
ziehen, wie intim und konkret die Verbindung von Erkenntnis und Leben angelegt ist. Wir entdecken auch den Primat der Praxis bzw. des Lebens, aus dem das Denken hervorgeht und an dem es sich klärt und verdeutlicht. Vielleicht fällt von hier aus ein neues Licht auf das alte Wort primum vivere, deinde philosophari: zuerst leben, dann philosophieren. Das Leben ist, so scheint es, Subjekt und Objekt und Mittel und zuletzt der Prüfstein der Erkenntnis. Nietzsches Gedanke kann uns Orientierung geben: »Leben – das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir können gar nicht anders.« Alles, was wir sind, in Licht verwandeln, das kann bedeuten, es verstehen wollen, ins Licht der Erkenntnis heben. Alles, was wir sind, in Feuer verwandeln, heißt, es immer wieder aufzugeben und zu überwinden, um im Verstehen des Lebens weiterzugehen. Es zeichnet sich in dieser Deutung wohl auch Grundlegendes für die Selbsterkenntnis ab. Für die Selbsterkenntnis halten wir aus diesen grundsätzlichen Überlegungen zwei Schlussfolgerungen fest. Selbsterkenntnis ist nicht ohne Experimentalphilosophie, oder wie wir es auch sagen können: nicht ohne existentielles Wissen zu erreichen. Existentielles Wissen ist ein Wissen, das Intellektualität und Emotionalität umgreift. Es ist ein Wissen, das mir in keiner Weise mehr gleichgültig ist, sondern einen Prozess der Verwandlung auslöst oder doch zumindest auslösen kann. Es ist kein rein informatives, sondern ein transformatives Wissen, ein Wissen, das uns umformt und 114 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
verwandelt. Ob wir den Antworten, die sich in unserer Selbsterkenntnis abzeichnen, wirklich trauen können, zeigt nur der Weg in die Praxis. Dort wird aus der Theorie der Selbsterkenntnis existentielles Wissen, in dem wir leibhaftig erfahren, ob wir die Antworten der Theorie in unserem Leben auch tatsächlich verantworten können. Erst in der Praxis werden wir durch verwandelndes Wissen erfahren, ob wir von den Früchten leben können. Wir können uns selbst nicht verstehen, ohne uns auszuprobieren. Wir können uns selbst nicht erkennen, ohne uns zu gestalten. Sich selbst verstehen heißt, sich selbst bestimmen. Die Selbsterkenntnis versteht sich selbst, indem sie durch die existentielle Selbstbestimmung im Handeln hindurchgeht. Dieses Handeln ist ein echtes Experimentieren. Wir brauchen Mut und Entschlossenheit zu einem Entwurf von uns selbst, dann werden wir unsere Erfahrungen machen. Nur wenn wir ein Selbstbildnis oder Selbstporträt von uns wagen, können wir uns sehen, werden wir unserer selbst ansichtig. Der Mensch antwortet auf das FrageSein, das er ist, mit einem existentiellen Experiment. Er wagt einen Weg. In diesem Selbstversuch sucht sich der Mensch verantwortlich zu bestimmen. Dann lässt er sich von der Praxis sagen, wer er ist. Diesen Sprung in die Praxis müssen wir wagen. Wir müssen uns selbst einsetzen und dabei auch der Ungewissheit und Unsicherheit aussetzen, indem wir nicht wissen, wie es ausgehen wird. Der ethische Bezug der Selbsterkenntnis gewinnt 115 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
aufs Neue Bedeutung. Selbsterkenntnis als praktische Selbstbestimmung ist ein ernsthaftes Engagement. Sie wagt einen Weg der Bewährung der geglaubten Wahrheiten. Die Wahrheiten der Selbsterkenntnis sind Versuche der Wahrwerdung. Wir treffen die Entscheidung, diesem oder jenen Gedanken von uns im Leben Raum zu geben und ihm zu folgen. Mit ganzer Entschiedenheit ist er in die Praxis umzusetzen und zu erproben, was die Theorie erdacht hat. Wir machen uns einen Entwurf von uns selbst und stellen uns unter seine Führung. Dabei hoffen wir, uns durch neue Erfahrungen immer näher zu kommen. So klärt sich, wenn es gelingt, in der Selbsterkenntnis vieles durch das Wagnis des existentiellen Experiments. Ich muss erfahren, was es bedeutet, wenn ich dies oder jenes denke. An deinen Früchten wirst du dich erkennen können. Im letzten Kapitel haben wir den spirituellen Gedanken bedacht, dass die Natur durch die Gnade vollendet wird. Wir sahen, dass wir auf etwas aus sind, was unsere Kräfte übersteigt. Der Mensch ist eine so große Frage, dass nur ein Gott sie beantworten kann. Die spirituelle Dimension kann an dieser Stelle wieder sichtbar werden. Alles Experimentieren wird irgendwann abgebrochen werden. Die Früchte, die wir wachsen lassen, werden vielleicht gar nicht bis zu jener Ernte hin reifen können, in der wir uns selbst-verständlich, eins und ganz werden. Wir brauchen ein freundliches Entgegenkommen. Vielleicht in der Art, wie es Rilkes Strophe aus seinem Gedicht Herbsttag festgehalten hat: Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; / gieb 116 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
ihnen noch zwei südlichere Tage, / dränge sie zur Vollendung hin und jage / die letzte Süße in den schweren Wein.
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8 Erwachen – Fragen – Suchen (Seneca) Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe.
Das »Erkenne dich selbst« gleicht einem Prozess, der mit den Aspekten »Erwachen – Fragen – Suchen« beschrieben werden kann. Bevor dieser Prozess in Gang kommen kann, bedarf es eines ersten Erwachens, nämlich zur Aufgabe der Selbsterkenntnis. Dieses erste Erwachen mag sich allmählich anbahnen. Aber irgendwann braucht es den auslösenden Moment, um die geschlossenen Augen zu öffnen. Die alten Griechen haben davon gesprochen, dass dies ein Moment des Staunens sein kann. Ich verwundere mich aufgrund eines Umstandes, eines Erlebnisses, einer Einsicht. Vielleicht genieße ich einen ergreifenden Moment im Erleben der Natur, vielleicht habe ich eine zauberhafte Begegnung mit einem Menschen, vielleicht staune ich darüber, dass ich da bin, ich ich bin, es überhaupt etwas gibt in der Welt, die Dinge, die Blumen, die Kinder. Was sonst selbstverständlich oder unbeachtet ist, wird für einen Moment rätselhaft. Der Geschmack des Besonderen wird fühlbar. Ein Ruck tritt ein. Ich wache auf. Neben das Staunen stellen wir beispielhaft zwei andere Möglichkeiten, um aus dem alltäglichen Schlaf, 118 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
den wir unser Leben nennen, in eine erwachende Bewusstheit zu gelangen. Da ist einerseits der Zweifel. Da wir nach Gewissheit suchen, sind Zweifel normale Begleiter unseres Lebens. Wenn aber das Thema fundamental wird, wie etwa programmatisch bei René Descartes, dann stellt sich die Frage danach, was wir wirklich sicher und gewiss wissen können. Um dies herauszufinden, schicken wir alle unsere Gewissheiten durch das prüfende Feuer eines universalen Zweifels in der Hoffnung, dass wir zweifelsfreie Überzeugungen finden könnten. Albert Camus hat hingegen statt im theoretischen Zweifel den Ausgangspunkt des Erwachens im existentiellen Schock gesehen. Das Leben spielt uns eine absurde Erfahrung zu, die wir nicht einordnen können, die uns fremd ist und irritiert, und für einen Moment finden wir heraus aus dem Dornröschenschlaf des Routinelebens. Vieles also kann uns aufwecken: Staunen, Freude, Trauer, Schmerz, eine Erfahrung der Absurdität, ein Schock, eine Irritation, eine Glückserfahrung, ein Moment der Meditation, ein Erlebnis, eine Begegnung. Trifft uns das Ereignis richtig, geraten wir in einen außeralltäglichen Modus. Alles wird in ein anderes Licht getaucht. Die Dinge relativieren sich, suchen sich einen neuen Platz, es entstehen neue Wertungen, eine neue Ordnung. Der Moment des Erwachens ist kostbar. 22Allerdings garantiert er nicht, dass wir den Weg des weiteren Wachwerdens beschreiten. Dies erfordert eine eigene weitere Anstrengung. Gewöhnlich kehren die
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Platons Höhlengleichnis
Menschen in die Gewohnheiten ihres vormaligen Schlafs zurück. Ist das erste Erwachen aber erreicht, und ergreifen wir dann die Aufgabe, weiter wach zu werden, befinden wir uns auf dem Weg der Selbsterkenntnis. Platon hat uns in seiner Schrift Der Staat das wohl berühmteste Gleichnis der Philosophiegeschichte geschenkt, das Höhlengleichnis, um die Situation des Menschen in der Welt zu erläutern. Die Grundidee dieses Gleichnisses finden wir auf dem nachfolgenden Bild visualisiert. Die Situation, die uns mit Platons Höhle hier vorgestellt wird, ist nun, ganz vereinfacht dargestellt, folgende. Wir Menschen gleichen Gefangenen, die so angekettet sind, dass sie ihr Leben lang auf eine Wand vor ihren Augen sehen müssen. Auch einander können sie nicht ansehen. Ihr Blick ist auf ein gespenstisches Schattentheater gerichtet. Offensichtlich sehen sie wie in einer Art Höhlenkino Projektionen von Gegenstän120 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
den, Schatten künstlicher Dinge, die sie für die Wirklichkeit halten und über die sie miteinander diskutieren, weil es ihnen als die einzige Wirklichkeit vorkommt. Die Gefangenen wissen nicht, dass ihre Höhle das Reich der Maja, des Scheins ist. Sie ahnen nicht, dass es sich um ein Schattenspiel handelt, das von einem Feuer hinter ihrem Rücken entworfen wird, vor dem Figuren hin und her bewegt werden. So leben die Menschen ihr Leben in einer unterirdischen Höhlenund armseligen Schattenexistenz. Wie es nun geschieht, wird nicht verraten. Ob durch Staunen, Zweifel oder ein absurdes Gefühl, was auch immer es gewesen sein mag, es gelingt einem Gefangenen, von seinen Fesseln frei zu werden. Eben noch sklavisch fixiert, dreht sich der Freigewordene um und macht sich, noch schwankend und unsicher, auf den steilen Weg hinauf durch die Höhle. Er entdeckt dabei nach und nach, wie sie aufgebaut ist, versteht die Maschinerie der Bilder als Puppenspielerwelt, begreift, dass er nur ein intelligenter Schattenbeobachter war, gelangt schließlich zum Höhlenausgang und blickt dann, wie in einer zweiten Geburt oder Wachwerden, in das gleißende Licht der Sonne. Zum ersten Mal vermag er auf diese Weise die Wirklichkeit der natürlichen Dinge zu sehen. Das Licht der Welt zu erblicken, ist hier eine Metapher der Aufklärung und des Sehenlernens. Die sonnenbeschienen Dinge anzuschauen, bedeutet einen tieferen Kontakt zum Sein, zur Wirklichkeit zu finden. Es handelt sich
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um eine Phase lichtdurchfluteter Wachheit, die von einem großen Glücksgefühl durchströmt wird. 12 Wir verlassen Platons geniale Deutung an dieser Stelle, auch wenn das Abenteuer der Erkenntnisreise im Höhlengleichnis noch lange nicht zu Ende ist. Doch wir verstehen gut, dass nach dem ersten Wachwerden, dem Lösen der Fesseln, der Aufstieg des »Erkenne dich selbst« ein weiteres allmähliches Wachwerden ist. Unter vielen Mühen emanzipiert sich die Selbsterkenntnis von der Welt des bloßen Scheins, um eine wachsende Orientierung, Klarheit und Licht zu finden. Immer mehr erwachen wir zu uns selbst. Das Erwachen der Selbsterkenntnis dauert, hält an und hört nie auf. Dieses allmähliche Wachwerden ist ein seelisch-geistiges Wachstum, von dem das Eingangszitat Senecas gilt: »Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe.« Dieses Wachstum müssen wir immer weiter versuchen. Unser Leben ist ein aufwachsendes Experiment. Wir wachsen immerfort und dürfen nicht stehenbleiben, sondern müssen »aus einem Licht fort in das andre gehn« (Angelus Silesius). Den Weg des zunehmenden Erwachens in der Selbsterkenntnis verbinden wir mit dem Phänomen des Fragens. Wir hatten schon davon gesprochen, dass wir Menschen nicht nur Fragen haben oder gelegent-
Die christliche Tradition hat das Höhlengleichnis in ergreifender Weise mit ihrer Spiritualität verbunden und behauptet, dass die ewige Sonne selbst in die Höhle der Menschen hinabgestiegen sei, um ihnen das Licht zu schenken. Sie haben es gekreuzigt.
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lich in Frage gestellt werden, sondern dass wir selbst eine Frage sind. Augustinus hat uns hier den Weg gewiesen, wenn er den Menschen eine große Frage nennt. Wir sind ein Frage-Sein: Wer bin ich? Und vielleicht erwachsen alle anderen Fragen zuletzt genau aus diesem Umstand, dass wir uns selbst zutiefst und zuletzt als Frage gegeben und aufgegeben sind. Der Umstand, dass alles dafür spricht, dass die Selbsterkenntnis eine Reise ohne Ende ist, ein Terrain, das unerschöpflich scheint und eher einem Geheimnis als einem lösbaren Rätsel gleicht, erlaubt uns, die Qualität des Fragens näher zu beleuchten, die einem solchen Geheimnis angemessen ist. In einer guten Freundschaft wird keiner je behaupten, den Freund zu Ende verstanden zu haben. Alles Verstehen ist hier Mitgehen, und wenn es gelingt, ein zunehmendes Vertrautwerden. Die Fragen des »Erkenne dich selbst« sind solche Versuche, mit dem Land der Selbsterkenntnis immer mehr vertraut zu werden, indem wir uns zunehmend in es vertiefen. Wir befreunden uns mehr und mehr mit diesem Reisegebiet, lernen es tiefer, vielfältiger, umfangreicher kennen. Im vierten Kapitel sprachen wir bereits einmal über Rilkes Gedicht »Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen«. Wir sagten, dass das wachsende Verstehen vielleicht den Jahresringen von Bäumen gleicht, die sich über die Dinge ziehen. Vielleicht sind es aber auch Wellen, so wie in dem nachfolgende Wellen-Bild, das sich verstehend über (das Spiegelbild) der Dinge zieht:
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Wasserringe 13
Jede Frage und jeder Antwortversuch ist etwas, was sich über die Dinge zieht. Jeder Ring macht sich das, worüber er sich zieht, vertraut. Indem er dabei einen (symbolischen) Körper über den Körper der Dinge zieht, versteht er etwas und zugleich missversteht er auch etwas. Er schließt ein und aus. Darum braucht es immer weiteres Wachstum der Jahresringe oder weitere AusbreiDas Bildmotiv gehört passenderweise zu einer Leipziger Karte, die in dem begleitenden Gedicht »Kleine Selbsterforschung« von Klaus Nagorni das Thema der Selbsterkenntnis mit einer Sequenz von acht Fragen aufgreift: Auf welchen Schultern stehst du? In wessen Spuren gehst du? Mit welchen Augen siehst du? In welchen Büchern liest du? Mit welchem Segen lebst du? An welchen Plänen webst du? An welchen Orten weilst du? Und wessen Leben teilst du?
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tung der Wellen. Unsere Fragen, die das Baumaterial der Ringe und Wellen bilden, sind Momente der Vertiefung im Prozess der Selbsterkenntnis. Wachstumsnah sind Fragen, die zulassen, immer wieder und weiter durch neues Fragen überschrieben zu werden. Die besondere Qualität solcher Fragen verlangt ein besonderes Verhältnis, die das Frage-Sein Mensch zu seinem eigenen Fragen gewinnt. Dieses Verhältnis charakterisiert Rilke in seinen Briefen an einen jungen Dichter so, dass wir die Fragen selbst lieb haben sollten wie verschlossene Stuben, zu denen wir keinen Schlüssel besitzen, oder wie Bücher, die in einer uns gänzlich unverständlichen, fremden Sprache geschrieben sind, so dass wir jetzt nicht lesen und entziffern, sondern nur die Fragen selbst leben können mit der Aussicht, vielleicht, eines fernen Tages, in die Antworten hinein zu leben. Diese poetisch-schöpferische Grundhaltung des Fragens spiegelt die Unbeantwortbarkeitsthese zum Frage-Sein des Menschen. Wer bin ich? Das »Erkenne dich selbst« führt mit vielen fragenden Anläufen immer wieder in diese eine Frage hinein und zu ihr hin. Unser Fragen gleicht so einer Art Suche nach uns selbst. Wir stellen uns das Frage-Sein dabei als eine Art Afrika vor, als es noch der »dunkle Kontinent« genannt wurde, als eine terra incognita, ein unbekanntes und unerforschtes Land. Die Fragen, mit denen wir experimentieren, versuchen, das Land der Selbsterkenntnis zu erobern und zu erforschen. Denken ist Fragen. Jede neue Frage sucht danach, neues Licht auf dieses Land zu werfen. Jedes 125 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
weitere Fragen ist ein Versuch, das Land tiefer zu durchwandern, neu zu vermessen und besseres Kartenmaterial zu entwerfen. Alles Fragen ist und bleibt ungesichertes Denken. Wir vertiefen uns in diese Fragen. Wir lösen sie nicht. Dafür sind sie zu groß. Wir vertiefen uns aber nicht nur in die Fragen und unser FrageSein, sondern wir vertiefen uns durch sie. Wenn man sich in sie vertieft, vertieft man auch zugleich sich selbst und sein Leben. Man muss durch die Fragen hindurchgehen, sie durchwandern und kennen lernen. Im guten Falle macht uns dies ein wenig menschlicher und verständiger. Natürlich bedeutet Leben immer auch, sich jederzeit Antworten zu geben oder sich gegebenen Antworten zu überlassen. Es wird sich zeigen, wie lange man von ihnen jeweils leben kann. Aber jede gewählte, gerade auch entschieden gewählte Antwort muss sich doch stets mit dem aufgeklärten Bewusstsein verknüpfen, dass es sich bei ihr um ein Antwortexperiment handelt. Leicht sind wir verführt, eine gegebene Antwort als dogmatisches, endgültiges, letztes Wort aufzufassen. Das Leben der Menschen und seine Selbsterkenntnis aber bleiben ein unvollendbares Kunstwerk für all die Kräfte, die er aufzubieten vermag. Jede Antwort, mit der wir unsere Fragen beantworten, hat vorläufigen Charakter, ist ein Provisorium, das weiter befragt werden wird. Wir überziehen nicht nur die Dinge mit Fragen und Antworten, sondern auch alle Fragen und Antworten mit immer neuen Fragen und Antworten. 126 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Wenn wir uns in die Fragen der Selbsterkenntnis vertiefen, ohne Antworten zu erzwingen, werden die Fragen zu Routen der Erkundung des unbekannten Landes, in das das »Erkenne dich selbst« uns geführt hat. Jetzt bauen die Fragen Wege, in denen man ihnen nachgeht. Fragen sind Expeditionen in das unbekannte Land, den dunklen Erdteil Selbsterkenntnis. Und indem wir das Reisegebiet an Hand der Fragen abschreiten, werden wir immer »erfahrener« und machen es uns mehr und mehr vertraut. Können wir das Land der Selbsterkenntnis endgültig kartographieren? Können wir unsere Seele endgültig durchwandern und durchmessen? Können wir eine finale geistige Landkarte vom »Erkenne dich selbst« zeichnen? Wir wiesen schon in früheren Anschnitten aus vielen Gründen darauf hin, dass dies nicht möglich ist. Es bleibt uns immer eine fortgesetzte Suche. Denn das Land selbst, um das es hier geht, ist merkwürdig. Es wächst mit. Je mehr wir entdecken, umso mehr neu zu Entdeckendes stellt sich vor uns auf. Dieses nun, dass das Land über unsere Kräfte geht und am Ende unerforschlich bleibt, mag zwei Stimmungen mit sich führen. Einerseits erhält die brennende Neugier des Verstehens einen melancholischen Dämpfer und wird in seine Grenzen verwiesen. Wieder müssen wir lernen, uns zu bescheiden. Bescheidwissen ist ausgeschlossen. Die Erkenntnisreise ist eine Fahrt ins Ungewisse und, wie es scheint, zuletzt auch ins Unwissbare. Doch unüberwindbar anmutende Grenzen locken auch und fordern 127 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
uns heraus. Es bleibt darum andererseits eine ungebrochene Freude, immer weiter und mehr und tiefer vorankommen zu können. Die Trauer eines Endes ist nicht in Sicht. Alles im Leben wie im Geist bleibt stets Stufe. Von der Vollendung dürfen wir weiter träumen.
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9 Selbsterkenntnis ist ein Abenteuer ohne Ende (Goethe) Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen, // Ein Werdender wird immer dankbar sein.
Nachdem wir nun dem Phänomen des »Erkenne dich selbst« auf vielen Wegen gefolgt sind, wollen wir in diesem abschließenden Kapitel kurz die Symbolik von zwei archetypisch wirkenden Personen nachzeichnen. Als archetypische Bilder des menschlichen UnterwegsSeins können uns Kolumbus und Odysseus dienen, in denen sich das Verlangen nach Wanderschaft und Heimat zeigt. Wir deuten sie als große Metaphern der Selbsterkenntnis. Ihre archetypische Kraft hat sich wie Urbilder in unser kollektives Unbewusstes eingefügt. In jedem von uns können ihre Geschichten eine kraftvolle Resonanz auslösen, weil sie in uns eingeschrieben sind und elementare Sehnsüchte wecken. Damit verbinden wir zugleich auch ein Nachdenken, wie das mögliche Reiseziel der Selbsterkenntnis am besten heißen könnte. Odysseus und Kolumbus repräsentieren das WegWesen Mensch. Weg ist eines der wunderbaren Urworte, die wir besitzen. Der Mensch ist immer unterwegs. 129 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Er ist ein Weg-Wesen und Wanderer. Stets sucht er Wege und Auswege. Immer in Bewegung lebt er sein Leben wegsuchend. Wie in Kolumbusfahrten zu immer neuen Horizonten und wie in Odysseusfahrten immer wieder auf dem Weg nach Hause findet sich der Mensch auf abenteuerlichen Überfahrten, die er sein Leben nennt. Der Mensch kommt und geht, er sucht und fragt, ist auf dem Weg in jeder Hinsicht, der sein Wesen spiegelt. Dabei nicht immer sicheren Tritts und sicheren Gangs, sondern häufig verwickelt auf Irrwegen und in Irrfahrten. Findet der Mensch keine Wege und Auswege mehr, gerät er in die Aporie, in die Ausweglosigkeit. Enden alle Wege und kündigt sich Weglosigkeit an, droht ihm Verzweiflung. Nun sind die Wege, um die es hier geht, Seewege. Dass wir mit Odysseus und Kolumbus Seefahrer wählen, ist für den Weg der Selbsterkenntnis nicht unwichtig. Beide begeben sich zur See, aufs Meer, von dem Hegel in der Philosophie der Geschichte sagt: »Das Meer gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte.« Meeresfahrten sind eine bewusste Grenzverletzung. Ein Übergang von Grenze zum Unbegrenzten. Sie sind der symbolische Ur-Sprung vom Wirklichen ins Mögliche. Der Mensch verlässt den ihm angestammten Ort, den festen und sicheren Grund der Erde, und wagt sich in ein neues Element, wagt sich hinaus ins offene Meer, ins Ungewisse und Unberechenbare. 130 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Christoph Kolumbus
Auf einem Stück Holz, den Planken des Schiffs, sozu2sagen auf dem ihm verbliebenen Stück »Erde«, das ihn auf neuer Fahrt begleiten und tragen soll, vertraut er sich der See an. Die Eroberung des Meeres ist die Reise des Menschen zu sich selbst. Der Mensch öffnet sich den Horizont, der ihn nun nicht mehr als feste Grenze unverrückbar einfasst, sondern verschiebbar und veränderbar wird: »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« ist die Losung Nietzsches für diese Horizontverschiebung. Christoph Kolumbus ist der Seefahrer, der sich aufmacht, um (unabsichtlich) neue Welten (Amerika) und 131 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
(vermeintlich) neue Wege (nach Indien) zu entdecken. Das Porträt eines unbekannten spanischen Malers zeigt uns einen selbstbewussten und entschlossenen Menschen, der bestimmt ist durch seine Aufgabe und Leistung. Souverän und klar ist der Blick auf das gerichtet, was bereits erreicht ist und was noch zu erreichen aussteht. Doch wir dürfen uns nicht täuschen. Das eine ist die Wahrheit, die die Bilder verkünden, das andere die Bordbücher der Atlantikfahrten des Erkennens. Da gerät man auch schon einmal in größte Unruhe, wenn plötzlich die Kompassnadeln ihren Dienst zu versagen scheinen und man befürchten muss, weil man bestimmte Dinge, wie den Magnetismus der Erde, nicht versteht, dass man in Regionen geraten ist, in denen die bekannten Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind. Kolumbusfahrten sind jene Fahrten und Experimente, die den Aufbruch kennzeichnen, das Wagnis, Neuland zu finden, Expeditionen ins Ungewisse zu unternehmen, neue Kontinente zu erobern. 14 Kolumbus hatte den Traum, von den Säulen des Herakles aus westwärts den Ozean nach Asien zu überqueren. Den westlichen Seeweg ins östliche Indien, dem Indien der Spezereien, diese gefährliche Westfahrt, um neue Welten zu erobern, wollte er wagen. Fährt Kolumbus hinaus ins offene Meer, um bisher Unbekanntes zu entdecken, wagt Odysseus, der auf seiE. Morin. Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie, 141: »Der letzte, dem Menschen unbekannte Kontinent ist bekanntlich der Mensch«.
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nen Irrfahrten reifen muss, diese Abenteuer mit dem Ziel, wieder nach Hause zu kommen. Odysseus ist der Seefahrer, der nach seiner Teilnahme am Kampf um Troja in furchtbare Prüfungen verwickelt wird und verzweifelt seinen Weg zurück in die Heimat finden will. Das Meer bringt ihn zwar nicht um, aber es treibt ihn in immer neuen Irrfahrten fort von der Heimat. An fremde Küsten verschlagen, sehen wir ihn klagend und voller Sehnsucht nach seiner Heimatinsel Ithaka. Im Unterschied zur ruhigen Entschlossenheit des Kolumbus vermittelt uns das Antlitz des Odysseus die Verwundbarkeit der Menschenseele. Schmerz, Leid und Not, die ganze Passion des Menschengeschlechts hat sich in den Ausdruck eingegraben. Die Gewalt der Prüfungen auf dem Weg, hier in der Darstellung aus dem Museum in Sperlonga die Blendung des Riesen Polyphem, dann die Ungewissheit zu überleben und wieder in die Heimat zu gelangen, der Schmerz der Trennung, all das hat sich der Skulptur eingeprägt. »Odyssee«, das ist nur ein anderer Name für das mühevolle Drama des menschlichen Daseins schlechthin. Alle Prüfungen der Rückreise, der Odyssee, vom Kampf gegen feindliche Völker und einäugige Riesen über den Zauber der Circe, die Hadesfahrt und Sirenengesänge bis hin zu den Stürmen des rachezornigen Meeresgottes Poseidon, könnten als Bilder der verschiedenen Herausforderungen für die Selbsterkenntnis gedeutet werden. Die Heimat des Verstehens ist nicht leicht zu gewinnen, sondern muss unter Anstrengung erobert und erkämpft werden. 133 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Odysseus
Auch der wütende und beleidigte Poseidon, dessen Sohn Polyphem durch Odysseus geblendet wurde und dabei sein einziges Zyklopen-Auge verlor, kann ihn am Ende nur aufhalten. Immer wieder versucht Odysseus sich den ihm vom Schicksal auferlegten Gefahren zu stellen und den verhängten Grenzen zu widersetzen. Nichts kann den ewig Fahrenden von seinem Weg ab134 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
bringen. Stets hofft er auf Heimkehr und gibt nicht auf. Doch kehrt er nicht als der zurück, als der er ausgezogen ist. Und er kommt auch nicht dort an, wo er zu Hause sein kann. Unerkannt landet Odysseus auf Ithaka. Nur sein altersschwacher Jagdhund und seine treue Amme erkennen ihn wieder. Gleichsam kehrt er von seinen »Irrfahrten« zurück in eine andere »Irre«. Beide, Kolumbus und Odysseus, wir betrachten sie nun als Metaphern der Selbsterkundung und Selbstwerdung, erreichen ihr Ziel, die endgültige Erkenntnis und Verwirklichung des Selbst, nicht. Sie versuchen das Unmögliche, verlassen den (scheinbar) sicheren Boden, auf dem sie sich auszukennen glauben, um auf unsicherem Terrain eine ungewisse Reise anzutreten. Die Selbsterkenntnis treibt den Menschen dazu, immer wieder neu durch Suchen und Fragen und Experimentieren Grenzen zu überschreiten, um zu entdecken, wer und was er ist. Die Kolumbusfahrt sucht die Antwort auf die Frage »Wer bin ich« durch die Reise ins »Wohin«, die Suche nach der Zukunftsidentität. Die Odysseusfahrt sucht ihre Antwort im »Woher«, der Rückfahrt in die Herkunftsidentität. Alle Ausfahrten, jedes dieser Wagnisse, jedes einzelne Abenteuer bringt uns vielleicht, so hoffen wir, doch am Ende näher zu uns selbst. Nehmen wir beide, Odysseus und Kolumbus, als Erläuterungen des »Erkenne dich selbst«. Menschsein, so sagten wir, gleicht Kolumbusfahrten zu immer neuen Horizonten und Odysseusfahrten immer wieder nach Hause. Beide sind auf der Fahrt. Der eine auf der 135 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Ausfahrt, um das Neue und Bekannte zu finden, das Anderswo. Der andere auf der Heimfahrt, um das Bekannte und Vertraute wiederzufinden. Entdeckungsfahrt und Heimfahrt. Beide scheinen dabei in verschiedene Richtungen auszufahren. Doch im Grunde sind ihre Fahrten nur die beiden Seiten des einen Unterwegs-Seins, sozusagen seine konservative und seine progressive Seite. Wie in einer Kippfigur bewegt sich die Selbsterkenntnis in dieser Doppelbewegung, einer Bewegung in zwei Gestalten, die mal mehr das Zurückkommen auf das Sein und mal mehr das Ausgreifen auf das Werden sucht. Die Selbsterkenntnis ist wie ein großer Atem, gleichsam das Ein- und Ausatmen einer einzigen Bewegung von Sein und Werden des Menschen, oder wie die Gezeiten des Meeres, Ebbe und Flut, Ausfahrt und Heimkunft, Herkunfts- und Zukunftsidentität, beide auch ineinander übergehend, vielfach sich ineinander verwandelnd. Denn manchmal scheint uns das utopische Andere, die neue Welt die wahre Heimat zu sein: »Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause«, sagt Novalis von allen Aufbrüchen und Reisen und Bewegungen der Menschen. Und dann wiederum meinen wir nach Hause zu kommen, doch die alte Heimat wirkt auf uns neu und fremd und ungewohnt. Als Odysseus schlafend an die Küste seiner Heimat gebracht worden war, erkannte er sie zunächst nicht wieder. Er dachte, in einem fremden Land zu sein. Als sich Kolumbus am 3. August 1492 den Passatwinden anvertraute, um über den Atlantischen Ozean 136 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
hinaus zu segeln, hoffte er, Indien hinter dem westlichen Horizont zu entdecken. Nach abenteuerlicher Fahrt ins Ungewisse fand er neues Land, Amerika, und war sich doch bis zu seinem Tod gewiss, Indien erreicht zu haben. Wir irren uns bis zuletzt. Jede erreichte Sicherheit wird durch einen neuen und vielleicht besseren Irrtum ersetzt. Was für ein Land mag das »Erkenne dich selbst« sein? Womit verwechseln wir es vielleicht? Ob wir Fahrten des Kolumbus unternehmen oder Fahrten des Odysseus, wir reisen in der Selbsterkenntnis immer nach Hause. Jedes Mal neu erkunden wir unser Frage-Sein. Mögen wir mehr das Sein betonen oder mehr das Werden, mögen wir mehr die konservative Struktur unserer Existenz oder mehr ihre progressive Seite ausbuchstabieren, wir arbeiten uns ab an der Fragwürdigkeit des Menschen: »Die Wanderschaft in der Wegrichtung zum Fragwürdigen ist nicht Abenteuer, sondern Heimkehr.« (Martin Heidegger) Wenn wir das Reiseziel der Selbsterkenntnis genauer angeben wollen, entdecken wir ein ähnliches Schwanken wie das auf unsicheren Meereswellen. Einmal bewegen wir uns in vertrauten Gewässern, gewinnen Bekanntschaft und Sicherheit, kennen uns aus. Ein anderes Mal geraten wir in unbekannte See, die Dinge sind neu und rätselhaft. Ja, mehr noch, dasselbe, was uns eben noch bekannt schien, kann sich rasch verändern und fremd werden, ändern sich nur Wetter und See. Dieselbe See, einmal beschaulich und sanft, dann rau und hart, dann aufgepeitscht und tödlich, 137 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
wer würde denken, dass wir uns im selben Reisegebiet befinden und demselben Ziel zustreben. Wir erkennen es kaum wieder, sagen wir dann. – Jede neue Erfahrung, jedes neue Fragen kann eine solche Wirkung für unsere Selbsterkenntnis haben. Wo ist Ithaka? Wo Indien? Wollen wir das Reiseziel der Selbsterkenntnis benennen, können wir dies nur näherungsweise tun. Greifen wir dabei auf einige Gedanken zurück, die uns bisher schon deutlich geworden sind. In der Selbsterkenntnis treiben wir den Prozess der Personalisierung und Besonderung immer weiter voran. Gleichsam vertiefen wir uns theoretisch und praktisch immer mehr in die »große Frage«, als die wir uns entdeckt haben, und loten dieses Frage-Sein, soweit es uns möglich ist, aus. Wir versuchen, den »eigenen wahren Namen« zu entdecken, die Besonderheit, Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit, die ich werdend bin. Das Unikat zu entdecken, zu entwerfen und hervorzubringen, heißt, immer wesentlicher zu werden. Verwesentlichung als Prozess und Aufgabe bedeutet aber doch zugleich, dass unsere Selbst-Einheit immer noch aussteht. Rekonstruktiv ist diese Aufgabe die Suche nach der Herkunftsidentität. Futurisch ist diese Aufgabe das Ausspähen nach der Zukunftsidentität. In allen Bewegungen aber sind wir darauf aus, die eigene Berufung, unser Eigentlich-Sein zu entdecken. Immer mehr wollen wir uns selbst einsammeln unter dem Gesichtspunkt zunehmender Integration aller Momente in Ganzheit und Einheit. Auf der Suche nach Troja, unserem wahren Selbst, 138 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
graben wir tiefer und tiefer. Unter den obersten Schichten des erkennbaren Textes gibt es viele Subtexte, je nachdem, wie weit wir unsere archäologischen Grabungen treiben können. Irgendwann stößt unser Spaten auf Fels. Ist das das Ende des Grabens oder nur das Ende unserer Kräfte? Wenn wir genau wüssten, wohin wir wandern müssen, wenn wir nach Hause wandern wollen, könnten wir sagen, dass wir das Reiseziel kennen. Aber es ist zu schön und überragt all unsere Vernunft. Wer es ausdrücken wollte, würde es immer mit zu kleiner Münze in Umlauf bringen. Das Glück des Wanderns ist es, frei auf dem Weg zu sein, wohin, ich weiß es nicht genau, voll Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach der »unbekannten Nahrung«, wie Franz Kafka es in der Verwandlung einmal nennt, nach der blauen Blume, um es romantisch zu sagen. Der Umstand, dass ich das Land des »Erkenne dich selbst« nicht bis zu Ende bereisen und mein letztes Reiseziel nicht klar fassen und auch nicht aus eigenen Kräften erreichen kann, gehört zur Wahrheit der menschlichen Lage. Der Schock und das Glück, dass es keine Blaupause für mich gibt, keine Anleitung, kein Bescheidwissen, kein Rezept, kein sich Auskennen, zeigt, dass das Denken auf seinen Wegen ungesichert und ohne Schutz reisen muss. Es gibt Herbergen der Selbsterkenntnis. Aber nirgendwo existiert die Möglichkeit, sich in einem endgültigen Wissen zu beheimaten. Selbsterkenntnis ist ein Abenteuer des Nachdenkens ohne Ende, ein Abenteuer der existentiellen Freiheit, es bleibt ein fortlaufendes Vertiefen in die 139 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
großen Fragen, eine verantwortliche Suche nach Antworten, von denen man leben kann. Erkenne dich selbst fordert die Inschrift im Tempel Apolls. Diese Forderung des Gottes verweist uns auf das Frage-Sein des Menschen. Das Selbst, das wir da bergen, die »große Frage«, die wir sind, gleicht einem unendlich großen Land, dessen Kartographie weiterer Klärung harrt, einem dunklen Erdteil oder vielleicht dem Meer selbst, offen für alle Fahrten, die noch unternommen werden können. Die Exkursionen in die terra incognita des Frage-Seins sind ohne Ende. Und doch, so scheint es, laufen alle Fäden der Welt- und Selbstdeutungen in ihm zusammen. Selbst aber wenn alle Wege gegangen und alle Routen gefahren wären, die Menschen gehen und fahren könnten, würden ihre Versuche zuletzt doch im Unwegsamen enden wegen der maßlosen Tiefen und Abgründe in Wesen und Gesetz der Seele, die niemand abschreiten kann. So trägt es Heraklit in sein geistiges Logbuch ein: »Der Seele Grenzen kannst du (im Gehen) nicht ausfindig machen, auch wenn du jeglichen Weg abschrittest; einen so tiefen Logos hat sie.« Wir versuchen Antworten zu geben auf die Frage, die wir selbst sind, und reisen dabei von Frage zu Frage und von Antwort zu Antwort. In der klug gewordenen Selbsterkenntnis geht uns auf, dass wir eine so große Frage sind, dass keine Antwort sie erschöpfen kann. Wir sind uns zuletzt immer zugleich selbst-verständlich und selbst-verborgen, sichtbar und unsichtbar, gegeben und aufgegeben, aussprechbar und unaussprech140 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
lich, alle Definitionen überschreitend, immer Reisende auf der Reise zu uns selbst, ein utopisches Wesen. Wir sind eine besondere Art des Werdens. Werden, das sein besonderes Sein sucht. Es bleibt uns als Lebensstimmung, wie in Goethes Eingangszitat vermerkt, die Dankbarkeit des immer Werdenden, oder doch wenigstens der Rat, den er an anderer Stelle gibt: »Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.«
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Empfohlene Lektüre
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Bildnachweise
Abb. 1 Römisches Mosaik, Kirche San Gregorio, Rom, © Bildarchiv Herder 11 Abb. 2 Jacob Peter Gouwi: Der Fall des Ikarus, 1636, Museo del Prado, Madrid, ©wikimedia commons 15 Abb. 3 Anonym: Der Vogel Selbsterkenntnis, Tiroler Volkskunstmuseum, © W./wikimedia commons 29 Abb. 4 Yin und Yang, © wikimedia commons 46 Abb. 5 Horizontlinie, © pexels/Pixabay 48 Abb. 6 Paula Modersohn-Becker: Zwei Studien zu einem Selbstbildnis, 1903/04, © Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin/Jörg P. Ahlers 60 Abb. 7 Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis Frontal, 1897/98, Privatbesitz 69 Abb. 8 Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis mit Kamelienzweig, 1907, Museum Folkwang, Essen, © The Yorck Project 76 Abb. 9 Lebens-Geschichte(n) ©Free-Photos/Pixabay 81 Abb. 10 Kontingenz?! © geralt / pixabay 88 Abb. 11 Kann ich mich sehen? © geralt/Pixabay 92 Abb. 12 Selbst-Täuschung, © OpenClipart-Vectors/Pixabay 97 Abb. 13 Platons Höhlengleichnis, © wikimedia commons 4edges 120 Abb. 14 Wasserringe, © suzannmeer/Adobestock 124 Abb. 15 Christoph Kolumbus, unbekannter spanischer Meister, © Bildarchiv Herder 131 Abb. 16 Odysseus, Sperlonga, Museo Archeologico Nazionale, © Jastrow/wikipedia 134
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Personenregister
Abaelardus, Petrus 20 Angelus Silesius 122 Aphrodite 51 f. Apoll 10, 43, 140 Aristoteles 12, 28, 49, 66 Augustin(us), Aurelius 16, 41 f., 123 Charmides 26, 32, 35 Chilon von Sparta 10 Christensen, Inger 83 Cicero, Marcus Tullius 27 Dädalus 13 Descartes, René 24, 30, 45, 119 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 39, 43, 55 Epiktet 20, 106 Eros 51 ff. Fichte, Johann Gottlieb 22, 30 Fromm, Erich 73 Gauguin, Paul 77 Geulincx, Arnold 21 Goethe, Johann Wolfgang von 7, 34, 53, 62, 94, 99, 129, 141 Gouwi, Jacob Peter 14 f. Guardini, Romano 45, 90, 94, 99 ff.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 30, 111 f., 130 Heidegger, Martin 54, 137 Heraklit 141 Herder, Johann Gottfried von 56, 65, 77 Hobbes, Thomas 41 Hölderlin, Friedrich 50, 66, 89 f. Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 13 Husserl, Edmund 30 Ikarus 13 ff. Johannes 102 Kafka, Franz 139 Kant, Immanuel 19, 22 f., 27, 30 f., 34, 45, 47, 104, 106 Kolumbus, Christoph 129 ff., 135 ff. La Rochefoucauld, François de 82 Leibniz, Gottfried Wilhelm 30 Leonardo da Vinci 49 Locke, John 30 Marcel, Gabriel 50, 78 Marcia 11
149 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .
Mark Aurel 20 Modersohn-Becker, Paula 60 f., 69 f., 75 ff. Mona Lisa 49 Montaigne, Michel de 27, 61, 112 Morin, Edgar 132 Nagorni, Klaus 124 Nietzsche, Friedrich 30, 42, 45, 63, 74, 112, 114, 131 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 136 Odysseus 129 f., 132 ff. Pascal, Blaise 12, 27 Paulus 37 Peirce, Charles Sanders 106 Penia 52 f. Phaidros 21 Plato(n) 10, 14 f., 20 f., 32, 35 f., 51, 120, 122 Plessner, Helmuth 83
Poros 52 ff. Protagoras 10, 15 Richard v. St. Viktor 73 Rilke, Rainer Maria 58, 60, 75, 77 f., 102, 116, 123, 125 Rousseau, Jean-Jacques 30 Rückert, Friedrich 112 Sartre, Jean-Paul 30 Scheler, Max 52 Schiller, Friedrich 37, 71 Schopenhauer, Arthur 30 Seneca, Lucius Annaeus 11, 23, 27, 106, 118, 122 Sokrates 18, 20 f., 25 f., 58 Spaemann, Robert 93 Thales 10 Theseus 71 Wagner, Richard 74 Whitman, Walt 75 Wittgenstein, Ludwig 9, 15, 82
150 https://doi.org/10.5771/9783495824054 .