Erinnerungen, geschrieben in Stein: Spuren der Vergangenheit in der mittelalterlichen Kirchenbaukultur 9783422988552, 9783422074200

In seiner zweiten Monographie über architektonische Erinnerungskultur begibt sich Hauke Horn auf die Suche nach Spuren d

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German Pages 224 Year 2017

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Erinnerungen, geschrieben in Stein: Spuren der Vergangenheit in der mittelalterlichen Kirchenbaukultur
 9783422988552, 9783422074200

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Kunstwissenschaftliche Studien Band 192

HAUKE HORN

ERINNERUNGEN, GESCHRIEBEN IN STEIN

Hauke Horn

ERINNERUNGEN, GESCHRIEBEN IN STEIN Spuren der Vergangenheit in der mittelalterlichen Kirchenbaukultur

Von der Fakultät für Architektur, Bauingenieurwesen und Umweltwissenschaften der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig zur Erlangung des Grades eines Doktoringenieurs (Dr.-Ing.) genehmigte Dissertation. Eingereicht am 7.5.2015 / Disputation am 27.10.2015 Berichterstatter: apl. Prof. Dr.-Ing. Karl-Bernhard Kruse und Prof. Dr. Bruno Klein

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Lektorat: Isabel Hartwig, Berlin Gestaltung und Cover: Angelika Bardou, Deutscher Kunstverlag Satz: Jens Möbius, Deutscher Kunstverlag Reproduktionen: Birgit Gric, Deutscher Kunstverlag Druck und Bindung: Beltz GmbH, Bad Langensalza

Münster zu Basel, Krypta (Foto: Hauke Horn, 2010)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Paul-Lincke-Ufer 34 D-10999 Berlin www.deutscherkunstverlag.de ISBN 978-3-422-07420-0

5

INHALT

VORWORT | 9 1 EINLEITUNG | 11 Fragestellung (11) – Methodischer Aufbau (13) –

3 INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT | 83 3.1 Einleitung | 83

Untersuchungsrahmen (14)

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT | 15

3.2 Strukturelle Metamorphosen | 83 3.3 Vertikale Schichtungen | 84 Reims, St. Remi (84) – Köln, St. Aposteln (85) –

2.1 Einleitung | 15 2.2 Die Integration alter Gebäudeteile | 19 2.2.1 Die Integration jahrhundertealter Gebäudeteile | 19

Magdeburg, Liebfrauenkirche (87) – Havelberg, Dom (88) – Gloucester, Cathedral (90)

3.4 Horizontale Schichtungen | 91

Alte Kerne (19) – Alte Westbauten und Türme (23) –

Trier, Dom (91) – Münster, Dom (93) – Freiburg,

Alte Krypten (34) – Resümee (37)

Münster (94) – Bremen, Dom (96)

2.2.2 Die Integration alter Gebäudeteile im Kontext der Tradition des Ortes | 38 2.2.3 Die Integration von älteren Gebäudeteilen in dyna­ mischen Wandlungsprozessen | 43

3.5 Resümee: Inszenierte Spuren der Vergangenheit | 97

4 KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT | 100

2.3 Die Integration alter Bauteile | 49 2.3.1 Die Integration alter Mauern | 49 2.3.2 Die Integration alter Portale | 55 2.3.3 Die Integration alter Bauteile im Kontext der Tradition des Ortes | 58

2.4 Die Integration alter Werkstücke: Spolien und Asservatien | 61 2.4.1 Kriterien und Differenzierungen | 61 Die Möglichkeit des Versatzes (61) – Spolien (63) – Kritik des Terminus »Spolie« (63) – Einführung des Terminus »Asservatie« (64)

4.1 Einleitung | 100 4.2 Die Imitation alter Formen | 100 4.2.1 Die Imitation alter Werkstücke | 100 Speyer, Dom (100) – St. Denis, Abteikirche (102) – Mainz, Dom (103) – Bamberg, Dom (106) – Rom, S. Lorenzo fuori le mura (108) – Magdeburg, Dom (109) – Essen, Münster (110) – Basel, Müns­ ter (111) – Halberstadt, Dom (113) 4.2.2 Die Imitation alter Gewölbe | 114 Speyer, Dom (114) – St. Denis, Abteikirche (115) – Mainz,

2.4.2 Beispiele für Asservatien | 65

Dom (117) – Basel, Münster (118) – Essen, Müns­

2.4.3 Spolien, die zu Asservatien wurden | 73

ter (120) – Magdeburg, Domkreuzgang (120) – Münster,

2.4.4 Asservatien als Erinnerungsträger | 76

Dom (121) 4.2.3 Die Imitation alter Fenster | 122

2.5 Die Integration alter Baumaterialien | 77

Köln, St. Aposteln (122) – Trier, Liebfrauenkirche (122) –

2.5.1 Einleitung | 77

Havelberg, Dom (123) – Oppenheim, Katharinen­

2.5.2 Beispiele | 77

kirche (123)

2.5.3 Interpretationsansätze | 78

4.3 Artifizielle Schichtungen | 124 2.6 Resümee: Materielle Spuren der Vergangenheit | 80

4.3.1 Chor und Krypta der Abteikirche St. Denis 1140–1144 | 124

6

INHALT

4.3.2 Der Chor des Magdeburger Doms nach 1207 | 126

6 TRADITIONEN DES ORTES | 172

4.3.3 Der Wiederaufbau des Basler Münsters nach 1356 | 129 Einleitung (129) – Krypta (129) – Chorumgang versus

6.1 Einleitung | 172

Obergaden (132) – Chorempore (132) – Äußere Ge­staltung der Ostteile (133) – Gehört die Chor­empore zum ursprünglichen Plan? (135) – Resümee (136)

6.2 Orte der Heiligen | 172 Richtungsweisende frühchristliche Memorialkirchen in Rom (St. Peter, St. Paul) (172) – Zusätzlich über

4.4 Resümee: Künstliche Spuren der Vergangenheit | 137

5 RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT | 140 5.1 Die Metamorphose alter Kirchenbauten | 140 5.1.1 Gewachsene Kirchenbauten als methodisches Problem | 140 5.1.2 Begriffliche Bestimmungen | 142 5.1.3 Das Matroschka-Prinzip | 142 Definition (142) – Die architektonische Wandlung des Freiburger Münsters vom 12. bis 16. Jahrhundert als Fall­

dem Heiligengrab erbaute Kirchen in Rom (S. Lorenzo fuori le mura, S. Agnese fuori le mura) (174) – Die Ver­ ehrung leerer Grabstätten (St. Denis; Werden, St. Ludge­ rus; Jerusalem, Zionskirche) (176) – Grabeskirchen für Soldaten der Thebäischen Legion (St. Maurice d'Agaune; Bonn, Münster; Xanten, St. Viktor) (176) – Kirchen, die im Hinblick auf Heiligengräber neu konzipiert wurden (Marburg, Elisabethkirche; Deventer, Lebuinuskerk; Werden, St. Ludgerus) (178)

6.3 Heilige Orte | 179

beispiel für eine Metamorphose nach dem Matroschka-

Kirchen, die über Ereignissen der Geschichte

Prinzip (145)

Jesu erbaut wurden (Jerusalem, Grabeskirche;

5.1.4 Fluchtgetreues Bauen | 148 Definition (148) – Beispiele (148) – Die Fundamen­

Bethlehem, Geburtskirche) (179) – Kirchen, die an Orten der Geschichte des Laurentius erbaut wurden

tierung bei fluchtgetreuen Bauten (150) – Zur Inter­

(Rom, ­Laurentiuskirchen) (183) – Kirchen am Ort

pretation fluchtgetreuen Bauens (154)

von Martyrien (Köln, St. Ursula; Köln, St. Gereon

5.1.5 Zwei spätmittelalterliche Bilder von architektonischen Metamorphosen | 154 5.1.6 Kritik des Modells baulicher Entwicklung durch Vorgän­

und Mechternkirche; St. Maurice, Chapelle des Martyrs) (183) – Göttlich bestimmte Orte und Maße (Hildesheim, Dom) (184)

gerbauten | 157

6.4 Heilige Häuser | 185 5.2 Räumliche Spuren der Vergangenheit bei kom­ pletten Neubauten | 158

Biblische Bauwerke (Jerusalem, Goldenes Tor und Zionskirche; Loreto, Santa Casa) (185) – Bauwerke aus

Einleitung (158) – Magdeburg, Dom (159) – Bamberg,

Heiligen-Viten (Rom, S. Lorenzo in Miranda; Trier, Dom;

Dom (160) – Trier, Liebfrauenkirche (161) – Marburg,

Rom, S. Croce in Gerusalemme) (186) – St. Denis als

Elisabethkirche (162) – Köln, Dom (164) – Bacharach,

von Christus geweihter Bau (186) – Von Engeln errich­

Wernerkapelle (165) – Resümee (165)

tete Kirchen (Monte Gargano, S. Michele Arcangelo;

5.3 Die Tradierung innenräumlicher Bezüge | 166 5.3.1 Topographische Bezüge | 166

Glastonbury, Abteikirche) (187)

6.5 Hochrangige Gründer | 187

5.3.2 Alte Wegebeziehungen | 167

Konstantin der Große (187) – Theodosius (187) –

5.3.3 Eigenarten des Grundrisses | 168

Helena (188) – Dagobert (188) – Karl der Große (188) –

5.4 Resümee: Räumliche Spuren der Vergangenheit | 170

Ludwig der Fromme (189) – Otto der Große (189) – Heinrich II. und Kunigunde (189)

7

INHALT

6.6 Überlagerungen von Traditionen | 190

7.2 Erklärungsansätze für Spuren der Vergangenheit | 203 Erklärungsansätze in der älteren Literatur (203) – Tra­

6.7 Resümee: Traditionen des Ortes | 191

FARBTAFELN | 193 7 RESÜMEE | 201 7.1 Kategorien architektonischer Spuren der Vergangenheit | 201

ditionen des Ortes (205) – Erinnerungen, geschrieben in Stein (205) – Relikte der Vergangenheit (206)

7.3 Schlussresümee | 207

QUELLENVERZEICHNIS | 208 LITERATURVERZEICHNIS | 209

Materielle Spuren (201) – Inszenierte Spuren (202) – Künstliche Spuren (202) – Räumliche Spuren (203)

BILDNACHWEIS | 223

Sonja und Hilmar gewidmet

9

VORWORT

Das vorliegende Buch ist im Mai 2015 von der Fakultät Ar-

Förderer nicht möglich gewesen wäre. Ungeachtet der un-

chitektur, Bauingenieurwesen und Umweltwissenschaf-

terschiedlichen Zuschusshöhen bin ich jedem Zuschuss­

ten der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu

geber zu großem Dank verpflichtet, denn erst die Summe

Braunschweig als Dissertation angenommen und nach

der Zuschüsse machte die Drucklegung letztlich realisier-

erfolgreicher Disputatio im selben Jahr mit »summa cum

bar. Insofern möchte ich auch keinen der Zuschussgeber

laude« benotet worden. Darüber hinaus wurde das Buch

herausheben, sondern danke in alphabetischer Reihen-

von der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Er-

folge nach Städten bzw. Regionen: dem Erzbistum Bam-

furt in Verbindung mit den Thüringer Universitäten und

berg, der Bremischen Evangelischen Kirche, dem Müns-

Hochschulen mit dem Dalberg-Preis 2016 für transdiszi­

terbauverein Essen, dem Freiburger Münsterbauverein,

plinäre Nachwuchsforschung ausgezeichnet.

der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geis-

Zwar geht es in diesem Buch um Erinnerungen, die in

teswissenschaften, dem Erzbistum Köln, der Evangeli-

Stein geschrieben wurden, doch um an die Personen und In-

schen Kirche von Kurhessen-Waldeck, dem Bistum Mainz,

stitutionen zu erinnern, welche die Entstehung des Buches

der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, dem Bis-

unterstützten, erscheint das gedruckte Vorwort geeigneter.

tum Osnabrück, dem Bistum Speyer, dem Bistum Trier

Mein erster Dank gebührt Prof. Dr.-Ing. Karl-Bernhard

und der Kirchlichen Denkmalpflege des Bistums Trier.

Kruse, der als Erstgutachter das ambitionierte Vorhaben

Darüber hinaus trug der Deutsche Kunstverlag durch

einer zweiten Promotion von Anfang an vorbehaltlos un-

ein großzügiges Entgegenkommen wesentlich zur Finan-

terstützte und großes Interesse am Thema zeigte. Für das

zierung des Drucks bei. Nicht nur in dieser Hinsicht hat

zweite Gutachten danke ich Herrn Prof. Dr. Bruno Klein,

sich der Deutsche Kunstverlag erneut als optimaler Part-

der mit seiner großen kunsthistorischen Kompetenz wert-

ner erwiesen, dem ich für die sehr gute Zusammenarbeit

volle Hinweise für die Arbeit gegeben hat. Er ließ es sich

danke, besonders der Verlegerin Frau Stephanie Ecker so-

nicht nehmen, persönlich an der Disputatio teilzunehmen,

wie Frau Jasmin Fröhlich, Frau Isabel Hartwig und Frau

obwohl er seinerzeit die Richard-Krautheimer-Professur an

Theresa Hartherz.

der Bibliotheca Hertziana in Rom innehatte. Den Vorsitz

Schließlich wäre die Realisierung meines zweiten

der Prüfungskommission übernahm dankenswerterweise

Buches nicht ohne die außergewöhnliche und liebevolle

Herr Prof. Dr.-Ing. Alexander von Kienlin.

Unterstützung meiner Frau Sonja möglich gewesen, was

Wie bei einem mittelalterlichen Kirchenbau war die

umso mehr gewürdigt werden muss, als sie 2012 unseren

Finanzierung des Drucks in adäquater Form eine Gemein-

zweiten Sohn Hilmar zur Welt brachte. Ihnen sei dieses

schaftsaufgabe, die ohne die Unterstützung zahlreicher

Buch in tiefer Dankbarkeit gewidmet.

11

1 EINLEITUNG

Fragestellung

tur den Begriff des »kulturellen Gedächtnisses«,4 der die

»Wo Urkunden fehlen, reden die Steine!«, rief der Essener

Geisteswissenschaften seit den 1990er Jahren nachhal-

Architekt Georg Humann dem Leser seiner Studie über

tig beeinflusste und stimulierte.5 Angesichts dessen, dass

frühmittelalterliche Baukunst zu und wies ihn damit expli-

Bauwerke die größten Zeugnisse materieller Sachkultur

zit auf den Informationsgehalt hin, den ein Bauwerk un-

darstellen, mag es verwundern, dass Architektur nur rela­

1

abhängig von der schriftlichen Überlieferung bereithält.

tiv zögerlichen Eingang in die Diskussion fand; vor allem

Humanns Fragen an die Steine des ehemaligen Esse­ner

mittelalterliche Architektur, obwohl gerade für diese Epo-

Münsters bezogen sich in erster Linie auf dessen Bauge-

che verhältnismäßig wenige Schrift- und Bildquellen zur

schichte, die es seinerzeit noch in ihren großen Zügen zu

Verfügung stehen und damit die Erinnerungen, die in

klären galt. Dieser Ansatz erwies sich als zukunftsträchtig,

Stein geschrieben wurden, umso mehr ins Gewicht fallen.6

denn es entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu-

Ein Aufsatz von Peter Kurmann und Dethard von

nehmend ein Bewusstsein dafür, dass das Objekt die ver-

Winterfeld 1977 über den gotischen Baumeister Gautier

trauenswürdigste, weil unmittelbare, Quelle seiner selbst

de Varinfroy brachte die Problematik retrospektiver For-

ist. Forscher wie zum Beispiel Hans Erich Kubach, Walter

men erstmals einem größeren Kreis von Wissenschaftlern

Haas und Dethard von Winterfeld hoben mit richtungs-

nahe.7 Dieter Kimpel und Robert Suckale griffen die The-

weisenden Arbeiten, in denen sie methodisch primär vom

matik 1985 auf und arbeiteten vor allem am Beispiel der

Bauwerk ausgingen, die Bauforschung in den Jahrzehn-

Abteikirchen St. Denis bei Paris und St. Remis in Reims

ten nach dem Zweiten Weltkrieg auf ein neues Niveau.2

heraus, dass die Rückbezüge auf ältere Architektur ab-

In der Bauforschung werden seither die indirekten Infor-

sichtsvoll hergestellt wurden, so dass ihnen eine Bedeu-

mationen untersucht, welche die Steine über das Gebäude

tung beigemessen werden muss.8 Bruno Klein hat Ende

preisgeben, also Informationen, die den Steinen nicht mit

der 1990er Jahre nicht nur die Liste entsprechender Bau-

Absicht eingeschrieben wurden.3 Beispielsweise kann die

ten um Angers, Le Mans (Abb. 1.01) und Notre-Dame-en-

Steinbearbeitungstechnik Anhaltspunkte für eine zeit­

Vaux erweitert, sondern das Phänomen auch erstmals als

liche Eingrenzung liefern, doch sicher lag es nicht in der

vollwertigen Teil mittelalterlicher Baukultur dargestellt.9

Absicht der mittelalterlichen Steinmetze auf diese Weise

Einen Wendepunkt markierte das 2003 publizierte Buch

eine Datierung des Bauwerks zu kommunizieren.

»Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter« von

Steine, Materialien überhaupt, konnten darüber hin-

Stephan Albrecht, in dem an den Beispielen der Abtei­

aus aber auch gezielt als Erinnerungsträger eingesetzt wer-

kirchen von Glastonbury und St.  Denis eindrücklich

den, um direkte Informationen für spätere Generationen

nachgewiesen wird, dass Architektur und ihre Ausstat-

zu speichern. Hierfür prägten Aleida und Jan Assmann

tung im Mittelalter genutzt wurde, um die (teils konstru-

in ihren bahnbrechenden Arbeiten zur Erinnerungskul-

ierte) Geschichte der Kirche und ihrer Trägerinstitutionen

1 2 3

6

4 5

Humann 1924, S. 51. Kubach/Haas 1972; von Winterfeld 1979. In jüngerer Zeit öffnet sich die historische Bauforschung begrüßenswerterweise zunehmend für kulturwissenschaftliche Fragestellungen und schafft damit neue Möglichkeiten der interdisziplinären Vernetzung, auch im Bereich der Erinnerungskultur. Zentral: Assmann, J. 1992; weiterhin: Assman, A. 1999; Assmann, J. 2000; Ders. 1995; Assman, A./Harth 1991; Assmann, J./Hölscher 1988. Die Forschungsgeschichte zur Erinnerungskultur, besonders in der Architekturgeschichte, wird ausführlich dargestellt bei Horn 2015a, S. 13–16, und muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden.

7 8 9

Seit der Jahrtausendwende ist ein kontinuierlicher Anstieg von Publikationen zu Architektur und Erinnerungskultur zu verzeichnen, die sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Wichtige Beiträge abseits des Hochmittelalters: Hoffmann, V. 2005; Martini 2000; Meier/Wohlleben 2000; Borsdorf/Grütter 1999 (Denkmalpflege und Gedenkstätten); Müller 2004; Fürst 2002; Schmidt, M. 1999 (Spätmittelalter und frühe Neuzeit); Kappel/Müller 2014; Kappel/Müller/Janson 2010; Kappel 2008 (moderne und zeitgenössische Architektur). Kurmann/von Winterfeld 1977. Kimpel/Suckale 1985, S. 86–88 (St. Denis), 184–187 (Reims, St. Remi). Klein 1999; Ders. 1998, S. 31–39.

12

1 EINLEITUNG

1.01  Le Mans, eh. Kathedrale St. Julien, Mittelschiffswand Anfang 12. Jh., Umbau Mitte 12. Jh. zu memorieren.10 Daneben trugen auch Peter Kurmann

Palast der heiligen Kaiserin Helena, der nicht nur in we-

und Matthias Müller mit grundlegenden Aufsätze zu ei-

sentlichen Teilen bewahrt werden sollte, sondern auch bis

nem besseren Verständnis des Phänomens bei.11

in die Disposition des Grundrisses hinein spätere An- und

Auf jenen Forschungsstand aufbauend untersuchte

Umbauten des Doms maßgeblich bestimmte (Taf. 1.01).

der Verfasser der vorliegenden Arbeit anhand aussage-

Die genannten Arbeiten Albrechts und des Verfassers

kräftiger Sakralbauten im deutsch-römischen Kaiserreich,

setzen sich also aus verschiedenen Fallstudien zusam-

wie die spezifische »Tradition des Ortes« im Mittelalter die

men, bei denen der architektonische Bezug zur eigenen

jeweilige Architektur teils erheblich mitbestimmte.12 Im

Vergangenheit vom jeweiligen Bauwerk und dessen indi-

historisch-politischen Kontext ließ sich im Ergebnis dar-

viduellen Ausprägungen ausgehend untersucht wird. Auf

legen, dass die Kirchen als monumentale Medien genutzt

diese Weise ließ sich die Wirkung der Tradition des Or-

wurden, um die identitätsstiftende Tradition des Ortes

tes auf die Architektur für den jeweiligen Einzelfall nach-

zu bewahren und visuell zu kommunizieren. Der Trierer

weisen. Für das allgemeine Verständnis mittelalterlicher

Dom, um ein herausragendes Beispiel anzuführen, galt als

Sakralbauten wäre es jedoch wichtig zu wissen, ob sich

10 Albrecht 2003. 11 Müller 2011; Kurmann 2004. 12 Horn 2015a. Thematisiert werden der Dom zu Trier und seine Lieb-

frauenkirche, der Dom zu Magdeburg und das ehemalige Münster zu Essen.

13

1 EINLEITUNG

das Phänomen auch als genereller Bestandteil mittelalter­

plexen architektonischen Strategie der Konservierung,

licher Baukultur in der Breite fassen ließe. An diesem

Visualisierung oder sogar Inszenierung der Tradition des

Punkt setzt die vorliegende Arbeit an.

Ortes dient, wie es in den Arbeiten Stephan Albrechts und

Die Frage ist demnach, inwieweit Architektur ein genereller Bestandteil mittelalterlicher Erinnerungskultur

des Verfassers für exemplarische Bauwerke des Mittel­ alters nachgewiesen wurde.13

war oder, andersherum betrachtet, welchen Stellenwert

Bei einer derartigen bauwerksübergreifenden Diskus­

Bezüge zur Vergangenheit in der mittelalterlichen Bau­

sion von architektonischen Spuren der Vergangenheit

kultur im Allgemeinen einnahmen. Damit wird das Phä-

handelt es sich dem Grunde nach um eine induktive

nomen als solches zum Gegenstand der Untersuchung,

Vorgehensweise, die vom Besonderen zum Allgemeinen

der auf einer allgemeinen, auch theoretischen Ebene ver-

führt, wie sie in weiten Bereichen der Wissenschaft zum

handelt werden soll.

argumentationstheoretischen Standard gehört.14 Viele ar­ chitekturhistorische Methoden wie beispielsweise die Stil-

Methodischer Aufbau

kritik, aber auch naturwissenschaftliche Verfahren wie

Hierbei offenbart sich jedoch ein wissenschaftstheoreti­

die Dendrochronologie funktionieren prinzipiell nicht

sches Problem: Wie soll man ein Phänomen allgemein

anders. Die wissenschaftstheoretische Problematik der In-

erfassen können, welches sich gerade über individuelle

duktion besteht allerdings darin, dass induktive Schlüsse

Ausprägungen definiert? Einen Lösungsansatz bietet die

im Gegensatz zu deduktiven Schlüssen logisch keine Not-

Bildung von allgemeinen Kategorien, welche die architek­

wendigkeit besitzen.15 Wenn etwa ein bestimmter Kapi-

tonischen Spuren der Vergangenheit bauwerksübergrei-

telltypus an verschiedenen Bauten nachweislich in einem

fend erfassen und ordnen. Auf diese Weise lässt sich das

bestimmten Zeitraum entstand, dann bedeutet das nicht,

Phänomen differenzieren, indem Unterschiede und Ge-

dass der Kapitelltypus auch an einem anderen Bauwerk

meinsamkeiten der Bauwerke benannt werden und somit,

zwangsläufig in diesem Zeitraum entstand. Falls keine an-

unabhängig von den Eigenheiten der jeweiligen Baukam-

deren Argumente dagegen sprechen, liegt es jedoch nahe,

pagnen, übergreifende baukulturelle Muster erkennbar

mittels eines induktiven Schlusses eine Datierung in je-

werden. Die kategorialen Ebenen ermöglichen also Ver-

nen Zeitraum anzunehmen. Es handelt sich letztlich um

gleiche zwischen unterschiedlichen Bauwerken, ohne de-

nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine begründete

ren jeweilige individuelle Qualitäten auszublenden.

These.16

In der vorliegenden Untersuchung wird zunächst eine

Im Hinblick auf die hiesige Untersuchung bedeutet

systematische Beschreibung architektonischer Spuren der

das, dass bestimmte Phänomene, wie zum Beispiel die

Vergangenheit angestrebt. Von der Argumentation her

Integration alter Gebäudeteile, nicht notwendig Teil einer

wird erst in einem zweiten Schritt die Frage gestellt, wie

bewussten Vergangenheitsinszenierung sein müssen, nur

die beschriebenen Befunde zu interpretieren sind. Dabei

weil dies bei anderen Bauwerken, welche dieses Merkmal

ergeben sich zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Einer-

aufweisen, nachweislich der Fall war. Es ist jedoch legitim,

seits können die Spuren der Vergangenheit daraus resul-

dies anzunehmen, besonders dann, wenn auch andere

tieren, dass der Bestand als gegebene Voraussetzung im

Indizien auf eine gewollte Visualisierung der Vergangen-

Rahmen jüngerer Baumaßnahmen aus technischen oder

heit hinweisen. Eine Bestätigung oder Widerlegung kann

ökonomischen Gründen berücksichtigt wurde, ohne dass

jedoch nur eine fundierte Einzelfallstudie des Bauwerks

ein tieferer Sinn darin liegt. Andererseits können die Spu-

leisten, welche die Bewahrung des alten Gebäudeteils im

ren der Vergangenheit aber auch Resultat einer absichts-

architektonischen, historischen und kultischen Kontext

vollen Zeichensetzung sein, die als Teil einer oftmals kom-

situiert. Auf der anderen Seite darf sich die Erforschung

13

Zur Frage bewusster Geschichtsbezüge siehe auch Horn 2015a, S. 189–191. 14 Zum Begriff der Induktion und deren Erkenntniswert siehe z. B. Poser 2001, S. 108–125. 15 »Ein solcher [induktiver] Schluss ist offenkundig nicht formal gültig, und das Problem der Induktion ist, unter welchen Umständen ein solcher Schluss gleichwohl berechtigt ist.« (Tugendhat/Wolf 1983, S. 15). – Zur Abgrenzung der Deduktion von der Induktion sowie de­ ren jeweilige logische Aussagekraft siehe Essler/Brendel/Martinez 1991, S. 19–41. 16 Bei genauer Betrachtung basiert die Architekturgeschichte, vor

allem die Stilgeschichte, auf einem Geflecht zahlreicher mehr oder weniger begründeter Thesen. Zwar begegnet die Architekturforschung, insbesondere die Bauforschung, dem Aufstellen und Arbeiten mit Thesen häufig skeptisch, doch handelt es sich hierbei um ein grundlegendes Verfahren zur Gewinnung wissenschaft­ licher Erkenntnis, wie Karl Popper nachweisen konnte, wenn auch auf die Naturwissenschaften bezogen (Standardwerk: Popper 1935; ferner Ders. 1994/97. – Zusammenfassung der Kernaussage z. B. bei Poser 2001, S. 112–125). Hinsichtlich mit Thesen operierender architekturhistorischer Argumentationen erscheint mir die Qualität der Begründung von zentraler Bedeutung.

14

1 EINLEITUNG

architektonischer Erinnerungskultur im Mittelalter aber

untersucht die Arbeit zu den »Erinnerungen, geschrieben

auch nicht auf Einzelstudien beschränken, da sonst die

in Stein« das Phänomen in der Breite des Allgemeinen. Zu-

übergreifenden Zusammenhänge verborgen bleiben.

sammengenommen ermöglichen die Arbeiten aufgrund

Die vorliegende Arbeit trägt der geschilderten argu-

ihrer unterschiedlichen Perspektiven einen ganzheitliche-

mentationstheoretischen Problematik Rechnung, indem

ren Blick auf einen, wie zu zeigen sein wird, bedeutsamen

in einem ersten Schritt bewusst vorsichtig nach »Spuren

Aspekt mittelalterlicher Baukultur.

der Vergangenheit« gesucht wird, ohne eine Deutung derselben vorwegzunehmen. Denn Spuren können bewusst

Untersuchungsrahmen

gelegt, aber auch unabsichtlich entstanden sein, so dass

Das Format einer Dissertation setzt dem Umfang einer Un-

der Terminus wertneutral genutzt werden kann.17 Erst auf

tersuchung von vornherein Grenzen. Die Arbeit kann und

einer zweiten Untersuchungsebene wird die Frage, inwie-

will keinen umfassenden Katalog sämtlicher Bauwer­ke lie-

weit die Spuren der Vergangenheit als in Stein geschrie-

fern, an denen sich Spuren der Vergangenheit finden las-

bene Erinnerungen zu verstehen sind, mit in die Analyse

sen, sondern muss sich auf einen exempla­rischen Quer-

einbezogen. Auf diese Weise wird die auf Grundlage der

schnitt beschränken. Es besteht also kein Anspruch auf

Erkenntnisse zur »Tradition des Ortes«18 aufgestellte und

Vollständigkeit. Der Beschränkung des Umfangs ist auch

dieser Arbeit zugrunde liegende These überprüft, dass

eine geographische Schwerpunktsetzung auf das deutsch-

architektonische Erinnerungskultur ein in der mittelalter-

römische Kaiserreich geschuldet. Hervorstechende Bei-

lichen Baukultur weit verbreitetes und fest verwurzeltes

spiele aus anderen Ländern werden exemplarisch hinzu-

Phänomen darstellt und nicht auf einige Sonderfälle be-

gezogen, um die europäische Dimension des Phänomens

schränkt ist

zu verdeutlichen. Der zeitliche Rahmen spannt sich im

Während in der Arbeit zur »Tradition des Ortes« also

Wesentlichen vom 11. bis zum 15. Jahrhundert auf, wobei

die architektonische Erinnerungskultur auf der Basis von

sich ein gewisser Schwerpunkt im 13. Jahrhundert heraus-

Fallbeispielen in der Tiefe des Speziellen analysiert wurde,

kristallisiert hat.

17

Analog zum Begriff der »Tradition des Ortes« stehen im hiesigen Untersuchungskontext die Spuren der eigenen Vergangenheit der Kirchen im Fokus und nicht Spuren, die sich auf kulturgeographi-

18

sche Traditionen oder eine vergangene Epoche, wie etwa die An­ tike, beziehen. Horn 2015a.

15

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.1 Einleitung Die prägnantesten Spuren der Vergangenheit sind materi-

zeit in Beziehung setzen lässt.22 Allerdings wandte man

eller Natur. Dazu trägt, wie im Folgenden gezeigt wird, im

sich erst jüngst der eigentlich drängenden Frage zu, wa-

Wesentlichen die physische Präsenz der Teile bei, die sich

rum der spätottonische Gebäudeteil überhaupt in seiner

im Kontrast zu neueren Teilen oftmals leicht als »alt« zu

alten Form erhalten blieb, obwohl die alte Basilika um

erkennen geben. So lässt sich beispielsweise der spätotto-

1300 in eine gotische Hallenkirche umgewandelt wurde,

nische Westbau des sonst überwiegend gotischen Essener

warum also der alte Westbau in geradezu denkmalpfle­

Doms kaum übersehen, weder von innen noch von außen

gerischer Weise in die grunderneuerte Stiftskirche integ-

(Abb. 2.01).19

riert wurde.23

Die Unterscheidung verschiedener Zeitschichten ei-

Die Problematik des bisherigen wissenschaftlichen

nes Gebäudes lag und liegt häufig im Mittelpunkt des In-

Umgangs mit Bauwerken, die aus stilistischer Sicht als

teresses der Architekturforschung, so dass in dieser Hin-

Konglomerat aus Teilen verschiedener Epochen erschei-

sicht unzählige Studien zu mittelalterlichen Sakralbauten

nen, kommt vor allem bei der Durchsicht der gängigen

vorliegen. Die zeitliche Differenzierung der Bauwerke er-

Überblickswerke zum Ausdruck. Dort finden Bauwerke

folgte jedoch primär in der Absicht, die Chronologie der

ungeachtet ihrer historischen, kulturellen und religiösen

Teile zu bestimmen und somit die Baugeschichte im Sinne

Bedeutung umso weniger Berücksichtigung, je mehr ihre

einer Geschichte des Bauens nachvollziehen zu können.

Gestalt aus einem langfristigen Prozess architektonischer

Kaum erforscht wurden hingegen die Gründe, warum

Wandlung resultiert.24

sich die alte Materie überhaupt erhalten hat, die Art und

Ein gutes Beispiel liefert hierfür der Trierer Dom, der

Weise der architektonischen Integration und die Frage

gleich in mehrfacher Hinsicht zu den wichtigsten Sakral­

ziehungen zwischen den unterschiedlichen Zeitder Be­

bauten des mittelalterlichen Kaiserreichs gehörte: als le-

schichten.20 So behandeln etwa die zum Westbau des Es-

gendärer Palast der heiligen Kaiserin Helena, als Herber­ge

sener Doms abgefassten Studien in erster Linie (unstrittig

des heiligen Rocks Christi und als repräsenta­tiver Sitz der

wichtige) Fragen der Datierung (Abb. 2.02).21 Aufgrund der

mächtigen Trierer Erzbischöfe (Abb. 2.04). Die architek-

auffälligen inneren Gestalt des Westbaus, welcher partiell

tonische Entwicklung dieser ältesten Bischofskirche im

die Aachener Pfalzkapelle zitiert (Abb. 2.03), diskutierte

deutschen Raum erstreckte sich über den langen Zeitraum

man zudem häufig den Bedeutungsgehalt des Gebäude­

von fast 1700 Jahren, ohne dass es je zu einem kompletten

teils und verwies dabei zu Recht auf dessen hochherr-

Neubau kam, so dass sich der Kirchenbau aus Teilen un-

schaftliche Symbolik, welche sich mit der kaiserlichen

terschiedlicher Epochen von der Spätantike bis zur Neu-

Abstammung der Essener Äbtissinnen zur Errichtungs-

zeit zusammensetzt.25 Obgleich es umfangreiche Literatur

19 Kap. 2.2.1. 20 Eine Ausnahme bildet die Erforschung von Spolien, welche man in den letzten Jahrzehnten intensiv betrieb (siehe dazu Kap. 2.4). 21 Nach Walther Zimmermann entstand die signifikante heutige Ge­stalt des Westbaus im Zuge einer für die Äbtissin Theophanu nachgewiesenen Baukampagne zur Mitte des 11. Jahrhunderts (Ders. 1956, S. 227–235, 264f), was von der Forschung weitgehend akzeptiert wurde (z. B. Kubach/Verbeek 1976, S. 269f). In jüngerer Zeit setzte sich Klaus Lange allerdings wieder für die Ende des 19. Jahrhunderts von Georg Humann vorgeschlagene Frühdatierung

in die Amtszeit der Äbtissin Mathilde um 1000 ein (Lange 2002, S. 51–54; Ders. 2001, S. 23–48; Humann 1890). Z. B. Beuckers 2006, S. 52f; Lange 2001, S. 49–63; Zimmermann 1956, S. 252. Horn 2015a, S. 156–159, 180f, 184; Leenen 2008, S. 294f. In Kap. 5.1.1 wird dargelegt, dass dieser Umstand aus der methodischen Prägung des Fachs resultiert. Grundlegend zur Baugeschichte des Trierer Doms: Zink 1980a; Irsch 1931. – Zum aktuellen Kenntnisstand im Bereich der frühchristlichen Periode: Weber 2004; Ders. 2003.

22 23 24 25

16

2.01  Essen, Dom (eh. Münster), Westbau, um 1000/50

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

17

2.1 EINLEITUNG

2.02  Essen, Dom (eh. Münster), Westbau, vom Mittelschiff aus gesehen

2.03  Aachen, Dom (eh. Pfalzkapelle), zentrales Oktogon, um 800

zum Trierer Dom gibt,26 findet das Gebäude in übergrei-

Größe des alten Elements sowie die damit einhergehende

fenden Architekturdarstellungen nur wenig Beachtung.

Stellung im tektonischen Gefüge und zum anderen der

Stattdessen konzentrieren sich die Darstellungen auf ein-

Herkunftskontext.

zelne Gebäudeteile, die aus dem historischen und archi-

Hinsichtlich der Größe lassen sich die materiellen

tektonischen Kontext herausgelöst betrachtet werden, wie

Spuren in alte Gebäudeteile, Bauteile, Werkstücke oder

etwa die Westfassade des 11. Jahrhunderts (Abb. 2.05).27

altes Baumaterial aufteilen. »Gebäudeteile« definieren

Ein eindrückliches Beispiel für die separierende Be-

sich hierbei als bauliche und funktionale Einheiten, wel-

trachtung in Überblickswerken liefert auch der Essener

che sich räumlich klar abgrenzen lassen, wie beispiels-

Dom, denn statt der überwiegend gotischen Hallenkirche,

weise Türme, Westbauten oder Krypten. Unter »Bauteilen«

die allein schon wegen ihres frühen Hallenchores typolo-

verstehen sich im Folgenden hingegen größere konstruk-

gisch von Interesse wäre, findet dort in der Regel der zu-

tive Einheiten, aus denen Gebäudeteile gefügt werden,

vor erwähnte ottonische Westbau der Kirche Beachtung.

wie Mauern oder Gewölbe. Die nächstkleinere Einheit

Diese verengte Sichtweise auf den Essener Dom hat sich

im tektonischen Gefüge bilden die »Werkstücke«. In diese

dermaßen verfestigt, dass die Kirche selbst in Norbert

Kategorie fallen die bildhauerisch bearbeiteten Einzelteile

Nussbaums Standardwerk zur deutschen Gotik lediglich

des Gebäudes, die integraler Bestandteil eines Bauteils

aufgrund ihrer spätottonischen Teile erwähnt wird.

sein können, wie etwa Gewölberippen, aber auch eine

28

Im Folgenden wird stattdessen der Aspekt materieller

selbstständige Position im Gefüge einnehmen können,

Spuren der Vergangenheit explizit fokussiert. Dabei bieten

wie beispielsweise Säulen. Werkstücke können sich

sich zwei Kriterien zur Differenzierung an: zum einen die

wiederum aus mehreren untergeordneten Werkstücken

26 Eine Bibliographie der zahlreichen, bis in die späten 1970er Jahre er­schienenen Publikationen liefert: Zink 1980b.

27 Z. B. Kaiser 1996, S. 44; Kubach/Verbeek 1976, S. 1092f. 28 Nussbaum 1985, S. 42.

18

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.04  Trier, Dom, Ansicht von Nordosten 2.05  Trier, Dom, Westfront, mittleres 11. Jh.

zusammensetzen, im Beispiel der Säule etwa aus Basis, Schaft und Kapitell.29 Schließlich lassen sich noch alte »Baumaterialien« wie Ziegel oder Natursteine nennen, die im Gegensatz zu Werkstücken keine besondere Ausformung erfahren haben und stattdessen im Verband mit weiteren, gleichartigen Elementen eine größere tektonische Einheit bilden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den vorbezeichneten Kategorien materieller Spuren liegt in der Beweglichkeit der Teile. Bei Gebäudeteilen handelt es sich im Wortsinn um Immobilien, die in ein neues Architekturkonzept in situ integriert werden müssen.30 Hingegen ist bei

29 Eine feinere Differenzierung der Werkstücke ist im hiesigen Untersuchungskontext trotzdem nicht sinnvoll, da, wie zu zeigen sein wird, hinsichtlich deren Wiederverwendung im Gegensatz zu Gebäude- und Bauteilen keine Unterschiede bestehen. 30 Diese für das Mittelalter gültige Aussage trifft heutzutage nur eingeschränkt zu, denn die Technik ermöglicht mittlerweile den Versatz ganzer Häusern, wie das spektakuläre Verschieben von Teilen des ehemaligen Grand Hotels Esplanade am Potsdamer Platz in Berlin 1996 beweist (Berliner Zeitung vom 2.3.1996; Der Spiegel 3/1996. – Zu »Bauten in Bewegung« aus denkmalpflegerischer Perspektive: Kaspar 2007). 31 Zur Grabeskirche zuletzt: Arbeiter 2011 (vor 1009); Kühnel 2011 (nach 1009); Pringle 2007, S. 6–72; Biddle 2000; Krüger 2000. 32 Hinsichtlich des Verhältnisses von Architektur zu identitätsstiftendem Ort siehe Kap. 6.3.

19

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

Werkstücken und Baumaterialien ein Versatz an eine an-

nämlich erstens die Integration von Gebäudeteilen, die

dere Stelle relativ einfach realisierbar, so dass diese Kate-

zum Zeitpunkt der neuen Baukampagne bereits Jahrhun-

gorie dahingehend differenziert werden kann, ob sich die

derte alt waren, so dass sich bereits eine Tradition des

Teile noch im ursprünglichen Kontext befinden oder aus ei-

­Ortes herausbilden konnte, sowie zweitens die Integration

nem anderen Kontext stammend in einen neuen überführt

von alten Gebäudeteilen, die erst kurz vor dem Beginn der

wurden. Bauteile stehen hinsichtlich ihrer Beweglichkeit

neuen Baukampagne fertiggestellt wurden. Das erstge-

zwischen den genannten Kategorien. Einerseits bilden sie

nannte Phänomen wird in der Literatur häufig mit wirt-

oftmals größere zusammenhängende Kompartimente, wie

schaftlichen Gründen erklärt. Die alten Gebäudeteile wä-

Mauerstücke, die vergleichbar einem neuen Gebäudeteil

ren demzufolge schlichtweg aus Gründen der Sparsamkeit

in situ in das neue Konzept übernommen werden müssen.

beibehalten worden. Das letztgenannte Phänomen wird in

Andererseits lassen sich aber auch einige Beispiele nennen,

der Literatur in der Regel mit einem Planwechsel erklärt,

in erster Linie Portale, die mit entsprechend hohem Auf-

womit impliziert wird, dass stets und von Beginn an ein

wand innerhalb einer Kirche versetzt wurden.

Plan für einen kompletten Neubau der Kirche vorhanden

Bei der Integration bestehender Gebäude- und Bau-

war. Beide Erklärungsansätze gilt es im Folgenden zu hin-

teile in situ bildet der zeitliche Abstand der älteren Teile

terfragen. Schließlich verspricht die vergleichende Dis-

zu den neueren ein wichtiges Kriterium zur Differenzie-

kussion beider Kategorien auch in dieser Hinsicht einen

rung. Dabei lassen sich zwei Kategorien unterscheiden,

Erkenntnisgewinn.

2.2 Die Integration alter Gebäudeteile 2.2.1 Die Integration jahrhundertealter Gebäudeteile

ihrer ursprünglichen Gestalt und in erstaunlich großem Umfang sogar in ihrer frühchristlichen Substanz erhal-

In der mittelalterlichen Baukultur finden sich zahlrei-

ten (Abb. 2.07).34 So konzentrierte man sich beim Wieder-

che Beispiele von Umbauten, bei denen ein alter Gebäu-

aufbau der Grabeskirche in der ersten Hälfte des 11. Jahr-

deteil integriert wurde, welcher zum Zeitpunkt des Um-

hunderts, der von den byzantinischen Kaisern getragen

baus bereits längere Zeit, meist mehrere Jahrhunderte,

wurde, im Wesentlichen auf eine Rekonstruktion der ur-

existierte.

sprünglichen Anastasis, die trotz einiger Veränderungen unter Wahrung von möglichst viel alter Substanz in ihren

Alte Kerne

Grundformen wiederhergestellt werden konnte.35 Als die

Ein aussagekräftiges Beispiel für die Bewahrung eines

Grabeskirche im 12. Jahrhundert unter den Kreuzfahrern

alten Kerns bildet die Grabeskirche in Jerusalem.31 Nach

abermals grundlegend umgebaut wurde, integrierte man

324 ließ Konstantin der Große über dem mutmaßlichen

die Grabesrotunde weitgehend in ihrer alten Form, indem

Grab Christi, zugleich Ort seiner Auferstehung, eine

man sie mit den neu angebauten Gebäudeteilen, die wie

monumentale Rotunde mit Umgang errichten, die den

eine gestauchte romanische Kirche wirken, zu einem ein-

Höhepunkt eines größeren Sakralkomplexes darstellte

zigartigen Konglomerat verschmolz.36 Als integraler Be-

(Abb. 2.06).32

standteil der Jerusalemer Grabeskirche steht die Anasta-

Während sich die Gestalt der konstantinischen An-

sis mit dem Grab Christi im Zentrum seither also in einem

lage infolge einer bewegten und komplizierten Bau- und

völlig gewandelten architektonischen Gesamtkontext und

Nutzungsgeschichte, deren einschneidendstes Ereignis

spiegelt dennoch, trotz gravierender Beschädigungen,

die vom fatimidischen Kalifen befohlene Zerstörung der

ihre ursprüngliche Grundform wieder.

Kirchenanlage 1009 war,33 weitgehend wandelte, blieb die

Den Kern des Trierer Doms, der sogar noch einige

Anastasis genannte Grabrotunde bis heute relativ nah an

Jahre vor der Jerusalemer Grabeskirche wahrscheinlich

33

35 Kühnel 2011, S. 37–41; Krüger 2000, S. 79f; Ousterhout 1989. 36 Pringle 2007, S. 38–58; Krüger 2000, S. 83–109; Coüasnon 1974, S. 57–61.

Biddle 2000, S. 44f; Krüger 2000, S. 77; zum historischen Rahmen: Krönung 2011. 34 Arbeiter 2011, S. 26; Pringle 2007, S. 38–41.

20

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.06  Jerusalem, Grabeskirche, Grundriss um 400

2.07  Jerusalem, Grabeskirche, Zustand um 2000 unter Beteiligung des konstantinischen Kaiserhauses ge­

ten kontinuierlich bewahrt wurde und deshalb bis zum

gründet worden war,37 bildet der sogenannte Quadratbau,

heutigen Tag in beträchtlichem Umfang erhalten blieb

der trotz einer über 1600 Jahren währenden Baugeschichte

(Abb. 2.08).38 Der Verfasser konnte jüngst aufzeigen, dass

mit zahlreichen, teils tiefgreifenden An- und Umbau-

der Quadratbau bei mittelalterlichen Baumaßnahmen

37 Den jüngsten Forschungen Winfried Webers zufolge wurde in der zweiten Hälfte der 310er Jahre mit dem Bau der Trierer Bischofs­ kirche begonnen (Weber 2004, S. 226–228). In den 330er Jahren kam es zu einer beträchtlichen Dimensionssteigerung hin zu einem Sakralkomplex mit mehreren Gebäuden (Weber 2004, S. 229f; Ders. 2003, S. 428–430). Die Errichtung des Quadratbaus als monumen-

taler Akzent im Nordosten der Anlage begann in den 340er Jahren (Weber 2003, S. 430–432; Ders. 1995). 38 Zur Baugeschichte des Trierer Doms: Zink 1980a; Kubach/Verbeek, S. 1085–1110; Irsch 1931. – Aktueller Kenntnisstand im Bereich der frühchristlichen Periode: Weber 2004; Ders. 2003.

21

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.08  Trier, Dom, Nordfassade des Quadratbaus 4. Jh., Ober­ geschoss und Fenster 18. Jh.

2.09  Trier, Dom, Wandpfeiler 11. Jh.

nicht nur weitgehend konserviert wurde, sondern darüber

hensweise sogar treffender als Erweiterung des Quadrat-

hinaus die architektonischen Konzeptionen maßgeblich

baus denn als dessen Integration bezeichnet werden, da

mitbestimmte.39 Bereits im 6. Jahrhundert bemüh­te man

selbst nach dem umfassenden Umbau des 11. Jahrhun-

sich, nachdem der Domkomplex während der Völkerwan-

derts die spätantike Substanz überwog. Dafür spricht

derungszeit schwere Beschädigungen erleiden musste,

auch die romanische Mauerwerkstechnik, welche eine Va-

unter Bischof Nicetius um eine möglichst originalgetreue

riation des spätantiken opus listatum darstellt, wie es die

Restaurierung des Quadratbaus.40 Beim grundlegenden

Schichtstruktur der Kreuzpfeiler und der mit ihnen korre-

Umbau des Trierer Domkomplexes im 11. Jahrhundert un-

spondierenden Wandvorlagen in den Westjochen deutlich

ter Erzbischof Poppo setzte man die eigentlich auf einen

zeigt (Abb. 2.09).

Zentralbau hin ausgelegte Struktur des Quadratbaus raf-

Bei einem großangelegten Umbau der Memorialbasi-

finiert nach Westen fort und integrierte den frühchristli-

lika S. Lorenzo fuori le mura in Rom zu Beginn des 13. Jahr-

chen Gebäudeteil auf diese Weise geschickt in den neuen,

hunderts, an dem Papst Honorius III. entscheidenden An-

doppelchörigen Richtungsbau, in den die Bischofskirche

teil hatte, kam es zu einer spektakulären Integration des

transformiert wurde (Taf. 1.01).41 Angesichts des Verhält-

im Wesentlichen aus dem 6. Jahrhundert stammenden

nisses von alter zu neuer Bausubstanz müsste die Vorge-

alten Langhauses als Presbyterium des erweiterten Kir-

39 Horn 2015a, S. 22–75. 40 Ebd., S. 32f; Weber 2003, S. 483–486.

41

Horn 2015a, S. 36–40, 57–63. – Zur Baugeschichte: Zink 1980a, S. 34–44; Irsch 1931, S. 81–103.

22

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.10  Rom, S. Lorenzo fuori le mura, Blick aus dem zum Chor transformierten Langhaus (6. Jh.) in das Langhaus (13. Jh.) chenbaus (Abb. 2.10).42 Die westliche Apsis des Altbaus

Doppelgrab der Erzmärtyrer Laurentius und Stephanus.43

wurde niedergelegt und stattdessen im Westen ein neues

In Anlehnung an das verbreitete Phänomen der Wieder-

Langhaus mit Vorhalle angebaut. Durch diese Operation

verwendung alter Werkstücke umschreibt Daniela Mon-

wurde die Länge der Basilika um mehr als das Doppelte

dini die Integration des alten Gebäudeteils in den neuen

gesteigert, das frühmittelalterliche Langhaus zu einem

Kirchenbau mit dem Begriff der »monumentalen Raum­

Presbyterium umfunktioniert und zugleich die vormals

spolie«44 und bringt damit treffend zum Ausdruck, dass es

gewestete Kirche geostet (Abb. 2.11). Die Seitenschiffe

sich hierbei um eine planvolle Zurschaustellung der Tradi-

dienen seither als Chorumgang und das Mittelschiff als

tion des Ortes handelt. Hierfür spricht auch die an ande-

Binnenchor, der mittels einer mehrere Meter hohen Auf-

rer Stelle thematisierte Imitation alter Formen.45

schüttung deutlich höhergelegt wurde. Unterhalb des

Der Entwicklung des Trierer Doms vom Prozess her

neuen Chorbodens wurde eine Krypta geschaffen, deren

ähnlich verlief die Entwicklung der ehemaligen Aachener

Fußbodenniveau in etwa dem vormaligen Zustand ent-

Pfalzkapelle, deren Bau um 800 von Kaiser Karl dem Gro-

spricht. In dieser Chorkrypta befindet sich noch heute das

ßen veranlasst wurde (vgl. Abb. 2.03; Taf. 2.01).46 Obgleich

42 Zum Umbau: Mondini 2010a, S. 343–474, Datierung S. 343–346. 43 In der älteren Forschung wurde davon ausgegangen, dass sich das Grab des Laurentius bereits seit dem 6. Jahrhundert an jener Stelle befunden hatte und somit die Krypta, wie eigentlich der gesamte Umbau, um den altehrwürdigen Grabort herum konzipiert worden war (Krautheimer/Frankl/Corbett 1959, S. 114f). Hingegen favorisiert Daniela Mondini jüngst eine Translation der Gebeine im Zusammenhang mit dem großen Umbau des 13. Jahrhunderts vom sogenannten Retrosanctos hinter der Apsis, wo sie bis dato aufbewahrt worden wären, an ihre heutige Stelle in der Krypta (Mondini 2010a, S. 447–451, 456f). Die Legende, dass sich der Erzmärtyrer Stephanus im Grab neben Laurentius befände, lässt sich erst im 11. Jahrhundert

greifen (Mondini 2010a, S. 451f) und wertete die Lokalität in der Folgezeit weiter auf. 44 Mondini 2010a, S. 318. – Unter der Berücksichtigung der an anderer Stelle getroffenen Differenzierung nach Herkunft der wiederverwendeten Teile (Kap. 2.4.1) müsste man von einer »Raumasservatie« sprechen. 45 Kap. 4.2.1. 46 Zur Aachener Pfalzkapelle: Heckner 2014 (Baugeschichte des karolingischen Kerns); Maas/Siebigs 2013 (reich bebilderte Synopse des Forschungsstands); Pufke 2012 (Bauforschung zum karolingischen Kern); Knopp 2002 (gotischer Chor); Heckner 2002 (Bauuntersuchung des Chores); Kreusch 1965 (karolingischer Bau); Faymonville 1916 (Monographie).

23

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.11  Rom, S. Lorenzo fuori le mura, Grundriss (schraffiert: 6. Jh., konturiert: 13. Jh.) der karolingische Zentralbau im Laufe seiner Geschichte

Alte Westbauten und Türme

vielfache An- und Umbauten erfuhr, blieb er als Kern des

Von der Aachener Pfalzkapelle fällt die Überleitung zum

heutigen Aachener Doms nicht nur erhalten und erkenn-

Westbau des Essener Münsters (vgl. Abb. 2.01; 2.02) nicht

bar, sondern auch derart prägend, dass die baulichen Ent-

schwer.48 Als man die vormals flachgedeckte Basilika in

wicklungen in der Literatur zutreffend als Erweiterungen

den Jahrzehnten um 1300 in eine kreuzrippengewölbte

der Pfalzkapelle charakterisiert wurden (Taf. 2.02). Ange-

Hallenkirche mit einem neuartigen Hallenchor transfor­

sichts der herausragenden architekturhistorischen Be-

mierte, wurden mit der Krypta, dem Atrium und dem

deutung der karolingischen Pfalzkapelle verwundert es

Westbau mit seinem auffälligen Zitat der Aachener Pfalz-

nicht, dass sich die überwiegende Zahl der Studien für

kapelle gleich drei Gebäudeteile des 11. Jahrhunderts,

den ursprünglichen Zustand interessiert oder aber die

die zum Zeitpunkt des gotischen Umbaus also bereits

jüngeren Kompartimente separiert betrachtet werden. Es

250 bis 300 Jahre bestanden, in die neue Konzeption mit

wäre jedoch eine Studie wünschenswert, die den Prozess

einbezogen (Taf. 2.03).49 Dabei erfolgte die Integration

als solchen thematisiert und daraus eine ganzheitliche,

der alten Teile in einer geradezu denkmalpflegerisch an-

epochenübergreifende Betrachtung des Bauwerks entwi-

mutenden Weise, denn die alten Formen wurden soweit

ckelt. Ansätze hierzu liefern unter anderem die Ergebnisse

wie möglich bewahrt.50 Die größte Herausforderung stellte

der letzten Bauforschung am Chor, die verdeutlichen,

in dieser Hinsicht der alte Westbau dar, der unmittelbar

dass beim Anschluss des gotischen Gebäudeteils an den

an das neuartige gotische Hallenlanghaus angeschlossen

karolingischen Kern offensichtlich Eingriffe in den alten

werden musste. Die mittelalterlichen Baumeister erfüll-

Bestand möglichst weitgehend vermieden werden soll-

ten die konträren Anforderungen von Bewahrung einer-

ten, was eine sehr komplizierte bauliche Lösung zur Folge

seits und Erneuerung andererseits auf raffinierte Weise,

hatte.

indem sie im Inneren die Höhe des Langhauses, dessen

47 Heckner 2002, S. 105. 48 Zur Baugeschichte des Essener Münsters, welches 1958 zur Kathe­ dralkirche des Ruhrbistums erhoben wurde: Pothmann 1997; Kubach/Verbeek 1976, S. 268–278; Zimmermann 1956 (grundlegende Monographie); jeweils mit Hinweisen zur älteren Literatur. 49 Die Datierung der Krypta ist aufgrund einer Weiheinschrift von 1051 unstrittig (Klinkhammer 1972). Das Atrium wird aufgrund des

baulichen Befunds und stilistischer Kriterien derselben Kampagne zugeordnet (Kubach/Verbeek, S. 269; Zimmermann 1956, S. 266f). Die Datierung des Westbaus steht derzeit wieder in der Diskussion, wobei eine Entstehung um 1000 oder zur Mitte des 11. Jahrhunderts erwogen wird. 50 Horn 2015a, S. 156–159.

47

24

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.12  Essen, Dom, Blick vom gotischen Langhaus (um 1300) in das ottonische Westpolygon (um 1050)

25

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.13  Essen, Dom, Langhaus um 1300, Westbau um 1000/50 Kapitellzone sowie die Dimensionen der Gewölbe auf den

den Seitenschiffen des Langhauses aus dem 15. Jahrhun-

vorhandenen Westchor mit seiner Kalotte im Westbau

dert umfasst wird (Abb. 2.14),52 oder die Marienkirche zu

abstimmten, so dass die für eine gotische Halle untypisch

Osnabrück, wo der romanische Westturm von den Seiten

gedrungenen Dimensionen letztlich ein Echo der vorma-

des Langhauses aus dem 14. Jahrhundert eingefasst wird

ligen basilikalen Proportionen darstellen (Abb. 2.12). An

(Abb. 2.15).53

51

der Schnittstelle zwischen Westbau und Langhaus bilden

Während bei den vorgenannten Beispielen der alte

spätottonische und gotische Formen hybride Pfeiler, wel-

Gebäudeteil erkennbar dem neuen Körper der Kirche ein-

che die alte Torsituation zwischen den Gebäudeteilen zur

verleibt wurde, entschied man sich in anderen Fällen für

Geltung bringen und zugleich den Übergang zwischen

einen eher additiven Anschluss neuer Langhäuser an alte

den Zeitschichten markieren.

Westbauten oder -türme, die auf diese Weise zu den Seiten

Von außen tritt in Essen besonders der Mittelteil des spätottonischen Westbaus turmartig in Erscheinung, wo-

freigestellt blieben und deshalb umso markanter als alte Gebäudeteile in Erscheinung treten.

hingegen sich an den Seiten das gotische Langhaus fort-

Beim umfassenden Umbau des Doms zu Osnabrück

setzt, so dass der Eindruck entsteht, die neue Halle würde

im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts beispielsweise be-

den alten Bauteil umarmen (Abb. 2.13). Ein vergleichbares

wahrte man den charakteristischen massigen Westbau

Bild bietet etwa die ehemals markgräfliche Stiftskirche

aus der Zeit um 1100, indem man das neue Langhaus in

zu Baden-Baden, wo der um 1200 datierte Westturm von

den Dimensionen des vorherigen errichtete, so dass es in

51 Ebd., S. 155f. 52 Lacroix/Hirschfeld/Niester 1942, S. 70–91. 53 Der romanische Turm ist im Kern bis zu einer Höhe von rund 12 Metern erhalten (Poppe 1952, S. 90), wurde aber zur Mitte des 13. Jahrhunderts in den oberen Geschossen neu verblendet, wobei man interessanterweise das Erdgeschoss in der alten Form beließ

(Karge 2001, S. 133–141, 148f; Poppe 1952, S. 87f). Roswitha Poppe datiert den alten Turm in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts (Poppe 1952, S. 91f); Wolfgang Schlüter schlägt hingegen eine Datierung in die erste Hälfte oder die Mitte des 12. Jahrhunderts vor (Schlüter 2001, S. 52–55). – Zum gotischen Bau grundlegend: Karge 2001.

26

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.14  Baden-Baden, Stiftskirche, Langhaus 15. Jh., Westturm um 1200

2.15  Osnabrück, Marienkirche, Langhaus 14. Jh., Westturm 11. oder 12. Jh.

der Breite hinter dem Westbau zurückbleibt und an des-

archaisch und wehrhaft wirkt (Abb. 2.18).57 Bei einer um-

sen Ostwand anstößt (Abb. 2.16).54 Auf diese Weise blieb

fassenden Baukampagne im 14. Jahrhundert wurde der

die alte Westansicht erhalten und der Umbau vom west­

Chor neu gebaut und das Langhaus in bemerkenswerter

lichen Standpunkt aus verborgen.55

Weise erheblich umgestaltet,58 wohingegen der Westriegel

Ähnlich ging man etwa beim Umbau der ehemaligen

in seiner altertümlichen Form erhalten blieb. Während

Magdeburger Kollegiatsstiftskirche St. Sebastian in Nähe

man also den Großteil der Kirche mit den architektoni-

des Doms vor, als man im 15. Jahrhundert die romanische

schen Mitteln der Zeit modernisierte, war man beim West-

Basilika in eine spätgotische Halle umwandelte und diese

bau offensichtlich an einer Bewahrung des archaischen

an den Westbau des 12. Jahrhunderts anschloss, den man

Charakters interessiert.

in der alten Form bewahrte (Abb. 2.17).56

Eine interessante Einbindung in den Baukörper zeigt

Der Dom zu Havelberg wird heute noch von einem

der ehemalige zweitürmige Westbau der Katharinenkirche

markanten Westbau geprägt, der für seine Entstehungs-

in Oppenheim aus der ersten Hälfte des 13. Jahr­hunderts

zeit im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts erstaunlich

(Abb. 2.19).59 Als man das alte Langhaus in der ersten

54 Lobbedey 2005, S. 284f (Datierung Westbau); Boeck 1999, S. 275 (Datierung Langhaus); Siebern/Fink 1907, S. 3–35 (Gesamtdarstellung). 55 Auch in späterer Zeit war das massige, wehrhafte Erscheinungsbild des Westbaus offenbar von Bedeutung, denn der wuchtige Südwestturm wurde erst 1513–1543 erbaut (Guntermann 2003, S. 95–101). Man bediente sich also einer erstaunlich retrospektiven Formensprache, um den alten Eindruck zu wahren. 56 Forster 2014; Dehio Sachsen-Anhalt 2002, S. 563–565 [Folkhard Cremer].

57 Hoffmann, J. 2012a, S. 183; Reichel 2012, S. 23. 58 Hoffmann, J. 2012a, S. 247f; Ders. 2012b, S. 83–87; Schöfbeck 2012. – Zum Umbau des Langhauses siehe auch Kap. 3.3. 59 Zur Baugeschichte der Oppenheimer Katharinenkirche grundlegend: Schütz 1982. 60 Schütz 1982, S. 21. 61 Kap. 4.2.3.

27

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

Hälfte des 14. Jahrhunderts durch ein neues, aufwändig in Formen des Rayonnant gestaltetes Langhaus ersetzte, schloss man dieses additiv an die Ostseite des bestehenden Westbaus an. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts schuf man zusätzlich einen neuen, bis dahin nicht existenten Westchor, der wiederum an die Westseite des alten Westbaus anschloss. Die sich seither einstellende Wirkung am Außenbau beschrieb Bernhard Schütz treffend: »Wie altertümliche Spolien sitzen die Türme in der gotischen Kirche und stehen nur noch mit ihrer Seitenfront frei.«60 Dieser Eindruck wird vom Kontrast der schlichten, massiven Turmwände zu den filigranen und aufwändig gestalteten neuen Gebäudeteilen verstärkt. Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts trug man der gewachsenen Gesamtgestalt der Stiftskirche Rechnung, indem man die Türme in alten Formen aufstockte.61 Auch im Innenraum ist der Westbau als älterer Bauteil erfahrbar, vor allem im weiträumigen Westchor, den er nach Osten mit seiner massiven Mauerfläche unvermittelt abschließt. Der weitreichende Neubau der Kathedrale von Char­

2.16  Osnabrück, Dom, Langhaus 13. Jh., Westbau um 1100, Süd­ westturm 1513–1543

tres nach einem Großbrand 1194 bietet ein prominen­

2.17  Magdeburg, St. Sebastian, Langhaus 15. Jh., Westbau 12. Jh.

2.18  Havelberg, Dom, Langhaus 14. Jh., Westbau 12. Jh.

tes französisches Beispiel für die Integration eines rund

28

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.19  Oppenheim, Katharinenkirche, v. l. n. r.: Westchor (15. Jh.), eh. Westbau (13. Jh.) mit Obergeschoss (15. Jh.), Langhaus (14. Jh.) 50 Jah­re älteren Westbaus (Abb. 2.20),62 dessen vormalige

sollen.65 Dabei ignorierten sie außerdem, dass mit der

Gestalt allerdings bisher nicht eindeutig geklärt werden

Krypta ein weiterer alter Gebäudeteil erhalten wurde, wel-

konnte.63 Feststeht, dass der südliche Westturm und der

cher erheblichen Einfluss auf die Form der neuen Archi-

untere Teil des nördlichen sowie die wegen ihrer Skulp­

tektur ausübte.66

turen berühmte Portalanlage samt der darüber befind­

Ganz anders ging man beim umfassenden Umbau des

lichen Fenster zur alten Anlage gehören, wenngleich um-

Doms zu Minden im 13. Jahrhundert vor, als das Langhaus

stritten ist, ob sich die Fassade auch zuvor an der heutigen

in eine Halle mit großzügigen und abwechslungs­reichen

Stelle befand.64 Seit der hochgotischen Kampagne läuft

Maßwerkfenstern transformiert wurde, der im Kern aus

das Mittelschiff jedenfalls zwischen den Türmen bis zur

dem 10. Jahrhundert stammende Westbau hingegen in

Westfront durch, auf die ein weiteres Rosengeschoss ge-

seiner alten Form erhalten blieb (Abb. 2.21).67 Da man

setzt wurde. Weil die Kathedrale von Chartres in stilge-

das Langhaus, dessen Breite zuvor dem Westbau ent-

schichtlicher Anschauung als Schöpfungsbau der Hoch-

sprach, im Unterschied zu den vorgenannten Beispielen

gotik gilt, taten sich viele Autoren schwer, die Bewahrung

im Zuge des Neubaus verbreiterte, musste zwangsläufig

des Westbaus als integralen Bestandteil der Planungen

eine neue bauliche Lösung für den Anschluss an den West-

anzuerkennen, und postulierten stattdessen einen goti-

bau gefunden werden (Abb. 2.22). Man entschied sich, die

schen Idealplan, der ursprünglich hätte verfolgt werden

Seitenschiffe nach Westen im Kontrast zu den Längssei-

62 Zur Kathedrale von Chartres zuletzt Halfen 2007; wichtige deutschsprachige Publikationen: Kurmann-Schwarz/Kurmann 2001; Kimpel/ Suckale 1985, S. 235–255, 513; van der Meulen/Hohmeyer 1984 (jeweils mit weiterführender Literatur). 63 Eine kritische Übersicht verschiedener Varianten bei KurmannSchwarz/Kurmann 2001, S. 48–54. 64 Vgl. Kap. 2.3.2. 65 Z. B. van der Meulen/Hohmeyer 1984, S. 83–86. Die angebliche

»Abkehr von einer anfänglich geplanten harmonischen Gesamt­ lösung« hin zur Bewahrung der Westteile bewerten die Autoren als »dramatischen Vorgang, in dem wir die schwerste Krise im Wachstumsprozeß der Kathedrale erkennen.« (Ebd., S. 84). 66 Kap. 2.2.1. 67 Dehio Nordrhein-Westfalen II 2011, S. 667–674 [Hans-Christian Feldmann]; BKD Westfalen (50) 1998 [Roland Pieper].

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.20  Chartres, Kathedrale Notre-Dame, Westfassade, im Kern Mitte 12. Jh.

29

30

2.21  Minden, Dom, Westbau mittleres 11. Jh.

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.23  Straßburg, St. Thomas, Langhaus frühes 14. Jh., Westbau frü­ hes 13. Jh.

ten mit undekorierten, fensterlosen Wänden in der Flucht

annähernd quadratischen Mittelschiffsjochen ein schma-

der östlichen Westbauwand abzuschließen. Auf diese

les Sonderjoch, bei dem man auf die sonst ausgeführten

Weise wirken die neuen Seitenschiffe wie ein integraler

Giebel der Seitenschiffswände verzichtete, so dass die

Teil des alten Westbaus, der infolgedessen sowohl in der

Umbauten des 13. Jahrhunderts von Westen quasi nicht

Tiefe als auch der Höhe stärker gestaffelt erscheint, was

in Erscheinung treten. Dieser Strategie folgend verzich-

seine turmartige Wirkung verstärkt. Des Weiteren schuf

tete man an den westlichen Strebepfeilern im Gegensatz

man zwischen dem alten Westbau und den drei neuen,

zu den übrigen Strebepfeilern auf eine Ausschmückung

2.22  Minden, Dom, Grund­ riss mit Eintragung älterer Fundamente

31

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.24  Verden, Dom, Langhaus spätes 13./frühes 14. Jh., Südwestturm Mitte 12. Jh. mit Baldachinen nach Reimser Vorbild, so dass der Blick

Die additive Bewahrung eines Turms statt eines West-

auf die künstlerischen Neuerungen abgeschirmt wird. Auf

baus zeigt exemplarisch der spätestens 1274 begonnene,

diese Weise blieb wiederum das altertümliche Bild des

großangelegte Umbau des Doms zu Verden an der Aller, bei

Westbaus von Westen kommend weitgehend erhalten.

dem der Vorgängerbau fast gänzlich durch eine kreuzrip-

Bei der ehemaligen Stiftskirche St. Thomas in Straß-

pengewölbte Hallenkirche ersetzt wurde.69 Erhalten blieb

burg tritt das gotische Hallenlanghaus des späten 13./

allein der Südwestturm aus dem 12. Jahrhundert, der sich

frü­hen 14. Jahrhunderts ebenfalls über die Breite des im

sowohl wegen seiner älteren Formensprache als auch sei-

zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts erbauten Westbaus

ner außermittigen Position vom sonst recht einheitlichen

hinaus, ohne diesen jedoch, wie für Essen beschrieben,

Erscheinungsbild der Kirche absetzt und sich dadurch als

einzufassen (Abb. 2.23).

Relikt einer älteren Epoche zu erkennen gibt (Abb. 2.24).70

68

Im Unterschied zum Mindener

Dom setzte man die Gestaltung des gotischen Langhau-

Ein prominentes Beispiel für die Bewahrung eines

ses mit schmalen, spitzbogigen Maßwerkfenstern an den

alten Turms in England stellt die Pfarrkirche All Saints

westlichen Seitenschiffswänden fort, so dass ein formaler

in Earls Barton dar, deren um 970 datierter Westturm als

Kontrast entsteht, welcher die Erneuerung der Schiffe,

gut erhaltenes Beispiel angelsächsischer Architektur ver-

aber auch das höhere Alter des Westbaus bereits in der

ständlicherweise viel Aufmerksamkeit in der Literatur

Westansicht erkennbar macht.

gefunden hat (Abb. 2.25).71 Dahingegen fand die Frage,

68 Marc Carel Schurr datierte den Westbau zuletzt in die Jahre 1220– 1245 (Ders. 2015, S. 143) und machte dabei auf die bemerkenswert retrospektiven Aspekte des Gebäudeteils aufmerksam. Siehe ferner: Bengel 2011, S. 121f (Datierungsansätze); Braun 2002, S. 40–47 (Westbau), 80–85 (Langhaus); Recht 1974, S. 169–179 (Langhaus); Kautzsch 1944, S. 287–290 (Westbau). 69 Kunst 1970 (gotischer Bau). 70 Boeck 1970, S. 126–134 (Turm des 12. Jahrhunderts). – Auch Ende

71

des 16. Jahrhunderts war man offenkundig an einer Bewahrung des altertümlichen Charakters des Westturms interessiert, als man dessen Westseite mit Natursteinquadern verblendete und dabei auf Gliederungen mit zeitgenössischen Formen verzichtete. Grundlegend zum Turm: Audouy/Dix/Parsons 1995 (mit einem Katalog weiterer Bauten, bei denen sich alte angelsächsische Türme trotz späterer Umbauten erhalten haben, auf S. 90f).

32

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.25  Earls Barton, Langhaus 13./14. Jh., Westturm um 970

2.26  Worms, St. Paul, Westbau 13. Jh., Rundtürme 11. Jh.

warum sich der Turm eigentlich in der alten Form erhal-

Einverleibung alter Gebäudeteile in den erneuerten Kör-

ten hat, wohingegen der Kirchenbau ansonsten aus dem

per der Kirche beobachten.

13./14. Jahrhundert stammt, bisher kaum Beachtung.

Von der baulichen Strategie her vergleichbar erfolgte

Auf individuelle Weise integrierte man bei der Erwei-

am Dom zu Merseburg die Integration des markanten

terung der ehemaligen Stiftskirche St. Paul in Worms die

alten Westbaus vom Gründungsbau aus der ersten Hälfte

beiden runden Westtürme, die noch vom Gründungsbau

des 11. Jahrhunderts mit seinen beiden im 12. Jahrhun-

des 11. Jahrhunderts stammen (Abb. 2.26).

Man errich-

dert aufgestockten Flankentürmen. In der ersten Hälfte

tete nämlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts

des 13. Jahrhunderts baute man westlich eine basilikale

einen neuen blockartigen Westbau unmittelbar vor den

Vorhalle an, deren Firsthöhe wohl dem seinerzeit beste-

alten Türmen, die somit vom Langhaus her weiter zu­

henden Langhaus entsprach (Abb. 2.27).74 Aufgrund der

gänglich blieben und seither mit dem neuen Mittelturm

niedriger ansetzenden Seitenschiffsdächer der Vorhalle

des Westbaus eine Dreiergruppe bilden.73 Anstelle einer

kommen die beiden Westtürme außen trotz des Vorbaus

additiven Integration lässt sich hier also wiederum die

gut zur Geltung. Darüber hinaus stockte man den Mit-

72 Der Bau der Stiftskirche wurde kurz nach 1002 vom Wormser Bischof Burchard veranlasst (Weinfurter 2003, S. 10f; Bönnen 2002, S. 33–35; Spille 2002, S. 291f). – Die Türme entstanden nach neues­ tem Forschungsstand in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (Kotzur 2003a, S. 14f; Ders. 2003b). – In der Literatur fanden die Türme in erster Linie wegen ihrer ungewöhnlichen, orientalisch anmutenden Dachformen Berücksichtigung. Die in der Region auch andernorts errichteten zentralbauartigen Dächer stehen anschei-

nend mit dem ersten Kreuzzug in einem Zusammenhang (hierzu zuletzt eingehend: Kotzur 2003a, S. 29–46). 73 Kotzur 2000a, S. 6; Spille 2002, S. 305f; von Winterfeld 2000, S. 292f. 74 Der Merseburger Dom wurde ab 1015 neu errichtet (zur Restitu­ ierung des Bistums: Schneidmüller 2015, S. 33–48; Ders. 2005). – Zur Baugeschichte: Schmitt, R. 2008b, S. 49–57; Becker u. a. 2000, S. 9–17; Ramm 1978, S. 85–89, 101f (unsicher hinsichtlich der Datierung des Westbaus).

72

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.27  Merseburg, Dom, Westbau 1. Hälfte 11. Jh., Turmaufstockung 12. Jh., Vorhalle 13. Jh., Westbaugiebel 13. Jh.

33

34

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

telteil des Westbaus mit einem Giebel auf, so dass er die

Sumner McKnight Crosby noch aus der Karolingerzeit

neue Vorhalle überragte und sich von außen weiterhin als

stammt,77 wurde damit gänzlich dem neuen Kirchenbau

eigenständiger Gebäudeteil optisch von den anderen Tei-

einverleibt und kann seither mittels des Umgangs intern

len der Kirche absetzte. Obwohl oder gerade weil die neue

umschritten werden.

Westhalle wie eine Verlängerung des Langhauses wirkt,

In England liefert der ab 1175 vollzogene Chorneubau

war es offensichtlich ein wichtiges Ziel, den alten West-

der Kathedrale von Canterbury ein prominentes Beispiel

bau der Gründungszeit als solchen erkennbar zu lassen.

für die Integration einer alten Krypta (Taf. 2.06). Die Un-

Hierzu fügt es sich gut, dass auch die runden Chorflanken-

terkirche, welche sich unterhalb des gesamten Chorbe-

türme aus der Mitte des 11. Jahrhunderts weitgehend er-

reichs erstreckt, wurde in weiten Teilen unverändert bei-

halten wurden,75 so dass die alte Silhouette des Doms mit

behalten und gab somit die Disposition für den neuen

den Türmen des Gründungsbaus gewahrt blieb.

Chorbau großenteils vor.78 Ein Unterschied zu Essen und St. Denis besteht darin, dass bereits der vorherige Chor

Alte Krypten

laut schriftlicher Überlieferung der Disposition der Krypta

Neben alten Westbauten und Türmen haben sich oft auch

entsprach,79 so dass der neue Chor in den Umrissen des

Krypten trotz späterer, teils tiefgreifender Umbauten der

Vorgängers aufgebaut wurde.

Oberkirchen in ihrer alten Form erhalten. Beim Umbau

Ein wichtiges Beispiel für die Integration einer alten

des heutigen Essener Doms um 1300 verfolgte man bei

Krypta liefert der weitgehende Umbau der Kathedrale von

der Integration der alten Außenkrypta ein ähnlich inkor-

Chartres,80 der nach einem Brand 1194 begonnen und

porierendes Konzept wie bei der oben thematisierten In-

1260 geweiht wurde.81 Neben Teilen des alten Westbaus82

tegration des Westbaus der Kirche (Taf. 2.04). Statt einer

aus der Mitte des 12. Jahrhunderts wurde eine monumen-

vertikalen Einfassung kam es bei der Krypta zu einer hori-

tale Krypta aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts be-

zontalen Überlagerung, indem man den Chorbereich über

wahrt, die sich über den Chorbereich hinaus auch unter

das untere Kryptageschoss hinaus erweiterte, wobei man

dem gesamten Langhaus erstreckt und den Grundriss

innerhalb des von der Krypta definierten Rahmens blieb.

des hochgotischen Gebäudes weitgehend determiniert

Der ungewöhnliche rechteckige Grundriss des gotischen

(Abb. 2.28).

Chores erklärt sich folglich ebenso wie die innovative Konzeption als Hallenchor aus der Tradition des Ortes.

Auf den Zusammenhang zwischen neuem Chor und alter Krypta wurde in der Literatur zwar oft hingewiesen,

Inkorporation

die baukünstlerische Leistung der Verbindung von Alt

wähl­te man bereits zur Mitte des 12. Jahrhunderts bei der

und Neu aber bisher nicht angemessen gewürdigt und

Umgestaltung des Chores der französischen Abteikirche

auch die kultischen Implikationen nicht hinreichend

St. Denis, wo man den Chorbereich ebenfalls über das Un-

beachtet.83 Die Integration der alten Krypta wurde im

tergeschoss einer älteren Außenkrypta, in diesem Fall aus

Chorbereich vollzogen, indem die drei weit ausladenden

karolingischer Zeit, hinaus erweiterte.76 Im Unterschied

Radialkapellen der Krypta mit einer neuen, starken Mau-

zum Essener Münster errichtete man zusätzlich noch ei-

erschicht ummantelt wurden. Hierbei nahm man auf die

nen Kryptaumgang, indem man die beiden Seitenschiffe

bestehenden Fensteröffnungen der Krypta Rücksicht und

nach Osten hin öffnete und mittels eines halbkreisförmi-

legte in der neuen Mauerschicht entsprechende Öffnun-

gen Umgangs mit Kapellenkranz verband (Taf. 2.05). Das

gen an. Mittels leicht eingerückter Bogensegmente zwi-

vormalige Mittelschiff der Krypta, dessen Mauerwerk laut

schen den Kapellen gelang es dem Baumeister darüber

75 Schmitt, R. 2008b, S. 51; Ramm 1978, S. 49–52, 72. 76 Grundlegend zur Baugeschichte: Wyss 1996; Crosby 1987, ferner Formigé 1960. – Zum archäologischen Kenntnisstand: Wyss 2004. – Weitgehend abgelehnt wurden die Datierungsvorschläge von van der Meulen/Speer 1988; siehe dazu die Rezension von Suckale 1990. 77 Crosby 1987, S. 87–91. – Es müsste jedoch überprüft werden, inwiefern spätere, vor allem neuzeitliche Restaurierungen die inneren Kryptamauern veränderten. 78 Druffner 1994, S. 22–24; Fernie 1982; Woodman 1981, S. 51–56. – Darüber hinaus integrierte man auch Teile der alten Choraußenmauern in den neuen Gebäudeteil (Kap. 2.3.1). 79 Gervasius, Tractatus (ed. Stubbs 13). 80 Hierzu wesentlich: Halfen 2007; Kurmann-Schwarz/Kurmann 2001; Kimpel/Suckale 1985, S. 235–255, 513; van der Meulen/Hohmeyer

1984 (jeweils mit weiterführender, auch französischsprachiger Literatur). 81 Die Datierung des Bauverlaufs in Chartres ist noch immer umstritten. Eine Übersicht des aktuellen Forschungsstands findet sich bei: Halfen 2007, S. 93. – Brigitte Kurmann-Schwarz und Peter Kurmann weisen darauf hin, dass der Umbau der Kathedrale vielleicht schon früher begonnen haben könnte und der überlieferte Brand 1194 eher als Anlass für die Beschleunigung, Steigerung und Rechtfertigung des Projektes diente (Dies. 2001, S. 78f). In dieselbe Richtung argumentieren: van der Meulen/Hohmeyer 1984, S. 12–15, 219–227. 82 Vgl. Kap. 2.2.1. 83 Jan van der Meulen und Jürgen Hohmeyer stellten immerhin eine Beziehung zwischen der Unterkirche und kultischen Traditionen her (Dies. 1984, S. 185–198).

Ein

vergleichbares

Verfahren

der

35

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.28  Chartres, Kathedrale, Grundriss der Krypta 1. Hälfte 11. Jh., im Gefüge des Umbaus ab 1194 hinaus, den Raum auf Chorniveau zu verschleifen, so

wurden. Diese Vorgaben stellten den Baumeister vor die

dass einerseits ein zeitgemäßer Umgangschor mit Kapel-

höchst anspruchsvolle Aufgabe, ein Mittelschiff von et-

lenkranz in der Art von St. Denis geschaffen wurde, ande-

was mehr als 16 Metern Breite zu überwölben84 und somit

rerseits aber die Krypta nicht nur in der alten Disposition

nicht weniger als die bis dato weitest gespannten Gewölbe

integriert werden konnte, sondern sich diese auch in den

des Mittelalters zu konstruieren.85 Die brillante Lösung

drei vorspringenden Kapellen auf Chorniveau widerspie-

des Problems lag in der Adaption eines innovativen Wöl-

gelt. Wie wichtig die Bewahrung der alten Krypta beim

bungssystems, das kurz zuvor an der Kathedrale von Sois-

Chorumbau in Chartres ausfiel, beweisen die Strebepfei-

sons erfolgreich erprobt worden war: Rechteckjoche mit

ler an den Chorkapellen, die teilweise genau über den

vierteiligen Rippengewölben.86

Fenstern der Krypta aufsetzen. Der Gewölbeschub musste

In der Literatur wurde die Einführung des Wölbungs-

an diesen Stellen folglich konstruktiv aufwändig seitlich

sytems in Chartres häufig gestalterisch begründet, wie es

auf die Ummantelung umgeleitet werden. Hätte man die

zuletzt Roland Halfen tat:

Strebepfeiler stattdessen nach unten fortgesetzt und die betroffenen Fenster vermauert – was man nicht tat –, so hätte man auf die Ummantelung wohl weitgehend verzichten können, denn ein anderer statischer Sinn ist nicht erkennbar. Man ersann also eine komplizierte und kostenspielige Konstruktion, nur um die Belichtung der Kypta­ kapellen mittels der alten Fenster zu bewahren.

»Die auf den ersten Blick fast rasterartige Einteilung des Mittelschiffgewölbes scheint in Chartres aus dem Willen zu einer Gliederung hervorgegangen zu sein, die den maßgeblichen Einheiten klare Priorität gibt, um die Verbindungen als solche besser herauszuar­ beiten.«87

Noch stärker als der Chor wurde das neue Langhaus

Ein derartiger Erklärungsansatz versteht die tektonische

in Chartres von den Dimensionen der alten Krypta be-

Struktur primär als Ausdruck künstlerischer Ordnung,

stimmt, denn sowohl die Außen- als auch die Mittelschiffs-

ignoriert jedoch die konstruktiven Zusammenhänge, wel-

wände fußen auf dem alten Mauerwerk, so dass nicht nur

che der Architektur zwangsläufig zugrunde liegen. Letzt-

die Breite des Langhauses, sondern auch die Proportionen

lich resultiert diese Sichtweise aus der stilgeschichtlichen

der Schiffe zueinander vom alten Gebäudeteil vorgegeben

Prämisse, dass Chartres die erste hochgotische Kathedrale

84 Maßangabe nach Kurmann-Schwarz/Kurmann 2001, S. 71. 85 Die weitesten Mittelschiffsgewölbe im 12. Jahrhundert besaß nach meinem Wissen der Dom zu Speyer mit einer Spannweite von 14 Metern (Maßangabe nach von Winterfeld 1993, S. 57). 86 Die ältere Literatur verehrte Chartres als Inkunabel der Hochgotik und tendierte deshalb dazu, dem Chartreser Kathedralbau sämtliche Entwicklungen hochgotischer Konstruktion zuzuschreiben.

Mittlerweile wurde die architekturgeschichtliche Stellung Chartres etwas relativiert, indem etwa auf die Bedeutung der Kathedrale von Soissons aufmerksam gemacht wurde, wo einige der hochgotischen Elemente aus Chartres bereits früher realisiert worden waren (Sandron 1998, vor allem S. 218–224; Klein 1986). 87 Halfen 2007, S. 104.

36

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.29  Chartres, Kathedrale, Grundriss sei, denn die tektonische Struktur wird im eigentlichen

größere Spannweiten zu realisieren (Abb. 2.29).88 In Chart-

und übertragenen Sinn oberflächlich als Teil des Stils auf-

res wurden die technischen Möglichkeiten der vierteili-

gefasst.

gen, rechteckigen Gewölbe eindrucksvoll demonstriert, so

Angesichts der immensen technischen Anforderun-

dass sie richtungsweisend auf die nachfolgenden großen

gen, welche die Integration der Krypta an die neuen Lang-

Kathedralbauten des 13. Jahrhunderts von Reims bis Köln

hausgewölbe stellte, können künstlerische Gestaltungsab­

wirkten. Es entbehrt also nicht einer gewissen Ironie, dass

sichten bei der Entscheidung für vierteilige Gewölbe über

eine der folgenreichsten Entwicklungen gotischer Bau-

rechteckigen Jochen kaum ins Gewicht gefallen sein. Im

konstruktion ihren Durchbruch erlangte, weil man nach

späten 12. Jahrhundert waren überwiegend quadratische

Lösungen suchte, einen alten Gebäudeteil zu bewahren.

Joche mit sechsteiligen Rippengewölben üblich, wie sie

Auch bei weiteren Kirchen, die in dieser Arbeit an an-

zum Beispiel beim Bau der Kathedralen in Paris oder Laon

derer Stelle behandelt werden, wurden alte Krypten bei

realisiert wurden. Durch die Aufteilung der Quadrat­joche

späteren Umbauten integriert, etwa bei den Domkirchen

in zwei rechteckige Felder mit jeweils vierteiligen Gewöl-

zu Bremen, Merseburg und Zeitz. Sie seien exemplarisch

ben wurde es möglich, die Lasten, die zuvor von einem

angeführt, weil weitere tiefer gehende Einzeldarstellun-

Gewölbe getragen werden mussten, auf zwei Gewölbe

gen an dieser Stelle nicht mehr geleistet werden können.89

über gleicher Grundfläche zu verteilen und infolgedessen

Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass die Integration

88 Die Reduzierung der Rippenzahl von vier auf sechs trägt dem ge­änderten geometrischen Rahmen Rechnung. Fasst man zwei längsrechteckige Joche zusammen, so überspannen im Grunde genommen sogar acht Rippen die qadratische Grundfläche eines zuvor sechteiligen Gewölbes, was den statischen Vorteil der längsrechteckigen Gewölbe auch zahlenmäßig veranschaulicht. 89 Bremen: Ost- und Westkrypta 3. Viertel 11. Jahrhundert, Umbau der Oberkirche 2. Hälfte 13. und frühes 16. Jahrhundert (Datierun-

gen nach Bosse/Lamotte 1989, S. 28–30). – Merseburg: Krypta Mitte 11. Jahrhundert, Ostteile um 1230–1240, Langhaus 1510–1517 (Datierungen nach Schmitt, R. 2008b). – Zeitz: Krypta 2. Viertel 11. Jahrhundert, eventuell mit wiederverwendeten Kapitellen des 10. Jahrhunderts, Umbau Altarhaus 2. Viertel 14. Jahrhundert, Langhausumbau 15. Jahrhundert (Datierungen nach Schmitt, R. 2008a, S. 18f, 27–31).

37

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

alter Krypten sich nicht auf Bischofskirchen beschränkte.

Bei der Frage nach den Gründen für die Integration

In einem überschaubaren regionalen Rahmen wie dem

oder Bewahrung alter Gebäudeteile liegen ökonomische

oberen Mittelrheintal finden sich mit den ehemaligen

Erklärungsansätze nahe, also die Annahme, dass man

Stiftskirchen St. Martin in Bingen sowie St. Goar im

schlichtweg Kosten sparen wollte. Es kann nicht ausge-

gleichnamigen Ort gleich zwei Sakralbauten mit alten

schlossen werden, dass das in einigen Fällen vielleicht zu-

Krypten, deren Formen deutlich mit denen der später um-

trifft, in anderen Fällen jedoch liefern derartige Ansätze

gebauten Oberkirchen kontrastieren.90

keine befriedigenden Antworten. Um die Krypta des Essener Münsters unter dem neuen

Resümee

Hallenchor zu erhalten, mussten etwa die Außenwände

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen exemplarisch

samt Fundamenten bis auf den gewachsenen Boden durch-

die zahlreichen Spuren der Vergangenheit auf, wel­che in

schlagen werden, um dort Strebepfeiler auf neuen Grün-

Form alter Gebäudeteile an mittelalterlichen Sakralbau-

dungen zu implementieren, welche den völlig ge­än­derten

ten gefunden werden können. Häufig sind es alte West­

statischen Anforderungen des neuen kreuzrippengewölb-

bauten (z.  B. Essen, Havelberg, Minden, Osnabrück),

ten Hallenchores Rechnung trugen.91 Bedenkt man zudem,

Türme (z. B. Earls Barton, Verden, Worms) und/oder Kryp-

dass die Integration der Krypta den Entwurf einer neuar-

ten (z. B. Chartres, Essen, St. Denis), welche bei späteren

tigen Chorform, des rechteckigen Hallenchores, be­dingte,

Baumaßnahmen konserviert wurden. Manchmal besteht

und das Kryptaobergeschoss samt Dach ohnehin schon

die Kirche noch im Kern aus einem älteren Ge­bäudeteil

niedergelegt wurde, wäre ein kompletter Neubau wohl die

(z. B. Aachen, Rom, Trier).

einfachere Alternative gewesen. Wie oben skizziert erfor-

Dabei lassen sich tendenziell zwei Integrationsansätze

derte die Bewahrung der alten Krypta beim Neubau der

beobachten: zum einen inkorporierende Konzepte (z.  B.

Kathedrale von Chartres unter anderem die Entwicklung

Baden-Baden, Essen, St. Denis, Worms), bei denen die al-

neuer konstruktiver Strukturen, um eine Wölbung von zu-

ten Teile von neuen umhüllt werden, und zum anderen ad-

vor unbewältigten Dimensionen zu realisieren. Ökonomi-

ditive Konzepte (z. B. Minden, Osnabrück, Verden), bei de-

sche Ansätze liefern angesichts des kaum zu überschät-

nen die neuen Teile mehr oder minder unvermittelt an die

zenden Wagnisses und Risikos des höchst ambitionierten

alten anstoßen. Bei den Inkorporationskonzepten werden

Projektes sowie der Komplexität und des Schwierigkeits-

die alten Gebäudeteile dem neuen Kirchenbau sichtbar

grades der baulichen Aufgabe keine plausiblen Erklärun-

einverleibt, so dass das Alte integral im Neuen fortbesteht.

gen für den Erhalt des alten Gebäudeteils. Einfacher und

Neue und alte Kompartimente wirken im Vergleich zu Ad-

kalkulierbarer wäre es gewesen, die Mittelschiffspfeiler

ditionskonzepten stärker als Einheit. Demgegenüber kon-

auf neuen Einzelfundamenten neben den alten Mauern

trastieren die alten Gebäudeteile bei den additiven Kon-

zu gründen, weil somit die Spannweite reduziert worden

zepten stärker mit den neuen und bleiben auf diese Weise

wäre. Stattdessen zeigt sich in ­Chartres eindrucksvoll, wel-

deutlicher als »alt« erkennbar. Des Weiteren bieten die ad-

che Anstrengungen unternommen wurden, um den alten

ditiven Konzepte bei der Bewahrung von Westbauten die

Gebäudeteil zu bewahren. Integration der Krypta und Ent-

Möglichkeit, dem Betrachter von einem gewissen Stand-

wicklung des neuen ­Wölbungssystems, die bisher unabhän-

punkt aus ein gänzlich altes Erscheinungsbild zu vermit-

gig voneinander erklärt wurden, stehen demnach in einem

teln, das sich erst beim Betreten der Kirche ändert.

kausalen Zusammenhang. Auch beim großangelegten Um-

Bei Kirchenbauten wie der Aachener Pfalzkapelle,

bau des Trierer Doms im 11. Jahrhundert lassen sich Vorge-

dem Trierer Dom oder S. Lorenzo fuori le mura in Rom

hensweisen beobachten, welche ökonomische Erwägungen

blieben die alten Teile hingegen so umfangreich erhal-

konterkarieren. Dort hob man nämlich für den Umbau der

ten, dass sie eine dominante Stellung im Baugefüge ein-

Kirche die alten Fundamente aus und setzte stattdessen

nehmen. Die architektonische Entwicklung der Bauwerke

neue Fundamente in die alten Fluchten.92

ließe sich deshalb treffender als Erweiterung und Umbau

Beim Umbau des Havelberger Doms liefern wiederum

der alten Kerne charakterisieren.

die retrospektiven Formen bei der Aufstockung des West-

90 Bingen: Krypta 2. Viertel 11. Jahrhundert, Chor und Mittelschiff 1. Hälfte 15. Jahrhundert (Datierungen nach Horn 2016b, S. 94, 99–107). – St. Goar: Krypta Mitte 12. Jahrhundert, Chorneubau 3. Viertel 13. Jahrhundert, Langhausumbau

Mitte 15. Jahrhundert (Datierungen nach Sebald 2012, S. 134– 141). 91 Horn 2015a, S. 160f. 92 Ebd., S. 39. – Vgl. Kap. 5.1.4.

38

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

baus,93 die in einem deutlichen Gegensatz zu den zeitge-

»Quod usque hodie demonstrat domus ejus facta ecclesiae

nössischen Formen im Innenraum stehen, einen Hinweis

pars maxima in honore beati Petri apostolorum principis

darauf, dass dem altertümlichen Erscheinungsbild des

in sedem episcopalem metropolis dicata, adeo ut vocatur et

Gebäudeteils ein gewisser Wert beigemessen worden sein

sit prima sedes Galliae Belgicae«.98

muss. In die gleiche Richtung weist die Art und Weise des Anschlusses des neuen Langhauses an den alten Westbau

In ähnlicher Weise lässt sich die heterogene, als additiv zu

des Doms zu Minden sowie der frühneuzeitliche Umbau

bezeichnende architektonische Entwicklung des Aachener

des Südwestturms am Dom zu Osnabrück.

Münsters verstehen. Die Bewahrung der alten Pfalzkapelle im Kern der Anlage diente als monumentales Zeugnis für

2.2.2 Die Integration alter Gebäudeteile im Kontext der Tradition des Ortes

die Gründung der Kirche durch Kaiser Karl, wie auch zahlreiche Objekte in der Kirche, zum Beispiel der sogenannte Thron Karls des Großen,99 die an den hochverehrten Herr-

Für die bewegte architektonische Entwicklung des Trierer

scher erinnerten.100 Die architektonische und objektbezo-

Doms konnte der Verfasser aufzeigen, dass die hohe Wert-

gene Zurschaustellung der hochherrschaftlichen Tradition

schätzung, welche man dem Quadratbau kontinuierlich

des Ortes erklärt sich im Kontext der herausragenden poli­

entgegenbrachte, aus der Gründungslegende des Doms

tischen Funktion und Bedeutung des Aachener Münsters

resultiert,

nach welcher die Trierer Bischofskirche aus

als Krönungskirche der deutschen Könige im Mittelalter.101

94

dem Palast der heiligen Helena, Mutter Kaiser Konstan­

Darüber hinaus hob die Kanonisierung Karls 1165 das Aache-

tins des Großen und legendäre Finderin des wahren

ner Münster als Gründung und Grabort eines heiligen Herr-

Kreu­ zes, hervorgegangen sei.

Die frühchristliche Bau-

schers auf eine neue religiöse Ebene und machte die altehr-

substanz wurde demnach als authentisches Relikt der

würdige Architektur zu einem sichtbaren, authentischen Teil

Gründungszeit angesehen, welches die Legende nicht nur

der Heiligen­geschichte.102 So wird verständlich, dass man bei

augenscheinlich bestätigte, sondern die Bischofskirche

der seit 1355 erfolgten Errichtung der gotischen Chorhalle,

darüber hinaus konstituierte.

die wie ein monumentaler, gläserner Schrein die Reliquien

95

Da Helena als Heilige und Kaiserin (Augusta) ver-

des heiligen Kaisers in sich birgt, versuchte, so wenig wie

ehrt wurde, implizierte die legendäre Gründung des Trie-

möglich in den karolingischen Bestand einzugreifen, ob-

rer Doms sowohl eine religiöse als auch eine politische

wohl dies eine komplizierte bauliche Lösung erforderte.103

Dimen­sion, aus denen die Trierer Erzbischöfe besondere

Auf einem Schlussstein des gotischen Chorgewölbes wird

Machtansprüche ableiteten.96 In ihrem Selbstverständnis

Kaiser Karl mit einem Modell des Aachener Münsters

stand den Trierer Metropoliten der Primat über die Pro-

ge­ ­ zeigt, das erkennbar die Architektur der ehemaligen

vinz Gallien und später auch Germanien zu, also der Vor-

Pfalzkapelle vor dem Anbau des gotischen Chorraums

rang vor den germanischen Metropolen Mainz und Köln,

wiedergibt (Abb. 2.30). Damit wird Karl nicht nur als Kir-

vor allem aber der Vorrang vor dem gallischen Erzbistum

chengründer dargestellt, sondern auch – historisch ­korrekt

Reims.97 Als sichtbares Zeugnis der Gründungslegende

– mit dem älteren architektonischen Bestand in Bezug

wurde die vorgeblich authentische Domus Helenae somit

ge­setzt.104

bereits in frühmittelalterlichen Schriftquellen auch als Legitimationsbasis Trierer Machtansprüche angesehen:

93 Kap. 4.2.3. 94 Horn 2015a, S. 22–75, insbesondere S. 34–36. 95 Grundlegend zu Helena: Pohlsander 1995a, zur Verehrung Helenas als Heilige: Ebd., S. 186–200. – Zur Helenalegende und der kaiserlichen Tradition in Trier: Embach 2008 (Legendarik); Heinen 1996, S. 77–117 (Trier als konstantinische Kaiserresidenz mit historischer Kritik der Überlieferung), insbesondere S. 98–117 (Gründung des Doms); Pohlsander 1995b (Legende mit Schwerpunkt heiliger Rock); Ewig 1964; Ders. 1958 (kaiserliche Tradition im Mittelalter; knappe Zusammenfassung: Ders. 1964). 96 Später wurde die Gründungslegende noch um eine apostolische Komponente erweitert (Heinen 1996, S. 58f; Ewig 1958, S. 160–169). 97 Horn 2015a, S. 72–75. 98 Almann, Vita Helenae, 9 (ed. Dräger, S. 22): »Das zeigt bis heute ihr Haus, das der größte Teil der Kirche in der Ehre des glückseligen

Für das Beispiel St. Denis konnte Stephan Albrecht nachweisen, dass es beim Umbau der Kirche vor der Mitte

99 100 101 102 103 104

Petrus, des Ersten der Apostel, geworden ist, zum Bischofssitz der Metropole geweiht, dergestalt, daß sie der erste Sitz der Gallia Belgica genannt wird und ist« (dt. Übersetzung Dräger); vgl. Heinen 1996, S. 99 u. Anm. 3 (ebenso mit dt. Übersetzung). Zum sog. Karlsthron: Schütte 2011; Ders. 2000; Gussone 2000; Beumann 1967. Z. B. Maas/Siebigs 2013 (Überblick der wesentlichen Objekte); Minkenberg 2000 (Krönungsgeschenke im Domschatz); Grimme 1967 (Denkmäler der Karlsverehrung). Grundlegend zu Aachen als Krönungsort: Kramp 2000. Zur Heiligsprechung Karls zuletzt: Görich 2014. Heckner 2002, S. 105. Knopp 2002, S. 13. – Dass das Bild der Pfalzkapelle realiter auch jüngere Anbauten zeigt, war dem Bildhauer des frühen 15. Jahrhunderts – die Chorweihe erfolgte 1414 – mutmaßlich nicht bewusst.

39

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

der Kirche persönlich vornahm.108 Angesichts des überaus hohen religiösen wie auch politischen Referenzniveaus der Geschichtskonstruktion wundert es nicht, dass Abt Suger, der Initiator des Umbaus im 12. Jahrhundert, in seinen Schriften die Bewahrung der alten Bauteile als bedeutsam herausstellt: »ein möglichst großer Anteil der alten Wände, […], wurde dennoch dabei erhalten, damit sowohl in Ehrfurcht vor der alten Weihe als auch der passende Zusammenhalt gemäß dem einmal begonnenen Verlauf für das neue Werk bewahrt werde.«109 Selbst die berühmte Chorinschrift aus der Zeit Sugers, die in der Forschung bisher hauptsächlich aufgrund ihrer Lichtmetaphorik Beachtung fand, thematisiert das Verhältnis zwischen neuem und altem Kirchenbau:

2.30  Aachen, Dom, Schlussstein in der Chorhalle 14. Jh.: Kaiser Karl als Kirchengründer mit Modell des vorgotischen Bauzustands

»Indem der neue Teil als späterer sich dem früheren verbindet, erstrahlt die Halle, die in ihrer Mitte erhellt ist. Denn es erstrahlt, was sich strahlend Strahlendem vermählt, und weil neues Licht es überströmt, strahlt

des 12. Jahrhunderts zu einer »Inszenierung der Vergangenheit«105 kam. Der Ursprung der Tradition des Ortes

das edle Werk, welches dasteht, erweitert zu unserer Zeit«.110

liegt in der Grablege des französischen Nationalheiligen

Schon in der ersten Zeile kommt die Relation von Alt

St. Dionysius, französisch Denis, und seiner Gefährten

und Neu zum Ausdruck. Die Kirche ist nicht neu gebaut

Eleutherius und Rusticus, über deren Gräbern die Kirche

worden, sondern eine »neuer Teil« wurde dem Bestand

der Legende nach errichtet wurde.106 Da sich die fränki-

hinzugefügt. Beide Teile gehen schließlich eine »Verbin-

schen und später französischen Könige mit einigen Aus-

dung« ein, die in einem kausalen Zusammenhang mit

nahmen seit dem 6. Jahrhundert in der Nähe des Hei­

der Lichtmetaphorik in den folgenden Zeilen steht. In

ligengrabes bestatten ließen, erlangte St. Denis eine hohe

der fünften und sechsten Zeile wird dann die Kontinuität

symbolische Bedeutung für die französische Monarchie,

des Bestehenden betont. Die alte Kirche, »das edle Werk«,

was wiederum dazu führte, dass man die Gründung der

wird nicht vom Neubau ersetzt, sondern mit neuer Strahl-

Kirche spätestens seit dem 9. Jahrhundert auf den mero-

kraft in die Gegenwart erweitert. Das ist umso bemerkens-

wingischen König Dagobert zurückführte.107 Sakral über-

werter, als der Chor, auf den sich die Inschrift bezieht, in

höht wurde der Kirchenbau, und damit die königliche

Wirklichkeit ganz neu konzipiert wurde.

Grablege, schließlich durch die seit dem 11. Jahrhundert

Darüber hinaus veranschaulicht der Umbau der Ab-

greifbare Legende, dass in der Nacht vor der geplanten

teikirche St. Denis zur Mitte des 13. Jahrhunderts die me-

Weihe des Dagobertbaus Christus in Begleitung der Apos-

thodischen Probleme der älteren Forschung, retrospektive

tel Petrus und Paulus erschienen sei und die Konsekration

Phänomene der mittelalterlichen Baukultur zu fassen,

Entscheidend ist jedoch, dass er den baulichen Zustand vor der gotischen Erweiterung zeigt. 105 Albrecht 2003. 106 Die älteste bekannte Quelle hierfür ist die um 520 datierte Vita Genovefae (ed. Krusch, S. 204–238). Auch Abt Suger, Initiator des Umbaus vor der Mitte des 12. Jahrhunderts, weist explizit darauf hin: »An diesem Ort freilich hatte der heilige Dionysius 500 Jahre und noch mehr, nämlich von der Zeit Dagoberts bis zu unseren Zeiten, gelegen.« (Suger, administratione 204 (ed. Binding/Speer, S. 335)). 107 Gesta Dagoberti (ed. Krusch, S. 396–425); vgl. Albrecht 2003, S. 128–131. – Damit machte man den Bau rund 150 Jahre jünger, als

er tatsächlich war, denn er wurde nach aktuellem Forschungsstand bereits in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts von der Pariser Adligen Genovefa gegründet (Vita Genovefae (ed. Krusch, S. 204– 238)). Sumner McKnight Crosby konnte die Angaben in der Vita mit den Ergebnissen archäologischer Ausgrabungen zusammenbringen und datiert die Gründung um das Jahr 475 (Crosby 1987, S. 13–27). Im zweiten Viertel des 7. Jahrhunderts kam es zu einer Erweiterung der Kirche unter König Dagobert (rex 623–639) (Ebd., S. 29–50). 108 Lombard-Jourdan 1985; Liebmann 1935. – Zur Bedeutung der legendären Weihe für den Sugerbau: Büchsel 1997, S. 39–44. 109 Suger, administratione 183 (ed. Binding/Speer S. 329). 110 Ebd. 181 (ed. Binding/Speer, S. 326f).

40

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

denn St. Denis wurde in der älteren Literatur zum Initial­ bau der Gotik stilisiert.111 Nikolaus Pevsner bezeichnete den Baumeister sogar als »Schöpfer der Gotik«.112 Aus der

entwickelte und dabei noch die brauchbaren Fundamente des alten Baues benützte.«119

stilgeschichtlichen Perspektive musste der Umbau als

Diese rein ökonomische Interpretation ignoriert jedoch

dezi­dierter Bruch mit der Vergangenheit erscheinen. In­

die große bautechnische Leistung, die erforderlich war,

sofern erkannte etwa Otto von Simson in der Bewahrung

um die neue Kirche über den Mauern der alten Krypta zu

der Krypta allein einen statischen Sinn.113 Hans Sedlmayr,

errichten, denn dies bedingte Gewölbe, deren Spannweite

der von einem Zwang gegenüber der alten Kultstätte

alle bis dato errichteten Kirchenbauten übertraf und somit

schrieb, erkannte zwar die memoriale Dimension der In-

neue konstruktive Ansätze erforderte. Die innovativen trag-

tegration, verkannte jedoch deren Intention und Bedeu-

konstruktiven Ansätze scheinen in diesem Fall ein Resultat

tung, indem er implizierte, dass man gezwungenermaßen

des Wunsches nach Bewahrung der Tradition des Ortes zu

so verfahren musste, dies aber eigentlich nicht wollte.114

sein. Im selben Kontext müsste auch die Bewahrung des

Seit den 1980er Jahren regten sich allerdings Stimmen,

modifizierten Westbaus mit seiner prächtigen Portalanlage

welche der einseitigen stilgeschichtlichen Sichtweise auf

diskutiert werden, welcher in der Literatur zuweilen als Ver-

St. Denis widersprachen und die retrospektiven Aspekte

legenheitslösung beurteilt wurde, die statt einer eigentlich

thematisierten.115 Spätestens seit Stephan Albrecht die

geplanten neuen Westfassade realisiert worden sei.120

»Inszenierung der Vergangenheit«

in St. Denis heraus-

Ein Streben nach Kontinuität und Traditionsinszenie-

gestellt hat, kann von einem epochalen Bruch zwischen

rung würde in Chartres jedenfalls Sinn ergeben, denn die

Romanik und Gotik beim Umbau der Ostteile keine Rede

Kathedrale galt als »Reichsheiligtum Frankreichs«121 und

mehr sein. Stattdessen zwingt die Revision der Archi-

als älteste Kirche auf französischem Boden,122 wo schon

tekturgeschichte von St. Denis zum Überdenken stilge-

vor Christi Geburt die Muttergottes verehrt wurde.123 In

schichtlicher Vorstellungen.

dieser Tradition ist die Verehrung der »Notre-Dame-Sous-

116

Bei der Kathedrale von Chartres steht eine Differen-

Terre«, der »Muttergottes unter der Erde«, an einem Altar

zierung noch aus. Die Kirche gilt allgemein als »Schlüs-

in der Krypta zu verstehen, wo eine Kontinuität des vor-

selwerk der klassischen Gotik«,117 welches »die gotische

christlichen Marienkultes zumindest suggeriert wurde.124

Kathedrale über die Vorstufen der zweiten Hälfte des

Die dort aufgestellte, wenn auch erst im 11. oder 12. Jahr-

12. Jahrhunderts hinaus zur Vollendung bringt«.118 Die In-

hundert geschaffene Marienfigur wurde folglich »virgini

novationskraft und baukünstlerische Leistung beim Wie-

paritura«, Jungfrau, die gebären wird, genannt.125 Der le-

deraufbau der Kathedrale von Chartres sowie der Einfluss

gendäre Gründungskult der Chartreser Kirche, der nach

auf folgende Bauwerke soll hier nicht negiert werden, ganz

mittelalterlichem Glauben ungebrochen weiterexistierte,

im Gegenteil, doch die weiter oben skizzierten Gedanken

wurde also in der alten Krypta verortet. Es erstaunt somit

werfen die Frage auf, ob nicht, ähnlich St. Denis, die In-

kaum, dass die alte Krypta in den gotischen Kathedralbau

szenierung der Tradition des Ortes eine gewichtige Rolle

integriert werden sollte, denn sie konnte als sichtbares

spielte. Hans Jantzen etwa reduzierte den Wert der alten

und in den Augen der Zeitgenossen wohl auch authen­

Krypta auf deren Fundamente, als er schrieb, dass der

tisches Zeugnis des Alters und der Tradition der Chartre-

»Architekt sofort einen Gesamtplan vorlegen konnte, der völlig neue Gedanken für Aufriß und Querschnitt

111 Z. B. Deuchler 2004, S. 220; von Simson 1968, S. 144; Crosby 1953, S. 31. 112 Pevsner 1994, S. 71. 113 Von Simson 1968, S. 144. 114 Sedlmayr 1950, S. 236. 115 Klein 1999, S. 21–25; Ders. 1998, S. 31f; Clark 1993; Kimpel/Suckale 1985, S. 86f; von Winterfeld 1984. 116 Albrecht 2003. 117 Müller/Vogel 2000, S. 405. 118 Jantzen 1960, S. 12. 119 Ebd., S. 101. 120 Z. B. van der Meulen/Hohmeyer 1984, S. 83–125. 121 Kimpel/Suckale 1985, S. 240. 122 Halfen 2007, S. 41.

ser Kirche dienen. Auf den hohen Rang der Chartreser Marienkirche bereits im frühen Mittelalter lässt die Schenkung der sancta 123 Zum vorchristlichen Kultort zuletzt: Halfen 2007, S. 21–40. Tatsächlich gibt es Hinweise auf die Verehrung einer keltischen Muttergottheit in Chartres, so dass es gut möglich scheint, dass die christliche Kirche einen bestehenden Kult assimilierte und ins Christliche transformierte. 124 Van der Meulen/Hohmeyer 1984, S. 185–198. 125 Die Statue vom Typ einer sedes sapientiae wurde im Zuge der französischen Revolution 1793 zerstört, ist aber durch Zeichnungen und Beschreibungen dokumentiert worden. Seit 1976 befindet sich eine Nachbildung in der Krypta (van der Meulen/Hohmeyer 1984, S. 187–190). Roland Halfen wies jüngst darauf hin, dass Maria auf den bildlichen Darstellungen mit einer Eichel- bzw. Eichenblatt­ krone zu sehen ist, die er als Verweis auf die keltischen Wurzeln des Kultes deutet (Halfen 2007, S. 32–37).

41

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

camisia, der Tunika, die Maria bei der Geburt Christi ge­

serlichen Tradition des Stifts, welche die privilegierte Stel-

tragen haben soll, durch Kaiser Karl den Kahlen 876 schlie-

lung des Stifts legitimierte. Die alten Gebäudeteile waren

ßen, die Chartres endgültig zum wichtigsten Marienhei-

dabei in ein umfassendes Bezugssystem materieller Er­

ligtum Frankreichs erhob.126 Zugleich zeigt sich in diesem

innerungsträger eingebettet, das auch bedeutsame Teile

Vorgang eine enge Bindung der Chartreser Kirche an das

der Ausstattung umfasste, wobei die memorative Bedeu-

französische Königtum, die sich auch beim Wiederaufbau

tung der einzelnen Artefakte im Gesamtkontext klar er-

im 13. Jahrhundert beobachten lässt und somit auch eine

sichtlich wurde.

politische Dimension der Tradition des Ortes belegt.127 Für den Umbau des ehemaligen Essener Münsters um

Die Bewahrung der Krypta unter dem Chor der ehemaligen Stiftskirche129 St. Goar kann möglicherweise da-

1300 konnte der Verfasser nachweisen, dass die Inkorpo-

mit erklärt werden, dass sie das Grab des Kirchenpatrons

ration der Krypta wie auch des Westbaus einem übergrei-

und -gründers beherbergte.130 Die altertümliche Archi­

fenden, ausgesprochen vielschichtigen und komplexen

tektur der Krypta wurde auf diese Weise mit dem heiligen

Konzept folgt, die große Tradition des Ortes trotz der um-

Gründer Goar in Beziehung gesetzt und suggerierte einen

fassenden Modernisierung mittels der Architektur und

Zeugniswert für die Altehrwürdigkeit seiner Kirche.

der Ausstattung sichtbar zu vergegenwärtigen.128 Die Esse-

Beim Neubau der Magdeburger Kathedrale seit dem

ner Tradition, auf die man im 13. und 14. Jahrhundert zu-

Anfang des 13. Jahrhunderts kam es, obwohl oder gera­de

rückschaute, definierte sich als ein mehrschichtiges Kon-

weil kein alter Gebäudeteil in situ integriert werden

strukt, dessen Kern die Gründung des Damenstifts durch

konnte, zu einer regelrechten Inszenierung der histori-

den in Essen als Heiligen verehrten sächsischen Bischof

schen Verbundenheit mit dem Kaiser Otto dem Großen.131

Altfrid bildet, welcher im Münster auch begraben liegt.

Auch die Bewahrung der Krypta im ehemaligen Dom zu

Die daraus hervorgehende Verflechtung des Stifts mit der

Zeitz könnte mit der Gründung des Bistums durch den

sächsischen Elite führte dazu, dass im 10. und 11. Jahr-

ersten sächsischen Kaiser im Zusammenhang stehen.132

hundert Angehörige des ottonischen Kaiserhauses der

Aufgrund der kaiserlichen Tradition des Ortes bekommt

Essener Frauengemeinschaft als Äbtissinnen vorstanden,

auch die Nutzung der Krypta im 17. und 18. Jahrhundert

wodurch das adlige Damenstift einen privilegierten Status

als dynastische Grablege der Herzöge von Sachsen-Zeitz,

erlangte. So unterstand das Stift in der kirchlichen Ord-

welche die Kirche nach dem Dreißigjährigen Krieg zu ih-

nung direkt dem Papst und in der weltlichen Ordnung un-

rer Schlosskapelle umfunktionierten, eine tiefer gehende

mittelbar dem König, womit wiederum besondere Rechte

Bedeutung.

wie das Einsetzen eines Vogtes verbunden waren und sich

Das Bistum Havelberg wurde nach einer mittelalter­

ein eigener geistlicher Herrschaftsbereich mit der Äbtissin

lichen Urkunde 946 von Kaiser Otto dem Großen gegrün-

als Reichsfürstin an der Spitze herausbildete. Der groß­

det.133 Allerdings wurde der Bistumssitz beim Slawen­

angelegte Umbau des Essener Münsters in den Jahrzehn-

aufstand 983 zerstört und konnte erst in Folge des

ten um 1300 vollzog sich just zu einer Zeit, als die Kölner

sogenannten Wendenkreuzzugs 1147 wiederhergestellt

Erzbischöfe das vornehme Damenstift ihrem Machtbe-

werden.134 Es wäre zu überlegen, inwieweit die altertüm-

reich einverleiben wollten, so dass Rang und Status des

lichen Züge vor allem des signifikanten Westriegels des

Stifts in hohem Maße gefährdet waren. Der Westbau und

Havelberger Doms mit der Tradition des Ortes in Verbin-

die Krypta, welche man in dieser Krisensituation weitge-

dung gebracht werden können. Zwar wurde der Westriegel

hend in alter Form dem erneuerten Kirchenkörper einver-

erst im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts erbaut, doch

leibte, stammten aus der Blütezeit des Stifts, als ottoni-

könnte gerade dieser vergleichsweise späte Wiederauf-

sche Prinzessinnen an dessen Spitze standen, und dienten

bau einen visuellen Verweis auf die tatsächlich ältere Ge-

somit als signifikante und authentische Zeugnisse der kai-

schichte der Institution und ihre kaiserlichen Gründung

126 127 128 129

132 Zur Gründungsgeschichte: Schmitt, R. 2008a, S. 11. 133 Zur mittelalterlichen Geschichte des Bistums zuletzt: Bergstedt 2012. – Die Richtigkeit des Datums wird in der Literatur kontrovers diskutiert (Ebd., S. 11; Hoffmann 2012a, S. 48–50). Unstrittig ist allerdings die Gründung durch Otto den Großen, und dieser Sachverhalt ist für die mittelalterliche Traditionsbildung im Bistum entscheidend. 134 Bergstedt 2012, S. 12.

Halfen 2007, S. 52–54. Kimpel/Suckale 1985, S. 244. Horn 2015a, S. 179–186. 1527 wurde die Stiftskirche durch den hessischen Landgrafen Philipp I. in eine evangelische Pfarrkirche umgewandelt. 130 Sebald 2012, S. 170. – Die um 1330 datierte Grabplatte der vor 1660 abgebrochenen Grabtumba befindet sich heute in der katho­lischen Pfarrkirche St. Goar und St. Elisabeth in St. Goar (Ebd., S. 470–474). 131 Horn 2015a, S. 93–143.

42

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

umso wichtiger gemacht haben. Derart artifiziell erzeugte

weltlichen Herrschaftsarchitektur gibt: Beim ­Schlossbau

Spuren der Vergangenheit lassen sich in kleinerem Maß-

lässt sich eine Integration alter Türme beobachten, wie

stab anhand der Imitation alter Formen nicht selten be­

etwa der romanische »Mantelturm« des Altenburger

obachten, wie an anderer Stelle ausgeführt wird.135

Schlosses.140 In seiner grundlegenden Studie zur »herr-

In Osnabrück wurde Karl der Große als Bistumsgrün-

schaftlichen Metaphorik in der Residenzarchitektur«141

der verehrt. Hiervon zeugen Artefakte im Domschatz,

konnte Müller aufzeigen, dass die alten Gebäudeteile oft-

die mit dem Kaiser in Verbindung gebracht wurden.136

mals dem dynastischen Gedächtnis dienten und damit

Der Pariser Abt Claude Joly setzte die Architektur der

einhergehend einen Rechtscharakter besaßen.142 Die alten

ihm klein und gewöhnlich erscheinenden Domkirche,

Türme setzten somit nicht nur symbolische Herrschafts-

die er 1646 besichtigte, mit einer örtlichen Überlieferung

zeichen, sondern fungierten auch als steinerne Urkunden

in Beziehung, derzufolge der Dom zu Osnabrück die äl-

der Herrschaftslegitimation und -gewalt. Ein interessantes Untersuchungsfeld böte in d ­ ieser

teste Kirche Niedersachsens sei, welche Karl der Große Damit berichtete er, kaum 100 Jahre

Hinsicht wohl die ehemalige Stiftskirche St. Paul in

nachdem der Südwestturm in auffallend retrospektiven

Worms, die Bischof Burchard an Stelle der 1002 abge­

Formen erneuert wurde, implizit von der vermeintlichen

brochenen Salierburg errichtete, so dass bereits die Wahl

Beweiskraft des alten Gebäudes in der Osnabrücker Tra-

des Ortes als Zeichensetzung neuer Herrschaft verstan-

dition.

den werden kann.143 Bestätigung findet die symboli-

gründen ließ.

137

Auch unterhalb der Ebene von Bischofskirchen finden

sche Neubesetzung des Ortes in einem Passus der Vita

sich Spuren bedeutungsschwerer Traditionsbildungen.

Burchardi – das Stift sei aus den Steinen der abgerissenen

Für die Liebfrauenkirche zu Osnabrück überliefert die

Burg erbaut worden –,144 wobei es unerheblich ist, ob dies

Chronik des Bistums, dass sich an ihrer Stelle eine Burg

tatsächlich zutraf. Es drängt sich insofern die Frage auf,

des sächsischen Königs Widukind befunden habe, wel-

wie die auf ungewöhnliche Weise vollzogene Integration

che nach dessen Bekehrung durch Karl den Großen zum

der beiden Westtürme aus der Gründungszeit vor diesem

christlichen Glauben niedergelegt und durch die Marien-

historischen und politischen Hintergrund zu verstehen

kirche ersetzt worden sei.138 Es stellt sich die Frage, ob die

ist.

Inkorporation des alten Westturms mit jener Gründungs-

Nun lassen sich vermutlich nicht alle alten Gebäude-

legende in Verbindung gebracht werden könnte und ob

teile in Kirchen, die zu einem späteren Zeitpunkt umge-

man besondere Rechte aus der Legende ableitete. In den

baut wurden, als bewusst eingesetzte Erinnerungszeichen

frühneuzeitlichen Quellen wird jedenfalls der Westturm

interpretieren. Auch können wirtschaftliche Motive, die

als Beweis für das hohe Alter der Kirche angeführt, da er

in solchen Fällen immer wieder angeführt werden,145 nicht

erkennbar älter als der Rest der Kirche sei und man dies

gänzlich negiert werden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob

auch an der Bausubstanz ablesen könne:

ökonomische Vorteile tatsächlich im Vordergrund stan-

»ist vormals eine alte kleine Kirch gestanden, wie solches aus vielen Anzeigungen beydes innerhalb und außerhalb der Kirchen klärlich zu ersehen. […] So kann man es außerhalb der Kirchen bei der Wage augenscheinlich sehen, daß die Kirche hernach an dem Turm gebawet sey, den der Turm hat viele andere Steine als an der Kirche seyn.«139

den oder ob sie nicht vielmehr als erfreulicher Nebeneffekt mitgenommen wurden. Insbesondere bei Kirchenbau­ten, die eine besondere religiöse, historische und/oder politische Bedeutung gehabt haben, liegt der Verdacht nahe, dass die Spuren der Vergangenheit gewollt sichtbar gelas­ sen wurden.146 In derartigen Fällen sind tiefergehende Einzelstudien erforderlich und wünschenswert, um die einzelnen Spuren in einem ganzheitlichen Kontext disku-

Matthias Müller machte darauf aufmerksam, dass es zum

tieren zu können und damit die in dieser Arbeit angelegte

Erhalt alter Kirchtürme eine auffällige Parallele in der

argumentative Basis zu verbreitern.

135 Kap. 4.2. 136 Schnackenburg 2005, S. 327–330; grundlegend zur Karlsverehrung in Osnabrück: Queckenstedt 2005. 137 Claude Joly: Osnabrück im Jahre 1646, zitiert bei Schnackenburg 2005, S. 327f. 138 Osnabrücksche Chronika IV, S. 193. 139 Ebd., S. 144.

140 141 142 143 144 145 146

Müller 2011, S. 31f; Ders. 2004, S. 159 mit Anm. 48. Müller 2004. Ebd., S. 151–180. Weinfurter 2003, S. 9–11; Bönnen 2002, S. 33f. Vita Burchardi (ed. Boos, S. 110). Z. B. Kurmann-Schwarz/Kurmann 2001, S. 85 (Chartres, Westbau). Zu den verschiedenen Traditionen des Ortes siehe Kap. 6.

43

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.2.3 Die Integration von älteren Gebäudeteilen in dynamischen Wandlungsprozessen

dass die zum Teil recht unterschiedlich verlaufenden Prozesse architektonischer Entwicklung, nämlich Integration jahrhundertealter Gebäudeteile einerseits und dynami-

Bei Kirchenbauten, die stilistisch ein heterogenes Erschei-

sche Wandlungsprozesse andererseits, bisher nicht als sol-

nungsbild aufweisen, müssen hinsichtlich der zeitlichen

che wahrgenommen wurden.

Differenz der Gebäudeteile zwei Gruppen unterschieden

Ein anschauliches Beispiel für einen dynamischen

werden. Auf der einen Seite stehen die zuvor behandelten

Wandlungsprozess liefert die architektonische Entwick-

Beispiele, bei denen bestehende Gebäudeteile in einen

lung des Freiburger Münsters im Mittelalter (Abb. 2.31).147

Neubau integriert wurden, der meist Jahrhunderte jünger

In übergreifenden Publikationen wird entweder das roma-

ist, so dass eine große zeitliche Distanz zwischen den Tei-

nische Querhaus oder das gotische Langhaus oder aber

len liegt. Auf der anderen Seite gibt es Kirchen, bei denen

der spätgotische Langchor thematisiert, so dass wechsel­

quasi im Anschluss an die Fertigstellung eines Gebäude­

seitige Bezüge zwangsläufig unbeachtet bleiben und

teils der Umbau eines weiteren Teils in abweichender

eine ganzheitliche Betrachtung der Kirchenarchitektur

Formensprache begonnen wurde. Diese Gebäude weisen

aus­bleibt.148 Nach derzeitigem Forschungsstand verging

ebenso ein stilistisch heterogenes Erscheinungsbild auf,

zwischen der Fertigstellung der Ostteile des Freiburger

doch resultiert dieses nicht aus einer bewussten Integra­

Münster im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts und dem

tion weitaus älterer Gebäudeteile, sondern aus einem

Baubeginn für ein neues Langhaus nur wenig Zeit, viel-

dynamischen Prozess architektonischer Wandlung, was

leicht gingen die beiden Baukampagnen sogar fließend in-

Konsequenzen für das Verständnis der Bauten hat.

einander über.149 Das neue Langhaus wurde jedoch nach

In der Literatur wird ein unmittelbar aufeinanderfol-

einem gänzlich neuen Plan errichtet, bei dem es nicht

gender Wechsel in der architektonischen Struktur eines

nur zu einer beträchtlichen Steigerung der Dimensionen

Bauwerks meist mit einem Planwechsel erklärt, welcher

kam, sondern auch zu einem Aufgreifen von Formen der

den stilgeschichtlichen Fortschritten geschuldet sei, und

französischen Gotik, die sich von den spätromanischen

darüber hinaus oft noch an einen Wechsel des Bauherren

Ostteilen deutlich absetzen. Der auf diese Weise entstan-

oder des Baumeisters gekoppelt. Dieses Denkmuster hat

dene Kontrast zwischen Ostteilen und Langhaus erzeugt

wesentlich dazu beigetragen, dass die jeweiligen Gebäude­

den Eindruck zweier unterschiedlicher Zeitschichten, wie

teile in der Regel separiert betrachtet werden. Mit der glei-

man ihn von anderen Kirchenbauten mit alten Gebäude-

chen Herangehensweise nähert sich, wie weiter oben ge-

teilen kennt. Die Teile liegen allerdings nicht Jahrhun-

zeigt wurde, die Architekturgeschichtsschreibung in der

derte auseinander, sondern nur wenige Jahre. Trotzdem

Regel Bauwerken, die alte Gebäudeteile zu einem späte-

ähneln die gestalterischen Strategien zur Verbindung der

ren Zeitpunkt integrierten, wie zum Beispiel dem Essener

beiden verschiedenen Kompartimente denjenigen, die bei

Dom. Die isolierte Betrachtung einzelner Gebäudeteile

der Integration altehrwürdiger Gebäudeteile beobachtet

kann folglich als der übliche Zugriff auf stilistisch hetero-

werden können. So überfasst das neue Langhausdach den

gene Bauwerke bezeichnet werden.

romanischen Vierungsturm gänzlich, doch bleibt dieser

Hierbei ist unstrittig, dass Studien zu einzelnen Gebäudeteilen erforderlich sind, um spezifische Fragestellun­

im Innenraum, von der Belichtung abgesehen, in seiner Wirkung unverändert (vgl. Abb. 5.01; 5.03).150

gen, etwa nach der Datierung des Gebäudeteils oder seiner

Die Erneuerung des Chores begann 1354 wiederum

Stellung im zeitlichen Kontext, zu untersuchen. Allerdings

nur wenige Jahrzehnte nach der Fertigstellung der Bau-

verhinderte die primär separierende Annäherung an sti-

kampagnen am Langhaus und dem weitgehend parallel

listisch heterogene Bauten oftmals einen ganzheitlichen

ausgeführten Westturm und wurde abermals nach einem

Blick auf die Gebäudestruktur, was auch zur Folge hatte,

neuen Plan begonnen.151 Die Dynamik der architektoni-

147 Der architektonische Wandlungsprozess des Freiburger Münsters wird an anderer Stelle detaillierter behandelt (Kap. 5.1.3). 148 Z. B. von Winterfeld 2001, S. 45f (Querhaus); de la Riestra 1998, S. 200 (Westturm). – Das Problem zeigt sich auch bei der jüngsten grundlegenden Monographie zum Münster, in der die einzelnen Bauphasen teils vorzüglich abgehandelt werden, aber eine epochenübergreifende Gesamtbetrachtung fehlt (Münsterbauverein 2011). 149 Eine sichere Datierung der Ostteile und des Langhauses liegt noch nicht vor. Zuletzt setzten Volker Osteneck und Frank Löbbe­cke die

Bauzeit der Gebäudeteile »vor 1218 und nach 1235« an (Dies. 2011, S. 52) und Stefan King den Baubeginn des Langhauses relativ spät »um 1240« (Ders. 2011, S. 58). 150 Vgl. Kap. 5.1.3. 151 Die Fertigstellung des Langhauses wird aufgrund dendrochrono­ logischer Daten für den Dachstuhl in das erste Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts datiert, die Vollendung des Westturms im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts angesetzt (Laule 2011, S. 69). Zum spätgotischen Chor: Flum 2011; Ders. 2001.

44

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.31  Freiburg, Münster, Westturm 13./14. Jh., Langhaus 13. Jh., Querhaus 12./13. Jh., Chor großenteils 15. Jh.

45

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

schen Entwicklung hielt also weiter an. Dennoch lag eine andere Ausgangssituation als beim Langhausneubau vor, denn Querhaus und Vierung, an die man nun von der anderen Seite aus anschloss, waren zur Mitte des 14. Jahrhunderts bereits mindestens 120 Jahre alt. Entsprechend fällt der Kontrast an der Nahtstelle umso deutlicher aus.152 Das Resultat des dynamischen architektonischen Wandlungsprozesses bildet der dem Freiburger Münster eigentümliche harmonische Dreiklang in der Horizontalen aus hochgotischem Chor und etwa gleich langem spätgotischen Langchor mit dem alten Querhaus als Bindeglied dazwischen. Bei der Umgestaltung des Straßburger Münsters im 13. Jahrhundert begann der Bau des gotischen Langhauses, wie im nahen Freiburg, nur kurze Zeit nach der Fertigstellung der spätromanischen Ostteile wohl in den 1240er Jahren (Abb. 2.32).153 Die Architektur der Ostteile kann somit noch keinen Alterswert besessen haben, vielmehr führte man den Umbau der Bischofskirche im Langhaus nach einem anderen Konzept weiter. Wie im nahen Freiburg strebte man aber auch in Straßburg eine gewisse Synthese der Teile an, wählte jedoch eine andere Strategie. Die Raumhöhen des Langhauses wurden auf die bestehenden Ostteile abgestimmt, so dass der alte Turm im

2.32  Straßburg, Münster, Zeichnung 1671, Fertigstellung Ostteile und Baubeginn Langhaus 1240er Jahre

äußeren Erscheinungsbild präsent blieb.154 Die für hochgotische Architektur relativ gedrungenen Proportionen des Langhauses des Straßburger Münsters erklären sich

torischen Zeugniswert der gewachsenen Architektur her-

somit aus der gewollten Einbindung der alten Ostteile

ausstellte:

oder, anders­herum betrachtet, aus der gezielten Abstimmung des neuen Langhauses auf den Bestand. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass romanische Glasfenster mit Kaiserdarstellungen aus dem alten Langhaus im neuen Nordseitenschiff wiederverwendet wurden.155 Kurz nach der schriftlich überlieferten Weihe des Langhauses 1275 begann wiederum eine Kampagne zum Neubau des Westbaus, der abermals einem neuen Plan mit gesteigerten Dimensionen folgte.156

»Es scheint, dass der zweimalige Wechsel des Stils und der Dimensionen, der am Straßburger Münster im 13. Jahrhundert stattgefunden hatte und der ­jeweils mit Wandlungen bei der Bauträgerschaft sowie der Weiterentwicklung des Verständnisses der sekundären Funktionen des Münsters verbunden war, den Anlass dazu lieferte, den Bau insgesamt als ein Monument von Geschichte und Geschichtlichkeit zu erkennen.«157

War die ältere Forschung in erster Linie an einer se-

Ein weiteres Beispiel, das ebenfalls in methodischer Hin-

paraten Betrachtung der Gebäudeteile vor dem Hinter-

sicht interessant ist, bietet der Dom zu Halberstadt, des-

grund einer Stilgeschichte interessiert, so eröffnete Bruno

sen Westbau im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts west-

Klein eine ganzheitliche Perspektive auf das Straßburger

lich vor der bestehenden Kirche neu erbaut wurde. Nach

Münster, indem er vor dem Hintergrund der zunehmen-

der Fertigstellung des Westbaus entschied man sich nach

den Partizipation der Kommune am Münsterbau den his-

der Mitte des 13. Jahrhunderts zu einem Neubau des Lang-

152 Vgl. Kap. 3.4. 153 Langhaus: Jordan/Lehni 2007; Schurr 2007, S. 88–97. – Ostteile: Bengel 2011; Meyer/Kurmann-Schwarz 2010; Meyer 2007. 154 Der heute sichtbare Vierungsturm, welcher das Langhaus deutlich überragt, ist allerdings ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts.

155 Kurmann 1997. 156 Hierzu zuletzt: Klein 2008, S. 87–90. 157 Ebd. 2008, S. 92.

46

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

trächtlichen Steigerung der Raumhöhen in den Schiffen einher, während man die Breite des alten Langhauses nur wenig überschritt. Blendbögen in den Ostwänden des Westbaus belegen in Verbindung mit einer Stützstruktur, die erkennbar auf eine Wölbung hin ausgelegt wurde, dass die Seitenschiffe zunächst weitaus niedriger ausgeführt werden sollten (Abb. 2.34). Aufgrund des ungewöhnlich großen Unterschieds zwischen dem zuerst geplanten Gewölbeniveau und dem tatsächlich realisierten, wurde in der Literatur eine Planung von Emporen erwogen,160 für die sich am baulichen Bestand aber keinerlei Hinweise finden lassen. Hingegen ist die zunächst geplante Höhe gut für die seinerzeit noch bestehenden ottonischen Seitenschiffe stellbar. Insofern stellt sich die Frage, ob nicht urvor­

2.34  Halberstadt, Dom, Nordseitenschiff, Blick zum Westbau, Dienste im Hintergrund 13. Jh., Dienste im Vordergrund 15. Jh.

2.33  Halberstadt, Dom, rechts: Westbau 2. Viertel 13. Jh., links: Langhauswestjoche 3. Viertel 13. Jh. hauses, der mit der Errichtung von neuen Westjochen an der Stelle des vorherigen Westbaus begann.158 Mit ihren gotischen Formen französischer Prägung kontrastieren die westlichen Langhausjoche deutlich mit der spätromanischen Formensprache des nur wenig älteren Westbaus (Abb. 2.33). Eine für 1220 überlieferte Weihe wird auf Wölbungs­ arbeiten im alten Dom bezogen,159 welche demzufolge in der Amtszeit des Bischofs Friedrich II. (ep. 1209–1236) ihren Abschluss fanden. Die bisher geläufige Datierung »nach 1236« für den Baubeginn am Westbau von Ernst Schubert basiert auf der Annahme, dass derselbe Bischof keinen Neubau seiner Kirche veranlassen würde. Abgesehen von der historisch fragwürdigen Kopplung an die Person des Bischofs impliziert diese Argumentation, dass zum Zeitpunkt des Baubeginns am Westbau bereits ein kompletter Neubau der Halberstädter Bischofskirche geplant gewesen wäre. Die Neukonzeption für die Langhauswestjoche ging neben dem Wechsel der Formensprache mit einer be158 Datierung: Nicolai 1997, S. 51; Wedemeyer 1997, S. 69; Flemming/ Lehmann/Schubert 1973, S. 18. Die Fertigstellung des Langhauses erfolgte erst im 15. Jahrhundert, aber in bemerkenswert retrospektiven Formen, die an anderer Stelle thematisiert werden (Kap. 4.2.1).

159 Flemming/Lehmann/Schubert 1973, S. 14. 160 Dehio Sachsen-Anhalt 2002, S. 317 [Ernst Schubert]; Flemming/ Lehmann/Schubert 1973, S. 17; Giesau 1912, S. 75f.

47

2.2  DIE INTEGRATION ALTER GEBÄUDETEILE

2.35  Mainz, Dom, Ansicht von Nordwesten sprünglich ein Anschluss an die Seitenschiffe des alten

wähnt, weil sie ein Bewusstsein für Kontinuitäten und

Langhauses geplant war. Dieser Erklärungsansatz erfor-

Brüche in der Architektur belegt und zeigt, dass es zu kurz

dert jedoch eine Abkehr von der Vorstellung, dass von

greifen würde, die gravierenden Gestaltwechsel allein als

vornherein ein Umbau der ganzen Kirche geplant war, wo-

stilgeschichtlichen Fortschritt zu verstehen (Abb. 2.35;

durch im Übrigen auch eine frühere Datierung des Baube-

vgl. Taf. 5.07).162 In den 1120er/30er Jahren kam ein Umbau

ginns am Westbau in die 1220er Jahre möglich wird.

Es

des Langhauses in Gang, der formal an den rund 20 bis 30

sieht stattdessen so aus, als wäre zunächst lediglich eine

Jahre früher begonnenen Umbau der Ostteile anschloss,

partielle Erweiterung der Kirche nach Westen beabsich-

aber nach der Errichtung der Mittelschiffswände ins Sto-

tigt gewesen. Erst der neue Plan für die Westjoche lässt

cken geriet. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts wurden die

161

mit seiner beträchtlichen Dimensionssteigerung die Ab-

Arbeiten am Langhaus wieder aufgenommen und nur

sicht zum Neubau zumindest des Langhauses erkennen.

kurze Zeit später mit einem großangelegten Umbau des

Die charakteristische Gestalt des Doms zu Halberstadt als

Westquerhauses und Westchores nach einem gänzlich

gotischer Kirchenbau mit einem alten Westbau ist folglich

neuen Plan begonnen. Für den hiesigen Untersuchungs-

das Resultat eines dynamischen Wandlungsprozesses.

rahmen ist dabei von Interesse, dass die beiden Gebäude-

Die architektonische Entwicklung des Doms zu Mainz

teile jeweils nach einem anderen Muster gebaut wurden.

im 12. und frühen 13. Jahrhundert sei als Fallbeispiel er-

Während nämlich die Westteile einem neuen Plan mit

161 Wenn der Westbau zunächst als partielle Erweiterung geplant war, fehlt der Datierung »nach 1236« die Begründung, weil der Bau dann sehr wohl unter Bischof Friedrich II. begonnen worden sein kann.

Der Verfasser schlägt demgegenüber eine Datierung in die 1220er Jahre vor (Horn 2017, S. 15–18). 162 Grundlegend zur Baugeschichte: von Winterfeld 2011; Ders. 2010.

48

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

weitgehend neuen Formen folgen, wurde das Langhaus,

13. Jahrhunderts mit der Kommune ein zweiter Akteur als

wie an anderer Stelle ausgeführt,

nach dem ursprüng­

Bauherr zunehmend in Erscheinung. Die Dynamik des

lichen Plan fertiggestellt und nur im Detail modifiziert.

Wandlungsprozesses im 13. Jahrhundert, als gleich zwei

Das heißt, dass das Nebeneinander von zwei formal un-

Gebäudeteile jeweils nach einem grundlegend neuen Plan

terschiedlichen Gebäudeteilen, die jeweils auf verschie-

errichtet wurden, hängt, wie Bruno Klein zeigen konnte,

dene Zeitschichten verweisen, nicht nur hingenommen,

mit der zunehmenden Partizipation der Kommune am

sondern planvoll hergestellt wurde.

Münsterbau zusammen. Insofern spiegeln die Brüche und

163

Bei der Integration jahrhundertealter Gebäudeteile weist vieles darauf hin, dass der Kontrast zwischen Altem und Neuem gewünscht war.164 Das wirft die Frage auf, ob nicht auch der formale Kontrast zwischen zwei zeitlich kurz aufeinanderfolgenden Gebäudeteilen – als Resultat eines dynamischen Wandlungsprozesses – in einigen Fällen gewünscht war oder zumindest billigend in Kauf genommen wurde. Am Mainzer Dom war das anscheinend der Fall, denn

Dimensionswechsel am Straßburger Münster auch die Entwicklung der Bauträgerschaft wieder: »Diese Kathedrale war nicht das Symbol einseitiger politischer Parteinahme, doch war sie lesbar als Monument der Geschichte der Stadt Straßburg. Auf diese Weise vermochte sie die Stadt sehr komplex und vor allem in ihrer Historizität, d. h. als ein geschichtlich gewachsenes Gebilde zu repräsentieren.«167

der Kontrast zwischen Chor und Langhaus wurde schließ-

Es wäre sicher lohnenswert, zu untersuchen, ob die hete­

lich im Rahmen einer Kampagne erzeugt. Der Chor sollte

rogene Entwicklung des Freiburger Münsters auf eine

offensichtlich gegenüber dem Langhaus neu und präch-

ähnliche Weise erklärt werden könnte. Schließlich lässt

tig wirken, das Langhaus wiederum mit seinem zur Schau

der Übergang der Bauträgerschaft von den Herzögen von

gestellten höheren Alter auf die Tradition der Kirche ver-

Zähringen auf die Kommune Parallelen zu Straßburg er-

weisen.

kennen.

Am Halberstädter Dom könnte in diesem Sinne der

Am Beispiel des Freiburger Münsters lässt sich darüber

formale Bruch beim Neubau des Langhauses befürwortet

hinaus nachvollziehen, wie sich das Modell sukzessiver,

worden sein, weil vor der Folie des jüngeren gotischen Kir-

vollständiger

chenbaus das höhere Alter des Westbaus hervorgehoben

widerspiegelt, die wiederum die Vorstellung von den Ent­

wurde. In Analogie zu Bauwerken, wo jahrhundertealte

wicklungsprozessen beeinflussen. So findet sich in der

Westbauten integriert wurden, wie an den Domen zu Min-

Literatur für den Bauzustand des Freiburger Münsters zu

den oder Essen, wäre der Westbau somit zu einem bau-

Beginn des 13. Jahrhunderts häufig die Bezeichnung »ber­

lichen Zeichen für den Alterswert der Kirche geworden,

tholdinisches Münster«, die auf den mutmaßlichen Ini-

Bauwerke

in

den

Begrifflichkeiten

auch wenn der zeitliche Unterschied tatsächlich nicht

tiator des stauferzeitlichen Umbaus, Herzog Berthold V.

groß ist. Der Verweis auf die Vergangenheit wäre dabei

von Zähringen, rekurriert, wohingegen die ursprüngliche

nicht architekturgeschichtlich korrekt auf die Bausub­

Gestalt der Kirche nach ihrem herzöglichen Gründer als

stanz zu beziehen, sondern symbolisch auf die Geschichte

»konradinisches Münster« bezeichnet wird.168 Es gab aber

der Institution. Der Dom zu Halberstadt galt im Mittel­

keinen bertholdinischen Bau, welcher einen konradini-

alter schließlich als Gründung Karls des Großen und

schen Bau ersetzte, sondern »lediglich« eine Neugestal-

konnte damit eine bedeutsame Tradition des Ortes auf-

tung der Ostteile, die mutmaßlich von Herzog Berthold V.

weisen, wie es im Dom mittels zahlreicher Ausstattungs-

initiiert wurde. Das Langhaus wurde zu einem späterem

stücke visuell herausgestellt wurde.165

Zeitpunkt nach einem anderen Plan neu gebaut. Insofern

Das Straßburger Münster galt im Mittelalter auf-

vermitteln die Bezeichnungen ein falsches Bild vom Pro-

grund seiner gewachsenen Gestalt als »Monument von

zess baulicher Entwicklung, weil eine konsekutive Abfolge

Geschichte und Geschichtlichkeit«,

wie es Bruno Klein

von vollständigen Gebäuden statt einer partiellen Wand-

formulierte. Neben dem Bischof und Domkapitel, dass

lung des Kirchenbaus suggeriert wird. Dieser Aspekt ist

daran interessiert war, die Tradition und Kontinuität der

von grundsätzlicher methodischer Relevanz, weil er in

Institution zum Ausdruck zu bringen, trat im Laufe des

wechselseitiger Wirkung mit der linearen stilgeschicht­

163 Kap. 4.2.1. 164 Kap. 2.2.2. 165 Fuhrmann 2006; Ders. 2002.

166 Klein 2008, S. 92. 167 Ebd., S. 93. 168 Z. B. Erdmann 1970, S. 12, 17.

166

49

2.3  DIE INTEGRATION ALTER BAUTEILE

lichen Modellbildung steht. So gab Volker Osteneck zu be-

Plänen komplett erneuert wurden, war zu Beginn des

denken, dass der Bezeichnung »Bertholdinischer Bau« die

Jahrhunderts offensichtlich noch nicht absehbar.

Gefahr innewohnt, die gesamte Kampagne in die Zeit des

Die genannten Beispiele zeigen, dass sich die verbrei-

Herzogs zu datieren.169 40 Jahre später belegte Osteneck

tete Vorstellung, bei einer mittelalterlichen Baukampa-

selbst, dass seine Bedenken begründet waren, denn die

gne solle stets ein Vorgängerbau komplett ersetzt werden,

Arbeiten an den Ostteilen dauerten nach Ausweis neuerer

einmal mehr als problematisch erweist, weil sie die Reali-

dendrochronologischer Daten noch rund zwei Jahrzehnte

tät mittelalterlicher Baukultur unzulässig verkürzt.172 Die

über den Tod des Herzogs 1218 hinaus an.170

Indizien sprechen deutlich dafür, dass man in manchen

Beim Straßburger Münster, dessen Ostteile teilweise

Fällen zunächst lediglich die Erneuerung eines Gebäude-

zeitgleich mit den Freiburgern im Bau waren, indizie-

teils beabsichtigte, ohne einen Plan für einen gänzlichen

ren die im gotischen Langhaus erhaltenen romanischen

Neubau der Kirche zu verfolgen. Dieses Vorgehen steht

Fenster, dass man zunächst von einer Bewahrung des al-

offenkundig mit der weiter oben diskutierten Bewahrung

ten Langhauses des 11. Jahrhunderts ausging, denn die

von älteren Gebäudeteilen in Beziehung. Man kann davon

Fenster entstanden gemäß ihrer Formen erst im späten

ausgehen, dass das Bild gewachsener Kirchenbauten, das

12./frühen 13. Jahrhundert.171 Folglich hielt man zu jenem

im Mittelalter an vielen Orten durch die Integration weit-

Zeitpunkt noch eine Neuverglasung des altehrwürdigen

aus älterer Gebäudeteile entstand, allgemein geläufig war.

Langhauses für eine sinnvolle Investition. Daraus lässt

Die vorgestellten Beispiele legen nahe, dass dieses Bild ei-

sich schließen, dass man zunächst lediglich die Ostteile

ner gewachsenen Kirche mit der ihr impliziten Historizi­

erneuern wollte, aber keinen Plan für einen kompletten

tät, mancherorts auch im Rahmen dynamischer Wand-

Neubau verfolgte. Die Dynamik des 13. Jahrhunderts, als

lungsprozesse entstanden, bewusst in Kauf genommen

Langhaus und Westbau des Straßburger Münsters unter

wurde oder sogar beabsichtigt war.

zunehmendem Einfluss der Kommune nach jeweils neuen

2.3 Die Integration alter Bauteile Neben der Integration kompletter Gebäudeteile lässt

12. Jahrhunderts instandsetzte und bei dieser Gelegenheit

sich bei Umbauten mittelalterlicher Kirchen auch die

das zuvor flachgedeckte Mittelschiff neu wölbte, bewahrte

Integration einzelner alter Bauteile beobachten. Bau-

man neben den Seitenschiffswänden auch die Mittel-

teile stellen im Unterschied zu Gebäudeteilen kleinere

schiffsmauern und ergänzte sie um einen auf die Gewölbe

Einheiten dar, wie zum Beispiel Wände oder Gewölbe,

ausgerichteten Dienstapparat (vgl. Abb. 1.01).174 Im Zuge

die konstruktiv mit anderen verbunden sind, um Räume

der Baumaßnahme unterfing man die alten runden Arka-

zu definieren und in der Addition einen Gebäudeteil zu

denbögen mit spitzbogigen Gurten, die sich auch mittels

bilden.

der Steinfarbe vom Bestand absetzen. Die alten Rund­ bögen liegen asymmetrisch über den neuen Unterzügen

2.3.1 Die Integration alter Mauern

und scheinen je an einer Seite von den neuen Wandvorlagen verdeckt zu werden. Auf diese Weise wird der Ein-

Auf ein frühes, bemerkenswertes Beispiel der Bewahrung

druck erzeugt, dass die alten Stützen beim Umbau erhal-

alter Langhauswände hat Bruno Klein aufmerksam ge-

ten worden seien. Tatsächlich belegen jedoch Steinfarbe,

macht.173 Beim Wiederaufbau der Kathedrale von Le Mans

Fugenschnitt und Kapitellplastik, dass die Pfeiler im Gan-

um die Mitte des 12. Jahrhunderts, als man die durch ei-

zen erneuert wurden.175 Diese vorgebliche Inszenierung

nen Brand beschädigte Kirche aus dem ersten Drittel des

einer vertikalen Schichtung von Alt und Neu nimmt einen

169 170 171 172 173

174 Obergaden und Blendarkaden wurden zu einem späteren Zeitpunkt erneuert, so dass sich die Mittelschiffswände bis zum Fußpunkt der Blendarkatur erhalten haben. 175 Klein 2012, S. 18.

Osteneck 1970, Anm. 1. Osteneck/Löbbecke 2011, S. 52. Kurmann 1997, S. 157. Vgl. Kap. 5.1.6. Klein 2012; Ders. 1998, S. 34f.

50

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

wie Rundbogenfenster, Blendarkaturen oder Wandvorlagen, und deren Dekorformen in die neue Chorarchitektur integriert werden konnten.180 Ein prägnantes Beispiel für die Integration alter Mauern liefert der Umbau des erzbischöflichen Doms zu Bremen um die Mitte des 13. Jahrhunderts, als die weitgehend aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts stammende Basilika mit Kreuzgewölben modernisiert werden sollte (Abb. 2.37).181 Zu diesem Zweck riss man die Mittelschiffswände bis zur Fußbodenhöhe eines wenige Meter über den Arkaden befindlichen Laufgangs nieder, dessen Mauerkante, betont durch ein auskragendes Gesims über Rundbogenfries, einen markanten gestalterischen Akzent im Mittelschiff setzt und die horizontale Zweiteilung der neuen, kompositen Wandstruktur unterstreicht. Den alten Pfeilern legte man ein Dienstsystem mit alternierendem Rhythmus zur Aufnahme der sechsteiligen Kreuz­ rippengewölbe vor, mauerte die Obergadenwand nach außen hin versetzt neu auf und öffnete sie mit länglichen

2.37  Bremen, Dom, Mittelschiff, Blick zum Chor 2.36  Canterbury, Cathedral, altes Mauerwerk, das beim Umbau nach 1175 integriert wurde (außer Scheitelkapelle) Ansatz vorweg, der schließlich beim Umbau der Abteikirche St. Remi in Reims in ganzer Konsequenz beobachtet werden kann.176 In England bietet die erzbischöfliche Kathedrale von Canterbury, deren prächtiger Chor nach einem Brand ab 1175 wiederaufgebaut werden musste (Abb. 2.36),177 ein prominentes Fallbeispiel für die Integration alten Mauerwerks. Auf den ausdrücklichen Wunsch des Mönchskonvents hin musste der schriftlich überlieferte Baumeister Wilhelm von Sens die unteren Teile der Außenwände in den neuen Chorbau einbetten.178 Dem vermutlich baukonstruktiv bedingten Abriss der Chormittelschiffswände stimmten die Kleriker folglich nur »patienter etsi non libenter«179 zu. Hingegen blieben die Umfassungsmauern zum Teil so hoch stehen, dass sie samt ihrer alten Elemente,

176 Kap. 3.3. 177 Druffner 1994, S. 13f; Pevsner/Metcalf 1985b, S. 50–65; Woodman 1981, S. 87–91. 178 Druffner 1994, S. 14. 179 Gervasius, Tractatus (ed. Stubbs, 7). »duldend, jedoch nicht gern« (dt. Übersetzung Verf.). 180 Druffner 1994, S. 23f. 181 Ungeachtet der herausragenden Stellung des Bremer Metropolitans im Mittelalter fristet dessen Bischofskirche ein architektur­ geschichtliches Schattendasein. Eine befriedigende Baumono­

graphie liegt nicht vor. Das derzeitige Referenzwerk (Dietsch 1978) stellt die Geschichte des Bistums in den Vordergrund; im Domführer von 1989 beschränkt sich die Darstellung der Baugeschichte auf gerade einmal zwei von insgesamt achtzig Seiten (Bosse/Lamotte 1989). Die wenigen Aufsätze in den letzten Jahrzehnten konzentrieren sich vornehmlich auf die vorromanischen und romanischen Baukampagnen (Lobbedey 1985; Brandt 1979; Fliedner 1979). Daher ist es zu begrüßen, dass mittlerweile zumindest die Restauration im 19. Jahrhundert ausführlich publiziert wurde (Hoffmann, H.-C. 2007).

51

2.3  DIE INTEGRATION ALTER BAUTEILE

2.38  Bremen, Dom, nördliche Mittelschiffswand

2.39  Bremen, Dom, nördliches Seitenschiff

Spitzbogenfenstern. Die inneren Strebemauern versah

ten Kelchblockkapitelle und Beibehaltung der alten Sockel

man mit kleinen Durchgängen, so dass der alte Laufgang

und Basen zur Aufnahme des neuen Netzgewölbes bis in

über den Mittelschiffsarkaden nutzbar blieb. Die ältere

das alte Obergadenniveau hinein (Abb. 2.39). Schließlich

Formensprache der Arkaden wurde quasi unverändert

errichtete man die nördliche Außenmauer nach dem Vor-

beibehalten, weshalb sich die alten Bauteile im Großen –

bild der bestehenden Mittelschiffswand, indem man de-

mit ihren massigen, einfachen Pfeilern und runden Bögen

ren »Aquädukt-Struktur« aufgriff und dabei sogar den ro-

– wie auch im Kleinen – mit den schlichten Abakusplatten

manischen Rundbogenfries imitierte. Die Imitation alter

sowie dem prägnanten Rundbogenfries – deutlich von der

Formen und die Wiederverwendung alter Werkstücke wei-

jüngeren Schicht des feingliedrigen Dienst- und Rippen-

sen darauf hin, dass die Integration der alten Bauteile Be-

systems sowie der zugehörigen Spitzbögen absetzen. Auf

standteil eines umfassenden Konzeptes war, bei dem trotz

diese Weise erschließt sich dem aufmerksamen Betrach-

des grundlegenden Umbaus der Seitenschiffe das Alter der

ter, dass die neue, prächtige Gewölbestruktur über einem

Architektur erkennbar bleiben sollte.

älteren Kern errichtet wurde.

Beim gotischen Umbau des Essener Doms kam es ne-

Bemerkenswerterweise wurden die romanischen Ar­

ben der weiter oben thematisierten Einbettung alter Ge-

kaden bei einem weiteren Umbau des Bremer Doms

bäudeteile auch zu einer Bewahrung von alten Bauteilen,

abermals in der alten Form bewahrt, nämlich als man zu

nämlich der unteren Teile der alten Seitenschiffswände.183

Beginn des 16. Jahrhunderts das nördliche Seitenschiff er-

Das neue Konzept einer kreuzgewölbten Halle bedingte

höhte, um die Basilika in eine Halle zu transformieren.182

nicht nur höhere Außenwände, sondern auch die Integra­

Dabei öffnete man die Schiffe zueinander, indem man

tion eines neuen Tragsystems in die Außenwandebene, mit

die zwischen der Tragstruktur sitzenden Obergadenwände

dem die Schubkräfte der Gewölbe aufgenommen werden

des Mittelschiffs entfernte, so dass die alten romanischen

können. Man entschied sich dennoch gegen einen kom-

Arkaden seither wie ein Aquädukt wirken, welches den

pletten Abriss der alten Mauern, legte diese stattdessen nur

Kirchenraum durchzieht und die Schiffe voneinander

bis zur Höhe des Laufgangs nieder und errichtete darauf

trennt (Abb. 2.38). Zum Seitenschiff hin verlängerte man

zur Außenseite hin neue Wandflächen in der erforderli-

den alten Dienstapparat unter Wiederverwendung der al-

chen Höhe mit zeitgemäßen Maßwerkfenstern (Abb. 2.40).

182 Der Umbau des südlichen Seitenschiffes wurde nach Einführung der Reformation in Bremen 1522 nicht mehr ausgeführt (Fliedner 1979, S. 9).

183 Horn 2015a, S. 161f.

52

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

mit dünnen Wandflächen, in denen längliche Spitzbogen­ fenster sitzen, ausgefacht. Zudem mussten die inneren Strebemau­ern jeweils mit kleinen Durchgängen versehen werden, um den Laufgang nutzbar zu lassen. Der Vergleich mit dem Bremer Dom liegt damit konzeptionell und strukturell, aber auch zeitlich und geographisch näher als die von Walter Zimmermann angeführten Vergleichsbeispiele in der Champagne und Burgund.186 Eine weitere Verbindung bestand darin, dass in beiden Kirchen die Heiligen Cosmas und Damian besonders verehrt wurden.187 Ein herausragendes Beispiel für eine Integration alter Bauteile bietet schließlich die ehemalige Stiftskirche St. Gereon in Köln,188 die sich aus einem ovalen Zentralbau der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts entwickelte,189 welcher bis zum 12. Jahrhundert wiederholt partiell erwei­tert und zu einer längsgerichteten Kirche umgeformt wur­de.190 Dabei blieb der spätantike Ursprungsbau mit seinen charakte-

2.40  Essen, Dom, nördliche Seitenschiffswand

ristischen Konchen ähnlich der Aachener Pfalzkapelle als Kern der Anlage erhalten,191 so dass ein für mittelalterliche

Zur Aufnahme des Gewölbeschubes legte man den al-

Kirchen ungewöhnlicher Grundriss entstand (Abb. 2.41).

ten Mauern auf der Innenseite im Norden Halbsäulen und

Anfang des 13. Jahrhunderts entschied man sich zu einem

im Süden Dienstbündel vor,184 die mit den Strebepfeilern

tiefgreifenden Umbau des spätantiken Gebäudeteils,192 des-

auf den Außenseiten im Verband stehen, so dass man die

sen ursprüngliche Substanz zu jenem Zeitpunkt anschei-

ottonischen Mauern samt Fundamenten partiell durch-

nend noch zu einem großen Teil erhalten war.

schlagen musste.185 Anschließend legte man gemäß den

Lange Zeit dachte man, dass der alte Ovalbau bis zur

neuen statischen Anforderungen punktuell neue Funda-

Oberkante des Erdgeschosses, welches durch die Konchen

mente an, auf denen man die Strebepfeiler zwischen den

als spätantikes Relikt erkennbar ist, abgerissen wurde und

alten Wandkompartimenten hochführte.

darauf in den Formen der Stauferzeit eine neue Wand-

Die Ähnlichkeit des Konzepts zum nur wenige Jahr-

struktur errichtet wurde, welche von einer monumen­talen,

zehnte früher begonnenen Umbau des Bremer Doms ist

zehnteiligen Schirmkuppel gekrönt wird (Abb. 2.42). Die

derart frappierend, dass sich die Annahme aufdrängt,

2002 publizierten Untersuchungen von Otmar Schwab

der Essener Baumeister hätte Kenntnis der Bremer Kam-

ergaben jedoch, dass spätantikes Mauerwerk sogar bis

pagne gehabt. Hier wie dort wurde die alte Wand bis zur

zu dem Rundbogenfries oberhalb der stauferzeitlichen

Höhe eines Laufgangs niedergelegt, eine neue Tragstruk-

Emporen, wo die Wand nach außen hin zurückspringt,

tur in die alte Mauer eingebunden und die Zwischenfelder

erhalten blieb.193 Von außen vermauerte man die Zwi-

184 Die unterschiedlichen Vorlagensysteme wurden in der Literatur meist mit einem Planwechsel im Bauverlauf erklärt, wobei jedoch die Reihenfolge bisher nicht geklärt werden konnte, denn die rein stilgeschichtlichen Analysen mündeten in konträren Datierungsvorschlägen (Süd vor Nord: Zimmermann 1956, S. 274; Nord vor Süd: Wilhelm-Kästner 1929, S. 53). Nicht überzeugen kann der Versuch von Klaus Lange, den Wechsel der Formen als Kommentar zum politischen Tagesgeschehen zu erklären, da er das Verhältnis von Fakten und darauf aufbauenden Interpretationen vertauscht (Lange 2004, S. 96–105). 185 Horn 2015a, S. 161f. – Statisch betrachtet setzen die Strebepfeiler folglich schon an der Innenseite der alten Mauern an, so dass die über den Laufgängen befindlichen Mauerzüge als Teil des Strebewerks angesprochen werden müssen. Bei den Durchgängen des Laufgangs handelt es sich also aus tragkonstruktiver Sicht um kleine Öffnungen in den raumhohen Pfeilern. 186 Zimmermann 1956, S. 274. 187 Cosmas und Damian gehörten bereits zur Gründung des Essener Damenstifts im 9. Jahrhundert neben Christus und Maria zu den

Patronen der Kirche (Röckelein 2002, S. 87). Wann Reliquien der beiden Ärzteheiligen nach Essen gelangten, ist nicht belegt; in der Literatur wird meist von einem Vorhandensein schon im 9. Jahrhundert ausgegangen (Ebd., S. 91–94). In den Bremer Dom ge­langten Reliquien der beiden Heiligen 965 durch Erzbischof Adalag (Bosse/ Lamotte 1989, S. 8). Das Stift wurde 1802 aufgelöst und in eine Pfarrei umfunktioniert (Verstegen 2004, S. 123). Datierung nach Verstegen 2004, S. 142f. Zur Baugeschichte: Verstegen 2006; Dies. 2004; Schwab 2002; Schäfke 1984b (jeweils mit älterer Literatur). Kap. 2.2.1. Während der Abschluss der Kampagne 1227 dokumentiert ist, herrscht über den Baubeginn Unklarheit. Werner Schäfke datiert diesen in die Zeit vor 1212 (Schäfke 1984b, S. 286), wohingegen Dethard von Winterfeld an der älteren Datierung ab 1220 festhält (von Winterfeld 2001, S. 121). Schwab 2002, S. 59, Taf. 2ff.

188 189 190 191 192

193

53

2.3  DIE INTEGRATION ALTER BAUTEILE

2.41  Köln, St. Gereon, Grundriss 1833, spätantiker Kern geschwärzt Die Ergebnisse der Untersuchungen Otmar Schwabs werfen die Frage nach der Relation von stauferzeitlicher zu spätantiker Bausubstanz neu auf. Die neue Struktur wurde offensichtlich nicht auf das alte Erdgeschoss auf­ gepfropft, sondern überlagert und verschränkt sich mit der alten Substanz in noch ungeklärtem Ausmaß. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass auch die vertikalen Elemente nicht einfach vor die alte Wand geblendet wurden, sondern in das alte Mauerwerk einschneiden, wie es für den Essener Dom weiter oben dargelegt wurde. Die Frage des Verhältnisses von Neu und Alt lässt sich für St. Gereon auf der derzeitigen Datenbasis nicht abschließend beantworten, weil die bisherigen Bauforschungen dort unter anderen Fragestellungen durchgeführt wurden. Fest steht nur, dass neue und alte Bausubstanz stärker miteinander verflochten sind, als es das Bild der inneren Wandstruktur offenbart, in welchem das spätantike Erdgeschoss wie ein Sockel für die neuen Geschosse wirkt. Über die konstruktive Verbindung und deren Proble­ matik hinaus übte die Entscheidung, den alten Bauteil zu bewahren, erheblichen Einfluss auf die Form des um­ gebauten Kirchenraumes aus. Zunächst bedeutete die Be-

2.42  Köln, St. Gereon, perspektivischer Schnitt durch das Okto­ gon, Blick zum Langchor

wahrung des unteren Teils der alten Umfassungs­mauern zwangsläufig auch den Erhalt der alten, höchst eigenwil­ ligen Grundrissform der Kirche. Das wiederum stellte den

schenräume der Konchen, um dem Schub der Kuppel ein

Baumeister des frühen 13. Jahrhunderts vor eine nicht

stärkeres Widerlager zu bieten, und schuf auf diese Weise

zu unterschätzende technische Herausforderung, denn

eine polygonale Grundrisskontur, welche dem Gebäude-

er musste eine Kuppel konstruieren, deren Ausmaße

teil die Bezeichnung »Dekagon« einbrachte.

von 21 × 17 Metern die Joche der weitestgespannten

54

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

denen sie die damaligen Grenzen des technisch Machbaren verschoben. In beiden Fällen sprechen die weitreichenden Konsequenzen und Komplikationen, welche die Integration der alten Teile zwangsläufig nach sich zogen, gegen primär ökonomische Beweggründe. Des Weiteren bestimmten die spätantiken Außenwände mit ihren geschosshohen Konchen den neuen Wandaufriss wesentlich mit, indem sie etwa den Rhythmus für die Gewölbedienste vorgaben, welche anstelle antiker Säulen vor den Wandflächen zwischen den Konchen aufgestellt wurden.196 Die Arkaden der Empore und die darüber befindlichen Vielpassfenster synchronisierte man in der Breite mit den vorhandenen Konchen und fasste die Wandelemente geschossübergreifend mit einem Blendbogen je Wandfeld zu einer Einheit zusammen (Abb. 2.43). Dadurch setzt sich die folgende Ober­ gadenzone gestalterisch von den unteren Geschossen ab, was in der Wirkung durch eine klare, mit einem Gesims betonte Kante verstärkt wird, welche das obere Ende der eigent­ lichen Wand zu markieren scheint, während die Ober­gaden in der äußeren Wandebene wie dünne Häute wirken, die zwischen den Rippen der Kuppel spannen. Auf diese Weise entsteht bildlich der Eindruck, als wäre die neue Kuppel mit den dazwischenliegenden Obergaden auf die Mauerstruktur gestellt worden. Diese optische Zweiteilung steht insofern in Beziehung zu den anderen Gebäudeteilen der Kirche, als die Höhe der dreigeschossigen Wandzone der Höhe des bestehenden Langchores entspricht. Der Betrachter kann diese Beziehung am Übergangsbogen zwischen den beiden Kompartimenten erkennen, denn der Bogen wurde auf die Scheitelhöhe der Chorgewölbe abgestimmt (vgl. Abb. 2.42). Die Höhe des alten Zentralbaus lässt sich auf

2.43  Köln, St. Gereon, Wandgliederung im Oktogon

Basis der baulichen Befunde nicht mehr genau bestimDurch die

men, doch scheint es gut möglich, dass der Langchor

ungewöhn­liche elliptische Grundrissgeometrie wurde das

Mittelschiffsgewölbe der Zeit übertrafen.

seinerzeit bereits der Höhe des spätantiken Gebäudeteils

Unterfangen zusätzlich verkompliziert.

angepasst wurde. In diesem Fall wäre die markante Hö-

194

Die Parallelen zum rund 15 bis 20 Jahre früher einset-

henlinie, welche Wand und Kuppel voneinander absetzt,

zenden Wiederaufbau der Kathedrale von Chartres sind

eine weitere Spur der Vergangenheit, die sogar das vorma-

nicht zu übersehen. Hier wie dort determinierte ein alter

lige Höhenniveau des Zentralbaus widerspiegeln würde.

Gebäude- beziehungsweise Bauteil den Grundriss und

In jedem Fall jedoch wurde die tektonische Systematik un-

die Dimensionen der erneuerten Kirche.

ter Berücksichtigung bestehender Bauniveaus entwickelt.

195

Zur Verwirk­

lichung zeitgemäßer Einwölbungen mussten die Bau­

Zum Abschluss soll noch auf ein außergewöhnliches

meister jeweils innovative Konstruktionen erarbeiten, mit

Beispiel einer Integration alten Mauerwerks aufmerksam

194 Maße der Kuppel nach Schäfke 1984b, S. 286. – Die nur wenige Zeit zuvor entstandenen Mittelschiffsgewölbe der Kathedrale von Chartres, welche neue Maßstäbe im Gewölbebau setzten, messen im Ver­gleich 16 × 8 Meter (Breite nach Kurmann-Schwarz/Kurmann 2001, S. 71).

195 Kap. 2.2.1. 196 Schwab 2002, S. 12.

55

2.3  DIE INTEGRATION ALTER BAUTEILE

Kirchenbau, dessen Portale schließlich eine Grenze zwischen profanem und sakralem Raum definieren und infolgedessen oft in fulminanten, reich ausgeschmückten Anlagen mit Bildwerken oder sogar -programmen kulminierten. So verwundert es nicht, Spuren der Vergangenheit im Bereich der Kirchenportale zu entdecken.199 Grundsätzlich lassen sich diesbezüglich verschiedene Möglichkeiten unterscheiden. Zunächst wäre analog der Integration alter Mauern die Bewahrung eines alten Portals in situ möglich. Der Versatz eines Portals in einen anderen architektonischen Kontext stellt eine zweite Möglichkeit dar. Schließlich lässt sich noch die Integration alter Werkstücke in neu angelegten Portalen beobachten, jedoch handelt es sich bei diesen Spuren der Vergangenheit um eine andere Kategorie, die nicht das Bauteil als Ganzes betrifft und deshalb an entsprechender Stelle thematisiert wird.200

2.44  Jerusalem, Grabeskirche, Helena-Krypta frühes 12. Jh., Seitenwände 4. Jh., Schnitt und Grundriss

Ein prominentes Beispiel für die Bewahrung eines alten Portals in situ bietet die sogenannte Galluspforte am Nordquerhaus des Basler Münsters,201 welche, datiert

gemacht werden, genauer gesagt auf eine Integration alter Fundamente, die als Wände wiederverwendet wurden. Dies geschah bei der Anlage der Helena-Krypta an der Grabeskirche in Jerusalem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts unter den Kreuzfahrern.197 Bei der durch den Kalifen al-Hakim veranlassten Zerstörung der Grabeskirche 1009 ging die fünfschiffige Emporenbasilika aus konstantinischer Zeit, die sich im Osten des Sakralkomplexes befand, unwiederbringlich verloren. Rund hundert Jahre später legten die Kreuzfahrer zwischen den mächtigen Fundamenten des ehemaligen Mittelschiffs eine Krypta an, mit der eine Grotte, an der die heilige Helena der Legende nach das Wahre Kreuz auffand,198 erschlossen wurde (Abb. 2.44). Seither dienen die alten Fundamen­te als Seitenwände der unterirdischen Kirche.

2.3.2 Die Integration alter Portale Aufgrund ihrer Funktion als Grenze oder Übergang zwischen zwei Räumen stellen Portale signifikante Orte dar. Dementsprechend wird ihnen bei der Gestaltung eines Gebäudes in der Regel viel Aufmerksamkeit gewidmet. Dies gilt in besonderem Maß für den mittelalterlichen

2.45  Basel, Münster, Galluspforte spätes 12. Jh.

197 Pringle 2007, S. 44–47; Krüger 2000, S. 90–94. 198 Zur Topographie der heiligen Orte in der Grabeskirche siehe Kap. 6.3. 199 Stephan Albrecht benennt in einem grundlegenden Aufsatz zum Thema »Portale als Spolien« folgende Intentionen für den Versatz alter Portale: materielle oder ästhetische Gründe einerseits und Erinnerung an den oder die Kirchgründer andererseits (Ders. 2002).

Daran anschließend bietet die in dieser Arbeit vorge­schlagene Differenzierung zwischen Spolien und Asservatien eine Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen Herkunft und Funktion der Artefakte noch näher zu bestimmen und auszudrücken (Kap. 2.4.1). 200 Kap. 2.4.2. 201 Zur Galluspforte grundlegend: Meier/Schwinn Schürmann 2002.

56

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

zeigt sich hingegen bei der ganzheitlichen Be­trachtung der Wiederaufbaukampagne,206 dass diese einer gestalterischen Strategie folgt, welche auf virtuose Weise Kontraste zwischen Alt und Neu in Szene setzt. In diesem Kontext wirkt die Einbettung des alten Portals wie die Präsentation eines authentischen Reliktes aus der Geschichte der Kirche. Ein weiteres Beispiel für die Bewahrung eines alten Portals in situ findet sich an der Westfront der nach 1270 errichteten Kirche St. Bénigne in Dijon, wo sich ein um die Mitte des 12. Jahrhunderts datiertes Westportal am ursprünglichen Ort erhielt.207 Wie bei der Basler Galluspforte nahm man früher an, das Portal sei von anderer Stelle an den gegenwärtigen Ort versetzt worden.208 Ein ähnliches Verfahren lässt sich wohl auch für die Westportalanlage der Kathedrale von Chartres konstatieren (Abb. 2.46; vgl. Abb. 2.20), dem sogenannten Portail Royal,209 das in der kunstgeschichtlichen Literatur vornehmlich wegen seiner wegweisenden skulpturalen Ausstattung viel Beachtung fand.210 Als man sich nach einem Großbrand 1194 zu einem weitreichenden Neubau der Bischofskirche entschied, integrierte man den rund 50 Jahre älteren Westbau inklusive seiner prächtigen Dreiportal­

2.46  Chartres, Kathedrale Notre-Dame, Portail Royal (Mitte 12. Jh.) in der nach 1194 umgebauten Westfassade

anlage in die erneuerte Kathedrale.211 Nun könnte man argumentieren, dass das Interesse eher dem Erhalt des gesamten Gebäudeteils galt. Dem kann entgegnet werden,

ins späte 12. Jahrhundert,202 als ältestes erhaltenes Figuren-

dass der Westbau einem größeren Umbau unterzogen

portal im deutschsprachigen Raum gilt (Abb. 2.45). Weil

wurde, welcher von der baugeschichtlichen Forschung bis

sich das Portal mit seiner älteren Formensprache sichtbar

heute nicht zweifelsfrei nachvollzogen werden konnte, so

von der sonst jüngeren Architektur absetzt, die in weiten

dass unterschiedliche Rekonstruktionsvarianten kursie-

Teilen nach 1356 entstand, als das Münster bei einem Erd-

ren.212 In diesem Zusammenhang konnte der ursprüng­

ging die Kunstgeschichte

liche Standort des Portals bisher noch nicht geklärt wer-

lange davon aus, dass es von einem anderen Ort an die

den. Aufgrund gewisser baulicher und ikonographischer

beben schweren Schaden erlitt,

203

heutige Stelle versetzt wurde.204 Hans-Rudolf Meier konnte

Unregelmäßigkeiten ging man lange davon aus, dass die

jedoch aufzeigen, dass man sich beim Wiederaufbau ent-

Portalanlage ursprünglich weiter zurückgesetzt stand,

schied, die Galluspforte in ihrer alten Form in situ in die

sorgfältig Stein für Stein abgebaut und an heutiger Stelle

neue Architektur zu integrieren.205 Während man bei einer

wiedererrichtet wurde.213 In jüngerer Zeit mehren sich

isolierten Betrachtung der Pforte geneigt sein könnte, allein

demgegenüber die Stimmen, die davon ausgehen, dass

wirtschaftliche Gründe für deren Bewahrung an­zunehmen,

das Portal in situ integriert wurde.214 Fest steht jedenfalls,

202 Ebd., S. 17. 203 Baugeschichte des Basler Münsters: Schwinn Schürmann/Meier/ Schmidt 2006; Spicher 1999; Reinhardt 1961 (jeweils mit Literaturhinweisen). 204 Eine Forschungsgeschichte der Standortdiskussion liefert: Schwinn Schürmann 2002, S. 30. 20 Meier 2002. 206 Kap. 4.3.3. 207 Schlink 1970, S. 98–100, zur Datierung des Portals S. 120–137. Die ehemals reiche figürliche Ausstattung des Portals wurde 1794 weitgehend zerstört (Ebd., S. 99). Eine Vorstellung des mittelalter­ lichen Zustands vermittelt ein Stich von 1739 (Ebd., S. 133 mit Fig. 17). 208 Z. B. Quarré 1957.

209 Die Bezeichnung porta regia lässt sich in Chartres bereits für das 12. Jahrhundert nachweisen (van der Meulen/Hohmeyer 1984, S. 228; Sauerländer 1984, S. 19f). 210 Zuletzt Halfen 2001; Kurmann-Schwarz/Kurmann 2001 (jeweils mit weiterführender Literatur). 211 Kap. 2.2.1. – Portal und Westbau werden nach allgemeiner Auffassung kurz vor die Mitte des 12. Jahrhunderts datiert (KurmannSchwarz/Kurmann 2001, S. 42; Sauerländer 1984, S. 18). 212 Eine Übersicht verschiedener Varianten liefern und diskutieren Kurmann-Schwarz/Kurmann 2001, S. 48–54. 213 Z. B. Jantzen 1960, S. 99 214 Z. B. James 1986. – Roland Halfen hält eine Kontinuität des Standorts mittlerweile für bewiesen (Ders. 2001, S. 17f). Hingegen hält z. B. Norbert Schneider an der These von der Versetzung fest

57

2.3  DIE INTEGRATION ALTER BAUTEILE

dass die Portalanlage heute ein integraler Bestandteil der Westfassade ist, welche das hochgotische Mittelschiff unmittelbar abschließt und somit bei den Planungen einen besonderen Stellenwert eingenommen haben muss. Hingegen wurde das südliche Westportal der Kathedrale von Paris, das sogenannte Annenportal, offensichtlich versetzt, denn zahlreiche Skulpturen und Werkstücke des Portals stammen den Formen nach aus dem 12. Jahrhundert, wohingegen die Westfassade an dieser Stelle erst seit dem frühen 13. Jahrhundert im Bau war (Abb. 2.47).215 Um das alte Bauteil den beiden neuen Portalen anzupassen, wurden gewisse Modifikationen vorgenommen, etwa Zwickelfiguren oberhalb des ehemals rundbogigen Tympanons ergänzt, um es in eine spitzbogige Form zu überführen, oder ein weiterer Sturz eingefügt, um das Portal in der Höhe zu strecken und gleichzeitig die Ikonographie des ehemaligen Marienportals in eine Annenikonographie umzudeuten. Eventuell wurden zudem Teile weiterer, älte-

2.47  Paris, Kathedrale, Annenportal 12. Jh., Westfassade 13. Jh. 2.48  Freiberg, St. Marien, Goldene Pforte frühes 13. Jh., im 15. Jh. an den heutigen Standort versetzt rer Portale in das Annenportal integriert.216 Ein König und ein Bischof, die auf dem Tympanon als Stifterfiguren dargestellt sind, könnten einen Schlüssel zum Verständnis für die Wertschätzung des alten Portals liefern. Leider lässt sich in dieser Hinsicht jedoch keine genauere Aussage treffen, denn die Vorschläge zur Identifizierung reichen, auch aufgrund der strittigen Feindatierung der Figuren, von Kaiser Konstantin und Papst Sylvester über merowingische Gründerpersönlichkeiten bis hin zu verschiedenen Königen und Bischöfen des 12. Jahrhunderts.217 Unabhängig davon, welcher Vorschlag nun zutrifft, so weisen die Figuren auf eine politische Dimension des Portals hin, die für dessen Erhalt eine Rolle gespielt haben könnte. Ähnliche der

Motive

sogenannten

könnten

Goldenen

bei

der

Versetzung

Pforte

der

ehemaligen

Pfarrkirche St. Marien in Freiberg vorhanden gewesen sein, als man das prächtige Figurenportal zum Ende des 15. Jahrhunderts von seinem ursprünglichen Standort am Westeingang, wo es im frühen 13. Jahrhundert errichtet worden war,218 an das Südquerhaus versetzte (Abb. 2.48).219 (z. B. Schneider 2004, S. 130). 215 Albrecht 2002, S. 115f; Lombard-Jourdan 1997; Taralon 1991, S. 384– 389; Clark/Ludden 1986; Thirion 1970. 216 Clark/Ludden 1986, S. 114. 217 Die verschiedenen Identifizierungsvorschläge stellt Albrecht 2002, S. 117 mit Anm. 11, vor.

218 Franziska Uhlig schlug eine Entstehung der Goldenen Pforte zeitnah zur Vollendung der spätestens 1218 fertiggestellten Marienkirche vor (Dies. 1996, S. 136); hingegen datierte Heinrich Magirius das Portal aus stilistischen Gründen um 1230 (Ders. 1972, S. 249–257, mit Diskussion der älteren stilkritischen Forschung). 219 Zum Versatz des Portals: Magirius 1972, S. 223–236.

58

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

Dabei wurde das ursprünglich spitzbogige Tympanon

Ort und war insofern räumlich fixiert. Spätestens um die

merkwürdigerweise zur älteren, rundbogigen Form umge-

Jahrtausendwende wurde die Tradition des Ortes um

arbeitet.220

eine weitere religiöse und zugleich hochherrschaftliche

Heinrich Magirius erschloss die Funktion der Frei-

Dimension bereichert, denn man ging davon aus, dass

berger Marienkirche als »Hofkirche« der Meißener Mark-

die heilige Helena im Auftrag ihres Sohnes, Kaiser Kon-

grafen, der Stadtherren Freibergs,

was die besondere

stantin, die Kirche zu Ehren der Märtyrer erbaut hätte.226

Größe und Pracht der Pfarrkirche erklärt, und deutete drei

Damit wurde über den Ort hinaus auch die Materie und

Brustbildnisse über den Gewändefiguren aus dieser Pers-

Form des Bauwerks ein konstitutiver Bestandteil der Tra-

pektive als Stifter aus dem Umfeld der Markgrafschaft.

222

dition. Die alte Architektur führte das außergewöhnlich

In diesem Zusammenhang wies Stephan Albrecht darauf

hohe Alter der Kirche,227 vor allem im Vergleich mit ande-

hin, dass sich die Wettiner im 15. Jahrhundert auf ihre Vor­

ren Kirchen des Imperiums, vor Augen und bezeugte so-

fahren und deren Verdienste um die Freiberger Marien­

mit vermeintlich die Gründungslegende.228 Insofern gibt

221

kirche beriefen und interpretierte die Goldene Pforte

die von Werner Schäfke getroffene Charakterisierung des

deshalb als »Dokument der wettinischen Fundation«.223

Umbaus des 13. Jahrhunderts als »reliquienartige Fassung

Unabhängig von diesem durchaus nachvollziehbaren Er-

des spätantiken Baukörpers«229 den Sachverhalt nicht nur

klärungsansatz zeigt sich in Freiberg für das späte 15. Jahr-

bautechnisch treffend wieder, sondern erfasst auch die re-

hundert ein bemerkenswertes konservatorisches Bewusst-

ligiöse Dimension des Vorgangs.

sein im Bezug auf ein rund 300 Jahre älteres Monument.

Dass die Materie mit ihren besonderen visuellen Qualitäten als Erinnerungsträger eingesetzt wurde, verdeut­

2.3.3 Die Integration alter Bauteile im Kontext der Tradition des Ortes

lichen auch die Sarkophage für die erhobenen Gebeine der Märtyrer,230 welche man nach Werner Schäfke im frühen 13. Jahrhundert in der Kirche aufstellte: sieben in den Kon-

Die Bewahrung der spätantiken Mauern beim Umbau von

chen (drei erhalten), drei in der Confessio (alle erhalten)

St. Gereon zu Köln im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts

und, besonders sinnbildlich, zwei als Stützen des Haupt-

lässt sich mit einer prägnanten Tradition des Ortes in Zu-

altars (beide verloren).231 Auf diese Weise wurde die Funk-

sammenhang bringen, denn die Kirche galt spätestens seit

tion St. Gereons als Grabort der Thebäer signifikant her-

dem ausgehenden 6. Jahrhundert als Grabstätte von Sol-

vorgehoben, denn während zuvor allein der altehrwürdige

daten der Thebäischen Legion, welche mit ihrem Anführer

Kirchenbau für die Präsenz der Heiligen bürgte, waren

Gereon in Köln das Martyrium erlitten.224 Den Brunnen,

ihre Körper nunmehr mittels der Sarkophage sinnlich

in welchen der Legende nach die Häupter der Märtyrer

er­ fahrbar. Zugleich stellte man durch die Platzierung

geschmissen wurden, lokalisierte man im 12. Jahrhun-

in den Konchen einen räumlichen Bezug zwischen den

dert an der Stelle des Hauptaltars in der spätantiken Ost-

Märtyrern und den authentischen Teilen der alten Kirche

konche.225 Demnach markierte die Kirche einen heiligen

her.

220 Uhlig 1996, S. 119. Ob bautechnische Gründe ausschlaggebend waren oder die Umarbeitung darauf abzielte, die Bogenform bewusst älter erscheinen zu lassen, lässt sich nicht erkennen. 221 Magirius 1972, S. 34–36. 222 Ebd., S. 260, 274. 223 Albrecht 2002, S. 121. 224 Die spätantike Funktion der Kirche konnte bisher nicht belegt werden, allerdings sprechen die Indizien für eine christliche Nutzung (Verstegen 2006, S. 495–504; Dies. 2004, S. 143–148). Die älteste Schriftquelle, welche den Bau als Grabeskirche der Soldatenheiligen anspricht, datiert um 590 (Gregor von Tours, Liber in Gloria Martyrum, 61 (ed. Krusch, S. 80). – siehe Kap. 6.3). 225 Vita Norberti, 12 (ed. Wilmans, S. 682). 226 Helinand, Passio Gereonis, 18f (ed. Migne, 767f). – Wahrscheinlich wurde damit eine ältere historische Verbindung der Gereonskirche zum Hochadel in die Legende eingeflochten und überhöht. So nahm etwa der fränkische König Theuderich II. 612 in St. Gereon die Eide der fränkischen Nobilität entgegen (Liber historiae francorum (ed. Krusch, S. 308f)); außerdem wurde der Kölner Erzbischof Hildebald, Kaplan Karls des Großen, in der Kirche beigesetzt (Schäfke 1984b, S. 281). Im 14. Jahrhundert diente die kaiserliche Gründung der Kirche als Legitimation, nur edelfreie Kanoniker im Stift aufzu-

227

228

229 230

nehmen (Gechter 1990, S. 557). In diesem Zusammenhang wurde auch Gereon eine adlige Herkunft attestiert. Dass man sich des hohen Alters der Kirche im Mittelalter bewusst war, geht aus einem Brief des Abtes Rodulf von 1122 hervor, welcher das Martyrium und damit indirekt den Kirchenbau in das 4. Jahrhundert datiert (Rodulf, epistola (ed. Köpke, S. 330)). Damit kam Rodulf dem archäologisch ermittelten Alter der Kirche erstaunlich nahe, wenngleich nach aktuellem Forschungsstand von einer Entstehung in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ausgegangen wird (Verstegen 2006; zusammenfassend Dies. 2004, S. 142f), was ferner bedeutet, dass Helena nicht als Gründerin in Frage kommt. Es wäre sicher lohnenswert, die baulichen Vorgänge im Kontext der Stiftsgeschichte zu untersuchen und dabei die Konkurrenz­situation zu den anderen Thebäerstiften in Bonn und Xanten, die sich ebenfalls als Gründung der Helena verstanden, in den Blick zu nehmen (zu den Thebäerstiftskirchen: Kap. 6.5). Schäfke 1984b, S. 286. In St. Gereon kam es im 11. und 12. Jahrhundert zu schriftlich überlieferten Grabungen nach den Heiligengräbern (Verstegen 2000, S. 185–208). Die moderne Forschung geht aufgrund der Beschreibungen davon aus, dass man dabei Gräber fränkischer Adliger entdeckte.

59

2.3  DIE INTEGRATION ALTER BAUTEILE

2.49  Bremen, Dom, Hochrelief Kaiser Karls und Bischof Willehads als Kirchen­ gründer, um 1500, eh. am Ostlettner, heute an der Westempore

Deutliche Parallelen zu St. Gereon lassen sich hin-

Heiligen, einem Kaiser, der Kirche und dem Ort. Es wäre

sichtlich des gestalterischen Ansatzes beim Umbau des

sicher fruchtbar, zu untersuchen, inwiefern der vielschich-

Bremer Doms im 13. Jahrhundert feststellen, wo die roma­

tigen Tradition des Ortes eine Bedeutung zukam, um die

nischen Mittelschiffsarkaden in ihrer alten Form in die

weitreichenden Machtansprüche, welche die Erzbischöfe

neue tektonische Struktur integriert wurden. Hier wie dort

von Bremen-Hamburg vor allem im hohen Mittelalter

wurde somit ein erkennbarer Kontrast zwischen Alt und

beanspruchten, zu legitimieren. Als Metropoliten, denen

Neu geschaffen, welcher einerseits das Alter der Kirche

zeitweise der gesamte skandinavische Raum unterstand,

vor der Folie des Neuen erkennbar herausstellt und ande-

strebten sie im 11. Jahrhundert sogar die Einrichtung eines

rerseits die Pracht und den Aufwand des Neuen vor der

Patriarchats des Nordens an.234 Dieses Anspruchsniveau

Folie des Alten vor Augen führt. Baukonstruktiv gehen die

spiegelt sich auch im großangelegten, nach 1041 begon-

beiden Schichten jeweils eine Symbiose ein und fügen sich

nenen Kirchenbau wieder, dessen Bauteile im 13. Jahrhun-

auf diese Weise der übergreifenden Struktur des Kirchen-

dert in den Umbau integriert wurden. Der zeitgenössische

baus. So entsteht ein Bild des prachtvollen Neuen, das

Chronist Adam von Bremen berichtet, dass die neue Bi-

erkennbar auf dem Alten basiert, daran anknüpft und es

schofskirche in »Form« und »Größe« dem damaligen Köl-

einbindet.

ner Dom entsprechen sollte,235 und Siegfrid Fliedner weist

Für den Bremer Dom lassen sich die materiellen Spu-

darauf hin, dass die Disposition der beiden Kirche tatsäch-

ren der Vergangenheit ebenfalls mit der Tradition des

lich signifikante Parallelen aufweist.236 Die Metropoliten

Ortes zusammenbringen. Die Domkirche wurde auf Be-

von Bremen-Hamburg wollten demnach auf Augenhöhe

treiben von Kaiser Karl dem Großen und dem posthum

mit der altehrwürdigen Kölner Kathedra agieren.

heiliggesprochenen Missionar Willehad, der als erster

Als im 13. Jahrhundert der Umbau des Bremer Doms

Bremer Bischof galt, errichtet, eventuell an der Stelle, wo

einsetzte, lagen Anspruch und Realität allerdings weit aus-

Gerwal und seine Gefährten ihr Martyrium erlitten.232 Wil-

einander, denn die Machtbasis der Erzbischöfe war durch

lehad fand im Bremer Dom seine letzte Ruhestätte, an der

die Loslösung der skandinavischen Kirchen aus dem Bre-

sich Wunder ereignet haben sollen.233 Die Tradition des

mer Sprengel deutlich geschrumpft, und auch die Bremer

Ortes des Bremer Doms entpuppt sich damit als ein viel-

Bürgerschaft strebte nach immer größerer Unabhängigkeit

fältiges Beziehungsgeflecht zwischen Märtyrern, einem

vom kirchlichen Stadtherren.237 Vor diesem Hintergrund

231 Schäfke 1984b, S. 285f. 232 Zur Gründung des Doms: Dietsch 1978, S. 7–13. 233 Ebd., S. 10f.

234 Ebd., S. 66. 235 Adam, Gesta Hammaburgensis II, 82 (ed. Schmeidler, S. 139f). 236 Fliedner 1979, S. 14–16.

60

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

wäre es nachvollziehbar, wenn bei der Modernisierung des

Demgegenüber liefern die oft unterstellten wirtschaftli-

Doms die Erinnerung an die große Vergangenheit des Bis-

che Motive allein keine schlüssige Erklärung für den Erhalt

tums mit architektonischen Mitteln wachgehalten werden

der Bauteile. Für das Essener Münster ließ sich aufzeigen,

sollte. Bemerkenswerterweise orientierte man sich noch

dass das bautechnische Verfahren, die Wände und Funda-

beim Umbau der Seitenschiffe um 1500, kurz vor Einzug

mente wie oben geschildert zu durchschlagen, um die neue

der Reformation, an der alten architektonischen Struktur.

primäre Tragstruktur dazwischen einzubetten, un­ nötig

Nicht viel früher entstanden wohl auch die heute an der

kompliziert erscheint und der Aufwand angesichts des rela-

Westempore befindlichen Hochreliefs für den Lettner des

tiv geringen Anteils von ca. 25 bis 30 Prozent erhaltener Sub-

Ostchores, dessen zentrales Bild, das die anderen in der

stanz in den neuen Außenwänden auch unverhältnismäßig

Größe übertrifft, die Tradition des Ortes vergegenwärtigt,

hoch wäre. Für den Umbau von St. Gereon ist dieser Aspekt

indem es Karl den Großen und Bischof Willehad als Grün-

leider nicht hinreichend genug untersucht worden, doch

der der Kirche inszeniert (Abb. 2.49).

lässt sich aus einigen Aussagen Otmar Schwabs ableiten,

Für den Umbau des Essener Münsters in den Jahr-

dass die gotische Struktur nicht etwa auf den alten Mauern

zehnten um 1300 indes konnte die Tradition des Ortes als

aufsitzt, sondern das alte Mauerwerk ebenfalls weitreichend

formbestimmendes Moment bereits nachgewiesen und

perforiert und geschlitzt wurde.241 Die Grabungsbefunde

die politische Dimension des Vergangenheitsbezugs auf-

lassen zudem erkennen, dass die Dienste des 13. Jahrhun-

gezeigt werden.238 Die Integration der alten Seitenschiffs-

derts mit eigenen Fundamenten unterfangen wurden.242

mauern lässt sich dort in ein umfassendes Konzept der Traditionsvergegenwärtigung einbetten.

Aus den zahlreichen Spuren der Vergangenheit, die am Chor der Kathedrale von Canterbury zu entdecken sind,

Im Unterschied zu St. Gereon und dem Bremer Dom

folgerte Frank Druffner, dass die Integration älterer Bau-

treten die Seitenschiffsmauern in Essen jedoch weniger

teile von vornherein in den Planungen vorgesehen waren,

deutlich als alte Teile in Erscheinung, zumal die roma-

und attestierte dem Baumeister diesbezüglich ein »äußerst

nischen Nischen beim Umbau anscheinend vermauert

behutsames« Vorgehen.243 Dennoch wertet er die Einbin-

wurden.239 Dieser Umstand lässt sich mit der Signifikanz

dung der alten Bauteile als »Beschränkungen«244 oder

und Präsenz des alten Westbaus und weiterer Objektiva-

»Restriktionen«,245 und folgt damit der tendenziell negativ

tionen des kulturellen Gedächtnisses erklären, welche die

gefärbten älteren Beurteilung des Projektes,246 welche im-

Tradition des Ortes überaus deutlich in Erinnerung rufen,

plizit unterstellt, dass die Einbindung der alten Architek-

wohingegen in Bremen, und noch mehr in St. Gereon, die

tur zwangsläufig zu einer künstlerisch unbefriedigenderen

Mauern als primäre Erinnerungsträger dienten.

Lösung führt, als es ein reiner Neubau tun würde. Ganz

In Essen lässt sich stattdessen die Funktion als aus-

ähnlich beurteilte die Literatur die Integration der alten

schlaggebendes Kriterium für die Entscheidung zur Be-

Westbauteile beim weitgehenden Neubau der Kathedrale

wahrung der unteren Außenmauern identifizieren, denn

von Chartres um 1200 gegenüber einem totalen Neubau

der Laufgang, bis zu dessen Höhe die Mauern stehen blie-

oftmals als Kompromisslösung.247

ben, verband den Chor der Stiftsdamen mit der altehrwür-

In beiden Fällen basieren die Urteile auf der Prämisse,

digen Westbauempore und wurde im Rahmen wichtiger

dass sich der baukünstlerische Wert der Bauwerke an der

Kirchenfeste feierlich beschritten.240 Es liegt somit nahe,

Einheitlichkeit ihres Entwurfes misst. Wie die Beispiele

dass die Erhaltung der alten Seitenschiffsmauern in erster

der Stiftskirchen in Essen und Köln jedoch zeigen, schei-

Linie auf die Bewahrung alter, liturgisch bedeutsamer We-

nen für die Menschen im Mittelalter andere Kriterien im

gebeziehungen innerhalb der Kirche abzielte; ein Aspekt,

Vordergrund gestanden zu haben. Die Visualisierung der

der auch beim Bremer Dom, wo die Wände ebenfalls bis

Tradition des Ortes scheint eine davon gewesen zu sein.

zum Laufgang niedergelegt wurden, zu untersuchen wäre.

Es wäre somit sinnvoll, auch die Integration alter Bauteile

237 Dietsch 1978, S. 72, 125–147. 238 Horn 2015a, S. 179–186. 239 Humann schreibt, dass bei der Freilegung der Nischen im 19. Jahrhundert antikisierende Kapitelle, welche den im Münster erhalte­ nen Stücken des 11. Jahrhunderts gleichen, gefunden wurden (Ders. 1890, S. 28). Dies lässt darauf schließen, dass die Vermauerung im Zuge der Niederlegung des Langhauses geschah. 240 Bärsch 1997, S. 159, 196f. 241 So konnte in den Wandfeldern zwischen den Diensten beispielswei-

242 243 244 245 246 247

se römisches Mauerwerk noch bis zur Höhe des Rundbogenfrieses oberhalb der staufischen Empore nachgewiesen werden (Schwab 2002, S. 59, Taf. 2ff). Schwab 2002, Taf. 17a, 18a. Druffner 1994, S. 27. Ebd., S. 14. Ebd., S. 27. Woodman 1981, S. 123; Willis 1845, S. 94. Z. B. van der Meulen/Hohmeyer 1984, S. 83–86.

61

2.4  DIE INTEGRATION ALTER WERKSTÜCKE: SPOPLIEN UND ASSERVATIEN

in Canterbury und Chartres stärker aus dieser Perspektive

terschiedliche Motive für die Nutzung und Wiederverwen-

zu betrachten, wobei sich für Chartres bereits an anderer

dung alter Materie im Zusammenhang mit Portalanlagen

Stelle zeigte, dass die Tradition des Ortes die Planungen

identifizieren. Neben wirtschaftlichen und ästhetischen

maßgeblich beeinflusste.248

Gründen konnten Portale demzufolge als Erinnerungs-

In Kontext der Tradition des Ortes sollte auch die Bewahrung alter Portale betrachtet werden. Es liegt auf der Hand, dass sich alte Portale aufgrund ihrer prägnanten, teils bildlichen Gestaltung wie auch ihrer speziellen Funktion als Grenze und Übergang zwischen Räumen im Besonderen als Erinnerungsträger eigneten. So liefern das Basler Münster, St. Bénigne in Dijon und wohl auch die Kathedrale von Chartres Beispiele für umfassende Bauprojekte, bei denen alte Portalanlagen in situ konserviert

orte fungieren: »Eine Reihe von Beispielen verdeutlicht, dass alte Portale im späten Mittelalter und in der Neuzeit auch als Erinnerungsstücke an die Gründung angesehen wurden und damit eine inhaltliche Bedeutung transportieren konnten. Dies gilt in erster Linie dann, wenn die Portale nicht […] von einem fremden Ort übertragen wurden, sondern von dem eigenen Vorgänger.«249

wurden. An der Kathedrale von Paris und der Marienkir-

Von Interesse ist auch Albrechts Feststellung, dass die

che in Freiberg wurden alte Portalanlagen hingegen nach-

Herkunft der Artefakte für deren inhaltliche Konnotation

weislich an eine andere Stelle versetzt.

von Bedeutung ist. An diesem Punkt zeigt sich jedoch eine

Stephan Albrecht, der sich mit dem Phänomen von Spolien im Kontext von Portalen beschäftigte, konnte un-

Problematik des derzeitigen Spolien-Begriffs, die im folgenden Kapitel diskutiert wird.

2.4 Die Integration alter Werkstücke: Spolien und Asservatien 2.4.1 Kriterien und Differenzierungen

stalterisch bearbeitet wurden und als eigenständige Elemente der tektonischen Struktur erkennbar hervortreten,

Die Möglichkeit des Versatzes

wie eine Säule oder ein Fries.250

Die nächstkleinere Einheit nach dem Bauteil bilden im tek-

Eine erste Differenzierung wiederverwendeter Werk-

tonischen Gefüge die Werkstücke, wie etwa Säulen, Friese,

stücke ergibt sich aus der Möglichkeit des Versatzes: Ent-

Gewände etc. Einige dieser Stücke lassen sich weiter in

weder wurden die Elemente an eine andere Stelle trans­

kleinere Bestandteile zerlegen, zum Beispiel die Säule in

feriert oder sie blieben trotz eines umfassenden Umbaus

Basis, Schaft und Kapitell. Für die folgende Betrachtung

in situ erhalten. Zur ersten Gruppe zählt, wie im Folgen-

erscheint jedoch eine weiterführende Unterteilung wenig

den gezeigt wird, die überwiegende Zahl wiederverwen-

sinnvoll, denn ob nun eine alte Säule im Ganzen oder nur

deter Werkstücke. Ein prominentes Beispiel hierfür bie-

deren Schaft in einen neuen architektonischen Kontext

ten die an anderer Stelle behandelten Natursteinschäfte

integriert wird, macht in kategorialer Hinsicht keinen

am Magdeburger Domchor, welche aus dem ottonischen

Unterschied. Entscheidend ist vielmehr, dass Werkstücke

Vorgängerbau in die gotische Kathedrale versetzt und in

oder deren Teile aufgrund ihrer überschaubaren Dimen­

einen völlig neuen tektonischen Zusammenhang gestellt

sionen die Möglichkeit des Versatzes an eine andere

wurden (Abb. 2.50).251

Stel­le bieten und sich hierin grundsätzlich von Gebäude-

Hingegen lässt sich die Konservierung alter Werkstü-

und Bauteilen unterscheiden, deren Integration notwen-

cke in situ nur sehr selten nachvollziehen, denn in der

dig in situ erfolgen musste. Gegenüber einfachen Bau-

Regel geht deren Erhalt mit der Bewahrung von alten

materialien wie Mauerziegeln oder Werksteinen, welche

Bau- und Gebäudeteilen einher, so dass die Bewahrung

ebenfalls einen Versatz an eine andere Stelle erlauben,

des einzelnen Werkstückes in einem größeren Kontext ge-

setzen sich Werkstücke dadurch ab, dass sie explizit ge-

schah, aber nicht explizit im Vordergrund stand. Auf der

248 Kap. 2.2.1. 249 Albrecht 2002, S. 120. 250 Diesem Kriterium der expliziten Gestaltung entsprechen auch Por­ tale, was der Grund dafür sein mag, dass es Beispiele von Por­talen

gibt, die wie Werkstücke versetzt wurden, obgleich der Aufwand dafür wesentlich höher war (Kap. 2.3.2). 251 Kap. 2.4.3.

62

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.50  Magdeburg, Dom, Binnenchor 1. Viertel 13. Jh., antike Schäfte aus der Vorgängerkirche

2.51  St. Denis, Binnenchor, Arkade mittleres 13. Jh., wiederverwen­ dete Abakusplatte mittleres 12. Jh.

anderen Seite macht ein kompletter Abriss von Bau- oder

Hierbei setzte man die alten Abakusplatten über den

Gebäudeteilen den Erhalt von Werkstücken in situ a priori

neuen Kapitellen der Arkadensäulen wieder an ihren ur-

unmöglich. Eine Wiederverwendung alter Werkstücke im

sprünglichen Positionen ein (Abb. 2.51).254

ursprünglichen Kontext kann im Grunde nur dann erfol-

Im Folgenden werden deshalb primär Werkstücke

gen, wenn das niedergelegte Kompartiment in der alten

thematisiert, die an eine neue Stelle transferiert wurden.

Struktur wiederaufgebaut wird.

Stehen die alten Teile erkennbar in einem neuen archi-

Ein seltenes, dafür umso bemerkenswerteres Beispiel

tektonischen Kontext, liegt die Frage nach der originä-

für eine derartige Bewahrung alter Werkstücke in situ bie-

ren Herkunft auf der Hand. Weil die Herkunft wiederum

tet der Umbau der Abteikirche St. Denis unter Abt Eudes

Rückschlüsse auf die Intentionen ermöglicht, kommt der

Clement ab 1231, bei dem die Wände des Binnenchores,

Differenzierung der Herkunftsarten eine zentrale Bedeu-

welcher knapp ein Jahrhundert zuvor unter Abt Suger er-

tung bei der Analyse des Phänomens zu. Grundsätzlich

richtet worden war,

wahrscheinlich aus statischen Grün-

muss nach Werkstücken, die zuvor bereits in derselben

den komplett niedergelegt und neu aufgebaut wurden.253

Kirche an anderer Stelle verbaut waren, und solchen, die

252 Kap. 4.3.1. 253 Bruzelius 1985, S. 82–91; Kimpel/Suckale 1985, S. 385. – Auch andere Aspekte verdeutlichen den Respekt, welchen man beim Umbau im 13. Jahrhundert dem alten Chor entgegenbrachte. So verwand man beim Austausch der Säulen wohl eine Hilfskonstruktion aus Holz,

um die Umgangsgewölbe des 12. Jahrhunderts abzustützen und auf diese Weise zu bewahren. Weiterhin fertigte man die neuen Kapitelle bewusst in einem retrospektiven Stil an. 254 Ebd.

252

63

2.4  DIE INTEGRATION ALTER WERKSTÜCKE: SPOPLIEN UND ASSERVATIEN

aus einem ganz anderen Gebäude, also aus einem frem-

rein ökonomischen Überlegungen über ästhetische An-

den Kontext stammen, unterschieden werden.

sätze bis zur politischen Ikonologie reicht.262 Deshalb sind

255

Spolien die Spuren der Vergangenheit, deren Erforschung

Spolien

sich bisher mit Abstand am weitesten entwickelt hat, ohne

Für ein »wiederverwendetes Werkstück aus einem älteren Bauwerk«

256

dass man freilich am Endpunkt angelangt wäre.263

hat sich im kunstwissenschaftlichen Sprach-

gebrauch der Terminus »Spolie« durchgesetzt, welcher

Kritik des Terminus »Spolie«

im frühen 16. Jahrhundert aufkam und durch Giorgio

Mit zunehmendem Erkenntnisstand wurde deutlich, dass

Vasari Verbreitung fand.

Bis in das erste Drittel des

alte Werkstücke nicht zwangsläufig aus einem fremden

20. Jahrhunderts hinein stieß das Phänomen der Spoli-

Ge­ bäude beschafft worden sein müssen, sondern auch

enverwendung in der kunsthistorischen Forschung auf

demselben Bauwerk entstammen können, wo sie zu ei-

wenig Interesse,258 weil Spolien nicht den stilgeschichtli-

nem früheren Zeitpunkt an anderer Stelle verbaut waren.

chen Sehgewohnheiten entsprachen, sondern aus jenem

In der Literatur schlug man für derartige Spuren der Ver-

Blickwinkel wie Fremdkörper wirkten, die unter dem Para-

gangenheit Begriffe wie »Eigenspolien« oder »hauseigene

257

digma stilreinen Bauens bisweilen als störend empfunden

Spolien«264 vor, doch bergen diese Wortschöpfungen ei-

wurden. So bezeichnete beispielsweise Richard Hamann

nen Widerspruch in sich, wenn man vom ursprünglichen

den neuen Chor des Magdeburger Doms aufgrund der

Wortsinn und Verwendungszweck des Terminus ausgeht.

dortigen Wiederverwendung alter Werkstücke abschät-

Etymologisch betrachtet leitet sich »Spolie« vom latei-

zig als »eine Rumpelkammer älterer Formbestände«259

nischen »spolia« ab, womit die vom geschlagenen Feind

(vgl. Abb. 2.50). In dieser Hinsicht verharrte die Kunst-

erbeutete Rüstung bezeichnet wurde.265 Dieser ursprüng­

geschichte lange Zeit in der Tradition Vasaris, der die

liche Wortsinn hallt noch im italienischen »spogliare«

Verwendung von Spolien als Mangel an künstlerischem

nach, das sowohl »ausziehen« als auch »berauben« bedeu-

Vermögen interpretierte.260 Erst die wegweisenden For-

ten kann,266 denn das Entkleiden stellt die notwendige

schungen von Friedrich Wilhelm Deichmann und Arnold

Voraussetzung für den Raub einer getragenen Rüstung

Esch um die Mitte des 20. Jahrhunderts öffneten das Tor

dar.

zu einem neuen Verständnis des Phänomens.261 Als in den

Das konstitutive Kriterium einer Spolie bildet demzu-

1980er Jahren zunehmend neue Ansätze der Architek-

folge die fremde Herkunft, und in diesem Sinn wurde der

turforschung diskutiert wurden, stieg auch das Interesse

Terminus anfänglich auch genutzt.267 Wiederverwandte

an Spolien sprunghaft an, deren semantisches Potential

Werkstücke aus der eigenen baulichen Vergangenheit

einen weiten Interpretationsspielraum eröffnet, der von

entsprechen folglich nicht der Definition einer Spolie, da

255 Die Differenzierung nach Stücken aus eigenem und fremden Kontext müsste in analoger Weise auch bei Bildwerken geleistet werden. 256 Reclam 2001, Stichwort »Spolie«. – Weitere Definitionen: »ein wiederverwendeter Bauteil, der einem abgebrochenen Gebäude entnommen ist« (Koepf/Binding 2005); »wiederverwendetes Bau­ teil aus älterem Gebäude« (Koch 2000). 257 Zur Entstehung des neuzeitlichen Spolienbegriffs: Meier 2007. – Zur Verteilung des Begriffs im Werk von Vasari: Ders., Vite (Index), Bd. 1, S. 421. 258 Zur Forschungsgeschichte der Spolie: Poeschke 1996a, S. 7–10. 259 Hamann 1909, S. 255. 260 Meier 2007, S. 2f. 261 Insbesondere Deichmann 1975; Ders. 1940; Esch 1969 (in jüngerer Zeit: Esch 2005). 262 Hans-Joachim Mrusek etwa meinte, beim Neubau der Magdeburger Kathedrale seien die alten Säulenschäfte wiederverwandt worden, »um den Chor beschleunigt zu vollenden« (Mrusek 1963, S. 40), und unterstellte damit rein ökomische Beweggründe. Hingegen interpretierte beispielsweise Günther Binding die Verwendung von Spoliensäulen primär als Mittel zur Entfaltung einer ästhetische Wirkung (Binding 2007). Der Ansatz kann jedoch nicht überzeugen, da sich die Untersuchung auf eine Akkumula­tion mittelalterlicher Quellen beschränkt, während der architektonische Kontext von Spolien und der historische Hintergrund der Wiederverwendung außer Acht bleiben. Zudem wird das Phänomen auf die Wiederverwendung von Säulen eingeengt. Bereits Joachim Poeschke und

Thomas Weigel betonten den ästhetischen Wert von Spolien, wiesen jedoch auch auf Beispiele hin, bei denen ein darüber hinausgehender Bedeutungsgehalt nicht zu leugnen sei (Poeschke 1996b; Weigel 1996). Problematisch für die Diskus­sion um die Deutung von Spolien erweist sich die häufig implizierte Annahme, es gäbe eine allgemeingültige Erklärung des Phänomens. Statt einer undifferenzierten Verallgemeinerung erfordert das Phänomen jedoch eine Betrachtung vom speziellen Fall aus, wie dies beispielsweise Beat Brenk, Werner Jacobsen und Thomas Raff erkannten und teilweise praktizierten (Brenk 1996, S. 49; Jacobsen 1996, S. 162–165; Raff 1994, S. 72–74). Ein weiteres Problem liegt darin, dass oftmals von einer monokausalen Inten­tion für die Verwendung der Spolien ausgegangen wird. Tatsächlich können sich jedoch verschiedene Sinnschichten überlagern, wie es etwa die Spolien im Magdeburger Chor veranschaulichen, bei denen sich eine ästhetische Wirkung, eine theologische Symbolik und eine imperiale Ikonographie nicht etwa ausschließen, sondern wechselseitig nobilitieren (Horn 2015a, 100–105, 114–117). Bibliographien zur Spolien-Forschung: Esch 2005, S. 61–70; Poesch­ ke 1996a, S. 347–358. Jacobsen 1996, S. 162. Pons-Globalwörterbuch Lateinisch-Deutsch, Stuttgart 21986, Stichwort »spolium«. Langenscheidt Wörterbuch Italienisch, Berlin 2006, Stichwort »spogliare«. Meier 2007, S. 2.

263 264 265 266 267

64

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

sie ein notwendiges Kriterium nicht erfüllen. Es handelt sich nicht um Artefakte fremder Herkunft, sondern um die Umnutzung von eigenen Bestandteilen der Kirche. Die geläufigen Definitionen einer Spolie in den Wörterbüchern verzichten in Anbetracht der Problematik auf die Nennung des fremden Kontextes als Kriterium, doch führt dies zu einer Aufweichung des Begriffs, welche die wissenschaftliche Differenzierung des Phänomens konterkariert. Zur Unterscheidung von Werkstücken aus dem eigenen oder einem fremden Kontext erscheint eine terminologische Präzisierung sinnvoll. Der Begriff »Spolie« sollte wieder auf seinen eigentlichen Wortsinn beschränkt werden und die Beschaffung aus einem fremden Bauwerk, das »Rauben« oder »Entkleiden«,268 notwendig voraussetzen. Auf diese Weise würden Spolien von älteren Werkstücken aus demselben Gebäude sprachlich klar abgegrenzt.

Einführung des Terminus »Asservatie« Um mit wiederverwandten Werkstücken aus demselben Gebäude im wissenschaftlichen Sprachgebrauch einfacher operieren zu können, macht es Sinn, einen Terminus einzuführen, welcher dem Begriff »Spolie« an Eingängigkeit und Anschaulichkeit ebenbürtig ist. Im Gegensatz zu Spolien wurden wiederwandte Werkstücke der eigenen baulichen Vergangenheit nicht geraubt, sondern schlicht-

2.52  Venedig, San Marco, Spolien der Portalzone

weg aufbewahrt; das lateinischen Verb hierfür lautet »asservare«. Allerdings ist das hieraus abgeleitete deutsche

sammenhang mit der Symbolik steht, so dass eine klare

Substantiv »Asservat«, das primär für Beweismittel, die in

sprachliche Unterscheidung bereits die Möglichkeiten ei-

amtliche Verwahrung genommen worden sind, genutzt

ner Deutung anklingen lässt.

wird, zu stark juristisch konnotiert. Insofern wäre für den

Der Markusdom in Venedig bietet in dieser Hinsicht

architekturhistorischen Sprachgebrauch ein neuer Begriff

ein ebenso prominentes wie anschauliches Beispiel. Im

von Nutzen. An dieser Stelle wird deshalb in Anlehnung

Laufe des 13. Jahrhunderts gestalteten die Venezianer

an das lateinischen Verb für »verwahren, aufbewahren«

die Domfassaden zum Markusplatz und zur Piazetta hin

– »asservare« – für ein altes Werkstück aus dem eigenen

um, indem sie die Portalzone mit Spolien schmückten,

architektonischen Kontext der Terminus »Asservatie« ein-

die in anderen Städten erbeutet wurden, vornehmlich im

geführt.

1204 von den Kreuzfahrern geplünderten Konstantinopel

Mittels der Differenzierung von wiederverwandten

(Abb. 2.52).269 Die Bezeichnung Spolien trifft hier in ihrer

Werkstücken in Spolien und Asservatien ist es möglich,

ureigensten Bedeutung zu. Die demonstrative Zurschau-

einem Adressaten bereits durch die Bezeichnung des Ar-

stellung der Beutestücke erinnert an die Präsentation von

tefakts eine präzise Information über dessen Herkunft

Trophäen und lässt sich somit als sichtbares Erinnerungs-

mitzuteilen. Diese in der Bezeichnung enthaltene Infor-

zeichen an vergangene Siege der Seerepublik verstehen,

mation ist von grundlegender Relevanz für das Verständ-

was einen Hinweis auf die eigene Stärke und Überlegen-

nis des Phänomens, weil die Herkunft, wie im Folgenden

heit impliziert.270 Ein derartiger Interpretationsansatz ist

exemplarisch veranschaulicht wird, in einem kausalen Zu-

hingegen bei Asservatien a priori ausgeschlossen, weil die

268 »Rauben« ist hier nicht im juristischen, sondern im übertragenen Sinne gemeint, denn die Entwendung einer Spolie kann schließlich auch mit Zustimmung des Hausbesitzers geschehen. Die Spolie wird dem Bauwerk »geraubt«.

269 Deichmann/Kramer/Peschlow 1981, S. 5f. 270 Ebd., S. 11–14.

2.4  DIE INTEGRATION ALTER WERKSTÜCKE: SPOPLIEN UND ASSERVATIEN

65

Werkstücke aus dem eigenen Kontext schon aus definito­ rischen Gründen keine Trophäen sein können. Eine andere Deutung erfordert der Versatz von Spolien beim Bau der Pfalzkapelle in Aachen um 800, die Karl der Große gemäß schriftlicher Quellen aus Ravenna und Rom beschaffen ließ (vgl. Abb. 2.03).271 Der historische Kontext liefert diesbezüglich einen plausiblen Ansatz, denn die Spolien lassen sich über ihre tradierten Herkunftsorte mit den imperialen Ambitionen beziehungsweise Ansprüchen Karls in Beziehung setzen und aus dieser Perspektive als Zeichen der Übertragung der römischen Kaiserwürde auf den fränkischen König interpretieren.272 Die wiederverwandten Werkstücke erfüllen die Definition von Spolien, da sie aus anderen Bauwerken in die Pfalzkapelle trans­ loziert wurden, auch wenn sie den fremden Gebäuden nur im übertragenen Sinn »geraubt« wurden, denn es lag die Erlaubnis des Eigentümers vor.273 Im Gegensatz zum vene­zianischen Beispiel entstammten die Spolien nicht dem Gebäude eines Feindes, sondern dem Gebäude eines verehrten Vorbildes. Damit handelt es sich bei den Aachener Spolien nicht um Trophäen, sondern um Objekte, mit denen die positiv besetzte Tradition eines fremden Ortes an den eigenen übertragen werden sollte. Asservatien können demgegenüber per definitionem

2.53  Reichenau-Mittelzell, St. Maria und Markus, karolingische Asservatie, Arkade frühes 11. Jh.

nur als Erinnerungsträger der eigenen Tradition des Ortes dienen. Insofern sind sie in der Regel positiv konno-

den Ort übertragen werden soll, sondern dass die Kontinu-

tiert, denn der jeweilige Akteur konnte kaum Interesse da-

ität einer Tradition, die bereits früher am Ort vorhanden

ran haben, die Tradition des Ortes negativ darzustellen.274

war bzw. gewesen sein soll, sichtbar gemacht wird. Asser-

Denkbar wäre eine bewusste Verwendung einer negativ

vatien bilden folglich Spuren der Vergangenheit, die stets

konnotierten Asservatie hingegen in der Erinnerungs­

die Erinnerung an die Tradition des Ortes in sich tragen.

kultur des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel in Gedenkstätten an den Holocaust. Für das Mittelalter konnte jedoch

2.4.2 Beispiele für Asservatien

in diesem Rahmen kein vergleichbares Beispiel gefunden werden, so dass Asservatien im Mittelalter durchweg posi-

Ein Beispiel für die Integration einer Asservatie bereits in

tiv besetzt zu sein scheinen.

der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts findet sich im Mari-

Der wesentliche Unterschied zur Verwendung von

enmünster zu Reichenau-Oberzell, wo man eine alte Säule

Spolien mit einem positiven Bedeutungsgehalt liegt in der

zur Erstellung einer Arkade zwischen Westquerhaus und

Referenz, also darin, dass nicht eine fremde Tradition auf

südlichem Seitenschiff nutzte (Abb. 2.53).275 Der Kontrast

271 Zu den Spolien der Aachener Pfalzkapelle mit Quellenangaben: Jacobsen 1996, S. 155–157, 162–165. 272 Hierfür spricht insbesonders die überlieferte Anfrage nach Spolien aus dem ravennatischen Palast Theoderichs des Großen. Die gezielte Wahl jenes Bauwerks legt nahe, dass Karl die Spolien als Bedeutungsträger auffasste, die seine Intention, nämlich sich in die Tradition des ersten großen germanischen Herrschers über das römische Reich zu stellen, symbolisch zum Ausdruck bringen konnten (siehe hierzu das Antwortschreiben Papst Hadrians I. an Karl den Großen; zitiert bei Jacobsen 1996, Anm. 2). 273 Jacobsen 1996, Anm. 2. 274 Anders gelagert wäre der Fall, wenn eine neue Institution ein älteres Gebäude assimiliert und eine neue Nutzung an dem Ort kons-

tituiert, wie es etwa bei der Einrichtung von Kirchen in römischen Tempeln der Fall war (siehe z. B. Kap. 6.4: Rom, San Lorenzo in Miranda). In derartigen Fällen könnten alte Werkstücken des Vorgängerbaus wiederum im Sinne von Beutestücken gedeutet werden, welche die Überlegenheit über den Gegner demonstrie­ren, im Beispiel die Überlegenheit des Christentums über die altrömische Religion. In diesem Sonderfall erfüllen die Werkstücke die Kriterien für Spolien und Asservatien gleichermaßen. 275 Erdmann/Zettler 1974, Anm. 155; Reisser 1960, S. 40, Abb. 34f, 253. – Die Autoren interessierten sich primär für die Säule, um Rückschlüsse auf die karolingische Baugestalt ziehen zu können, nicht jedoch für deren Integration im 11. Jahrhundert.

66

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.55  Bamberg, Dom, Kapitell spätes 11. Jh., Krypta frühes 13. Jh. bau der Gotik gerühmt.276 Erst in der jüngerer Zeit nahm man wahr, dass zahlreiche Asservatien in den neuen Gebäudeteilen eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen beziehungsweise herstellten.277 Je ein Paar alter Säulen, teils mit merowingischen Kapitellen, flankiert den nördlichen und südlichen Zugang zur alten Krypta, die in den Neubau integriert wurde (Abb. 2.54).278 Je eine weitere Asservatie befindet sich am Übergang von den tonnengewölbten vormaligen Seitenschiffen der Krypta in den

2.54  St. Denis, merowingische Asservatie, Eingang zum Krypta­ umgang mittleres 12. Jh.

neuen, aber in altertümlichen Formen angelegten Krypta­ umgang.279 Die Asservatien markieren auf diese Weise nicht nur die Dimensionen der alten Krypta, sondern ma-

zu den ansonsten wuchtigen Rechteckpfeilern der Kirche

chen durch ihr eigenes Alter zugleich auf das Alter des Ge-

hebt die Säule, deren Kapitellplastik eine Entstehungszeit

bäudeteils aufmerksam.

in der karolingischen Zeit der Kirche nahelegt, als Besonderheit hervor.

An einer ähnlichen Torsituation finden sich am Aufgang der Ostkrypta des Doms zu Bamberg, der wohl seit

Der Neubau der Ostteile der Abteikirche St. Denis bei

den 1210er Jahren gänzlich neu errichtet wurde, zwei alte

Paris unter Abt Suger 1140 bis 1144 wurde in der Literatur

Kapitelle, bei denen es sich um Asservatien aus dem spä-

lange Zeit wegen seiner Fortschrittlichkeit als Gründungs-

ten 11. Jahrhundert handeln dürfte (Abb. 2.55).280

276 Vgl. Kap. 4.3.1. 277 Albrecht 2003, S. 141; Clark 1993, S. 353. 278 Kap. 2.2.1.

279 Kap. 4.3.1. 280 Von Winterfeld 1968.

67

2.4  DIE INTEGRATION ALTER WERKSTÜCKE: SPOPLIEN UND ASSERVATIEN

In noch größerem Umfang fanden in St. Denis Asservatien ausgerechnet im frühgotischen Chorumgang Verwendung, wo Natursteinsäulen der alten Kirche vor jedem Pfeiler zwischen den nischenartigen Radialkapellen frei aufgestellt wurden und die Gurte des Gewölbes trugen.281 Die Asservatien wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ein Museum transferiert, so dass es sich bei den heute an jenen Stellen befindlichen Säulen um Arbeiten des 19. Jahrhunderts handelt, die von Violet-le-Duc initiiert wurden.282 Einen Hinweis auf die Bedeutung, welche man den Asservatien im Kontext des Chorneubaus beimaß, liefert deren Stellung innerhalb des konstruktiven Gefüges, denn als bildlich die kräftigen Gurte des Umgangs tragende Elemente entsprechen sie von der tektonischen Systematik her den freistehenden Säulen des Chorumgangs und Binnenchores als Tragelemente erster Ordnung. Auch wenn dies nicht der tatsächlichen statischen Belastung der alten Säulen entspricht – schließlich werden sie durch die starken Pfeiler hinter ihnen entlastet –, so werden sie gestalterisch als tragende Säulen inszeniert. In England fand man beim Chorumbau der erzbischöflichen Kathedrale von Canterbury ab 1175 eine bemerkenswerte neue Verwendung für Asservatien des Vor­gängerchors.283 Wilhelm von Sens, der namentlich überlieferte erste Baumeister, stellte die meisten der neuen Chorpfeiler über die massiven Stützen der großräumigen

2.56  Canterbury, Kathedrale, eh. Chorpfeiler spätes 11. Jh., nach 1175 in Kryptaumgang versetzt

alten Chorkrypta, welche weitgehend in ihrer alten Form in den Neubau einbezogen wurde (Taf. 2.06).284 Außerdem

Struktur des südlichen Nebenchores ein gedrungener

wurde die alte Chorscheitelkapelle niedergelegt und an

Bündelpfeiler in der Südostecke heraus, welcher prinzi-

ihrer Stelle eine eher an einen Umgangschor erinnernde,

piell den Kryptapfeilern aus dem 11. Jahrhundert ähnelt

zweigeschossige Kapelle für den kurz zuvor heilig gespro-

(Abb. 2.57).286 Walter Zimmermann schlug vor, dass der

chenen Erz­bischof Thomas Becket errichtet. Um eine flie-

Pfeiler vor dem gotischen Umbau Teil einer Arkatur zwi-

ßende räumliche Verknüpfung der beiden neugestalteten

schen Haupt- und Nebenchor war.287 Denkbar wäre aber

Gebäudeteile auf Chorebene zu ermöglichen, musste das

auch eine vormalige Verwendung im niedergelegten Kryp-

Stützenpaar, das die Grenze zwischen Chor und Kapelle

taobergeschoss, wofür die Ähnlichkeit mit den Pfeilern in

markiert, außerhalb des vorhandenen Stützenrasters der

der erhaltenen Krypta spricht. Bei der Umgestaltung der

Chorkrypta über einem Gewölbefeld des Kryptaumgangs

Ostteile um 1300 versetzte man den Pfeiler jedenfalls in

platziert werden. Die Lasten fing man ab, indem man alte

den Nebenchor und integrierte ihn als erkennbare Asser-

Rundpfeiler des späten 11. Jahrhunderts aus dem Chor

vatie in die Tragstruktur des neuen Kreuzrippengewölbes.

mitsamt der originalen Kapitelle (tau-cross capitals) und

Um Asservatien handelt es sich wohl auch bei den

Basen an die betreffenden Stellen des Kryptaumgangs ver-

beiden korinthisierenden Säulen an der Nord- und Süd-

setzte (Abb. 2.56).285

wand der äußeren Krypta (Abb. 2.58), die sich in ihrem

Beispiele für die Verwendung von Asservatien finden

Aufbau aus Basis, Schaft und Kapitell von den kompakten

sich auch im Essener Dom. So sticht aus der gotischen

Kryptapfeilern deutlich unterscheiden.288 Mittels Baufor-

281 282 283 284

285 286 287 288

Albrecht 2003, S. 137 Ebd.; Clark 1994, S. 5. Druffner 1994, S. 24; Kahn 1991, S. 80; Woodman 1981, S. 74. Kap. 2.2.1.

Datierung der Pfeiler nach Kahn 1991, S. 80. Horn 2015a, S. 165f. Zimmermann 1956, S. 243. Hierzu ausführlich: Horn 2015b.

68

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.57  Essen, Dom, Pfeiler Mitte 11. Jh., um 1300 in südlichen Neben­ chor versetzt

2.58  Essen, Dom, Säule Mitte 11. Jh., um 1300 in Krypta versetzt

schung ließen sich Indizien finden, die für einen Versatz

2.59  Essen, Dom, Basis der Säule (Abb. 2.56), erstellt um 1300 in retrospektiver Form

der Säulen von einem anderen Ort an die heutige Stelle sprechen.289 Analog zum Pfeiler im südlichen Nebenchor kann der Versatz mit dem gotischen Umbau in Verbindung gebracht werden. Ein interessanter Unterschied besteht allerdings in der jeweiligen Einbindung der Asservatien. Während der Pfeiler im südlichen Nebenchor in die neue gotische Struktur eingebunden wurde und deshalb leicht als Asservatie erkennbar ist, integrierte man die beiden Säulen in die Krypta des 11. Jahrhunderts, also eine zeitlich entsprechende Umgebung, so dass man die Säulen lange Zeit zum originalen Bestand der Krypta zählte.290 Die Integration erfolgte so überzeugend, dass lange unbemerkt blieb, dass die Basen mit ihren eingesackten

289 Ebd., S. 35f. 290 Klaus Lange brachte die Möglichkeit eines Versatzes erstmals in die Diskussion ein (Lange 2001, S. 37). Er konnte sich dabei jedoch nur auf einen anonymen Restaurationsbericht von 1851 stützen, dessen Aussagen nicht überprüfbar sind.

69

2.4  DIE INTEGRATION ALTER WERKSTÜCKE: SPOPLIEN UND ASSERVATIEN

2.60  Essen, Dom, Wandvorlage auf der nördlichen Westbau­ empore zusammengefügt nach 1300, Basis (und Schaft?) mittleres 11. Jh., wiederverwendet

2.61  Essen, Dom, Weihwasserbecken 1. Viertel 14. Jh., Kapitell 11. Jh., als Basis wiederverwendet

Mulden und kantigen oberen Tori stilkritisch als spätere

mental von den gotischen Tellerbasen, die beim gotischen

Zutat entlarvt werden können (Abb. 2.59).291 Vielmehr deu-

Umbau des Essener Münsters Verwendung fanden. Glei-

tet ihre Form auf eine Entstehung in der Gotik hin, wenn-

che Basen finden sich hingegen in den Westbaukammern

gleich der Steinmetz nicht die im Langhaus realisierten

an Säulen des 11. Jahrhunderts. Folglich handelt es sich

Tellerbasen kopierte, sondern Formmerkmale der romani-

bei der Basis um eine Asservatie aus dem Westbau. Mög-

schen Basen einfließen ließ, indem etwa die unteren Tori

licherweise stammt auch der monolithische, freistehende

als Wulst ausgebildet wurden. Anscheinend gingen die

Schaft aus dem spätottonischen Westbau, denn er unter-

originalen Basen im Zusammenhang mit dem gotischen

scheidet sich deutlich von seinem Pendant in der Südecke,

Umbau verloren und man bemühte sich, die neuen Basen

der nicht nur aus zwei Stücken zusammengefügt wurde,

formal anzupassen.

sondern auch deutlich schmaler ausfällt.

Auf der nördlichen Westbauempore befindet sich eine

Eine weitere Asservatie findet sich im Essener Dom am

Wandvorlage mit umgekehrten Vorzeichen (Abb. 2.60).

gotischen Weihwasserbecken der Kirche, wo ein ionisches

Die Vorlage bezieht sich auf die gotische Gewölbestruk-

Kapitell, das den Kapitellen der aus dem 11. Jahrhundert

tur und weist zudem ein Blattkapitell auf, das formen-

erhaltenen Säulen in den Westbaukammern formal ent-

geschichtlich gut in die Jahrzehnte um 1300 passt. Die

spricht, zu einer Basis umfunktioniert wurde (Abb. 2.61).292

auffallend hohe Basis unterscheidet sich hingegen funda-

Demgegenüber handelt es sich bei dem Natursteinschaft

291 Horn 2015a, S. 166f.

292 Ebd., S. 167f; Zimmermann 1956, S. 197.

70

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

scharfgratigen Profile im Zusammenhang mit der Einwölbung des Doms im 14. Jahrhundert entstanden sind,294 auf Gesimskonsolen auf, deren Profilierung und Ornamentik, etwa der Würfelfries, hingegen in die Entstehungszeit des Doms in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts weisen (Abb. 2.62). Zudem lässt sich nicht verkennen, dass Rippen und Konsolen keiner einheitlichen Systematik folgen. Der Literatur sind diese Feststellungen nicht verborgen geblieben, doch wurde eine klare Aussage darüber, ob sich die Gesimse bereits vor der Wölbung an ihren heutigen Positionen befanden oder ob sie zweitverwendet wurden, meist vermieden.295 In beiden Fällen handelt es sich um

2.62  Havelberg, Dom, Nebenchorkapellen, Gewölbe 14. Jh., Kon­ solen aus Gesimsteilen 12. Jh.

bemerkenswerte Spuren der Vergangenheit. Die bei einigen Gesimsen erkennbare Einbindung in das Mauerwerk spricht aber meines Erachtens für eine nachträgliche, spä-

der bekannten Kreuzsäule aufgrund des Materials und der

tere Anbringung,296 so dass es sich bei den Gesimsen um

Bearbeitung um eine antike Spolie.293

Asservatien des alten Doms handeln müsste.

In den Nebenchorkapellen des Doms zu Havelberg set-

Auch beim Wiederaufbau des Basler Münsters in der

zen die Rippen der Kreuzgewölbe, die nachweislich ihrer

zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts integrierte man alte

2.63  Basel, Münster, Blendarkatur auf dem nördlichen Querhauslaufgang 2. Hälfte 14. Jh., Säulen 11./12. Jh.

293 Horn 2015a, S. 171–173; Falk 2011, S. 151–154; Kat. Essen 2009, S. 56f (Sonja Hermann); Pothmann 1997, S. 53–55; Beuckers 1994; Zimmermann 1956, S. 195–197. 294 Hoffmann, J. 2012a, S. 247f; Ders. 2012b, S. 83–87; Schöfbeck 2012. 295 Z. B. Hoffmann, J. 2012a, S. 128. 296 So sieht man etwa an der Trennwand der südlichen Nebenchor­

kapellen (Hoffmann, J. 2012a, S. 130, Abb. 134), dass das Gesims links ein Eckprofil aufweist, rechts aber auf Stoß mit einem anderen Stück gefertigt wurde. Darüber hinaus läuft das Mauerwerk daneben homogen durch und weist keine Flickstelle auf, wie es sein müsste, wenn dort ein Gesimsstück entfernt worden wäre.

71

2.4  DIE INTEGRATION ALTER WERKSTÜCKE: SPOPLIEN UND ASSERVATIEN

Werkstücke. Der Laufgang des nördlichen Querhauses verfügt über eine Blendarkatur mit frei vor der Wand stehenden Säulen (Abb. 2.63). Kapitelle, Schäfte und Basen sind allseitig aus unterschiedlichem Steinmaterial gearbeitet. Die Kämpfer binden hingegen in das rückwärtige Mauerwerk ein und sind aus denselben rötlichen Steinquadern gefertigt worden. Kapitelle, Schäfte und Basen setzen sich aufgrund ihres Materials nicht nur voneinander, sondern vor allem vom Quadermauerwerk der Querhauswände deutlich ab. Mit ihren lebhaften Flechtwerkkapitellen und prallen Basen samt Eckzehen lassen sich die Säulen in das 12. Jahrhundert datieren. Laut François Maurer-Kuhn wurden die östlichen Querhauswände ab dem Emporenfußgesims jedoch erst nach 1356 wieder­

2.64  Le Puy, Kathedrale, Porte Papale (spätes 12. Jh.) mit Fragment eines frühchristlichen Sarkophags

errichtet.297 Abarbeitungsspuren an den Wandstellen hinter den Schäften und den Basen belegen, dass die Säulen

Tragstruktur in den alten Formen nach oben hin verlän-

nachträglich vor die Mauer gestellt und nicht für diese

gert und hierbei die originalen Kapitelle einige Meter

Stelle gefertigt wurden. Die mit dem spätgotischen Qua-

weiter nach oben versetzt. Die Wiederverwendung der

dermauerwerk verbundenen Kämpfer hingegen beweisen,

alten Werkstücke erfolgte in Bremen somit sehr eng am

dass die Aufstellung der Säulen beim Wiederaufbau des

ursprünglichen Kontext; es wirkt, als wären die Kapitelle

14. Jahrhunderts von vornherein geplant war. Interessan-

lediglich nach oben verschoben worden.

terweise griff man hierbei romanische Kämpferformen

Auf einige Beispiele von Asservatien im Kontext von

auf (hoher, gekehlter Block und Platte). Weiterhin spre-

Torsituationen wies Stephan Albrecht hin.300 So verbaute

chen teils starke Beschädigungen an den Werkstücken für

man beim im 14. Jahrhundert erfolgten Neubau der Ma-

eine Zweitverwendung. Bei der Aufstellung an den Quer-

rienkirche auf dem Sand in Breslau ein Portaltympanon

hauswänden trug man dem Rechnung, indem man die

des 12. Jahrhunderts über einer Tür zum Kreuzgang.301 Das

stärker beschädigten Seiten zur Wand drehte. Es spricht

wiederverwandte Werkstück zeigt, wie die inschriftlich

demnach einiges dafür, dass die Säulen nach dem Erdbe-

identifizierbare Gründerin Gräfin Maria Vlast der thro-

ben 1356 als Asservatien an eine andere Stelle des Müns-

nenden Muttergottes ein Modell der Kirche überreicht.

ters versetzt wurden. Dieser Vorgang muss im Zusammen-

Die Asservatie fungierte offenbar als bildliches Dokument

hang mit einer programmatischen Imitation alter Formen

der Kirchengründung.

im Basler Münster gesehen werden.298

Ein Verweis auf die Gründung findet sich auch an der

Im Bremer Dom wurde im frühen 16. Jahrhundert

ins späte 12. Jahrhundert datierten Porte Papale der Ka-

das nördliche Seitenschiff erhöht (vgl. Abb. 2.38).299 Der

thedrale von Le Puy, wo im Tympanon Teile eines früh-

Scheitel des neuen spätgotischen Netzgewölbes liegt seit-

christlichen Grabmals eingesetzt wurden (Abb. 2.64).302

her auf dem Niveau der Mittelschiffsgewölbe des 13. Jahr-

Die Inschrift, welche den gestalterischen Mittelpunkt

hunderts, so dass man die Obergadenwände zwischen

des Tympanons bildet, nennt den Bischof Scutarius, der

den Pfeilern entfernen konnte. Die Kelchblockkapitelle,

nachweislich zu den Gründern der Kirche gezählt wurde.

auf denen das Netzgewölbe aufsetzt, stammen formen­

An den Flanken des nördlichen Hauptportals der

geschichtlich jedoch aus der zweiten Hälfte des 12. Jahr-

Tübinger Stiftskirche, die im 15. Jahrhundert unter der

hunderts, wie auch die vertikale Tragstruktur mit Halb-

Trägerschaft des württembergischen Grafen neu errich-

säulen vor einer rechteckigen Vorlage und in die Ecken

tet wurde, vermauerte man Steine mit Reliefs von Fabel­

eingestellten jüngeren Diensten. Anscheinend wurde

wesen, die anscheinend aus der Vorgängerkirche des

bei der Erhöhung des Nordseitenschiffs die bestehende

12. Jahrhunderts stammen (Abb. 2.65).303 Dass es sich bei

297 298 299 300

301 Ebd., S. 120. 302 Ebd., S. 123f. 303 Ebd., S. 124.

Maurer-Kuhn 2005, S. 232. Kap. 4.3.3. Kap. 2.3.1. Albrecht 2002.

72

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.65  Tübingen, Stiftskirche, Reliefs 12. Jh., Portal 15. Jh. 2.66  Münster, Dom, Hauptportal mit nachträglich eingesetztem Türsturz

diesen Spuren der Vergangenheit um Erinnerungsstücke handelt, belegt ein ähnlich reliefierter Stein, der in Sichthöhe an der Südwestecke der Kirche eingefügt wurde und mittels einer Inschrift explizit an die Vorgängerbauten erinnert: »der stain lit an der dr(i)d Kirche uf dieser hofstat«.304 Darüber hinaus beweist die Inschrift ein bemerkenswertes Bewusstsein für die bauliche Tradition des Ortes, da sie die Kirche richtigerweise als den dritten Neubau an jener Stelle ausweist. Eine Asservatie verbaute man auch am Hauptportal des Doms zu Münster. Der Türsturz des Portals (Abb. 2.66) lässt sich anhand seiner Reliefs stilistisch in die Mitte des 13. Jahrhunderts datieren, was zeitlich gut zu der ­etwas älteren Vorhalle passt.305 Abarbeitungsspuren legen jedoch nahe, dass der Sturz in späterer Zeit an seine heutige Stelle versetzt wurde. Die Vorschläge, wann die Reliefs an den heutigen Platz versetzt wurden, sind ebenso zahlreich wie die Thesen über ihren ursprünglichen Verwendungszweck.306 Meines Erachtens wäre der Versatz des reliefierten Sturzes plausibel mit dem umfassenden Umbau der Vorhalle um 1480 zu sehen,307 was bisher wohl aufgrund des zeitlichen Abstandes nicht in Betracht gezogen wurde.308 Aber ganz unabhängig davon, wann der Sturz an seine heutige Position versetzt wurde, so zeugt die Wahl von einem architekturhistorischen Bewusstsein,

304 Zitiert nach Albrecht 2002, S. 124. 305 Datierungen: Lobbedey/Scholz/Vestring-Buchholz 1993, S. 272f (Paradiesvorhalle); Lobbedey u. a. 2004, S. 130 (Türsturz). 306 Überblick bei Lobbedey u. a. 2004, S. 130. 307 Datierung des spätgotischen Umbaus der Paradiesvorhalle: Lobbe­ dey/Scholz/Vestring-Buchholz 1993, S. 286f.

308 Im Rahmen der spätgotischen Baukampagne fand in jedem Fall eine Auseinandersetzung mit der alten Architektur statt, denn es kam sogar zu einer Imitation alter Formen (Kap. 4.2.2).

73

2.4  DIE INTEGRATION ALTER WERKSTÜCKE: SPOPLIEN UND ASSERVATIEN

denn man platzierte das reliefierte Werkstück in einen

lasste Transfer antiker Spolien in das nordalpine Reich

zeitlich entsprechenden Kontext. Ein vergleichbares Kon-

erinnert deutlich an das Vorgehen Karls des Großen bei

zept einer Integration in einen zeitlich passenden Kontext

der Ausstattung seiner Pfalzkapelle in Aachen,314 was wohl

ließ sich weiter oben bei zwei Säulen in der Krypta des Es-

kein Zufall ist, da Otto sich als dessen Nachfolger insze-

sener Doms aufzeigen.

nierte.315 Insofern müssen die Spolien in einem vergleich-

Stellvertretend für die vermutlich unzähligen Beispie­le

baren Sinn als sichtbare Symbole des römischen Kaiser-

für die Verwendung von Asservatien in einfachen Pfarr-

tums, das Otto der Große wie einst Karl beanspruchte und

und Landkirchen sei schließlich exemplarisch auf einen

schließlich auch übertragen bekam, aufgefasst werden.316

Aufsatz von Friedrich Fuchs hingewiesen, der in der Diö­

Ein Wandel des Bedeutungsgehaltes der Spolien voll-

zese Regensburg zahlreiche Beispiele für die sichtbare

zog sich allerdings, als nach einem Brand 1207 unter Erz-

Wiederverwendung alter Werkstücke entdeckte, bei denen

bischof Albrecht II. von Käfernburg ein kompletter Neu-

es sich überwiegend um Asservatien handelt, die im Auf-

bau der Magdeburger Kathedrale begann. Die antiken

satz freilich als Spolien bezeichnet werden.309 Die beacht-

Natursteinschäfte des ottonischen Vorgängerbaus wur-

liche Spannweite von Typen reicht von Reliefs über Teile

den dabei konserviert,317 indem sie in einen neuen kon­

eines Rippengewölbes bis zu einer in anderem Kontext

struktiven Kontext überführt und in die Tragstruktur des

wiederverwandten Mensaplatte.

Binnenchores integriert wurden. Aus der Perspektive des stauferzeitlichen Domneubaus betrachtet handelt es sich

2.4.3 Spolien, die zu Asservatien wurden

bei den Natursteinschäften folglich um Asservatien, um aufbewahrte Elemente des alten Doms.

Einen ebenso interessanten wie aufschlussreichen Fall

Die Natursteinschäfte des Magdeburger Domchores

hinsichtlich der Differenzierung von wiederverwendeten

können demnach sowohl als Spolien wie auch als As-

Werkstücken in Spolien und Asservatien hält der Magde-

servatien angesprochen werden. Die treffende Wahl der

burger Dom mit seiner demonstrativen Integration alter

Bezeichnung hängt vom Kontext ab, in dem die Schäfte

Natursteinschäfte im stauferzeitlichen Chor bereit (vgl.

betrachtet werden. Die Bezeichnung »Spolie« hebt die

Abb. 2.50).310 Aufgrund ihres kostbaren Materials – Granit,

antike, römische Herkunft der Schäfte hervor. Die Be-

Marmor und Porphyr – sowie ihrer Bearbeitung lassen

zeichnung »Asservatie« verweist demgegenüber auf die

sich die Schäfte als antike Artefakte identifizieren.311 In

Wiederverwendung von Elementen des alten Doms im

der Literatur werden die Schäfte deshalb übereinstim-

neuen Kirchenbau. Im Zusammenhang mit dem ottoni-

mend auf eine Mitteilung in der gegen 1010 entstandenen

schen Dom kann nur von Spolien, nicht jedoch von As­

Chronik Thietmars von Merseburg bezogen, dass Kaiser

servatien gesprochen werden. Im Zusammenhang mit

Otto der Große »kostbaren Marmor, Gold und Edelsteine

dem Chor des 13. Jahrhunderts wären hingegen beide

[…] nach Magdeburg schaffen«312 ließ. Die Schäfte wären

Bezeichnungen zulässig, sie rekurrieren jedoch auf un-

demzufolge anlässlich der von Otto I. initiierten Grün-

terschiedliche Zeitschichten. Spricht man von Spolien,

dung des Erzbistums Magdeburg zur Ausstattung des

so betont man die ursprüngliche Herkunft der Artefakte,

neu konstituierten Doms aus Italien an die Elbmetropole

spricht man von Asservatien, so hebt man die Herkunft

transferiert worden, wo sie vermutlich als Stützen der

aus dem alten Dom hervor.

Langhausarkaden dienten.313

Die sprachliche Differenzierung erleichtert darüber

Im ottonischen Dom zu Magdeburg sind die Schäfte

hinaus die Differenzierung der Bedeutungsebenen, auf

folgerichtig als Spolien zu bezeichnen, da sie einem frem-

denen die Schäfte betrachtet werden können, weil die Be-

den Bauwerk entnommen wurden. Der kaiserlich veran-

deutungen vom jeweiligen zeitlichen Kontext abhängen.

309 Fuchs 2007, S. 33–39. 310 Horn 2015a, S. 100–105; Meckseper 2001; Ders. 1996, S. 179–185; Schubert 1998; Götz 1966. 311 Meckseper 2001, S. 368. 312 Thietmar, Chronicon II, 17 (ed. Trillmich, S. 52): »Preciosum quoque marmor cum auro gemmisque cesar precepit ad Magadaburc adduci.« – Zur Datierung der Chronik: Trillmich 1960, S. XXIII–XXV. 313 Meckseper 2001, S. 374f; Leopold 1989, S. 65; Schubert 1989, S. 26. 314 Vgl. Kap. 2.4.1. 315 Dieser Zusammenhang wurde auch von den Zeitgenossen herge-

stellt. So pries Papst Johannes XIII. Otto als dritten großen Kaiser nach Konstantin und Karl (Schramm 1957 [1929], S. 68f). 316 Horn 2015a, S. 102; Bosman 2012; Horn 2011; Schubert 1998; Götz 1966. 317 In der Literatur wird oftmals von einer Überführung der »Säulen« des ottonischen Doms geschrieben (z. B. Rogacki-Thiemann, S. 57; Götz 1966, S. 97), es wurden jedoch nur die Schäfte wiederverwandt. Die Kapitelle stellen zwar eine bemerkenswerte Imitation der antiken Kompositordnung dar, wurden aber nachweislich erst im 13. Jahrhundert geschaffen (Horn 2015a, S. 103–105).

74

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

für den Bau der Marienkapelle genutzt, wo neben den hochreliefierten Marmorplatten an der Nordwand zier­ liche Natursteinschäfte in die Tragstruktur der Kapelle integriert wurden.321 Hierbei handelt es sich wiederum um Asservatien, die nicht als Spolien in den alten Dom gelangten. Einen bemerkenswerten Fall für die Verwendung von Asservatien bietet die Neukombination von zwei alten Werkstücken bei der Errichtung der Paradiesvorhalle am nördlichen Querhaus der ehemaligen Stiftskirche St. Patrokli in Soest um 1200 (Abb. 2.68).322 Zur Konstruktion der zentralen Säule der Doppelarkade am Eingang nutzte man eine Asservatie in Form einer älteren romanischen Säule aus dem für die Region typischen grünen Sandstein,

2.67  Magdeburg, Domremter, wiederverwendete Spolien aus dem ottonischen Dom, Kapitell zur Basis umfunktioniert Mit den Spolien verbindet sich oben skizzierter imperia-

2.68  Soest, St. Patrokli, Säule der Paradiesvorhalle am Westbau, zusammengesetzt um 1200: Kapitell antik, romanisches Kapitell als Basis

ler Symbolgehalt, der unter Otto dem Großen mittels der Translokation der Schäfte sinnbildlich auf den Magde­ burger Dom übertragen werden sollte. Während dieser Aspekt der Magdeburger Natursteinschäfte in der Literatur meist im Vordergrund stand, wurde jüngst vom Verfasser auf den gewandelten Bedeutungsgehalt hingewiesen, den die Spolien als Asservatien des stauferzeitlichen Chores im historischen Kontext erfuhren.318 So ließ sich aufzeigen, dass die Präsentation der antiken Schäfte im neuen Chorhaupt einer umfassenden gestalterischen Strategie folgt, die Magdeburger Kathedrale als kaiserliche Gründung und Grabeskirche zu kennzeichnen und auf diese Weise die imperiale Tradition des Ortes, auf welche die Erzbischöfe ihren Rang und Status stützten, auch mit architektonischen Mitteln zu visualisieren.319 Neben den signifikanten Natursteinschäften im Binnenchor fanden auch andere alte Werkstücke an weniger markanten Stellen im Umfeld des Magdeburger Dombaus eine weitere Verwendung. In engem Zusammenhang mit den Chorasservatien stehen die Säulen im neu errichteten Remter, bei deren Schäften es sich ebenfalls um Spolien des ottonischen Doms handelt. Zum Teil haben sich auch die alten Kapitelle erhalten,320 die allerdings als Basen eine neue Verwendung fanden (Abb. 2.67). Teile des roma­ nischen Lettners wiederum hat man nach Ernst Schubert

318 Horn 2015a, S. 138–143; Ders. 2011, S. 29–30. 319 Ebd. 320 Die Kapitelle ähneln frühmittelalterlichen Stücken aus dem byzantinischen Raum. Cord Meckseper nennt Vergleichsbeispiele des 6.–8. Jahrhunderts in Italien und Istrien (Ders. 2001, S. 370).

321 Schubert 1984, S. 43. 322 Trunk 1989.

75

2.4  DIE INTEGRATION ALTER WERKSTÜCKE: SPOPLIEN UND ASSERVATIEN

welche man buchstäblich auf den Kopf stellte, so dass ihr zugehöriges Würfelkapitell zur Basis umfunktioniert wurde. Als neues Kapitell nutzte man stattdessen ein korinthisches Marmorkapitell, das in die trajanische Zeit datiert wird und somit lange vor der Gründung der Kirche 965 entstand.323 Während es einerseits unwahrscheinlich ist, dass das Kapitell speziell für die Vorhalle beschafft wurde und andererseits eine Verwendung im ottonischen Gründungsbau

plausibel

erscheint,

kann

davon

ausgegangen werden, dass das Kapitell zunächst als Spolie in die Kirche gelangte und bei einem späteren Umbau als Asservatie in einem neuen konstruktiven Zusammenhang konserviert wurde.324 Aufgrund der Drehung der alten Sandsteinsäule lässt sich leicht erkennen, dass es sich bei der heutigen Säule um eine Kombination zweier alter Elemente handelt, so dass die Frage berechtigt ist, ob das Erkennen nicht sogar gewollt war. Ein ähnliches Beispiel mit umgekehrten Vorzeichen liefert eine Säule, die freistehend im nordöstlichen Chorturm von St. Aposteln zu Köln, der um 1200 datiert wird, verbaut wurde (Abb. 2.69).325 Während die formale Gestaltung des Kapitells auf eine Entstehung im 10. oder 11. Jahrhundert hinweist, soll der Schaft ursprünglich als Spolie in den Bau gelangt sein.326 Ob die Werkstücke erst beim Einbau in den Turm um 1200 kombiniert wurden oder schon vorher eine Einheit bildeten, lässt sich kaum klären. Die Art und Weise allerdings, wie die Säule freistehend verbaut und damit gleichsam präsentiert wurde, lässt auf eine gewisse Wertschätzung schließen, die dafür spricht, dass die Säule vorher an einer anderen Stelle der Kirche stand und im Zuge des Chorumbaus mit Bedacht als Asservatie erhalten wurde. In Italien bietet die Franziskanerkirche S. Lorenzo Maggiore in Neapel ein hervorstechendes Beispiel für eine planmäßige Verwendung von Asservatien, die früher als Spolien in den Bau gelangten. Im neu erbauten Langhaus des frühen 14. Jahrhunderts wurden freistehende Säulen in das Tragsystem der nördlichen Mittelschiffswand integriert, deren Schäfte und korinthischen Kapitelle als antike Spolien in die frühchristliche Kirche gelangten und dort wohl die Arkaden trugen (Abb. 2.70).327 Für die Integration der Asservatien in das gotische Langhaus wurden die antiken Schäfte teilweise aufgestockt, um ein einheitliches Kapitellniveau zu gewährleisten. Darüber hinaus orientieren 323 Datierung des Kapitells nach Trunk 1989, S. 142. 324 So auch Meckseper 1996, S. 187. 325 Stracke 1992, S. 130–133; Ders. 1984, S. 183. – Zum Umbau von St. Aposteln siehe auch Kap. 3.3.

2.69  Köln, St. Aposteln, Säule im nordöstlichen Chorturm, zusammengesetzt um 1200: Kapitell 10./11. Jh., Schaft antik 326 Die Datierung der merkwürdigen Basis muss noch geklärt werden. Die für die Zeit um 1200 ungewöhnliche Höhe ist, wie auch die fehlenden Eckzehen, Indiz dafür, dass auch die Basis eine Asservatie ist. 327 Datierung nach Berger-Dittscheid 1990, S. 52.

76

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

2.70  Neapel, S. Lo­ renzo, nördliche Mit­ telschiffswand frühes 14. Jh., antike Schäfte und Kapitelle sich die seitlichen Vorlagen der gotischen Pfeiler in ihren

leuchteten alten Gebäude- und Bauteilen, die als monu-

Dimensionen erkennbar an den Vorbildern aus dem alten

mentale Zeugnisse der Tradition des Ortes verstanden

Langhaus.

werden können, interessiert in diesem Untersuchungs­ rahmen vor allem, ob auch die Asservatien als gebäude­

2.4.4 Asservatien als Erinnerungsträger

eigene Elemente – im Unterschied zu Spolien – als Erinnerungsträger der eigenen Geschichte fungierten.

Die Untersuchung wiederverwendeter Werkstücke ist ein

Ein instruktives Beispiel liefert der Magdeburger Dom,

weites Feld, das bisher vor allem unter dem Aspekt »Spo-

insbesondere dessen Chorsäulen, bei denen nicht nur eine

lien« bestellt wurde. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass eine

hohe symbolische Bedeutung aufgezeigt, sondern auch

Differenzierung wiederverwandter Artefakte nach ihrer

der Bedeutungswandel im historischen und architektoni-

Herkunft in Spolien und Asservatien sinnvoll, wenn nicht

schen Kontext nachgezeichnet werden kann.329 Während

sogar notwendig ist. Eine derartige Unterscheidung dient

die Natursteinschäfte im ottonischen Dom als römische

nicht nur der terminologischen Präzisierung, indem die

Spolien auf das römische Kaisertum Ottos des Großen ver-

Herkunft bereits mittels der Bezeichnung erkennbar wird,

wiesen, erinnern die Schäfte im Chor des 13. Jahrhunderts

sondern erleichtert auch den hermeneutischen Zugriff,

als Asservatien an die Gründung des Doms durch Otto.

weil die unterschiedliche Referenz – eigene Vergangenheit

Als Vergleichsbeispiel bietet sich das ehemalige Essener

oder fremder Kontext – als wesentliches Unterscheidungs-

Münster an, wo Asservatien im Kontext des Umbaus um

kriterium zum Ausdruck kommt. Das impliziert natürlich,

1300 ebenfalls als Erinnerungsträger der Tradition des Or-

dass Spolien und Asservatien ein bestimmter Bedeutungs-

tes gedeutet werden können.330 Ver­glichen mit dem Mag-

gehalt zugesprochen werden kann, der folglich kontext­

deburger Dom fiel die Verwendung in der Damenstiftskir-

abhängig ist und fallspezifisch diskutiert werden muss.

che allerdings überschaubar aus. Das könnte daran liegen,

Das heißt freilich nicht, dass jede Wiederverwendung

dass die Tradition des Ortes in Essen mittels der Integra­

eines alten Werkstücks zwingend einen tieferen Sinn er-

tion ganzer Gebäude- und Bauteile bereits eindrücklich

gibt. In manchen Fällen mögen rein ästhetische oder öko-

vor Augen geführt wurde, so dass ein umfassenderer

nomische Beweggründe den Ausschlag gegeben haben. In

Einsatz von Asservatien schlichtweg unnötig war. Dafür

anderen Fällen lassen sich semantische Aussagen jedoch

spricht auch, dass man die beiden antikisierenden Säulen

kaum leugnen.

in die Krypta versetzte, wo sie in einer zeitlich entspre-

328

328 Kap. 2.4.2.

Im Zusammenhang mit den zuvor be-

329 Horn 2015a, S. 138–143; Bosman 2012; Horn 2011.

77

2.5  DIE INTEGRATION ALTER BAUMATERIALIEN

chenden Umgebung gar nicht als Asservatien erkennbar

Übergangs eingesetzt wurden, die kaum zufällig sein kann.

sind. Das mussten sie auch nicht sein, denn schließlich

In Bamberg und St. Denis finden sich Asservatien an den

diente die ganze Krypta als Erinnerungsraum an die Tra-

Zugängen zur Krypta, in Soest und Münster in den Por-

dition des Ortes.

talvorhallen. Es scheint, als habe man dem eintretenden

Im Gegensatz zu Essen verhinderte in Magdeburg die

Betrachter bereits eine Vorstellung von der Vergangen-

Achsendrehung des neuen Dombaus die Inkorporation

heit der Kirche oder des Gebäudeteils vermitteln wollen.

alter Gebäude- und Bauteile. Die Integration von Asser-

In St. Denis, wo eine partielle Integration der alten Krypta

vatien bot folglich die einzige Chance, die Tradition des

stattfand,331 signalisieren die Asservatien den Übergang in

Ortes mittels authentischer Materie nicht nur anschau-

einen realiter älteren Gebäudeteil.

lich zu machen, sondern auch zu bezeugen. Die Plakativi-

Auch in Reichenau-Mittelzell steht die Asservatie nicht

tät des Magdeburger Konzepts erklärt sich somit aus dem

an einer beliebigen Stelle, sondern an einer räumlichen

Bestreben, das Fehlen alter Gebäude- oder Bauteile in situ

Grenze zwischen Seitenschiff und Querhaus, wo sie wie die

zu kompensieren.

in situ erhaltenen Kämpfer im Chor von St. Denis die Ver-

Bei den weiteren Beispielen, die angeführt wurden,

gangenheit im Kirchenraum sichtbar macht. Der gehäufte

müsste die Asservatien-Verwendung erst in einem ganz-

Nachweis der Nutzung von Asservatien an signifikanten

heitlichen Kontext beleuchtet werden, um Gewissheit

Punkten der Architektur zeigt, dass deren Einsatz planmä-

über deren Hintergründe zu erlangen. Gleichwohl lässt be-

ßig erfolgte, sie folglich in ein gestalterisches Konzept ein-

reits der bauliche Zusammenhang teilweise Rückschlüs­se

gebunden wurden und es somit in vielen Fällen Indizien

zu. So fällt bei der exemplarischen Sichtung eine Häufung

für eine memoriale Funktion von Asservatien gibt, die über

von Fällen auf, bei denen Asservatien an Situationen des

ökonomische und ästhetische Zwecke hinausgeht.

2.5 Die Integration alter Baumaterialien 2.5.1 Einleitung

gedachten konstruk­tiven Kontext stehen, sondern beispielsweise wie ein Bruchstein im Mauerverband verar-

Die kleinsten Elemente der baukonstruktiven Struktur

beitet wurden.

sind schließlich die Baumaterialien, etwa Ziegel oder Bruchsteine, aus denen die größeren Bauteile gefügt wer-

2.5.2 Beispiele

den. Die Wiederverwendung alter Baumaterialien setzt im Grunde den Versatz der Stücke voraus, denn in situ

Einen nahezu unermesslichen Fundus von spoliertem

belassene alte Materialien stehen im Zusammenhang

Baumaterial an mittelalterlichen Bauwerken hält die Stadt

mit in situ erhaltenen Gebäude- oder Bauteilen und

Rom bereit. Allein die Katalogisierung der stadtrömischen

müssen sinnvollerweise in diesem Kontext betrachtet

Fälle wäre für sich genommen eine Untersuchung von

werden. Der für die Integration alten Baumaterials somit

kaum absehbaren Ausmaßen. Im Bereich des mittelalter-

kennzeichnende Versatz erlaubt analog der wiederver-

lichen Deutschland wurde eine Verwendung spolierten

wendeten Werkstücke eine Differenzierung hinsichtlich

Baumaterials bisher vor allem in den ehemals römischen

der Herkunft: Wurde das alte Baumaterial einem frem-

Provinzen beobachtet. So wurde laut Arnold Wolff »na-

den Gebäude entnommen, dann handelt es sich um

hezu der gesamte Kölnische Kirchenbau vor der Mitte des

Spolien, verwendete man jedoch Materialien desselben

12. Jahrhunderts […] mit römischem Baumaterial bestrit-

Gebäudes in einem neuen Kontext, so handelt es sich

ten.«332 Bei der baulichen Erforschung beispielsweise der

um Asservatien. Eine Unterkategorie wiederverwandter

Kirche St. Kunibert in Köln stieß man dementsprechend

Materialien bilden alte Werkstücke, die zu Baumaterial

auf Spolien aus der Antike und dem Frühmittelalter, die

umfunktioniert wurden, die also nicht mehr in dem an-

bis zu ihrem letztmaligen Einsatz in einem Pfeiler des

330 Horn 2015a, S. 180f. 331 Kap. 2.2.1.

332 Wolff 1990, S. 30.

78

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

13. Jahrhunderts teilweise mehrfach überarbeitet wurden und in verschiedenen Kontexten Verwendung fanden.333 Die Integration von Asservatien im Bereich des Baumaterials scheint im mittelalterlichen Baubetrieb ebenso verbreitet gewesen zu sein wie die Verwendung von Spolien, vielleicht sogar noch verbreiteter. Beim Bau des Kölner Doms ab 1248 nutzte man etwa einen Großteil der Steine des Vorgängerbaus, der seinerseits überwiegend aus Spolien und Asservatien bestand.334 So fertigte man die gotischen Kapitelle zwischen den Fenstern der Chorkapellen laut Arnold Wolff aus Kalksandsteinquadern des Alten Doms, deren Material wiederum eine vormalige Verwendung in der Antike zu erkennen gibt.335 Beim Wiederaufbau der Kathedrale von Canterbury nutzte man Quader (und

2.71  Trier, Dom, Mauerwerk (11. Jh.) im südlichen Westturm, Empo­ rengeschoss, Ostwand

Kapitelle) des alten Chores für Stützen in der Krypta.336 Aus der Fülle an möglichen weiteren Beispielen seien

Bestand römischen Baumaterials bereit, das in mittel-

einige beliebig herausgegriffen: Beim gotischen Neubau

alterlichen Gebäuden der Stadt Trier sicher als Spolien

von St. Stephan in Mainz konnte die Wiederverwendung

zum Einsatz kam. Der Domkomplex entstand allerdings

von Steinen der ottonischen Vorgängerkirche nachgewie-

selbst in spätantiker Zeit. Beim grundlegenden, von Erz-

sen werden,

ebenso bei der Errichtung des spätgotischen

bischof Poppo initiierten Umbau des 11. Jahrhunderts,

Langchores des Freiburger Münsters, in dessen Mauern

der noch als Folge der schweren Schäden infolge des Nor-

Steine aus der niedergelegten spätromanischen Apsis in-

mannensturms 882 zu verstehen ist,341 wurde die vorma-

tegriert wurden.338 Bei mehreren Kirchen der Diözese Re-

lige Nordwestbasilika gänzlich aufgegeben und an Stelle

337

gensburg wurde ebenfalls auf die Wiederverwendung von

der Nordostbasilika die neuen Westjoche als Erweiterung

altem Material hingewiesen.339 Ein Beispiel für die Nut-

des frühchristlichen Quadratbaus errichtet.342 Insofern

zung eines alten Werkstücks als Baumaterial liefert der

stand spätantikes Baumaterial an Ort und Stelle in gro-

Umbau des ehemaligen Essener Münsters um 1300, wo

ßem Umfang zur Verfügung. Es liegt damit die Annahme

man alte Kapitelle zur Vermauerung der Nischen in den

nahe, dass es sich bei den wiederverwandten Steinen der

Seitenschiffswänden verwandte.340

Westfassade und -joche in überwiegendem Maße um Ma-

Ein signifikantes und deshalb hervorzuhebendes Bei-

terial der beiden aufgegebenen Basiliken und folglich um

spiel für die Verwendung alter Baumaterialien liefert der

Asservatien handelt, was eine partielle Nutzung von Spo-

Umbau des Trierer Doms im 11. Jahrhundert. Das Mauer-

lien freilich nicht ausschließt.

werk der zu jener Zeit errichteten Westfassade und -joche besteht aus einem Materialmix, der sich aus Steinen un-

2.5.3 Interpretationsansätze

terschiedlicher Art und Farbe, aber auch aus auch Ziegeln zusammensetzt (Abb. 2.71). Die Ziegel können aufgrund

Bei der Wiederverwendung alten Baumaterials liegen

ihres länglichen Formats leicht als römisches Material

wirtschaftliche Gründe sehr nahe. Es lässt sich nicht ab-

identifiziert werden. Die anderen Steine weisen teilweise

streiten, dass im Materialbereich die Verwendung von

Oberflächenstrukturen auf, die auf eine Zweitverwendung

Asservatien an ökonomischer Effizienz kaum zu überbie-

schließen lassen.

ten ist: Das Material eines niedergelegten Bauteils steht

Handelt es sich bei diesen Ziegeln und Bruchsteinen

vor Ort direkt für die Wiederverwendung in einem neuen

um Spolien oder Asservatien? Trier hielt als ehemalige

Bauteil zur Verfügung. Neben den reinen Materialkosten

spätantike Kaiserresidenz natürlich einen umfangreichen

sparte man auch den seinerzeit aufwändigen Transport

333 Hochkirchen 1996, S. 11f. 334 Wolff 1990, S. 30–32. 335 Ebd. 336 Kap. 2.2.1. 337 Coester 1990, S. 413.

338 339 340 341 342

Flum 2001, S. 49. Fuchs 2007, S. 31–33. Humann 1890, S. 28. Apsner 2003, S. 273f. Zink 1980a, S. 32; Kempf 1968, S. 5.

79

2.5  DIE INTEGRATION ALTER BAUMATERIALIEN

ein und entledigte sich obendrein des Abbruchmaterials. Die Frage, die sich im hiesigen Untersuchungskontext stellt, wäre demnach, ob dem alten Baumaterial über die wirtschaftlichen Gründe hinaus eine tiefere Bedeutung beigemessen wurde, ob Asservatien in diesem Bereich neben dem materiellen auch einen ideellen Wert besaßen.

»daß wir um des Segens willen, den (wie ehrwürdige Schriften bezeugen) das Handeln Gottes der Kirche er­teilt hat – indem er selbst die Hand ausstreckte, um die Weihe zu vollziehen – den geweihten Steinen selbst gleichwie Reliquien unser Bemühen darbringen wollten«.347

Hinsichtlich der semantischen Analyse des baukul­

Angesichts des religiösen Wertes der alten Bausubstanz,

turellen Phänomens spielt der Aspekt der Sichtbarkeit des

den Suger mit demjenigen von Reliquien vergleicht, er-

alten Materials eine essentielle Rolle.

staunt weniger die Bewahrung der »geweihten Steine« als

Bei St. Stephan in Mainz sowie dem Freiburger Müns-

vielmehr die bauliche Realität, die aufgrund des beträcht-

ter liegen die alten Steine unter Putz verborgen und

lichen Umfangs an Erneuerungen die Aussage Sugers

konnten erst mittels moderner Bauforschung erkannt

zu konterkarieren scheint. Insofern träfe Sugers Aussage

wer­den.

Beim Trierer Dom war das heute freiliegende

eigentlich noch besser auf andere Bauwerke zu, nämlich

Außenmauerwerk im Mittelalter anscheinend ebenfalls

dort, wo bei Umbauten ein vergleichsweise hoher Anteil

von einer Putzschicht überdeckt und somit den Blicken

alter Materie bewahrt blieb, wie etwa beim Trierer Dom.

343

entzogen.344 Im Essener Dom stellte man erst bei der Frei-

Der Aussage Sugers kann eine Vorschrift an die Seite

legung im 19. Jahrhundert fest, dass Asservatien zur Ver-

gestellt werden, die in der »Summa« des Pierre le Chantre

mauerung der Langhausnischen genutzt wurden.345

vom Ende des 12. Jahrhunderts enthalten ist.348 Derzufolge

In den genannten Beispielen war eine Sichtbarkeit

durften die Steine, welche Gott mittels der Kirchweihe zu-

und damit Erkennbarkeit des wiederverwendeten Mate-

gesprochen wurden, nicht mehr zu profanen Zwecken ge-

rials demnach nicht gegeben. Hierin liegt ein fundamen-

nutzt werden und konnten deshalb nur für die neuen Teile

taler Unterschied zu den vorher behandelten Kategorien

des Kirchenbaus wiederverwendet werden. Die mittels der

materieller Spuren der Vergangenheit, welche zum Teil

Weihe generierte Sakralität des Materials blieb folglich

explizit als alte Teile inszeniert worden sind, wie etwa der

auch bei einem Abbruch des Bauteils erhalten.349

alte Westbau im Essener Münster oder die Naturstein-

Eine derartige, religiös begründete Wertschätzung

schäfte des alten Doms im neuen Chor der Magdeburger

des alten Materials kann beim Umbau des Trierer Doms

Kathedrale.

im 11. Jahrhundert unterstellt werden, denn man ging

Allerdings können Spuren der Vergangenheit, wie im

schließlich davon aus, dass in frühchristlicher Zeit die

Folgenden dargelegt wird, auch dann einen Sinngehalt

Domus Helenae, der Palast der heiligen Kaisermutter He-

aufweisen, wenn ein Betrachter die Spuren nicht sehen,

lena, in die Bischofskirche umgewandelt wurde.350 Bei

geschweige denn nachvollziehen kann.

Der Sinn nicht

dem wiederverwandten Baumaterial muss es sich so-

sichtbarer Spuren erschließt sich im religiösen Kontext

mit im mittelalterlichen Glauben um authentische Ele-

der Kirche. Ein Beleg dafür, dass altem Baumaterial im

mente des identitätsstiftenden Gründungsbaus gehandelt

Mittelalter ein spiritueller Mehrwert beigemessen wurde,

­haben, der über seine kaiserliche Konnotation hinaus als

findet sich abermals in den Schriften des Abtes Suger:

Haus einer Heiligen eine besondere Verehrung erfahren

346

hat. Die Integration alten Baumaterials in das neue Mau343 Coester 1990, S. 413 (Mainz); Flum 2001, S. 49 (Freiburg). 344 Weber 1980, S. 142–145. – Gleichwohl belegt die Art und Weise der Einbindung römischer Ziegel am Trierer Dom, dass deren Wiederverwendung nicht willkürlich geschah, wie es in der Literatur in vergleichbaren Fällen häufig unterstellt wird, sondern nach einem geplanten Muster vollzogen wurde. Die in abwechselnden Streifen von Bruch- und Ziegelsteinen gemauerten Pfeiler und Wandpfeiler im Inneren (vgl. Abb. 2.09) geben eindeutig zu erkennen, dass man sich an der spätantiken Mauerwerkstechnik des opus listatum orientierte, in welcher der frühchristliche Quadratbau errichtet wurde (Horn 2015a, S. 57f). Am Außenbau lässt sich der geplante Versatz an Elementen wie den Oculi oder den Rundbogenfriesen der Treppentürme ablesen, wo Bruchsteine und wiederverwendete Ziegel regelmäßig alternieren. Demnach wurden die Asservatien beim Umbau des Trierer Doms nicht nach Gutdünken vermauert, sondern mit Bedacht versetzt. 345 Humann 1890, S. 28.

346 Siehe hierzu auch Horn 2015a, S. 191–193. 347 Suger, consecratione 47 (ed. Binding/Speer S. 223). »ut propter eam, quam diuina operatio sicut ueneranda scripta testantur propria et manuali extensione ecclesie consecratione antique inposuit, benedictionem ipsis sacratis lapidibus tamquam reliquiis defferemus« (Ebd., S. 222). 348 Aubert 1973, S. 14. 349 Auf die ebenfalls zu berücksichtigenden kirchenrechtlichen Aspekte eines solchen Verfahrens machte Matthias Müller unter Hinweis auf Paul Hinschius aufmerksam (Müller 2011, S. 30f). Demnach verbinde sich die am Bauwerk vollzogene Kirchweihe unmittelbar mit der Bausubstanz, so dass alle damit verbundenen Implikationen durch die Bewahrung beziehungsweise Integration geweihten Baumaterials auf den erneuerten Kirchenbau übertragen wurden und somit erhalten blieben. 350 Zur Bedeutung der Tradition des Ortes für den Umbau des 11. Jahrhunderts: Horn 2015a, S. 36–40, 57–63.

80

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

erwerk des Trierer Doms lässt sich folglich auch derart ver-

ihren Besitz zu bringen. Jene Menschen glauben nach ei-

stehen, dass mit der Verwendung vermeintlich originaler

genem Bekunden, dass sich die Steine in den Mauern der

Bausubstanz der Domus Helenae deren Identität auf die

Abtei mit einer spirituellen Kraft aufgeladen haben, wel-

neue Architektur übergehen sollte.

che die Steine noch immer in sich tragen und derer sie

Die Vorstellung, dass die Tradition des Ortes, dessen

habhaft werden wollen. Der Glaube an spirituelle Qualitä-

Besonderheiten und Bedeutungsschichten, vor allem aber

ten der Bausubstanz kommt der Verehrung von Reliquien

dessen Sakralität in der Bausubstanz gespeichert wird,

im Grunde sehr nahe, so dass das angeführte Suger-Zitat

lässt sich auch heutzutage noch beobachten. Nach dem

offenkundig auch noch heute von manchem in Anspruch

Niedergang der Abtei Disibodenberg an der Nahe nutzten

genommen werden kann.

im 18. Jahrhundert die Bewohner der nahegelegenen Dör-

Folglich gilt es zu differenzieren zwischen sichtbaren

fer Odernheim und Staudernheim die Steine der verfallen-

Spuren der Vergangenheit, die teils explizit auf Wahrneh-

den Gebäude zur Errichtung von Häusern und Zweckbau-

mung durch einen Betrachter hin ausgelegt waren, und

ten.

Als vor einigen Jahren eine alte Scheune abgerissen

unsichtbaren Spuren, die nur Eingeweihten bekannt wa-

werden sollte, die bekanntermaßen aus Steinen der ehe-

ren, deren Sinn sich aber im religiösen Kontext erklärt.

maligen Abtei errichtet worden war, wurde der Verfasser

Eine inhaltliche Deutung von Spuren der Vergangenheit

selbst Zeuge, wie gläubige Zeitgenossen unterschiedlicher

setzt deren Sichtbarkeit somit nicht notwendig voraus.

351

Konfession sich darum bemühten, einige dieser Steine in

2.6 Resümee: Materielle Spuren der Vergangenheit An mittelalterlichen Kirchen lässt sich eine Fülle und

die alten Seitenschiffswände in die neue Architektur zu

Vielfalt an Spuren der Vergangenheit in Form alter Mate-

integrieren.352 Beim Umbau der Kathedrale von Chartres

rie entdecken. Die Größe der Spuren variiert von ganzen

um 1200 erforderte die Bewahrung der alten Krypta tech-

Gebäudeteilen wie Westbauten oder Krypten über große

nische Höchstleistungen,353 ebenso die Errichtung der

Bauteile wie Mauern oder Portalanlagen bis hin zu klei-

Kuppel über den alten Mauern der Kölner Gereonskirche

nen Werkstücken wie Schäften und Kapitellen. Zum Teil

Anfang des 13. Jahrhunderts.354 Der in den genannten Fäl-

prägen die alten Kompartimente den Kirchenbau so stark,

len betriebene Aufwand, den die Integration alter Bausub­

dass sie in der heutigen Wahrnehmung im Vordergrund

stanz mit sich brachte, konterkariert rein wirtschaftliche

stehen. Ein extremes Beispiel bietet der Essener Dom,

Erklärungsansätze.

dessen ottonische Gebäudeteile bisher weitgehend das

Demgegenüber lässt sich in manchen Fällen bele-

Bild der Kirche – sowohl in der Forschung als auch öffent-

gen oder zumindest schlüssig darlegen, dass die Spuren

lich – bestimmt haben, obwohl es sich, sachlich betrach-

der Vergangenheit bewusst als Zeichen und Zeugnis der

tet, eigentlich um eine gotische Hallenkirche handelt.

Tradition des Ortes gesehen wurden. Beim Trierer Dom

Damit stellt sich die Frage, warum sich alte Bausub-

erklärt sich die über tausendjährige Bewahrung des alten

stanz in der gezeigten Quantität und Qualität in mittel-

Gebäudekerns aus der Tradition, dass die Bischofskirche

alterlichen Sakralbauten erhalten hat. In der Literatur

aus dem Palast der heiligen Kaiserin Helena hervorgegan-

dominieren meist ökonomische Erklärungsansätze, die

gen sei. Trotz zahlreicher Umbauten galt der Dom deshalb

un­ terstellen, dass die Wiederverwendung alter Materie

bis in die Neuzeit als authentische Domus Helenae. Als

schlichtweg aus Sparsamkeit erfolgte. Dieser Ansatz kann

Beweis wird in den mittelalterlichen Schriftquellen die

nicht in jedem Fall ausgeschlossen werden, kann jedoch

Sichtbarkeit der alten Bausubstanz angeführt. Einen be-

auch nicht in jedem Fall genügen. So waren etwa beim

sonderen Wert misst auch Abt Suger der alten Materie der

Umbau des Essener Doms um 1300 aufwendige konstruk­

Abteikirche St. Denis bei, indem er vor dem Hintergrund

tive Maßnahmen erforderlich, um die alte Krypta und

des Umbaus im 12. Jahrhundert die alten Steine mit Reli-

351 Seibrich 1979, S. 75. 352 Kap. 2.3.1.

353 Kap. 2.2.1. 354 Kap. 2.3.1.

81

2.6  RESÜMEE: MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

quien vergleicht und somit auf eine religiöse Ebene hebt.355

alte Bausub­stanz als authentischer Teil der Tradition des

Damit sind zwei wesentliche Funktionen alter Bausub­

Ortes präsentiert werden. Ein schlagendes Beispiel sind

stanz angeklungen: als Träger von Erinnerung einerseits

die spätantiken Wände des Trierer Doms, die als Über-

und als religiös aufgeladene Materie andererseits. Beide

reste des Palasts der Helena ausgelegt wurden. Insofern

Funktionen können sich überlagern, müssen es aber

diente die alte Bausub­stanz nicht nur der Visualisierung

nicht, und können in Abhängigkeit davon unterschiedlich

der Tradition des Ortes, sondern zugleich auch deren Be-

in die Architektur eingebunden sein.

stätigung. Damit kamen alte Architekturteile steinernen

Als Erinnerungsträger diente die alte Materie der Visualisierung der Tradition des Ortes. Die Sichtbarkeit der be-

Dokumenten gleich, die auch zur Legitimation von Ansprüchen und Privilegien genutzt wurden.

treffenden Teile ist hierfür ein notwendiges Kriterium, das

Ganz anders verhält es sich mit religiös aufgeladenen

Architektur aufgrund ihrer Größe und Präsenz in einzig-

Objekten. Wenn es zur reliquienartigen Inkorporation al-

artiger Weise erfüllen kann. So bilden etwa alte Türme im

ter Bausub­stanz kam, mussten weder Erkennbarkeit noch

Stadtraum ein weithin für jedermann sichtbares Zeichen.

Sichtbarkeit gewährleistet sein, um die spirituellen Quali-

Darüber hinaus ließ sich mittels einer dezidierten Gestal-

täten der alten Teile auf den neuen Bau zu übertragen. Ein

tung die visuelle Wahrnehmung erleichtern, wie die auf

Vergleich aus dem Bereich der Reliquien mag das unter-

Postamenten präsentierten Asservatien im Magde­burger

streichen. So ist vom ottonischen Magdeburger Dom wie

Domchor zeigen. Gegenüber anderen Erinnerungsträgern

der Hildesheimer Michaelskirche überliefert, dass die Ka-

hatten alte Architekturteile im Mittelalter den Vorteil, ei-

pitelle nicht sichtbare Reliquien einschlossen.356 Die religi-

nem großen, in vielen Fällen öffentlichen Kreis von Be-

öse Wirkung der Reliquien war demzufolge lediglich von

trachtern zugänglich zu sein.

deren Anwesenheit, nicht jedoch von deren Sichtbarkeit

Das zweite wesentliche Kriterium im Zusammenhang

abhängig. Die Wiederverwendung der Steine eines alten

mit der Erinnerungsfunktion stellt die Erkennbarkeit des

Chores im Mauerwerk des neuen mag somit nicht nur die

Alters dar, die oftmals mittels eines Kontrastes zur neuen

ökonomischen Vorteile eines Materialrecyclings geboten

Bausub­stanz hergestellt wurde. Hierzu bediente man sich

haben: Darüber hinaus sicherte man die materielle Kon-

verschiedener Konzepte. Mittels einer unmittelbaren, ad-

tinuität der Kirche und inkorporierte damit die Heiligkeit

ditiven Fügung alter und neuer Materie schuf man teils

des alten Kirchenbaus.

harte Kontraste, welche die Wahrnehmung des Alters-

Ein wichtiges Kriterium für den Umgang mit alter Ma-

unterschieds erleichtern. Beispiele liefern der Westbau

terie stellt die Möglichkeit des Versatzes dar. Während Ge­

des Osnabrücker Doms oder die Mittelschiffsarkaden im

bäude- und Bauteile aufgrund ihrer Größe in situ bewahrt

Bremer Dom. Auch lassen sich integrative Ansätze beob-

blieben, ließen sich Werkstücke und Baumaterialien an

achten, bei denen die alten Architekturteile planvoll in ein

eine andere Stelle transferieren, wo sie in einem neuen

neues Konzept eingebunden wurden. Der Kontrast wurde

architektonischen Kontext Verwendung fanden. Diesbe-

auf diese Weise zwar gemindert, dafür aber die Kontinui-

züglich ist es wichtig, zwischen Asservatien und Spolien

tät des Alten im Neuen stärker betont. Als Beispiele lassen

zu unterscheiden, also solchen Stücken, die innerhalb ei-

sich die Krypta von St. Denis oder das Annenportal von

nes Bauwerks versetzt wurden (Asservatien), und solchen,

Notre-Dame in Paris nennen.

die einem anderen Gebäude entstammen (Spolien).357

Gegenüber dem wirkungsmächtigen Erinnerungsme-

Während erstere notwendig mit der Tradition des Ortes

dium der Schrift hatte die alte Bausub­stanz im Mittelal-

im Zusammenhang stehen, weisen letztere per Definition

ter neben der leichteren Zugänglichkeit den Vorzug, auch

keinen Bezug zur Tradition des Ortes auf. Einen beson-

von Analphabeten gelesen werden zu können, was freilich

deren Fall stellen Spolien dar, welche zu einem späteren

nicht heißt, dass die Bedeutung stets verstanden wurde.

Zeitpunkt als Asservatien genutzt wurden, wie die antiken

Eine weitere Qualität barg die (teils vorgebliche) Au-

Säulenschäfte im Chor des Magdeburger Doms.358

thentizität der alten Materie. Während ein Schriftstück le-

Die Vielzahl der Beispiele für die Integration alter

diglich mittelbar von der Geschichte berichtet, kann die

Bausub­stanz wirft unwillkürlich die Frage nach Motivati-

355 »benedictionem ipsis sacratis lapidibus tamquam reliquiis defferemus« (Suger, consecratione 47 [ed. Binding/Speer S. 222]). 356 Binding 1989; Keller 1975.

357 Kap. 2.4.1. 358 Kap. 2.4.3.

82

2  MATERIELLE SPUREN DER VERGANGENHEIT

onen und Intentionen auf. Der naheliegende und in der

Ortes, welche institutionelle Ansprüche und Privilegien le-

Literatur oft angeführte ökonomische Nutzen mag häufig

gitimierte. Das Kennzeichen der Sichtbarkeit, der visuellen

eine Rolle gespielt haben, jedoch können die Erklärungs-

Präsenz, prädestiniert alte Materie gegenüber anderen ar-

ansätze ebenso häufig nicht darauf beschränkt bleiben,

chitektonischen Qualitäten als primäres architektonisches

wenn man die unterschiedlichen baulichen Maßnahmen

Mittel zur Inszenierung der Tradition des Ortes, wie der

ganzheitlich betrachtet und in einen historischen Kontext

demonstrative Einsatz der farbigen Natursteinsäulen im

setzt. In einigen Fällen kann eine ökonomische Motiva-

Magdeburger Domchor eindrucksvoll vor Augen führt. Der

tion gar von vornherein ausgeschlossen werden, wie bei

aufgrund der Achsendrehung zwangsläufige Verzicht auf die

den Asservatien in der ottonischen Krypta des Essener

Integration alter Gebäude- oder Bauteile in situ sollte schein-

Doms, deren Transfer im Gegenteil Kosten verursachte.

bar mittels einer besonders plakativen Strategie der materiel-

Auch die plakative Verwendung der Spolien im Magde­

len Integration von Asservatien kompensiert werden.

burger Domchor ergibt aus ökonomischem Blickwinkel

Im Essener Dom wurden neue und alte Teile nicht

keinen Sinn. Gleichwohl mag ein ökonomischer Mehrwert

etwa additiv aneinandergereiht, sondern in eine über-

oftmals sicher willkommen gewesen sein, besonders bei

greifende architektonische Ordnung eingepasst, in der

der Wiederverwendung von altem Baumaterial.

die Teile miteinander korrelieren und sich wechselseitig

In einigen Fällen, wie dem Freiburger und Straßburger

bedingen. So hängen die Maße der gotischen Halle stark

Münster, ist das Zusammenspiel stilistisch verschiedener

von den vorgegebenen Dimensionen des Westbaus ab, der

Gebäudeteile der Dynamik einer quasi kontinuierlichen

seinerseits von der gotischen Halle umschlungen wird.

architektonischen Metamorphose geschuldet.359 Die ver-

In Köln zeigt sich bei St. Gereon, dass bereits die Integ-

schiedenen Gebäudeteile korrelieren jedoch in so vielfälti-

ration eines Bauteils genügen kann, um die Struktur der

ger und raffinierter Weise miteinander, dass die stilistische

neuen Baumaßnahmen maßgeblich zu bestimmen. Das

Heterogenität nicht als Zeichen eines baukünstlerischen

spätantike Erdgeschoss mit seiner Konchengliederung

Mangels gedeutet werden kann, sondern als Qualität auf-

diente somit einerseits als materielles Zeichen für die Ver-

gefasst werden sollte, welche das Alter der Kirche in einem

gangenheit des Baus und andererseits als vorgegebener

positiven Sinne zum Ausdruck bringt.

Ausgangspunkt zur Entwicklung der neuen Struktur. An

In anderen Fällen, wie dem Essener und Trierer Dom

dieser Stelle zeigt sich abermals, dass die verschiedenen

oder St. Gereon in Köln, kam es hingegen zu einer Integra-

Kategorien von Spuren der Vergangenheit, die in dieser

tion von Bausub­stanz, welche zum Zeitpunkt des Umbaus

Arbeit aus analytischen Gründen separiert behandelt wer-

bereits mehrere Jahrhunderte alt war, so dass eine bewusste

den, bei der Analyse des spezifischen Bauwerks ganzheit-

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Bauwerks

lich und kontextualisiert betrachtet werden müssen, um

stattfand, die sich nicht mit baulichen Prozessen erklären

Architektur als Bestandteil der mittelalterlichen Erinne-

lässt. Da sich eine solche bewusste Auseinandersetzung

rungskultur greifen und verstehen zu können.

und Bezugnahme auch auf anderen Ebenen äußert, lässt

Weiterhin stellen die Erkennbarkeit und Sichtbarkeit

sich die Integration alter Materie im architektonischen Ge-

der integrierten Materie wichtige Kriterien zu deren Dif-

samtkontext häufig als Baustein eines übergeordneten Kon-

ferenzierung dar. Die demonstrative Präsentation antiker

zeptes zur Inszenierung der Tradition des Ortes erkennen.

Säulenschäfte im Magdeburger Domchor bietet ein ein-

Für den Trierer Dom existieren Quellen, welche eine

drucksvolles Beispiel für die Integration alter Materie, die

derartige Intention seit dem Frühmittelalter auch schrift-

absichtsvoll auf Erkennbarkeit ausgelegt wurde, was pri-

lich bezeugen.

Die in situ erhaltene spätantike oder für

mär über das gestalterische Mittel des Kontrastes erreicht

spätantik gehaltene Bausub­stanz galt als sichtbarer Beweis

wurde. Erkennbarkeit, welche Sichtbarkeit a priori ein-

für die Authentizität der Konstituierung der Bischofskirche

schließt, ist die notwendige Bedingung, um einem Betrach-

360

durch die heilige Kaiserin Helena, indem die alte Architek-

ter Bedeutungen zu vermitteln, die sich explizit aus dem

tur mit dem einstigen Kaiserpalast gleichgesetzt wurde,

Alterswert ableiten. Nur wenn der Betrachter erkennt, dass

welche die Augusta zur Verfügung gestellt haben soll.

es sich um alte Materie handelt, kann er diese als Zeichen

Demnach verstanden mittelalterliche Betrachter alte

der Tradition des Ortes verstehen und in übergeordneten

Materie mitunter als sichtbares Zeichen der Tradition des

Zusammenhängen weitergehende Aussagen erkennen.

359 Kap. 2.2.3.

360 Kap. 2.2.2.

83

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

3.1 Einleitung Bei der Integration materieller Spuren der Vergangenheit

lagerung alter und neuer Teile. Der zeitlichen Schich-

muss stets auch die Frage nach dem architektonischen

tung wurde also mit einer architektonischen Schichtung

Verhältnis von Alt und Neu gestellt werden und der Über-

entsprochen. Die Überlagerung der alten Bausub­ stanz

gang nicht nur konstruktiv, sondern auch gestalterisch ge­

konnte horizontal erfolgen, indem neue Gewölbe über ei-

löst werden. Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits

nen Raumteil gelegt wurden, wobei der Übergang von der

auf verschiedene Strategien zur Einbindung alter Materie

alten Tragstruktur auf die neue des Gewölbebaus, also die

hingewiesen, die Kontraste und Korrelationen in unter­

horizontale Naht zwischen Alt und Neu, in diesem Kon-

schiedlichem Graden und Ausprägungen bewirken.361

text von besonderem Interesse ist. Die Schichtung konnte

Im Folgenden werden Fallbeispiele behandelt, in denen

aber auch vertikal erfolgen, indem die Wandstruktur im

die Verbindung alter und neuer Bausub­stanz einen deut-

Zusammenhang mit einer neuen Wölbung von einer ver-

lichen inszenatorischen Charakter aufweist. Das heißt,

tikalen Tragstruktur überlagert wurde, wobei in diesem

dass das Zusammentreffen alter und neuer Teile gestalte-

Rahmen die Relation zwischen alter und neuer Struktur

risch nicht nur derart gelöst wurde, dass dem Betrachter

besonders interessiert.

die unterschiedlichen Zeitschichten planvoll bewusst ge-

Die Inszenierung von Spuren der Vergangenheit

macht worden sind, sondern die Visualisierung zeitlicher

konnte bis zu künstlich erzeugten Bildern von Schichtun-

Schichtung im Vordergrund des architektonischen Kon-

gen reichen, die in Wirklichkeit einheitlich geplant wur-

zepts stand.

den. Diese artifiziellen Schichtungen werden im Zusam-

Die Inszenierung von Spuren der Vergangenheit erfolgte in den untersuchten Fällen mittels einer Über-

menhang mit den künstlichen Spuren der Vergangenheit näher untersucht.362

3.2 Strukturelle Metamorphosen Viele mittelalterliche Sakralbauten entwickelten sich ar-

ohne dass deren Substanz niedergelegt wurde. Stattdessen

chitektonisch in einem langjährigen Prozess wiederholter

kam es zu einer teils gravierenden Änderung der tektoni-

Wandlungen, für den, in Abgrenzung zu kompletten Neu-

schen Struktur, indem die bestehende Bausub­stanz von

bauten, an anderer Stelle der Terminus »Metamorphose«

einer neuen Schicht überlagert wurde. Derartige archi-

eingeführt wird.363 Der Begriff zielt in erster Linie auf das

tektonische Wandlungen seien als »strukturelle Metamor­

Phänomen sukzessiver Substitution von Gebäudeteilen,

phosen« definiert, da sich primär die tektonischen Struk-

welches die Gestalt der Kirche über die Jahrhunderte hin-

turen verändern, die alte Bausub­stanz und folglich die

weg gänzlich verändert.

Disposition des Grundrisses hingegen erhalten bleiben.

Die folgenden Beispiele inszenierter Schichtungen

Teilweise ist der Übergang zur kompletten Metamor-

von Alt und Neu zeigen Wandlungen von Gebäudeteilen,

phose eines Gebäudeteiles, wie er weiter unten beschrie-

361 Kap. 2.6. 362 Kap. 4.3.

363 Kap. 5.1.2.

84

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

ben wird,364 fließend. So lassen sich Metamorphosen

querhaus beim Neubau des Westchores Ende des 12. Jahr-

auf­zeigen, in denen die alte Gebäudesubstanz zwar weit-

hunderts sowie bei der Umgestaltung des Langhauses ab

gehend bewahrt, aber gänzlich von einer neuen Schicht

1225 mit neuem Mauerwerk ummantelt wurde.366 Im Fol-

überlagert wurde, wie etwa beim Umbau der Ostteile des

genden werden diejenigen strukturellen Metamorphosen

Mainzer Doms um 1100, wo der ältere Ostriegel zwar er-

behandelt, bei denen die Spuren der Vergangenheit sicht-

halten blieb, aber rundum mit neuem Mauerwerk ver-

bar blieben, indem die beiden Zeitschichten planvoll in

kleidet wurde und somit eine neue Oberflächenstruktur

ein dialektisches Verhältnis zueinander gesetzt wurden.

erhielt,365 oder am Dom zu Münster, dessen altes West-

3.3 Vertikale Schichtungen Reims, St. Remi Die Abteikirche St. Remi in Reims wurde auf die Initiative des Abtes Pierre de Celle im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts grundlegend umgebaut, wobei die diversen Gebäudeteile eine unterschiedliche Auseinandersetzung mit der Tradition des Ortes erkennen lassen.367 An dieser Stelle interessiert die strukturelle Metamorphose des vormals flachgedeckten Mittelschiffs aus dem 11. Jahrhundert, das im Zuge der Modernisierung mit vierteiligen Kreuzrippengewölben überspannt wurde. Die alte Mittelschiffswand mit ihren großen rundbögigen Arkaden und den korres­ pondierenden Emporenöffnungen darüber sowie die rundbogigen Obergadenfenster blieben gestaltprägend erhalten und wurden durch einen Stützenapparat ergänzt, der den alten Pfeilern vorgelegt wurde (Abb. 3.01). Durch die vertikale Unterteilung der zuvor horizontal gerichteten Obergadenwand entstanden hochgestreckte Wandflächen, die man mit spitzbogigen Blendbögen gliederte, welche nicht nur ein vorhandenes Motiv der rund hundert Jahre älteren Mittelschiffswand aufgreifen, sondern vor allem die Jochaufrisse gleichmäßiger proportionieren. Das Mauerwerk oberhalb der Blendbögen tritt hervor

3.01  Reims, St. Remi, Mittelschiffswand, 1. Hälfte 11. Jh. und 3. Drit­ tel 12. Jh.

und springt knapp oberhalb der Bogenscheitel über einer geraden Kante wieder zurück, was den Eindruck von zwi-

Weitere Verknüpfungen zwischen alter und neuer

schen den Dienstbündeln gespannten Brücken evoziert.

Struktur wurden geschaffen, indem das alte Gesims an der

Die mit einem Gesims betonten Oberkanten liegen auf dem

Unterkante der Emporenöffnungen verkröpfend über die

Niveau der gewölbetragenden Kapitelle, so dass ein Bezug

Dienste fortgeführt wurde. Dieses aus der Überlagerung

zwischen Wandgliederung und Stützstruktur zum Ausdruck

der neuen und alten Wandstruktur sich ergebende Detail

kommt, der sich auch darin äußert, dass die Rundstäbe, wel-

wurde an höherer Stelle noch einmal aufgegriffen, dort al-

che die Bögen konturieren, auf eigenen Diensten aufsetzen.

lerdings ohne Bezug zu einem Gesims, so dass Wirtel ent-

364 Kap. 5.1. 365 Von Winterfeld 2011, S. 55; Domrekonstruktionen 2010, Abb. auf S. 39, 67, 79. 366 Lobbedey/Scholz/Vestring-Buchholz 1993, S. 269–271. 367 Grundlegend zu St. Remi de Reims: Prache 1978. Kimpel und Sucka-

le zeigten mit einer treffenden Analyse auf, dass der Umbau der Abteikirche unter Pierre de Celle nur im Kontext der Tradition des Ortes zu verstehen ist (Dies. 1985, S. 178–193). Allerdings ließen sie die Umgestaltung der Mittelschiffswand außen vor. Zum Umbau der Kirche siehe ferner: Albrecht 2003, S. 238f; Klein 1998, S. 37–39.

85

3.3  VERTIKALE SCHICHTUNGEN

lässt sich also folgendermaßen charakterisieren: Eine neue, mit der Wölbung zusammenhängende, primär lineare Tragstruktur wurde der bestehenden Wand als neue gitterartige Schicht vorgelegt. Die alte Wandstruktur blieb mit ihren Detailformen raumprägend sichtbar. Neue und alte Struktur wurden aufeinander bezogen und subtil miteinander verwebt. Die auf Lücke gesetzten Konsolen im Mönchschor belegen nachdrücklich, dass das Zeigen der stanz konzeptionell bedingt war. Die Einalten Bausub­ bindung der alten Bausub­stanz mag dafür verantwortlich sein, dass dieser bedeutsame Bau bis zum Erscheinen der grundlegenden Monographie von Anne Prache 1978 von der auf Neues fokussierten Gotik-Forschung unbeachtet blieb.369

Köln, St. Aposteln Zu Beginn des 13. Jahrhunderts bietet der Umbau des Langhauses der Stiftskirche St. Aposteln in Köln ein interessantes Beispiel für eine strukturelle Metamorphose.370 Nachdem sich die Gestalt der Kirche in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts durch den Umbau des Westchores zu einem Westturm und der Neugestaltung des Ostchores zu einem Trikonchos grundlegend gewandelt hatte, wandte

3.02  Reims, St. Remi, Überlagerung der Kapitelle des 11. und 12. Jh.

man sich dem verbindenden Raumteil, dem Langhaus, zu. Angesichts der mit den neuen Gebäudeteilen verbun-

standen, deren Formen die subtile Symbiose von Alt und

denen ästhetischen Steigerung wollte man wohl auch

Neu um einen weiteren Zwischenton bereichern.

das Langhaus, welches noch in den Formen des frühen

Schließlich passte man die neue Struktur der vorhan-

11. Jahrhunderts bestand,371 ästhetisch aufwerten und ge-

denen an, indem man Säulen vor die alten Arkadenpfeiler

stalterisch anpassen. Zu diesem Zweck wölbte man das

setzte, die in der Höhe angeglichen wurden, so dass sich

vormals flachgedeckte Mittelschiff mit zwei sechsteiligen

die Kapitelle und Abakusplatten der neuen und alten Stüt-

Rippengewölben ein, die man auf das vorhandene Stüt-

zen zu Friesen verbinden, über denen die neuen Bündel-

zensystem abstimmte, indem man jeweils zwei Arkaden

pfeiler erst ansetzten. In den östlichen Mittelschiffs­jochen,

zu einem Joch zusammenfasste.372 In Korrelation zu den

die zum liturgischen Chor zählten, wählte man eine be-

Gewölben veränderte man gleichfalls die Struktur der

sondere, noch stärker dem Bestand verpflichtete Lösung,

Mittelschiffswände, so dass sich die gesamte tektonische

indem man anstelle von stämmigen Säulen schma­le Stüt-

Systematik des Mittelschiffs wandelte. Die alten Mittel-

zen wählte, die im Kapitellbereich von Konsolen flankiert

schiffswände wurden also nicht abgerissen, sondern von

werden, die derart auf Lücke gesetzt wurden, dass die alte

einer neuen Struktur partiell überlagert (Abb. 3.03).

Pfeilerstruktur offen sichtbar blieb (Abb. 3.02).

368

Die Flächigkeit der alten Mauern wich einem System

Die strukturelle Metamorphose des Langhauses von

von vorgemauerten Wandschichten, Bögen und vertikalen

St. Remi zu Reims im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts

Stützgliedern, welches die Wände in Abhängigkeit der Ge-

368 So auch Albrecht 2003, S. 238. 369 Prache 1978. 370 Zu St. Aposteln, Köln: von Winterfeld 2001, S. 116–118 (kompakter Überblick zur Baugeschichte); Stracke 1992; Ders. 1984 (Anfänge bis zur spätstaufischen Zeit); Schäfke 1984a (spätstaufische Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg). – Einen Ansatzpunkt für die Datierung des Mittelschiffs liefert eine Urkunde von 1219, in der von in Gange befindlichen Wölbungsarbeiten die Rede ist (Schäfke 1984, S. 201).

371 Zur Datierung und Gestalt des Langhauses vor dem Umbau: Stracke 1984, S. 183–186. 372 Das östliche Mittelschiffsjoch wurde bereits beim Bau des Trikon­ chos analog zu den Vorjochen der Apsiden mit einer Tonne ge­ wölbt, die heute geschickt von den Mittelschiffsgewölben zum Chorbereich überleitet.

86

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

Ordnung reflektiert somit die vormalige Wandgliederung, wohingegen die vertikale Ordnung in Beziehung zur neuen Wölbung steht. Während in der unteren Zone der einfache Charakter der frühromanischen Arkaden mit ihren robusten Rechteckpfeilern bewahrt wurde, gestaltete man die obere Zone feingliedriger mit Blendarkaturen und Halbsäulen, die eine Auflösung der Wandmasse in einzelne Architekturelemente andeuten. Die alten Obergadenfenster mussten zugemauert werden,373 da ihre Abstände nicht mit den Arkaden korrespondierten. An ihre Stelle setzte man im neuen Jochrhythmus Rundbogenfenster in bemerkenswert retrospektiven Formen mittig zwischen die Schildbögen.374 Der Eingriff sollte folglich nicht erkennbar sein, sondern die Fenster als Teil des alten Obergadens wahr­ genommen werden. Die Jochmitte wird jeweils von Wandpfeilern mit vorgesetzter Halbsäule akzentuiert, die einerseits die Mittelrippen tragen und andererseits von den alten Arkadenpfeilern in den Jochmitten getragen werden, so dass die alte und neue Struktur subtil in tektonische Zusammenhänge gestellt und auf diese Weise verwoben werden. Ei-

3.03  Köln, St. Aposteln, nördliche Mittelschiffswand frühes 11. Jh. und frühes 13. Jh.

nerseits gibt die Dialektik der beiden Ordnungssyteme zu erkennen, dass zwei Strukturen überlagert wurden, andererseits werden die beiden Strukturen tektonisch mit­

wölbe gliedert und ihnen plastische Tiefe verleiht. Dabei

einander verbunden und damit als zwei Teile eines über-

gewannen die Mittelschiffswände durch die Überlagerung

geordneten Ganzen kenntlich gemacht.

zweier entgegengerichteter Ordnungsprinzipien an Kom-

Die frühromanischen Arkaden wurden nicht in der

plexität. Auf der einen Seite definieren die vom Boden auf-

alten Form belassen. Stattdessen wurde schiffseitig eine

steigenden Dienste die Jochgrenzen in der Vertikalen und

neue Steinschicht vor die bestehenden Pfeiler und Bögen

segmentieren die Mittelschiffswand hierdurch der Länge

gemauert,375 die bis zur Höhe des Rundbogenfrieses auf-

nach. Auf diese Weise spiegelt die Unterteilung der Mit-

fallend schlicht ohne Verzierungen ausgeführt wurde und

telschiffswände zugleich die Organisation der Gewölbe wi-

insofern den einfachen, frühromanischen Charakter der

der, denn die Dienste nehmen die Gurtbögen auf, welche

Arkadenzone bewahrt. Es wurde demzufolge bewusst ent-

die Gewölbefelder trennen. Demgegenüber unterstreicht

schieden, den altertümlichen Charakter zu erhalten.

ein kräftiges Gesims über einem Rundbogenfries die hori-

Darüber hinaus treten an der Arkadenzone materielle

zontale Gliederung der Wand in zwei Hälften. Man kann

Spuren der Vergangenheit offen zum Vorschein. Die neue

davon ausgehen, dass diese Gliederung auf die vormali­ge

Steinschicht folgt nämlich nicht den Bogenlaibungen,

Gestaltung der Mittelschiffswand rekurriert, denn der

sondern setzt ein Stück höher an, so dass eine Abstufung

Querschnitt der Obergadenmauer ist teilweise dünner

entsteht, welche den Blick auf die ursprünglichen Bögen

als der Querschnitt der alten Arkadenpfeiler, so dass der

freilässt. Ebenso behielt man die frühromanischen Kämp-

Obergaden auch schon vor dem Umbau gegenüber der

fer bogenseitig bei. Auf diese Weise wird dem Betrachter

un­teren Zone zurückgetreten sein muss. Die horizontale

klar vor Augen geführt, dass hier eine neue Schicht vor

373 Stracke 1992, S. 309f; Ders. 1984, S. 186. 374 Vgl. Kap. 4.2.3. 375 In der Literatur wird dieses Phänomen häufig als »Verblendung« oder »vorgeblendet« beschrieben (z. B. Schäfke 1984a, S. 201), was insofern unglücklich ist, weil hiermit eine rein gestalterische Funktion suggeriert wird. Die Steine sind der alten Wand nicht bloß

vorgeblendet, wie etwa eine Vertäfelung, sondern stehen mit ihr im gemauerten Verband und wirken deshalb, im Gegensatz zu einer Blende, statisch mit. Wo die Gurtbögen ansetzen, verdoppelte man den Querschnitt der alten Wand und Arkadenpfeiler durch die vorgesetzten Dienste und zwei weitere Mauerschichten und schuf erst auf diese Weise ein adäquates Widerlager für den Gewölbeschub.

3.3  VERTIKALE SCHICHTUNGEN

87

3.04  Magdeburg, Lieb­ frauen, Mittelschiffs­ wände mittleres 11. Jh. und 1. Hälfte 13. Jh. eine ältere Wand gesetzt wurde.376 Die Inszenierung des

die bestehende Mittelschiffswand, welche die alte Bau-

Alters der Kirche gehört somit als integraler Bestandteil

struktur nicht nur sichtbar lässt, sondern integrativ in

zum gestalterischen Konzept.

die Gestaltung mit einbezieht (Abb. 3.04). Obwohl in der

In der Literatur wurde das noch nicht richtig gewür-

Liebfrauenkirche sechsteilige Rippengewölbe eingezogen

digt. »Gelungen ist diese Lösung nicht«,377 urteilte zum Bei-

wurden, verzichtete man auf eine Differenzierung der

spiel Werner Schäfke. Die Grundlage für sein Urteil bildet

Wandstruktur und fasste die Arkaden nicht zu Jochen

die Vorstellung, dass Architektur möglichst stilrein sein

zusammen, sondern fügte vor jeden Pfeiler einen starken

müsse. Insofern zieht er die Gestaltung der Obergaden­

Dienst, welcher vom Boden zu den Rippen aufsteigt. Auf

zone vor, weil erst dort »die konsequente neue Gestaltung

diese Weise blieb der alte Rhythmus der Arkatur nicht nur

des Schiffs«378 beginne.

erhalten, sondern wurde durch das Staccato der Dienste noch verstärkt. Im Vergleich zu St. Aposteln wird das

Magdeburg, Liebfrauenkirche

­Mittelschiff der Magdeburger Liebfrauenkirche somit von

Die Liebfrauenkirche in Magdeburg wurde in den Jahren

ei­ner strengeren Vertikalität geprägt. Dieser setzte man

1220 bis 1240 einer strukturellen Metamorphose unter­

einen zweiteiligen Wandaufriss entgegen, der von einem

zogen, die deutliche Parallelen zur Umgestaltung des

Gesims über Rundbogenfries zoniert wird. Zwar erinnert

Langhauses von St. Aposteln in Köln erkennen lässt.379 In

dieses Detail stark an St. Aposteln, doch ansonsten ver-

Verbindung mit der Einwölbung der zuvor ­flachgedeckten

zichtete man in Magdeburg auf eine ähnlich reiche tek­

Basilika mauerte man ebenfalls eine neue Schicht vor

tonische Gestaltung der oberen Zone. Insgesamt wirkt die

376 Ferner steht auch die Geometrie der Blendbögen im Zusammenhang mit der alten Struktur, denn man konstruierte die Bögen nicht von einem eigenen Mittelpunkt aus, sondern mauerte sie konzentrisch zu den frühromanischen Arkaden und harmonisierte die Bogenkreise auf diese Weise. Da man zugleich die Breite der alten Arkaden übernahm, entstanden eigenartige Segmentbögen. 377 Schäfke 1984, S. 201.

378 Ebd. 379 Zur Liebfrauenkirche in Magdeburg: Jost 2001 (Schwerpunkt 12. Jahrhundert, Forschungsgeschichte); Puhle/Hagedorn 1996; Dies. 1995 (Aufsatzsammlungen); Krause 1995 (Überblick zur Bau­ geschichte); Weidel 1925; Modde 1911 (Monographien zu Geschichte und Baugeschichte). – Datierung: Krause 1995, S. 29; Weidel 1925, S. 82, 93.

88

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

neue Wandstruktur der Liebfrauenkirche wie eine Verein-

von Alt und Neu betont wird. In der Magdeburger Lieb-

fachung des differenzierten Systems von St. Aposteln.

frauenkirche steht die scharfe Kontrastierung zwar einem

380

Um die Spuren der Vergangenheit zu inszenieren, bediente man sich in Magdeburg des gleichen Kunstgriffs

homogeneren Gesamtbild entgegen, ermöglicht aber eine bessere Lesbarkeit der verschiedenen Zeitschichten.

wie in Köln und mauerte Blendbögen oberhalb der alten Arkaden. Im Unterschied zu Köln setzte man diese in Mag-

Havelberg, Dom

deburg aber deutlich höher an, so dass nicht nur die ro­

Zu einer Inszenierung des bestehenden Kirchenbaus kam

manischen Arkadenbögen sichtbar blieben, sondern auch

es auch beim Umbau des Havelberger Doms, der sich nach

ein gutes Stück der alten Wandfläche darüber, inklusive

aktuellem Forschungsstand über das gesamte 14. Jahr­

eines auffällig altertümlichen Flechtbandfrieses oberhalb

hundert erstreckte.383 Zwecks Einwölbung des Mittelschiffs

der Arkatur. Weiterhin beließ man die Pfeiler bogenseitig

mit vierteiligen Kreuzrippengewölben wurde den beste-

unverändert, so dass deren ursprüngliche Formen samt

henden Mittelschiffswänden eine neue Schicht vorgesetzt

der zugehörigen Kämpferplatten erkennbar blieben.

(Abb. 3.05). Den quadratischen Pfeilern wurden starke

381

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu St. Aposteln

Vorlagen mit einem Dienst, der Gurt- und Kreuzrippen

liegt in der Einbindung der Blendbögen in die tektonische

aufnimmt, vorgemauert. Bis zur Mitte des 19. Jahrhun-

Systematik der neuen Mauerschicht. Analog zu den Scheid-

derts existierten noch die romanischen Kämpfer an den

bögen der Oberzone werden die Blendbögen von Rippen un-

Arkadenpfeilern, bevor sie in einem Akt falsch verstande­

terfangen, welche auf Diensten fußen. Konsequenterweise

ner Denkmalpflege durch stilgeschichtlich passende er-

entsprechen sich auch die Bogenformen, die man im Kon-

setzt wurden.384 Zwischen die neuen Vorlagen spannte

trast zu den alten Rundbogenarkaden spitzbogig ausführte.

man spitzbogige Blendarkaden, die so hoch ansetzen,

Während in St. Aposteln die alte Struktur zwar er-

dass der Scheitelpunkt das abschließende Gesims berührt.

kennbar bleibt, sich jedoch mit der neuen Struktur zu ei-

Auf diese Weise blieb zwischen den neuen Blendbögen des

nem einheitlichen Ganzen verbindet, grenzen sich alte

14. Jahrhunderts und den alten rundbögigen Arkaden die

und neue Struktur in der Magdeburger Liebfrauenkirche

größtmögliche Fläche an alter Mittelschiffswand sichtbar.

schärfer voneinander ab. Dieser gestalterischen Dialektik

Das Konzept erinnert stark an den rund 90 bis 100

entspricht, dass die neue Struktur in Magdeburg wie eine

Jahre zuvor begonnenen Umbau der Liebfrauenkirche in

vorgeblendete Schale wirkt,382 wohingegen sich die Struk-

Magdeburg. Das ist umso auffälliger, als auch eine histori-

turen in Köln räumlich durchdringen und so eine höhere

sche Beziehung zwischen den beiden kirchlichen Institu-

Plastizität und Tiefe des Wandaufbaus erzielt wird. Die äs-

tionen bestand. Die Magdeburger Liebfrauenkirche wurde

thetische Wirkung in der Magdeburger Liebfrauenkirche

vom Gründer des Prämonstratenserordens Norbert von

basiert insofern auf dem inszenierten Kontrast zwischen

Xanten, seit 1126 Erzbischof von Magdeburg, zu einem

Altem und Neuen, während in Köln stärker die Symbiose

Zentrum des Ordens aufgebaut.385 1128 setzte Norbert den

380 Insofern steht St. Aposteln als direktes Vorbild für die strukturelle Metamorphose der Magdeburger Liebfrauenkirche zur Diskussion (so bereits Jost 2001, S. 101). Neben starken Übereinstimmungen im Detail, wie dem Rundbogenfries unter dem Mittelgesims, spricht hierfür die prinzipielle Ähnlichkeit des strukturellen Aufbaus, die in Magdeburg wie eine Vereinfachung des Kölner Systems wirkt. In dieser Hinsicht interessiert die Anlage eines sehr schmalen Laufganges in Magdeburg, für den man die Mauer hinter den Diensten ein Stück weit aushöhlen musste. Anscheinend verfügte die Liebfrauenkirche zuvor über keinen solchen Gang, was auch der von Weidel publizierte Wandschnitt nahe legt, bei welchem die alte Mauer ober- und unterhalb des neuen Gesimses die gleiche Stärke aufweist (Weidel 1925, S. 83). In St. Aposteln resultiert der Laufgang hingegen aus der Tradition des Ortes. Die im Gegensatz dazu voraussetzungslose Übernahme des Elementes in Magdeburg spricht ebenfalls für eine Nachfolge. Für die Datierung der beiden Kirchen hat das zur Konsequenz, dass der Umbau des Langhauses von St. Aposteln zum Baubeginn der Liebfrauenkirche bereits weit gediehen gewesen sein muss. Für die Datierung der Liebfrauen­kirche muss ferner der Neubau des quasi benachbarten Magde­burger Doms ab 1207/09 mit berücksichtigt werden, denn man dürfte erwarten, dass bei einem deutlich späteren Umbau von Liebfrauen eine erkennbare Orientierung an der Bischofskirche stattgefunden

hätte. Insofern erscheint ein Baubeginn um 1220 (Krause 1995, S. 29; Weidel 1925, S. 82, 93) wahrscheinlicher als um 1230 (Jost 2001, S. 101f); man müsste sogar die 1210er Jahre diskutieren, was allerdings voraussetzt, dass der Umbau von St. Aposteln früher voll­ zogen wäre, als bisher angenommen (siehe oben). Darüber hinaus blieben noch zahlreiche weitere romanische Details in der Kirche erhalten (Bednarz 1996). Im Gegensatz zu St. Aposteln kann die neue Mauerschicht in der Liebfrauenkirche somit von der gestalterischen Wirkung her durchaus als Blende bezeichnet werden (vgl. Anm. weiter oben). Hoffmann, J. 2012a, S. 247f; Ders. 2012b, S. 83–87; Schöfbeck 2012. Die Autoren korrigieren damit die ältere Literatur, in welcher der Umbau bereits nach 1279 bis 1330 angesetzt wurde. Tilo Schöfbeck geht aufgrund dendrochronologischer Daten davon aus, dass die Wölbung in zwei Etappen erfolgte und die Arbeiten zwischendurch 20–40 Jahre zum Erliegen kamen (Ders. 2012, S. 96f). Dabei staunt er über die »konsequente Beibehaltung des alten Baukonzeptes«, die er mit dem »Traditionalismus der Schweriner Domarchitektur«, deren gotische Bauphasen in etwa parallel zu Havelberg lägen, in Beziehung setzt (Ebd.). Schirge 1970, S. 25. Bergstedt 2012, S. 12.

381 382 383

384 385

3.3  VERTIKALE SCHICHTUNGEN

3.05  Havelberg, Dom, Mittelschiffswand 2. Hälfte 12. Jh. und 14. Jh.

89

90

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

Prämonstratenser Anselm zum Bischof von Havelberg ein, unter dessen Episkopat der Bistumssitz seit 1147 wieder aufgebaut wurde.386 Das Domstift gehörte seither dem Prämonstratenserorden an.387 Vergleichend lässt sich festhalten, dass die Blend­ arkatur von St. Aposteln zu Köln über die Liebfrauen­ kirche zu Magdeburg bis hin zum Dom zu Havelberg stetig höher angesetzt wurde. Bei aller Vorsicht angesichts der überschaubaren Beispielbasis sieht das nach einer architekturgeschichtlichen Entwicklung aus: Je jünger die Baukampagne, desto mehr ließ man die alte Substanz sichtbar. Weiterhin fällt auf, dass in Havelberg die neue Schicht eine größere Mauertiefe aufweist und deshalb plastischer wirkt, wohingegen der architektonische Formenapparat vereinfacht wurde.388 Wie in Magdeburg kontrastiert die neue Struktur in Havelberg farblich mit dem Bestand und setzt sich auf diese Weise optisch deutlich ab. In Havelberg tritt noch ein Materialkontrast hinzu, denn die neue Struktur ist nicht mehr aus Naturstein, sondern aus Ziegeln gefertigt und unterscheidet sich deshalb auch im Format und in der Textur vom Bestand.

3.06  Gloucester, Kathedrale, nördliche Chorwand, Mauerwerk spätes 11. Jh., Maßwerk 2. Drittel 14. Jh.

Gloucester, Cathedral Ein spektakuläres Beispiel einer vertikalen Schichtung im

Verglasung der Ostwand und vertikal im komplett verglas-

mittleren Drittel des 14. Jahrhunderts bietet der Chorum-

ten Obergaden fortsetzt und auf diese Weise Neu und Alt

bau der Kathedrale zu Gloucester in England (Abb. 3.06).389

gestalterisch verklammert.

Bis zur Neugestaltung des Gebäudeteils bestand ein Um-

Andererseits blieb durch das Maßwerkgitter hindurch

gangschor vom Ende des 11. Jahrhunderts,390 dessen Pres-

das jahrhundertealte Mauerwerk der Chorwände wie auch

byterium sich mit einer großzügigen, zweigeschossigen

die alten Emporen- und Umgangsräume sichtbar. Über

Arkatur zum Chorumgang und zur Chorempore öffnete.

das Sichtbarlassen der alten Bausub­stanz hinaus passte

Während der östliche Chorabschluss niedergelegt und

man die Struktur des Maßwerks an die von großen rund-

völlig andersartig als raumhohe Glaswand neu gebaut

bogigen Öffnungen geprägte Struktur der Wände an. So

wurde, bewahrte man die nördlichen und südlichen Teile

legte man zwar das Maßwerkgitter vereinheitlichend so-

des alten Chorhalses bis zur Höhe des Obergadens.

wohl über Mauerwerksflächen als auch deren Öffnungen,

Im Binnenchor wurden neue Dienstbündel, welche

konturierte letztere jedoch mittels Profilen und Friesen,

das feingliedrige Rippennetz des neuen Chorgewölbes

so dass sich die alte Bogenstruktur auch auf der neuen

aufnehmen, vor die alten Pfeiler der Arkatur gesetzt.391

Maßwerkschicht abzeichnet. Die somit implizit e ­ rhalten

Die somit vertikal unterteilten Binnenchorwände wurden

gebliebene Geschossteilung setzt sich über das neue Maß-

mit einer gleichmäßigen Struktur von Maßwerkpaneelen

werkfenster im Osten fort, dessen Struktur somit in ge­

überzogen, die sich horizontal über die neue großflächige

wissem Maße in die alte eingebunden wird. In den beiden

386 Ebd. 387 Ebd., S. 14. 388 So steigen zum Beispiel die profilierten Schildbögen ohne Kapitell vom Boden aus zum Scheitelpunkt auf. Auch auf einen Fries an der Oberkante der Arkadenzone wurde verzichtet. Die heutige Maßwerkbrüstung wurde erst 1840/42 ergänzt (Schirge 1970, S. 25). 389 Grundlegend zu Gloucester Cathedral: Welander 1991, zum Chorumbau S. 164–183. – Überblick: Engel 1998, S. 146f; Pevsner/ Metcalf 1985a, S. 131–155.

390 Zum Chorbau des späten 11. Jahrhunderts: Wilson 1985. 391 Der obere Raumabschluss des romanischen Chores ist Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion (Überblick bei Welander 1991, S. 41– 43). Verschiedene Argumente wurden für eine ehemalige Tonnenwölbung vorgetragen. Sollte das tatsächlich zutreffen, dann würde sich die Tonnenwölbung des 14. Jahrhunderts als Erinnerungsform an den vormaligen Zustand erklären.

91

3.4  HORIZONTALE SCHICHTUNGEN

östlichen Chorjochen, wo keine Bögen des 11. Jahrhun-

Beziehungen, die zwischen Alt und Neu bewusst aufge-

derts vorhanden waren, schuf man im Erdgeschoss in

baut wurden und von einer Wertschätzung der alten Kir-

Fortsetzung der bestehenden Struktur neue Arkaden, die

che zeugen. Die Art und Weise der Chorneugestaltung legt

man jedoch mit Spitzbögen überfing, so dass die spätere

nahe, dass neben einer prachtvollen Modernisierung des

Ergänzung erkennbar blieb.

Chores die erkennbare Einbindung altehrwürdiger Teile

Der für die Umgestaltung des Kathedralchores in

der Kirche ebenso zur Zielsetzung gehörte.

Gloucester verantwortliche Baumeister schuf folglich ein

Das Vorsetzen einer neuen Tragstruktur unter Be-

ebenso komplexes wie raffiniertes Wechselspiel zwischen

rücksichtigung bestehender Wände lässt sich bereits im

der alten und neuen Schicht der Chorwände, indem er

12. Jahrhundert in der Abteikirche von St. Remi beobach-

Alt und Neu sichtbar kontrastierend übereinander legte,

ten. Die Komplexität und Subtilität der Schichtung vor den

aber zugleich auf verschiedenen Ebenen Bezüge und Ver-

Wandflächen erreicht hingegen zur Mitte des 14. Jahrhun-

schränkungen herstellte.

derts eine neue Qualität. Das schleierhafte Überblenden

Während Nikolaus Pevsner den Chorumbau sicher-

der großen Bogenöffnungen erinnert an das vergleichbare

lich treffend als Folge der Beisetzung König Edwards II.

Konzept beim Wiederaufbau des Basler Münsters, wo die

in der Kathedrale von Gloucester interpretierte, stellte er

vertikale Schichtung von Alt und Neu auf Emporenniveau

den romanischen Chor in Tradition der älteren Literatur

allerdings künstlich erzeugt wurde.393 Es erscheint aus

vornehmlich als dunklen Raum dar, der für eine royale

dieser Perspektive gut möglich, dass der Basler Baumeis-

Grabstätte unangemessen schien.392 Diese negative Beur-

ter Kenntnis vom Konzept des neuen Kathedral­chores in

teilung des Bestands ignoriert jedoch die beschriebenen

Gloucester hatte.

3.4 Horizontale Schichtungen Trier, Dom

punkten der Kreuzrippen überbrücken, denn sie stehen er-

Die Einwölbung des Trierer Doms erfolgte Anfang des

kennbar auf den alten Kreuzpfeilern (Abb. 3.08). Während

13. Jahrhunderts in zeitlicher Nähe zum Umbau von

die Säulen in Material, Farbe und Formensprache den

St. Aposteln zu Köln.

Beiden Kirchen ist eine mit der

Gewölberippen entsprechen, kontrastieren sie hingegen

Modernisierung einhergehende Inszenierung ihrer Ver-

stark mit den wuchtigen, ungeschmückten Pfeilern des

gangenheit gemein, doch unterscheidet sich das jeweilige

frühen 11. Jahrhunderts. Auf diese Weise bildet die jewei-

Vorgehen grundsätzlich. In St. Aposteln wurde den Mittel­

lige Struktur die Folie, vor der sich das Alter der anderen

schiffswänden eine neue Struktur vorgesetzt, welche in

erkennen lässt: Das neue Gewölbe wirkt im Vergleich mit

einem systematischen Zusammenhang mit der Wölbung

der alten Pfeilerstruktur neu, die alten Pfeiler im Vergleich

steht, dabei aber neue und alte Substanz als vertikale

mit der neuen Wölbstruktur alt. Die sichtbare horizontale

Schichten erkennbar ließ. Im Trierer Dom schichtete man

Schichtung der Tragstrukturen kann somit zugleich im

Alt und Neu hingegen horizontal, indem man die alte

Sin­ne einer Überlagerung zweier Zeitschichten verstan-

Pfeilerstruktur aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts

den werden.

394

unverändert beibehielt und die neue Wölbstruktur optisch darauf stellte (Abb. 3.07).

Hierbei lässt sich belegen, dass dieses Bild planvoll

Erzeugt wird das Bild der hori-

evoziert wurde, denn die neue aufgestellte Tragstruktur

zontalen Schichtung vor allem von kleinen Säulen, welche

spiegelt gar nicht den tatsächlichen Umfang der Arbeiten

die Distanz zwischen der alten Kapitellzone und den Fuß-

wider. Die Pfeilerarme zu Seiten des Mittelschiffs wurden

392 »to the king, this dark Norman interior must have seemed an unsuitable shrine for his father« (Pevsner/Metcalf 1985a, S. 135). 393 Kap. 4.3.3. 394 Einen festen Anhaltspunkt für die Datierung der Einwölbung des Trierer Doms liefert die dendrochronologische Datierung von Rüst­ hölzern aus dem Mittelschiff auf 1217 (Hollstein 1980, S. 136f). Jochen Zink sieht die Weihe des Hochaltars im neuen Ostchor 1196 als Terminus post quem für die Wölbungsarbeiten im Langhaus an (Ders.

1980a, S. 48). Auf der anderen Seite dürfte der komplette Neubau der benachbarten Liebfrauenkirche ab 1227 nicht begonnen worden sein, ohne dass der große Umbau des Doms weitgehend fertiggestellt war (zur Datierung von Liebfrauen: Ronig 2007, S. 164–166; Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29 mit Anm. 24). Insofern erscheint eine Datierung der Einwölbung des Trierer Doms in die Zeit zwischen 1205 und 1225 realistisch. – Zu St. Aposteln siehe Kap. 3.3. 395 Dazu eingehend Horn 2015a, S. 65–68.

395

92

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

hineingehängt wurden, zwar alt wirkt, tatsächlich aber gleichzeitig entstand. Außerdem wurden die meisten der den Kreuzrippen zugeordneten Säulen nicht eingehängt, sondern aufgestellt, was die nachträgliche Schichtung deutlicher zum Ausdruck bringt. Die fehlende Unterscheidung zwischen konstruktiver Realität und gestalterischer Suggestion trug mit dazu bei, dass Qualität und Intention des spätstauferzeitlichen Umbaus in der älteren Literatur verkannt wurden: »Der gewölbte Choranbau im Osten erhob die Forde­ rung, das flachgedeckte Langhaus des Domes in ei­ ne Gewölbebasilika zu verwandeln. Dieser Forderung

3.08  Trier, Dom, nördliche Chorwand, Gewölbefußpunkt im Mittelschiff frühes 11. Jh. und frühes 13. Jh., spätantikes Kapitell im Mauerwerk

3.07  Trier, Dom, Mittelschiff nach Westen nämlich aus statischer Notwendigkeit quasi in der alten Form bis zur Höhe der Fußpunkte der Gurtbögen aufgemauert.396 Das heißt, der Baumeister des frühen 13. Jahrhunderts differenzierte genau zwischen neuen Teilen, die auch neu aussehen sollten, und neuen Teilen, die alt wirken sollten, um das gewünschte Gesamtbild zu erzielen. Ein Detail verrät auf den zweiten Blick den Übergang vom alten zum alt scheinenden Pfeilermauerwerk: Genau auf Höhe der Basen der neuen Säulen sitzen schräge Werksteine, welche den neuen Teil etwas verschmälern,397 was notwendig war, um die Säulen, die auf den Ecken der alten Kreuzpfeiler stehen, nicht zu verdecken. Der inszenatorische Charakter der Schichtung wurde in der architekturhistorischen Literatur bislang verkannt, was sich darin äußert, dass die Gewölbe, ausgehend von den auf Konsolen stehenden Säulen, welche die Gurtrippen tragen, in der Regel als in die alte Substanz »hineingehängt«398 bezeichnet wurden. Das ist insofern unzutreffend, weil die Struktur, in welche die Vorlagen scheinbar

396 Ebd., S. 67. 397 Dem bauforscherischen Auge bleibt auch ein Wechsel in der Mauer­technik nicht verborgen, allerdings ist fraglich, ob dieser im Mittelalter erkennbar war oder von einer Putz- und/oder Farbschicht überdeckt wurde.

398 Z. B.: Zink 1980a, S. 50; Kubach/Verbeek 1976, S. 1104; Kempf 1968, S. 15; Irsch 1931, S. 136.

93

3.4  HORIZONTALE SCHICHTUNGEN

stellte der bestehende Bau einen durch die Antike grundgelegten passiven Widerstande entgegen. Das Er­ gebnis von Forderung und Widerstand war ein Kompromiß: die basilikale Umformung des Raumes er­ folgte unter erzwungenen Abweichungen von der Norm, der Baukörper blieb unverändert.«399 Irsch sah im gewölbten Langhaus also einen »Kompromiß«, was impliziert, dass man lieber nach einem anderen Konzept vorgegangen wäre, nämlich einem, das »der Norm« entspräche. Aber existierte denn die von Irsch als Bewertungsmaßstab angelegte Norm im Mittelalter überhaupt? Bei sachlicher Betrachtung erhebt der Architekturhistoriker hier ein Bild eines mittelalterlichen Bauwerks zur Norm, das die eigene Fachdisziplin mittels der Stil­ geschichte selbst erzeugt hat. Hingegen übersieht er die für den Trierer Dom konstitutive Bedeutung der Tradition des Ortes, denn die Bischofskirche ging nach der Legende aus dem Palast der heiligen Kaiserin Helena hervor.400 Insofern dienen Spuren der Vergangenheit im Trierer Dom, die mittels der horizontalen Schichtung geradezu inszeniert werden, auch der Visualisierung und Authentifizierung der Helena-Legende.401

3.09  Münster, Dom, Westchor letztes Viertel 12. Jh., Aufstockung nach 1225

Münster, Dom 1225 legte Dietrich III. von Isenberg den Grundstein für einen großangelegten Umbau von Langhaus und Chor des

Struktur aufweist und die vertikale Tragstruktur scheinbar

Münsteraner Doms.

willkürlich unterteilt.

402

Um den erst im letzten Viertel des

12. Jahrhunderts neu gebauten Westchor zu integrieren,403

Mit dieser Beobachtung korrespondieren zwei fries-

dessen Form seinerseits auf einen romanischen Vorgän-

artige Kapitelle samt Kämpferplatten an den westlichen

ger rekurriert,404 zog man ein neues Rippengewölbe ein,

Pfeilern der Westvierung, die ohne ersichtlichen Grund

das in Form und Höhe den neuen Mittelschiffsgewölben

die jeweilige mittelschiffseitige Wandvorlage zweiteilen.

entsprach. Die neue Struktur wirkt, als wäre sie auf die alte

Im Unterschied zu dem Vorlagenapparat in den Chor­

Struktur aufgesetzt worden (Abb. 3.09). Die Wandvorlagen

ecken setzten sich die Wandpfeiler oberhalb der Kapi-

in den vier Ecken des gerade geschlossenen Westchores

telle in der gleichen Form fort, so dass die Kapitelle gar

weisen eine zweiteilige Zonierung auf. Die untere Zone be-

tektonisch überflüssig erscheinen. Das Höhenniveau ent-

steht je aus einem L-förmigen Wandpfeiler mit Dienst in

spricht indes wie auch die Formensprache den Kapitell-

der Innenecke und erstreckt sich vom Boden bis zur Höhe

friesen der Vorlagen in den Chorecken.

der seitlichen Laufgänge. Darüber befindet sich eine re-

Im Westchor existiert also ein gutes Stück unterhalb

lativ kleine Zone bestehend aus einem Wandpfeiler mit

der Gewölbefußpunkte eine funktionslose zweite Kapi-

vorgelagertem Säulenbündel, welches schließlich die Rip-

tellzone. Diese untere Kapitellzone ergibt nur einen Sinn,

pen des Gewölbes aufnimmt. Die untere Zone wird mit

wenn dort das alte Gewölbe aufgesetzt hat. Dafür spricht

einem Kapitellfries und Kämpfergesims klar nach oben

auch der stilkritische Vergleich der beiden Kapitellzonen.

abgeschlossen. Es fällt auf, dass diese Kapitellzone im Ge-

Die Kapitellfriese der unteren Zone passen mit ihrem sti-

gensatz zur oberen keinerlei Bezug zur architektonischen

lisierten, teils sehr flächig aufgebrachten Blattwerk in die

399 Irsch 1931, S. 131. 400 Horn 2015a, S. 34–36. 401 Ebd., S. 90–92.

402 Lobbedey/Scholz/Vestring-Buchholz 1993, S. 271. 403 Zur Datierung des Westbaus: Ebd., S. 269. 404 Ebd.

94

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts und wirken ebenso wie das Kämpfergesims mit Platte, Plättchen und Karnies gegenüber der oberen Kapitellzone altertümlich. Die obere Kapitellzone weist demgegenüber mit ihren Kelchknospenkapitellen die jüngeren Formen des 13. Jahrhunderts auf, wie auch die aus einem Rundstab gebildeten Kämpfergesimse. Die stilkritische Analyse bestätigt den baustrukturellen Befund, dass die obere Kapitellzone im Zusammenhang mit der neuen Wölbung um die Mitte des 13. Jahrhunderts geschaffen wurde, wohingegen die untere Kapitellzone aus der Entstehungszeit des Westchores in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stammt. Die Fußpunkte des neuen Gewölbes liegen demnach höher als die des vormaligen. Die Höhendifferenz hat man an den vertikalen Tragelementen in den Chorecken durch die Addition einer neuen Zone überbrückt. Die neue Zone setzt sich nicht nur gestalterisch von der un­ teren ab, sondern wirkt, als wäre sie auf jene wie auf einen Boden aufgestellt worden. Dieser Eindruck wird durch die hohen Sockel, auf denen die eigentlichen Säulen stehen, verstärkt. Auf diese Weise entsteht das Bild einer hori­zontalen Schichtung, welche das Gewölbe als jüngere Zutat ausweist und das alte Gewölbeniveau nachvollziehbar macht. Hingegen wirken die Kapitelle an den Vierungspfeilern wie Asservatien, die in einen neuen Pfeiler vermauert wurden. Allein der Bezug zu den Kapitellfriesen in den Chorecken macht deutlich, dass dort vormals

3.10  Freiburg, Münster, Schichtung der Vorlagen, nordwestliche Mittelschiffsarkade

ein Gurtbogen aufsetzte. Das Konzept, die neue Struktur erkennbar über die

den Vierungsturm überdeckt.406 Die beiden Gebäudeteile

alte zu setzen, ähnelt der horizontalen Schichtung von Alt

wurden miteinander verwoben, indem die neue Tragstruk-

und Neu bei der nur wenige Jahrzehnte älteren Wölbung

tur sichtbar auf die alte aufgestellt wurde. Über den ro-

des Trierer Doms. Während die Zeitschichten im Trierer

manischen Kapitellen der westlichen L ­ anghausarkarden

Dom, wie zuvor dargelegt, scharf kontrastieren, lässt sich

stehen auffällig gedrungene Vorlagen, die sich aufgrund

die horizontale Schichtung im Westchor des Münsteraner

ihrer formengeschichtlich jüngeren, im Langhaus übli-

Doms nur über die Baustruktur nachvollziehen, so dass

chen Kelchknospenkapitelle der gotischen Kampagne zu-

von einer vergleichsweise dezenten Inszenierung von Spu-

ordnen lassen (Abb. 3.10). In der älteren Literatur wurde

ren der Vergangenheit gesprochen werden muss.

diese offensichtliche Schichtung aus stilgeschichtlicher Perspektive negativ beurteilt:

Freiburg, Münster Das Langhaus des Freiburger Münsters wurde wohl seit den 1230er Jahren durch ein größeres neues Langhaus in gotischen Formen ersetzt.405 Dabei musste der neue Gebäudeteil an ein bestehendes spätromanisches Querschiff angeschlossen werden, dessen Dimensionen so weit übertroffen wurden, dass das neue Langhausdach sogar

405 Zur Baugeschichte des Freiburger Münsters: Münsterbauverein 2011.

»die schwerfällige Art der Konstruktion, zum Beispiel die Art, wie auf die romanischen Arkaden- und Gewölbekapitelle gotische Dienste aufgestockt werden, oder das plumpe, ungeformte Maßwerk der Seitenschiffenster zeugen von der mangelhaften Kenntnis, die dieser Meister von großer gotischer Baukunst hatte.«407

406 Kap. 5.1.3. 407 Adam 1978, S. 39.

95

3.4  HORIZONTALE SCHICHTUNGEN

Abgesehen davon, dass der mit einer Dimensionssteigerung verbundene Anschluss an ein älteres Querschiff eine spezielle Situation darstellt, resultiert die Gedrungenheit der gotischen Vorlagen aus dem vorgegebenen Maß, um das die Seitenschiffe erhöht werden sollten. Dass der Baumeister sehr wohl in der Lage war, eleganter zu konstruieren, beweist die Aufstockung im Mittelschiff, die aufgrund der andersartigen tektonischen Situation relativ unauffällig geriet, weshalb sie in der Literatur bisher auch nicht wahrgenommen wurde (Abb. 3.11). Die bestehenden Dienste in den beiden Ecken zwischen Mittelschiffs- und Vierungswand wurden jeweils mit einem neuen Dienst aufgestockt, der den Durchmesser des älteren aufgreift. Aufgrund der beträchtlichen Erhöhung des Mittelschiffs wirken die Aufstockungen im Gegensatz zu ihren Pendants in den Seitenschiffen nicht gedrungen. Zudem sind die übrigen romanischen Kapitelle am Vierungspfeiler sinnvoll in die tektonische Struktur eingebunden, indem

3.11  Freiburg, Münster, Triumphbogen, Schichtung der Vorlagen in den Ecken

sie die Gurte des Vierungsbogens tragen. Die Stützstruktur wirkt deshalb auf den ersten Blick homogen. Wiede-

sollte. In jedem Fall folgen die Aufstockungen einer ein-

rum verrät die Kapitellplastik eindeutig die nachträgliche

heitlichen tektonischen Systematik, der die Proportionen

Hinzufügung der oberen Dienste, denn es handelt sich um

untergeordnet sind.

Kelchknospenkapitelle, die auch am gotischen Obergaden

Interessanterweise griff man diese Gestaltungsstra-

verwendet wurden, während die blockhaften unteren Ka-

tegie über 200 Jahre später beim Bau des spätgotischen

pitelle den älteren des Querschiffs entsprechen. Auch die

Langchores ab 1471 wieder auf und setzte den Kontrast

Systematik der Tragstruktur gibt einen Hinweis auf die

von Alt und Neu sogar noch deutlicher in Szene.411 Die

spätere Hinzufügung der oberen Dienste, denn diese müs-

alten Chorflankentürme aus der Zeit um 1200 wurden,

sen sämtliche Rippen aufnehmen, wohingegen im übri-

was an sich schon bemerkenswert ist, weitgehend in der

gen Langhaus ein Dienst pro Rippe angelegt wurde.

alten Form in den Umbau integriert. Die Nord- bzw. Süd-

Die erkennbare horizontale Schichtung der Vorlagen

wand der Türme bildete zum Innenraum hin die Wände

weist auf die nachträgliche Erhöhung des Langhauses hin

des alten Chorjochs vor der Apsis. Bei der Errichtung des

und markiert die alten Höhenniveaus. Die Aussage von

neuen Binnenchores um 1500 beließ man die Elemente

Ernst Adam, »nichts verbindet die Neuplanung mit dem

der alten Struktur an den Turmwänden, was abermals be-

Bisherigen«,408 ist somit nicht haltbar, übrigens auch nicht

merkenswert ist, da sie keinen Bezug mehr zum tektoni-

im Hinblick auf die nachweisbaren räumlichen Spuren

schen System aufweisen. Besonders deutlich wird das an

der Vergangenheit,409 sondern resultiert aus einer stilge-

einem Bündel mit drei Diensten, der völlig unvermittelt

schichtlichen Perspektive, die sich auf Zäsuren verengt.

auf halber Wandhöhe mit seinen Kapitellen endet und

Auch resultiert die unterschiedliche Ausführung in den

einen Blendbogen trägt (Abb. 3.12). Auf diesen fragmen­

Schiffen nicht aus dem Unvermögen des Baumeisters,

tarisch wirkenden Bogen setzte der Baumeister des späten

wie es Adam mit Blick auf das Seitenschiff unterstellte,410

15. Jahrhunderts den Dienst für das neue Netzgewölbe des

sondern aus den unterschiedlichen Höhensprüngen. Dass

Binnenchores auf und wies der alten Struktur auf diese

dort trotz der relativ geringen Höhendifferenz für die Ar-

Weise wieder eine Funktion zu. Mit verschiedenen Mit-

kaden neue Kapitelle geschaffen und nicht einfach die al-

teln betonte er hierbei den Kontrast zwischen der alten

ten nach oben versetzt wurden, spricht im Gegenteil da-

und neuen Schicht: Zum einen verläuft der spätgotische

für, dass das alte Höhenniveau bewusst gezeigt werden

Dienst nicht in der Achse eines alten Dienstes, sondern

408 Ebd., S. 34. 409 Kap. 5.1.3. 410 Siehe oben.

411 Zur Baugeschichte des spätgotischen Langchores: Flum 2011; Ders. 2001.

96

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

Bremen, Dom Die tiefgreifende Umgestaltung des Bremer Doms um die Mitte des 13. Jahrhunderts wurde bereits unter dem Aspekt der Integration alten Mauerwerks behandelt.412 An dieser Stelle soll die gestalterische Konzeption des Umbaus fokussiert werden, der eine horizontale Schichtung von Neu und Alt zu Grunde liegt (vgl. Abb. 2.36; 2.37). Die Schichten lassen sich an den Mittelschiffswänden einfach ablesen, denn die neuen Obergadenwände springen gegenüber den alten rundbogigen Arkaden zur Außenwand hin weit zurück. Auf dem somit entstandenen Vorsprung der alten Arkatur findet nicht nur ein Laufgang Platz, sondern es setzen auch die Dienste der Schildrippen dort auf. Die dünne Obergadenwand wirkt im Zusammenklang mit ihrer großflächigen Durchfensterung wie eine Mem­bran, die zwischen die vertikalen Stützstrukturen gespannt wur­de. Nimmt man die Punkte zusammen, entsteht der Eindruck, die Obergadenzone wäre auf die Arkadenzone gestellt worden, was die nachträgliche Änderung erkennbar macht. Ein alter Rundbogenfries an der Oberkante der Arkatur konturiert die Grenze zwischen den beiden Zeitschichten zusätzlich. Allein die Dienste, welche die Gurtund Kreuzrippen aufnehmen müssen, laufen vor jedem

3.12  Freiburg, Münster, westliches Chorjoch, Wand des Chor­ flankenturms um 1200, Gewölbeansatz mit Dienst um 1500

zweiten Pfeiler vom Boden aus bis zum Gewölbe durch und setzen der horizontalen Schichtung lineare vertikale Akzente entgegen.

steht seitlich versetzt auf dem Blendbogen, wodurch er

An der östlichen Wand des gerade geschlossenen Cho-

auch von der Vierung aus als abweichendes Element er-

res, der »Hauptschauwand« des Kirchenraums, verzich-

kennbar ist. Zudem wurde der Dienst, um ihn der Tiefe

tete man hingegen auf eine vertikale Gliederung und be-

des Blendbogens anzugleichen, unten angespitzt, wo-

tonte stattdessen die horizontale Schichtung stärker. Die

durch ebenfalls kenntlich gemacht wurde, dass dort zwei

Arkaden des Mittelschiffs setzen sich an den Chorwän-

unterschiedliche Systeme aufeinandertreffen. Schließlich

den als Blendbögen, also als reine Gestaltungselemente,

wurde der Übergang vom Dienst zum Gewölbe konse-

fort (Abb. 3.13). Gesims und Rundbogenfries schließen

quent zeitgenössisch ohne Kapitell, aber mit verschliffe-

die Blendarkatur analog zum Mittelschiff nach oben hin

nen Rippen gestaltet, so dass er sich von der romanischen

ab und zonieren auf diese Weise die Chorwand. Die drei

Kapitellzone deutlich unterscheidet.

spitzbogigen Fenster in der Obergadenwand wirken, als

Die Spuren der Vergangenheit wurden demnach beim

ständen sie auf der Blendarkatur. Dieses Bild wird erzeugt,

Chorneubau um 1500 in einer Deutlichkeit inszeniert, die

indem die Rundstäbe, welche die Fenster rahmen, ­mittels

über das Konzept beim Langhausneubau rund 250 Jahre

Sockel und Basis tektonisch auf dem Gesims stehen und

vorher hinausgeht. Möglich gemacht hat das in nicht un-

von dort wie Dienste hochgeführt werden. Dass die Rund-

beträchtlichem Maße auch der größere zeitliche Abstand

stäbe keinen Bezug zu den Achsen der Blendarkatur ha-

zwischen den beiden Bauphasen, infolgedessen die jeweils

ben, trägt außerdem zur Wirkung zweier horizontaler

zeittypischen Formen stärker kontrastieren. In beiden Fäl-

Schichten bei.

len wird jedoch der Wille erkennbar, die horizontalen Zeitschichten wahrnehmbar zu machen.

Allerdings scheint auch die untere Zone überarbeitet worden zu. Die Verwendung von Wirteln anstelle von Kapitellen an den rahmenden Rundstäben weist ebenso

412 Kap. 2.3.1.

97

3.5  RESÜMEE: INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

scheinend wurden nur die Felder zwischen den Lisenen moderat modernisiert. Die Sockelzone sollte folglich, in Relation zur Fensterzone, alt wirken. Damit wäre bewiesen, dass das erzeugte Bild der horizontalen Schichtung von Alt und Neu absichtsvoll erzeugt wurde. Hinsichtlich des historischen Verständnisses des gotischen Umbaus und den daraus folgenden denkmalpflegerischen Entscheidungen sind außerdem die Dienste der Vierungspfeiler von Interesse, die heute vom Boden aus zum Gewölbe aufsteigen. Das entspricht jedoch nicht dem originalen Zustand, sondern wurde erst im Zuge historistischer Restaurierungsarbeiten am Dom gegen Ende des 19. Jahrhunderts so angelegt.414 Bis dahin standen kurze Dienste ähnlich dem Trierer Dom auf den alten rechteckigen Pfeilervorlagen, so dass eine Spur der vormaligen Höhe der Vierungsbögen verblieb und somit das spätere

3.13  Bremen, Dom, Chorostwand

Einziehen des Kreuzrippengewölbes optisch nachvollziehbar war. Bei den Arbeiten Ende des 19. Jahrhunderts fehlte

wie die Spitzbögen der seitlichen Blendarkaden formen-

offensichtlich das Verständnis für den absichtsvollen Kon-

geschichtlich in das 13. Jahrhundert. Demgegenüber

trast zwischen Alt und Neu. Stattdessen meinte man, die

entsprechen die Lisenen und der Rundbogenfries den

Vierungspfeiler vor dem Hintergrund selbst definierter

Formen des späten 11. Jahrhunderts im Langhaus.413 An-

stilgeschichtlicher Normen korrigieren zu müssen.415

3.5 Resümee: Inszenierte Spuren der Vergangenheit In den untersuchten Fallbeispielen kam es im Mittelalter

Diese architektonische Überlagerung zweier Zeit-

zu einer partiellen Umformung des Bestands, die zumeist

schichten wurde in den untersuchten Fällen dazu genutzt,

darauf abzielte, den alten Kirchenraum mit dem Einzug

Spuren der Vergangenheit planvoll zu inszenieren, indem

neuer Gewölbe zu nobilitieren. Betrachtet man dieses

Alt und Neu, in jeweils unterschiedlicher Quantität und

Verfahren im übergeordneten Kontext mittelalterlicher

Qualität, optisch differenzierbar belassen wurden und

Baukultur, dann lässt es sich als Kategorie der an ande-

folglich die ältere Zeitschicht im Kontrast zur neuen nicht

rer Stelle definierten »Metamorphose«416 beschreiben, der

nur erkennbar blieb, sondern auf diese Weise auch als

langfristigen architektonischen Wandlung mittelalter­

»alt« gekennzeichnet wurde. Als gestalterische Strategie

licher Kirchenbauten. Da es sich um eine – vor dem Hin-

der Inszenierung fungierte die erkennbare Schichtung von

tergrund des Gewölbebaus tragkonstruktiv notwendige –

Altem und Neuen, wobei die architektonische Schichtung

Umformung der architektonischen Struktur handelt, soll

bildlich als zeitliche Schichtung gelesen werden kann. Ge-

diese Form der architektonischen Wandlung als »struk-

mäß ihrer Ausrichtung lassen sich strukturelle Metamor-

turelle Metamorphose« bezeichnet werden. Strukturelle

phosen in zwei Kategorien untergliedern: Die Schichtung

Meta­morphosen unterscheiden sich von anderen Formen

konnte vertikal oder horizontal erfolgen.

der Metamorphose in erster Linie dadurch, dass es nicht

In den Beispielen einer vertikalen Schichtung wurde

zu einer Substitution eines Gebäudeteils kommt, sondern

die alte Wandstruktur derart von einer neuen Struktur

zu einer Synthese alter und neuer Substanz.

überlagert, dass die alte Schicht durch die neue hindurch

413 Inwieweit tatsächlich noch Substanz des 11. Jahrhunderts vorhanden ist, müsste bauforscherisch geklärt werden. 414 Fliedner 1979, S. 18. 415 Auch rund 100 Jahre später wurde diese Maßnahme noch tendenzi-

ell begrüßt: »sind jene Vorlagen dann endlich in voller Länge hochgeführten Diensten gewichen« (Fliedner 1979, S. 18). 416 Kap. 5.1.2.

98

3  INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

erkennbar blieb. Der Grad der Durchlässigkeit und die

der Schichtung wider; je größer der formale Kontrast desto

dar­aus resultierende Relation der Schichten zueinander

größer erscheint die zeitliche Differenz.

variiert von Fall zu Fall. Während in St. Remi, Reims,

Optisch wurde die nachträgliche Schichtung in Sze­ne

die neue Struktur im späten 12. Jahrhundert weitmaschig

gesetzt, indem ein mehr oder weniger deutliches Bild

über die alte Wand angelegt wurde, so dass letztere in ih-

zweier übereinander gestellter Tragsysteme evoziert wurde.

rer raumprägenden Wirkung weitgehend erhalten blieb,

Es wirkt jeweils, als wäre der neue Bauteil im Ganzen nach-

wurde in St. Aposteln, Köln, im frühen 13. Jahrhundert

träglich auf den alten gestellt worden. Um dieses Bild zu er-

die alte Wand von einer neuen Schicht überdeckt, die den

zeugen, mussten in erster Linie die konstruktiven Details

Blick auf das Alte nur partiell freigibt, gleich Fenstern in

an den Kontaktpunkten entsprechend ausgebildet werden.

die Vergangenheit. In der Liebfrauenkirche zu Magde-

Im Trierer Dom stehen viele der kurzen Gewölberippen

burg, wo das Konzept von St. Aposteln anscheinend auf-

auf den massiven alten Pfeilern, so dass der Kontrast recht

gegriffen wurde, sowie im Dom zu Havelberg, der seiner-

deutlich ausfällt, was durch die unterschiedlichen Materi-

seits, wie es scheint, wiederum die Magdeburger Kirche

alien, Farben und Proportionen weiter verstärkt wird. Da­

zum Vorbild nimmt, bekommt die alte Schicht sukzessive

r­über hinaus beweist die Einwölbung des Trierer Doms,

einen größeren Anteil eingeräumt und tritt deshalb stär-

dass das Bild übereinander gestellter Tragsysteme einer

ker in Erscheinung, was durch gezielte gestalterische Ent-

planvollen Inszenierung entspringt, weil die Grenze zwi-

scheidungen wie die Einbindung altertümlicher Details

schen neuer und alter Schicht zwar klar konturiert wurde,

weiter unterstützt wird.

aber in Wirklichkeit auch Teile neu geschaffen wurden, die

Im Chor der Kathedrale zu Gloucester erreicht die In-

aussehen, als gehörten sie zur alten Struktur.

szenierung der Vergangenheit mittels vertikaler Schich-

Im Dom zu Münster sowie im Langhaus des Freibur-

tung um die Mitte des 14. Jahrhunderts ein neues Niveau,

ger Münsters setzen die neuen Dienste hingegen auf ältere

indem ein gleichmäßiges Maßwerkgitter die alte Wand

auf, so dass die Schichten bei genauer Betrachtung zwar

überzieht und selbst die bestehenden Öffnungen schleier-

unterscheidbar sind, aber sich stärker auf das vorhan-

artig überblendet.

dene Tragsystem beziehen. Im Langchor des Freiburger

In allen Fällen wurde die neue Schicht der alten nicht

Münsters lässt sich die nachträgliche Schichtung wiede-

zusammenhangslos vorgeblendet, sondern jeweils auf die

rum leichter wahrnehmen, weil die neuen Dienste aus der

bestehende Struktur bezogen und in unterschiedlichem

Achse der alten verschoben wurden, ohne allerdings das

Grad mit ihr verwoben. Auf diese Weise geben sich die

Bild des Aufeinanderstehens aufzugeben. Hier zeigt sich

beiden Schichten, trotz ihrer gewollten Kontrastierung,

ein hohes Maß an inszenatorischer Raffinesse. Im Bremer

als zwei Teile eines übergeordneten Ganzen zu erkennen.

Dom wirkt der gesamte feingliedrige Obergaden, als wäre

Sehr deutlich wird das an den Stellen, wo alte und neue

er auf die alten, massigen Arkaden aufgestellt worden, de-

Elemente gemeinsam die neue Tragstruktur bilden. Doch

ren Alter auf diese Weise besonders hervorgehoben wird.

auch gestalterisch wurden die Schichten aufeinander be-

Während die Evokation zweier übereinander gestellter

zogen. Zum Beispiel spiegelt sich die alte Bogenstruktur

Tragstrukturen einerseits für eine schärfere optische Ab-

im Chor der Kathedrale von Gloucester subtil im neuen

grenzung der Schichten sorgt, wird auf der anderen Seite

Maßwerkgitter. Die Beziehung, in der Alt und Neu in den

der tektonische Aspekt der Schichtung betont und beide

untersuchten Beispielen zueinander stehen, wird einer-

Teile somit sichtbar in einen statischen Zusammenhang

seits von einem Kontrast und andererseits von einer Syn-

gebracht. Das Alte bildet die tragende Grundlage für das

these gekennzeichnet, wobei die jeweils unterschiedliche

Neue, was leicht auch sinnbildlich verstanden werden

Konstellation den inszenatorischen Charakter bestimmt.

kann. Obwohl der Kontrast zwischen den beiden Schich-

In den Fallbeispielen einer horizontalen Schichtung

ten deutlich zum Ausdruck kommt, lassen sie sich zu-

wurden Alt und Neu übereinander gestapelt, so dass sich

gleich als zwei Teile eines übergeordneten Ganzen erken-

die Schichten räumlich klar voneinander abgrenzen. Eine

nen. Die jeweiligen statischen Strukturen fügen sich zu

Durchdringung, welche die vertikalen Schichtungen aus-

einer übergreifenden Tragstruktur. Während bei der ver-

macht, gibt es folglich nicht oder nur partiell. Der Be-

tikalen Schichtung eine neue Tragstruktur mittels Durch-

trachter schaut nicht durch das Neue auf das Alte, son-

dringung geschaffen wurde, stellen Fortsetzung und Er-

dern nimmt wahr, wie das Neue auf dem Alten liegt. Die

gänzung bei der horizontalen Schichtung die Mittel dar,

bauliche Struktur spiegelt auf diese Weise die Zeitlichkeit

um die Teile miteinander zu verbinden.

3.5  RESÜMEE: INSZENIERTE SPUREN DER VERGANGENHEIT

99

In der älteren Literatur wurden architektonische

gewünschte Bild zu erzeugen, wurde dabei teilweise sogar

Schichtungen in der Regel negativ beurteilt, da man von

die alte Substanz nachgebildet. Noch einen Schritt weiter

der Norm stilreiner Gebäude ausging, die aber letztlich

gehen artifizielle Schichtungen, die einheitlich geplant

ein wissenschaftliches Postulat der Neuzeit ist und offen­

und im Ganzen künstlich erzeugt wurden. Da es sich hier-

sichtlich nicht der baulichen Realität des Mittelalters

bei nicht mehr um eine Inszenierung, sondern um eine

entspricht. In den behandelten Beispielen zeigt sich viel-

Konstruktion von Spuren der Vergangenheit handelt, wer-

mehr das Bemühen, Alt und Neu aufeinander zu beziehen

den die Beispiele im entsprechenden Kapitel behandelt.417

und in ein dialektisches Verhältnis zu bringen. Um das

417 Kap. 4.3.

100

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

4.1 Einleitung Bei den zuvor behandelten materiellen Spuren der Ver-

Während für das Vorhandensein originaler Relikte

gangenheit handelt es sich um originale Spuren, also Bau-

der Vergangenheit auch wirtschaftliche Erklärungen in

substanz, die sich aufgrund ihres real höheren Alters von

Betracht gezogen werden können, greifen diese für die

jüngerer unterscheidet. Im Folgenden werden Beispiele

planvolle Imitation alter Formen nicht. Stattdessen lässt

behandelt, bei denen es sich um materielle Spuren der Ver-

sich bei künstlichen Spuren der Vergangenheit eindeutig

gangenheit zu handeln scheint, die aber nicht original sind,

das Interesse nachvollziehen, (vorgeblich) alte Formen

sondern künstlich erzeugt wurden, vornehmlich indem

bewusst in einen jüngeren baulichen Kontext zu integrie-

man alte Formen imitierte. Künstliche Spuren der Vergan-

ren. Integration alter Materie und Imitation alter Formen

genheit sind folglich jünger, als sie vorgeben zu sein. Die

können sich im selben architektonischen Kontext als zwei

Dimensionen künstlicher Spuren der Vergangenheit variie-

Seiten derselben Medaille offenbaren. In der älteren Lite-

ren erheblich. In manchen Beispielen finden sich kleinere

ratur versuchte man hingegen oft, das Phänomen, soweit

Werkstücke, welche ältere Formen imitieren, in anderen

es überhaupt erkannt oder thematisiert wurde, mit dem

wurden ganze Gewölbe in retrospektiver Sprache erbaut.

Unvermögen der jeweiligen Baumeister und Bildhauer, in

Noch einen Schritt weiter gehen artifizielle Schichtungen,

zeitgenössischen Formen zu bauen, zu erklären. Im Zu-

die vorgeben, eine Überlagerung zweier Zeitschichten zu in-

sammenhang mit den folgenden Fallbeispielen lässt sich

szenieren, in Wirklichkeit aber einheitlich geplant wurden.

dieser Erklärungsansatz allerdings widerlegen.

4.2 Die Imitation alter Formen 4.2.1 Die Imitation alter Werkstücke

Bau I von einer asketisch, weitgehend ornamentlosen Formensprache

gekennzeichnet

ist,

besticht

II Bau 

Speyer, Dom

durch üppig und kleinteilig verzierte Bauglieder und

Eine Imitation alter Werkstücke lässt sich bereits gegen

Werkstücke. Zugleich wurden aber auch die strengen

Ende des 11. Jahrhunderts im Dom zu Speyer beobach-

Formen von Bau I partiell imitiert. In besonderem Maße

ten.418 Nach 1025 wurde mit Förderung des salischen Kai-

trifft das für das Altarhaus zu, das wahrscheinlich wegen

serhauses ein monumentaler Neubau der Bischofskirche

statischer Probleme mit dem alten Tonnengewölbe bis

begonnen (sog. »Bau I«),419 der anscheinend aufgrund

auf die unteren Teile der Chorwinkeltürme neu errichtet

technischer Schwierigkeiten mit der Wölbung um 1061

wurde.422 Obwohl man für die halbrunde Apsis gegenüber

zum Erliegen kam.

Nach rund zwei Jahrzehnten wur-

der trapezförmigen Vorgängerin eine neue Geometrie

den die Bauarbeiten um 1081 nach einem modifizierten

wählte, griff man für die Wandgliederung auf Elemente

Plan (sog. »Bau II«) wieder aufgenommen.421 Während

von Bau I zurück, indem man das Staccato der länglichen

418 Grundlegend zum Dom zu Speyer: Müller/Untermann/von Winterfeld 2013; von Winterfeld 2000, S. 47–118; Kubach/Haas 1972. 419 Datierung: von Winterfeld 2000, S. 48; Kubach/Haas 1972, S. 695f. 420 Zur Differenzierung des Bauverlaufs zuletzt: Horn 2013, S. 174–176.

421 Zur Datierung von Bau II: Vogel 1983, S. 254f; Kubach/Haas 1972, S. 774–776. 422 Horn 2013, S. 175f; von Winterfeld 2000, S. 66.

420

101

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

4.01  Speyer, Dom, Apsis spätes 11. Jh.

4.02  Speyer, Dom, Kapitell mit retrospektivem Kämpfer im Mittel­ schiff um 1100

Halbsäulen mit Würfelkapitellen, die runde Blendbögen

haus nicht bewusst in retrospektiven Formen ausgeführt

tragen, aus dem Mittelschiff von Bau I sowohl im Inneren

wurde, um das kultische Zentrum der Kirche als »alt« im

der Apsis als auch am Äußeren wiederholte (Abb. 4.01).

Sinne von »altehrwürdig« auszuzeichnen.

Die hiermit einhergehende Imitation des alten Tonnen-

Eine zweifellos planvolle Imitation alter Werkstücke

gewölbes wird an anderer Stelle thematisiert.423 Mit den

ist im Mittelschiff anzutreffen, wo neue und vermeint-

rundbögigen Nischen an der Sockelzone griff man zudem

lich alte Formen unmittelbar in Kombination auftreten.

ein Motiv der alten Krypta auf. Aufgrund der formalen

Im Zusammenhang mit dem neuen Plan von Bau II, das

Rückgriffe auf Bau I wirkt das Altarhaus innen gegenüber

Mittelschiff mit Kreuzgraten zu wölben, verstärkte man

anderen Raumteilen der Kirche altertümlich, obwohl es zu

jeden zweiten Pfeiler mit einem Pilaster und zwei über-

den jüngeren zählt.

einander stehenden Halbsäulen. Die obere Halbsäulen-

In der Literatur ist dieser Umstand meist mit einer stil-

reihe wird von prächtigen antikisierenden Kapitellen ge-

geschichtlichen Entwicklung im Bauverlauf erklärt wor-

schmückt, deren kleinteilige Durcharbeitung im scharfen

den, derzufolge der altertümliche Formenapparat daraus

Gegensatz zu den jeweils benachbarten einfachen Würfel-

resultiert, dass Bau II mit dem Neubau des Altarhauses

kapitellen des Baus I stehen. Die massigen Kämpferblö-

begonnen wurde, wohingegen bei den nachfolgend um-

cke über den neuen Kapitellen entsprechen hingegen mit

gebauten Raumteilen stilgeschichtlich jüngere Formen

ihrer einfachen Gestaltung aus Schräge und Platte formal

einflossen. Auch wenn die Bauabfolge unstrittig ist, sollte

genau ihren ca. 50 Jahre älteren Pendants und wurden nur

demgegenüber in Betracht gezogen werden, ob das Altar-

hinsichtlich der Breite an die neue Situation angepasst

423 Kap. 4.2.2.

102

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

(Abb. 4.02). Außerdem führte man die in situ befindlichen Kämpferplatten der Arkadenpfeiler formgetreu an den neuen vorgelagerten Pilastern fort. Die zeitgleiche Verwendung neuer und vermeintlich alter Werkstücke im Langhaus beweist, dass zum Zeitpunkt des Umbaus, wohl um 1100, alte Formen planvoll imitiert wurden. Warum sollte man einige Jahre zuvor beim Neubau des Altarhauses nicht dazu fähig gewesen sein? Der eindeutige Befund im Langhaus spricht dafür, dass auch im Altarhaus bewusst alte Formen imitiert wurden, so dass eine rein stilgeschichtliche Interpretation zu kurz greift.

4.03  St. Denis, Westbau, Kapitelle 1130er Jahre

St. Denis, Abteikirche Um 1135 bis 1140 baute man unter Abt Suger einen neuen Westbau westlich der bestehenden Abteikirche und verlängerte das Langhaus bis dorthin.424 Die im Westbau verwandten Kapitelle wurden in der Literatur als zeittypische Kapitelle klassifiziert.425 Ausgerechnet im mittleren Joch, durch das man die Kirche betritt oder verlässt, wich man aber von zeitgenössischen Kapitellformen ab und fertigte zur Aufnahme der Gewölberippen Kapitelle nach dem Vorbild antikisierender Stücke, die William Clark als Nachahmungen merowingischer Kapitelle interpretierte (Abb. 4.03).426 Das ist umso interessanter, als beim Neubau der Ostteile Asservatien des Vorgängerbaus Verwendung fanden, unter denen sich auch merowingische Originale befanden (vgl. Abb. 2.54).427 In diesem Zusammenhang passt auffällig gut, dass der merowingische König Dagobert seit dem 9. Jahrhundert als Gründer von St. Denis galt.428 Die Bedeutung des legendären Gründers wird daraus ersichtlich, dass Abt Suger die bestehende Kirche mit dem Gründungsbau Dagoberts gleichsetzte, obwohl ihm, wie Stephan Albrecht nachwies, bekannt gewesen sein muss, dass es sich bei der Kirche, die er vor Augen hatte, um

4.04  St. Denis, Chorumgang, Kapitell 1140er Jahre

einen jüngeren Neubau der karolingischen Zeit handelte.429 Die Imitation frühmittelalterlicher Kapitelle im

In diesen Zusammenhang kann man auch die Kapi-

Westbau des 12. Jahrhunderts diente anscheinend dem

telle des vor 1144 erbauten Chorumgangs stellen, die in

Verweis auf die merowingische und damit indirekt auch

der älteren Literatur oft unter dem Gesichtspunkt einer

die royale Tradition des Ortes.

(linearen) stilgeschichtlichen Entwicklung hin zur goti-

424 Wyss 1996, S. 50–54; Crosby 1987, S. 123f. 425 Crosby 1987, S. 144. 426 Clark 1993, S. 347–352; ihm folgt Albrecht 2003, S. 135f. 427 Kap. 2.4.2. 428 Gesta Dagoberti (ed. Krusch, S. 396–425) – Vgl. Albrecht 2003, S. 128–131. – Tatsächlich wird König Dagobert (rex 623–639) eine Erweiterung der Abteikirche zugeschrieben, doch kam es nach aktuellem Kenntnisstand bereits um 475 zur Gründung der Kirche durch die Pariser Edelfrau Genovefa (Crosby 1987, S. 13–27). Im Unterschied zu vielen anderen Beispielen wurde St. Denis in der

mittelalterlichen Legendarik also rund 150 Jahre jünger gemacht, als die Kirche tatsächlich war (Albrecht 2003, S. 124). Dieser Umstand liegt wohl in der königlichen Würde Dagoberts begründet, die sich mit der Tradition einer königlichen Grablege, zu der sich St. Denis entwickelte, besser in Beziehung setzen ließ. 429 Suger bezieht sich in seinen Schriften auf Textquellen, die vom Neubau der Kirche zu Zeiten Pippins und Karls des Großen berichten (Albrecht 2003, S. 132) – Zur unter Abt Fulrad errichteten Kirche des späten 8. Jahrhunderts: Crosby 1987, S. 51–83.

103

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

schen Kapitellplastik behandelt wurden.430 Bei unvorein-

auch viele der architektonischen Motive und Formen ori-

genommener Betrachtung lässt sich jedoch nicht verken-

entieren sich, vor allem am Außenbau, an kölnischer und

nen, dass einige der Kapitelle vereinfachte Variationen

niederrheinischer Architektur, die teils ideenreich variiert

eines korinthischen Kapitells zeigen und damit den retro­

wird.435 Im Gegensatz dazu komplettierte man das unvoll-

spektiven Kapitellen im Westbau viel näher stehen als

endete Langhaus gemäß der Anfang des Jahrhunderts

etwa einem frühgotischen Knospenkapitell (Abb. 4.04). Es

vorgegebenen Struktur, die ihrerseits auf ältere Konzepte

liegt somit nahe, auch die entsprechenden Kapitelle des

am Speyerer Dom zurückgreift und damit um 1200 bereits

Chorumgangs im Kontext eines nobilitierenden Vergan-

rund 150 Jahre veraltet war. Die Seitenschiffswände wur-

genheitsbezugs zu sehen.

den analog zu den Mittelschiffswänden mit vorgelegten Halbsäulen neu errichtet und schließlich alle drei Schiffe

Mainz, Dom

eingewölbt, wobei die Seitenschiffe im Unterschied zum

In Folge eines weitreichenden Umbaus der Ostteile des

rippengewölbten Mittelschiff altertümliche Kreuzgratge-

Mainzer Doms im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts,

wölbe nach dem Muster des Doms zu Speyer, Bau I, erhiel-

entschied man wohl in den 1120/30er Jahren, auch das

ten.436 In Anbetracht des zeitnah ausgeführten Neubaus

Langhaus zu erneuern.431 Die Bauarbeiten gerieten aller-

der Westteile nach einem neuartigen Konzept scheint es

dings nach einiger Zeit ins Stocken und kamen nicht über

offensichtlich, dass eine Kontrastierung von »altem« Lang-

die Errichtung neuer Mittelschiffswände hinaus.

haus und neuem Chor und Querhaus beabsichtigt war.

432

Gegen

Ende des 12. Jahrhunderts begann schließlich eine groß-

Dafür spricht auch eine Analyse der Kapitellplastik

angelegte Baukampagne, in deren Rahmen Westquerhaus

auf der Innenseite der wohl gegen Ende des 12. Jahrhun-

und Westchor bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts vollstän-

derts errichteten Seitenschiffswände. Zunächst einmal

dig erneuert, aber auch der Langhausumbau vollendet

lässt sich festhalten, dass dort eine Vielfalt unterschied-

wurde (vgl. Taf. 5.07).433

licher Kapitelltypen und -formen verwandt wurde: von

Bereits in der ersten Bauphase des neuen Langhau-

Würfelkapitellen mit verzierten Schilden über Kelchblock-

ses griff man auf Detailformen zurück, die ungefähr 80

kapitelle mit stilisiertem Blatt- und Rankenwerk bis hin

Jah­ re früher aktuell waren, wie schildlose Würfelkapi-

zu den seinerzeit neuartigen Knospenkapitellen. Dabei ist

telle und wuchtige Kämpfer aus hoher Schräge und Platte

hervorzuheben, dass kein Kapitell dem anderen gleicht,

(Abb. 4.05). Die Verwendung dieser retrospektiven Formen

sondern der Dekor teils beträchtlich variiert.

muss im Zusammenhang mit einer weitreichenden Re-

Aufgrund der jüngeren Kapitellformen erkannte

zeption des kaiserlichen Dombaus in Speyer gesehen wer-

schon die alte Literatur, dass die Seitenschiffswände der

den, die bereits die Erneuerung des Ostchores bestimmte

spätromanischen Bauphase angehören müssen.437 Für

und auch die tektonische Struktur des Langhauses vorgab.

Irritationen sorgte hingegen das Vorhandensein un­

Dieser auch ikonologisch hochinteressante Sachverhalt

terschiedlicher Kapitelltypen, die stilgeschichtlich ei­

wurde in der Literatur eingehend herausgearbeitet.434 Die

gentlich weit auseinander stehen sollten. Gegenüber den

betreffenden retrospektiven Formen sind somit eher als

Knospenkapitellen (Abb. 4.06), die aktuelle Tendenzen

Verweis auf ein anderes Bauwerk denn als Spuren der Ver-

der Zeit aufgriffen, wirken die bereits in der ersten Hälfte

gangenheit zu verstehen.

des 11. Jahrhunderts üblichen Würfelkapitelle betont

Anders verhält es sich mit der umfangreichen Baukam­

al­ tertümlich (Abb. 4.07). Rudolf Kautzsch ordnete die

pagne von ca. 1190 bis 1240, in deren Rahmen ein neuer,

Würfelkapitelle der Seitenschiffe deshalb der ersten

kleeblattförmiger Westchor mit Flankentürmen sowie ein

Bauphase um 1130 zu,438 was bedeuten würde, es wären

neues Westquerhaus inklusive Vierungsturm nach einem

alte Werkstücke in den jüngeren Außenmauern versetzt

anderen Konzept angelegt wurden. Der Chortypus wie

worden. Dem entgegnete Dethard von Winterfeld, dass

430 Vor allem Wulf 1978. 431 Aktueller Forschungsstand zur Baugeschichte des Mainzer Doms: von Winterfeld 2011; Ders. 2010; Domrekonstruktionen 2010. Zur Datierung: von Winterfeld 2010, S. 121 (Umbau Ostteile vor 1106 bis nach 1125); S. 125f (Beginn Langhausumbau vor 1137). 432 Von Winterfeld 2010, S. 125–129. 433 Aufgrund einer Schriftquelle wird der Beginn der Kampagne in der Literatur allgemein in die Amtszeit des Erzbischofs Konrad I. von Wittelsbach nach 1183 datiert (von Winterfeld 2010, S. 131). Eine

Weihe 1239 gilt als Anhaltspunkt für den Abschluss der Arbeiten. 434 Z. B. von Winterfeld 2007, S. 22f; Mertens 1995, S. 13–131; Klotz 1989, S. 13f; von Winterfeld 1988, S. 241–246. 435 Zum Neubau der Westteile eingehend: von Wintefeld 2011, S. 64– 82. 436 Von Winterfeld 2013, S. 66. – Zur Wölbung der Seitenschiffe siehe auch Kap. 4.2.2. 437 Kautzsch/Neeb 1919, S. 118–124. 438 Ebd., S. 121–122.

104

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

4.05  Mainz, Dom, Langhaus nach Westen, Schiffswände 1120/30er Jahre, Gewölbe Ende 12. Jh.

105

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

4.06  Mainz, Dom, Seitenschiff, Kapitell um 1200

4.07  Mainz, Dom, nördliches Seitenschiff, Würfelkapitell um 1200

Verzierungen auf Würfelkapitellen, wie sie im Seitenschiff

schichtlichen Entwicklung im Zeitraffer442 und vollzieht

zu sehen sind – gegliederte, konturierte Schilde in Kom-

damit einen Zirkelschluss, da ihre stilkritische Argumen-

bination mit Palmetten und/oder Taustäben –, erst ab

tation genau dieses Entwicklungsschema voraussetzt.443

Mit­te des 12. Jahrhunderts üblich würden.

Dazu passt

Wenn jedoch in einem Gebäudeteil eine rund 60 Jahre

jedenfalls, dass die unstrittig älteren Würfelkapitelle im

ältere Struktur aufgegriffen wird, die ihrerseits bereits eine

Mittelschiff keinen Dekor aufweisen. Von Winterfeld zog

Rezeption rund 80 Jahre älterer Strukturen darstellt, wenn

deshalb in Betracht, dass es sich bei den Würfelkapitellen

es in den Seitenschiffen nachweislich zu einem gezielten

in den Seitenschiffen zwar um alte Werkstücke handelt,

Einsatz einer alten Gewölbeform mit Kreuzgraten kommt,

diese aber bei der Vollendung des Langhauses um 1200

warum soll die Verwendung altertümlicher Kapitelle dann

verziert worden wären.

stilgeschichtlich bedingt sein? Schlüssiger erscheint es im

439

Juliane Schwoch katalogisierte die Bauplastik der

Gesamtkontext, dass teilweise eine Überarbeitung alter

Kampagne ca. 1190 bis 1240 und unterzog sie einer Stil­

Stücke stattfand444 und/oder dass gezielt alte Formen imi-

kritik. Im Ergebnis unterstützt sie von Winterfelds Datie-

tiert und parallel zu den neueren Kapitellformen gefertigt

rung der Würfelkapitelle im Seitenschiff in die zweite Bau-

wurden.445

phase des Langhauses um 1200.

Leider strapaziert sie

Dafür spricht auch, dass in den neuen Westteilen Wür-

die Möglichkeiten der Methode über, indem sie drei Stil-

felkapitelle Verwendung fanden (Abb. 4.08), deren Entste-

gruppen bildet, welche sie um 1180 (Würfelkapitelle), 1190

hung in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts unstrittig

bis 1200 (hauptsächlich Kapitelle mit Ranken und Pal-

ist.446 Der altertümliche Typus findet sich in allen neuen

metten) und 1200 bis 1210 (Blatt- und Knospenkapitelle)

Bauteilen: Querhaus, Vierung und Westchor. Die Vertei-

ansetzt.441 Somit erklärt Schwoch das Nebeneinander der

lung folgt einem gestalterischen Muster. Während die ein-

verschiedenen Kapitelltypen mit einer linearen stilge-

fachen Würfelkapitelle auf den Diensten zwischen den

439 Von Winterfeld 1986, S. 30. 440 Schwoch 2010, S. 71–74. 441 Ebd., S. 71. 442 Schwoch postuliert einen »befreienden Planwechsel, der das Würfel­kapitell hinter sich ließ und ›fortschrittlichere‹ Formen erlaubte« (Dies. 2010, S. 74). 443 Beispielsweise stützt Schwoch ihre Datierung der Würfelkapitelle darauf, dass zwei der Stücke mit Palmetten verziert seien, die sie von Palmetten-Ring-Kapitellen ableitet. Zwar verweist sie selbst auf ein 1190–1220 datiertes Vergleichsbeispiel, begründet aber ihre Datierung um 1180 damit, dass die Kapitelle die Palmetten auf dem »altertümlichen Typus des Würfelkapitells zu einer Zeit verwerte-

ten, als Kelchblockkapitelle schon üblich waren« (Schwoch 2010, S. 55). 444 Dies ließe sich wahrscheinlich durch eine Untersuchung am baul­ ichen Befund klären (z. B. Bearbeitungsspuren, Versatztechnik, Material), die aufgrund der hohen Lage der Kapitelle und ungünstigen Lichtsituation in den Seitenschiffen nur vom Gerüst vorgenommen werden kann. 445 Das bewusste Nebeneinander verschiedener Formen kann im Sinne einer kostbaren varietas interpretiert werden. Darauf weist auch die auffällig individuelle Gestaltung der Kapitelle innerhalb eines Typs hin. 446 Schwoch 2010, S. 230.

440

106

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

tierung der stilgeschichtlich alten Würfelkapitelle in eine jüngere Bauphase. Hingegen erscheint gerade im Langhaus des Mainzer Doms eine stilgeschichtliche Feindatierung methodisch fragwürdig.448

Bamberg, Dom Ein herausragendes Beispiel für den Einsatz retrospek­ tiver Formen, von denen man aus stilgeschichtlicher Perspektive ein teils deutlich älteres Entstehungsdatum erwarten würde, bietet der Neubau des Doms zu Bamberg in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.449 In der Krypta, wo auch Asservatien des Vorgängerbaus integriert wurden,450 befinden sich mit Flechtband-, Ranken- oder Palmetten

4.08  Mainz, Dom, südöstlicher Vierungspfeiler, Würfelkapitelle 1. Hälfte 13. Jh.

verzierte Kapitelle,451 deren Ornamentik angesichts ihrer Entstehungszeit Anfang des 13. Jahrhunderts einen auffallend altertümlichen Charakter aufweist.452 In der

Konchen sitzen, werden die Konchen selbst mit stilisier-

Oberkirche tauchen ebenfalls Formen auf, die man stilge-

ten Blattkapitellen ausgezeichnet. Das zeitliche Nebenei-

schichtlich eigentlich dem 12. oder sogar 11. Jahrhun­dert

nander der beiden stilgeschichtlich unterschiedlich alten

zuordnen würde, wie die Würfelkapitelle im westlichen

Formen ist hier unabweisbar.

Nordseitenschiffsjoch, im Zwillingsfenster am Giebel des

Die Gestaltung der Würfelkapitelle in den Westtei-

Nordquerhauses oder am südöstlichen Vierungspfeiler

len wirkt im Vergleich zu denjenigen in den Seitenschif-

(Abb. 4.09).453 Damit korrespondiert ein großer Teil der

fen archaischer. Breite Rahmen konturieren die Schilde,

Basen in der Bamberger Bischofskirche, die auffallend

auf weiteren Schmuck wurde verzichtet. Dazu passt, dass

hohe Kehlen aufweisen und somit an Stücke des späten

man die Kämpfer des Mittelschiffs mit Schräge und Platte,

11. oder 12. Jahrhunderts erinnern.454 Die quasi zeitgleiche

die »für diese Epoche als absolut unzeitgemäß«447 angese-

Verwendung von flachen, im 13. Jahrhundert üblichen

hen werden müssen, wieder aufgriff und sogar über den

Tellerbasen beweist,455 dass man der aktuellen Entwick-

Blattkapitellen verwandte, wohingegen die Kämpfer in

lung nicht etwa hinterher hing, sondern bewusst alte

den Seitenschiffen aufwändiger mit Platte, Plättchen,

Formen imitiert wurden. Dem entspricht, dass sich in der

Karnies und Wulst in variierender Zusammensetzung ge-

Kapitellplastik neben den retrospektiven Formen auch

fertigt wurden. An diesem Beispiel werden Grenzen und

zeitgemäße finden lassen, wie die Knospenkapitelle im

Möglichkeiten der Stilkritik deutlich. Eine präzise, diffe-

Westchor.456 Die alten Formen wurden demnach bewusst

renzierte Stilkritik ermöglicht eine augenscheinliche Da-

eingesetzt. Damit stellt sich die Frage nach dem Grund.

447 Von Winterfeld 2000, S. 161. 448 Aus ihrer stilgeschichtlichen Datierung der Kapitelle möchte Schwoch auf den Bauverlauf der zweiten Bauphase des Langhauses schließen (Dies. 2010, S. 71–74). Es sprechen jedoch Argumente gegen eine strikte Kopplung der Bau- an die Stilgeschichte. Beispielsweise ergibt die stilkritische Analyse der von Schwoch nicht berücksichtigten Basen einen gegenteiligen Befund. Die jüngeren Basisformen mit Eckzehen und flachem unteren Torus finden sich auf der Nordseite an Diensten mit den vermeintlich älteren Kapitellen. Dahingegen verwendete man auf der Südseite, wo die stilgeschichtlich jüngeren Kapitelle verbaut wurden, Basen mit vergleichsweise hohem Torus und teils ohne Eckzehen. Weiterhin bleibt erklärungsbedürftig, warum vier der verzierten Würfelkapitelle des Nordseitenschiffs an den Mittelschiffspfeilern sitzen, die aber doch aus der ersten Bauphase um 1130 stammen sollen. Da Schwoch eine nachträgliche Überarbeitung ausschließen möchte (S. 71), müssten die Kapitelle folglich zu Beginn der Baukampagne in situ ausgetauscht worden sein. Der Sinn einer solchen Maßnahme erschließt sich aber nicht. 449 Nach Dethard von Winterfeld begann der Neubau um 1210 (Ders. 1979, S. 145). – Die Weihe des neuen Kirchenbaus fand bereits

450 451 452 453 454 455 456

am 6. Mai 1237 statt und damit am Tage des Kirchweihfestes der Gründungskirche, welche an einem 6. Mai 1012 geweiht wurde (Neumüllers-Klauser 1979, S. 35). Der symbolische Akt der kalendarischen Synchronisation unterstreicht die Absicht, die Kontinuität der Bischofskirche zu betonen und somit die Tradition des Ortes hervorzuheben. Kap. 2.4.2. Von Winterfeld 1979, Abb. 436–462. So auch Ebd., S. 48f. Ebd., S. 59; Abb. 625, 628, 718. Ebd., Abb. 852–874. Ebd., Abb. 876–880. Ebd., Abb. 746, 771, 775. – Die Gruppe wird beträchtlich größer, wenn man die Knospenkapitelle mit zusätzlichen stilgeschichtlich älteren Details wie Diamantierungen oder Palmetten als individuelle Varianten hinzuzählt. Vielleicht stellte gerade die individuelle Note der Knospenkapitelle in Zeiten, als das rationale Herstellen gleichförmiger Stücke zunehmend Fuß fasste, einen gestalterischen Mehrwert dar, welcher nur aus stilgeschichtlich motivierter Scheidung in alte und neue Detailformen unzeitgemäß erscheint.

107

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

Im historischen Kontext interpretierte von Winterfeld – Jahre bevor Erinnerung zum Thema architekturgeschichtlicher Forschung wurde – seine Folgerungen hinsichtlich der absichtsvollen Imitation alter Formen folgendermaßen: »Es dürfte weniger die künstlerische Form des Heinrichsdomes gewesen sein, die den Wunsch zur Nachahmung weckte, als vielmehr die Bedeutung, die dieser Bau für Bamberg und das Bistum erlangt hatte. Nicht nur die Gründung durch das heilige Kaiserpaar war eine ihrer Quellen, sondern ebenso die mit der Stiftung verbundene Selbstständigkeit, die allerdings noch im 13. Jahrhundert gegenüber den Nachbarn nicht ganz gefestigt war. Der Dom Heinrichs II. war ein sichtbares Zeugnis kaiserlichen Willens und kaiserlicher Gunst, auf die man sich berufen konnte. Der Neubau sollte daher nur eine ›renovatio‹ des alten sein, so wie man Urkunden transscribierte, ohne daß sie nach der Vorstellung der Zeit ihre Originalität einbüßten.«459 Dem ist nichts hinzuzufügen. Vielmehr stellt sich die weiterführende Frage, wie weit die Steinmetze des frühen 13. Jahrhunderts bei der Imitation alter Materie gingen.

4.09  Bamberg, Dom, südöstlicher Vierungspfeiler, Würfelkapitell und Knospenkapitelle 2. Viertel 13. Jh.

Wenn alte und neue Dekorformen bewusst unterschieden und eingesetzt wurden, so wäre es doch denkbar, dass ebenso der »Eindruck des Ungelenk-Provinziellen«,460

Dethard von Winterfeld setzte sich im Rahmen sei-

den von Winterfeld manchen Kapitellen der Krypta at-

ner 1979 erschienenen Monographie über den Bamberger

testiert, beabsichtigt war, um die künstlich erzeugte Wir-

Dom eingehend mit den retrospektiven Formen im Bam-

kung des Alters weiter zu steigern. Zwischen dem Bau der

berger Dom auseinander. Obgleich man ihm an einigen

Krypta und der Oberkirche können angesichts der kurzen

Stellen sein Erstaunen oder sogar Skepsis gegenüber einer

Gesamt­bauzeit nur einige Jahre vergangen sein, so dass

planmäßigen Imitation alter Formen anmerkt, weil dies

eine plötzliche stilistische Entwicklung nicht plausibel ist.

den bis dato geläufigen stilgeschichtlich bedingten Erklä-

Es sieht vielmehr danach aus, als wäre es beabsichtigt ge-

rungsmustern widerspricht,457 kommt er auf Basis einer

wesen, die Formen der Krypta gegenüber denen der Ober-

sachlichen Analyse des Befundes letztlich zu dem Schluss,

kirche älter erscheinen zu lassen. Die Integration alter

»daß die Formen frei verfügbar waren, bewußt gewählt sind und mit der entwicklungsgeschichtlichen Stellung und der handschriftlichen Eigenart der ›Hütte‹ nur bedingt zusammenhängen. […] Das zwingt zu der Annahme, daß man über ein äußerst entwickeltes Unterscheidungsvermögen verfügte und in ­verschiedenen ›Stilen‹ arbeiten konnte bzw. den eigenen – ob freiwillig oder gezwungen – anpassen mußte.«458

457 Von Winterfeld erwägt beispielsweise an einer Stelle eine »starke Lokaltradition«, gibt dann aber der herkömmlichen Erklärung vom »Zuzug neuer Kräfte« den Vorzug (von Winterfeld 1979, S. 49). 458 Ebd., S. 159.

Krypten stellte, wie gezeigt,461 in der mittelalterlichen Baukultur ein übliches Mittel zur Visualisierung der Tradition des Ortes dar. Diesem Bild entspricht der Bamberger Dom mittels eines künstlich erzeugten Altersunterschied zwischen Krypta und Oberkirche. In diesen Zusammenhang passt dann auch die Integration von Asservatien, also authentischer Materie der Vorgängerkirche, in die Krypta.462 Vielleicht 459 460 461 462

Ebd., S. 158. Ebd., S. 48. Kap. 2.2.1. Kap. 2.4.2.

108

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

sollte dem mittelalterlichen Betrachter sogar suggeriert werden, dass es sich bei der Krypta um einen originalen Gebäudeteil des Vorgängerbaus handelt. Damit weist der Bamberger Dom in konzeptioneller Hinsicht eine interessante Parallele zum zeitgleichen Bau des Magdeburger Dom auf, bei dem der Chorumgang mittels einer retrospektiven Formensprache von der moderneren Chorempore abgesetzt wurde.463 In Magdeburg konnte zudem ein Zusammenhang zwischen Chorumgang und Krypta hergestellt werden, der über den alten Stil ästhetisch vermittelt werden sollte. Es ist wohl kein Zufall, dass es sich hier wie dort um eine kaiserliche Gründung und kaiserliche Grabeskirche handelt. In Bamberg wie in Magdeburg konstituierte die imperiale Geschichte der Institution die Tradition des Ortes, welche die parallel in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandenen

4.10  Rom, S. Lorenzo fuori le mura, Langhaus, ionisches Kapitell frühes 13. Jh.

Neubauten wesentlich prägte. antiker Kapitellplastik gelang den mittelalterlichen Bild-

Rom, S. Lorenzo fuori le mura

hauern so gut, dass selbst der große Kenner der antiken

In Italien kommt es beim großen Umbau der Memorial-

Kunst Johann Joachim Winckelmann die Kapitelle im

kirche S. Lorenzo fuori le mura zu Beginn des 13. Jahr-

Langhaus von S. Lorenz für antike Spolien hielt und so-

hunderts zu einer bemerkenswerten Imitation alter For-

gar eines davon auf dem Frontispiz seiner »Anmerkungen

men, die im Zusammenhang mit einem weitreichenden

über die Baukunst der Alten« abdruckte.469 Mittlerweile ist

Konzept, die Tradition des Ortes und das Alter der Kirche

bekannt, dass es sich um mittelalterliche Stücke handelt,

baulich hervorzuheben, gesehen werden muss.464 Auf die

die sich als »Derivate antiker Vorlagen, jedoch niemals als

Transformation des frühmittelalterlichen Langhauses in

direkte Kopien zu erkennen geben.«470 So lassen sich an

einen Umgangschor mit Krypta wird an anderer Stelle

einigen Stücken unantike Proportionen erkennen, die zu

eingegangen.465 Das neue Langhaus, das zu Beginn des

ionischen Kymata mit vier oder fünf Eiern führen, oder

13. Jahrhunderts westlich der alten Kirche entsteht, orien­

figurale Zutaten wie Frosch und Eidechse in den Voluten.

tiert sich formal in hohem Maße an frühchristlichen Vor-

Im baulichen Gesamtkontext betrachtet erweisen sich

bildern. Entgegen allen Trends der Zeit entschied man

die Imitationen antiker Werkstücke in S. Lorenzo fuori le

sich für eine Basilika mit offenem Dachstuhl, ionischen

mura nicht als Rückgriff auf die römische Antike im Sinne

Kolonnaden und einer flächigen Obergadenwand, wie

einer Renaissance und schon gar nicht als Zeichen von

man es von frühchristlichen Kirchenbauten kennt (vgl.

Rückständigkeit, sondern als bewusster Verweis auf die

Abb. 2.10; 2.11). Die Marmorschäfte des Langhauses stam-

Tradition des Ortes, als architektonische Inszenierung

men wahrscheinlich aus der benachbarten original früh-

der jahrhundertealten Geschichte der altehrwürdigen,

christlichen Vorgängerbasilika,466 die an Bedeutung ver-

päpstlich gegründeten Memorialkirche über dem Grab

lor, seit man im 6. Jahrhundert einen Neubau über dem

der hei­ligen Erzmärtyrer Laurentius und Stephanus. Für

Grab des heiligen Laurentius errichtete.

die hohe Wertschätzung des Neubaus in altem Gewand

467

Die 22 ionischen Kapitelle über den antiken Schäften

spricht, dass S. Lorenzo fuori le mura 1217 als Ort der ers-

wurden hingegen, ebenso wie die sechs ionischen Kapi-

ten und letzten Krönung eines oströmischen Kaisers in

telle der Vorhalle, allesamt für den Neubau des frühen

Rom gewählt wurde, der Krönung Peters II. von Courte-

13. Jahrhunderts hergestellt (Abb. 4.10).468 Die Imitation

nay durch Papst Honorius III.471

463 Kap. 4.3.2. – Der Umbau der Abteikirche St. Denis unter Abt Suger Mitte des 12. Jahrhunderts bietet ein weiteres Beispiel für die gestalterische Differenzierung zwischen verschiedenen Teilen mittels der ästhetischen Dialektik von Alt und Neu (Kap. 4.3.1). 464 Zum Umbau zuletzt: Mondini 2010a, S. 343–458. 465 Kap. 2.2.1.

466 467 468 469 470 471

Mondini 2010a, S. 378. Kap. 6.2. Voss 1990. Mondini 2010a, S. 380; Claussen 1987, S. 143. Voss 1990, S. 66. Mondini 2010a, S. 346.

109

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

4.11  Magdeburg, Dom, Sanktuarium, antikisie­ rendes Kapitell frühes 13. Jh.

Magdeburg, Dom Beim Chorbau des Magdeburger Doms im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts komplettierte man die antiken Natursteinschäfte des Vorgängerbaus, die man in die neue Struktur des Binnenchores integrierte,472 mit Kapitellen, die sich deutlich an antiken Kompositkapitellen orientieren (Abb. 4.11) – den ranghöchsten Kapitellformen der römischen Antike –,473 so dass wiederholt in Betracht gezogen wurde, ob es sich um antike Spolien handelt.474 Die Werkstücke wurden jedoch aus Blöcken gefertigt, die rückwärtig in die Chorwand einbinden, so dass es sich unzweifelhaft um Produkte des frühen 13. Jahrhunderts handelt. Die Säulen im Binnenchor sollten demnach im Ganzen als römisch-antike Artefakte wahrgenommen werden, wobei sie paradoxerweise nicht durch die authen­tischen Schäfte, sondern erst durch die Imitation antiker Kompositkapitelle erkennbar als »römisch-antik« gekennzeichnet werden. Die Kapitelle im Binnenchor des Magde­burger Doms rekurrieren zwar auf die Antike, doch handelt es sich bei den antiken Spolien zugleich um Asservatien des ottonischen Doms,475 so dass die Imitation der antiken Kapitelle mit der eigenen Tradition des Ortes im Zusammenhang steht. In die gleiche Richtung lassen sich weitere Imitationen antiker Formen auf der Empore, dem sogenannten Bischofsgang, verstehen.476 Neben vereinzelten antikisierenden Kapitellen, welche denen im

4.12  Magdeburg, Dom, Chorempore, Apsidiole mit Akanthusfries frühes 13. Jh.

472 Kap. 2.4.3. 473 Hierzu zuletzt: Horn 2015a, S. 103–105; Ders. 2011, S. 25f; Forster 2009, S. 81f.

474 Schubert 1998, S. 22; Ders. 1989, S. 29, 37. 475 Kap. 2.4.3. 476 Hierzu ausführlich: Horn 2015a, S. 112–114.

110

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

4.13  Magdeburg, Dom, Chorempore, Pfeiler frühes 13. Jh.

4.14  Essen, Dom, Vierungspfeiler, Kapitell und Kämpfergesims 12. Jh.

Chor stilistisch ähneln, findet sich dort auch ein Fries

delt, die für den Neubau aufgegeben werden musste.478

aus Akanthusblättern, welcher die Kalotte der zentralen

Möglicherweise wurde die Pfeilerform seinerzeit ebenfalls

Altarnische umrahmt (Abb. 4.12). Außen wird das Motiv

als antik betrachtet.479

in Form eines Frieses, welcher den Bischofsgang umläuft, nochmals aufgegriffen. Neben antiken Formen imitierte man im Magde-

Essen, Münster In der Baugeschichte des Essener Doms kam es ­wiederholt

burger Domchor des 13. Jahrhunderts auch Formen des

zu Imitationen alter Werkstücke. Bereits bei der Einwöl-

11. Jahrhunderts. Auf der nördlichen und südlichen Seite

bung der Ostteile des Essener Münsters in der zweiten

des Bischofsgangs steht zum Binnenchor hin in der Arka­

Hälfte des 12. Jahrhunderts imitierte man in situ vor-

tur je ein nach 1208 entstandener Pfeiler (Abb. 4.13), des-

handene Gesimse aus der Mitte des 11. Jahrhunderts,480

sen Formen älteren Stücken ähneln, zum Beispiel den

deren Profile auch im spätottonischen Westbau und der

sicher vor 1051 datierbaren Pfeilern in der Krypta des

Krypta Verwendung fanden. Für die Aufnahme des neuen

Essener Doms.

Der Verfasser hat an anderer Stelle ar-

Vierungsgewölbes setzte man neue Dienste gegen die be-

gumentiert, dass es sich in Magdeburg vermutlich um

stehenden Vierungspfeiler und krönte diese mit zeittypi-

die Imitation von Formen der ottonischen Krypta han-

schen Figurenkapitellen.481 Die auf den Kapitellen liegen-

477 1208 erfolgte die Grundsteinlegung des neuen Magdeburger Doms (Brandl/Forster 2011, S. 413), 1051 die inschriftlich bezeugte Weihe der Essener Krypta. 478 Horn 2015a, S. 111f.

479 Ebd. 480 Ebd., S. 164f. 481 Grundlegend zum spätromanischen Kapitellzyklus: Broscheit 1989.

477

111

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

den Kämpferplatten greifen das Profil der vorhandenen Gesimse auf, so dass der Eindruck durchlaufender Gesimse entsteht (Abb. 4.14). Im Zusammenhang mit zwei Säulen, die man wahrscheinlich im Zuge des großen Umbaus der Essener Münsterkirche Ende des 13./Anfang des 14. Jahrhunderts in die Krypta versetzte, wurde an anderer Stelle auf die Nachahmung alter Basen hingewiesen (vgl. Abb. 2.59).482 Zwar handelt es sich dabei nicht um exakte Imitate romanischer Basen, denn einige Formmerkmale wie die als Mulden ausgebildeten Kehlen und die kantigen oberen Tori weisen auf eine Entstehung in gotischer Zeit, doch im Vergleich zu den zeitgleichen Tellerbasen des Langhauses tragen die Basen der Säulen deutlich retrospektive Züge, wie die als Wulst ausgebildeten unteren Tori, und wurden somit bewusst an die alten Formen der Asservatien angepasst.

Basel, Münster Das Basler Münster wurde bei einem schweren Erdbeben 1356 stark beschädigt.483 Beim umfangreichen Wiederaufbau der damaligen Bischofskirche kam es zu einer weitreichenden Konstruktion von Spuren der Vergangenheit.484 In der Chorkrypta evozieren roh wirkende Rechteckpfeiler mit einfachen Sockeln und Kämpfern das Bild eines frühmittelalterlichen Raums (Abb. 4.15). François MaurerKuhn gelang es jedoch, nachzuweisen, dass die Krypta 1356 zerstört wurde und die heute sichtbaren Pfeiler erst

4.15  Basel, Münster, Krypta, Pfeiler 3. Viertel 14. Jh.

im Rahmen des Wiederaufbaus nach dem Vorbild der ursprünglichen entstanden sind.485 Infolgedessen bezeichnet

Aufschluss geben, ob nicht auch für die Schäfte originales

er die Pfeiler als »Fiktionen«,

Material wiederverwandt wurde. Außerdem lassen sich

486

was allerdings unglücklich

ist, da sie schließlich nicht frei erfunden wurden. Meines

die Gewölbe der Chorkrypta eindeutig als Imitationen al-

Erachtens handelt es sich bei den Pfeilern ohnehin nicht

ter Formen erkennen, wie an entsprechender Stelle darge-

um komplette Neuschöpfungen, sondern um Imitationen

legt wird.487

der alten Pfeiler unter Verwendung originaler Bausub­

Die Imitation romanischer Werkstücke setzt sich im

stanz. Darauf weisen Unterschiede zwischen Sockel einer-

Chorumgang des Basler Münsters fort. Die binnenchor-

seits und Kämpfer andererseits in Bezug auf ihre Form,

seitigen Arkadenpfeiler werden von kleineren freiste-

den Erhaltungszustand und das Steinmaterial hin. Ge-

henden Säulen und Pfeilern umstellt, deren Formen und

genüber den weich fließenden Karniesprofilen der Sockel

Ornamente wie Figurenkapitelle, Flechtbandfriese oder

wirken die langgezogenen, scharf gegrateten Kehlen der

Diamantierungen sie als Spuren des alten romanischen

Kämpfer härter und dynamischer. Darüber hinaus weisen

Münsters ausweisen. Von der Forschung bisher unbemerkt

die Sockel sichtbare Verfallsspuren auf, wohingegen sich

blieb, dass einige der Basen von den anderen in einem

die Kämpfer in deutlich besserer Verfassung präsentieren.

signifikanten Detail abweichen. Die romanischen Basen

Eine eingehende Untersuchung des Steinmaterials könnte

wirken zeittypisch prall und weisen eine ausgeprägte, teils

482 Kap. 2.4.2. 483 Baugeschichte des Basler Münsters mit Literaturhinweisen: Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006; Spicher 1999; Reinhardt 1961.

484 Zum Wiederaufbau nach 1356: Mauer-Kuhn 2005. 485 Ebd., S. 235f. 486 Ebd., S. 238. 487 Kap. 4.2.2.

112

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

schließlich eine raffinierte Überlagerung neuer und vermeintlich alter Formen, welche an anderer Stelle eingehend behandelt wird.488 In die Blendarkaden der nach 1356 wiedererrichteten Querhauslaufgänge wurden alte Säulen mit Basen, Schäften und Kapitellen unterschiedlichen Materials integriert.489 Die Kämpfer wurden hingegen neu aus den Quadern des spätgotischen Mauerwerks geschaffen und binden in jenes ein (Abb. 4.17).490 Dabei imitierte man offensichtlich die alten, romanischen Kämpferformen, indem man hohe gekehlte Kämpferblöcke mit darüber liegender Platte schuf. Auch am Außenbau fin­den sich

4.16  Basel, Münster, Chorumgang, linke Basis 12. Jh., rechte Basis 2. Hälfte 14. Jh.

Formen, die nach 1356 entstanden sind, sich aber an älteren orientieren. So baute man die Strebepfeiler am Chor in ihren ursprünglichen massiven Formen des 12. Jahrhun-

nach oben gestreckte Kehle auf. Bei einigen Exemplaren

derts wieder auf und verzichtete auf zeitgemäße Elemente

scheinen die Kehlen hingegen eingesackt zu sein, so dass

wie Fialen oder Krabben (vgl. Abb. 4.42). Allein die mate-

sich Mulden bilden, wie man sie an gotischen Basen findet

rialbedingte Baunaht macht die Grenze zwischen älterer

(Abb. 4.16). Anscheinend sind diese Basen während des

und jüngerer Bausub­stanz etwa in Höhe der Chorempore

Wiederaufbaus in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts

kenntlich. Die Imitation alter Formen fand im 15. Jahr-

entstanden. Wie in der Krypta imitierten die Bildhauer

hundert beim Wiederaufbau der Mittelschiffsgewölbe, die

die alten Formen, variierten diese jedoch mit einer zeit-

an entsprechender Stelle behandelt wird,491 eine Fortset-

genössischen Note. An der Chorempore realisierte man

zung.

4.17  Basel, Münster, Nordquerhaus, Lauf­ gang, Säulen 11./12. Jh., Kämpfer 2. Hälfte 14. Jh. 488 Kap. 4.3.3. 489 Kap. 2.4.2

490 Leider wurden die Oberflächen des Mauerwerks wie auch der Kämpfer neuzeitlich mit Stockhammer oder Krönel überarbeitet. 491 Kap. 4.2.2.

113

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

Halberstadt, Dom Zu einer weitreichenden Imitation alter Formen kam es am Halberstädter Dom beim Bau des Langhauses im späten 14. und vor allem 15. Jahrhundert.492 Bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtete man an der Stelle eines alten Westbaus drei Langhausjoche,493 dessen architektonische Formen dem Vorbild gotischer Bauten in Frankreich folgen (vgl. Abb. 2.33). Ungefähr 100 Jahre später entschied das Halberstädter Domkapitel, das bis dato noch bestehende, im Kern ottonische Langhaus abzureißen und das neue Langhaus nicht etwa in zeitgenössischen Formen, sondern nach dem Muster der alten Westjoche auszuführen. So baute man im 15. Jahrhundert ein basilikales Langhaus in einer architektonischen Struktur des 13. Jahrhunderts mit Kreuzrippengewölben, die von Diensten mit Kapitellen getragen werden (vgl. Abb. 2.34). Im Obergaden sitzen relativ schmale Spitzbogenfenster mit dreibahnigem Maßwerk, das sich als Blendmaßwerk im Bereich der Seitenschiffsdächer nach unten fortsetzt. Die Imitation der teils 150 bis 200 Jahre älteren Formen ging bis ins Detail. Lediglich Einzelheiten ermög­ lichen es bei genauer Betrachtung, die Teile des 15. Jahrhunderts von denen des 13. zu unterscheiden. So fußen die Dienste jeweils auf polygonalen, zweifach gestuften Sockeln (Abb. 4.18). Während an den Sockeln des 13. Jahrhunderts einfache Schrägen von einer Stufe zur nächsten überleiten, weisen die Sockel des 15. Jahrhunderts an jenen Stellen spätgotische Profile auf. Bei den älteren ­Basen

4.18  Halberstadt, Dom, nördliches Seitenschiff, Pfeiler im Vorder­ grund 15. Jh., Pfeiler im Hintergrund 13. Jh.

liegen die Scotiae wie zwei Ringe auf dem Torus, bei den jüngeren ist eine kleine Kehle dazwischen erkennbar.

­ berstabung, so dass genspitze in Art einer spätgotischen Ü

Überdies sind die Tori des 13. Jahrhunderts etwas flacher.

sich Alt und Neu bildlich durchdringen (Abb. 4.19).494 Auf

Die feinen Unterschiede sollen jedoch nicht davon ablen-

diese Weise markierte der Baumeister raffiniert und subtil

ken, dass sich die Detailformen im Großen und Ganzen so

den Übergang zwischen den Kompartimenten und machte

stark ähneln, dass man die jüngeren als Imitationen alter

zugleich die spätere Entstehungszeit mittels einer geziel-

Formen ansprechen darf.

ten Forminterferenz im Detail kenntlich. Des Weiteren

Dass es sich beim Langhausbau um eine planmäßi­ge

verspringt der Arkadenbogen im beschriebenen Joch kurz

Imitation alter Formen handelt, lässt sich an einem inter-

oberhalb der Kapitelle am östlichen Fußpunkt, also zur

essanten Detail erkennen. An der nördlichen Mittelschiffs-

Seite der neueren Langhausjoche. Der Sinn dieses konst-

wand des vierten Jochs von Westen, also an der Schnitt-

ruktiv nicht zu begründenden Details liegt wohl allein da-

stelle zwischen alten und neuen Langhausjochen, und nur

rin, den Beginn der etwas niedriger liegenden Kapitellzone

dort, überschneiden sich die Profile der Arkade an der Bo-

des 15. Jahrhunderts gestalterisch zu kennzeichnen.

492 Den Bau des Langhauses setzt Ernst Schubert aufgrund einer schriftlich überlieferten Weihe, die er auf den Chor bezieht, nach 1401 an, während er ein Weihedatum 1491 mit der Fertigstellung des Langhauses in Verbindung bringt (Dehio Sachsen-Anhalt 2002, S. 318–320 [Ernst Schubert]). Bauforscherische Befunde legen allerdings nahe, dass mit dem Bau des Langhauses bereits im 14. Jahrhundert begonnen wurde (Horn 2017, S. 21f). 493 Datierung: Nicolai 1997, S. 51; Wedemeyer 1997, S. 69; Flemming/ Lehmann/Schubert 1973, S. 18.

494 An der südlichen Mittelschiffswand findet sich keine markierte Nahtstelle, aber durchgehend Details in der Ausprägung des 15. Jahrhunderts. Es drängt sich somit die Frage auf, ob die Westjoche tatsächlich, wie bisher angenommen, im 13. Jahrhundert fertiggestellt wurden. Es hat stattdessen den Anschein, dass die Westjoche erst im 14./15. Jahrhundert komplettiert wurden.

114

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

4.19  Halberstadt, Dom, nördliche Mittel­ schiffswand, optische Schnittstelle zwischen Bau des 13. Jh. (links) und 15. Jh. (rechts) Der Langhausbau des Halberstädter Doms lässt sich

tive von Bau I.495 Vor allem das Sanktuarium, das Ende des

mit den beschriebenen Baumaßnahmen in den Münster-

11. Jahrhunderts bis auf die unteren Teile der Chorwinkel-

kirchen von Basel und Essen vergleichen. In unterschied-

türme neu errichtet wurde, wirkt deshalb älter, als es tat-

lichem Umfang wurden jeweils im 15. Jahrhundert Gewöl-

sächlich ist. Ganz wesentlich trägt dazu ein monumenta-

befelder in Formen des 13. Jahrhunderts erstellt. Darüber

les, aber schlichtes Tonnengewölbe über den Chorjochen

hinaus lässt sich in Halberstadt wie im Basler Münster

bei (Abb. 4.20), das mit den fortschrittlichen Kreuzgrat­

der gezielte Einsatz von subtilen Forminterferenzen fest-

gewölben des Mittelschiffs, wo diese Wölbungstechnik das

stellen, also eine nicht mit fehlender Kenntnis erklärbare

erste Mal in dieser Größenordnung angewandt wurde,496

Verwendung eines zeitgenössischen Details im Zusam-

auffallend kontrastiert. Hans Erich Kubach und Walter

menhang mit der Imitation einer älteren Form. Ein Unter-

Haas wiesen bauforscherisch nach, dass die Tonne zwar

schied zwischen den drei Fallbeispielen liegt darin, dass in

während Bau II entstand, jedoch bereits Bau I über eine

Basel und Essen zerstörte Gewölbe rekonstruiert wurden,

Tonne im Altarhaus verfügte.497 Bei der Tonne über dem

wohingegen in Halberstadt ein älterer, andersartiger Ge-

Sanktuarium handelt es sich also um eine Rekonstruk-

bäudeteil ersetzt wurde. Dennoch steht die Imitation der

tion eines ca. 40 bis 60 Jahre älteren Gewölbes, das von

alten Formen in Halberstadt im Zusammenhang mit der

der Forschung lange übersehen wurde, obwohl es sich um

Tradition des Ortes, denn man führte den Plan der West-

eine technische Pionierleistung seiner Zeit handelte.498

joche des 13. Jahrhunderts fort.

Die zeitnahe Realisation andersartiger Wölbungsformen im Mittelschiff und in den Querarmen weist die Wieder-

4.2.2 Die Imitation alter Gewölbe

herstellung des Tonnengewölbes Ende des 11. Jahrhunderts als bewussten Rückgriff auf die alte Gewölbeform

Speyer, Dom

aus, der im Zusammenhang mit den anderen retrospek-

Im Rahmen der zweiten Bauphase des Doms zu Speyer ab

tiven Formen des Sanktuariums gesehen werden muss.499

ca. 1081 (Bau II) imitierte man alte Werkstücke und Mo-

Anscheinend wurde das Sanktuarium gewollt altertüm-

495 Kap. 4.2.1. 496 Die Kreuzgratgewölbe im Mittelschiff des Doms zu Speyer gelten als die »frühesten im Norden und mit 14 m bis ins 13. Jahrhundert […] größten Europas.« (von Winterfeld 2001, S. 67).

497 Kubach/Haas 1972, S. 687. 498 Horn 2013, S. 166. Verschiedene Argumente sprechen dafür, dass das Mittelschiff von Bau I ebenfalls ein Tonnengewölbe erhalten sollte (Ebd.). 499 Kap. 4.2.1.

115

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

4.20  Speyer, Dom, Sanktuarium, Tonnen­ gewölbe Ende 11. Jh. lich angelegt. Die somit künstliche Erzeugung von Spuren der Vergangenheit verdeutlicht den Wert des Alten.

Hierfür kommt zunächst der Chorneubau um die Mit­te des 12. Jahrhunderts in Frage, denn die vier gewölbetragenden Stützen des neuen Chorhalses befinden sich

St. Denis, Abteikirche

über den Kryptaseitenschiffen, so dass die alten Tonnen­

Im Rahmen der Neugestaltung des Chorbereichs der

gewölbe durchstoßen werden mussten, um die Tragstruk-

Abteikirche St. Denis unter Abt Suger 1140 bis 1144 inte-

tur zu den Fundamenten herunterführen zu können.

grierte man die alte, dreischiffige Außenkrypta des 9. Jahr-

Heute stehen je zwei kräftige Rundpfeiler in den alten

hunderts als Choruntergeschoss und fasste sie nach Osten

Kryptaseitenschiffen, welche die Tonnengewölbe penet-

hin mit einem neuen Umgang ein.500 Das mittlere Schiff

rieren, um die Chorstützen abzufangen.

wird von einem Tonnengewölbe aus hammerechtem Mau-

Die Knospenkapitelle weisen die Rundpfeiler formen-

erwerk mit unterschiedlichen Steinformaten und schlän-

geschichtlich allerdings als Bauteile der ersten Hälfte des

gelnden Fugen überfangen, das wahrscheinlich noch den

13. Jahrhunderts aus. Sie lassen sich daher mit der zwei-

Zustand des 9. Jahrhunderts widerspiegelt (Abb. 4.21).501

ten bekannten Baukampagne unter Abt Eudes ­Clément ab

Von der Forschung bisher kaum beachtet wurden die bei-

1231 zusammenbringen, bei der die Chorpfeiler der Suger-

den Tonnengewölbe der zu Umgangsjochen umfunktio-

zeit aus statischen Gründen en-sous-œuvre ausgewechselt

nierten Kryptaseitenschiffe, die im Unterschied zum Mit-

wurden.502 Die Tonnengewölbe über den Umgangs­jochen

telschiff aus großen, präzise gearbeiteten Quadern und

der Krypta sind demnach Erzeugnisse des 12. oder 13. Jahr-

dünnen Fugen gearbeitet wurden (Abb. 4.22). Die abwei-

hunderts, welche die ursprünglichen Kryptagewöl­be des

chende, weiter entwickelte Mauerwerkstechnik spricht da-

9. Jahrhunderts imitieren. Für einen Entstehung nach

für, dass die Tonnen der Seitenschiffe zu einem späteren

1231 spricht, dass sich die Mauertechnik der im 12. Jahr-

Zeitpunkt in der alten Form wiederhergestellt wurden und

hundert neu errichteten, kreuzgratgewölbten Umgangs­

somit den vormaligen Kryptaraum kennzeichnen.

joche im Osten von derjenigen der Tonnengewölbe zu

500 Kap. 2.2.1. 501 Sumner McKnight Crosby schwankt zwischen einer Datierung ins 9. oder ins 12. Jahrhundert, obgleich er selbst auf unterschiedliche Bearbeitungsspuren hinweist (Crosby 1987, S. 232). Es unterscheidet sich aber auch die Mauerwerkstechnik grundsätzlich. Ein Bild von Hubert Robert im Musée Carnavalet, Paris, dokumentiert, dass

das Gewölbe während der Revolutionszeit teilweise zum Chor hin geöffnet war. Ein Teil des Gewölbes stammt daher wohl aus Rekonstruktionsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts, die sich allerdings am originalen Bestand orientierten. 502 Kimpel/Suckale 1985, S. 384f.

116

4.21  St. Denis, Kryptamittelschiff, 9. Jh. (teilweise rekonstruiert)

4.22  St. Denis, Kryptaseitenschiff, Tonnengewölbe Mitte 12. oder Mitte 13. Jh.

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

117

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

unter­ scheiden scheint, was allerdings bauforscherisch noch einmal überprüft werden müsste. In diesem Fall hätte man im 13. Jahrhundert die Tonnengewölbe des 12. Jahrhunderts rekonstruiert, welche ihrerseits wiederum den karolingischen Gewölben der alten Krypta nachempfunden waren.

Mainz, Dom In den 1120/30er Jahren begann am Mainzer Dom ein Neubau des Langhauses, der nach einiger Zeit ins Stocken geriet, so dass nur die neuen Mittelschiffswände errichtet wurden (vgl. Abb. 4.05).503 Wie schon beim um 1100 einsetzenden Umbau der Ostteile lehnen sich die architektonische Struktur und die Formen eng an den Dom zu Speyer an.504 Als Ende des 12. Jahrhunderts erneut eine große Baukampagne begonnen wurde,505 verfolgte man beim Neubau der Westteile hingegen andere Zielsetzungen. Der mächtige Trikonchos und das anschließende Querhaus samt Vierungsturm im Westen rekurrieren nicht mehr auf den Dom zu Speyer, sondern wurden nach einem neuen Konzept errichtet (vgl. Taf. 5.07). Umso bemerkenswerter ist es, dass man das Langhaus hingegen in der alten, vom Mittelschiff vorgegebenen Struktur vervollständigte, indem man neue Seitenschiffswände anlegte und die drei Schiffe schließlich einwölb­te.506 Während über dem Mittelschiff zeitgenössische Kreuz­ rippengewölbe eingezogen wurden (vgl. Abb. 4.05), wölbte

4.23  Mainz, Dom, südliches Seitenschiff nach Westen, Kreuzgrat­ gewölbe Ende 12. Jh.

man die Seitenschiffe demgegenüber mit altertümlichen Kreuzgratgewölben (Abb. 4.23). Bereits in der alten Literatur

lative Datierungen und Bauverlauf treffen, wie es beispiels-

stand außer Zweifel, dass es sich bei den Kreuzgratgewölben

weise für den Magdeburger Domchor aus der ersten Hälfte

um gezielte Imitationen alter Gewölbe handelt, weil die

des 13. Jahrhunderts wiederholt, aber wohl fälschlicher-

gewölbetragenden

weise getan wurde.509

Seitenschiffswände

eindeutig

der

Kampagne um 1200 zugerechnet werden konnten.507 Die

Die Differenzierung zwischen rippen- und gratge-

Gewölbe im Mainzer Langhaus belegen folglich, dass die

wölbten Räumen diente anscheinend der gestalterischen

Baumeister auch im deutsch-römischen Imperium um 1200

Differenzierung im Sinne einer räumlichen Hierarchisie-

sowohl Rippen- als auch Gratgewölbe technisch beherrsch-

rung. Im Mainzer Dom wurde auf diese Weise das Mittel­

ten und diese gezielt einsetzten.508 Spätestens ab 1200 lassen

schiff gegenüber den Seitenschiffen hervorgehoben. Das

sich somit über die Gewölbeformen keine Aussagen über re-

schließt nicht aus, das man darüber hinaus mittels der alt

503 Von Winterfeld 2010, S. 125–129. 504 Kap. 4.2.1. 505 Aufgrund einer Schriftquelle wird der Beginn der Kampagne in der Literatur allgemein in die Amtszeit des Erzbischofs Konrad I. von Wittelsbach nach 1183 datiert (von Winterfeld 2010, S. 131). Eine Weihe 1239 gilt als Anhaltspunkt für den Abschluss der Arbeiten. 506 Von Winterfeld 2011, S. 63. 507 In der älteren Literatur ging man davon aus, dass bereits in der ersten Bauphase Gewölbe und Seitenschiffsmauern vorhanden waren und um 1200 durch neue ersetzt wurden. Diese Annahme resultiert aber aus einer in weiten Teilen der alten Literatur verbreiteten, die komplexe Genese mittelalterlicher Kirchen allerdings unzulässig vereinfachenden Sichtweise, dass aus jeder Bauphase

stets ein vollendeter Gebäudeteil hervorgegangen sei. Auf das Langhaus des Mainzer Doms bezogen wurde das von Dethard von Winterfeld schon 1986 mit guten Gründen hinterfragt (Ders. 1986, S. 22–27). Neuerdings wurde aufgezeigt, dass das Konstrukt in sich abgeschlossener, konsekutiver Bauphasen auch für den Bau des Doms zu Speyer im 11. Jahrhundert nicht haltbar ist, sondern ein methodisches Problem darstellt (Horn 2013, S. 174–176). 508 Diese Feststellung ist wichtig, weil bei anderen Gebäuden das Nebeneinander von Grat- und Rippengewölben als stilgeschichtliches Nacheinander interpretiert wird (z. B. im Magdeburger Domchor: Kap. 4.3.2.). 509 Z. B. Schubert 1989, S. 32; Greischel 1939, S. 47–50. – Kritik des Ansatzes: Horn 2015a, S. 119–121.

118

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

erscheinenden Gratgewölbe einen altertümlichen Charakter erzielen wollte, zumal auch retrospektive Kapitellformen Verwendung fanden.510 Schließlich setzt sich das Langhaus im Ganzen mit seinen alten Formen deutlich vom neuen Chor ab. Offenkundig sollte der Kontrast zwischen »altem« Langhaus und neuen Westteilen planvoll erhalten werden, beziehungsweise überhaupt erst hergestellt werden. Im Hinblick auf den hiesigen Untersuchungskontext ist die vergangenheitsbewusste Fertigstellung des Langhauses umso aussagekräftiger, als die architektonischen Formen des Langhauses hauptsächlich auf die erste Bauphase des Speyerer Doms zurückgreifen und somit bereits bei Baubeginn um 1130 stilgeschichtlich veraltet waren. Insofern griff man bei der Fertigstellung des Langhauses um 1200 eine rund 150 Jahre ältere architektonische Struktur auf, wohlgemerkt zeitnah zum Bau der Westteile nach zeitgenössischem Muster.

Basel, Münster In der Chorkrypta des Basler Münsters finden sich zwei unterschiedliche Arten von Kreuzrippengewölben. In den Jochen entlang der Außenwände bestehen die Ge­ wölberippen aus scharf zulaufenden Graten und Kehlungen, was formengeschichtlich in das 14. Jahrhundert passt (Abb. 4.24). Demgegenüber weisen die Kreuzgewölbe der inneren Joche kräftige, breite Gurte auf, die der Formenwelt des 12. Jahrhunderts zu entsprechen scheinen (Abb. 4.25). Auf den zweiten Blick irritieren jedoch die

4.24  Basel, Münster, Krypta, Kreuzrippengewölbe, äußeres Joch 1360er Jahre

formengeschichtlich jüngeren gotischen Schlusssteine mit Rosen und Blattwerk sowie die Durchdringungen

bereits Gewölbe existierten, rekonstruierte man die alten

der Rippen an den Fußpunkten der Gewölbe, die erst im

Gewölbe in retrospektiven Formen. Die Bildhauer waren

14. Jahrhundert üblich werden (Abb. 4.26).511 Während die

folglich in der Lage, Gewölbe in a ­ rchitekturgeschichtlich

Schlusssteine theoretisch später hinzugefügt worden sein

unterschiedlichen Formen zu realisieren. Im Zusammen-

könnten, ergibt eine solche Annahme für die Gewölbefuß-

hang hiermit stehen die altertümlichen Pfeiler in der

punkte keinen Sinn. Vielmehr beweisen die Details, dass

Chorkrypta, die ebenfalls im Zuge des Wiederaufbaus

sämtliche Gewölbe in der Krypta im Zuge des Wiederauf-

nach einem Erdbeben 1356 rekonstruiert wurden (vgl. Abb. 4.15).513 Die abweichend zeitgenössisch detaillierten

baus nach 1356 entstanden. Die Joche an der Außenwand waren zuvor nicht ein-

Gewölbefußpunkte resultieren folglich nicht aus einem

gewölbt, sondern zum Chor hin nach oben geöffnet. Für

Mangel formenhistorischer Kenntnis. Im Gegenteil han-

die Anlage des neuen Chorumgangs im zweiten Viertel

delt es sich um offensichtlich absichtsvoll angelegte, sub-

des 14. Jahrhunderts zog man neue Gewölbe ein, die mit

tile Forminterferenzen, wie sie sich beispielsweise auch

512

zeitgemäßen, gekehlten Rippen konstruiert wurden.

bei der spätgotischen Baukampagne des Doms zu Halber-

Bei den inneren Jochen hingegen, also dort, wo zuvor

stadt nachweisen lassen.514 Möglicherweise lag der Sinn

510 Kap. 4.2.1. 511 Die Gewölbefußpunkte der im 19. Jahrhundert stark überformten Vierungskrypta weisen vergleichbare Durchdringungen auf (dokumentiert auf einem Bild von 1853; Abdruck bei Maurer-Kuhn 2005, S. 236).

512 Die alten, runden Wandvorlagen blieben dabei erhalten. Die spätgotischen Rippen setzen – zeittypisch – unvermittelt an den Schäften an (vgl. Abb. 4.24). 513 Kap. 4.2.1. 514 Ebd.

119

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

4.25  Basel, Münster, Krypta, Kreuzrippengewölbe, inneres Joch 1360er Jahre

4.26  Basel, Münster, Gewölbefußpunkt mit Durchdringungen 1360er Jahre

dieser punktuellen zeitgenössischen Akzentuierungen

für die Zeit nach 1400 erwarten würde, sondern ahmen

sogar darin, die vermeintlich alten Bauteile für den geüb­

die vormalige Kreuzrippenstruktur aus den Jahrzehnten

ten Betrachter bewusst als jüngere Konstruktion kenntlich

um 1200 nach (Abb. 4.27).517 Die Rippenprofile – Birn-

zu machen.

stab mit Hohlkehle für die Gurtrippen, doppelte Kehlen

Nachdem der Chor wieder aufgebaut war,515 zog man

an den Kreuzrippen – geben hingegen einen Hinweis auf

Anfang des 15. Jahrhunderts die beim Erdbeben einge-

eine spätere Entstehung. Am deutlichsten lassen sich die

stürzten Gewölbe im Mittelschiff wieder ein.516 Während

Gewölbe, wie auch in der Krypta, an den Fußpunkten als

die retrospektiven Tendenzen der Krypta und des Chores

nachträgliche Konstruktionen erkennen. Für ein Kreuz-

in der jüngeren Literatur vereinzelt wahrgenommen

rippengewölbe des frühen 13. Jahrhunderts wäre eine

wurden, blieb bisher unberücksichtigt, dass auch in die-

klare tektonische Fügung der Tragstruktur zu erwarten,

sem Bauabschnitt Spuren der Vergangenheit künstlich

welche ein unmittelbares Aufsetzten der Gurtrippen auf

konstruiert wurden. Die neuen Gewölbe wurden nicht

den Kämpfern einschließt. Stattdessen wurde die Profilie-

etwa mit dekorativen Figurationen verziert, wie man es

rung der Gurtrippen im hinteren Teil mit einem gedrunge-

515 Zum Wiederaufbau siehe Kap. 4.3.3. 516 Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006, S. 16; Reinhardt 1961, S. 34. 517 In den letzten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts kommt es zu einem großangelegten Umbau des Münsters. Ein für 1185 überlieferter Brand wird von Hans Reinhardt als Ausgangspunkt angenommen (Ders. 1961, S. 14); Dorothea Schwinn Schürmann hält auch einen

früheren Beginn für möglich (Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006, S. 14). Unabhängig davon spricht die Struktur der Mittelschiffswand mit drei Diensten vor jedem zweiten Pfeiler für eine ehemalige Kreuzrippenwölbung im gebundenen System. Von der Systmatik her würde das in die Jahrzehnte um 1200 passen, so dass man davon ausgehen darf, dass zu jener Zeit Kreuzrippengewölbe im Mittelschiff eingezogen wurden.

120

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

4.27  Basel, Münster, Mittelschiff nach Osten, Wände spätes 12./ frühes 13. Jh., Gewölbe frühes 15. Jh.

4.28  Basel, Münster, Mittelschiff, Gewölbefußpunkt, Kapitelle spätes 12./frühes 13. Jh., Rippen frühes 15. Jh.

nen Rundstab verschliffen, wie man es von Gewölben des

Rippenprofile verraten auf den zweiten Blick das jüngere

15. Jahrhunderts kennt (Abb. 4.28). Formengeschichtlich

Entstehungsdatum. Während die Gewölbe aus der Zeit

kontrastieren die spätgotischen Detailausbildungen an

um 1300 Rippen mit Birnstabprofil aufweisen, verwandte

den Fußpunkten deutlich mit den altertümlichen Würfel-

man in den nördlichen Jochen spätgotisch gekehlte Rip-

kapitellen darunter. Die Gewölbe des Langhauses lassen

pen.519 Die Ähnlichkeit des retrospektiven Konzepts mit

sich aber wohlgemerkt erst auf den zweiten Blick und im

dem Wiederaufbau der Langhausgewölbe im Basler

Detail als Werke des 15. Jahrhunderts erkennen, und auch

Münster ist evident.

das nur bei entsprechender Kennerschaft. Die Struktur der Kreuzrippen erzeugt anscheinend bewusst den Raum-

Magdeburg, Domkreuzgang

eindruck vor 1356.

Der Ostflügel des Magdeburger Domkreuzgangs wurde um 1250 in Folge des Neubaus der Bischofskirche errich-

Essen, Münster

tet.520 Bereits Ernst Schubert wies darauf hin, dass die

In größerem Umfang imitierte man Mitte des 15. Jahrhun-

Kreuzrippengewölbe trotz ihrer auffallend einfachen Rip-

derts alte Gewölbeformen in der Essener Münsterkirche.

penprofile aus einer späteren Erneuerung der Gewölbe

Die Gewölbe des nördlichen Seitenschiffs stürzten wahr-

stammen, was Heiko Brandl und Christian Forster jüngst

scheinlich in Folge eines schriftlich überlieferten Brands

bestätigten (Abb. 4.29).521 Hierfür sprechen unter anderem

ein.518 Man nutzte die Gelegenheit jedoch nicht etwa, um

spätgotische Rippenkonsolen an der Ostwand und einige

die betroffenen Joche mit zeitgenössischen Gewölbefigu-

Schlusssteine. Drei der ursprünglichen Schlusssteine

rationen zu modernisieren, sondern stellte die Struktur

wur­den hingegen bei der Neuanlage der Gewölbe wieder-

der vormaligen Kreuzrippengewölbe wieder her. Allein die

verwendet.522 Schubert betrachtet auch das Maßwerk der

518 Zimmermann 1956, S. 54, 274, 280. 519 Die Gewölbe wurden bei Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und in den 1950er Jahren in Stahlbeton wiederhergestellt. Walther Zimmermann konnte die ursprünglichen Materialien glücklicherweise noch dokumentieren (Ders. 1956, S. 171). So bestanden die Gewölbekappen des 15. Jahrhunderts im nördlichen Seitenschiff aus Ziegeln, während die Kappen der Kampagne um 1300 aus Tuff bestanden.

520 Für eine Entstehung nach 1235 sprechen die Putzritzzeichnungen am Obergeschoss, die eine Amtsgenealogie der Magdeburger Erzbischöfe zeigt, welche mit Bischof Burchard (ep. 1232–1235) endet. Heiko Brandl und Christian Forster datieren den Ostflügel »um 1250« (Dies. 2011, S. 458). 521 Brandl/Forster, S. 458f; Schubert 1984, S. 42. 522 Brandl/Forster, S. 458.

121

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

Münster, Dom Ende des 15. Jahrhunderts kam es am Dom zu Münster zu einer Erneuerung des südlichen Ostquerhauses aus dem 13. Jahrhundert.526 Die alte Südfassade wurde komplett niedergelegt und in aktuellen Formen der Zeit wiedererrichtet. Mit ihrem kleinteiligen, filigranen Gitter aus Maßwerk und Zierformen sowie dem italienische Renaissanceformen aufgreifenden Giebel kontrastiert die Fassade seither erkennbar mit den übrigen Querhausteilen. Die Bauarbeiten am Querhaus gingen allerdings viel weiter, als es die Formen suggerieren, denn das Gewölbe wie auch Teile der Seitenwände wurden formal so originalgetreu re-

4.30  Münster, Dom, südwestliches Querhaus 13. Jh., Gewölbe frühes 16. Jh.

4.29  Magdeburg, Dom, östlicher Kreuzgangflügel Mitte 13. Jh., Gewölbe 2. Viertel 14. Jh. oder Mitte 15. Jh. Arkaden als späteres Werk in retrospektiver Formensprache und schlägt einen schriftlich überlieferten Brand im Dormitorium 1449 als Anlass für Restaurierungsarbeiten und als Datierungsansatz vor.523 Brandl und Forster hingegen datieren das Maßwerk der Arkaden in die Erbauungszeit um 1250 und sehen die Erneuerung der Gewölbe im Zusammenhang mit einem Neubau des Remters um 1320/30.524 In jedem Fall verzichtete man auf eine nachträgliche Modernisierung des Kreuzgangflügels und entschied sich stattdessen für einen Wiederaufbau nach altem Muster. Eine mögliche Erklärung für den bemerkenswert »denkmalpflegerischen« Ansatz wäre, dass man den Ostflügel zu späterer Zeit irrtümlich für ein Relikt des ottonischen Doms hielt. Mit dem Südflügel blieb bis heute ein Kreuzgangflügel erhalten, der tatsächlich aus der Zeit vor dem Domneubau stammt.525 Da eine differenzierte Stilgeschichte im Mittelalter nicht verfügbar war, wäre es gut denkbar, dass man mit einem Abstand von entweder rund 80 oder sogar 200 Jahren dachte, beide Flügel seien älter als der neue Dom. Dazu mag mit beigetragen haben, dass der Ostflügel – abweichend vom Neubau – der alten Achslage des Vorgängerbaus folgt (vgl. Abb. 5.15).

523 Schubert 1984, S. 42. 524 Brandl/Forster 2011, S. 455, 458f. Viele Teile des Maßwerks sind neuzeitlich erneuert worden (Ebd.).

525 Ernst Schubert datiert den Südflügel stilistisch um 1170 (Ders., S. 40f). 526 Spätgotische Umbauten am Dom zu Münster: Lobbedey/Scholz/ Vestring-Buchholz 1993, S. 286–289.

122

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

konstruiert, dass allein die abweichende Steinmetztechnik

Trier, Liebfrauenkirche

die Entstehung um 1500 verrät (Abb. 4.30).

Zusätzlich

Die alte Liebfrauenkirche an der Südseite des Trierer

integrierte man einige alte Werkstücke, wie etwa Rippen-

Doms musste seit wahrscheinlich 1227 einem ­kompletten

zierscheiben des 13. Jahrhunderts. Auf diese Weise wurde

Neubau weichen,531 der sich an den Formen der franzö-

das tatsächliche Ausmaß der Bauarbeiten verschleiert und

sischen Kathedralgotik, vor allem der Kathedrale von

allein die spätgotische Südfassade als modernisierter Bau-

Reims,532 orientiert und deshalb als eines der frühesten

teil ausgewiesen. Mittels des Blendmaßwerks wird sogar

gotischen Bauwerke in Deutschland viel Aufmerksamkeit

der Eindruck erweckt, auch das Mauerwerk der Südwand

von der Kunstgeschichte erfährt. Ausgerechnet dieser go-

entspräche dem alten Bestand und die neuen Dekorfor-

tische »Musterbau« weist jedoch auch Imitationen alter

men seien diesem vorgeblendet. Während man einerseits

Formen auf. Im Gegensatz zu den standardmäßig am

also radikal modernisierte, legte man andererseits auch

Bau verwandten spitzbogigen Maßwerkfenstern fertigte

Wert auf eine Bewahrung alter Formen und Materie. Das

man die Fenster am Vierungsturms in der älteren Art mit

Zusammenspiel von Alt und Neu entspringt offensicht-

Rundbögen ohne Maßwerk und schuf damit einen sicht-

lich einem bewusst geplanten Gestaltungskonzept.

baren Kontrast, der in der älteren Literatur für Irritatio-

527

nen sorgte (Abb. 4.31). Mit einer stilgeschichtlichen Ent-

4.2.3 Die Imitation alter Fenster

wicklung, die in solchen Fällen oft bemüht wurde, lässt sich das Phänomen nicht erklären, denn der Turm stellt

Köln, St. Aposteln

schließlich das jüngste Bauteil dar. Kurt Wilhelm-Kästner

Im Zusammenhang mit der Einwölbung des Mittelschiffs

führte deshalb die retrospektiven Formen auf Unvermö-

von St. Aposteln zu Köln um 1219 mussten die alten Ober-

gen des Baumeisters zurück:

gadenfenster, die keinen axialen Bezug zu den Arkaden aufwiesen, zugemauert werden.528 Im Einklang mit der neuen Wandstruktur wurden daraufhin in der Mittelachse der Joche neue Fenster angelegt (vgl. Abb. 3.03). Dabei handelt es sich um ausgesprochen schlichte Rundbogenfenster, bei denen im Innenraum auf jegliche Gliederung und Verzierung verzichtet wurde. Aus diesem Grund wirken die Fenster, was in der Literatur bisher ignoriert wurde, für eine Entstehung in den 1210/20er Jahren auffallend altertümlich. Offensichtlich wollte man die vor­ maligen Fenster des 11. Jahrhunderts imitieren und auf diese Weise den Anschein erwecken, es wären die alten

»Die Fenster des oberen Geschosses kehren sogar zur romanischen, rundbogigen Form ohne Maßwerk zurück. Es ist ganz offensichtlich, daß hier ein Meister am Werke ist, der mit dem gotischen Bausystem noch nicht frei und selbstständig zu schaffen versteht, seinen klaren, logischen Gliederaufbau noch nicht völlig erfaßt hat. Wo er sich nicht direkt an sein Vorbild Reims anlehnt, zeitigt er noch Romanismen. Gerade für den Vierungsturm sah er in Reims kein Beispiel; darum baut er ihn ganz aus romanischem Empfinden heraus, wie er es ursprünglich gewöhnt war, …«533

Fenster beim Umbau beibehalten worden.529 Das würde

Die Interpretation Wilhelm-Kästners überzeugt jedoch

zum übergreifenden Umbaukonzept gut passen, bei dem,

nicht; sie erscheint im Gegenteil absurd. Warum sollte

wie an anderer Stelle gezeigt,

die vertikale Schichtung

es eine Schwierigkeit darstellen, eine Fensterform, die

von Neu und Alt bewusst vor Augen geführt wurde. Auch

dutzendfach am Bau realisiert wurde, noch einmal am

beim Umbau des Westquerhauses, der gestalterisch an

Turm zu wiederholen? In Anbetracht dessen, dass die

das Mittelschiff anknüpft, legte man schlichte Rundbo-

kirche eben keinen Nachbau einer französiLiebfrauen­

genfenster an.

schen Kirche darstellt, sondern »nur« deren Detailformen

527 Ebd., S. 288. Die Autoren vermuten Bauschäden als Grund für die Restaurierungsarbeiten. 528 Zum Umbau von St. Aposteln siehe Kap. 3.3. 529 Die neuen Fenster unterscheiden sich im Inneren von den alten wohl einzig durch eine stark abgeschrägte Sohlbank. Dieses architektonische Detail lässt sich mit dem größeren Lichteinfall erklären, der hierdurch erzielt wird. Die Belichtung stellte wahrscheinlich einen wichtigen Parameter der Planung dar, weil die alten Ober­ gadenfenster größer waren, als es die neuen aufgrund der maß­ lichen Vorgaben der Schildwände sein konnten (Stracke 1992, S. 310). Damit ist auch die in der älteren Literatur zu findende Annahme, die neuen Fenster sollten mehr Licht ins Mittelschiff bringen, obsolet.

530 Kap. 3.3. 531 Die Datierung folgt Ronig 2007, S. 164–166, und Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29 mit Anm. 24. 532 Stilkritische Analysen: Brachmann 2016; Schurr 2016, S. 45–47; Ders. 2007, S. 23–29; Borger-Keweloh 1986, S. 122–127. – Christoph Brachmann und Marc Carel Schurr verweisen auf stilistische Beziehungen der Trierer Liebfrauenkirche auch zu Toul und Metz. Beziehungen zwischen diesen Bauten erscheinen schon deshalb plausibel, weil die Bischöfe von Toul und Metz Suffragane des Trierer Metropoliten waren. 533 Hamann/Wilhelm-Kästner 1924, S. 41.

530

123

4.2  DIE IMITATION ALTER FORMEN

ten Doms auf, wie die Erscheinung des Vierungsturms überhaupt mittels Kubatur und Proportionen an die Westtürme angepasst wurde.534 Die Abstimmung auf die Architektur der Mutterkirche zeigt sich auch an anderen Stellen von Liebfrauen, etwa den runden Blendbögen über den Maßwerkfenstern der Westfassade und dem rundbogigen Tympanon über dem Westportal. Im Vergleich zu den meisten anderen hier behandelten Beispielen lassen sich die Imitationen alter Formen an der Liebfrauenkirche aufgrund ihres baulichen Kontextes leicht erkennen. Ein alter Turmstumpf kann sich an einer Kirche erhalten haben, aber nicht die Turmspitze allein. Der bewusste Rückgriff auf alte Formen lässt sich umso besser im Kontext eines übergreifenden Rekurses auf die Tradition des Ortes verstehen, der bereits an anderer Stelle ausführlich behandelt wurde.535

Havelberg, Dom In das zweite Drittel des 13. Jahrhunderts datiert nach neuem Forschungsstand die Aufstockung des Westbaus des Havelberger Doms.536 Dabei wurden drei rundbogi­ge, gekuppelte Fenster angelegt (vgl. Abb. 2.18),537 deren schlichte, altertümliche Formen in der Literatur bisher ohne Erstaunen hingenommen wurden. Will man nicht unterstellen, dass der Havelberger Bischofssitz rückständig und weltfremd war, so muss man doch davon ausge­ hen, dass man sich im Klaren darüber war, dass die gewählten Fensterformen schon lange veraltet waren. Weitaus schlüssiger erscheint es, dass man bewusst alte Fensterformen imitierte, um eine Angleichung an den alten, archaisch wirkenden Westbau zu schaffen. Dafür spricht auch, dass man analog zu den bestehenden Mau-

4.31  Trier, links: Dom, Südwestturm mittleres Drittel 11. Jh., rechts: Liebfrauen mittleres Drittel 13. Jh.

ermassen auf eine architektonische Gliederung der neuen Wandflächen weitgehend verzichtete. An anderer Stelle wird darauf hingewiesen, dass der Westbau auch beim

rezipiert, aber darüber hinaus eine eigenständige, höchst

tiefgreifenden Umbau des 14. Jahrhunderts unangetastet

kunstvolle und komplexe Neuschöpfung darstellt, ergibt

in seiner altertümlichen Form erhalten blieb.538 Anschei-

es keinen Sinn, dass der Baumeister zu einer recht simp-

nend sollte dieser Gebäudeteil das Alter der Kirche sicht-

len Wiederholung einer Detaillösung nicht fähig gewesen

bar herausstellen.

sein soll. Für die bewusste Imitation alter Formen war in Wilhelm-Kästners Denkmodell einer linear fortschrei-

Oppenheim, Katharinenkirche

tenden Stilgeschichte offenbar kein Platz. Dabei liegt die

Die Katharinenkirche zu Oppenheim weist eine kon-

Referenz für die alten Fensterformen nahe: Sie greifen

glomerathafte Gestalt auf, die aus einer Jahrhunderte

die romanischen Fenster der Westtürme des benachbar-

andauernden Metamorphose des Bauwerks resultiert

534 535 536 537

An­fang des 20. Jahrhunderts hinzugefügt (Schirge 1979, S. 19 mit Abb. 5, S. 25). 538 Kap. 2.2.1.

Horn 2016a, S. 34; Ders. 2015a, S. 83; Kurmann 2016, S. 18. Horn 2016a; Ders. 2015a, S. 76–92. Hoffman, J. 2012b, S. 83. Das Geschoss mit den fünf Rundbogenfenstern darüber wurde

124

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

(vgl. Abb. 2.19). Der älteste erhaltene Gebäudeteil ist der zweitürmige, ehemalige Westbau aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der heute zwischen dem basilikalen Langhaus aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und dem Westchor aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts sitzt.539 Die Türme kontrastieren als massive und schlichte Blöcke stark mit den filigran und aufwändig detaillierten gotischen Gebäudeteilen und wirken im Vergleich altertümlich. Der First des spätgotischen Westchores wurde so hoch angesetzt, dass die Türme in den 1460/70er Jahren aufgestockt werden mussten, um in der Silhouette noch in Erscheinung treten zu können.540 Der Südturm, welcher der Stadt zugewandt ist, wurde um zwei Geschosse erhöht, deren unteres die Kubatur der älteren Turmgeschosse wiederholt und sie in der Schlichtheit der Gestaltung sogar noch übertrifft. Die darin sitzenden Fenster wirken auffallend schlicht und altertümlich: die tiefen Gewände und Bögen weisen keine Profilierung auf und in den Öffnungen sitzt kein Maßwerk (Abb. 4.32). Der gedrungene Spitzbogen wirkt auf den ersten Blick rund. Stilgeschichtlich würde man dieses Fenster wohl kaum im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts erwarten, sondern rund 250 Jahre früher. Es ist ganz offensichtlich, dass die Fenster, wie das

4.32  Oppenheim, Katharinenkirche, Südturm, oberstes Geschoss um 1460/70

gesamte Geschoss, den alten Türmen angeglichen wurden.

4.3 Artifizielle Schichtungen 4.3.1 Chor und Krypta der Abteikirche St. Denis 1140–1144

wurde. In Anbetracht der außergewöhnlichen religiösen und politischen Bedeutung sind die berühmten Worte Sugers verständlich, dass er und die Mönche »den geweih-

Der Chor der Abteikirche St. Denis bei Paris, die als Gra-

ten Steinen selbst gleichwie Reliquien unser Bemühen

beskirche des fränkischen Reichsheiligen Dionysius (frz.

darbringen wollten.«543 Die ältere Architekturgeschichte

Denis) und Hauptgrablege der französischen Könige eine

maß dem Chorneubau hingegen in erster Linie stilge-

herausragende Stellung unter den Sakralbauten Frank-

schichtlich einen hohen Wert bei, denn man meinte, an

reichs einnahm, wurde 1140 bis 1144 unter Abt Suger neu

ihm den fulminanten Wendepunkt von der Romanik zu

errichtet.

Im Mittelalter glaubte man, dass der bedeut-

Gotik ausmachen zu können.544 Der neue Umgangschor

same Bau von Christus höchstpersönlich geweiht worden

mit Kapellenkranz wurde über der vormaligen Apsis sowie

war,542 so dass der Kirchenbau selbst verehrungswürdig

einer Außenkrypta des 9. Jahrhunderts errichtet, so dass

539 Der Bau des Westchores begann nach Bernhard Schütz um 1410 (Ders. 1982, S. 299). Eine Weihe ist für 1439 überliefert (Ebd., S. 268). Der ehemalige Westbau, der älteste erhaltene Teil der Anlage, wird in der Literatur allgemein in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert. 540 Schütz 1982, S. 312f. 541 Die Baugeschichte der Abteikirche wird im Folgenden nach dem Standardwerk von Sumner McKnight Crosby von 1987 referiert (Crosby 1987).

542 Diese Legende lässt sich bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts zurückverfolgen (Lombard-Jourdan 1985; Liebmann 1935). Zur Bedeutung der legendären Weihe für den Sugerbau: Büchsel 1997, S. 39–44. 543 Suger, consecratione 47 (ed. Binding/Speer, S. 222). 544 Z. B. Pevsner 1994, S. 71; von Simson 1968, S. 144; Crosby 1953, S. 31.

541

125

4.3  ARTIFIZIELLE SCHICHTUNGEN

ein zweigeschossiger Ostteil entstand (vgl. Taf. 2.05). Das mittlere Schiff der alten Krypta wurde dem neuen Gebäudeteil einverleibt und analog zum darüber liegenden Chor von einem Umgang umfangen. Die beiden Geschosse kontrastieren erkennbar in ihrer Formensprache. Im Chorumgang tragen schlanke Säulen mit fein ausgearbeiteter Kapitellplastik fortschrittliche Kreuzrippengewölbe (Abb. 4.33). Rundstäbe profilieren die Kanten der spitzen Gurt- und Scheidbögen. Demgegen­ über tragen im Kryptaumgang dicke, gedrungene Pfeiler mit reliefartigen Kapitellfriesen einfache Kreuzgratgewölbe, deren runde Bögen eine schlichte Fase aufweisen (Abb. 4.34). Das Kryptageschoss greift auf eine altertümliche Formensprache zurück, das Chorgeschoss auf eine dezidiert moderne. An der Chorfassade lassen sich die beiden kontrastierenden Systeme auf einen Blick erfassen (Abb. 4.35). Über den kleinen Rundbogenfenstern des Kryptageschosses stehen die großen Spitzbogenfenster des Chorgeschosses. Die Fenster des Kryptageschosses werden

4.33  St. Denis, Chorumgang, 1140er Jahre 4.34  St. Denis, Kryptaumgang, 1140er Jahre

von schlichten runden Blendbögen mit Fase überfangen,

126

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

auch methodisch von Interesse. Wäre die Bauzeit 1140 bis 1144 nicht schriftlich überliefert, würden die beiden Geschosse auf stilistischer Basis sicher mehrere Jahrzehnte auseinander datiert. Eine stilgeschichtliche Entwicklung kann aufgrund der nur fünfjährigen Bauzeit aber ausgeschlossen werden. Der Chorneubau folgte einem ganzheitlichen Plan. Die ältere Forschung, die St. Denis wie erwähnt als Schlüsselbau der Gotik sehen wollte, erkannte das Dilem­ma durchaus. Einige Kunsthistoriker wollten es lösen, indem sie postulierten, die Gotik sei während des Bauverlaufs erfunden worden,545 andere ignorierten die Formen der Krypta einfach,546 wieder andere erkannten zwar einen Zusammenhang mit der Tradition des Ortes, sahen darin aber eher einen unerwünschten Makel.547 Dethard von Winterfeld sowie Dieter Kimpel und Robert Suckale stellten die etablierte Sichtweise auf den Chor von St. Denis bereits in den 1980er Jahren in Frage und wiesen auf die Einheitlichkeit der Planung hin. Von Winterfeld interpretierte die stilistischen Differenzen als gestalterische Hierarchisierung der Geschosse.548 Kimpel und Suckale werteten die schichtweise Gestaltung darüber hinaus treffend als »absichtsvolle Kontrastierung des Alten und des Neuen« und attestierten Abt Suger zudem ein »Traditionsbewußtsein«.549 Seit Stephan Albrechts umfassender Arbeit über die »Inszenierung der Vergangenheit« beim Umbau von St. Denis unter Abt Suger steht die plan-

4.35  St. Denis, Ostfassade, 1140er Jahre

volle Zurschaustellung der Geschichte der Abteikirche außer Frage.550 Das zugleich der neue Chor in modernsten

die auf einfachen rechteckigen Wandpfeilern aufsetzen.

Formen erstrahlen sollte, ist dazu kein Widerspruch. Viel-

Am Chorgeschoss wird der spitze, mit einem Rundstab

mehr bildet das Neue die Folie, vor der das Alte erkenn-

konturierte Blendbogen oberhalb der Fenster hingegen

bar wird und umgekehrt. Im Kontext dieser Arbeit wird

von zierlichen Säulen mit Basis, Kapitell und Kämpferge-

ersichtlich, dass St. Denis kein Einzelfall ist.

sims getragen. An den Strebepfeilern werden die beiden gegensätzlichen Gestaltungssysteme schließlich in eine

4.3.2 Der Chor des Magdeburger Doms nach 1207

tektonische Beziehung gesetzt. Auf den einfachen Rechteckpfeilern des Kryptageschosses stehen in Chorhöhe Säu-

Der mit dem Chor beginnende Neubau des Magdeburger

len mit Basis, Kapitell und polygonalen Schäften.

Doms nach einem Brand 1207 zeigt konzeptionelle Paral­

Der neue Ostbau von St. Denis wirkt damit wie eine

lelen zum Chorneubau von St. Denis, die methodisch ähn-

horizontale Schichtung eines alten und neuen Geschos-

liche Schwierigkeiten für das architekturgeschicht­ liche

ses. Tatsächlich alt ist jedoch nur der innere Kern der

Verständnis mit sich bringen.551 Der Verfasser hat sich

Krypta. Ansonsten wurde der Eindruck zweier überei-

mit dieser Thematik an anderer Stelle bereits ausführlich

nander liegender Zeitschichten künstlich erzeugt. Der

auseinandergesetzt,552 so dass an dieser Stelle eine kurze

Chorbau der Abteikirche St. Denis unter Abt Suger ist

Zusammenfassung genügt.

545 Pevsner 1994, S. 71. Walter Wulf versuchte analog, die Entwicklung des gotischen Kapitells anhand der Kapitelle des Chorgeschosses nachzuzeichnen (Ders. 1978). 546 Von Simson 1968, S. 144f. 547 Sedlmayr 1950, S. 236. 548 Von Winterfeld 1984, S. 96–100.

549 Kimpel/Suckale 1985, S. 86. 550 Albrecht 2003. 551 Grundlegend zum Magdeburger Dom: Schenkluhn/Waschbüsch 2012; Brandl/Forster 2011; Puhle 2009; Rogacki-Thiemann 2007; Ullmann 1989; Schubert 1984; Ders. 1974; Greischel 1939; Ders. 1929; Giesau 1936. 552 Horn 2015a, S. 117–127.

127

4.3  ARTIFIZIELLE SCHICHTUNGEN

4.36  Magdeburg, Dom, Chorempore 1. Drittel 13. Jh.

4.37  Magdeburg, Dom, Chorumgang 1. Drittel 13. Jh.

Der Chor des Magdeburger Doms wird von einer zwei-

über gedrungenen Vorlagen und die luftigen, mit filigra-

geschossigen Raumstruktur umfangen, einem Umgang

nen Säulen und Rundstäben profilierten Öffnungen der

mit Kapellenkranz auf Chorniveau und einer darüber

Empore dialektisch gegenüber. Verklammert werden die

befindlichen Empore, dem sogenannten Bischofsgang.

beiden Geschosse hingegen von der übergreifenden Trag-

Die beiden Räume setzen sich hinsichtlich ihrer Formen­

struktur des Chorgewölbes, in die auch die auffälligen Spo-

sprache klar voneinander ab. Der Bischofsgang wird von

lien und antikisierenden Kapitelle integriert wurden.553

Kreuzrippengewölben überfangen, die großenteils von

In der kunstgeschichtlichen Literatur werden die

zierlichen Säulen mit zeitgemäßen Kelchkapitellen getra-

beiden Geschosse aufgrund ihrer kontrastierenden For-

gen werden, die Knospen oder naturalistisches Blattwerk

men teils noch immer im Sinne einer stilgeschichtlichen

aufweisen (Abb. 4.36). Im Gegensatz dazu wirkt der Chor-

Entwicklung im Bauverlauf interpretiert,554 die vor allem

umgang mit seinen Kreuzgratgewölben, die auf wuchtigen

von Ernst Schubert an die Person des Bischofs geknüpft

Pfeilern mit figurierten und stilisierten Kapitellfriesen auf-

wurde.555 Dieser Ansatz kann aber aus verschiedenen

setzen, merklich altertümlicher (Abb. 4.37). Im Magdebur-

Gründen nicht überzeugen. Zum einen hätte er eine Bau-

ger Dom lässt sich die in St. Denis an der Außenfassade

zeit von rund zweieinhalb Jahrzehnten allein für den Um-

ersichtliche Schichtung und Verknüpfung der beiden Sys-

gang zur Folge, was gegenüber anderen Baustellen der

teme an der Chorinnenwand ablesen (Abb. 4.38). In Ent-

Zeit, wie etwa dem Mainzer Dom, unerklärlich langsam

sprechung der jeweiligen Raumstruktur stehen sich die

wäre, erst Recht für ein Bauwerk von einem solchen An-

Arkaden des Umgangsgeschosses mit massigen Gurten

spruchsniveau wie dem Sitz des Magdeburger Erzbischofs.

553 Kap. 2.4.3. 554 Zuletzt vertrat diese Auffassung Birte Rogacki-Thiemann 2007, die nach eigener Aussage zwar »eine Präzisierung der Baugeschichte des Magdeburger Domes auf Grundlage bauforscherischer Methoden am Objekt selbst« anstrebt, ihre Datierung des Chorumgangs

aber allein auf die veralteten stilkritischen Analysen von Richard Hamann 1909 stützt (Dies. 2007, S. 74). Ältere Beispiele: Schlink 1989, S. 141f; Schubert 1984, S. 26; Greischel 1939, S. 49f. 555 Schubert 1989, S. 36f; Ders. 1984, S. 31.

128

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

4.38  Magdeburg, Dom, Binnenchor 1. Drittel 13. Jh. Doch auch die stilkritische Argumentation hinkt, denn

terfeld aufzeigen konnte, dass die Rippengewölbe der Em-

Kreuzrippengewölbe waren im deutsch-römischen Impe-

pore und Gratgewölbe des Umgangs einer einheitlichen

rium längst etabliert,

so dass eine rein stilgeschichtliche

Konzeption entspringen.558 Schließlich spricht die Gestal-

Erklärung der Formen des Umgangs den Magdeburger

tung des Chorumgangs selbst dafür, dass die Gewölbe-

Dombau der 1210er Jahre merkwürdig rückständig er-

formen der planvollen Differenzierung von Raumteilen

scheinen ließe. Hingegen lassen sich Beispiele für die Zeit

dienten, denn die Umgangskapellen wurden wie auch die

um 1200 oder kurz vorher nennen, in denen etwa Kreuz-

westlichen, den Chorhals flankierenden Umgangsjoche

grat- und Kreuzrippen gleichzeitig verwandt wurden, um

kreuzgewölbt, im Gegensatz zu den gratgewölbten Um-

Raumbereiche zu differenzieren. Neben dem in dieser

gangsjochen des Chorhauptes.

556

Arbeit behandelten Langhaus des Mainzer Doms

kann

Bezogen auf die spezifische Situation in Magdeburg

diesbezüglich die ehemalige Stiftskirche zu Limburg, dem

verwies Bernd Nicolai auf eine weitere Bedeutungsschicht

heutigen Dom, genannt werden, für die Dethard von Win-

der altertümlichen Formensprache des Umgangs, indem

556 Die Rippen im Langhaus des Wormser Doms entstanden vor 1181 (von Winterfeld 2003, S. 10f). Das Langhaus des Mainzer Doms wurde um 1200 mit Rippengewölben versehen (von Winterfeld 2011, S. 60).

557 Kap. 4.2.2. 558 Von Winterfeld 2005, besonders S. 98. Der Baubeginn in Limburg wird mittlerweile aufgrund dendrochronologischer Daten um 1190 angesetzt (Ebd., S. 88f).

557

129

4.3  ARTIFIZIELLE SCHICHTUNGEN

er sie als Reminiszenz an die alte Krypta des ottonischen

Gewölbe der Kirche einstürzten.566 Auch die Krypta wurde

Doms interpretierte,

die aufgrund einer neuen Achslage

von den herabstürzenden Teilen stark beschädigt. Mit

aufgegeben werden musste. Dieser Ansatz konnte vom

dem Wiederaufbau des Münsters beauftragte der dama-

Verfasser weiter erhärtet werden.560 Dafür spricht zum

lige Bischof Johann Senn von Münsingen den Baumeis-

Beispiel, dass der Altar des ehemaligen Krypta-Patrons

ter Johannes von Gmünd, welcher sich wohl auch für den

Kilian in die Chorscheitelkapelle in der Hauptachse des

Bau des spätgotischen Langchores am Freiburger Müns-

Doms transloziert wurde. Folglich wäre der Chorumgang

ter verantwortlich zeichnete und der Familie der Parler zu­

auch als Erinnerungsraum der verlorenen Krypta anzu-

gerechnet wird, der einige der bedeutendsten Architekten

sehen, der sich deshalb mittels seiner retrospektiven For-

jener Zeit entstammten.567 Die Arbeiten müssen anfäng-

mensprache bewusst von der darüber liegenden Empore

lich zügig vorangeschritten sein, denn 1363 konnte bereits

unterscheidet.561

der Hauptaltar wieder geweiht werden.568

4.3.3 Der Wiederaufbau des Basler Münsters nach 1356

Krypta

559

Interessanterweise entschied man sich beim Wiederauf-

Einleitung

bau für einen Entwurf, bei dem sowohl alte Formen quasi

Der Wiederaufbau des Basler Münsterchores in der zwei-

rekonstruiert als auch neue, hochaktuelle Formen verwirk­

ten Hälfte des 14. Jahrhunderts bietet ein eindrucksvol-

licht wurden. Zunächst baute man die Krypta derart über-

les Beispiel dafür, wie stark die Vergangenheit auf die

zeugend in den romanischen Formen des 11./12. Jahrhun­

Architektur wirken kann.562 Die Forschung begann erst

derts wieder auf, dass wohl nur dem geschulten und

vor einiger Zeit, sich für diesen Aspekt des Münsters zu

merksamen Auge subtile stilistische Interferenzen auf­

interessieren. François Maurer-Kuhn hat den Umfang der

auffallen, die in das 14. Jahrhundert weisen (Abb. 4.39).569

Wiederaufarbeiten herausgearbeitet und auf die retro­

Gleichzeitig veränderte man jedoch die räumliche Rela-

spek­ tiven Züge aufmerksam gemacht.563 Damit hat er

tion der Krypta zum Chorbereich grundlegend, denn man

eine wichtige Grundlage für die Beschäftigung mit den

trennte beide Bereiche durch Umgangsgewölbe auf Kryp-

Spuren der Vergangenheit im Münsterchor geschaffen,

taniveau, welche zuvor gar nicht existierten, und schuf auf

wenn auch seine Schlussfolgerungen teilweise diskuta-

diese Weise einen neuen Umgang auf Chorniveau. Wäh-

bel sind. Peter Kurmann stellte die Wiederaufbauarbei-

rend also einerseits die vertikale Disposition der Ostteile

ten hingegen erstmals schlaglichtartig in einen größeren

massiv umgestaltet wurde, wohl um neuen Anforderun-

baukulturellen Kontext einer »bewussten Inszenierung«

gen angepasst zu werden, imitierte man andererseits bei

von »ehrwürdigen Traditionen« und formulierte dabei ei-

der Ausführung alte Formen, welche suggerieren, dass ein

nige Thesen, die sich im Rahmen dieser Untersuchung als

älterer authentischer Zustand konserviert wurde. Die For-

weitsichtig erweisen.564

menimitate der Krypta resultieren demnach nur zu einem

Ein Erdbeben führte der ehemaligen Bischofskirche

gewissen Teil aus der Intention, den ehemaligen Zustand

in Basel 1356 starken Schaden zu.565 Anhand der wieder-

zu rekonstruieren. Zugleich nutzte man alte Formenimi-

aufgebauten Teile lässt sich erkennen, dass der Chorbe-

tate, um zu überspielen, dass im Zuge des Wiederaufbaus

reich bis unterhalb der Empore sowie ein großer Teil der

auch Modernisierungen vorgenommen wurden, welche

559 Nicolai 2009, S. 75f; Ders. 1989, S. 149. 560 Horn 2015a, S. 122f. 561 Sieht man in den unterschiedlichen Formensprachen von Umgang und Empore demnach keine stilgeschichtliche Entwicklung, sondern eine bewusste Inszenierung von Spuren der Vergangenheit, dann lassen sich die Räume unter Berücksichtigung eines frühen Planwechsels, der hier nicht näher ausgeführt werden kann, auch früher datieren, als es in der älteren Literatur gedacht wurde. Bernd Nicolai schlägt im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Mauritius-Reliquie 1220 für den Bischofsgang eine Datierung bereits in die 1220er Jahre vor, worin ihm jüngst Heiko Brandl und Christian Forster folgen (Brandl 2012, S. 149f; Brandl/Forster 2011, S. 148; Nicolai 1989, S. 154). Der Verfasser hält im Kontext der historischen Situation des Bistums einen Beginn der Arbeiten sogar in den späten 1210er Jahren für möglich (Horn 2015a, S. 127f). 562 Baugeschichte des Basler Münsters mit Literaturhinweisen:

Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006; Spicher 1999; Reinhardt 1961. – Zur Imitation alter Formen in Basel siehe auch Kap. 4.2.1. Mauer-Kuhn 2005. Kurmann 2004. Das Basler Münster fungierte im Mittelalter als Sitz eines Bischofs, was sich seit dem frühen 9. Jahrhundert schriftlich belegen lässt. Seit der Reformation 1529 dient das Münster als Hauptkirche der evangelisch-reformierten Gemeinde der Stadt. Im Sprachgebrauch hat sich die Bezeichnung »Münster« eingebürgert, obwohl es sich nie um eine Abteikirche handelte. Mauer-Kuhn 2005. Zur Baumeister-Frage: Maurer-Kuhn 2005, S. 232f; Kurmann 2004, S. 92. Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006, S. 15; Reinhardt 1961, S. 33. Kap. 4.2.1.

563 564 565

566 567 568 569

130

4.39  Basel, Münster, Krypta um 1360

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

4.3  ARTIFIZIELLE SCHICHTUNGEN

4.40  Basel, Münster, Chorwand 1360/70er Jahre

131

132

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

über die Wiederherstellung des Status quo hinausgehen.

Chorempore

Offensichtlich sollte die Krypta im Ganzen als altehr­

Alt und Neu überlagern sich schließlich am Emporenge-

würdiger Gebäudeteil präsentiert werden, so dass auch

schoss zwischen Obergaden und Arkaden, wo man eine Syn-

die vormals nicht existierenden Umgangsgewölbe als ver-

these der gegensätzlichen Strukturen schuf. Obgleich die

meintlich alte Bauteile angelegt wurden.

Empore komplett neu aufgebaut werden musste, entschied man sich, die alten Formen teils zu imitieren (Abb. 4.41).

Chorumgang versus Obergaden

Die großen Bogenöffnungen zum Binnenchor wirken wie

Im dreigeschossigen Chor wurden alte Formen hingegen

ein Echo auf den darunter befindlichen Umgang. Die Glie-

mit neuen konfrontiert (Abb. 4.40). Über dem neu geschaf­

derung der sichtbaren Mauerflächen fiel noch sparsamer

fenen Chorumgang mit den restaurierten Arkaden, die

aus; man verzichtete sogar auf Halb­säulen vor den Bogen

sich leicht spitzbogig zum Altarbereich öffnen, verläuft

tragenden Stützen, so dass die Chorempore noch archa-

ähnlich dem Magdeburger Dom eine Chorempore,570 über

ischer wirkt als der Chorumgang. Dieser Eindruck wird

welcher wiederum ein großflächig verglaster Obergaden

durch die Lichtführung unterstützt, denn der Emporen-

sitzt und das Licht hinab in den Chor fließen lässt. Die

raum erscheint von allen Geschossen am dunkelsten.

Arkatur blieb in der alten Form ihrer Entstehungszeit des

Vor diese – wohlgemerkt künstlich erzeugte – Atmo-

frühen 13. Jahrhunderts erhalten,571 was bedeutet, dass die

sphäre des Alten hing man allerdings einen kontrastie-

Schadstellen so instandgesetzt wurden, dass der Umfang

renden Vorhang aus Maßwerk, welcher den zeitgemäßen

der Wiederherstellungsarbeiten nur schwer nachvollzieh-

Obergaden strukturell nach unten fortsetzt. Wie ein zarter

bar ist. An anderer Stelle wird auf neue Basen hingewie-

Schleier überblenden die dünnen Stäbe die Bögen der Em-

sen, welche in Anlehnung an die alten Formen gefertigt

pore und definieren auf diese Weise die Raumgrenzen des

wurden.572 Insofern blieb die ursprüngliche Wirkung des

Bauteils. Die luftige Struktur des Maßwerks erlaubt jedoch,

von starkem Mauerwerk geprägten ­ Umgangsgeschosses

den dahinter liegenden Raum und dessen architektonische

erhalten. Die Tiefe der Arkadenlaibungen verrät die

Wirkung wahrzunehmen. Mit diesem Kunstgriff gelang

Stärke des Mauerwerks, deren ästhetische Wirkung sich

dem Baumeister eine brillante Verknüpfung der beiden

aufgrund einer zurückhaltenden Gliederung entfalten

Sphären Alt und Neu, welche nicht bloß ad­ditiv überein-

kann. Große Rundbogenfenster akzentuieren die radia-

ander stehen, sondern sich am Chorumgang sichtbar über-

len Achsen der Umgangsjoche, deren Formenwelt somit

schneiden und dadurch verzahnen. Die neue Struktur geht

einen vermeintlich authentischen Eindruck der Entste-

mit der alten eine ästhetische Verbindung ein, so wie der

hungszeit vermittelt.

neue Kirchenbau mit seiner Vergangenheit verbunden ist.

Dazu bilden die Formen des Obergadens einen Kon­

Während auf der einen Seite der Umgang absichtsvoll

trast, der kaum härter ausfallen könnte. Die Wandflächen

alt, der Obergaden auf der anderen Seite neu konnotiert

wurden, wie es für den Rayonnant charakteristisch ist,

ist, erzeugt die Empore eine gestalterische Ambivalenz,

vollständig in Glasfenster aufgelöst, die von einer fein-

welche die Zuordnung des Bauteils zu beiden Sphären er-

gliedrigen Maßwerkstruktur zusammengehalten werden.

laubt. Die konstruktive Struktur der Empore wiederholt in

An die Stelle der massiven Mauer tritt eine dünne Folie

vereinfachter Form diejenige des Umgangs, wohingegen

aus Glas. Der Flächigkeit der Wand setzte man die dünne

der Maßwerkschleier eine gestalterische Einheit mit dem

Lineatur des Maßwerks entgegen. Mit der wuchtigen

Obergaden bildet. Durch die demonstrative Überlagerung

Mauerwerksästhetik kontrastiert die feine Ästhetik der

der neuen und alten Architektur auf Höhe der Empore

zier­lichen Kleinformen des Couronnements. Anstelle ei-

führt die Gestaltung des Chores unmissverständlich vor

ner Rekonstruktion und Imitation alter Formen tritt die

Augen, dass hier ein Umbau älterer Substanz stattgefun-

Krea­ tion einer modernen Struktur in zeitgenössischen

den hat. Dem Betrachter wird der Eindruck vermittelt,

Formen. Zwischen Obergaden und Chorumgang wurde

dass Umgang und Empore das Erdbeben von 1356 unbe­

unübersehbar eine ästhetische Dialektik aufgebaut, wel-

schadet überstanden hätten, während der Obergaden

che die historische Dialektik von Alt und Neu mit archi-

komplett erneuert wurde. Die Schichtung des zierlichen

tektonischen Mitteln widerspiegelt.

Maßwerks vor den wuchtigen Bögen der Empore wirkt in

570 Die architektonischen Parallelen zwischen Basel und Magdeburg gehen wahrscheinlich über einen rein formalen Vergleich hinaus (Nicolai 2009).

571 Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006, S. 14. 572 Kap. 4.2.1.

133

4.3  ARTIFIZIELLE SCHICHTUNGEN

4.41  Basel, Münster, Blick vom Chor auf die Chorempore, 1360/70er Jahre diesem Zusammenhang wie der geschickte Entwurf eines

Empore sollten den Eindruck erwecken, das Erdbeben

talentierten Baumeisters, Alt und Neu gestalterisch zu ver-

überstanden zu haben, obwohl nur Teile der Arkaden tat-

knüpfen.

sächlich stehen blieben und der Chorumgang komplett

Doch entspricht dieses Bild nicht den Tatsachen.

neu angelegt wurde. Lediglich am Obergaden setzte man

Die Empore wurde, wie es der bauforscherische Befund

eine zeitgenössische Konzeption um. Die Empore sollte

be­legt, im Ganzen neu gebaut.573 Die alten Formen sind

als Schnittstelle die Verbindung von Alt und Neu demons-

nicht wirklich alt, sondern künstlich erzeugte Spuren der

trativ zum Ausdruck bringen. Die eigentliche Raffinesse

Vergangenheit, die realiter zur selben Zeit wie der Maß-

des Entwurfs liegt jedoch darin, dass die Überlagerung

werkschleier angefertigt wurden. Das bedeutet, dass die

von Alt und Neu tatsächlich nicht stattfindet, sondern nur

Gestaltung der Ostteile nicht das tatsächliche Ausmaß

für das Auge des Betrachters inszeniert wird.

der Bauarbeiten des 14. Jahrhunderts widerspiegelt, sondern das Resultat einer artifiziellen, dialektischen Insze-

Äußere Gestaltung der Ostteile

nierung der Konfrontation von Alt und Neu darstellt. Die

Die äußere Gestaltung der Ostteile setzte der Baumeis-

alte Substanz, welche die Tradition des Ortes buchstäblich

ter in Analogie zur Innenraumgestaltung um (Abb. 4.42).

vor Augen führt, sollte weitaus stärker zur Geltung kom-

Das untere Geschoss wurde in alter Form instandgesetzt

men, als es die intakt gebliebenen Bauteile ermöglichten.

und zeigt deshalb den Zustand um 1200, wie er vor dem

Insofern entschied man sich, alte Formen in großem Um-

Erd­beben noch bestand.574 Über einer den Sockelbereich

fang künstlich herzustellen. Die Krypta sollte gänzlich im

umlaufenden Blendarkatur sitzt je ein großes, säulenge-

ursprünglichen Zustand erscheinen. Auch Arkaden und

rahmtes Rundbogenfenster mittig auf jeder Seite des po-

573 Maurer-Kuhn 2005, S. 231f, 243–248.

574 Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006, S. 14.

134

4.42  Basel, Münster, Choransicht von Norden, unteres Geschoss um 1200, obere Geschosse 2. Hälfte 14. Jh.

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

4.43  Basel, Münster, Chorempore, 1360/70er Jahre

lygonalen Chorumgangs, der nach oben von einem stark

Dem entspricht der Wiederaufbau der massigen Strebe-

hervortretenden Blendbogenfries mit figurierten Konso-

pfeiler in der frühgotischen Form.575 In den Oculi sitzen

len abgeschlossen wird. Die Elemente wurden reich ver-

jedoch Maßwerke, die zum Teil erst im 14. Jahrhundert

ziert und mit Liebe zum Detail ausgearbeitet. Trotz der

verbreitet sind, wie der Wirbel, der durch die Aneinander-

zahlreichen Gliederungselemente dominiert jedoch die

reihung von Fischblasen entsteht, an der nordöstlichen

Massivität und Flächigkeit des Mauerwerks das untere

Seite (Abb. 4.43). Es sollte also künstlich das Bild evoziert

Geschoss. Hiermit kontrastiert der Obergaden mit gro-

werden, dass ein alter Bauteil des 12. Jahrhunderts mo-

ßen, feingliedrigen Maßwerkfenstern, welche das Mauer-

dernisiert wurde, indem man neue, zeitgenössische Maß-

werk auf stützende Pfeiler an den Ecken reduzieren. Auch

werke in die bestehenden Fenster setzte, wie es bei zahlrei-

wenn der Chorumgang aufgrund der Stufung der Bauteile

chen Kirchenbauten tatsächlich geschah.576

stärker in den Vordergrund tritt als im Innenraum, geben

Tatsächlich entstand auch die Außenwand des Em-

sich die beiden Kompartimente unmissverständlich als

porengeschosses gänzlich erst nach 1356. Ein deutliches

Alt und Neu zu erkennen.

Indiz dafür liefert auf den heutigen unverputzten Mauer-

Beim Emporengeschoss dominiert wiederum die Flä-

flächen der Materialwechsel gegenüber dem unteren Ge-

che des Mauerwerks. Die Gestaltung des Bauteils mittels

schoss. Der Stein des Emporengeschosses setzt sich nicht

Rundfenstern folgt einem Konzept, das sich in Frankreich

nur durch seinen tieferen Rotton von dem Stein des Um-

in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts beobachten

gangs ab, welcher aufgrund der weißlichen Einschlüsse

lässt, etwa an den Ostteilen von St. Etienne in Caen oder

vergleichsweise wolkig wirkt, sondern auch durch die

der Stiftskirche Notre-Dame in Mantes, so dass eine Ent-

seitlichen Löcher in den Blöcken, welche auf die Versatz-

stehung in zeitlicher Nähe zum Umgang suggeriert wird.

technik der Steinzange hinweisen, die bei der Errichtung

575 Kap. 4.2.1.

576 Die heutige Maßwerkbrüstung entstand erst 1880 (Maurer-Kuhn 2005, S. 243 mit Anm. 22)

135

4.3  ARTIFIZIELLE SCHICHTUNGEN

des Umgangs noch nicht zur Verfügung stand.577 Folglich

Gehört die Chorempore zum ursprünglichen Plan?

handelt es sich bei dem Bild des alten Bauteils, dessen

François Maurer-Kuhn publizierte 2005 die These, dass

Fenster später mit Maßwerk modernisiert wurde, wiede-

die Ostteile in der schließlich realisierten Form nicht dem

rum um eine Suggestion, denn vermeintlich alte und neue

ursprünglichen Wiederaufbauplan entsprächen, sondern

Formen entstanden in einem Zuge. Eine interessante wei-

aus einem Planwechsel während des Bauverlaufs her-

terführende Frage, die sich bei derzeitigem Kenntnisstand

vorgingen.579 Für das Verständnis des Konzepts macht

leider nicht beantworten lässt, wäre, inwiefern die alten

es einen Unterschied, ob die ausgeführte Weise von Be­

Formen des Emporengeschosses die vorherige Baugestalt

ginn an geplant war oder nicht, denn der Inszenierung

­ ormen widerspiegeln und inwieweit der Baumeister alte F

der Tradition des Ortes würde jeweils ein anderer Stel­

frei nachempfand. Angesichts der zeitlichen Nähe der

lenwert beigemessen. Im Falle einer nachträglichen

vorausgehenden französischen Bauten scheint es gut

Plan­ änderung hätte die neue Architektur ursprünglich

möglich, dass das Emporengeschoss, welches Anfang des

stärker in Erscheinung treten sollen. Bei einer Planung,

13. Jahrhunderts errichtet wurde, jedoch das Erdbeben

die von Anfang an eine sublime Verzahnung von Alt

nicht überstand, ebenfalls Rundfenster besaß, so dass die

und Neu vorsah, wären die Spuren der Vergangenheit

alten Formen der Empore in Anlehnung an das zerstörte

gegenüber gleichwertig gewichtet worden. Nach dem­

Bauteil errichtet wurden. Eine derartige, quasi rekonstru-

Maurer-Kuhn hätte man im ursprünglichen Konzept auf

ierende Vorgehensweise wählte man schließlich erwiese-

die Empore verzichten wollen, die Ostteile ansonsten

nermaßen auch für den Wiederaufbau der Krypta.578

aber identisch ausgeführt, so dass die Verglasung des

Damit lässt sich der Aufbau der Ostteile von außen

Obergaden bereits über dem Umgangsgeschoss angesetzt

analog zum inneren Wandaufriss im Chor lesen. Dem

hätte. Alt und Neu wären in diesem Fall ohne die Ver­

vermeintlich unberührten und damit ursprünglichen Um-

mittlung der Empore hart aneinandergestoßen, was dem

gangsgeschoss steht der zeitgenössische Obergaden di-

Entwurf eine andere Aussagekraft verliehen hätte, denn

alektisch gegenüber. Das Emporengeschoss dazwischen

die sinnbildliche Überlagerung von Alt und Neu wäre

nimmt wiederum die vermittelnde Position ein, indem

ausgeblieben. Das einzige Argument, das Maurer-Kuhn

es vorgibt, ein alter Bauteil zu sein, der jedoch partiell

allerdings für seine These anführt, sind Falzen an den

modernisiert wurde und dadurch formal zum Obergaden

Pfosten des Maßwerkschleiers der Empore, welche seines

überleitet. Tatsächlich errichtete man jedoch das kom-

Erachtens für die Aufnahme von Glasfenstern bestimmt

plette Emporengeschoss nach 1356, so dass es sich folg­lich

gewesen seien.580

wie im Innenraum um eine raffinierte Suggestion handelt,

Einen zwingenden Beweis liefern die Falzen allerdings

bei der die Dialektik von Alt und Neu planvoll inszeniert

nicht, denn das Stabwerk wurde bekanntlich nach stan-

wird.

dardisierten Schablonen fabriziert. Es ist fraglich, ob im

Freilich differiert die Relation von Alt und Neu am

Vorfeld überhaupt erkannt wurde, dass eine Falz im mehr-

Emporengeschoss außen und innen und damit auch der

fach abgestuften Profil bautechnisch nicht notwendig

Grad der Erkennbarkeit. Während sich Alt und Neu im

wäre. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, dann

Innenraum sichtbar überlagern, fügt sich das Neue an

stellt sich die Frage, warum man deshalb eine neue Scha-

der Außenfassade in die Struktur des Alten ein. Dies darf

blone entwerfen sollte – zumal die Falzen zur feingliedrig

jedoch nicht als qualitative Asymetrie missverstanden

differenzierten Ausbildung des Profils beitragen. Die Ge-

werden, denn der Baumeister traf die Wahl der Mittel in

samtstruktur des Maßwerks spricht hingegen dafür, dass

Abhängigkeit der jeweiligen Situation und zeigt damit

die Empore von vornherein geplant war, denn das Stab-

eine feine Sensibilität für den Kontext: Die Stufung der

werk ist schließlich in zwei Zonen unterteilt, wovon die

Bauteile am Außenbau stand einer direkten Verbindung,

untere sogar exakt auf die Höhe der realisierten Empore

wie sie im Inneren vollzogen wurde, entgegen. Stattdessen

abgestimmt ist. Abgesehen davon, dass der breite hori-

passte er das Maßwerk in die vorgeblich alten Rundfenster

zontale Trennstreifen zwischen den beiden Geschossen

ein und bereitet auf diese Weise das Maßwerk des Ober­

ohne geplante Empore keinen Sinn ergibt, stimmen Posi-

gadens über die Analogie der Struktur vor.

tion und Höhe des trennenden Streifens genau mit dem

577 Die Zange war insbesondere im 14. und 15. Jahrhundert zum Heben von Steinblöcken in Gebrauch (Binding/Nussbaum 1978, S. 78). 578 Kap. 4.2.1.

579 Maurer-Kuhn 2005, S. 239–248. 580 Ebd., S. 247.

136

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

­Ansatz des anstoßenden Emporendachs überein. Empore

haben. Die Inszenierung der Tradition des Ortes war keine

und Maßwerk müssen also schon im Vorfeld planerisch

Nebensache, sondern Kern des Entwurfs.

genau aufeinander abgestimmt worden sein. Maurer-Kuhn erkannte selbst, dass der horizontale

Resümee

Streifen seiner These von einem andersartigen ersten Plan

Der Wiederaufbau des Basler Münsters nach dem Erd-

widersprach und versuchte, den Widerspruch aufzulösen,

beben 1356 liefert ein eindrückliches Beispiel für eine In-

indem er die Zonierung des Maßwerks als Reminiszenz

szenierung von Spuren der Vergangenheit, die nachweis-

an die vormalige Empore interpretierte.581 Doch auch bei

lich planvoll erfolgte. Den eindeutigen Beweis liefert die

dieser hypothetischen Erklärung bleiben Fragen offen. Bei

Chorempore, welche komplett neu konstruiert wurde, je-

einem nachträglichen Anbau einer Empore hätten die Hö-

doch den Anschein erweckt, es wäre ein alter Bauteil, dem

hen kaum so exakt aufeinander abgestimmt werden kön-

in späterer Zeit ein kontrastierender Maßwerkschleier

nen, wie es realisiert wurde. Weiterhin wäre ein solches

vorgeblendet wurde. Das Bild der Überlagerung von Alt

Unterfangen von der Bauausführung mit Schwierigkeiten

und Neu wurde also artifiziell erzeugt und stellt folglich

verbunden gewesen, weil die Bögen der Arkatur vor dem

das Resultat eines gestalterischen Konzepts dar. Wirt-

vorhandenen Maßwerk hätten gemauert werden können,

schaftliche Gründe scheiden hingegen definitiv aus.

was nur schwer vorstellbar ist, ohne die filigrane Maß-

Die Ostteile zeigen die Abfolge »alt (Umgang) – alt

werkstruktur zu beschädigen. Außerdem ergibt das äußere

und neu (Empore) – neu (Obergaden)«, und zwar innen

Strebewerk nur im Zusammenhang mit dem Emporenge-

ebenso wie außen. Auf diese Weise entsteht der Eindruck,

schoss einen Sinn. Ein Verzicht auf die Chorempore hätte

dass alte und neue Architektur in einem ausgewogenen

das statische Gesamtgefüge der Ostteile geändert, was

Verhältnis zueinander stehen. Tatsächlich entstand ein

zwingend eine andere Tragstruktur bedingt hätte. Ohne

großer Teil der alt wirkenden Formen jedoch nach 1356.

Empore wären sowohl die Obergadenwand als auch die

Neben der kompletten Neuanlage der altertümlichen

Strebepfeiler instabil gewesen,582 so dass der Rekonstruk-

Empore wurde auch der eigentliche Chorumgang, also der

tionsvorschlag von Maurer-Kuhn auch aus statischer Sicht

Weg um den Binnenchor, in altem Stil neu angelegt, wäh-

bedenklich erscheint. Wenn die untere Maßwerkzone tat-

rend zuvor eine offene Verbindung zum tieferliegenden

sächlich für eine Verglasung vorgesehen gewesen wäre,

Kryptaumgang bestand. Das gesamte Spiel von Alt und

hätte man zu diesem Zeitpunkt längst auch Teile einer an-

Neu folgt somit der sorgfältigen Inszenierung des Bau-

dersartigen Tragstruktur realisiert haben müssen, um die

meisters, welcher genau definierte, inwieweit die neuen

Standfestigkeit zu gewährleisten. Dafür gibt es jedoch kei-

Bauteile sich als neu zu erkennen geben oder alte Subs-

nerlei Anhaltspunkte. Vielmehr deutet die tragkonstruk­

tanz imitieren sollten. Berücksichtigt man zudem, dass

tive Struktur des Bestandes darauf hin, dass das Strebe-

andere Teile wie die Krypta und die Mittelschiffsgewölbe

werk von vornherein in der alten Form wiederhergestellt

in alten Formen rekonstruiert wurden,583 so lässt sich ein

wurde, was voraussetzt, dass die Empore von vornherein

ganzheitliches Bild der gestalterischen Konzeption gewin-

ein integraler Bestandteil des statischen Konzepts war.

nen. Das wahre Maß der vom Erdbeben hervorgerufenen

Somit sprechen letztlich mehrere Argumente gegen

Zerstörung sollte überspielt und der alte Zustand weitge-

die These einer andersartigen Ursprungsplanung, wohin­

hend zurückgewonnen werden. Die visuelle Inszenierung

gegen das einzige dafür angeführte Argument einer ge-

des Alters der Kirche stellt demzufolge einen Leitgedan-

nauen Prüfung nicht standhielt. Die These Maurer-Kuhns

ken der Wiederaufbaukampagne dar, welcher auch die

von einem ursprünglich anderen Plan muss folglich zu-

Neudisposition des Chorumgangs subsumiert wurde. Das

rückgewiesen werden. Das sublime Zusammenspiel von

erkennbar Neue konzentriert sich hingegen auf die beiden

Alt und Neu war demnach von vornherein intendiert. Das

oberen Geschosse des Chores, wobei nur der Obergaden

verdeutlicht, welchen enormen Stellenwert der Erhalt und

ausschließlich neu gestaltet wurde.

die künstliche Konstruktion von Spuren der Vergangen-

Die absichtsvolle Kontrastierung von Alt und Neu kul-

heit, die die Geschichte der Kirche sichtbar machen, beim

miniert in der Überblendung der beiden Sphären auf Höhe

Wiederaufbau der Basler Bischofskirche eingenommen

der Empore, wo zwar real keine alte Materie vorhanden ist,

581 Ebd., S. 240. 582 Es hätte bei horizontalen Lasten gegen die jeweilige Breitseite die Gefahr des Knickens der Wandflächen bestanden.

583 Kap. 4.2.1.

137

4.4  RESÜMEE: KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

aber die Existenz zweier Zeitschichten mittels einer archi-

teln zu Köln oder der Liebfrauenkirche zu Magdeburg die

tektonischen Dialektik suggeriert wird. Durch den schar-

gleiche Intention zugrunde lag. Vielmehr wäre überlegens-

fen Kontrast gewinnen die Schichten wechselseitig an

wert, ob nicht die älteren Beispiele bewusster Schichtun-

Kontur. Der »neue« Maßwerkschleier unterstreicht das »Al-

gen von Alt und Neu beim Wiederaufbau des Basler Müns-

ter« des Emporenraumes und umgekehrt. Zugleich nutzte

ters bekannt gewesen sind. Ein zeitlich wie konzeptionell

man die neuen Formen geschickt, um eine gestalterische

nahes Vorbild liefert der Ende der 1330er Jahre beginnende

Steigerung der Chorarchitektur von unten nach oben zu

Chorumbau der Kathedrale zu Gloucester in England, wo

bewirken, was im Kontext eines christlichen Kultraumes

man nicht nur die alten Chorseitenwände mit einer neuen

vielleicht auch symbolisch als Steigerung vom Irdischen

Maßwerkstruktur überzog, sondern auch die romanischen

zum Himmlischen interpretiert werden darf. Die schwe-

Bogenöffnungen schleierartig vom spätgotischen Maß-

ren Mauermassen der unteren Geschosse lösen sich in

werk überlagert wurden (vgl. Abb. 3.06).585 Der entschei-

ein feines Maßwerkgitter auf, welches das Licht über den

dende Unterschied liegt darin, dass in den genannten Bei-

vergleichsweise dunklen Umgangsräumen effektvoll von

spielen tatsächlich eine neue Struktur vor eine alte gefügt

oben in den Chorraum herunter strömen lässt. Der verant-

wurde, während dieser Eindruck in Basel auf Suggestion

wortliche Baumeister nahm folglich weitaus größeren Ein-

basiert. Insofern stellt Basel gewissermaßen eine Weiter-

fluss auf die Gestaltung der Ostteile, als es auf den ersten

entwicklung im Hinblick auf Konzepte architektonischer

Blick scheint, was auch eine wichtige Erkenntnis für das

Vergangenheitsinszenierung dar.

Verständnis architektonischer Konzepte zumindest zur

In der alten Literatur wurde das Nebeneinander von

Mitte des 14. Jahrhunderts liefert. Johannes von Gmünd,

Alt und Neu nicht als gewolltes Konzept wahrgenom-

welchem als schriftlich bezeugtem erstem Baumeister die

men.586 Das Unverständnis schwingt selbst noch bei

Urheberschaft des Entwurfs zugesprochen werden muss,

François Maurer-Kuhn mit, der zwar wichtige Erkennt-

gewinnt damit an Kontur. Mit dem wahrscheinlich der

nisse über die Imitation alter Formen am Basler Müns-

berühmten Baumeistersippe der Parler entstammenden

ter, ins­besondere in der Krypta, publizierte, aber dennoch

Johannes, der sich wohl auch für den Entwurf des Lang-

meinte, dass die »Neuerungen« am Emporengeschoss

chores des Freiburger Münsters verantwortlich zeichnet,

»den romanischen Bau vergessen lassen«587 und damit die

ist demnach eine außergewöhnliche Architektenpersön-

absichtsvolle Inszenierung des Alters negiert. Peter Kur-

lichkeit des mittleren 14. Jahrhunderts greifbar.584

mann gebührt das Verdienst, diese Sichtweise als Erster

Argumentationstheoretisch kommt dem Fallbeispiel

hinterfragt zu haben.588 Die hiesige Untersuchung belegt

Basler Münster eine Schlüsselrolle zu. Wenn für den dorti-

nun eingehend, dass die Spuren der Vergangenheit im

gen Wiederaufbau nach 1356 zweifelsfrei belegbar ist, dass

Basler Münster planvoll inszeniert wurden und gerade

es sich um eine bewusste Inszenierung von Spuren der Ver-

dem Emporengeschoss dabei eine wichtige Rolle zu Teil

gangenheit handelt, dann kann nicht ausgeschlossen wer-

wird, indem das Alte vor der Folie des Neuen überhaupt

den, dass ähnlich gelagerten Konzepten wie bei St. Apos-

erst als alt gekennzeichnet und sichtbar gemacht wird.

4.4 Resümee: Künstliche Spuren der Vergangenheit Trotz seines exemplarischen Charakters lässt der vorange-

zeugt wurde. Vielfach lassen sich verschiedene Kategorien

gangene Überblick eine überraschende Häufung und Di-

von Konstrukten im selben baulichen Zusammenhang

versität künstlicher Spuren der Vergangenheit erkennen,

nachweisen, was beweist, dass es nicht um Einzelstücke,

die von der Imitation alter Formen bei kleinen Werkstücken

sondern größere architektonische Konzeptionen ging. Im

bis hin zu ganzen architektonischen Konzepten reicht, bei

Dom zu Speyer oder dem Mainzer Dom wurden zum Bei-

denen das Bild einer zeitlichen Schichtung artifiziell er-

spiel sowohl alte Gewölbe- als auch alte Kapitellformen re-

584 Zur Baumeister-Frage: Maurer-Kuhn 2005, S. 232f; Kurmann 2004, S. 92. 585 Kap. 3.3. 586 Auf Hans Reinhardt etwa wirkte der Kontrast »gewaltsam« (Ders. 1961, S. 33).

587 Maurer-Kuhn 2005, S. 243. 588 Kurmann 2004.

138

4  KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

trospektiv realisiert. In St. Denis wie auch im Münster zu

erst vor der Folie der jüngeren Formen der Chorempore

Basel wiederum stehen die Imita­tionen alter Formen im

alt wirken, eine Erinnerungsfunktion an die aufgegebene

Zusammenhang mit Konzepten artifizieller Schichtungen.

Krypta des Vorgängerbaus zu. Auch in dieser Hinsicht ist

Teilweise knüpfen die retrospektiven Konzepte an

eine konzeptionelle Nähe zu St. Denis unverkennbar.

älte­re, teils nicht vollendete Baukampagnen an und füh-

Während bei vorgenannten Beispielen also die Dia-

ren deren Struktur fort. Im Mainzer Dom griff man die

lektik von Alt und Neu in unterschiedlicher Weise zum

Formen der bestehenden Langhausteile zu späterer Zeit

bau­lichen Konzept gehörte, standen derartige Gedanken

wieder auf und beim Bau des Halberstädter Domlanghau-

beim Neubau des Langhauses von S. Lorenzo fuori le

ses setzte man die über ein Jahrhundert älteren Westjoche

mura nicht im Vordergrund, denn es wurde in retrospek-

fort. In anderen Fällen wurden zerstörte Bauteile in alten

tiven Formen erbaut. Statt einen Kontrast zu erzeugen,

Formen wiederaufgebaut, so etwa im Speyerer Dom oder

wurde auf diese Weise die Einheitlichkeit mit dem alten

im Basler Münster. In keinem Fall kam es jedoch zu einer

Langhaus, das in Folge des Umbaus zum Chor umfunk-

reinen Nachahmung des Alten, sondern stets zur Umset-

tioniert wurde, betont. Die Imitation alter Werkstücke ge-

zung eines neuen Konzepts, bei dem das Verhältnis von

lang in der Konsequenz so gut, dass sie lange Zeit nicht

Alt zu Neu auf unterschiedliche Weise und in unterschied-

als solche erkannt wurden. Die im Vergleich mit den nord­

lichem Maße thematisiert wurde.

alpinen Beispielen stärkere Gewichtung des Alten mag

In St. Denis wurde kein älterer Plan fortgeführt, sondern ein neues Konzept für die Ostteile einheitlich umge­

mit der identitätsstiftenden, aus der Antike herrührenden frühchristlichen Tradition Italiens zusammenhängen.

setzt. Obwohl das Krypta- und das Chorgeschoss inner-

Im Bereich des deutsch-römischen Kaiserreichs sieht

halb nur weniger Jahre zusammen errichtet wurden,

es insgesamt betrachtet so aus, als würde die Bereitschaft

wirken ihre Formen, als entstammten sie verschiedenen

und der Wille, Spuren der Vergangenheit planvoll zu kons-

Zeiten. Diese artifizielle Schichtung, die Konzepten der

truieren oder zu rekonstruieren, im Laufe des Mittelalters

Inszenierung von originalen Spuren der Vergangenheit

tendenziell zunehmen – und damit einhergehend der Grad

stark ähnelt,

kann im Sinne einer gestalterischen Hierar­

an Originaltreue. Während sich im Chor des Speyerer

chisierung der Räume gelesen werden. Zugleich verweist

Doms aus dem späten 11. Jahrhundert und auch noch im

sie auf die alte Krypta, die im Kern integriert wurde, und

Langhaus des Mainzer Doms aus dem späten 12. Jahrhun-

damit auf die altehrwürdige Tradition des Ortes.

dert die neuen Teile im alten Gewand – für einen Kenner

589

Selbst bei kompletten Neubauten konnte es zu einer

mittelalterlicher Bauformen – relativ gut von den original

Konstruktion von Spuren der Vergangenheit kommen.

älteren Formen unterscheiden lassen, so ist man bei der

Während die Retrospektivität beim Neubau des Bamberger

Baukampagne des späten 14. Jahrhunderts in Basel auf

Doms im 13. Jahrhundert bekanntermaßen zum architekto-

eine sehr genaue Analyse angewiesen, um die Imitationen

nischen Programm gehörte, mag es manchen überraschen,

alter Formen als solche zu entlarven. Als hilfreich erwei-

dass sich selbst bei einem dezidiert progressiven Bau wie

sen sich hierbei bewusst angelegte Interferenzen, welche

der Trierer Liebfrauenkirche Imitationen alter Formen

den alten Teilen subtil eine jüngere Note verleihen. Bei der

nachweisen lassen. Die dort anzutreffende Imitation alter

Modernisierung des südöstlichen Querhauses des Doms

Fenster steht nicht im Zusammenhang mit alter Bausub­

zu Münster um 1500 ging die Imitation der alten Formen

stanz der Kirche selbst, denn davon blieb beim Neubau

sogar soweit, dass diese nur noch aufgrund der abwei-

nichts erhalten, sondern mit dem altehrwürdigen Trierer

chenden Steinmetztechnik überhaupt als spätere Arbeiten

Dom, der Mutterkirche in unmittelbarer Nachbarschaft.

identifizierbar sind. Das Bild einer neuen Front vor einem

Im Magdeburger Dom erwecken die Formen der

alten Querhaus wurde folglich planvoll konstruiert.

Chorumgangsgeschosse den Eindruck einer zeitlichen

Die rekonstruierenden Ansätze erinnern formal an Po-

Schichtung, was in der älteren Literatur – wie in St. Denis

sitionen moderner Denkmalpflege, doch heißt dies nicht,

– stilge­schichtlich erklärt wurde, aber wohl stattdessen –

dass die gleichen Intentionen zu Grunde lagen. Es gibt

wie ebenfalls in St. Denis – als gestalterische Hierarchisie-

keinen Hinweis darauf, dass man den Kirchenbauten im

rung der Räume verstanden werden muss. Darüber hin-

Mittelalter einen Eigenwert als kulturelle Zeugnisse ein-

aus kommt dem Chorumgang, dessen Formen überhaupt

räumte, dass historische Architektur also um ihrer selbst

589 Kap. 3.4.

139

4.4  RESÜMEE: KÜNSTLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

Willen bewahrt wurde. Im jeweiligen architektonischen

Das Bild einer linearen Stilentwicklung, von dem viele

und historischen Kontext betrachtet, beziehen sich Imi-

primär stilkritische Arbeiten ausgingen, gibt die Realität

tationen alter Formen vielmehr auf die Tradition des

mittelalterlichen Bauens somit unzulässig vereinfacht

Ortes mit ihren unterschiedlichen Sinnschichten, deren

wieder und führt in manchen Fällen zu falschen Datie-

form­ bestimmende Wirkung auf die Kirchenarchitektur

rungsansätzen. Die Möglichkeit, dass unterschiedliche

beispielsweise für St. Denis oder den Magdeburger Dom

Formen zur selben Zeit am selben Ort erstellt wurden und

nachgewiesen wurde.590

darüber hinaus sogar bewusst alte Formen imitiert wur-

Eine Besonderheit, die in diesem Untersuchungsrah-

den, muss somit künftig stärker berücksichtigt werden.

men argumentativ bedeutsam ist, kennzeichnet die seit

Beispielsweise wurde die artifizielle horizontale Schich-

Mitte des 14. Jahrhunderts laufenden Baukampagnen am

tung von Alt und Neu in St. Denis und im Magdeburger

Basler Münster und am Halberstädter Dom. Den jewei­

Dom in der älteren Literatur monokausal stilgeschichtlich

ligen Baumeistern war offenbar daran gelegen, die Imita­

erklärt, was jedoch Fragen und Widersprüche aufwarf. Die

tionen älterer Formen als Nachahmungen späterer Zeit

Dekonstruktion des stilgeschichtlichen Mythos St. Denis

für den aufmerksamen Betrachter kenntlich zu machen,

begann schon in den 1980er Jahren, die Revision der ar-

denn sie legten gezielt punktuelle Interferenzen retrospek­

chitekturgeschichtlichen Einordnung des Magdeburger

tiver und dezidiert zeitgenössischer Formen an. In der

Doms ist seit einigen Jahren im Gange. In anderen Fällen,

Basler Münsterkrypta verraten feingliedrige spätgotische

wie etwa dem Mainzer Dom, wurde noch in jüngerer Zeit

Durchdringungen an den Punkten, wo die alt wirkenden

eine rein stilgeschichtliche Erklärung der alten Formen

Rippen auf die noch älter wirkenden Pfeiler aufsetzen,

versucht, die im Licht dieser Untersuchung diskussions-

dass es sich um eine Rekonstruktion des alten Raumes

würdig erscheint.

handelt (vgl. Abb. 4.26).591 Im Langhaus des Halberstädter

In einigen Fällen war auch der älteren, stilgeschicht-

Doms markiert eine ähnliche Durchdringung von fein-

lich dominierten Literatur aufgrund des baulichen Kon-

gliedrigen Profilen am Scheitelpunkt eines Arkadenbo-

textes klar, dass die ältere Form nicht aus einer linear

gens den Anschlusspunkt zwischen alten und neuen, aber

fortschreitenden Stilentwicklung resultieren kann. Ein

nach altem Muster erstellten Jochen (vgl. Abb. 4.19).592

Bei­spiel auf der Ebene architektonischer Details liefern

In beiden Fällen lassen sich die Forminterferenzen

die altertümlichen Vierungsfenster der Liebfrauenkirche,

nicht mit mangelnder Kenntnis der Baumeister erklä-

wo die ältesten Formen im gezwungenermaßen jüngsten

ren. Sie belegen im Gegenteil, dass jeweils gezielt in alten

Bauteil sitzen. Dort und in vergleichbaren Fällen ver-

­Formen gearbeitet wurde, man das zeitgemäße Vokabu-

suchte man den Widerspruch zu lösen, indem man dem

lar aber sehr wohl beherrschte. Diese Erkenntnis ergibt

betreffenden Baumeister oder Bildhauer Unvermögen

sich jedoch auch zwingend aus den genannten Fällen, in

und Unkenntnis unterstellte. Diese Annahme scheint

­denen alte und neue Formen nachweislich zur gleichen

aber gerade bei einem architektonisch in vielerlei Hin-

Zeit entstanden, wie etwa beim Bamberger Dom.

sicht höchst anspruchsvollen und bautechnisch dezidiert

Damit war zu beweisen, dass die Baumeister und Bildhauer des hohen und späten Mittelalters nicht nur eine

progressiven Bauwerk wie der Trierer Liebfrauenkirche absurd, wenn nicht sogar ignorant.

differenzierte Kenntnis historischer Formen ­ besaßen,

Die dargelegten Beispiele belegen zu Genüge, dass

sondern diese auch gezielt einsetzten, teilweise in erheb-

­retrospektive Formen in manchen Fällen als integraler Be-

lichem Umfang. Die Konstruktion von Spuren der Ver-

standteil zum baulichen Konzept gehörten. Dafür spricht

gangenheit beschränkte sich jedoch nicht nur auf Detail-

auch, dass die Konstruktion von Spuren der Vergangen-

formen, sondern konnte das gesamte bauliche Konzept

heit oftmals mit einer Integration originaler Bausub­stanz

weitgehend bestimmen. In Basel ist die raffinierte Schich-

einherging und/oder in ein inszenatorisches Gesamtkon-

tung von Alt und Neu gänzlich artifiziell erzeugt worden.

zept eingebunden war. Die Konstruktion von Spuren der

Der Bauteil imitiert im Ganzen Architekturen, in denen

Vergangenheit gehörte somit vielfach zu einem übergrei-

die Schichtung originaler Altsubstanz und neuer Bausub­

fenden Konzept, dass anscheinend auf eine Visualisierung

stanz inszeniert wurde.593

der Tradition des Ortes abzielte.

590 Horn 2015a; Albrecht 2003. 591 Kap. 4.2.1.

592 Ebd. 593 Kap. 3.4.

140

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

5.1 Die Metamorphose alter Kirchenbauten 5.1.1 Gewachsene Kirchenbauten als methodisches Problem

Der Trierer Dom stellte bereits im 13. Jahrhundert stilistisch ein Konglomerat aus Teilen einer rund 1000-jäh­ rigen Baugeschichte dar (vgl. Abb. 2.04). Als Sitz der mäch-

Einen wichtigen Bestandteil der architekturhistorischen

tigen Trierer Erzbischöfe und Herberge des heiligen Rocks

Literatur bilden Überblickswerke, in denen ausgewiesene

Christi zählte die älteste und zeitweise größte Bischofs­

Fachleute die unzähligen spezifischen Einzelstudien re­

kirche Mitteleuropas, die aus dem Palast der heiligen Kai-

sümieren, Zusammenhänge herausarbeiten und so ein

serin Helena, Mutter Konstantins des Großen, hervorge-

umfassendes Bild einer Epoche skizzieren. Die Bedeutung

gangen sein soll, zu den religiös, politisch und kulturell

solcher übergreifender Darstellungen ist nicht zu unter-

bedeutsamsten Kirchenbauten im mittelalterlichen Im-

schätzen: Sie werden von den Studierenden der Kunstge-

perium. Trotzdem widmete zum Beispiel Wolfgang Kaiser

schichte zum Einstieg herangezogen, dienen interessier-

dem Trierer Dom in seinem vierzigseitigen Aufsatz über

ten Laien zur Allgemeinbildung und bieten vor allem

»Romanische Architektur in Deutschland« nur zwei Sätze,

fachfremden Forschern einen interdisziplinären Anknüp-

die sich obendrein auf die Westfassade beschränken,595

fungspunkt. Insofern bilden sie eine Schnittstelle von der

dabei wirkte der Dom doch in seiner gesamten Gestalt auf

Fachwelt zu einer breiteren Öffentlichkeit und prägen

den Betrachter, so dass die neuen Westteile ohne Berück-

auf diese Weise die Außenwahrnehmung des Faches und

sichtigung des alten Quadratbaus im Osten letztlich un-

seiner Inhalte. Darüber hinaus entfalten sie aber auch in-

verständlich bleiben.596

nerhalb der kunsthistorischen Forschungsgemeinschaft

Im Gegensatz dazu fehlt der im 13. Jahrhundert errich-

teils eine erhebliche Wirkung, wenn Sie eine allgemein ak-

tete Neubau der benachbarten Trierer Liebfrauenkirche in

zeptierte Summe des Forschungsstands bilden und damit

keinem Übersichtswerk zur Gotik in Deutschland, weil er

eine Basis schaffen, auf der wiederum neue Einzelstudien

zu den frühesten Beispielen für die Übernahme des goti-

aufbauen. Als beliebiges Beispiel sei das 1985 erschienene

schen Bausystems im Bereich des Kaiserreichs zählt (vgl.

Überblickswerk »Die gotische Architektur in Frankreich

Abb. 4.31). Historisch gesehen war die Liebfrauenkirche

1130–1270« von Dieter Kimpel und Robert Suckale ange-

jedoch als integraler Bestandteil des Domkomplexes bis

führt, das noch heute nicht nur in Deutschland den Maß-

ins 19. Jahrhundert hinein der Bischofskirche untergeord-

stab für die Beschäftigung mit dem Thema bildet.594

net und diente, überspitzt formuliert, als dessen Marien-

Bei der Durchsicht der einschlägigen Publikationen

kapelle. Damit lässt sich zwischen dem Dom und seiner

zur mittelalterlichen Architektur fällt allerdings auf, dass

Marienkirche ein Chiasmus von historischer Bedeutung

in der Regel einige bedeutsame Bauwerke der jeweiligen

und architekturgeschichtlicher Wahrnehmung konstatie-

Epoche fehlen. In der Regel konzentrieren sich die Bücher

ren, der das geläufige Bild von den beiden Kirchen im Mit-

auf Neubauprojekte, während Kirchenbauten, die sich auf

telalter stark verzerrt.

andere Weise weiterentwickelten, wenig beachtet werden.

Das ehemalige Essener Münster, Kirche eines der

So finden stilistisch heterogene Gebäude ungeachtet ihrer

tra­ ditionsreichsten und vornehmsten Frauenstifte im

historischen Bedeutung kaum Berücksichtigung.

deutsch-römischen Reich, findet hingegen in Überblicks-

594 Kimpel/Suckale 1985. 595 Kaiser 1996, S. 44.

596 Horn 2015a, S. 36–40, 57–63.

141

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

werken zur Gotik keine Beachtung. So bezieht sich zum

schichte einnehmen, wie die Trierer Liebfrauenkirche als

Beispiel die einzige Erwähnung des Essener Münsters

erster gotischer Bau in Deutschland. Demgegenüber er-

im Standardwerk »Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik«

scheinen Bauwerke wie der Trierer Dom aus stilgeschicht-

von Norbert Nussbaum ausgerechnet auf dessen spätotto­

licher Perspektive als heterogene Konglomerate, welche

nische Teile.597 Generell bestimmen die spätottonischen

sich nicht in die gängigen Schubladen einordnen lassen.

Gebäudeteile die architekturgeschichtliche Einordnung

In solchen Fällen konzentrierte sich die Forschung zu-

des Gebäudes, das infolgedessen als »ottonisch« wahrge-

meist auf einen stilreinen Gebäudeteil, welcher folglich

nommen wird, obgleich der weitaus größere Teil des Be-

vom architektonischen und historischen Gesamtkontext

stands »gotisch« ist und das Münster auch ungeachtet

isoliert untersucht wurde, wie beispielsweise die Westfas-

seiner historischen Bedeutung aufgrund des frühen Hal-

sade des 11. Jahrhunderts.

lenchores architekturgeschichtlich von Interesse wäre. Die

Die genannten Beispiele verdeutlichen hinlänglich,

gängigen fotografischen Darstellungen des Essener West-

dass eine Überbetonung von Neubauprojekten die histo­

baus veranschaulichen die buchstäblich verengte Sicht-

rische Realität mittelalterlicher Baukultur unzulässig ver-

weise der Forschung, denn die gotische Substanz wird in

kürzt, denn die architektonische Entwicklung erfolgte of-

der Regel ganz ausgeblendet (vgl. Abb. 2.02; 2.12). Insofern

fenbar auch auf andere Art und Weise. Neben radikalen

wurde die Bedeutung des Westbaus in der Literatur zwar

Neubauten, wie man sie von den Kathedralen in Köln und

seit Langem diskutiert, jedoch wird erst seit Kurzem dar-

Magdeburg kennt, gab es auch zahlreiche Bauten, an de-

über nachgedacht, was die Bewahrung des Westbaus im

nen wiederholt partielle Veränderungen vorgenommen

Rahmen des gotischen Umbaus bedeutet, zu dessen Kon-

wurden, so dass sich deren Gestalt im Laufe der Jahrhun-

zept die Integration der alten Teile genauso gehörte wie

derte zum Teil deutlich wandelte. Um ein umfassenderes

die Errichtung neuer Teile.598

Bild der mittelalterlichen Baukultur zu gewinnen, gilt es

Die Beispiele für gewachsene, jedoch historisch be-

folglich, den Prozess quasi kontinuierlicher architektoni-

deutsame Bauwerke, die aufgrund ihrer sukzessiven bau-

scher Wandlungen als gleichwertigen, festen Bestandteil

lichen Entwicklung nur begrenzt oder auch gar nicht in

anzuerkennen.

die gängigen stilgeschichtlichen Schablonen passen und

Dabei lassen sich die beiden grundsätzlichen Ent-

deshalb in den Überblickswerken keine adäquate Berück-

wicklungsmodelle – Neubau und kontinuierliche Wand-

sichtigung finden, ließe sich fortführen, man denke zum

lung – nicht immer eindeutig trennen. Mancherorts über-

Beispiel an St. Gereon in Köln oder die Dome zu Bremen

lagern sie sich sogar, wie beim Bonner Münster, wo ein

und Merseburg (vgl. Abb. 2.41; 2.36–2.38). Aber auch Bau-

bis mindestens in das 6. Jahrhundert zurückreichender

werke, die einen festen Platz in der Architekturgeschichte

Sakralbau zunächst nach der Mitte des 11. Jahrhunderts

haben, wie etwa die Münster zu Basel, Freiburg und Straß-

einem to­talen Neubau weichen musste,599 dessen einzelne

burg oder die Katharinenkirche zu Oppenheim, bestehen

Gebäudeteile wiederum in einem dynamischen Wand-

aus stilistisch unterschiedlichen Gebäudeteilen, so dass

lungsprozess bis in das 13. Jahrhundert hinein sukzessive

eine eindimensionale stilgeschichtliche Einordnung den

erneuert wurden,600 so dass bereits zwei Jahrhunderte

Bauwerken im Ganzen betrachtet nicht gerecht werden

später nur noch ein vergleichsweise geringer Teil des sali-

kann (vgl. Abb. 2.19; 2.31; 2.32).

erzeitlichen Neubaus vorhanden gewesen ist, der aber bis

Warum bestimmte Kirchenbauten in den Überblicks-

heute er­halten blieb (vgl. Abb. 6.05).601 Die schnelle Folge

werken thematisiert werden, erklärt sich durch den pri-

der architektonischen Wandlung innerhalb der von der

mären methodischen Zugriff auf den Gegenstand der

neuzeitlichen Forschung als Romanik umrissenen Zeit-

Untersuchung, denn die Ordnung folgt hauptsächlich

spanne mag dafür verantwortlich sein, dass das Bonner

stilgeschichtlichen Kriterien. Somit stehen z­ wangsläufig

Münster im Ganzen als romanischer Bau erfasst und be-

stilreine Gebäude im Fokus, wobei vor allem die Bauwer­ke

handelt wird – trotz der tatsächlich partiell verlaufenden

interessieren, die eine besondere Stellung in der Stilge-

Entwicklung.

597 Nussbaum 1985, S. 42. 598 Horn 2015a, S. 156–168, 179–186; Lange 2008; Leenen 2008. 599 Kap. 6.2. 600 Zur hochmittelalterlichen Baugeschichte: von Winterfeld 2001, S. 110f (Überblick), Kubach/Verbeek 1976, S. 110–116.

601 Zum Bau des 11. Jahrhunderts zählt noch der westliche Teil der Krypta, der untere Teil der Langchorseitenwände sowie der später ummantelte Westchor im Kern.

142

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

Es zeigt sich somit, dass die Diskussion mittelalterli-

Wenn demgegenüber beispielsweise nur der Chor einer

cher Baukultur differenziert erfolgen muss, um die Abstu-

Kirche durch einen neuen ersetzt wird, bleibt hingegen die

fungen und Durchdringungen zwischen den vermeintlich

architektonische Identität des Gebäudes dieselbe. Schließ-

gegensätzlichen Entwicklungsmodellen Neubau und kon-

lich handelt es sich bei der Kirche nach dem Chorumbau

tinuierliche Wandlung wie auch den jeweiligen Grad der

nicht um ein substanziell anderes Bauwerk als zuvor. Viel-

quantitativen und qualitativen Variation zu erfassen. Die

mehr handelt es sich um dasselbe Gebäude, nur eines sei-

architekturgeschichtliche Forschung hat bereits Schritte

ner Teile hat sich verändert. Wenn nun in späterer Zeit

in diese Richtung getan,602 doch der Weg ist noch weit.

ein anderer Teil, zum Beispiel der Westbau, erneuert wird, bleibt die Identität des Bauwerks in Relation zur Bauge-

5.1.2 Begriffliche Bestimmungen

stalt vor Baubeginn weiterhin gewahrt. Wiederum liegen vor und nach der Baukampagne keine zwei substanziell

Um die wissenschaftliche Handhabung mit dem Prozess

verschiedenen Gebäude vor, sondern lediglich ein Teil des

schrittweiser architektonischer Wandlung zu erleichtern,

Gebäudes hat seine Gestalt gewandelt. Wenn sich diese

aber auch um das Phänomen präsenter zu machen, muss

Vorgänge über einen längeren Zeitraum mehrfach wieder-

es begrifflich prägnant gefasst werden. Zu diesem Zweck

holen, kann sich die Gestalt der Kirche zum Zeitpunkt X

wird hier der Terminus »Metamorphose«, der eine formale

von der Gestalt zum Zeitpunkt Y komplett unterscheiden,

Wandlung bezeichnet, vorgeschlagen. Die Assoziationen,

ohne dass die Kirche jemals ganz niedergelegt und durch

die der Begriff weckt – seien es Erzählungen der antiken

einen Neubau ersetzt wurde. Dieser Prozess architektoni-

Mythologie oder biologische Prozesse bei Insekten –, ver-

scher Gestaltwandlung bei gleichzeitiger Wahrung der bau-

anschaulichen das mittelalterliche Architekturphänomen

lichen Identität sei als Metamorphose definiert.

bildhaft. Die Gestalt der Wesen wandelt sich, doch ihre

Auf diese Weise können zwei Prozesse grundsätzlich

Identität bleibt dieselbe. Wenn Zeus sich in einen Stier

unterschieden werden, die fest in der mittelalterlichen

verwandelte, so blieb er Zeus. Analog dazu wandelte sich

Baukultur verankert waren: Neubauten, die eine alte Kir-

die architektonische Gestalt der Kirchen, ohne dass sich

che komplett ersetzten, und Metamorphosen, bei denen

ihre Identität änderte.

sich die Gestalt der Kirche über einen längeren Zeitraum

Legt man definitorisch die Institution »Kirche« zu-

hinweg wandelte, ohne dass die Kirche jemals im G ­ anzen

grunde, dann handelt es sich bei Neubauprojekten um

niedergelegt wurde. Bei Metamorphosen ergibt sich ein

eine besondere Form der Metamorphose. Der Kölner Dom

räumlicher Bezug zur Geschichte schon aus definitori-

existierte als Institution unverändert weiter, unabhängig

schen Gründen. Würde an einem anderen Ort gebaut,

davon, dass die alte Basilika durch die gotische Kathed-

so wäre es keine Metamorphose des alten Kirchenbaus.

rale gänzlich ersetzt wurde. Um jedoch die Prozesse mittel­

In den folgenden Kapiteln werden verschiedene Formen

alterlichen Bauens differenzierter bezeichnen zu können,

der Metamorphose differenziert. Als Kriterium der Unter-

beschränkt sich der Begriff »Metamorphose« im Folgen-

scheidung bietet sich die räumliche Relation zu älteren

den auf das Bauwerk »Kirche«, also auf die materielle Sub-

Bauzuständen an.

stanz und ihre räumliche Dimension, und bezieht sich nicht auf die Institution »Kirche«.

5.1.3 Das Matroschka-Prinzip

Bei einem Neubau wird ein älteres Gebäude komplett durch ein neues ersetzt, dessen Gestalt im Prinzip frei

Definition

definiert werden kann.

In einem solchen Fall entsteht

Bei der »Matroschka« handelt es sich um eine zusammen-

ein anderes Bauwerk mit einer eigenen architektonischen

steckbare Puppe, die in ihrem Inneren eine kleinere Puppe

Identität. Ein Neubau kann eindeutig von seinem Vor-

birgt, welche wiederum eine noch kleinere Puppe bergen

gängerbau unterschieden werden, denn es handelt sich

kann, und so weiter. Je nach Größe trägt die Matroschka

um zwei substanziell und physisch unterschiedliche Bau-

also eine Mehrzahl von Puppen in sich, bei denen die je-

werke.

weils größere die kleinere umhüllt. Bei manchen mittel­

602 In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die entsprechenden Arbeiten und Aufsätze von Stephan Albrecht, Dieter Kimpel/Robert Suckale, Bruno Klein, Peter Kurmann, Matthias Müller und des Verfassers verwiesen (siehe Kap. 1).

603 Tatsächlich beziehen sich auch komplette Neubauten im Mittelalter teils erheblich auf die Tradition des Ortes, wie an anderer Stelle gezeigt wird (Kap. 5.2). Für die hier vorgenommene begriffliche Differenzierung des Phänomens ist dies allerdings unerheblich.

603

143

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

5.01  Freiburg, Münster, Längsschnitt (grau: Vierung spätes 12./frühes 13. Jh.) alterlichen Sakralbauten, gleich ob es sich um Neubauten

neuen Westbaus), bei der man einen bestehenden Anbau,

oder Metamorphosen handelt, lässt sich bei epochenüber-

dessen Erbauung man Karl dem Großen zuschrieb, im

greifender Betrachtung der architektonischen Entwick-

neuen Gebäudeteil aufgehen ließ:

lung ein Prinzip beobachten, als dessen grundlegendes Merkmal die wiederholte Umhüllung des Bauwerks oder seiner Teile benannt werden kann. In bildlicher Analogie sei dieser architektonische Entwicklungsprozess als »Ma­ troschka-Prinzip« definiert. Darüber hinaus weckt die körperliche Relation des Bergens und Geborgenseins bei den Matroschka-Puppen

»Accessimus igitur ad priorem ualuarum introitum et deponentes augmentum quoddam, quod Karolo Magno factum perhibebatur […], ibidem manum apposuimus. Et quemadmodum apparet et in amplificatione corporis ecclesie et introitus et ualarum triplicatione, turrium altarum et honestarum erectione instanter desudauismus.«605

Assoziationen an eine werdende Mutter, die ein Kind in

Nur in seltenen Fällen gibt allerdings eine Schriftquelle

sich trägt. Die Symbolik des Bergens lässt sich, allerdings

darüber Auskunft, ob eine Kirche nach dem Matroschka-

mit umgekehrten Vorzeichen, auf den Kirchenbau übertra-

Prinzip gewachsen ist. Oftmals lässt sich das im Nach­

gen: Der jüngere, größere Leib der Kirche ­inkorpo­riert den

hinein nur durch die Überlagerung verschiedener Bauzu-

alten Kirchenraum und nimmt ihn bergend in sich auf.

stände im Grundriss erkennen. Was heute archäologische

Die Metapher von der Kirche als Körper war im Mittelalter

Befunde voraussetzt, war für den mittelalterlichen Augen-

durchaus gebräuchlich. Abt Suger nutzte im 12. Jahrhun-

zeugen einer Baukampagne jedoch visuell erlebbar. Es darf

dert in Bezug auf die Abteikirche St. Denis sogar die meta-

nicht übersehen werden, dass die Umhüllung der alten

phorische Dreiecksbeziehung der Begriffe Kirche – Körper

Bauteile zumeist dreidimensional erfolgte. Am Freiburger

– Mutter:

Münster lässt sich das noch heute nachvollziehen, weil

»corpore ecclesie beatissimorum martyrum Dyonysii, Rustici et Eleutherii, que nos quam dulcissime a mamilla usque in senectam fouit«.604

das gotische Langhaus gegenüber dem Vorgänger derart erhöht wurde, dass man auch den älteren Vierungsturm mit dem neuen Langhausdach überdeckte (Abb. 5.01). Metamorphosen verlaufen nach dem Matroschka-

An anderer Stelle schreibt Abt Suger von einer »Vergrö-

Prinzip, wenn ein neuer Gebäudeteil einen alten ersetzt,

ßerung des Körpers der Kirche« (»amplificatione corporis

indem der jüngere den älteren räumlich umhüllt. Wenn

ecclesie«) im Eingangsbereich (also der Errichtung des

dieses Verfahren über einen längeren Zeitraum konse­kutiv

604 Suger, administratione 2 (ed. Binding/Speer, S. 258). »vom ­Körper der Kirche der heiligsten Märtyrer Dionysisus, Rusticus und Eleu­ therius, die uns auf liebevollste Weise von der Mutterbrust bis ins hohe Alter gehegt hat« (dt. Übersetzung Verf.). 605 Suger, administratione 165f (ed. Binding/Speer, S. 318–320). »Wir gingen also an den vorderen Eingang mit Flügeltüren, und indem wir eine Erweiterung, von der man glaubte, daß sie von Karl dem

Großen gemacht worden sei […], darin aufgehen ließen, legten wir dort Hand an. Und wie es sich auch in der Erweiterung des Leibes der Kirche zeigt, so arbeiteten wir leidenschaftlich im Schweiße unseres Angesichts auch an der Verdreifachung des Eingangs und der türen und an der Errichtung hoher und ehrenvoller Türme.« (Dt. Übersetzung Binding/Speer).

144

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

5.02  Verden, Dom, Umrisse der gotischen Kirche mit Überlagerung der rekonstruierten Kirche des 12. Jh., unten links: erhaltener Kirchturm an verschiedenen Bauteilen angewandt wurde, kann sich

So deckt sich das gotische Sanktuarium des Kölner

die Gestalt der Kirche vollkommen ändern, ohne dass je-

Doms mit den Chören und Apsiden der vorherigen Bau-

mals ein kompletter Neubau angedacht war. Im nächsten

gestalten bis zurück in das 6. Jahrhundert und bildet auf

Kapitel wird eine derartige Metamorphose nach dem Mat-

diese Weise das Zentrum architektonischer Expansion.

roschka-Prinzip anhand einer über vier Jahrhunderte voll-

Bei der ehemaligen Stiftskirche St. Viktor zu Xanten kann

zogenen architektonischen Entwicklung des Frei­ burger

der Kern der architektonischen Entwicklung sogar genau

Münsters eingehend exemplifiziert. Analog zu langfristi-

im Bereich des westlichen liturgischen Chorbereichs ver-

gen Metamorphosen lässt sich auch bei Neubauten von

ortet werden, wo eine spätantike cella memoriae archäo-

einem Matroschka-Prinzip sprechen, wenn die neue Kir-

logisch nachgewiesen werden konnte,607 um die sich die

che den Vorgängerbau räumlich umhüllt. Prominente Bei-

heute als Xantener Dom bezeichnete Kirche sukzessive im

spiele für das Matroschka-Prinzip bieten die Neubauten

Verlauf von über 1000 Jahren entwickelte (Taf. 5.02).608 In

der Kathedrale von Reims und des Kölner Doms, deren

Xanten lässt sich überdies der Grund für die zentrumsfi-

unterschiedliche Bauzustände von der Spätantike bis in

xierte Entwicklung zweifels­frei benennen. Im Mittelalter

das 13. Jahrhundert bei der Überlagerung der Grundrisse

nahm man an, anscheinend einer frühchristlicher Tradi-

wie Schalen um einen inneren Kern liegen (Taf. 5.01).

tion folgend, dass sich die Gräber des heiligen Stiftspat-

606

Typisch für das Matroschka-Prinzip ist, wenn auch

rons Viktor sowie seines Gefährten Mallosus an der Stelle

nicht zwingend, dass die räumliche Expansion um einen

befänden, die bereits in der Spätantike mit der cella ge-

fixen Kern herum erfolgte. Bei Metamorphosen, die nach

kennzeichnet worden war.609

dem Matroschka-Prinzip angelegt wurden, lassen sich

Die Grenze zwischen Neubau und Umbau verläuft un-

un­abhängig davon, ob es sich um Neu- oder Umbauten

scharf. Der Xantener Dom erscheint auf den ersten Blick

handelt, in der Regel feste Kernbereiche im Kirchenraum

als Neubau einer fünfschiffigen Basilika, zu der 1263 der

erkennen, welche als Ausgangspunkt für die Umhüllung

Grundstein gelegt wurde, und welche den bestehenden

alter Gebäudeteile fungierten. Dabei erfolgte die Umhül-

Kirchenbau nach dem Matroschka-Prinzip umhüllte.610

lung des jeweiligen Vorgängerbaus immer unter Berück-

Al­lerdings wurde der ältere, in den unteren Geschossen

sichtigung räumlicher Beziehungen.

um 1200 datierte Westbau trotz – oder vielleicht sogar we­

606 Kap. 5.2. 607 Zur Archäologie des Xantener Doms: Otten 2004; Ders. 2003 (Neuauswertung der Altgrabungen); Bader 1985; Borger/Oediger 1969.

608 Zusammenfassung der Baugeschichte: Hilger 2007. 609 Kap. 6.2.

145

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

gen – seiner erkennbar älteren Formensprache in die go-

der Kirche im 12. Jahrhundert zwar als Neubau erfolgen

tische Kirche integriert und schafft damit eine bau­liche

sollte, aber tatsächlich als Metamorphose verlief. Die

Konti­nuität zu älteren Bauzuständen der Kirche.611 Ebenso

Grenzen zwischen Neubau und Metamorphose verlaufen

wurde der Dom zu Verden seit 1274 weitreichend umge-

in der Baugeschichte von St. Denis demnach fließend.

baut, doch aufgrund der Integration des alten Westturms

Entscheidend ist jedoch die Feststellung, dass das umhül-

handelt es sich genau genommen nicht um einen Neu-

lende Matroschka-Prinzip den verschiedenen Baukam­

bau, sondern eine Metamorphose nach dem Matrosch­ka-

pagnen zu Grunde lag.

Prinzip (Abb. 5.02).612

ka-Prinzip, die sich in diesem Fall von ihren Anfängen im

Die architektonische Wandlung des Freiburger Münsters vom 12. bis 16. Jahrhundert als Fallbeispiel für eine Metamorphose nach dem Matroschka-Prinzip

5. Jahrhundert bis nach dem großen Umbau des Langhau-

Das Freiburger Münster diente als Pfarrkirche der 1120

ses unter Abt Eudes Clément ab 1231 vollzog (Taf. 5.03).

613

von Herzog Konrad von Zähringen gegründeten Stadt

Den Kern der Anlage bildet eine kleine Saalkirche, die der

Frei­burg.614 Gegen Ende des 12. Jahrhunderts beginnt mit

Legende nach über dem Grab des heiligen Dionysius er-

einer Vergrößerung und Neugestaltung der Ostpartie eine

richtet wurde. Im 7. Jahrhundert wurde die bestehende

architektonische Metamorphose der Kirche,615 welche sich

Die Abteikirche St. Denis liefert ein lehrreiches Beispiel für die Entwicklung einer Kirche nach dem Matrosch­

Kirche anscheinend von Seitenschiffen eingefasst, also in

in mehreren konsekutiven Etappen bis in das 16. Jahr­

eine Basilika transformiert, und deutlich nach Westen ver-

hundert erstreckte, als das Münster die architektonische

längert. Diese merowingische Basilika wird gegen Ende

Gestalt erreichte, die sich im Wesentlichen bis heute er-

des 8. Jahrhunderts unter Abt Fulrad noch einmal gänz-

halten hat (vgl. Abb. 2.31).616

lich umhüllt und im 9. Jahrhundert unter Abt Hilduin um eine Außenkrypta nach Osten erweitert.

Im Rahmen einer stauferzeitlichen Umbaukampagne, die zuletzt in das erste Drittel des 13. Jahrhunderts da-

Diese Kirche hatte Abt Suger im Wesentlichen vor

tiert wurde,617 errichtete man einen neuen Chor mit Flan-

Augen, als er im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts ei-

kentürmen und legte ein zuvor wohl nicht vorhandenes

nen Umbau der Kirche initiierte, auf den sich auch die

Querhaus mit Vierungsturm an. Mit Ausnahme der Apsis

beiden Zitate mit dem corpus ecclesie zu Beginn des Kapi­

blieben diese Gebäudeteile großenteils bis heute in ihrer

tels beziehen. Im Westen ließ Suger einen neuen West-

alten Form erhalten. An dieser Stelle interessiert jedoch

bau errichten und im Osten einen neuen Umgangschor

primär die Art und Weise des Umbaus. Der bestehende

anlegen, welcher die alte Außenkrypta inkorporierte.

Chor wurde nicht eins zu eins ersetzt, sondern von neuen

Die archäologischen Befunde belegen, dass Suger auch

Außenmauern und Dächern dreidimensional umhüllt, so

die Substitution des Langhauses nach dem Matroschka-

wie eine kleine Matroschka-Puppe, welcher der obere Teil

Prinzip plante. Der Tod Sugers hatte jedoch die Aufgabe

der nächstgrößeren übergestülpt wird. Hierbei lassen sich

des Langhausprojekts zur Folge. Erst im zweiten Drittel

räumliche Zusammenhänge zwischen altem und neuem

des 13. Jahrhunderts wurden das noch existierende karo-

Ostabschluss erkennen, die auf bewusste gestalterische

lingische Langhaus und das Querschiff nach einem ganz

Entscheidungen schließen lassen (Taf. 5.04). Das ehema-

neuen Plan umhüllend ersetzt, so dass die Entwicklung

lige Chorjoch vor der Apsis blieb im Grundriss in seinen

610 611 612 613

617 Die spätromanischen Bauteile können auf der Basis stilistischer Vergleiche nur grob in die Zeit des letzten Viertels des 12. bis in das erste Drittel des 13. Jahrhunderts datiert werden und werden daher in der Literatur ohne eindeutiges Ergebnis kontrovers diskutiert (die Datierungen der älteren Literatur referiert: Osteneck 1973, S. 13–21). Zuletzt schlugen Volker Osteneck und Frank Löbbecke aufgrund eines dendrochronologischen Datums, das an einem Holzsturz im Giebel des Nordquerhauses ermittelt wurde, eine späte Datierung der stauferzeitlichen Baukampagne »vor 1218 und nach 1235« vor (Dies. 2011, S. 52). Einen Anhaltspunkt liefern Glasmedaillons des ehemaligen Apsisfensters, die beim Bau des spätgotischen Langchores im westlichsten Fensterpaar des Hochchores wiederverwendet wurden (Becksmann 2010, S. 93–115). Wenn die von Rüdiger Becksmann jüngst vorgetragene stilkritische Datierung »um 1220« zutrifft, muss der Chorbereich zu jenem Zeitpunkt baulich fertig­ gestellt gewesen sein (Ebd., S. 109).

Zum gotischen Kirchenbau zuletzt: Schurr 2007, S. 109–112. Zum stauferzeitlichen Westbau: Kubach/Verbeek 1976, S. 1269–1272. Boeck 1970 (ältere Bauzustände); Kunst 1970 (gotischer Bau ab 1274). Die im Folgenden referierte Baugeschichte folgt Wyss 1996 und Crosby 1987. 614 Wolfgang Erdmann datiert die Gründung der Kirche aufgrund stilkritischer Vergleiche ergrabener Bauteile »nicht lange nach der Stadtgründung 1120« (Erdmann 1970, S. 16). 1146 predigte den Schriftquellen zufolge Bernhard von Clairveaux im Freiburger Münster (Ebd., Anm. 1), was einen angemessenen baulichen Zustand voraussetzt. Zum Gründungsbau nach 1120: Löbbecke 2011; Erdmann 1970, insbesondere S. 12–17. 615 Zu den spätromanischen Gebäudeteilen: Osteneck/Löbbecke 2011; Adam 1978, S. 21–34; Osteneck 1973 (mit Verzeichnis der älteren Literatur); Ders. 1970. 616 Aktueller Forschungsstand: Kalchthaler/Linke/Straub 2013; Münster­bauverein 2011.

146

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

gestaltung des Langhauses kam es abermals zu einem Maßstabssprung, bei dem man analog zu den Ostteilen nach dem Matroschka-Prinzip verfuhr und das alte Langhaus in der Breite und Höhe umhüllte (vgl. Taf. 5.04). Das Mittelschiff errichtete man in der Breite des alten Schiffs, wohingegen die neuen Außenwände die Fluchten der stauferzeitlichen Querhauswände aufgreifen, so dass sich die Seitenschiffe verbreiterten.620 Das neue Mittelschiffsdach übertraf das alte Dach des 12. Jahrhunderts sogar so weit, dass es über das Gewölbe des erst wenige Jahrzehnte bestehenden Vierungsturms geführt wurde, welcher seither von außen nicht mehr sichtbar ist (vgl. Abb. 5.01). Im Innenraum hingegen wurden der Turm wie auch die Vierung und die Querhäuser in der alten Form bewahrt

5.03  Freiburg, Münster, Blick in die Vierungskuppel des frühen 13. Jh., links: Langhausgewölbe mittleres 13. Jh., rechts: Chor­ gewölbe um 1500

(Abb. 5.03). Somit blieb der ältere Raumeindruck im Inneren erhalten, nur die verdunkelten Fenster im Tambour geben einen Hinweis auf die gotische Überdachung. Der neue Westturm, der vermutlich westlich eines älteren an-

Dimensionen erhalten und wurde in eine Vierung umge-

gelegt wurde,621 nahm die Ressourcen der Freiburger nach

wandelt. Die neue Apsis behielt die Breite ihrer Vorgänge­

der Fertigstellung des Langhauses noch einige Zeit in

rin bei und wurde einige Meter weiter östlich errichtet.

Anspruch, bis er schließlich im ersten Drittel des 13. Jahr­

Auf diese Weise entstand an der Stelle der alten Apsis ein

hunderts mit dem berühmten steinernen Maßwerkhelm

neues Chorjoch, welches außen von zwei neuen Chortür-

vollendet wurde.622

men flankiert wird. Die beiden Querhausjoche umfassten

Nur wenige Zeit später wandte man sich dem nächs-

und ersetzten kleine Nebenapsiden, die ursprünglich die

ten Projekt zu, nämlich der abermaligen Vergrößerung

Seitenschiffe abschlossen. Die vorherige Disposition und

und Modernisierung des Chores.623 Mit der inschriftlich

Dimension der Ostteile beeinflusste also maßgeblich die

dokumentierten Grundsteinlegung 1354 begannen die

neue Ostpartie. Keine Rolle spielte dabei die oft unter-

Arbeiten an einem gestreckten Langchor mit Umgang ­

stellte Nutzung alter Fundamente. Die archäologischen

und Kapellenkranz, welcher die Grundfläche des Müns-

Befunde beweisen, dass etwa die neuen Vierungspfeiler

ters fast verdoppelte.624 Der raffinierte Entwurf dieses

auf neue Einzelfundamente gegründet wurden, welche die

spätgotischen Gebäudeteils wird allgemein Johannes von

alten Fundamente durchschlagen (Taf. 5.05).

Gmünd zugeschrieben,625 der auch mit dem Wiederaufbau

Wenige Jahre nach der Fertigstellung der Ostteile

des Basler Münsters in Verbindung gebracht wird.626 Der

wandte man sich um 1230 dem Neubau von Langhaus

neue Chorbau folgt wiederum dem zuvor beschriebenen

und Westturm zu.

Zu diesem Zeitpunkt bestand das

Muster, indem er die spätromanische Apsis weiträumig

Frei­burger Münster also aus einem Langhaus aus der ers-

umhüllt (Abb. 5.04). Der neue Umgang fasst die alte Ap-

ten Hälfte des 12. Jahrhunderts und der zu Beginn des

sis seitlich ein, während der First des Binnenchores, der

13. Jahrhunderts fertiggestellten Ostpartie.619 Bei der Neu-

etwas höher als derjenige des Langhauses liegt, die Höhe

618 Auch der Baubeginn des gotischen Langhauses ist unklar. Während der Baubeginn in der älteren Literatur in die 1220er/30er Jahre da­ tiert wurde (Adam 1978, S. 41: »zwischen 1220 und 1230«; Osteneck 1970, S. 32: »frühestens 1235«), vertrat Stefan King zuletzt eine Spätdatierung »um 1240«, allerdings ohne dies näher zu begründen (Ders. 2011, S. 58). Die Fertigstellung der Ostjoche lässt sich aufgrund von Dendrodaten aus dem großenteils erhaltenen mittelalterlichen Dachstuhl relativ sicher um 1256 ansetzen (Ebd.). Der Dachstuhl der westlichen Joche wurde um 1304/05 errichtet (Laule 2011, S. 66). 619 Ob das Münster bereits im 12. Jahrhundert einen Westturm besaß, konnte bisher nicht nachgewiesen werden, darf aber aus diversen Gründen durchaus angenommen werden (Laule 2011, S. 61f; Löbbecke 2011, S. 46; Erdmann 1970, S. 16).

620 Die Langhausbreite des Gründungsbaus lässt sich aus der erhaltenen Breite der Vierung, also dem vormaligen Chorjoch, rekonstru­ ieren. 621 Laule 2011, S. 61f; Löbbecke 2011, S. 46; Erdmann 1970, S. 16. 622 Laule 2011, S. 69. 623 Zum spätgotischen Chor grundlegend: Flum 2001 (Zusammenfassung: Flum 2011). 624 Zur Inschrift: Flum 2001, S. 24–26. 625 Z. B. Kurmann 2004, S. 92. Das Hauptargument liefert ein 1359 abgeschlossener Dienstvertrag (zitiert bei Flum 2001, S. 162). Thomas Flum zweifelt jedoch an, dass Johannes von Gmünd bereits den Grundriss entwarf (Ders., S. 125). 626 Kap. 4.3.3.

618

147

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

der alten Apsis, die unterhalb des Vierungsturms angesetzt haben muss, deutlich übertrifft. Im Übrigen stimmte man die Dimensionen des neuen Gebäudeteils wiederum auf die bestehenden Teile ab (Taf. 5.06). So errichtete man die Außenmauern des Kapellenkranzes in der Flucht der spätromanischen Querhauswände und gotischen Seitenschiffswände des Langhauses. Da sich Kapellen und Umgang auch in der Höhe an den Langhausseitenschiffen orientieren, entsteht ein basilikaler Eindruck, so dass der Langchor seitdem kompositionell ein Gegengewicht zum Langhaus bildet. Die zwei spätromanischen Chorflankentürme wurden weitgehend unberührt integriert. Lediglich die beiden unteren Turmgeschosse wurden im Westen und Osten mit Durchgängen versehen und fungieren somit als Torhallen für den Chorumgang, dessen Breite bewusst auf die Türme abgestimmt wurde. Außen wurden die Türme zwar in zeitgenössisch gotischen

5.04  Freiburg, Münster, Bauzustand des Langchors spätes 14. Jh.

Formen aufgestockt,627 blieben aber ansonsten in ihrer alten Erscheinung erhalten, so dass die geschlossenen

aus stilistischer Sicht heterogene Gestalt der Kirche resul-

nischen Mauerflächen wirkungsvoll mit den groroma­

tiert aus einem Prozess quasi kontinuierlicher architek-

ßen spätgotischen Maßwerksfenstern kontrastieren (vgl.

tonischer Wandlung, die bereits zum Ende des 12. Jahr-

Abb. 3.12).

hunderts einsetzte. Das Münster wurde nie durch einen

Der Bau des Langchores ist ferner noch aus einem

kompletten Neubau ersetzt, sondern es wurden quasi

anderen Blickwinkel bemerkenswert. Im späten 14. Jahr-

kontinuierlich unterschiedliche Gebäudeteile substitu-

hundert wurden die Bauarbeiten am neuen Chor, dessen

iert. Beim Neubau des Langhauses wie auch des Langcho-

Außenmauern erst ca. vier Meter hochgezogen waren, aus

res lässt sich darüber hinaus am Anschluss an die beste-

finanziellen Gründen weitgehend eingestellt.628 Erst 1471,

henden Teile erkennen, dass ein kompletter Neubau des

rund ein Jahrhundert später, nahm man die Bauarbeiten

Münsters nicht einmal angedacht war. Sonst hätte man

wieder auf und vollendete den alten Plan mit Modifika­

etwa beim Langhausneubau weder den Vierungsturm

tionen lediglich in Details.629 Die alte Apsis wurde erst in

sorgsam inkorporieren noch die Fluchten der Querschiffs-

diesem Zuge niedergelegt, was sich daran erkennen lässt,

wände aufgreifen müssen. Offensichtlich stellte das Ne-

dass ihr Steinmaterial an den oberen Teilen des neuen

beneinander stilgeschichtlich unterschiedlicher Gebäu-

Hochchores wiederverwendet wurde.630 Auf diese Weise

deteile für die mittelalterlichen Menschen kein Problem

inkorporierte man den alten Chor nicht nur räumlich,

dar. Der formale Kontrast scheint im Gegenteil sogar

sondern auch materiell. Die Chorweihe 1513 gibt einen

erwünscht gewesen zu sein, jedenfalls wurde er planvoll

Hinweis auf den Fortschritt der Arbeiten, die sich an den

hergestellt. Möglicherweise wollte man mit Blick auf die

Umgangsgewölben allerdings noch bis 1536 hinzogen.631

weitaus älteren Großkirchen am Oberrhein wie Straßburg

Das Freiburger Münster hatte somit vor der Mitte des

und Basel mittels einer gewachsenen Baugestalt bewusst

16. Jahrhunderts seine bis heute prägende Gestalt aus

eine altehrwürdige Erscheinung erzeugen und auf diese

spätromanischem Querhaus, Vierung und Chortürmen,

Weise das Fehlen einer älteren Tradition des Ortes am ver-

gotischem Langhaus und Westturm sowie spätgotischem

gleichsweise jungen Münster kompensieren.

Langchor mit Umgang und Kapellenkranz erreicht. Die

627 Die gotischen Maßwerkhelme wurden Mitte des 18. Jahrhunderts bei einer Beschießung Freiburgs großenteils zerstört, aber in An­ lehnung an die mittelalterlichen Formen wiederhergestellt und bilden somit ein interessantes Beispiel für die Imitation alter Formen im Rokoko. Zur Mitte des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts wurden die Helme aus restauratorischen Gründen abermals ersetzt. Dabei wurden einige Details des 18. Jahrhunderts aus einem

fragwürdigen Denkmalverständnis heraus leider gotisiert (Stopfel 2011, S. 118). 628 Flum 2011, S. 75; Ders. 2001, S. 84. 629 Ebd. 630 Flum 2001, S. 49. 631 Ebd., S. 76; Ders. 2001, S. 82 (Jahreszahl 1536 auf einem Gewölbestein).

148

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

fluchtgetreuen Bauens hin und wieder registriert, aber in der Regel damit erklärt, dass man aus Kostengründen die alten Fundamente nutzen wollte. Weil diesem Aspekt eine wesentliche Bedeutung für die Interpretation des Phänomens zukommt, wird der Fundamentierung bei fluchtgetreuen Bauten weiter unten ein eigenes Kapitel gewidmet.

Beispiele Die Neugestaltung der Westteile des Trierer Doms im zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts verlief erstaunlich fluchtgetreu (Abb. 5.05).632 Die neuen Außenwände, welche den frühchristlichen Quadratbau um zwei Joche nach Westen verlängern, traten an die Stelle der vormaligen Seitenschiffswände eines basilikalen Raumes. Während dieser Sachverhalt noch damit erklärt werden könnte, dass man die Fluchten des Quadratbaus fortsetzen wollte, greift dieser Erklärungsansatz an der Westwand nicht, doch auch dort errichtete man die neue Fassade an der Stelle der Basilikawestwand. Eine Weiternutzung der alten Fundamente scheidet als Erklärung aus, denn die Fundamente wurden weitgehend abgerissen, bevor die neuen Gründungen in den alten Fluchten angelegt wurden.633 Als das Langhaus des Mainzer Doms seit den 1120er/ 30er Jahren von Grund auf neu gebaut wurde,634 geschah dies fluchtgetreu (Taf. 5.07). Sowohl die Mittelschiffs- als auch die Seitenschiffswände wurden genau in der Flucht des vormaligen Langhauses errichtet. In diesem Fall wur-

5.05  Trier, Dom, Rekonstruktion des baulichen Zustands Ende 9. Jh. (gesicherte Fundamente schwarz, heutige Bebauung gepunktet)

den, gemäß dem bereits 90 Jahre alten archäologischen Forschungsstand, die alten Fundamente beibehalten, jedoch in der Höhe und Breite erheblich verstärkt und

5.1.4 Fluchtgetreues Bauen

außerdem auf Pfählen gegründet. In diesem Fall kann zumindest ein Platzmangel, der zum Bau in den alten

Definition

Fluchten zwänge, als Erklärungsansatz ausgeschlossen

Im Unterschied zum Matroschka-Prinzip, bei dem die

werden, denn das Langhaus wurde im 14. Jahrhundert,

neu­en Teile die alten umhüllen, lassen sich in der mittel-

wie an vielen anderen Orten, durch seitliche Kapellen­

alterlichen Baukultur auch Um- oder Neubauten beob-

anbauten längs der Außenmauern verbreitert.635

achten, bei denen die neuen Bau- oder Gebäudeteile in

Ebenfalls genau in den alten Fluchten wurde seit 1225

den Fluchten der alten Teile errichtet wurden, so dass

das neue Langhaus des Doms zu Münster errichtet.636

liche Dimensionen und Proportionen zumindest wesent­

Fundamentstreifen des alten Langhauses liegen nach ar-

im Grundriss von der vorherigen Baugestalt übernommen

chäologischem Befund genau in den Fluchten der Mittel-

wurden. Weil in diesen Fällen die alten Fluchten bewahrt

schiffspfeiler wie auch der Außenwände (Abb. 5.06). Der

wurden, soll diese Bauweise als »fluchtgetreu« bezeichnet

neue Umgangschor umhüllt hingegen die alte Ostapsis

werden. Von der Legion möglicher Beispiele fluchtgetreuer

mit ihren Nebenapsiden weiträumig, so dass zwar der Bin-

Metamorphosen seien im Folgenden einige nur exempla-

nenchor die alte Apsis überlagert, der Kirchenbau jedoch

risch angeführt. In der Literatur wurde das Phänomen

nach Osten deutlich vergrößert wurde.

632 Baugeschichte: Zink 1980a, S. 34–46. 633 Horn 2015a, S. 39. 634 Baugeschichte: von Winterfeld 2011, S. 60–64; Ders. 2010, S. 125–131.

635 Von Winterfeld 2011, S. 82–85. 636 Baugeschichte: Lobbedey/Scholz/Vestring-Buchholz 1993, S. 271f.

149

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

5.06  Münster, Dom, Grundriss mit Eintra­ gung alter Fundamente Bei der Metamorphose des ehemaligen Essener Münsters von einer Basilika in eine Hallenkirche um 1300 wur­de das Langhaus fluchtgetreu erneuert (vgl. Taf. 2.03).637 Die neuen Außenwände wurden über dem unteren Teil der alten Seitenschiffsmauern errichtet, so dass die alten Fluchten baulich bedingt erhalten blieben. Die alten Mittelschiffswände wurden hingegen komplett abgerissen und neue Rundpfeiler exakt in der alten Flucht errichtet. Dabei wurden die alten Streifenfundamente nachweislich nicht wiederverwendet, sondern partiell abgerissen, um neue, größere Punktfundamente an ihrer Stelle zu errichten (Abb. 5.07).638 Das Langhaus des Halberstädter Doms, das im späten 14. und 15. Jahrhundert komplett neu gebaut wurde,639 steht weitgehend in den Fluchten der alten Mittel- und Seitenschiffswände. Auf den Plänen der archäologischen Grabungen lässt sich erkennen, dass die alten Fundamente nicht genutzt, sondern weiträumig abgerissen wurden (Abb. 5.08), denn im Bereich der gotischen Substanz haben sich keine alten Gründungen erhalten. Die nörd­

5.07  Essen, Dom, Langhaus, Fundamente

liche Mittelschiffswand wurde gegenüber der alten Flucht leicht gegen den Uhrzeigersinn gedreht, vermutlich um

eingemessen wurde. Außerdem reicht die nördliche Au-

an die etwas frühere Pfeilerreihe des Umgangschores an-

ßenmauer weit über die dünnere, alte Außenwand hin-

schließen zu können, die anscheinend nicht fluchtgetreu

aus. Obwohl es bequem möglich gewesen wäre, die Wand

637 Zu den räumlichen Relationen der Bauzustände des Essener Doms eingehend: Horn 2015a, S. 146–155. Zur gotischen Baugeschichte: Lange 2004 (mit einer methodisch fragwürdigen Herleitung des Bauverlaufs aus den politischen Verhältnissen); Zimmermann 1956, S. 272–279.

638 Horn 2015a, S. 153–155. 639 Zur Baugeschichte: Dehio Sachsen-Anhalt 2002, S. 318–320 [Ernst Schubert].

150

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

5.08  Halberstadt, Dom, Grundriss mit älteren Fundamenten ein kleines Stück weiter nördlich anzusetzen, überlagert

leitete man explizit oder implizit wirtschaftliche Gründe

die neue Nordwand ohne konstruktiven oder wirtschaft-

als Erklärung für die Bewahrung alter Fluchten ab. Dem-

lichen Vorteil dennoch großenteils die vormalige Mauer.

zufolge baute man in den alten Fluchten, um auf diese

Der neue Umgangschor umhüllt seinen Vorgänger hinge-

Weise den Aufwand und die Kosten neuer Gründungen

gen nach dem Matroschka-Prinzip. Auch beim Neubau

zu sparen. Diese These hält allerdings einer genauen Be-

des Langhauses des Merseburger Doms von 1510 bis 1517

trachtung nicht stand. Für den Essener Dom, den Hal­

unter Bischof Thilo von Trotha erfolgte die Errichtung

berstädter Dom und die Trierer Liebfrauenkirche, um

der hofseitigen Langhauswand »auf neuen Fundamenten,

Bauten exemplarisch herauszugreifen, findet sich in der

die dem Verlauf der alten folgen«.640 Es wurde also flucht-

Literatur wiederholt die Aussage, dass auf den alten Fun-

getreu gebaut, obwohl ein leichter Versatz kein Problem

damenten gebaut worden wäre.644 In allen drei Fällen ist

dargestellt hätte – zum Hof stand die Fassade schließlich

das aber nach Ausweis der archäologischen Grabungen

frei.

falsch.

Selbst komplette Neubauten von Kirchen konnten

Beim Essener Dom brach man Ende des 13./Anfang

fluchtgetreu ausgeführt werden. Hier sei exemplarisch auf

des 14. Jahrhunderts die alten Streifenfundamente punk-

den Neubau der Trierer Liebfrauenkirche im 13. Jahrhun-

tuell ab, um an ihre Stelle neue Einzelfundamente für die

dert verwiesen,641 der an anderer Stelle näher besprochen

gotischen Rundpfeiler zu setzen (vgl. Abb. 5.07).645 Dieses

wird (vgl. Abb. 5.05).

Auch in diesem Zusammenhang

Verfahren lässt sich bereits bei der Neuerrichtung der Ost-

wurden die alten Gründungen nicht wiederverwendet,

teile des Freiburger Münsters um 1200 nachweisen, wo

642

sondern bis zum gewachsenen Boden mit neuen, größe-

der nordwestliche, stauferzeitliche Vierungspfeiler auf ein

ren Fundamentblöcken durchschlagen.643

neues Punktfundament gegründet wurde, welches man an die Stelle der Kreuzungen der älteren Streifenfundamente

Die Fundamentierung bei fluchtgetreuen Bauten

setzte (vgl. Taf. 5.05). Beim ambitionierten Umbau der ehe-

In der Literatur wurde die Kontinuität alter Fluchten über

maligen Stiftskirche St. Viktor zu Xanten von einer drei-

verschiedene Bauzustände hinweg durchaus registriert;

zu einer fünfschiffigen Kirche ab 1263 wurden die meisten

weniger als Phänomen an sich, aber im Zusammenhang

der gotischen Pfeiler mit neuen Einzelfundamenten zwi-

mit dem jeweiligen Bau. Häufig wurde dabei unterstellt,

schen die ottonischen Streifenfundamente der vormaligen

dass die alten Fundamente weitergenutzt würden. Daraus

Mittelschiffs- und Außenwände gepflanzt (Abb. 5.09).646

640 Ramm 2005, S. 184. 641 Zu Liebfrauen grundlegend: Tacke/Heinz 2016; Ehlen 2011; BorgerKeweloh 1986; Lückger/Bunjes 1938. 642 Kap. 5.2. 643 Weber 2016, S. 160; Ders. 2011, S. 32; Ders. 2009, S. 48, Abb. 2. 644 Z. B.: Essen, Dom: Pothmann 1997, S. 29; Wilhelm-Kästner 1929,

S. 48. – Halberstadt, Dom: Sänger 1942, S. 11. – Trier, Liebfrauen­ kirche: Ronig 2003, S. 217; Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29. 645 Hierzu ausführlich: Horn 2015a, S. 153–155. 646 Borger/Oediger 1969, S. 92. – Zwar haben die Ausgräber beschrieben, wie gotische Fundamente die ottonischen durchschlagen, dies jedoch leider nicht kartiert. Aufgrund der Fehlstellen in den

151

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

5.09  Xanten, Dom, Fundamente älterer Bauphasen, gotische Einzelfundamente ausgespart Genauso ging man im 15. Jahrhundert beim Umbau des Langhauses der ehemaligen Stiftskirche in Zeitz vor und wahrscheinlich auch zur selben Zeit im Halberstädter Dom (vgl. Abb. 5.08).647 In Halberstadt wurden darüber hinaus anscheinend auch die Fundamente der Außenwände entfernt, obwohl die neuen Mauern weitgehend fluchtgetreu erbaut wurden. Diese aufwändige Vorgehensweise lässt sich bereits bei der Erweiterung des Trierer Doms im 11. Jahrhundert nachweisen, als man in großem Umfang die Außenwandfundamente der Nordostbasilika ersetzte, um den neuen Westabschluss in den alten Raumfluchten zu errichten (vgl. Abb. 5.05).648 Auch beim Neubau der Trierer Liebfrauenkirche wurden die alten Fundamente großenteils abgerissen und meist fluchtgetreu durch neue ersetzt, die bis auf den gewachsenen Boden hinunterrei-

5.10  Trier, Liebfrauen, Modell im Bischöflichen Dom- und Diö­ zesanmuseum Trier, Grabungsbefund am nordöstlichen Vierungs­ pfeiler

chen (Abb. 5.10).649 Der Neubau des Magdeburger Doms ab 1209 wurde zwar in gedrehter Achslage zum Vorgän-

Fundamente nicht weitergenutzt, sondern von den neuen

gerbau errichtet, dennoch ergaben sich zahlreiche Über-

gänzlich durchschlagen (Abb. 5.11).650

schneidungen von alten und neuen Gründungen (vgl.

Die Bewahrung alter Fluchten brachte in den genann-

Abb. 5.15). An den betreffenden Stellen wurden die alten

ten Fällen folglich keinen wirtschaftlichen Vorteil, son-

kar­tierten älteren Fundamentstreifen lässt sich jedoch auf die jüngeren Einzelfundamente rückschließen. 647 Zeitz: siehe den Grabungsplan bei Schmitt, R. 2008a, S. 14. – Auch in Halberstadt fehlt eine Kartierung der gotischen Fundamente, doch können sie indirekt über Fehlstellen in den älteren Fundamenten erschlossen werden.

648 Horn 2015a, S. 39. 649 Weber 2016, S. 160; Ders. 2011, S. 32; Ders. 2009, S. 48, Abb. 2. 650 Kuhn, R. 2009a, S. 43.

152

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

Dem kann hinzugefügt werden, dass die publizierten Fundamentquerschnitte auf einer unzureichenden Fakten­ lage basieren, weil die Fundamente schließlich nur von unten gesehen wurden, und somit als hypothetisch angesehen werden müssen. Nach heutigem Forschungsstand lässt sich eigentlich nur sicher feststellen, dass die Mittel­ schiffswände des Mainzer Doms in den alten Fluchten erbaut wurden. Weitere Aussagen können nur in Folge seriöser archäologischer Grabungen getroffen werden. Als weiteres Beispiel für eine großenteils fluchtgetreue Metamorphose, bei der die alten Fundamente verstärkt, aber erhalten blieben, ließe sich der umfassende Umbau

5.11  Magdeburg, Dom, Foto der Fundamente im Bereich der Chor­ scheitelkapelle, altes Fundament in der unteren Bildmitte erkenn­ bar durchschlagen

der Kathedrale von Chartres seit 1194 nennen.653 Dort resultiert die Weiternutzung alter Fundamente jedoch aus der Bewahrung der alten Krypta, auf deren Mauern die Oberkirche steht, so wie auch beispielsweise beim Umbau

dern verursachte im Gegenteil zusätzlichen Aufwand für

von St. Gereon zu Köln oder dem Essener Dom die äuße-

den Abbruch der Altfundamente, der hätte vermieden

ren Umrisse bewahrt blieben, weil altes Mauerwerk in die

werden können, wenn man neben den alten Fundamen-

neuen Außenwände integriert wurde.654 In den genann-

ten neu gegründet hätte. Die Gegenbeispiele bleiben hin-

ten Beispielen hingegen, in denen es zu Neugründungen

gegen überschaubar. Beim Neubau des Langhauses des

kam, wäre die Nutzung der alten Fundamente schon aus

Mainzer Doms im 12. Jahrhundert sollen die alten Fun-

statischen Gründen gar nicht möglich gewesen, weil sich

damente weitergenutzt worden sein, allerdings mit deut-

durch die jeweiligen Baumaßnahmen die Lasten des Ge-

lichen Verstärkungen, die zusätzlich auf Holzpfähle ge-

bäudes ebenso wie dessen Tragstruktur grundlegend än-

gründet wurden (vgl. Taf. 5.07). Die Kenntnisse über die

derten, so dass die Fundamente anderen Anforderungen

Fundamente des Mainzer Doms stützen sich jedoch nicht

entsprechen mussten.

auf archäologische Grabungen nach heutigen wissen-

Die Streifenfundamente, die für die älteren Langhäu-

schaftlichen Standards, sondern allein auf die Sanierungs-

ser beispielsweise der Trierer Liebfrauenkirche oder des

arbeiten der 1920er Jahre, als man bergmännisch Stollen

Essener Doms nachgewiesen sind, entsprachen den linear

unter den Fundamenten grub, um die Holzpfähle, die auf-

gerichteten Mittelschiffswänden, die statisch als Scheibe

grund einer aus der Rheinbegradigung hervorgegangenen

wirkten und obendrein keinen Gewölbeschub aufnehmen

Senkung des Grundwasserspiegels zu faulen begannen,

mussten.655 Im neuen gotischen Zentralbau der Trierer

mit Beton zu ersetzen.

Die in diesem Zusammenhang

Liebfrauenkirche wie auch des neuen Hallenlanghauses

publizierten Befunde wurden in der Literatur wiederholt

des ehemaligen Essener Münsters wurden demgegen-

und teils scharf kritisiert:

über die aufgrund der Dimensionssteigerung und der

651

»Die wissenschaftlichen Bearbeiter, Dombaumeister Ludwig Becker und Johannes Sartorius, haben ihre Un­ tersuchungen anschließend mit so fragwürdigen Folgerungen verbunden, daß sie sich damit als Dilettanten zu erkennen gaben. Dieser Umstand erschüttert das Vertrauen in ihre faktischen Beobachtungen so sehr, daß man sie nur mit Vorbehalten zur Grundlage weiterer Überlegungen machen kann.«652

651 652 653 654

Von Winterfeld 2010, S. 107. Von Winterfeld 1986, S. 21. Kap. 2.2.1. Kap. 2.3.1.

Einwölbung deutlich höheren Lasten auf einzelne Pfeiler konzentriert. Die alten, vergleichsweise kleinen Streifenfundamente hätten diesen völlig andersartigen statischen Anforderungen gar nicht gerecht werden können und wurden deshalb notwendigerweise gänzlich durch stärkere Einzelfundamente ersetzt, die mit ihren Dimensionen und ihrer Geometrie auf die punktuell weitaus höheren Belastungen wie auch die differenten Kräfteflüsse reagieren.656 655 Zur Statik von Streifenfundamenten z. B.: Kraus/Führer/Willems 1997, S. 324–328. 656 Zur Statik von Einzelfundamenten z. B.: Ebd., S. 314–325.

153

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

5.12  Xanten, Dom, Grundriss mit Funda­ mentrekonstruktion Diese Erkenntnisse gewähren nebenbei Einblick in

angezogene Grabungsplan bildet gar nicht den exakten

das technisch-konstruktive Wissen des 13./14. Jahrhun-

Zustand der älteren Langhausfundamente ab, sondern

derts. Der differenzierte Einsatz von Fundamentierungen

eine Rekonstruktion, die jedoch dem Betrachter als Do-

in Abhängigkeit der statischen Anforderungen zeigt, wie

kumentation erscheint. Ohne weitere Kenntnis der Gra-

hoch das statische Verständnis der gotischen Baumeister

bungen muss der Betrachter auf Basis des Grabungsplans

entwickelt war.

irrtümlich annehmen, dass die gotischen Pfeiler auf die

Wesentlich mit dazu beigetragen, dass sich in der Lite-

alten Gründungen gestellt wurden. Die gleiche Problema-

ratur Fehleinschätzungen hinsichtlich der Nutzung alter

tik ergibt sich beispielsweise mit dem von Theodor Kempf

Fundamente verfestigten konnten, haben zahlreiche Kar-

erstellten Bauphasenplan des Trierer Doms, der in der

ten, welche die Ergebnisse archäologischer Grabungen vi-

Sekundärliteratur oft herangezogen wurde.657

sualisieren sollen.

Missverständliche Fundamentkartierungen hängen

Auf dem grundlegenden und wiederholt publizierten

eng mit den Fragestellungen der Ausgrabungen zusam-

Grabungsplan des Xantener Doms (Abb. 5.12) wurden bei-

men. Das primäre Interesse gilt häufig der Rekonstruktion

spielsweise die Fundamente verschiedener älterer Bau-

alter Bauzustände. Infolgedessen werden die nicht mehr

zustände schraffiert in den umrandeten Grundriss des

genutzten Altfundamente aufgenommen, jedoch nicht

heutigen Kirchenbaus eingetragen. Daraus wird unter an-

diejenigen Fundamente, welche die aufgehenden Stützen

derem ersichtlich, dass die Pfeiler der gotischen Baukam-

und Wände tragen. So lassen sich die gotischen Punkt-

pagne ab 1263 ganz oder teilweise über den Fundamenten

fundamente des Xantener oder auch Halberstädter Doms

des vorherigen Langhauses stehen, die Schiffe also quasi

über das publizierte Kartenmaterial nur indirekt erschlie-

fluchtgetreu proportioniert wurden. Die Umrandungen

ßen, wenngleich sie im Text zum Teil beschrieben wurden

der älteren Fundamente wurden nach Osten und ­Westen

(vgl. Abb. 5.08; 5.09).

offen gelassen und teils wurde sogar auf die Schraffur

Als vorbildlich können demgegenüber etwa Walther

verzichtet. Damit wird beim Betrachter der Eindruck er-

Zimmermanns Pläne der Grabung im Essener Dom aus

weckt, dass es sich bei der Zeichnung um eine Kartierung

den 1950er Jahren gelten (vgl. Abb. 5.07), in denen alle er-

der ergrabenen Fundamente handelt. Die Durchsicht der

grabenen Fundamente unabhängig von ihrem Alter bzw.

Grabungsdokumentationen ergab allerdings, wie oben

ihrer Interpretation kartographiert wurden. Auf dieser Ba-

dargelegt, dass die gotischen Pfeiler auf eigenen Gründun-

sis lässt sich das Verhältnis der alten Streifenfundamente

gen stehen, welche die vormaligen Streifenfundamente

zu den neuen, gotischen Einzelgründungen aussagekräf-

partiell durchschlagen. Das heißt, der standardmäßig her­

tig nachvollziehen, auch wenn es Zimmermann wahr-

657 Ronig 1980, Plananhang.

154

scheinlich nicht bewusst war, dass das 50 Jahre später einmal von Interesse sein könnte. Es ist somit wünschenswert, dass bei Grabungen in

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

stäblich auf den Boden projizierte und zwar so genau, dass auf dieser Grundlage die Fundamente gesetzt werden konnten.

mittelalterlichen Kirchen zunächst eine komplette Auf-

Die Schilderung der Fundatio belegt, dass dem Ort

nahme der ergrabenen Fundamente im Sinne einer sach-

des Hildesheimer Doms und dessen räumlicher Ausdeh-

lichen, nicht selektiven Dokumentation durchgeführt

nung im Mittelalter eine religiöse Bedeutung beigemes-

wird; umso mehr, als die Befunde hinterher nicht mehr, in

sen wurde. Es liegt auf der Hand, dass ein gottgegebener

manchen Fällen nie mehr,658 sichtbar sind. Auch die noch

Grundriss nicht ohne Weiteres geändert werden konnte.

in Nutzung befindlichen Fundamente des bestehenden

Eine Wahrung der Umrisse konnte per se nur durch flucht-

Baus, die schließlich in vielen Fällen im hohen oder spä-

getreues Bauen erfolgen.

ten Mittelalter angelegt wurden, sind wichtige Zeugnisse

Folglich muss die religiöse Dimension bei fluchtge-

der Baukultur der jeweiligen Zeit, welche relevante Infor-

treuen Metamorphosen oder Neubauten von Kirchen

mationen liefern, auch wenn sich erst künftige Forschun-

mitbedacht werden. Dass die Wahrung alter Fluchten am

gen damit auseinandersetzen.

selben Bauwerk zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark gewichtet wurde, ist ein anderer Punkt. So fand am

Zur Interpretation fluchtgetreuen Bauens

Hildesheimer Dom, um im Beispiel zu bleiben, die Gott-

Wenn also fluchtgetreues Bauen in vielen Fällen keinen

gegebenheit des alten Domgrundrisses offenbar keine Be-

wirtschaftlichen Vorteil brachte, sondern im Gegenteil

achtung, als unter Bischof Azelin eine neue Bischofskir-

zusätzlichen Aufwand verursachte, dann stellt sich un-

che westlich der alten errichtet werden sollte.661 Als man

weigerlich die Frage nach den Beweggründen dieser Vor-

dieses Vorhaben wieder aufgab, spielte hingegen bei der

gehensweise. Einen wichtigen Hinweis auf ein mögliches,

Erneuerung des alten Doms die Bewahrung alter Fluchten

dann aber gewichtiges Motiv liefert die Fundatio des Hil-

wohl nicht von ungefähr wieder eine Rolle.

desheimer Doms, derzufolge Bischof Altfrid im dritten

Beispiele wie die weiter oben zitierte Chorinschrift von

Viertel des 9. Jahrhunderts die Bischofskirche nordwest-

St. Denis zeigen darüber hinaus, dass der kommunizierte

lich des bestehenden Doms neu bauen ließ.659 Die Ent­

Anspruch und die bauliche Realität durchaus differieren

stehung des Entwurfs schildert die Fundatio folgender­

konnten.662 Obgleich in der Chorinschrift die Kontinuität

maßen:

des Alten betont wird, folgt der neue Chor architektonisch

»Währenddessen hielt der Bischof mit seinem höchst frommen Kapitel ein dreitägiges Fasten […] und bat Gott, daß ihm die Stelle gezeigt werde, die Christus einer Kirche würdig hielt […] und gleichsam zum Graben des Fundamentes einer Kirche sind wie Frühlingsreif die Umrisse einer Kirche in kunstvollem Rechteck erschienen, und zwar von der ersten Marienkapelle nach Westen gerichtet«.660 Gemäß der Fundatio legte Altfrid den neuen Ort des Doms

einer neuen Konzeption, die allerdings auf die Tradition des Ortes Bezug nimmt.663 Inwiefern ein Um- oder Neubau einer Kirche als Fortschreibung der alten verstanden werden darf, beurteilte man im Mittelalter anscheinend nach anderen Kriterien, als es heute der Fall wäre, und dies gilt es bei der Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Baukultur zu berücksichtigen.

5.1.5 Zwei spätmittelalterliche Bilder von architek­ tonischen Metamorphosen

also nicht eigenmächtig fest, sondern bat stattdessen um eine göttliche Entscheidung. Dieser Bitte entsprach Gott

Interessanterweise existieren zwei spätmittelalterliche

nicht nur, indem er den Ort des neuen Doms durch ein

Gemälde, welche zwei unterschiedliche Formen der Me-

Wunder offenbarte, sondern darüber hinaus sogar noch

tamorphose mittelalterlicher Sakralbauten anschaulich

die Umrisse des Kirchenbaus festlegte, indem er sie maß-

wiedergeben. Beide Bilder befinden sich heute im Prado

658 So wurden beim Einbau der neuen Bischofsgruft im Mittelschiff des Hildesheimer Doms 2011/12 sämtliche Bodenbefunde unwiederbringlich beseitigt. Die Erde barg bis dato noch Relikte, die bis in die karolingische Zeit zurückgehen. Umso wichtiger war die archäologische Grabung unter der Leitung von Karl Bernhard Kruse 2010/11, deren Auswertung und Dokumentation künftig das Bodenarchiv ersetzen muss. Zwischenbericht zur Grabung: Kruse 2014; Ders. 2011.

659 Kap. 6.3. 660 Fundatio ecc. Hildensemensis (ed. Hofmeister, S. 943f). Dt. Übersetzung nach H. J. Schuffels (Kruse 2000, S. 291f). 661 Kruse 2014, S. 57–59; Ders. 2011, S. 24. 662 Kap. 2.2.2. 663 Kap. 4.3.3.

155

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

5.13  Robert Campin (?): Vermählung Mariens, um 1430 (Madrid, Prado) in Madrid.664 Bei der einen Tafel handelt es sich um eine

symbolisch als das Aufgehen des Alten Bundes im Neuen

simultane Darstellung der Vermählung Mariens sowie des

zu verstehen, wie es bereits Erwin Panofsky interpre-

Stabwunders, auf der anderen ist eine Verkündigungs-

tierte.666

szene zu sehen. Die Gemälde, welche Robert Campin bzw.

Auf der Verkündigungs-Tafel ist eine Kirche, die aus

dem Meister von Flemalle oder seinem Umkreis zuge-

drei formal unterschiedlichen Teilen besteht, dargestellt

schrieben werden, entstanden nach Stephan Kemperdick

(Abb. 5.14). Der vordere Teil, anscheinend das Langhaus

um 1430.665

mit einer Vorhalle, ist reich verziert in filigranen spätgo­

Auf der Vermählungs-Tafel wird ein rundtempelarti­

tischen Formen erbaut worden, wohingegen sich im Hin-

ger Sakralbau gezeigt, der von einer neuen, im Bau be-

tergrund ein deutlich schlichterer Gebäudeteil erhebt,

findlichen Raumhülle umfangen wird (Abb. 5.13). Die

dessen Strebewerk an die Architektur hochgotischer Ka-

umhüllenden äußeren Mauern, die mittels der spätgoti-

thedralen des 13. Jahrhunderts erinnert. An der Seite des

schen Architekturformen als »neu« konnotiert werden,

hinteren Gebäudeteils erhebt sich eine Art Chorflanken-

kontras­tieren unverkennbar mit dem inneren Bauwerk,

turm, der aufgrund seiner Einzelformen wie den Rund­

das mittels seiner Architekturformen eindeutig als »alt«

bogenfenstern noch älter wirkt. Wie bei der »Vermählung«

gekennzeichnet ist. Aus heutiger Perspektive lässt sich

wurden die Gebäudeteile somit über ihre kontrastierenden

eine phantasievolle Kreation des Künstlers erkennen,

Formen als »alt« und »neu« konnotiert. Bei der »Verkündi-

die sowohl Assoziationen an einen antiken Rundtempel

gung« wird diese zeitliche Differenzierung noch stärker als

weckt, als auch romanische bis romanesque Bauformen

bei der »Vermählung« mittels des Materials unterstrichen.

zeigt. Im ikonographischen Kontext des Bildes liegt es

Der neue spätgotische Teil setzt sich in strahlend weißem

nahe, die Inkorporation des alten Bauwerks in das neue

Stein vom älteren bräunlichen Mauerwerk ab.

664 Inv.-Nr. 1817a und 1915. – Hierzu grundlegend mit Angaben zur älteren Literatur: Kemperdick/Sander 2008, S. 224–233. 665 Kemperdick/Sander 2008, S. 233.

666 Panofsky 1953 (2006), Bd. 1, S. 143. So auch Kemperdick/Sander 2008, S. 229.

156

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

5.14  Robert Campin (?): Verkündigung, um 1430 (Madrid, Prado) Die Stirnwand des hinteren Gebäudes, welche das vor-

Im hiesigen Untersuchungskontext interessiert, dass

dere überragt, weist einen großen Bogen auf, der provi­

ein Maler sich um 1430 für die Umsetzung seiner Bild­idee

sorisch mit Holz verschlossen wurde, so wie es bei der Me-

mit den baulichen Prozessen seiner Zeit auseinander­setzte

tamorphose alter Gebäudeteile zum Schutz des Bestandes

und diese reflektierte. Die beiden Bilder zeigen verschie-

und zur Aufrechterhaltung des liturgischen Betriebs wirk-

dene Arten und Stadien von architektonischen Metamor-

lich praktiziert wurde.667 Die Verbretterung beweist somit

phosen. Auf der Vermählungs-Tafel ist eine Metamor-

obendrein, dass es sich bei dem neuen Gebäudeteil nicht

phose nach dem Matroschka-Prinzip dargestellt, bei dem

um eine Erweiterung, sondern tatsächlich um die Substi-

der alte Bau gänzlich dem neuen einverleibt werden wird.

tution eines älteren Teils handelt. Die symbolische Aus-

Der Bauprozess befindet sich noch am Anfang. In einem

sage dieser baulichen Metamorphose wurde in der Lite-

ähnlichen Stadium befand sich zur Entstehungszeit des

ratur im Unterschied zu der »Vermählung« bisher nicht

Bildes zum Beispiel die Ostpartie des ­Freiburger Münsters,

erschlossen.

wo der alte romanische Chor von einem neuen Langchor

667 Ungewöhnlich ist, dass der ältere Teil den neuen überragt, denn bei einer Metamorphose wurden die Dimensionen des Kirchenbaus zwar oftmals gesteigert, aber nicht – wie auf dem Bild – verringert. Diese Abweichung von realen Bauprozessen erlaubte sich der Maler wohl zugunsten einer besseren Lesbarkeit des Bildes, denn hätte

der neue Teil den alten überragt, so wäre dieser im Hintergrund kaum mehr zu sehen gewesen. Andersherum zeigt sich hiermit aber auch, dass es dem Maler offensichtlich wichtig war, die unterschiedlichen Zeitschichten des Sakralbaus erkennbar zu machen.

157

5.1  DIE METAMORPHOSE ALTER KIRCHENBAUTEN

umhüllt werden sollte, das Mauerwerk aber erst eine Höhe von rund vier Metern erreicht hatte (vgl. Abb. 5.04).

scher Bau«) oder nach dem Initiator einer Kampagne (z. B.

Auf

»Berthold-Münster«). Dieses Entwicklungsmodell sugge-

der Verkündigungs-Tafel wurde die Metamorphose bereits

riert jedoch ein konsekutives Nacheinander unterschied-

vollzogen. Hierbei wurde ein Gebäu­deteil substituiert und

licher Gebäude und bringt dies nicht nur mittels der ange-

an den alten Bestand angeschlossen, wie es etwa mit dem

führten Nomenklatur sprachlich zum Ausdruck, sondern

Langhaus des Freiburger Münsters geschah.

668

Die Außen-

bereits durch die zentralen Termini »Vorgängerbau« und

wände des neuen Gebäudeteils nehmen die Fluchten des

»Nachfolgebau« selbst. Der unentwegte Gebrauch der vom

alten auf, was nahelegt, dass fluchtgetreu gebaut wurde.

Modell abgeleiteten Termini in der wissenschaftlichen

669

Damit können die Gemälde als bildliche Quelle gelten, denn sie zeigen auffällige Analogien zu realen Baupro-

Praxis trug wiederum dazu bei, die Vorstellungen von konsekutiven Folgebauten zu zementieren.

zessen jener Zeit, wie sie etwa in Freiburg zu beobachten

Wie zuvor dargelegt, erfolgte die architektonische

waren. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Bilder

Entwicklung mittelalterlicher Sakralbauten allerdings in

mit ihrer religiösen Symbolik als Dokumente einer realen

zahlreichen Fällen nicht durch aufeinanderfolgende Neu-

Szene missverstanden werden dürfen. Der Maler wählte

bauten, sondern durch unterschiedliche Arten der Meta-

die Motive nicht, um die architektonischen Prozesse an

morphosen. Zwischen den beiden Extremen des totalen

sich zu dokumentieren – schließlich geben die Szenen

Neubaus (z.  B. Trierer Liebfrauenkirche) und der konti-

keine realen historischen Bauwerke wieder –, sondern um

nuierlichen Metamorphose (z. B. Trierer Dom) lassen sich

religiöse Aussagen bildlich zu kommunizieren. Folglich

die Wandlungsprozesse vieler Kirchen in diversen Abstu-

setzte sich der Maler mit architektonischen Entwicklungs-

fungen und Nuancen nachvollziehen. Einen Vorgänger-

prozessen, die er aus seiner Lebenswirklichkeit kannte, auf

bau von einem Nachfolgebau zu unterscheiden, ergibt

einer symbolischen Ebene auseinander. Somit dokumen-

folglich dann Sinn, wenn zwei physisch gänzlich verschie-

tieren die Bilder weniger die Realität architektonischer

dene Bauwerke, bei denen es also keine Schnittmenge an

Metamorphosen, sondern vielmehr die symbolische Aus-

gemeinsamer Bausub­stanz gibt, bezeichnet werden sol-

deutung der Prozesse durch zeitgenössische Beobachter.

len, die zeitlich aufeinanderfolgen. Dies trifft zu, wenn ein

Mit der Inkorporation des alten Kultbaus in der Ver-

Gebäude komplett abgerissen wird, um an seiner Stelle ei-

mählungsszene sollen dessen spirituelle und sakrale

nen Neubau zu errichten, wie dies im 13. Jahrhundert bei

Qualitäten und Traditionen dem neuen Kirchenbau ein-

den Bischofskirchen von Bamberg, Köln und Magdeburg

verleibt werden. Bei der »Verkündigung« wird hingegen

der Fall war. Obgleich etwa die Institution Magdeburger

eine Dialektik von Alt und Neu inszeniert, welche die Ge-

Dom kontinuierlich weiterexistierte, so wurde das Bau-

schichte der Kirche vor der Folie des Neuen ebenso betont

werk Magdeburger Dom ab 1209 durch ein substanziell

wie die Erneuerung der Kirche vor der Folie des Alten.

und physisch anderes Bauwerk vollständig substituiert.670

Damit stellt sich die wichtige Erkenntnis ein, dass mit-

Dem heutigen Bauwerk Magdeburger Dom ging demnach

telalterliche Bildmedien auf eine religiöse wie auch me-

ein Vorgängerbau voraus.

morative Dimension architektonischer Metamorphosen

Beim Trierer Dom hingegen findet sich trotz der lan-

hinweisen, wie sie in dieser Arbeit auf der Basis architek-

gen und deshalb komplizierten Baugeschichte kein Vorgän-

tonischer Analysen hergeleitet werden.

gerbau der heutigen Kirche, denn das Bauwerk wurde nie

5.1.6 Kritik des Modells baulicher Entwicklung durch Vorgängerbauten

vollzog sich durch Wiederaufbau, Umbau oder Anbau; es

gänzlich abgerissen.671 Die Metamorphose des Trierer Doms gab jedoch nie einen Neubau. Selbst die weitreichende Neukonzeption der Kirche im 11. Jahrhundert, als die seit dem Die Baugeschichte mittelalterlicher Kirchen wird in der

4. Jahrhundert bestehende Folge von Basilika und Zentral-

Regel als Abfolge von Vorgängerbauten dargestellt. Zur

bau endgültig zugunsten eines einheitlichen Langraumes

Un­ terscheidung der unterschiedlichen Bauten werden

mit Doppelchor aufgegeben wurde, war genau betrachtet

die­ se entweder mit römischen Ziffern versehen (z.  B.

kein Neubau, sondern eine Erweiterung des Quadratbaus

»Bau IV«) oder nach Stilepochen benannt (z.  B. »ottoni-

nach Westen, bei der in großem Umfang spätantike Bau-

668 Kap. 5.1.3. 669 Ebd.

670 Kap. 5.2. 671 Kap. 2.2.1.

158

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

substanz bewahrt wurde. Die Identität nicht nur der Insti-

haus erst zum Ende des 12. Jahrhunderts in retrospektiven

tution, sondern auch des Bauwerks Trierer Dom blieb somit

Formen fertiggestellt wurde.673 Damit erscheint die Archi-

gewahrt. Demzufolge kann der architektonische Zustand

tektur des Mainzer Domlanghauses aber in einem ganz

vor Beginn der jeweiligen Baukampagne nicht als Vorgän-

anderen Licht, denn es handelt sich demnach nicht um

gerbau des Zustandes danach bezeichnet werden.

eine Modernisierung in rückständigen Formen, sondern

Insofern ist es im Falle von Metamorphosen unpas-

um einen Weiterbau in bewusst retrospektiven Formen.674

send, wenn der bauliche Zustand der Kirche in einem

Für den Dom zu Speyer konnte jüngst aufgezeigt wer-

bestimmten Zeitraum als Bau X oder ähnlich bezeichnet

den, dass die Annahme aufeinanderfolgender Bauten,

wird, weil es das Vorhandensein eines Vorgängerbaus im-

die in diesem Fall als Bau I und Bau II in die Architektur­

pliziert. Treffender wäre es, stattdessen vom baulichen

geschichte eingegangen sind, die Baugeschichte des

Zustand in der Zeit X oder von der x-zeitlichen Baugestalt

Doms verunklären.675 In der älteren Literatur wurde meist

zu sprechen. So suggerieren beispielsweise hinsichtlich

davon ausgegangen, dass die Bischofskirche bei der Weihe

der Baugeschichte des Freiburger Münsters die Bezeich-

1061 fertiggestellt gewesen sei.676 Infolgedessen rekons-

nungen »konradinisches« und »bertholdinisches« Müns-

truierte man den »Bau I« als vollständiges Gebäude mit

ter, dass es sich um unterschiedliche, aufeinanderfolgende

einem oberen Raumabschluss. Weil keine Spuren einer

Gebäude handelt. Tatsächlich meint das »bertholdinische

Wölbung gefunden wurden, zeigen die Rekonstruktionen

Münster« jedoch einen Bauzustand zu Beginn des 13. Jahr-

»Bau I« als flachgedeckten Kastenraum, der zu einem Pa-

hunderts, bei dem die Ostteile des »konradinischen Müns-

radigma der deutschen Frühromanik erhoben wurde und

ters« umgebaut worden sind.672

somit das Bild von der Architektur jener Zeit wesentlich

Die Kritik des Modells baulicher Entwicklung durch

prägte.677 Dass auch für eine Flachdecke keine Spuren zu

Vorgängerbauten zielt nicht nur auf eine Präzisierung des

finden waren, wurde geflissentlich übersehen. Die Re-

wissenschaftlichen Sprachgebrauchs ab, sondern ist von

vision des Forschungsstands und der ihm zugrunde lie-

methodischer Relevanz, weil die einseitige Verengung ar-

genden Argumente ergab jedoch, dass der Dom zu Speyer

chitektonischer Entwicklung auf das Modell konsekuti-

1061 keineswegs fertiggestellt war, sondern aufgrund kon-

ver Vorgängerbauten und die daraus resultierenden Ter-

struktiver Probleme mit der Tonne des Sanktuariums zum

mini zu Fehlinterpretationen führen können. So wurde

Erliegen kam, bevor in den 1080er Jahren eine zweite

beispielsweise in der älteren Literatur angenommen, das

Baukam­pagne mit dem Ziel begann, die Bischofskirche

Langhaus des Mainzer Doms wäre bereits zu Beginn des

nach einem modifizierten Plan (»Bau II«) zu vollenden.678

12. Jahrhunderts samt Gewölben und Seitenschiffswän-

Es liegen darüber hinaus Indizien vor, dass ursprünglich

den fertiggestellt und die genannten Bauteile zum Ende

eine Tonnenwölbung für das Mittelschiff geplant gewesen

des Jahrhunderts durch neue ersetzt worden, weil man da-

war,679 die aber wegen der Schwierigkeiten mit der Sank-

von ausging, dass aus jeder Baukampagne ein vollendeter

tuariumstonne nicht zur Ausführung kam. Die Annahme

Gebäudeteil hervorgegangen sei. Im Bezug auf das Main-

von konsekutiven Folgebauten hatte somit nicht nur für

zer Domlanghaus wurde diese Vorstellung schon 1986 von

die Baugeschichte des Doms zu Speyer, sondern generell

Dethard von Winterfeld mit guten Gründen hinterfragt

für das Bild der Frühromanik weitreichende Konsequen-

und stattdessen aufgezeigt, dass das unvollendete Lang-

zen, die es nunmehr zu hinterfragen gilt.

5.2. Räumliche Spuren der Vergangenheit bei kompletten Neubauten Einleitung

ralbauten auch mittels totaler Neubauten von Kirchen.

Parallel zur sukzessiven Metamorphose von Sakralbau-

Diese Kategorie dominiert seit Langem das Bild von der

ten vollzog sich die Entwicklung mittelalterlicher Sak-

mittelalterlichen Baukultur. Aufgrund der vollständigen

672 673 674 675

676 677 678 679

Kap. 5.1.3. Von Winterfeld 1986, S. 22–27. Vgl. Kap. 4.2.1 und 4.2.2. Horn 2013, S. 174–176.

Z. B. Kubach/Haas 1972, S. 697; Klimm 1953, S. 16, 47. Horn 2013, S. 169f. Ebd., S. 174–176. Ebd., S. 158–174.

5.2  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT BEI KOMPLETTEN NEUBAUTEN

159

Substitution des Vorgängerbaus könnte man annehmen, dass totale Neubauten keinerlei Spuren der Vergangenheit aufweisen. Diese Annahme ist jedoch falsch, wie bereits im Zusammenhang mit der Imitation alter Formen, aber auch mit der Integration alter Werkstücke aufgezeigt werden konnte. So lassen zum Beispiel die Neubauten der Dome zu Magdeburg und Bamberg unterschiedliche Spuren der Vergangenheit erkennen, die teilweise gerade­zu inszeniert wurden. Im Folgenden wird gezeigt, dass zahlreiche Neubauten auch räumliche Spuren zur Vergangen­ heit aufweisen, welche denjenigen der Bauwerke, die eine fortwährende Metamorphose durchliefen, ähneln. Das mag insofern überraschen, als bei einer kompletten Neuplanung baulich schließlich nicht die Notwendigkeit bestand, an Vorhandenes anzuknüpfen. In vielen Fällen wäre es organisatorisch gesehen sogar einfacher gewesen, die neue Kirche an einem anderen Ort zu errichten. Der

5.15  Magdeburg, Dom, Grundriss mit Rekonstruktion des Vorgän­ gerdoms nach Schubert/Leopold (zum aktuellen Forschungsstand vgl. Meller/Schenkluhn/Schmuhl 2009)

liturgische Betrieb hätte in der alten Kirche ungestört weiterlaufen können. Darüber hinaus hätte die Wahl eines

verschoben, sondern rotiert, was einen andersartigen,

anderen Platzes die Ausführung bautechnischer Prozesse

stärkeren Ortsbezug zur Folge hat.684 Den Bauverlauf hat

erleichtert. Stattdessen musste das Bestandsgebäude per-

die Achsrotation nicht gerade vereinfacht, denn die al-

manent mitberücksichtigt werden. Das Aufdecken räum-

ten Fundamente mussten von den neuen s­pitzwinklig

licher Spuren der Vergangenheit bei Neubauprojekten

durchschnitten werden, was einen Abbruch der alten

erlaubt insofern Rückschlüsse auf die Bedeutung der Tra-

Gründungen in großem Umfang zur Folge hatte. Eine

dition des Ortes.

Achsverschiebung hätte demgegenüber den Bauverlauf erleichtert, weil man neben den alten Fundamenten hätte

Magdeburg, Dom

fundamentieren können.

Der Magdeburger Dom ist ein Paradebeispiel für einen

Insofern drängt sich die Frage nach dem Sinn der

kompletten Neubau, bei dem die Inszenierung der Vergan-

Achsrotation auf. An anderer Stelle hat sich der Verfasser

genheit ein wichtiges Moment der Planungen darstellte.680

intensiv mit dieser Frage beschäftigt und die These aufge-

In der Literatur wurde der Neubau des Magdeburger

stellt, dass das Grab der Königin Edith, die mit ihrem Ge-

Doms hingegen primär als Bruch mit der Vergangenheit

mahl, dem späteren Kaiser und Bistumsgründer Otto I., in

gewertet.681 Anlass zu dieser Auffassung gab der Umstand,

besonderer Beziehung zu Magdeburg stand und in Mag-

dass die Mittelachse der neuen Kathedrale gegenüber dem

deburg trotz fehlender Kanonisierung wie eine Heilige

Vorgängerbau um ca. acht Grad gegen den Uhrzeigersinn

verehrt wurde,685 den Ausgangspunkt der Achs­rotation bil-

gedreht wurde (Abb. 5.15),

so dass eine Integration alter

dete.686 Verkürzt dargestellt offenbart der archäologische

Gebäude- oder Bauteile unmöglich wurde. Dabei übersah

Befund nämlich eine auffällige Überlagerung des heuti-

man jedoch die Tatsache, dass der Neubau trotzdem zum

gen Grabs der Königin und des nordöstlichen Chorflan-

überwiegenden Teil die alte Vorgängerkirche überlagert.

kenturms der Vorgängerkirche, was sich in verblüffender

682

Mit dazu beigetragen hat wohl eine unpräzise Charakte-

Weise mit der frühmittelalterlichen Überlieferung zum

risierung des Sachverhalts, der häufig als »Achsverschie-

Standort des Grabmals deckt. In Anbetracht dessen und

bung« bezeichnet wurde.683 Die Mittelachse der neuen

weiterer Indizien scheint die Achsrotation aus der Ab-

Kirche wurde jedoch gegenüber der Vorgängerin nicht

sicht zu resultieren, das Grab Ediths auf der Mittelachse

680 Ausführlich zur Tradition des Ortes im Magdeburger Dom: Horn 2015a, S. 93–143; Ders. 2011. 681 Z. B. Klein 1998, S. 514; Schubert 1984, S. 31. 682 Bei den jüngsten Ausgrabungen im Magdeburger Dom konnte die alte Achslage genau bestimmt werden (Kuhn, R. 2009, S. 43–45.).

683 Z. B. Sußmann 2009, S. 129; Schubert/Leopold 2001, S. 355; Schubert 1998, S. 14; Nicolai 1989, S. 149. 684 Horn 2015a, S. 129. 685 Päffgen 2009, S. 205. 686 Horn 2015a, S. 129–135 (mit Diskussion anderer Erklärungsansätze).

160

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

5.16  Bamberg, Dom, Grundriss mit Vorgängerbau nach Grabungsbefund des Doms zu platzieren, ohne es jedoch zu verlegen. Trifft

Westquerhaus zugunsten einer zeitgemäßen Konzeption

diese These zu, wäre die Achsrotation nicht als Bruch

nach dem Vorbild französischer Kathedralen ­aufgegeben

mit der Vergangenheit zu werten, sondern im Gegenteil

wurde. Insofern verwundert es nicht, dass die alte Lite­

aus der Tradition des Ortes heraus motiviert. Zweifelsfrei

ratur annahm, der Bamberger Dom wäre über altem

nachweisen lässt sich ein vergleichbares Vorgehen beim

Mauerwerk oder zumindest auf den alten Fundamenten

Neubau der Marburger Elisabethkirche rund 25 Jahre spä-

errichtet worden.691 Die archäologischen Grabungen im

ter,687 aber auch schriftlich wurde ein derartiges Vorgehen

20. Jahrhundert offenbarten indes, dass der Neubau den

im Mittelalter beschrieben.688

alten Dom nach dem Matroschka-Prinzip einhüllte und insofern keine alten Gebäude- oder Bauteile integriert

Bamberg, Dom

wurden. Die retrospektive Disposition des Bamberger

Parallel zum Magdeburger Domneubau entstand in Bam-

Doms resultiert somit aus der bewussten Entscheidung,

berg seit den 1210er Jahren eine neue Bischofskirche,

die im 13. Jahrhundert unübliche Disposition der 1012 ge-

welche den von Kaiser Heinrich II. und seiner Gemahlin

weihten Vorgängerkirche zu wiederholen.

Kunigunde gegründeten Vorgängerbau ersetzte.689 Beim

Im Unterschied zu den im Folgenden thematisierten

Bamberger Dom des 13. Jahrhunderts fällt zunächst die

Neubauten in Köln, Trier und Marburg blieb in Bamberg

scheinbar anachronistische Gesamtkonzeption des Ge-

die Kontinuität des Ortes nicht nur gewährleistet, sondern

bäudes auf (Abb. 5.16). Westquerhaus, Doppelchörigkeit

wurde durch die retrospektive Disposition demonstrativ

und Lage des Hauptchores im Westen kennzeichneten

zur Schau gestellt. Diese Intention spiegelt sich auch auf

ambitionierte frühmittelalterliche Kirchenbauten bis in

anderen Ebenen wieder, denn der Bamberger Dom bietet

das 11. Jahrhundert hinein, wie den Ende des 10. Jahr­

ebenso ein prägnantes Beispiel für die bewusste Imitation

hunderts unter Erzbischof Willigis begonnenen Neubau

alter Formen.692 Die räumlichen und materiellen Bezüge

des Mainzer Doms,690 entsprachen aber im 13. Jahrhun-

zur Tradition des Ortes stehen in einem ganzheitlichen

dert nicht mehr den Vorstellungen der Zeit, wie beispiels-

Entwurfskontext, der offensichtlich auf die Inszenierung

weise der ca. 35 Jahre später begonnene Neubau des Köl-

der Vergangenheit abzielte und somit als gebautes Do-

ner Doms verdeutlicht, wo die alte Doppelchoranlage mit

kument der Gründung durch das Kaiserpaar fungierte,

687 Siehe weiter unten. 688 Altfrid, Vita Liudgeri, 13f (ed. Pertz, S. 408). – Kap. 6.2. 689 Zur Baugeschichte des Bamberger Doms: von Winterfeld 1979 (Monographie); Haas 1973 (Überblick).

690 Hierzu zuletzt: von Winterfeld 2011; Ders. 2010. 691 Zur älteren Forschungsgeschichte: von Winterfeld 1979, S. 12–15. 692 Kap. 4.2.1.

5.2  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT BEI KOMPLETTEN NEUBAUTEN

161

welches im Bamberger Dom begraben war und seit dem

bedeutsamen Reliquie, die in der Spätantike in der dama-

13. Jahrhundert als heilig verehrt wurde.

ligen Südkirche aufbewahrt und verehrt wurde.697

Trier, Liebfrauenkirche

lichen Beziehungen zur Vorgängerkirche wie in vergleich-

In der Literatur wurden die partiell registrierten räumDie gotische Liebfrauenkirche in Trier, deren Bau nach

baren Fällen damit erklärt, dass die alten Fundamente

aktuellem Kenntnisstand ab 1227 neu errichtet wurde,

693

genutzt worden wären.698 Die Grabungen in der Liebfrau-

liefert ein überraschendes Beispiel dafür, dass ein Neu-

enkirche haben jedoch gezeigt, dass diese Annahme nicht

bauprojekt, das bisher gerade wegen seiner Fortschritt-

stimmt.699 Die gotischen Einzelfundamente wurden unter

lichkeit wahrgenommen wurde, in räumlicher Hinsicht

Abriss der alten Fundamentstreifen bis auf den gewach-

signifikante Spuren der Vergangenheit aufweisen kann.694

senen Boden geführt (vgl. Abb. 5.10). Das mussten sie

Der Verfasser hat sich an anderer Stelle eingehend mit

auch, denn die vorhandenen Streifengründungen der al-

der Tradition des Ortes als formbestimmendem Moment

ten Basilika waren auf die völlig andersartigen statischen

der Liebfrauenkirche auseinandergesetzt.

Im Ergebnis

Be­lastungen des kreuzrippengewölbten Zentralbaus über-

konnten zwei historische Referenzebenen des gotischen

haupt nicht ausgelegt.700 Die räumlichen Beziehungen

Zentralbaus aufgedeckt werden.

zum Vorgängerbau wurden also planvoll hergestellt.

695

Die erste Ebene rekurriert auf den Vorgängerbau,

Auf einer zweiten, übergeordneten Referenzebene re-

an dessen Stelle die gotische Kirche trat. So stimmen

kurriert die Gestalt der Liebfrauenkirche auch auf die Tra-

die Länge und Breite der gotischen Kirche, die Fluch-

dition des Trierer Domkomplexes, in dessen liturgische Ab-

ten der Stützen in Ost-West-Richtung und auch die

läufe sie als integraler Bestandteil im Mittelalter und wohl

Lage des Westportals in auffälliger Weise mit den

auch früher fest eingebunden war.701 So basiert der Grund-

gisch nachgewiesenen älteren Bauzuständen archäolo­

riss des gotischen Zentralbaus im Kern auf dem Grundriss

bis in die frühchristliche Gründungszeit hinein überein

des frühchristlichen Quadratbaus, der auch die Grundriss-

(vgl. Abb. 5.05).696 Besondere Aufmerksamkeit verdient

disposition des Trierer Doms bestimmt (Taf. 5.08).702 Der

die Tatsache, dass Lage und Dimensionen des goti-

Quadratbau wiederum war von konstitutiver Bedeutung,

schen Chores quasi mit dem Chor des Vorgängerbaus

weil er als authentischer Palast der heiligen Kaiserin He-

übereinstimmt. Sogar der Altar blieb am selben Ort

lena angesehen wurde, aus welchem der Dom der Legende

stehen. Obwohl die Materie des alten Bauwerks komplett

nach hervorging.703 Der Neubau der Trierer Liebfrauenkir-

abgetragen und durch ein Gebäude mit völlig anderer

che erfolgte in Abkehr von der vormaligen Basilika nach

Kubatur ersetzt wurde, blieb der Ort des Chores mit dem

einem neuen Konzept mit neuer Kubatur und neuen For-

Hochaltar ein unverrückbarer Fixpunkt, dessen Tradie-

men nach Vorbild der Kathedrale von Reims.704 Mittels der

rung offensichtlich eine Bedingung für die Konzeption

Grundrissfigur verankerte man den neuen Kirchenbau

des Neubauprojekts darstellte. Die räumliche Beziehung

dennoch in der übergreifenden, sinnstiftenden Helena-

zur eigenen Vergangenheit verdichtet sich an dem Ort

Tradition des Domkomplexes wie auch der Tradition des

höchster kultischer Bedeutung. Möglicherweise steht

Vorgängerbaus. Die neue Kirche wurde gleichsam über

diese Tradition des Ortes im Zusammenhang mit einer

den Spuren ihrer Vergangenheit konstruiert.

693 Datierung nach Ronig 2007, S. 164–166, und Schenkluhn/van ­Stipelen 1983, S. 29 mit Anm. 24. 694 Grundlegend zur Liebfrauenkirche: Tacke/Heinz 2016; Ehlen 2011; Borger-Keweloh 1986; Lückger/Bunjes 1938. 695 Horn 2016a; Ders. 2015a, S. 76–92. 696 Die Grundrissgestalt des unmittelbaren Vorgängerbaus konnte erst vor Kurzem durch die Grabungen von Winfried Weber stichhaltig ermittelt werden (Weber 2016, Ders. 2011a, Ders. 2009). Demzufolge handelte es sich um eine dreischiffige Basilika, womit die ältere These von Theodor Kempf, der eine kleine Saalkirche als Vorgängerbau rekonstruierte (Kempf 1975), eindeutig widerlegt wurde. Dar­ über hinaus bestätigen die Grabungsergebnisse die Beobachtungen des Verfassers, der starke räumliche Beziehungen der gotischen Liebfrauenkirche zur spätantiken Vorgängerbasilika aufzeigen konnte, was nahelegte, dass auch der unmittelbare Vorgängerbau der antiken Grundrissgestalt ähnelte und somit eine räumliche Kontinuität bestand (Horn 2016a, S. 29–31; Ders. 2015a S. 76–83). 697 Bei den Grabungen in der Liebfrauenkirche 1949 entdeckte man

698 699 700 701 702 703 704

Graffiti, welche eine christliche Nutzung der Südkirche im 4. Jahrhundert belegen (Binsfeld 2006; Dies. 2004). Theodor Kempf schloss aus den Graffiti auf das Vorhandensein einer bedeutsamen Herrenreliquie, was in Trier stets die Tunika Christi impliziert (zuletzt: Kempf 1980, S. 113f). Andrea Binsfeld relativierte die weitreichenden Interpretationen Kempfs zwar, konstatierte aber, dass das Vorhandensein einer bedeutsamen Herrenreliquie tatsächlich die beste Erklärung für die Graffiti bietet (Binsfeld 2004, S. 251f). Z. B. Ronig 2003, S. 217; Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29. Weber 2016, S. 160; Ders. 2011, S. 32; Ders. 2009, S. 48, Abb. 2. Horn 2015a, S. 80f. Zur Liturgie von Dom und Liebfrauen: Heinz 2016. Horn 2016a, S. 36; Ders. 2015a, S. 88f; Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 29. Kap. 2.2.1. Die Gründe für die vieldiskutierte Übernahme gotischer Formen aus Reims können in diesem Rahmen nicht ausgeführt werden. Siehe hierzu: Horn 2016a, S. 37f; Ders. 2015a, S. 91f.

162

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

Marburg, Elisabethkirche

Grabmal der Elisabeth von Thüringen, deren Heiligspre-

Die Marburger Elisabethkirche, deren Grundsteinlegung

chung 1235 den Anlass für den Neubau ihrer Grabeskirche

1235 schriftlich überliefert ist, wurde vom Deutschen Orden

gab.711 Die Grabtumba der ungarischen Königstochter be-

als gänzlich neu konzipierte Hallenkirche anstelle einer klei-

findet sich in der nördlichen Konche, wo sie merkwürdig

nen Saalkirche errichtet.705 Für erhöhte Aufmerksamkeit in

schräg im Raum steht, ohne dass ein Bezug zur Geomet-

der kunsthistorischen Forschung sorgt das konsequente

rie des Grundrisses erkennbar wäre. Der Grund für diese

Aufgreifen von Formen der zeitgenössischen französischen

Anomalie wird ersichtlich, wenn man den Grundriss der

Sakralarchitektur, welches dazu führte, die Marburger

gotischen Kirche mit dem ergrabenen Grundriss der vo-

Elisabethkirche neben der Trierer Liebfrauenkirche stil­

rangegangenen Franziskuskirche, die zum von Elisabeth

geschichtlich als einen der frühesten gotischen Bauten

gegründeten Hospital in Marburg gehörte, in Beziehung

im Raum des deutsch-römischen Kaiserreichs zu klas­

setzt. Das Grabmal der Elisabeth befindet sich nämlich

sifizieren,706 so dass beide Gebäude in der Literatur oftmals

noch an demselben Ort wie im Vorgängerbau, wo es sich

707

verglichen und zueinander in Beziehung gesetzt wurden.

quasi in der Mittelachse des Saales befand.712 Im Konzept

Im Kontext dieser Arbeit interessiert hingegen das

der neuen Elisabethkirche sah man allerdings die nörd­

räumliche Verhältnis des neuen Sakralbaus zum vorheri­

liche Konche für die Beherbergung und Präsentation des

gen.708 Während die Trierer Liebfrauenkirche, wie dar­

Heiligengrabes vor. Die Art und Weise, auf welche die

gelegt, großenteils den Grundrissdimensionen und -pro­

Neupositionierung des Elisabethgrabs vollzogen wurde,

portionen ihrer Vorgängerin folgt, unterscheidet sich

ist höchst aufschlussreich. Man versetzte nicht etwa das

die Marburger Elisabethkirche beträchtlich von ihrem

Grab von der alten Kirche in die Nord­konche des Neubaus,

Vorgängerbau.

An Stelle der relativ bescheidenen Saal-

sondern konzipierte die neue Kirche um den bestehenden

kirche mit einfacher Apsis trat eine erheblich größere,

Ort des Grabmals herum, weshalb die Ausrichtung des

dreischiffige Hallenkirche mit einem Trikonchos im Os-

Grabes erhalten blieb. Während die alte Franziskuskirche

ten (Taf. 5.09). Außerdem errichtete man den neuen Kir-

komplett abgerissen wurde,713 bildete der ursprüngliche

chenbau, im Unterschied zu Trier, nicht genau über der

Ort des Elisabethgrabes einen geographischen Fixpunkt,

Vorgängerkirche, sondern in der Hauptsache daneben,

dessen Inkorporation offensichtlich eine Bedingung an

so dass sich die Grundrisse nur punktuell überschneiden.

den neuen Entwurf stellte.

709

Darüber hinaus richtete man den Neubau auch noch an-

Die bei der Umhüllung des Graborts unausweich­

ders aus, indem man den Grundriss gegenüber der vor­

lichen partiellen Überschneidungen mit der Vorgängerkir-

maligen Kirche im Uhrzeigersinn schwenkte.

che nutzte man, um räumliche Beziehungen zum Neubau

Auf den ersten Blick scheint die Tradition des Ortes

herzustellen, auf die bereits Wolfgang Schenkluhn und

also beim Neubau der Marburger Elisabethkirche keine

Peter van Stipelen hinwiesen.714 Es fällt auf, dass die Mau-

Rolle gespielt zu haben. Auf den zweiten Blick wird jedoch

ern der Nordkonche bis auf den südöstlichen Dienstbün-

erkennbar, dass die Tradition des Ortes für die Kirche so-

del genau über dem Vorgängerbau errichtet wurden. Da-

gar von konstitutiver Bedeutung war. Ein Element in der

bei wurde das Polygon so ausgerichtet, dass die westliche

Kirche weicht nämlich in auffallender Weise von der Strin-

Stirnrippe und der Schlussstein des nördlichen Konchen-

genz der architektonischen Ordnung ab, der sich die üb­

gewölbes recht genau an die Stelle eines markanten Gurt-

rigen Ausstattungsstücke unterordnen; selbst die später

oder Triumphbogens traten, welcher die Franziskuskirche

angelegten Gräber der hessischen Landgrafen.710 Es ist das

in zwei Raumkompartimente unterteilte. Schließlich legte

705 Zur Elisabethkirche: Strickhausen 2001; Müller 1997; Köstler 1995 (Ausstattung); Michler 1984; Arnold/Liebing 1983; Kunst 1983; Meyer-Barkhausen 1925; Hamann/Kästner 1924. 706 Z. B.: Michler 1984, S. 14; Hamann/Kästner 1924, S. 3f, 35. 707 Z. B.: Schenkluhn/van Stipelen 1983; Hamann/Kästner 1924, S. 38– 42. 708 Zur räumlichen Relation von Alt- zu Neubau unter bauhistorischen Gesichtspunkten: Michler 1984, S. 31–34; Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 21–25. 709 Zur Vorgängerkirche: Meschede 1967. 710 Zu den Gräbern in der Südkonche: Köstler 1995, S. 133–175. 711 Zur Heiligsprechung: Heinemeyer 1983, S. 56f. 712 Zur Orientierung des sogenannten Konradbaus: Atzbach 2007, S. 55f.

713 Das Franziskus-Patrozinium der Vorgängerkirche übertrug man auf die Firmaneikapelle des Deutschen Ordens, welche bemerkenswerterweise über dem Wohnhaus der Elisabeth erbaut wurde. Die neue Hospitalkapelle wurde hingegen der Elisabeth geweiht. Insofern blieb das anfängliche Beziehungsgeflecht Elisabeth – Hospital – Franziskus nicht nur in räumlicher Nähe der neu gebauten Elisabethkirche erhalten, sondern wurde noch durch Bezugssetzungen zum als Bauherr auftretenden Ritterorden erweitert. (Zum Wohnhaus: Meschede 1967, S. 98f. – Zur Firmaneikapelle: Atzbach 2007, S. 89–101; Meschede 1967, S. 115f. – Zur neuen Hospitalkapelle: Ebd.). 714 Schenkluhn/van Stipelen 1983, S. 21–23; so auch Müller 2009a, S. 208f.

5.2  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT BEI KOMPLETTEN NEUBAUTEN

163

man wohl kaum zufällig genau an der Stelle, an welcher

eine von Konrad geplante Neukonzeption der Hospital-

sich das Westportal der alten Kirche befand, das Nordpor-

anlage, die allerdings über den Kirchenbau nicht hinaus

tal der neuen Hallenkirche an.

kam.719 Ob dies nun zutrifft oder nicht spielt jedoch für die-

Weiterführend stellt sich die Frage, ob man die von der

sen Untersuchungsrahmen keine Rolle. Wesentlich ist al-

architektonischen Ordnung erkennbar abweichende Aus-

lein der Sachverhalt, dass die ursprüngliche Ausrichtung

richtung des Elisabethgrabs lediglich billigend in Kauf

des Grabes unverändert beibehalten wurde.

nahm oder absichtlich herbeiführte, denn die auffällige

Das Grab der heiligen Elisabeth stellte demnach bei

Abweichung von der sonstigen architektonischen Ord-

all den rasch aufeinanderfolgenden Veränderungen in

nung hebt das Grabmal aus dem Umfeld hervor und kenn-

der Umgebung den ruhenden Pol dar und definierte den

zeichnet es als etwas Besonderes. Diesbezüglich bleibt

sinnstiftenden Ausgangspunkt für die Planung der neuen

festzuhalten, dass es keines großen Aufwands bedurft

Kirche. Ein vergleichbares Vorgehen wird in der Vita Liud-

hätte, um Grabmal und architektonische Struktur stärker

geri in Bezug auf den Bau der Lebuinuskirche in Deven-

aufeinander zu beziehen. Hätte man die Hauptachse des

ter geschildert.720 Die geradezu magische Kraft, welche die

Neubaus nur ein wenig mehr rotiert, so stünde die Stirn-

mittelalterlichen Menschen dem Ort des Elisabethgrabes

seite der Tumba parallel zur Außenwand der polygonalen

beimaßen, belegen die Berichte über Wunderheilungen

Konche, womit zumindest ein gewisser Bezug zur geo-

kurz nach dem Tod der Landgräfin, welche mit der rings

metrischen Ordnung der Kirche hergestellt worden wäre.

um ihr Grab liegenden Erde angeblich bewirkt wurden

Doch auch die Drehung des Grabmals selbst wäre tech-

und dazu führten, dass eine regelrechte Grube unter dem

nisch ohne große Schwierigkeiten zu bewältigen gewesen,

ersten Grabmal entstand.721 Die erkennbar unveränderte

zumal die Tumba aufgrund des höher liegenden Boden-

Lage der Tumba in der neuen Grabeskirche visualisierte

niveaus der neuen Hallenkirche ohnehin fast zwei Meter

die ungebrochene Kontinuität des Ortes und bürgte inso-

angehoben werden musste.715 Das spricht dafür, dass das

fern für dessen Authentizität.

Elisabethgrab gewollt von der architektonischen Ordnung

Darüber hinaus wurde die Elisabethkirche selbst zu ei-

abweicht. Ein ganz ähnliches Vorgehen lässt sich beim

nem ehrwürdigen Teil der Heiligengeschichte, indem die

Neubau des Bonner Münsters fast 200 Jahre früher erken-

eigenhändige Gründung der ursprünglichen Hospitals­

nen, wo die angeblichen Gräber der römischen Märtyrer

kapelle durch Elisabeth tradiert wurde.722 Als Nachfolge­

Cassius und Florentius in erkennbar abweichender Achs-

institution konnte die Marburger Elisabethkirche sich deshalb darauf berufen, nicht nur die Gebeine der Heili­

lage präsentiert wurden.716 In diesem Zusammenhang interessiert, dass die Grab-

gen zu beherbergen, sondern auch aus ihrem Wirken

tumba bereits im Vorgängerbau nicht parallel zu den Wän-

selbst hervorgegangen zu sein, was mittels diverser Bild-

den und somit außerhalb der architektonischen Ordnung

werke in der Kirche kommuniziert wurde.723 Ungeachtet

stand. Die Ausrichtung des Grabmals resultiert stattdes-

der tatsächlichen historischen Verhältnisse wurde die

sen aus der Orientierung einer Kapelle des von Elisabeth

gotische Elisabethkirche dabei mit der Hospitalskapelle

gegründeten Hospitals, in der sie nach ihrem frühen Tod

gleichgesetzt, wie eine spätgotische Skulptur der Heiligen

bestattet wurde (Taf. 5.10).

Ihr Beichtvater und Mentor

zeigt, die sogenannte »Französische Elisabeth«, die derzeit

Konrad von Thüringen ließ an Stelle der Kapelle eine stei-

im östlichen Joch des Nordseitenschiffs aufgestellt ist. Im

nerne, dem Franziskus geweihte Saalkirche als Memo-

ursprünglichen Aufstellungskontext am Grab der thürin-

rialbau der bis dato noch nicht kanonisierten Elisabeth

gischen Landgräfin stand die Figur in engerem und sig-

errichten.

Kurt Meschede deutete die vom Grab abwei-

nifikanterem Bezug zum Elisabeth-Kult.724 In ihrer linken

chende Ausrichtung der Franziskuskirche als Indiz für

Hand hält die als elegante Adlige dargestellte Elisabeth

715 716 717 718 719 720 721

weder eindeutig bestätigt noch widerlegt. Meschede geht davon aus, dass die Kapelle bereits vor Anlage des Hospitals bestand und bei dessen Errichtung nur umgenutzt wurde (Ders., S. 103). Da man sich Elisabeth allerdings historisch korrekt als Gründerin des Hospitals erinnerte, liegt es nahe, dass man ihr auch die Gründung der Kapelle zudachte. Spätestens 1340 hielt man Elisabeth jedenfalls für die Gründerin der Kirche, wie Meschede unter Hinweis auf ein Bild der Heiligen im Magdeburger Dom selbst feststellt (Ders., S. 102f). 723 Zur bildlichen Darstellung der Elisabeth mit einem Kirchenmodell: Rechberg 1983, S. 95–108. 724 Ebd., S. 108.

718

717

Küch 1926, S. 198f. Kap. 6.2. Meschede 1967, S. 100–102. Ebd., S. 104, 107f. Ebd., S. 111f. Altfrid, Vita Liudgeri, 13f (ed. Pertz, S. 408). – Kap. 6.2. Aufzählung bei Meschede 1967, S. 101f. Der Autor geht ferner davon aus, dass der Praxis der Erdentnahme durch die Anlage eines Steinbodens beim Bau der Franziskuskirche ein Ende gesetzt wurde (Ders., S. 107). 722 Ob Elisabeth die Hospitalkapelle tatsächlich gründete, wurde bisher

164

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

ein Modell ihrer Grabeskirche, welches sie als Gründerin

sich Spuren der Vergangenheit selbst in diesem dezidiert

ausweist.

Trotz der vertikal überlängten Proportionen

fortschrittlichen Bauwerk finden lassen.733 Die gotische

725

des Modells erkennt man die Architektur der 1235 begon-

Kirche wurde nicht nur am Ort ihrer Vorgängerin erbaut,

nenen Kirche, welche erst nach dem Tod der Landgräfin

sondern auch deren Ausrichtung, im Gegensatz zum et-

von Thüringen zu ihren Ehren erbaut wurde. Elisabeth

was älteren Magdeburger Dom, übernommen, so dass

wurde demnach unmissverständlich als Gründerin der be-

sich die heutige Mittelachse des Doms mit der vorherigen

stehenden Kirche inszeniert. Zugleich belegt die um 1470

deckt (vgl. Taf. 5.01). Bezieht man auch noch die älteren

datierte Figur die kontinuierliche Pflege der Gründungs­

Baugestalten bis zurück in das 4./5. Jahrhundert in die Be-

tradition in nachfolgenden Jahrhunderten.

trachtung mit ein, indem man die rekonstruierten Grund-

726

risse mit dem bestehenden superponiert, so lässt sich eine

Köln, Dom

stark ortsgebundene Entwicklung der Architektur von der

In Köln begann ab 1248 ein ambitionierter Neubau des

Gotik bis in die Spätantike zurückverfolgen. Die Folgebau-

Doms, dessen Dimensionen alles zuvor Gebaute über-

ten umhüllten ihre jeweiligen Vorgänger, so dass sich die

treffen sollten.727 Die Vorgängerkirche, der sogenannte

Entwicklung des Kölner Doms quasi kontinuierlich nach

Al­ te Dom, wurde etappenweise abgerissen und sukzes-

dem Matroschka-Prinzip vollzog. Ausgehend von einem

sive durch eine Kathedrale nach französischem Vorbild

örtlichen Kern expandierte die Architektur dreidimensio­

ersetzt.

Dass sich die Fertigstellung letztendlich bis in

nal in den Raum. Die Expansion erfolgte nicht konzen-

das 19. Jahrhundert hinzog,729 ist für die hier untersuchte

trisch vom geometrischen Mittelpunkt aus, sondern in

Fragestellung unerheblich. Entscheidend ist, dass spätes-

Abhängigkeit der Richtung in unterschiedlichem Maße.

tens nach einem Brand kurz nach der Grundsteinlegung

Als Kern lässt sich der Bereich des gotischen Sanktuari-

das Ziel, die alte Bischofskirche komplett zu ersetzen, er-

ums ausmachen, der bereits im 6. Jahrhundert von einer

kennbar ist.730

Apsis besetzt war. Während die Kirche insbesondere nach

728

Stilgeschichtlich gilt der Baubeginn des Kölner Doms

Westen mehrfach deutlich verlängert wurde, fällt die Aus-

als einschneidendes Ereignis, welches das Ende der Ro-

dehnung nach Osten vergleichsweise bescheiden aus. Das

manik markiert und der gotischen Architektur französi-

verwundert insofern, als der unmittelbare Vorgängerbau

scher Prägung zum endgültigen Durchbruch im Imperium

des gotischen Doms eine doppelchörige Anlage war. Den-

verhilft.731 Dies resultiert aus der Beobachtung, dass man

noch lässt sich festhalten, dass der östliche Chor seit dem

in Köln das gotische System der großen französischen

6. Jahrhundert den Ankerpunkt der Ausdehnung bildet.

Kirchenbauten des späten 12. und 13. Jahrhunderts, ins-

Darüber hinaus sollte wohl vom Alten Dom zur go-

besondere Amiens, in bis dato ungekannter Konsequenz

tischen Kathedrale mittels der Sakraltopographie eine

übernahm.732 So hat es eine Berechtigung, dass sich die

räumliche Kontinuität hergestellt werden.734 So sollte der

Forschung in erster Linie auf die fortschrittlichen Aspekte

alte Petrusaltar im Westchor gemäß den Überlegungen

des Kölner Doms fokussierte.

Klaus Gereon Beuckers am alten Ort verbleiben und im

Die Untersuchung der räumlichen Beziehungen der

neuen Dom in Verbindung mit dem Kreuzaltar zum litur-

gotischen Kathedrale zu ihren Vorgängerinnen zeigt, dass

gischen Mittelpunkt des Langhauses werden.735 Trotz der

725 Brigitte Rechberg deutet das Kirchenmodell hingegen als Attribut, um Elisabeth als Kirchenpatronin auszuweisen (Dies. 1983). In zahllosen Vergleichsbeispielen kennzeichnet eine Kirche jedoch stets den Gründer, so zum Beispiel in St. Blasius und St. Johannes zu Braunschweig, wo Heinrich der Löwe auf seiner Grabtumba mit einem Modell der Kirche dargestellt wird oder an der Adamspforte des Bamberger Doms St. Peter und St. Georg, wo Kaiserin Kunigunde ein Kirchenmodell in der Hand hält, um beliebige Beispiele zu nennen. Ein Patron wird hingegen nur dann mit einer Kirche in der Hand abgebildet, wenn er zugleich als Gründer verehrt wurde, wie z. B. St. Goar auf seiner Grabplatte in der ehemaligen Stiftskirche und heutigen evangelischen Pfarrkirche St. Goar (heute in der katholischen Pfarrkirche St. Goar befindlich). 726 Datierung nach Rechberg 1983, S. 108. 727 Zur Baugeschichte des Kölner Doms: Beuckers 2004; Wolff 1989; Ders. 1968 (Beginn des gotischen Baus); Clemen 1937. 728 Mit dem Bauverlauf des gotischen Doms und dem parallelen Abriss des Alten Doms setzten sich zuletzt Ulrich Back und Thomas

Höltken auseinander, welche die archäologischen Befunde intensiv auswerteten (Dies. 2008). Dabei konnten die viel publizierten isometrischen Zeichnungen zum Bauverlauf von Arnold Wolff differenziert und im Detail korrigiert werden (vgl. Wolff 1989). Zum Dombau im 19. Jahrhundert: Schuhmacher 1993. Wolff 1984, S. 10. Nicolai 2009, S. 81: »ein neues Kapitel der Architekturgeschichte im deutschsprachigen Raum«; Beuckers 2004, S. 59: »Radikalität des Bruches mit dem bisherigen Formenvokabular«. Beuckers 2004, S. 30, 35f; Wolff 1998. Zu den Vorgängerbauten des Kölner Doms: Back/Höltken/Hochkirchen 2012; Bosman 2005; Ristow 2004; Ders. 2002; Wolff 1996; Weyres 1988; Wolff 1984; Doppelfeld/Weyres 1980. Beuckers 2004, S. 66–74. Bei der Chorweihe 1322, als absehbar wurde, dass eine Fertigstellung des Doms mittelfristig nicht zu realisieren war, kam es zu einer Neukonzeption der Sakraltopographie, so dass die ursprüngliche Planung nur noch rekonstruiert werden kann. Ebd., S. 69.

729 730 731 732 733 734

735

5.2  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT BEI KOMPLETTEN NEUBAUTEN

165

umfangreichen Expansion nach Westen hätte der Petrus-

Voraussetzungen und Zielen der jeweiligen architektoni-

altar somit einen signifikanten räumlichen Bezug zur Ver-

schen Kampagne erklärt.

gangenheit hergestellt.

In Magdeburg stand der nach 1207 begonnene Neubau der erzbischöflichen Kirche in einer großen kaiserlichen

Bacharach, Wernerkapelle

Tradition, denn die Kirche wurde von Kaiser Otto dem

Erwähnenswert erscheint der Neubau der Wernerkapelle

Großen und, unter Berücksichtigung der Vorgängerinsti-

in Bacharach nach 1287, als die ältere Kunibertkapelle,

tution, seiner ersten Gemahlin Königin Edith gegründet,

in der Werner den Quellen nach beigesetzt wurde, kom-

die auch beide im Dom begraben liegen. Die neue Kirche

plett durch einen feingliedrigen gotischen Neubau ersetzt

überlagert zwar weitgehend die alte, jedoch entschied

wurde.736 Die dortigen Grabungen in den 1980/90er Jahren

sich man sich zu einer Achsrotation, so dass die räum-

haben gezeigt, dass der Grundriss des Vorgängerbaus ar-

liche Kontinuität stärker gewahrt blieb als in Marburg,

chäologisch nicht nachweisbar ist, weil die Mauern der Ka-

aber gegenüber Trier und Köln weniger zum Tragen kam.

pelle – wie auch die des Nachfolgebaus – unmittelbar auf

Doch möglicherweise erklärt sich die in der Literatur viel

dem gewachsenen Stein standen und somit keine Funda­

diskutierte Achsrotation aus der Tradition des Ortes. So

mente aufwiesen.737 Dass der Neubau dennoch nach dem

sprechen einige Indizien dafür, dass man das Grab der

Matroschka-Prinzip erfolgte, lässt sich aus Schriftquellen

in Magdeburg wie eine Heilige verehrten Edith neu auf

des frühen 15. Jahrhunderts erfahren. Mehrere Zeugen, die

der Mittelachse der Kirche positionieren wollte, ohne es

im Rahmen des (erfolglosen) Kanonisationsverfahrens für

selbst zu bewegen, und zu diesem Zweck die Kirche neu

den Volksheiligen Werner aussagten, gaben zu Protokoll,

ausrichtete, wie es rund 25 Jahre später bei der Marburger

dass die »neue, höchst prächtige Kapelle« (»nova precio-

Elisabethkirche nachweislich geschah. Ein derartiger Tra-

sissima capella«) um eine »alte Kapelle« (»antiqua capella«)

ditionsbezug würde jedenfalls gut in das architektonische

herum gebaut worden sei.738 Woher die Zeugen 1428, also

Konzept der Kirche passen, wo vielfältige Spuren der Ver-

rund 140 Jahre nach Baubeginn, ihr Wissen über den

gangenheit in geradezu demonstrativer Weise inszeniert

Vorgängerbau nahmen, ist unklar. Möglicherweise stand

wurden, um den baulichen Verlust der Vorgängerkirche zu

seinerzeit noch ein Teil der alten Kapelle wie ein Balda-

kompensieren.

chin über dem genannten Sarkophag mit den Gebeinen

Der in den 1210er Jahren angefangene Neubau des

Werners aufrecht. Vielleicht gaben die Zeugen aber auch

Bamberger Doms offenbart eine besondere Qualität räum-

eine mündliche Überlieferung weiter. In jedem Fall ist es

licher Bezüge zum Vorgängerbau. Vergleichbar dem Köl-

aber bemerkenswert, dass gleich mehrere Zeugen auf die

ner Dom umhüllt die neue Bischofskirche ihre Vorgänge­

Umhüllung der alten Kapelle hinwiesen, deren Standort

rin nach dem Matroschka-Prinzip. Im Unterschied zu den

sonst nicht mehr lokalisierbar wäre. Darüber hinaus lässt

übrigen Beispielen beschränkte man sich in Bamberg je-

sich aus den Zeugenaussagen schließen, dass das Werner-

doch nicht nur auf eine Kontinuität des Ortes, sondern

grab nicht versetzt wurde, sondern der Neubau – wie die

hielt die Erinnerung an die Vorgängerkirche wach, indem

Marburger Elisabethkirche – um das Grab des als Märtyrer

man ihre Grundrissdisposition wiederholte, so dass das

verehrten Werner herum konzipiert wurde.

Bauwerk des 13. Jahrhunderts anachronistische Merkmale wie Doppelchörigkeit und Westquerhaus aufweist.

Resümee

Die retrospektiven Tendenzen der Bamberger Bischofs-

Die ausgeführten Beispiele verdeutlichen, dass sich selbst

kirche kommen auch in der Imitation alter Formen zum

bei totalen Neubauten in räumlicher Hinsicht Spuren der

Ausdruck. Wie der Magdeburger Dom stand Bamberg in

Vergangenheit aufdecken lassen, die belegen, dass die

einer exklusiven imperialen Tradition, welche das ausge-

Tradition des Ortes auch in ihrer räumlichen Ausprägung

prägt retrospektive Entwurfskonzept verständlich macht.

teils von erheblicher Tragweite für den Neubau gewesen

Als Gründung von Kaiser Heinrich II. und Kaiserin Ku­

ist. Die Qualität und Intensität der räumlichen Beziehun-

nigunde fungiert die Bamberger Bischofskirche zugleich

gen zwischen neuer und alter Kirche unterscheiden sich in

als Grablege des Stifterpaares. Im Gegensatz zu Magde-

den Beispielen erheblich, was sich aus den individuellen

burg gelang in Bamberg im 12. Jahrhundert die Kanonisie-

736 Zur Wernerkapelle zuletzt grundlegend: Crossley 2007. 737 Heberer 1999, S. 43.

738 Schmidt, A. 1954, S. 76 u. Anm. 23 mit weiteren Zitaten.

166

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

rung des Kaiserpaares, so dass die Kirche selbst ein Teil

neuen Konzept in abweichender Ausrichtung und gestei-

der Heiligengeschichte wurde.

gerten Dimensionen weitgehend neben der alten Vorgän-

Bei der Trierer Liebfrauenkirche sind die räumlichen

gerkirche. Dennoch konstituierte das Grab der heiligen

Spuren der Vergangenheit im Vergleich stark ausgeprägt.

Elisabeth eine Tradition des Ortes, so dass die Inkorpora-

Trotz der innovativen Konzeption und der Übernahme

tion des Grabortes eine Bedingung an den Neubau stellte.

aktueller französischer Bauformen orientiert sich die Kir-

Die neue Kirche wurde derart ausgerichtet, dass die Nord-

che in Lage, Ausbreitung und Grundrissorganisation auf-

konche den authentischen Grabort umschloss. Die auf

fallend an ihren vorherigen Baugestalten. Es scheint, als

diese Weise zwangsläufig entstandenen Überschneidun-

habe man auf diese Weise den Verlust der altehrwürdigen

gen mit dem Grundriss der Vorgängerkirche nutzte man

Kirche kompensieren wollen, die als Institution zum Zeit-

wiederum zur Herstellung räumlicher Beziehungen zur

punkt des Neubaus im 13. Jahrhundert bereits auf eine 900

Vorgängerkirche, wie die Anlage des Nordportals an der

Jahre alte Geschichte verweisen konnte. In jedem Fall galt

Stelle des vorherigen Westportals zeigt. Allein das Grab

es, die liturgischen Beziehungen innerhalb des Domkom-

der heiligen Elisabeth weicht in auffälliger Weise von der

plexes zu berücksichtigen. In baukünstlerischer Hinsicht

architektonischen Ordnung ab und weist damit auf die

drückt sich die Zugehörigkeit der Marienkirche zum be-

Authentizität des Grabortes hin.

nachbarten Dom über die Grundrissfigur aus, welche den

Die architektonische Entwicklung des Kölner Doms

Grundriss des Quadratbaus des legendären Palasts der

von der Spätantike bis ins 13. Jahrhundert kennzeichnet

heiligen Kaiserin Helena, aus dem die Trierer Bischofs­

demgegenüber eine kontinuierliche Steigerung der Di-

kirche hervorgegangen sein soll, nachahmt. Auf diese

mensionen, die unzweifelhaft auch mit gesteigerten Re-

Weise wurde die Liebfrauenkirche auch in der übergrei-

präsentationsbedürfnissen im Zusammenhang steht. Da­

fenden Tradition des Trierer Domkomplexes verortet.

bei blieb jedoch die Kontinuität des Ortes gewahrt, indem

Beim Bau der Marburger Elisabethkirche setzte man

bei verschiedenen Baukampagnen der jeweilige Vorgän-

buchstäblich neue Maßstäbe. Im Gegensatz zu den Exem-

gerbau umhüllt und damit inkorporiert wurde, so dass von

peln in Trier und Köln verfügte die Elisabethkirche bei der

einer Entwicklung nach dem Matroschka-Prinzip gespro-

Grundsteinlegung 1235 aber auch nicht über eine jahrhun-

chen werden kann.741 Alter und Rang des Bauwerks stel-

dertelange Tradition. Die relativ bescheidene Vorgänger-

len beim erzbischöflichen Sitz in Köln eigene Qualitäten

kirche bestand erst wenige Jahre und konnte weder den

dar, welche die Institution besonders nobilitieren und

Ansprüchen des Deutschen Ordens genügen, welcher das

gegenüber anderen abgrenzen. Der Kern der räumlichen

Hospital und damit die Kirche 1234 übernahm,739 noch

Expansion liegt seit dem 6. Jahrhundert im Bereich des

den Grabort einer Heiligen angemessen repräsentieren,

Sanktuariums des gotischen Doms, welches die Apsiden

zu der die thüringische Landgräfin 1235 erhoben wurde.

vorheriger Bauzustände überlagert.

740

Insofern errichtete man die Elisabethkirche nach einem

5.3 Die Tradierung innenräumlicher Bezüge 5.3.1 Topographische Bezüge

gesprochenen Kirchengründers Kaiser Karl aufgestellt wurde, im östlichen Chorpolygon der neuen Halle.743 Der

Der alte karolingische Ostabschluss der ehemaligen Aa-

Marienaltar des karolingischen Chores, an dem die Krö-

chener Pfalzkapelle musste ab 1355 einer großzügigen,

nung der deutschen Könige stattfand, wurde jedoch nicht

lichtdurchfluteten Chorhalle weichen, die den ­vorherigen

aufgegeben, sondern am alten Ort, also im Westjoch des

Chor deutlich in der Länge übertraf.742 Infolgedessen er-

neuen Chores beibehalten und mit einer von acht Säulen

richtete man einen neuen Hochaltar, hinter dem der

getragenen Kapelle umhüllt, welche die Lage und Ausdeh-

Schrein mit den Reliquien des im 12. Jahrhundert heilig-

nung des alten Chores in etwa wiederspiegelt (Abb. 5.17).744

739 Meschede 1967, S. 89. 740 Ebd., S. 90. 741 Kap. 5.1.3.

742 Zum Chor des Aachener Münsters grundlegend: Knopp 2002 (Architekturgeschichte); Heckner 2002 (Bauforschung). 743 Knopp 2002, S. 20f.

167

5.3  DIE TRADIERUNG INNENRÄUMLICHER BEZÜGE

Beim Bau des Magdeburger Doms übernahm der neue Chorumgang die Funktion eines Erinnerungsraumes an die aufgegebene alte Chorkrypta.748 In dieser Hinsicht spiegelt der Chorumgang anscheinend auch räumliche Verhältnisse der Krypta wider. Die fünf Umgangskapellen entsprechen jedenfalls fünf Nischen in der Krypta (vgl. Abb. 5.15). Der dem Kryptapatron Kilian geweihte Altar, für den eine Aufstellung in der Mittelachse der Krypta anzunehmen ist, fand eine exponierte Neuaufstellung in der Scheitelkapelle in der Mittelachse des Doms. In vergleichbarer Weise lässt sich der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts neu geschaffene Chorumgang des Halberstädter Doms verstehen, welcher schon typo­ logisch an den Umgang der aufgegebenen Krypta erinnert. Laut Ernst Schubert fanden die Altäre der Krypta in Nischen des Chorumgangs eine neue Aufstellung.749 Auch die Disposition der gotischen Scheitelkapelle geht auf den Vorgängerbau zurück (vgl. Abb. 5.08).

5.3.2 Alte Wegebeziehungen Beim Neubau der Trierer Liebfrauenkirche im 13. Jahrhundert nahm man trotz der gänzlich neuen Konzeption

5.17  Aachen, Dom, Chor 2. Hälfte 14. Jh., Blick zur Westwand (um 800) mit Rekonstruktion der 1786 abgerissenen Marien­ kapelle, Zeichnung: Karl Becker, 1916

des Baukörpers Rücksicht auf die etwa für Prozessionen

Damit konnte die Königskrönung trotz der veränderten

Liebfrauenkirche bei und konnte auf diese Weise das

architektonischen Disposition weiterhin am alten inner-

vorhandene Portal im Dom bewahren.751 Die Apsidiole

kirchlichen Ort in einer ähnlichen räumlichen Situation

im Verbindungsgang erinnert anscheinend an die ehe-

stattfinden.745

malige Stephanuskapelle zwischen Dom und Liebfrauen,

genutzten Wegebeziehungen zu den umliegenden Bauwerken.750 So behielt man den alten Weg vom Dom zur

In vergleichbarer Weise plante man laut der Rekon-

die früher von dem Gang aus erschlossen und vermutlich

struktion von Klaus Gereon Beuckers beim Neubau des

im Zuge der Neubauplanungen verlegt wurde.752 Auch das

Kölner Doms ab 1248, den Petrus geweihten Hauptaltar

sehr ungewöhnliche Portal im Scheitel der Apsis erklärt

des aufgegebenen Westchores am alten Ort stehen zu

sich aus der Tradierung alter Wegebeziehungen, denn es

lassen.

Damit hätte sich der Petrusaltar inmitten des

bewahrte den Prozessionsweg zwischen Liebfrauen und

neuen Langhauses befunden, wo er, wahrscheinlich in

dem östlich anschließenden Kreuzgang, der auch mit dem

Verbindung mit dem Kreuzaltar, ein liturgisches Zentrum

Dom durch ein Portal verbunden war.753

746

bilden sollte (vgl. Taf. 5.01). Diese Planung wurde vermut-

Beim Umbau des Essener Doms Ende des 13./Anfang

lich in zeitlicher Nähe zur Chorweihe 1322 aufgegeben, als

des 14. Jahrhunderts spielte die Beibehaltung alter Wege­

erkennbar wurde, dass der Bau des Langhauses mittel­

beziehungen ebenfalls eine wichtige Rolle. An anderer

fristig nicht zu realisieren sein würde.747

Stelle wurde bereits auf die Integration der alten ottoni-

744 Ebd., S. 15–17; Grimme 1967, S. 257, 259. – Unklar ist, ob der alte Altar in den neuen Kontext integriert wurde oder ob ein gänzlich neuer Altar an alter Stelle geschaffen wurde. 745 Die Marienkapelle wurde 1786, als Aachen die Funktion als Krönungsort schon lange an Frankfurt verloren hatte, abgerissen (Knopp 2002, S. 17). 746 Beuckers 2004, S. 69. 747 Ebd.

748 Horn 2015a, S. 122f; Nicolai 1989, S. 149; Giesau 1936, S. 318. 749 Flemming/Lehmann/Schubert 1973, S. 24. 750 Zur liturgischen Einheit von Dom und Liebfrauenkirche: Heinz 2016; Ronig 2004, S. 251f; Ders. 2003, S. 220f; Borger-Keweloh 1986, S. 41. 751 Horn 2016a, S. 31; Ders. 2015a, S. 80f. 752 Horn 2015a, S. 73. 753 Ronig 2003, S. 221.

168

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

schen Seitenschiffsmauern in die neuen Außenwände der gotischen Hallenkirche hingewiesen.

baus aus dem 9. Jahrhundert, dessen Länge sie übernahm

Damit ein-

(Taf. 5.11). Auch hierbei handelte es sich um ein gewolltes

hergehend bewahrte man auch einen rituell wichtigen

Vorgehen, denn das westliche Fundament des altsächsi-

Gang zwischen dem ehemaligen Chor der Stiftsdamen

schen Vorbaus wurde bei der Errichtung des Westbaus im

auf der Empore des nördlichen Querhauses und dem

10. Jahrhundert durch ein neues Spannfundament ersetzt.

754

Westbau.

Der Gang auf der südlichen Mauer wurde

Eine weitere Spur der Vergangenheit bildet die unge-

hingegen von den Kanonikern genutzt.756 Jürgen Bärsch

wöhnliche Disposition des rechteckigen Hallenchors. Sie

hat herausgestellt, dass die Gänge im Zusammenhang

geht auf die Geometrie der ottonischen Krypta zurück,

besonderer liturgischer Inszenierungen, beispielsweise

deren Untergeschoss beim gotischen Umbau der Stifts-

im Rahmen des Osterfestkreises, feierlich beschritten

kirche um 1300 integriert wurde.761 Die Erweiterung des

wurden, um von einem Gebäudeteil in den anderen zu

neuen Chores erfolgte im vorgezeichneten Rahmen der

gelangen.757

alten Krypta, ohne dass wirtschaftliche Gründe hierfür ur-

755

sächlich gewesen sein können, denn die alte Bausub­stanz

5.3.3 Eigenarten des Grundrisses

machte nur einen Bruchteil der neuen Struktur aus und musste darüber hinaus von den Strebepfeilern des Chores

Viele Grundrisse von mittelalterlichen Kirchen zeigen Ei-

bis auf den gewachsenen Boden durchschlagen werden.

genarten, die sich als räumliche Spuren der Vergangen­heit

Vielmehr wurde eine innovative Grundrisslösung gefun-

erweisen. Ein anschauliches Beispiel liefert wiederum der

den, um einen Chor in der vorgegebenen Geome­trie rea-

Essener Dom, dessen Grundriss gleich mehrere vergan-

lisieren zu können. Die Binnenstruktur des Hallen­chores

genheitsbedingte Eigenarten aufweist.

Drei der vier

beinhaltet eine zusätzliche Spur der Vergangenheit in

Mittelschiffsjoche wurden genau gleich proportioniert,

Form eines trapezfömigen Joches, das anscheinend die

wohingegen das westliche Joch schmaler ist als die übri-

Lage und Ausdehnung der vormaligen Ostapsis anzeigt

gen (vgl. Taf. 2.03). Diese Anomalie erklärt sich mit Blick

und damit, analog des westlichen Mittelschiffsjochs, die

auf die vormalige Disposition der ehemaligen Damen-

Disposition der ottonischen Kirche verrät. Aufgrund der

stiftskirche, die über eine Art Westquerhaus vor einem

umfangreichen archäologischen Grabungen unter Wal-

polygonalen Westchor verfügte.759 Das westliche Sonder-

ther Zimmermann in den frühen 1950er Jahren lassen

joch des heutigen Mittelschiffs entspricht mit seinen ab-

sich die Eigenarten des Essener Domgrundrisses sicher

weichenden Maßen genau der vormaligen Westvierung.

als Spuren der Vergangenheit ansprechen.762

758

Als man um 1300 bei der Transformation des basilikalen

Wo solche Grabungen fehlen, liefern Bezüge zur Ver-

Langhauses in eine Halle das ottonische Westquerhaus

gangenheit sinnvolle Erklärungsansätze, doch müssen

auflöste und das Mittelschiff auf diese Weise bis an den

diese bis zur archäologischen Überprüfung Thesen blei-

Westbau heran erweiterte, schrieb man also die vormalige

ben. Ein derartiger Fall liegt bei der ehemaligen Stifts-

Disposition in den neuen Mittelschiffsgrundriss ein. Die

kirche St. Stephan in Mainz vor, die um 990 vom heiligen

Tatsache, dass die gotischen Mittelschiffspfeiler allesamt

Mainzer Erzbischof Willigis gegründet wurde und ihm

neu fundamentiert wurden,

beweist, dass es sich hier-

als Grablege diente. In den Jahrzehnten um 1300 wurde

bei um ein absichtsvolles Vorgehen handelte. Man hätte

die alte Stephanskirche durch einen kompletten Neubau

die vier Mittelschiffsjoche auch problemlos gleich lang

ersetzt.763 Der als Halle konzipierte Neubau zeigt in den

anlegen können. Interessanterweise rekurrierte bereits

Details zeitgenössische Formen der Gotik, weist jedoch

die Westvierung des ottonischen Münsters zu Essen auf

in seiner Disposition einige für die Zeit ungewöhnliche

einen noch älteren Bauzustand, denn die Vierung ersetzte

Eigenarten auf (Abb. 5.18). Zunächst fällt die Doppelchor-

einen westlichen Vorbau, vielleicht Turm, des Gründungs-

anlage mit Rechteckchor im Westen und zwei korrespon-

754 Kap. 2.3.1. 755 Bei den Restaurierungsarbeiten der 1880er Jahre gestaltete man das Nordquerhaus nach neoromanischen Vorstellungen weitreichend um und gab den Chor der Stiftsdamen zugunsten einer Orgelbühne auf (Lange 2004, Anm. 35; Arens, Franz 1908, S. 254. – Franz Arens fordert noch die Wiederherstellung des gotischen Zustands). 756 Bärsch 1997, S. 150. 757 Ebd., S. 196f.

758 Horn 2015a, S. 146–155. 759 Das westliche Polygon wurde auch nach dem gotischen Umbau als Chor genutzt. Für 1332 ist dort ein Petrusaltar nachgewiesen (Arens, Franz 1908, S. 263). 760 Kap. 5.1.4. 761 Kap. 2.2.1. 762 Zimmermann 1956. 763 Zur Baugeschichte von St. Stephan: Coester 1990, Berger 1983 (Turm).

760

5.3  DIE TRADIERUNG INNENRÄUMLICHER BEZÜGE

169

5.18  Mainz, St. Stephan, Grundriss

5.19  Mainz, St. Ste­ phan, Ansicht von Südwesten

170

5  RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

dierenden quadratischen Jochen an den Schmalseiten des

zuletzt eingehend mit St. Stephan beschäftigte, jedoch

Mittelschiffs auf. Im Osten ist das Quadrat als Vierung

mit stilgeschichtlichen Argumenten abgelehnt worden.765

in ein für gotische Hallenkirchen untypisches Querhaus

Coester vertrat mit Hinweis unter anderem auf eine Hal-

eingebunden. Im Westen wird das große Quadratjoch von

lenkirche in Ahrweiler die Ansicht, dass der Turm über der

einem für die Zeit ebenso untypischen, voluminösen »Vie-

Quasi-Vierung ein zwar rückständiges, aber durchaus üb-

rungsturm« bekrönt, während auf einen Westturm an der

liches Merkmal der gotischen Sakralarchitektur am Rhein

Front verzichtet wird (Abb. 5.19). Seitlich wird die Quasi-

darstelle. Dem könnte entgegengehalten werden, dass die-

Vierung im Westen von merkwürdigen Emporen gefasst,

ser Erklärungsansatz jedoch die übrigen Eigenarten des

die in dieser Disposition an Flankentürme erinnern.

Grundrisses, insbesondere die Doppelchörigkeit, außer

Schließlich fallen die westlichen Langhausjoche, wie im

Acht lässt. Vor allem ignoriert er aber die Tradition des

Essener Münster, länger aus als die übrigen.

Ortes als Gründung und Grablege des in Mainz hochver-

Im Ganzen betrachtet gleicht der Grundriss der Main-

ehrten Erzbischofs Willigis, an die laut Fritz mittels ei-

zer Stephanskirche somit in vielen Punkten stärker einer

ner Gedächtnisschrift am Turm für jedermann sichtbar

romanischen Basilika als einer hochgotischen Hallenkir-

erin­nert wurde.766 Klarheit werden allerdings erst archäo-

che, so dass die Annahme naheliegt, dass der gotische Bau

logische Untersuchungen bringen, die in der historisch

die Disposition der von Willigis gegründeten Vorgänger-

be­deutsamen Stephanskirche nicht nur aus dieser Pers-

kirche spiegelt. Dies ist von der älteren Literatur bereits

pektive wünschenswert erscheinen.

in Betracht gezogen worden,764 von Ernst Coester, der sich

5.4 Resümee: Räumliche Spuren der Vergangenheit An vielen mittelalterlichen Kirchenbauten lassen sich

geschichtlicher Perspektive als heterogene Konglomerate

räumliche Spuren der Vergangenheit aufdecken. Im Un-

aus Teilen verschiedener Epochen erscheinen.

terschied zu den übrigen in dieser Arbeit beschriebenen

Um

den

Prozess

schrittweiser

architektonischer

Kategorien, die in der Mehrzahl auf das Zeigen und Sehen

Wandlung sprachlich fassen zu können, wird zu diesem

hin ausgelegt waren, ließen sich räumliche Kategorien

Zweck der Begriff der »Metamorphose« vorgeschlagen.768

nicht oder nur indirekt erschließen, etwa wenn ein neues

Metamorphosen von Kirchen konnten nach zwei grund­

Mittelschiff, das zwischen zwei älteren Gebäudeteilen

legenden Mustern erfolgen, die auch den vielen Neu-

errichtet wurde, die älteren Fluchten aufgreift. Umso er-

bauten, welche einen Vorgängerbau komplett ersetzten,

staunlicher sind die Häufigkeit und Vielfalt räumlicher

zugrunde lagen. Beim Matroschka-Prinzip umhüllen die

Spuren der Vergangenheit und mehr noch die Relevanz

neuen Gebäudeteile die alten so, wie die größeren Mat-

von räumlichen Beziehungen zwischen existierenden und

roschka-Puppen die kleineren umhüllen.769 Die architek­

ehemaligen Bauzuständen, die hierdurch erkennbar wer-

tonische Entwicklung des Freiburger Münsters liefert

den.

dafür ein eindrückliches Beispiel. Demgegenüber wurden

Die Beschäftigung mit den räumlichen Relationen

beim fluchtgetreuen Bauen neue Bau- oder Gebäudeteile

der zeitlich verschiedenen Zustände eines Bauwerks zu­

in den alten Fluchten errichtet, das heißt, die alten Teile

einander offenbarte Verzerrungen im Bild der mittelalter-

wurden durch neue an gleicher Stelle substituiert.770 Die-

lichen Baukultur, das vor allem von Neubauten gezeichnet

ses Phänomen wurde in der älteren Literatur meist da-

wird, weil diese die architekturgeschichtlichen Überblicks-

mit erklärt, dass alte Fundamente genutzt worden seien.

Daneben lassen sich jedoch zahlrei-

In der Mehrzahl der untersuchten Fälle war dies jedoch

che, historisch teils hochbedeutsame Bauwerke wie der

nachweislich nicht der Fall; stattdessen musste in den

werke dominieren.

767

Trierer Dom benennen, die über einen langen Zeitraum

alten Fluchten neu gegründet werden. Fluchtgetreues

sukzessive weiterentwickelt wurden und deshalb aus stil-

Bauen brachte also in den meisten Fällen keinen wirt-

764 Z. B. Hamann/Wilhelm-Kästner 1924, S. 268. 765 Coester 1990, S. 412f. 766 Arens, Fritz 1958, Nr. 805. Die Inschrift ist heute verloren.

767 Kap. 5.1.1. 768 Kap. 5.1.2. 769 Kap. 5.1.3.

171

5.4  RESÜMEE: RÄUMLICHE SPUREN DER VERGANGENHEIT

schaftlichen Vorteil, sondern eher einen Nachteil. Mittel-

gängerbau aufzeigen lassen, die zwar qualitativ sehr un-

alterliche Quellen wie die Fundatio ecclesiae Hildensemen-

terschiedlich ausfallen, aber erkennbar aus der Tradition

sis weisen demgegenüber darauf hin, dass die Bewahrung

des Ortes resultieren.773

alter Fluchten der Kirche – und damit ihrer alten Disposi-

Vielfach folgten die Neubauten den Mustern, die

tionen und Proportionen – zumindest in manchen Fällen

sich bei architektonischen Metamorphosen beobachten

mit religiösen Motiven in Verbindung gebracht wurde.

lassen. In einigen Fällen umhüllten die neuen Kirchen

Die genannten Formen der Metamorphose finden

den Vorgängerbau nach dem Matroschka-Prinzip (Köln,

einen Widerhall auch in bildlichen Medien der Zeit, was

Dom), in anderen Fällen erfolgte der Neubau in den al-

zwei Tafeln des 15. Jahrhunderts im Madrider Prado ex-

ten Fluchten (Trier, Liebfrauenkirche). Beim Neubau des

emplarisch belegen, und wurden folglich von den Zeit­

Bamberger Doms ging man soweit, die alte Grundrissdis-

genossen wahrgenommen, reflektiert und gedeutet.771

position der kaiserlich gegründeten Vorgängerkirche im

Auch der im Mittelalter praktizierte Umgang mit Reliqui-

Neubau zu spiegeln und ihm dadurch einen retrospek-

aren und anderen Kultobjekten bildet eine interessante

tiven Zug zu verleihen. Schließlich konnte anhand der

Parallele: So, wie die neue Architektur den alten Gebäu-

Marburger Elisabethkirche gezeigt werden, dass ein spe-

deteil einhüllt, wurden oft auch alte Kultobjekte neu und

zifischer Ort eine konstitutive Bedeutung für die Kirche

prächtiger eingefasst. Es gilt somit, Metamorphosen als

erlangen kann und somit bei einem Neubau zwangsläufig

vollwertigen Bestandteil mittelalterlicher Baukultur anzu-

räumliche Bezüge zur Vorgängerkirche aufgebaut werden

erkennen. Die einseitige Ausrichtung auf Neubauten als

müssen, selbst wenn dieser anders ausgerichtet wurde (so

Modell architektonischer Entwicklung hingegen führte in

wohl auch beim Magdeburger Dom).

der Architekturgeschichte auch zu einem verzerrten Bild

Neben den räumlichen Spuren der Vergangenheit, die

der baulichen Entwicklung einzelner Bauwerke.772 Analog

sich aus der Entwicklung des Baukörpers ergaben, ließ

zur allgemeinen Architekturgeschichte konstruierte die

sich auch die Tradierung innenräumlicher Bezüge als Ka-

Forschung für die bauliche Entwicklung von Gebäuden

tegorie räumlicher Bezugnahme auf ältere Bauzustände

ein Modell von Vorgänger- und Nachfolgebauten, die ein-

benennen.774 Trotz gravierender baulicher Veränderun-

ander konsekutiv folgen. Während dieses Modell die Bau-

gen blieb in manchen Kirchen die alte Topographie etwa

geschichte bei kompletten Neubauten treffend beschreibt,

in Form von Altarstandorten (Aachen, Dom; Köln, Dom)

lässt es sich auf gewachsene Kirchenbauten nicht adäquat

oder auch alten Wegebeziehungen zwischen den Raum-

anwenden und kann sogar Fehlschlüsse nach sich ziehen.

teilen (Essen, Dom; Trier, Liebfrauenkirche) gewahrt, so

Während Metamorphosen a priori räumliche Bezüge

dass trotz der neuen architektonischen Hülle die räumli-

zu alten Bauzuständen der Kirche aufweisen, so muss das

chen Verhältnisse gleich blieben.775 Schließlich lassen sich

bei kompletten Neubauten nicht zwingend der Fall sein.

manche Eigenarten des Grundrisses als Spuren der Ver-

Umso überraschender ist die Erkenntnis, dass sich auch

gangenheit erklären (Mainz, St. Stephan; vgl. Bamberg,

bei vielen Neubauten räumliche Beziehungen zum Vor-

Dom).776

770 771 772 773

774 Kap. 5.3. 775 Kap. 5.3.1, 5.3.2. 776 Kap. 5.3.3.

Kap. 5.1.4. Kap. 5.1.5. Kap. 5.1.6. Kap. 5.2.

172

6  TRADITIONEN DES ORTES

6.1 Einleitung In den vorangegangenen Kapiteln konnten anhand vieler

ist beispielsweise bei fluchtgetreuen Neubauten der Fall,

exemplarischer Kirchenbauten Kategorien von architek-

die nachweislich nicht auf alten Fundamenten stehen.

tonischen Spuren der Vergangenheit benannt werden,

Bei den künstlichen Spuren der Vergangenheit ist die In-

seien es materielle oder räumliche, seien sie inszeniert

tentionalität schon aus logischen Gründen zwingend ge-

oder künstlich. Der Geschichte des Kirchenbaus und de-

geben: Man kann künstliche Spuren der Vergangenheit

ren Visualisierung scheint somit in der mittelalterlichen

nicht ohne Absicht erzeugen. In den folgenden Kapiteln

Baukultur eine durchaus gewichtige Bedeutung beige­

wird aufgezeigt, dass viele Spuren der Vergangenheit als

messen worden zu sein. Es stellt sich damit die Frage nach

Teil des kulturellen Gedächtnisses fungierten, als Erin­

den Ursachen des Phänomens. Wirtschaftliche Motive

nerungen aus Stein, welche die Tradition des Ortes, und

können nicht in jedem Fall ausgeschlossen werden. Bei

das schließt die Institution wie auch das Gebäude ein,

einigen Fallbeispielen ließ sich jedoch belegen, dass die

visualisieren und generationenübergreifend kommunizie-

Spuren der Vergangenheit bewusst gelegt wurden. Dies

ren sollten.

6.2 Orte der Heiligen Viele Kirchen, die einen spezifischen Ortsbezug aufwei-

Ort ist hierbei ebenso offensichtlich wie signifikant. Das

sen, wurden der Legende nach über einem Heiligen-

Heiligengrab definiert in diesen Fällen nicht nur den

grab errichtet. Ob das tatsächlich zutrifft oder nicht,

Ort der Kirche, sondern ist darüber hinaus der primäre

spielt in diesem Untersuchungsrahmen keine Rolle.

Grund ihrer Existenz. Der Ort konstituiert den Kirchen-

­Entscheidend ist, dass es im Mittelalter als wahr erach-

bau.

tet oder postuliert wurde. Zwar konnten die Leiber der wie das in spektakulärer Weise mit dem heiligen Markus

Richtungsweisende frühchristliche Memorialkirchen in Rom (St. Peter, St. Paul)

erfolgte, welcher der Überlieferung nach 829 von Alexan-

Eines der wirkungsmächtigsten und zugleich ersten

dria nach Venedig »überführt« wurde,777 in vielen Fällen

Beispiele für eine Kirche, die planvoll über einem Heili-

Heiligen auch an einen anderen Ort transloziert werden,

erheben die K ­ irchen jedoch den Anspruch, genau über

gengrab angelegt wurde, bietet die Peterskirche in Rom,

der originalen Grabstätte erbaut worden zu sein. An

die Kaiser Konstantin um 320 über dem mutmaßlichen

erster Stelle stand die körperliche Präsenz des oder der

Grabmal des Apostelfürsten in Rom erbauen ließ.778 Die

Heiligen im Kirchenraum. Darüber hinaus wurde aber

monumentale Basilika wurde ohne Rücksicht auf den

anscheinend auch der Überlagerung des authentischen

Aufwand so um das bestehende Grabmal herum kon-

Grabortes mittels des Kirchenbaus ein religiöser Wert

zipiert, dass der Hochaltar, der sich in der Mittelachse

beigemessen. Die Beziehung zwischen Kirchenbau und

der Kirche vor der Apsis befand, über dem Grab stand

777 Demus 1960, S. 8–12. 778 Zur frühchristlichen Peterskirche: Brandenburg 2013, S. 96–106;

Pinelli 2000b; Arbeiter 1988. – Zum Grab Petri zuletzt: Brandenburg 2011; Weber 2011b. – Zu St. Peter als Erinnerungsort: Bauer 2006.

173

6.2  ORTE DER HEILIGEN

6.01  Rom, Alt-St. Peter (Fundamente) in Relation zur römischen Nekropole

6.02  Rom, St. Peter, Relation von Alt-St. Pe­ ter zum Neubau 16. Jh. (Abb. 6.01).779 Die konstitutive Bedeutung der Tradition

trusgrab, das kultische Zentrum der Kirche, wurde im

des Ortes lässt sich abermals beim Neubau von St. Peter

neuen Konzept auch zum geometrischen Mittelpunkt,

im 16. Jahrhundert erkennen, als die Kirche in eine neue

über welchem der Hauptaltar, visuell überhöht vom

räumliche Relation zum Grab gesetzt wurde: Nicht das

bronzenen Baldachin Berninis, platziert wurde.

Grab wurde bewegt, sondern die Kirche als Zentralbau

Die Memorialkirche für den Apostel Paulus ließ Kon-

um das Grab herum neu geplant (Abb. 6.02).780 Das Pe-

stantin der Große ebenfalls über dessen mutmaßlichem

779 Brandenburg 2011, S. 363. 780 Zum Neubau von St. Peter: Bredekamp 2008; Satzinger/Schütze 2008; Tronzo 2005; Pinelli 2000a.

174

6  TRADITIONEN DES ORTES

6.03  Rom, S. Lorenzo fuori le mura, eh. Topographie, Süden: Basilika 4. Jh., Norden: Kirche 6. Jh., gepunktet: Kirche 13. Jh. Grab in Rom an der Via Ostiense errichten.781 Wie bei der

als das Fußbodenniveau der theodosianischen Basilika um

Peterskirche wurde das Bauwerk, allerdings in bescheide-

rund anderthalb Meter gegenüber der Vorgängerin ange-

neren Dimensionen, um den Grabort herum entwickelt,

hoben werden musste, so dass das altehrwürdige Grabmal

so dass sich das bestehende Grabmal in der Mittelachse

im Boden verschwand.784 Infolgedessen wurde der Paulus­

auf der Sehne des gewesteten Apsisbogens befand.

sarkophag aus der Memoria geborgen und rund andert-

782

Ein

von Kaiser Theodosius und seinen Mitkaisern veranlass-

halb Meter darüber im neuen Kirchenraum aufgestellt.785

ter kompletter Neubau von St. Paul um 390, bei dem die glichen wurden, ist hinsichtlich der Bedeutung des kon-

Zusätzlich über dem Heiligengrab erbaute Kirchen in Rom (S. Lorenzo fuori le mura, S. Agnese fuori le mura)

stitutiven Grabortes von Interesse. Obwohl die neue

Zahlreiche weitere Kirchen in der Stadt Rom, die über

Memorialkirche geostet, im Gegensatz zum gewesteten

Heiligengräbern erbaut wurden, ließen sich aufzählen. Es

Vorgängerbau also um 180 Grad gedreht wurde und somit

gibt jedoch auch einige Beispiele für Kirchenbauten, die

de facto ein gänzlich neues Gebäude entstand,

Dimensionen der Paulsbasilika an die Peterskirche ange­

blieb das

nicht über, sondern in der Nachbarschaft eines Grabes

Paulusgrab der Fixpunkt, um den die neue Kirche herum

errichtet wurden, wie die Umgangsbasiliken S. Lorenzo

angelegt wurde, so dass sich der Grabort in der Mittelachse

fuori le mura oder S. Agnese an der Via Nomentana, die

der neuen Kirche im Querhaus kurz hinter dem Triumph-

jeweils neben einer Katakombe mit dem Märtyrergrab er-

bogen befand (Taf. 6.01). Das ist umso bemerkenswerter,

baut wurden.786 Beide Kirchen entstanden ebenfalls in

781 Zur konstantinischen Paulusbasilika: Brandenburg 2013, S. 107f; – Zur theodosianischen Basilika: Ebd., S. 121–138. Die heutige Kirche S. Paolo fuori le mura ist weitgehend eine Rekonstruktion, die nach einem großen Brand 1823 entstand. 782 Zum Paulusgrab aktuell: Brandenburg 2011; Ders. 2006; Filippi 2006.

783 Hugo Brandenburg vermutet, dass die neue Basilika aufgrund topographischer Zwänge geostet wurde (Brandenburg 2011, S. 372). 784 Fillipo 2006, S. 281–284. 785 Brandenburg 2011, S. 372–380. 786 Umgangsbasilika S. Lorenzo: Brandenburg 2013, S. 91–93; Krauthei-

783

175

6.2  ORTE DER HEILIGEN

6.04  Rom, S. Agnese fuori le mura, oben: Kir­ che 7. Jh., unten: Kirche 4. Jh. (Rekonstruktion) mit S. Costanza der Zeit der konstantinischen Dynastie um die Mitte des

Die beiden geschilderten Fälle zeigen, dass die räum-

4. Jahrhunderts; für S. Lorenzo nennt der Liber ­Pontificalis

liche Trennung von Basilika und Heiligengrab sich im

wiederum Kaiser Konstantin als Erbauer,787 während für

frühen Mittelalter als Manko erwies, das es mittels eines

S. Agnese Konstantins Tochter Constantina als Gründerin

Neubaus an der »richtigen« Stelle auszugleichen galt. Hier

inschriftlich belegt ist.788

zeigt sich die konstitutive Kraft des authentischen Grab-

Diese beiden Fälle sind insofern von Interesse, als

ortes, denn schließlich wäre es viel einfacher gewesen,

im frühen Mittelalter zusätzliche Neubauten genau über

die Gebeine der Heiligen in die jeweils benachbarte kons-

den beiden Heiligengräbern errichtet wurden. Gegen

tantinische Basilika zu translozieren. In der Folgezeit zer-

Ende des 6. Jahrhunderts ließ Papst Pelagius II. eine neue

fielen die kaiserlich gegründeten Umgangsbasiliken, von

Empo­renkirche »supra corpus beati Laurenti martyris«

er-

denen heute nur noch ruinöse Reste erhalten blieben, wo-

richten,790 wofür eigens ein Hügel aufwändig abgetragen

hingegen die päpstlich initiierten Emporenbasiliken über

werden musste (Abb. 6.03).791 Die Entwicklung der Agnes-

den Gräbern noch heute bestehen.793 Verfall und Erhalt

kirche zeigt erstaunliche Parallelen zu S. Lorenzo. Papst

der Kirchenbauten belegen, dass der sinnfälligen räum­

789

Honorius I. veranlasste im zweiten Viertel des 7. Jahrhun-

lichen Einheit von Grab und Kirche im Mittelalter und

derts den Bau einer Emporenkirche (heute S. Agnese fuori

darüber hinaus mehr Bedeutung beigemessen wurde als

le mura) über dem Grab der heiligen Agnes, wozu wiede-

der kaiserlichen Gründungstradition. Das bestätigt sich

rum ein Hügel abgetragen wurde (Abb. 6.04).792

noch einmal eindrucksvoll beim großen Umbau von S. Lo-

787 788 789 790

mer/Frankl/Corbett 1959, S. 116–123. – Umgangsbasilika S. Agnese: Brandenburg 2013, S. 71–76. Mondini 2010a, S. 319; Brandenburg 2005, S. 88. Diskutiert wird auch eine Gründung oder ein Neubau der Umgangsbasilika im 5. Jahrhundert, was in hiesigem Kontext jedoch ohne Belang ist. Brandenburg 2013, S. 71f. Liber Pontificalis, LXV, 9 (ed. Mommsen, S. 160). »über dem Körper des heiligen Laurentius« (dt. Übersetzung Verf.). Ob sich das Grabmal bereits im 6. Jahrhundert am heutigen Standort im Langhaus des Pelagius-Baus befand, wie es in der älteren Literatur angenommen wurde, ist jüngst von Daniela Mondini hinterfragt worden. Stattdessen bringt Mondini eine Variante in die Diskussion ein, die von einer Translation des Grabs vom Retro­

sanctos an die heutige Stelle im 12. Jahrhundert ausgeht (Dies. 2010, S. 455f). Für die hiesige Fragestellung ist entscheidend, dass in beiden Varianten ein räumlicher Bezug zwischen Kirchenbau und Grabort hergestellt wurde. 791 Mondini 2010a, S. 322; Brandenburg 2005, S. 236f. 792 Brandenburg 2013, S. 266. 793 Zur Baugeschichte von S. Lorenzo fuori le mura bis ins 12. Jahrhundert: Mondini 2010a, S. 322–342. – Zur mittelalterlichen Agnes­ kirche und ihrer Ausstattung: Claussen 2002, S. 51–65. Hinsichtlich eines konstantinischen »Gründungsbaus« ist Peter Cornelius Claussen anscheinend eine Verwechslung mit der benachbarten Umgangsbasilika unterlaufen.

176

6  TRADITIONEN DES ORTES

renzo fuori le mura zum Anfang des 13. Jahrhunderts, auf den an anderer Stelle eingegangen wird.

794

Grabeskirchen für Soldaten der Thebäischen Legion (St. Maurice d’Agaune; Bonn, Münster; Xanten, St. Viktor)

Die Verehrung leerer Grabstätten (St. Denis; Werden, St. Ludgerus; Jerusalem, Zionskirche)

Im Bereich des deutsch-römischen Kaiserreichs finden

Die Abteikirche St. Denis wurde gemäß der mittelalter­

det wurden, schwerpunktmäßig im Bereich der ehema­

lichen Geschichtsschreibung über dem Grab des heili-

ligen römischen Provinzen links des Rheins und südlich

gen Dionysius, französisch Denis, errichtet, der in Ana-

der Donau, also historisch naheliegend dort, wo sich an-

logie zu den römischen Aposteln als Apostel der Gallier

tike Märtyrer und Heilige in einem frühchristlichen Mi-

angesehen wurde und deshalb in Frankreich eine hohe

lieu verorten ließen.

sich Kirchen, die legendär über Heiligengräbern gegrün-

Verehrung erfuhr.795 Die Art und Weise der architektoni-

Eine unter diesem Gesichtspunkt interessante Gruppe

schen Entwicklung der Abteikirche im Mittelalter, die an

bilden Kirchen, die legendär über den Gebeinen von Sol-

anderer Stelle als Metamorphose nach dem Matroschka-

daten der Thebäischen Legion, die in der Spätantike auf-

Prinzip beschrieben wurde, erklärt sich demzufolge aus

grund ihres christlichen Glaubens den Märtyrertod erlit-

der Lage des konstitutiven Heiligengrabes, welches den

ten haben sollen, errichtet wurden.801 Das Massaker an

fixen Kern des Sakralbaus bildet, der im Laufe der Jahr-

den vom späteren Reichsheiligen Mauritius angeführ-

hunderte quasi kontinuierlich von immer größeren und

ten Legionären fand der frühmittelalterlichen Hagiogra-

prächtigeren Räumen umhüllt wurde (vgl. Taf. 5.03).796

phie zufolge gegen Ende des 3. Jahrhunderts im heutigen

Zur Mitte des 12. Jahrhunderts veranlasste Abt Suger im

St. Maurice d’Agaune in der Schweiz statt,802 wo 515 Bur-

Kontext des Umbaus der Abteikirche eine Translation der

gunderkönig Sigismund eine Abteikirche über den Gebei-

Heiligen vom bestehenden Grabort, den Suger explizit als

nen der Soldatenheiligen gründete.803 Eine Vorhut unter

ursprünglichen Grabort ansprach, in den neuen Chor.

797

Führung des Offiziers Gereon soll der Überlieferung nach

In diesem Untersuchungsrahmen ist auch von Interesse,

hingegen in Köln hingerichtet worden sein.804 Auf die le-

dass das nunmehr leere Grab weiterhin Gegenstand reli­

gendär über den Gebeinen der Thebäer erbaute Stifts­

giöser Verehrung blieb.798

kirche St. Gereon wird an anderen Stellen eingegangen.805

Einen vergleichbaren Fall bereits im 11. Jahrhundert

Das Bonner Münster wurde der mittelalterlichen

bietet die Translation der Gebeine des heiligen Liudger

Überlieferung nach über den Gebeinen der thebäischen

innerhalb der ehemaligen Abteikirche in Werden (heute

Märtyrer Cassius und Florentius errichtet.806 Der Lang-

Stadtteil von Essen). Als unter Abt Adalwig (ab 1066–1081)

chor des mittelalterlichen Münsters überlagert tatsächlich

die Reliquien Liudgers aus dem als ursprüngliches Grab

einen neuerdings in das 6. Jahrhundert datierten Saalbau

verehrten Sarkophag in der Stollenkrypta in einen neuen

(Abb. 6.05), dessen Nutzung als den beiden Soldatenhei­

Schrein im Chor darüber erhoben wurden, blieb das leere

ligen geweihter Sakralbau spätestens seit dem 7. Jahrhun-

Grab in der alten Krypta bis zu seinem Abriss 1880 weiter-

dert urkundlich belegt ist.807 Der Saalbau stand wiederum

hin Gegenstand der Verehrung.799 Auch das leere Grab des

an der Stelle einer cella memoriae des 4. Jahrhunderts auf

heiligen Stephanus in der ehemaligen Zionskirche in Jeru-

einem spätantiken Gräberfeld.808 Ob das Bonner Münster

salem wurde noch im 14. Jahrhundert von Pilgern aufge-

tatsächlich über den Gebeinen der beiden Märtyrer erbaut

sucht, obgleich zu jenem Zeitpunkt längst S. Lorenzo fuori

wurde oder ob sich die entsprechende Legende erst in der

le mura in Rom als Grabstätte des Erzmärtyrers galt.800

Merowingerzeit herausbildete, wie es in jüngerer Zeit von

794 795 796 797

800 Pringle 2007, S. 269f. – Zur Zionskirche siehe weiter unten. 801 Zum Themenkomplex der Thebäischen Legion zuletzt: Näf 2011; Wermelinger u. a. 2005. 802 Eucherius, Passio Acaunensium. 803 Näf 2011, S. 88–103; Meier 1996, S. 265. 804 Helinand, Passio Gereonis. – Zur Ausbreitung der Thebäer-Ver­ ehrung: Seeliger 2005. 805 Kap. 2.3.1. 806 Zur Gründung und Frühgeschichte: Höroldt 1957, S. 36–61. – Zur Baugeschichte: Clemen 1905, S. 51–78. 807 Keller/Müssemeier 2004, S. 190f. – Grundlegende Grabungsdokumentation: Lehner/Bader 1932. 808 Keller/Müssemeier 2004, S. 188f.

Kap. 2.2.1, 4.2.1. Albrecht 2003, S. 124–128. Kap. 5.1.3. Suger, consecratione 74–98 (ed. Binding/Speer, S. 236–251). – »Als man aber, nachdem die Mysterien der heiligen Weihe der Ordnung gemäß vollzogen waren, zur Niederlegung der heiligen Reliquien kam, traten wir an die alten und verehrungswürdigen Gräber unserer heiligen Herren heran; denn bis zu diesem Zeitpunkt waren ihre Leiber noch nicht von ihrem Ort wegbewegt worden.« (Ebd., 87 [S. 243]). 798 Albrecht 2003, S. 143. 799 Grundlegend hierzu sind die Ausführungen von Wilhelm Effmann, der die Grabanlage noch vor dem Abriss 1880 gesehen und dokumentiert hat (Effmann 1899, S. 43–49).

177

6.2  ORTE DER HEILIGEN

6.05  Bonn, Münster, Grundriss mit Datierung der Bauteile und Grabungsbefunde, schwarz: Saalbau 6. Jh. mit spätantiken Gräbern

6.06  Bonn, Münster, Cassiusgruft unter Krypta des mittleren 11. Jh. archäologischer Seite angedeutet wurde,809 spielt in die-

Beim weitreichenden Neubau des Stifts um die Mitte

sem Untersuchungskontext keine Rolle. Entscheidend für

des 11. Jahrhunderts konzipierte man die neue Kirche um

die Entwicklung der Kirche ist, dass man spätestens seit

mehrere römische Sarkophage herum, die man in der al-

dem 7. Jahrhundert die Gräber des Cassius und Florentius

ten Saalkirche offenbar freigelegt hatte und als Gräber

unter der Bonner Kirche verortete.810

des Cassius und Florentius ansah.811 Die Mittelachse des

809 Ristow 2007, S. 156f; Keller/Müssemeier 2004, S. 189. 810 Beachtlich dabei bleibt, dass der Saalbau des 6. Jahrhunderts über

einer spätantiken cella memoriae errichtet wurde, was vielleicht doch auf eine ältere Memorialtradition hinweist.

178

6  TRADITIONEN DES ORTES

neuen Langchors, des wichtigsten Teils der Kirche also,

ein bestehendes, dem Mallosus geweihtes »oratorium« der-

wurde genau über den Märtyrergräbern positioniert. Un-

art erweiterte, dass das Oratorium zur Apsis der vergrößer-

ter dem Chor wurde ungefähr auf Niveau des karolingi-

ten Kirche umfunktioniert worden sei.

schen Vorgängerbaus eine Krypta angelegt, von der aus

konnte.812 Während man den neuen Kirchenbau ostete,

Kirchen, die im Hinblick auf Heiligengräber neu konzipiert wurden (Marburg, Elisabethkirche; Deventer, Lebuinuskerk; Werden, St. Ludgerus)

blieben die Sarkophage unberührt in der alten Achslage

Die Gründung der Elisabethkirche in Marburg 1235 über

813

liegen, so dass sie schräg im Raum lagen (Abb. 6.06).

dem Grab der kurz zuvor heiliggesprochenen Elisabeth

Bemerkenswerterweise kennzeichnete man die Lage der

von Thüringen beweist, dass ein Heiligengrab auch im

Märtyrergräber, indem man die westlichen Pfeilerpaare

hohen Mittelalter noch in der Tradition der frühchrist­

der Krypta, zwischen denen sich die Gruft befindet, mit

lichen Praxis einen Sakralbau konstituieren und räumlich

altertümlich wirkenden Vierkantpfeilern mit Schmiegen-

definieren konnte. Die Wirkung, die der Grabort auf die

sockel und Karnieskämpfern gestaltete, wohingegen die

Konzeption der Kirche entfaltete, ist an anderer Stelle

übrigen Kryptastützen als Säulen mit attischen Basen und

eingehend beschrieben.820 An dieser Stelle sei noch ein-

Würfelkapitellen ausgebildet wurden. Mehrere Säulen der

mal auf die Ausrichtung des Grabmals der Elisabeth hin-

Krypta standen ehemals auf Memoriensteinen aus der ka-

gewiesen, das sich erkennbar von der architektonischen

man über eine Treppe zu einer tonnengewölbten Gruft mit den im Boden sichtbaren Sarkophagen hinabsteigen

Ordnung absetzt (vgl. Taf. 5.09). Die Analogie zur oben

rolingischen Kirche.814 Mit dem Bonner Münster auf verschiedenen Ebenen

beschriebenen Schräglage der Märtyrergräber unter der

vergleichbar ist die ehemalige Stiftskirche St. Viktor in

Krypta des Bonner Münsters ist unverkennbar. In beiden

Xanten, genannt Dom.815 Die Kirche wurde der Legende

Fällen wurde – mit einem zeitlichen Abstand von fast 200

nach ebenfalls über den Gräbern von Märtyrern der The-

Jahren – eine Kirche neu über einem Heiligengrab bzw.

bäischen Legion errichtet, namentlich Viktor und Mallo-

-gräbern konzipiert, die Gräber selbst jedoch in der alten

sus.

Wie in Bonn konnte archäologisch ein römischer

Lage belassen. Die somit erkennbar von der architekto-

Friedhof unter der Kirche nachgewiesen werden und

nischen Ordnung abweichende Ausrichtung zeigt das

ebenso eine cella memoriae unter dem Chor der bestehen-

höhere Alter der Gräber an, was als Bestätigung für deren

den Kirche (vgl. Taf. 5.02). Die neuerliche Aufarbeitung

Authentizität aufgefasst werden konnte.

816

der Altgrabungen durch Thomas Otten bestätigt eine bau-

Die aus den archäologischen und bauhistorischen

liche Kontinuität von der spätantiken cella bis heute.817

Zeugnissen herzuleitende Priorität des Grabortes gegen-

Demnach bildete die spätantike Memorialstätte die Keim-

über der Lage der Kirche lässt sich auch in einer Schrift-

zelle, aus der sich der heutige Dom entwickelte. Von Inte-

quelle des frühen Mittelalters fassen. In der im 9. Jahrhun-

resse ist dabei, dass sich der Kirchenbau sukzessive nach

dert verfassten Vita des heiligen Liudger wird geschildert,

dem Matroschka-Prinzip um die alte Grabstätte herum

wie Liudger im niederländischen Deventer eine Kirche

entwickelt hat, welche somit als Fixpunkt der baulichen

über dem Grab des heiligen Lebuin, altsächsisch Liafwin,

Expansion diente, der sich offenbar stets mit dem kulti-

errichten will,821 jedoch dessen Grab nicht lokalisieren

Diese bewusste Integration

kann und deshalb den Kirchenbau an einem Ort beginnt,

schen Zentrum gedeckt hat.

818

eines alten Sakralbaus als kultischen Mittelpunkt einer

wo er das Lebuingrab vermutet.822 Daraufhin offenbart

baulichen Erweiterung wird im Zusammenhang mit dem

ihm Lebuin im Traum, dass sich die Grabstelle unter ei-

Xantener Dom auch von Gregor von Tours im Liber in

ner bereits errichteten Südmauer befände. Liudger deckt

gloria martyrum zum Ende des 5. Jahrhunderts geschil-

das Grab an der beschriebenen Stelle auf und lässt infolge-

dert.819 Dort heißt es, dass der Kölner Bischof Eberigisil

dessen die Fundamente der Kirche nach Süden versetzen,

811 812 813 814 815 816

818 819 820 821

Kubach/Verbeek 1976, S. 110f. Ebd., S. 111. Lehner/Bader 1932, S. 70f. Ebd, S. 101f. Baugeschichtlicher Überblick: Hilger 2007. Zur Gründung und Frühgeschichte: Runde 2003, S. 168–221; Bader 1985, S. 54–69; Borger/Oediger 1969, S. 207–214. 817 Otten 2004 (Zusammenfassung); Ders. 2003.

Kap. 5.1.3. Gregor von Tours, Liber in Gloria Martyrum, 62 (ed. Krusch, S. 80). Kap. 5.2. Hierbei handelt es sich um die spätere Kathedrale von Deventer und heutige Lebuinuskerk. Zum romanischen Neubau: Kubach/ Verbeek 1976, S. 187–192. 822 Altfrid, Vita Liudgeri I, 14 (ed. Pertz, S. 408) bzw. 15 (ed. Senger, S. 31f).

179

6.3  HEILIGE ORTE

damit sich das Grab des heiligen Lebuin innerhalb der

richten und nicht umgekehrt. Die Kongruenz von schrift-

Kirchmauern befindet.

licher Quelle und den zuvor exemplarisch dargelegten ar-

823

Hierbei ist es völlig unerheblich,

dass es sich nicht um einen historischen Tatsachenbericht

chitektonischen Prozessen ist evident.

handelt. Im Rahmen der hiesigen Fragestellungen inter-

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das

essiert die Bedeutung, welche Altfrid, der Verfasser der

Grab Liudgers in Essen-Werden in vergleichbarer Weise

Vita, dem Grabort beimisst: Die Kirche soll ausdrücklich

nachträglich in den Kirchenbau einbezogen wurde. Ge-

über den Gebeinen des Heiligen erbaut werden.824 Als sich

mäß seinem Wunsch wurde Liudger 809 zunächst öst-

herausstellt, dass das Grab Lebuins nur peripher von der

lich vor der von ihm gegründeten Abteikirche in Werden

Kirche überlagert wird, gilt es, Grabort und Kirche in ein

bestattet.825 Schon bald darauf kam der Wunsch auf, das

angemessenes räumliches Verhältnis zu bringen. Hierzu

Grab des heiligen Fundators in die Abteikirche zu integ-

verlegt man nicht das Grab, sondern versetzt die Mauern

rieren, so dass diese bis zur Weihe 875 so nach Osten ver­

der Kirche! Der sinnstiftende Grabort definiert die Lage

längert wurde, dass sich die Grabstätte in einem Krypta­

des Kirchenbaus. Die Kirche muss sich nach dem Grabort

stollen unter dem Chor mit dem Hochaltar befand.826

6.3 Heilige Orte Manche Kirchenbauten wurden an einem Ort errichtet,

Christus.829 Den End- und Höhepunkt des ursprünglich

an dem sich ein Ereignis der Heilsgeschichte abgespielt

aus einer Folge von Gebäuden und Freiräumen beste-

haben soll. Hierbei ist es unerheblich, ob die Kirche den

henden Komplexes (vgl. Abb. 2.06) bildet eine »Anastasis«

richtigen Ort des Ereignisses markiert. Entscheidend ist,

genannte Rotunde, in deren Zentrum sich der Tradition

das im Mittelalter die Richtigkeit von kirchlicher Seite

nach das Grab Christi befindet. Im Unterschied zu den zu-

beansprucht und vonseiten der Gläubigen akzeptiert

vor thematisierten Heiligengräbern, welche sich über die

wurde.827

Präsenz der sterblichen Überreste der Heiligen definieren, handelt es sich in der Grabeskirche a priori um ein lee-

Kirchen, die über Ereignissen der Geschichte Jesu erbaut wurden (Jerusalem, Grabeskirche; Bethlehem, Geburtskirche)

res Grab, denn nach dem christlichen Glauben ist Jesus

Zu den wegweisenden und wichtigen Sakralbauten, die

Grabes Christi, welcher jedoch zugleich der Ort der Aufer-

heilige Orte markieren, gehören drei frühe Kirchen, die

stehung (gr. anastasis) ist, was seine herausragende religi-

Kaiser Konstantin nach 324 in Palästina über bedeutenden

öse Bedeutung ausmacht.

schließlich am dritten Tag von den Toten auferstanden. Verehrt wird in der Anastasis folglich »nur« der Ort des

Stätten der Geschichte Jesu errichten ließ: Die Geburtskir-

Um die in einen Fels geschlagene Grotte, die man als

che in Bethlehem, die Grabeskirche in Jerusalem und die

das Christusgrab identifizierte, quasi zum geometrischen

Himmelfahrtskirche, genannt Eleona, am Ölberg.828

Mittelpunkt zu machen, ließ Konstantin den gewachse-

Die Grabeskirche in Jerusalem überlagert gleich

nen Fels um das Grab herum abtragen, bis es freigestellt

zwei Orte, an denen die bedeutsamsten Ereignisse des

war,830 dann wurde das Felsgrab mit einer Kleinarchitek-

Neuen Testaments stattgefunden haben sollen: den Ort

tur831 umhüllt und schließlich ein kreisförmiger, über-

der Kreuzigung und den Ort der Auferstehung von Jesus

kuppelter Zentralbau konzentrisch um das Grab herum

823 »fecit transvehi bases eiusdem aedeficii in partem australem, et ita infra ecclesiam collegit sepulchrum viri Dei.« Altfrid, Vita Liudgeri I, 14 (ed. Pertz, S. 408). – »ließ die Fundamente dieses Gebäudes nach Süden versetzen und brachte so das Grab des Mannes Gottes in das Innere der Kirche.« (Ed. Senger, S. 32). 824 »et super corpus Sancti ecclesiam reaedefices.« Altfrid, Vita Liudgeri I, 14 (ed. Pertz, S. 408) – »und über dem Grab des Heiligen die Kirche wieder aufzubauen.« (Ed. Senger, S. 32). 825 »sanctum illius conderetur corpus, extra ecclesiam in parte orientis, ut iusserat ipse.« Altfrid, Vita Liudgeri II, 8 (ed. Pertz, S. 414). 826 Effmann 1899, S. 36–43. – Siehe auch etwas weiter oben »Die Ver­ ehrung leerer Grabstätten«.

827 So auch Arbeiter 2011, S. 10. 828 Eusebios, Vita Constantini 3, 25–41. (ed. Dräger, S. 190–203). 829 Zur Grabeskirche zuletzt: Arbeiter 2011 (vor 1009); Kühnel 2011 (nach 1009); Pringle 2007, S. 6–72; Biddle 2000; Krüger 2000. 830 Eusebios, Vita Constantini 3, 27f (ed. Dräger, S. 194f). – Der Bericht des Eusebios wird durch moderne Grabungen bestätigt (Arbeiter 2011, 28f; Krüger 2000, S. 45). 831 Zum Grab Christi ausführlich: Biddle 1999. – Die heutige Grabes­ architektur stammt großenteils aus dem 19. Jahrhundert.

180

6  TRADITIONEN DES ORTES

6.07  Jerusalem, linke Spalte: Grabeskirche, rechte Spalte: Heiliges Grab, unten: Topographie vor 324, Mitte: nach den Erdarbeiten, oben: Komplex 4. Jh. errichtet (Abb. 6.07). Auf diese Weise gelang das inszenatorische Kunststück, »das Grab, einen Innenraum, für die Betrachtung von außen präsentabel zu machen«832 und architektonisch eindrucksvoll zu rahmen. Der immense Aufwand, der betrieben werden musste, um den Fels weiträumig abzutragen, belegt die konstitutive Bedeutung des als authentisch angesehenen Ortes für den Kirchenbau. Darüber hinaus galt das Grab als sichtbarer Beweis für die

»Deshalb kam sie [d. i. die Grabesgrotte] nach dem Versinken in die Finsternis erneut ans Licht und gewährte denen, die zu dem Anblick gingen, , die Geschichte der dort geschehenen Wunder deutlich zu sehen, indem sie [d. i. die Grabesgrotte] durch Tatsachen, die lauter rufen als jede Stimme, die Wiederauferstehung des Heilands bezeugte.«833

Richtigkeit des neuen Testaments, wobei der Beweiskraft

Ebenfalls sinnlich erfahrbar wurde der zweite signifikante

des Materiellen gemäß Eusebios, dem Biographen Kons-

Erinnerungsort der Geschichte Jesu in den Kirchenkom-

tantins, besonderes Gewicht zukäme:

plex integriert.834 Die Spitze des Hügels Golgatha, auf dem

832 Arbeiter 2011, S. 28. 833 Eusebios, Vita Constantini 3, 28 (ed. Dräger, S. 195). 834 Die immense Bedeutung, die sinnlich erfahrbaren Orten im Kontext von Erinnerungskultur beigemessen wird, zeigt sich daran, dass die Authentizität des Ortes, welche die Voraussetzung für dessen Zeugniswert bildet, noch heute Gegenstand von wissenschaftlichen Diskussionen ist. So fragte jüngst Dieter Vieweger: »Wird

Golgota am richtigen Ort gezeigt?« (Vieweger 2012) und Coüasnon beschäftigte sich mit der Frage des authentischen Graborts (Coüasnon 1974, S. 8–11). Beide haben die Authentizität im Übrigen tendenziell affirmiert, ohne sie beweisen zu können. In der Spät­ antike und im Mittelalter wurde die Authentizität hingegen, wie im angeführten Zitat Eusebios, nicht hinterfragt, sondern unterstellt, und das ist für den mittelalterlichen Umgang mit dem Bauwerk ent-

181

6.3  HEILIGE ORTE

6.08  Jerusalem, Grabeskirche, sog. Gefängnis Jesu im konstantinischen Mauerwerk Jesus den Evangelien zufolge gekreuzigt wurde, erhob

so dass ein dritter Erinnerungsort die Gestalt des Sakral-

sich rund fünf Meter hoch an der südöstlichen Ecke eines

komplexes mitbestimmt hätte.835

Atriums, das sich östlich an die Anastasis anschloss (vgl.

Im Mittelalter wurden weitere Orte der Heilsgeschich­te

Abb. 6.07). Auf diese Weise bestimmte Golgatha die Breite

in der Grabeskirche lokalisiert. So schrieb Arculf im

und Länge des Atriums und beeinflusste indirekt auch die

7. Jahrhundert, dass die Stelle, an der Abraham Isaak op-

Dimensionen der Rotunde, die schließlich maßlich mit

fern wollte, in der nordöstlichen, also Golgatha gegen-

dem Atrium abgestimmt werden musste. Die Gestalt der

überliegenden Ecke des Atriums markiert gewesen sei.836

Grabeskirche wurde demzufolge aus der räumlichen Re-

Eine andere Quelle des 7. Jahrhunderts verortet das Grab

lation der beiden Erinnerungsorte zueinander entwickelt.

Adams in einer Kapelle unterhalb Golgathas.837 Seit dem

Das trifft auch für die fünfschiffige Emporenbasilika,

9. Jahrhundert wurde (und wird noch immer) ein kleiner

genannt Martyrion, zu, die sich bis 1009 östlich des Atri-

Raum im konstantinischen Mauerwerk, der nordöstlich

ums erstreckte. Die beiden südlichen Seitenschiffe ent-

an das Atrium grenzte, als Gefängnis Jesu angesprochen

sprachen der Breite des Platzes mit dem Golgatha-Felsen;

(Abb. 6.08).838 Als die Grabeskirche 1009 auf Befehl des fa-

die Westapsis, schloss nördlich daran an. Spätestens seit

timidischen Kalifen al-Hakim demoliert wurde, ging die

dem 6. Jahrhundert glaubte man, die Apsis wäre über der

fünfschiffige Basilika unwiederbringlich verloren.839 In der

Stelle erbaut worden, an der die heilige Kaisermutter He-

Folge verlagerte sich scheinbar die Lokalisation des Kreuz-

lena der Legende nach das Wahre Kreuz gefunden habe,

fundortes im 11. Jahrhundert in den Bereich des vorma­

scheidend (so auch Arbeiter 2011, S. 10). – Zur Aura authentischer Orte siehe auch: Horn 2014. 835 Pringle 2007, S. 9; Biddle 2000, S. 36; Krüger 2000, S. 92. 836 Biddle 2000, S. 42. – Die räumliche Relation der beiden Orte sollte anscheinend ein typologisches Verhältnis der beiden biblischen Ereignisse zum Ausdruck bringen.

837 Pringle 2007, S. 9. – Auch hier ist die typologische Aussage nicht zu übersehen. 838 Kühnel 2011, S. 37f; Pringle 2007, S. 39f. 839 Biddle 2000, S. 44f; Krüger 2000, S. 77.

182

6  TRADITIONEN DES ORTES

6.09  Bethlehem, Geburtskirche, Grundriss (gestrichelt: Geburtsgrotte, konturiert: Ostteil 4. Jh., schraffiert: Kirche 6. Jh.) ligen basilikalen Mittelschiffs, wo man eine Grotte fand,

beskirche lokalisiert, zum Beispiel der Salbungsstein am

die seither als Ort der Kreuzauffindung angesehen wird.840

Eingang der Kirche, auf dem der Leichnam Christi für die

Zwischen der Grabeskirche, die unter den Kreuzfahrern in

Bestattung vorbereitet worden sein soll.844 Die Konzentra-

stark veränderter Form wiederhergestellt wurde,841 und der

tion von Orten der Heilsgeschichte in der wiedererrichte-

Grotte der Kreuzauffindung legte man im 12. Jahrhundert

ten Grabeskirche verdeutlicht den Wunsch, die Ereignisse

zwischen den Fundamenten des ehemaligen Mittelschiffs

räumlich zu verorten und architektonisch präsent zu ma-

eine unterirdische Krypta an, die seither der Kreuzfinde-

chen. Die Kirche steht nicht bloß in einem räumlichen Be-

rin Helena geweiht ist und oberirdisch durch einen klei-

zug zu einem heiligen Ort, sondern überlagert eine ganze

nen Kuppelbau über dem Mitteljoch markiert wird (vgl.

Erinnerungslandschaft mit dem Grab Christi im Mittel-

Abb. 2.44).842 Es sieht demnach so aus, als kommemorierte

punkt. An dieser wohl heiligsten Stätte der Christenheit

die Helena-Krypta in gewissem Maße das alte Martyrion

zeigt sich folglich die konstitutive, identitätsstiftende und

und übernahm dessen Funktion als Erinnerungsort der

letztlich gestaltbestimmende Kraft heiliger Orte für den

Kreuzauffindung. Jürgen Krüger wies auf den inszenato-

christlichen Sakralbau. Die Grabeskirche kann als Her-

rischen Charakter der Anlage hin:

berge des Grabes nur an ihrer jetzigen Stelle stehen. Ihre

»Suggestiv wurde dabei die Legende der Kreuzauffindung in gebaute Architektur umgesetzt: eine tiefliegende Kirche, eine noch tieferliegende Grotte und nur spärliches Oberlicht, das den Raum belichtet.«843

Gestalt definierte und definiert sich stets über die räum­ liche Relation zum Grab und den weiteren heiligen Orten. Einen Ort aus dem Leben Jesu markiert auch die Geburtskirche in Bethlehem, die Konstantin der Große nach 324 gründete.845 Über einer Grotte, in der Jesus Christus

Im hohen Mittelalter wurde schließlich eine Vielzahl von

der Überlieferung nach geboren wurde, errichtete man

Orten der Passion Christi in der wiederaufgebauten Gra-

einen oktogonalen Zentralbau, an den eine fünfschiffige

840 Pringle 2007, S. 44; Krüger 2000, S. 92. 841 Zur Kirche der Kreuzfahrerzeit, die im Wesentlichen das heutige Erscheinungsbild bestimmt: Pringle 2007, S. 38–58; Biddle 2000, S. 48–53; Krüger 2000, S. 83–89.

842 Pringle 2007, S. 44–46; Krüger 2000, S. 90–94. 843 Krüger 2000, S. 90. 844 Kühnel 2011, S. 38f; Pringle 2007, S. 13–15; Krüger 2000, S. 200. 845 Eusebios, Vita Constantini 3, 41 (ed. Dräger, S. 202f).

183

6.3  HEILIGE ORTE

Basilika anschloss.846 Nachdem die Geburtskirche im

Gefängnis des Laurentius erbaut, S. Lorenzo in Miranda

6. Jahrhundert von einem Feuer schwer beschädigt wurde,

im Gebäude errichtet, wo er zum Tode verurteilt wurde,

ließ sie der byzantinische Kaiser Justinian in modifizier-

und S. Lorenzo in Panisperna markiert den Ort, wo er sein

ter Form, in der sie im Wesentlichen bis heute erhalten

Martyrium erlitt.848

blieb, wiederherstellen. An Stelle des Oktogons wurde ein

Mit dieser als Trikonchos bezeichneten, zentralisierenden

Kirchen am Ort von Martyrien (Köln, St. Ursula; Köln, St. Gereon und Mechternkirche; St. Maurice, Chapelle des Martyrs)

Grundrissfigur blieb der identitätsstiftende Ort, nämlich

In Köln soll die ehemalige Stiftskirche St. Ursula an dem

die Geburtsgrotte unterhalb des Chorraums, fokussiert

Ort errichtet worden sein, an dem die heilige Ursula

und nach außen sichtbar.

und die von ihr angeführte Schar der 11.000 Jungfrauen

Chor in Breite des Langhauses erbaut, der an seinen drei Seiten mit runden Apsiden versehen wurde (Abb. 6.09).

Die Orte der Heilsgeschichte, die in Palästina im All-

ihr Martyrium erlitten.849 Hierauf weist explizit eine alte

gemeinen und Jerusalem im Besonderen von Sakralbauten

Bauinschrift hin,850 die heute in der südlichen Chorwand

überlagert wurden, sind zahlreich und bedürfen unter dem

der Ursulakirche eingemauert ist, aber spätestens seit der

Aspekt der Erinnerungskultur noch weiterer Studien.847

ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts in der Kirche sichtbar

Ihre Bedeutung und ihr Einfluss auf den Kirchenbau im

angebracht gewesen sein muss, denn sie wird in einer ent-

Mittelalter sind zwar unbestritten, doch finden sie sich in

sprechend datierten Schriftquelle als steinerne Urkunde

übergreifenden Architekturdarstellungen nicht wieder. Das

für die Tradition des Ortes genannt.851 Ebenfalls ins frühe

ist vor allem bei der Grabeskirche verwunderlich, denn sie

Mittelalter lässt sich der Glaube zurückverfolgen, dass

wurde im 12. Jahrhundert schließlich unter der Herrschaft

sich das Grab der heiligen Ursula in der Kirche befände

westlicher Kreuzfahrer maßgeblich umgebaut.

und auch weitere der vielzähligen Jungfrauen am Ort ihres Martyriums beigesetzt wurden.852 Dies hatte zur Folge,

Kirchen, die an Orten der Geschichte des Laurentius erbaut wurden (Rom, Laurentiuskirchen)

dass spätestens seit dem 12. Jahrhundert in großem Umfang nach Reliquien in der Kirche gegraben wurde – ein

In Europa ließen sich Orte, die mit dem Wirken Jesu in

ertragreiches Unterfangen, denn die Kirche steht über ei-

Verbindung standen, freilich nicht finden. Heilsgeschicht-

nem römischen Gräberfeld.853

liche Ereignisse, die im europäischen Mittelalter mittels

Ebenfalls in Köln fand der Legende nach das Marty-

eines Bauwerks kommemoriert wurden, stehen dort im

rium des Soldatenheiligen Gereon und seiner Kameraden

lokalen Zusammenhang mit Heiligen und Märtyrern. Oft

von der thebäischen Legion statt, das im frühen Mittel-

ist es der Ort des Martyriums, der von einem Memorialbau

alter an der Stelle der ehemaligen Stiftskirche St. Gereon

markiert wird. Die traditionsschwere Basilika von S. Lo-

verortet wurde.854 Wie bei St. Ursula ging man zunächst

renzo fuori le mura in Rom, die über dem Grab des heili-

auch davon aus, dass die Heiligen am Ort des Martyriums

gen Laurentius gebaut wurde, ist weiter oben bereits the-

beigesetzt wurden.855 In späterer Zeit unterschied man in

matisiert worden. Darüber hinaus existieren jedoch noch

der Gereonslegende zwischen dem Grabort Gereons und

weitere Sakralbauten in Rom, die mit Ereignissen aus dem

dem Ort des Martyriums in Mechtern,856 dessen Name

Leben des Erzmärtyrers in Verbindung gebracht wurden.

sich von ad martyres herleitet, im heutigen Kölner Stadtteil

Der Legende nach wurde S. Lorenzo in Fonte über dem

Ehrenfeld.857 Über die mittelalterliche Mechternkirche, die

846 847 848 849

für das vergossene Blut errichtet und mit ihm zugleich Diodora, die liebe und dankbarste Gattin.« (Zitiert nach Nürnberger 2002, S. 126). 851 Nürnberger 2004, S. 151–153. – Die Datierung der Inschrift ist umstritten und reicht von der Spätantike bis zur Ansprache als Kopie des 12. Jahrhunderts (Forschungsüberblick bei Nürnberger 2002, S. 122–129). 852 Nürnberger 2002, S. 146–148. 853 Verstegen 2000, S. 211–217; Kat. Ursula 1978, S. 10–12. 854 Gregor von Tours, Liber in Gloria Martyrum, 61 (ed. Krusch, S. 80) [datiert um 590]. 855 Ebd. 856 Helinand, Passio Gereonis, 14 (Ort des Martyriums), 19 (Grabort). 857 Gechter 1990, S. 538.

Zur Geburtskirche: Pringle 1993, S. 137–156; Bagatti 1952. Zu Jerusalem als Erinnerungsort jüngst: Bieberstein 2010. Buchowiecki 1970, S. 287. Nürnberger 2004, S. 151–153; Kat. Ursula 1978, S. 9f. – Grundlegend zur visuellen Kultur des mittelalterlichen Ursulakults: Montgomery 2009, darin zur Kirche S. 47–58. 850 »innerhalb dieser so hocherhabenen Basilika, wo die heiligen Jungfrauen für Christi Namen ihr Blut vergossen haben« (zitiert nach Nürnberger 2002, S. 122). Noch deutlicher kommt der räumliche Bezug der Kirche zum Martyrium der Jungfrauen in einer heute verlorenen Inschrift zum Ausdruck, deren früheste Überlieferung allerdings aus dem 16. Jahrhundert stammt, was jedoch die Kontinuität der Tradition unterstreicht: »Hier, wo eine gottlose Hand das jungfräuliche Blut vergossen hat – […] – hat Clematius den Tempel

184

6  TRADITIONEN DES ORTES

nach der Säkularisation weitgehend abgerissen wurde, ist nur wenig bekannt.

rienkapelle Kaiser Ludwigs zu inkorporieren, indem »der

Eine Urkunde von 1180 spricht je-

Chor der von ihm erbauten Kirche über die Kapelle gelegt

doch davon, dass der »Ort, der ad martyres genannt wird,

wurde«.865 Auch dem Neubau ging ein göttliches Zeichen

[…], durch die Enthauptung des heiligen Gereons und

voraus:

858

das Martyrium seiner Kameraden verehrungswürdig«859 sei. Der Ort wird demnach aufgrund des Ereignisses, das einstmals dort stattfand, selbst zum Gegenstand der Verehrung. Zwei Kilometer südlich der Abteikirche St. Moritz in

»visi sunt designati et quasi ad fodiendum ecclesie fundamentum artificioso metientis orthogonio limites descripiti instar vernalis pruine, directi quidem a primitivo sancte Marie sacello occidentem versus«.866

der Schweiz, wo der Überlieferung nach der heilige Mau-

Hier zeigt sich klar, wie stark ein Erinnerungsort die

ritius und die Märtyrer der thebäischen Legion bestattet

räumliche Entwicklung einer Kirche bestimmen kann.

wurden, steht eine Kapelle, die den Ort des Martyriums

Die Umhüllung des identitätsstiftenden Ortes erfolgte

kennzeichnen soll.

Die Kirche lässt sich spätestens 1290

in mehreren Phasen nach dem Matroschka-Prinzip. Der

sicher nachweisen, existierte aber anscheinend schon ei-

Altar markierte den Ort des Wunders, die Marienkapelle

nige Jahrhunderte früher.

umbaut den Altar, der Dom Altfrids legt sich wiederum

860

über die Marienkapelle.867 Wie in vielen der angeführten

Göttlich bestimmte Orte und Maße (Hildesheim, Dom)

Beispiele ist es der Fundatio nach der Chor, der liturgisch

Nicht am Ort eines Martyriums, aber am Ort eines Wun-

wichtigste Raumteil, welcher das identitätsstiftende sacel-

ders steht der Hildesheimer Dom gemäß seiner Funda-

lum Kaiser Ludwigs überlagert.

Demnach befand sich Kaiser Ludwig der

Die spätere Verlegung des Doms über die identitätsstif-

Fromme (imp. 813–840) auf der Jagd, als er an der Stelle

tende Marienkapelle entspricht dem Vorgehen, das weiter

tio ecclesiae.

861

des späteren Doms zu Hildesheim eine Messe zelebrie-

oben am Beispiel der Kirchen S. Lorenzo und S. Agnese

ren ließ, für die Reliquien der Maria aus der königlichen

fuori le mura in Rom thematisiert wurde, wo im frühen

Kapelle herbeigebracht wurden. Danach ließen sich die

Mittelalter neue Kirchenbauten über den konstitutiven

Reliquien jedoch nicht mehr fortbewegen. In der Überzeu-

Märtyrergräbern angelegt wurden, welche die frühchrist-

gung, dass es sich um ein göttliches Zeichen handele, er-

lichen Gründungsbauten neben den Gräbern ablösten.

richtete Kaiser Ludwig »dort rasch der Gottesmutter eine

Äußerst bemerkenswert ist in diesem Fall außerdem, dass

Kapelle, deren Altar an der Stelle stand, wo auch die Reli-

auch der Disposition des Kirchenbaus eine religiöse Di-

quien hingen.«862 Schließlich verlegte er den Bischofssitz

mension zukommt, denn laut der Fundatio wird dem Bi-

von Elze nach Hildesheim, wo südlich der kaiserlichen

schof Altfrid nicht nur die neue Lage des Doms ausgehend

Marienkapelle der Dombau unter dem ersten Bischof

von der Marienkapelle offenbart, sondern obendrein der

Gunthar begonnen wurde.863

Grundriss der Kirche. Angesichts der Tradition des Ortes

Hinsichtlich der Relation der Kirche zum Ort inter-

verwundert es kaum, dass noch im heutigen Dom große

essiert weiterhin, dass Altfrid, der vierte Bischof von Hil-

Teile des Chormauerwerks aus dem Bau Altfrids stam-

desheim (ep. 851–874), einen Neubau des Doms neben dem

men.868

bestehenden initiierte,

864

um die identitätsstiftende Ma-

858 Anfang des 20. Jahrhunderts wurde an ihrer Stelle eine neuromanische Kirche erbaut, bei der auch die letzten mittelalterlichen Reste noch beseitigt wurden. Diese Kirche wurde wiederum im Zweiten Weltkrieg zerstört und 1954 durch ein Werk von Rudolf Schwarz ersetzt. 859 REK, Nr. 1152. 860 Descœudres 2005. 861 Fundatio ecc. Hildensemensis (ed. Hofmeister, S. 941f). 862 Ebd, S. 942. (Dt. Übersetzung H. J. Schuffels (Kruse 2000, S. 290)). 863 Ebd, S. 943. 864 Tatsächlich konnten südlich des bestehenden Doms die Fundamente einer alten Kirche nachgewiesen werden. Im Rahmen der großen Domgrabungen 2009–2013 unter der Leitung von Karl Bernhard Kruse wurden erstmalig größere Teile freigelegt, so dass die Auswertung neue Erkenntnisse über den ersten Dombau verspricht. Zwischenbericht: Kruse 2014; Ders. 2011; zum alten Forschungsstand: Kruse 2000, S. 95–100.

865 Ebd, S. 944. (Dt. Übersetzung H. J. Schuffels (Kruse 2000, S. 292)). 866 Ebd. »und gleichsam zum Graben des Fundamentes einer Kirche sind wie Frühlingsreif die Umrisse einer Kirche in kunstvollem Rechteck erschienen, und zwar von der ersten Marienkapelle nach Westen gerichtet« (dt. Übersetzung H. J. Schuffels (Kruse 2000, S. 292)). 867 Ob und inwiefern die Marienkapelle archäologisch nachgewiesen werden kann, muss die momentan laufende Auswertung der Grabungsbefunde zeigen. Karl Bernhard Kruse geht derzeit davon aus, dass die heutige Chorkrypta an der Stelle der Marienkapelle errichtet wurde (Kruse 2014, S. 49; Ders. 2011, S. 19). Das Außen­ mauerwerk der Chorkrypta stammt nach aktuellem Befund vom Domneubau unter Bischof Altfrid (Kruse 2014, S. 50f; Ders. 2011, S. 21). 868 Jacobsen/Lobbey 1993, S. 303–305.

185

6.4  HEILIGE HÄUSER

6.10  Jerusalem, Rekonstruktion der Zionskirche, zerstört im 13. Jh., Abendmahl­ saal über dem schraf­ fierten Bereich im süd­ lichen Seitenschiff

6.4 Heilige Häuser Über den Ort hinaus wurden im Mittelalter auch einige

des 14. Jahrhunderts belegen, in denen geschildert wird,

Sakralbauten mit Personen oder Ereignissen der Heils-

wie Pilger Nägel aus den Toren ziehen, denen sie »mäch-

geschichte in Verbindung gebracht und damit selbst Ge-

tige Fähigkeiten« zusprachen.870

genstand der Verehrung. Bei derartigen Kirchen stellte die

Ein anderes eindrückliches Beispiel in Jerusalem lie-

Architektur somit einen integralen Bestandteil der konsti-

fert die ehemalige Abteikirche St. Maria vom Berg Zion,

tutiven Tradition des Ortes dar.

die bis zu ihrer endgültigen Zerstörung durch muslimische Eroberer im frühen 13. Jahrhundert nach ­ christlichem

Biblische Bauwerke (Jerusalem, Goldenes Tor und Zionskirche; Loreto, Santa Casa)

seitenschiffs im Obergeschoss inkludierte (Abb. 6.10).871

Das Goldene Tor in Jerusalem wurde als dasjenige be-

Unterhalb des Saales sollen sich die Gräber der Könige

trachtet, durch welches Jesus Christus triumphal in die

David und Salomon befunden haben. Zahlreiche weitere

Stadt einzog.869 Weitere biblische oder apokryphe Ereig-

biblische und apokryphe Ereignisse wurden in der Kirche

nisse wie die Heilung eines Gelähmten durch Petrus oder

verortet, wie der Galiläa genannte Raum, in dem Jesus

die Begegnung Joachims und Annas nach der Verheißung

seinen Jüngern nach der Kreuzigung erschien oder das

der Geburt Mariens wurden ebenfalls am Goldenen Tor

Sterbebett Mariens, zugleich Ort ihrer Himmelfahrt. Auch

verortet. Das Tor war deshalb ein wichtiger Bestandteil

nach der Zerstörung besuchten Pilger die heiligen Stätten

der liturgischen Topographie Jerusalems und wurde nur

innerhalb des ruinösen Bauwerks.872 Bemerkenswert ist

am Palmsonntag im Rahmen einer großen Prozession

im Übrigen, dass noch im späten Mittelalter der ursprüng­

durchschritten. In dem Raum zwischen dem äußeren und

liche Grabort des heiligen Stephanus in der Kirche me­

inneren Durchgang war im Mittelalter eine Kapelle einge-

moriert wurde,873 obwohl zu jenem Zeitpunkt bereits S. Lo-

richtet, die nach der islamischen Rückeroberung Jerusa-

renzo fuori le mura als Grabort des Erzmärtyrers galt.874

lems in eine Moschee umgewandelt wurde. Die reliquien-

Von der Zerstörung verschont blieb interessanterweise

artige Verehrung des Goldenen Tores lässt sich in Texten

der Abendmahlssaal selbst, der im heutigen Zustand mit

869 870 871 872

873 Ebd. 874 Nach Daniela Mondini lässt sich seit dem 11. Jahrhundert die Legende greifen, dass sich der Erzmärtyrer Stephanus im Grab neben dem heiligen Laurentius befände (Dies. 2010, S. 451f).

Grundlegend zum Bauwerk: Pringle 2007, S. 103–109. Pringle 2007, S. 106 (»powerful properties«). Ebd., S. 261–287. Siehe etwa den Pilgerbericht des Nicolas von Poggibonsi aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (Pringle 2007, S. 269f).

Glauben den Abendmahlssaal am östlichen Ende des Süd-

186

6  TRADITIONEN DES ORTES

Kreuzrippen gewölbt ist, die in der Mittelachse von Säu-

die Teil der konstitutiven Tradition des Ortes sind, denn

len mit antiken Schäften und mittelalterlichen, teils anti-

die Bischofskirche ging der Legende nach aus dem Palast

kisierenden Kapitellen getragen werden. Aufgrund seiner

der heiligen Kaiserin Helena hervor.881 Die auffällige Per-

Bauformen, wie etwa Knospenkapitellen, resultiert der In-

sistenz der Kirche, die sich neben dem Erhalt großer Teile

nenraum wohl aus einem Umbau zum Ende des 12. Jahr-

antiker Bausubstanz besonders in räumlichen Kontinui­

875

hunderts, als er in der Hand der Kreuzfahrer gewesen ist.

täten äußert, erklärt sich hierdurch. Der Trierer Dom

Häuser, die als Relikte biblischer Ereignisse galten

wurde niemals durch einen Neubau ersetzt, weil damit die

und gelten, finden sich sogar außerhalb Palästinas. Das

Identität der Kirche als Domus Helenae vernichtet worden

Geburts- und Elternhaus Mariens, indem auch die Ver-

wäre, sondern entwickelte sich architektonisch im Rah-

kündigung stattgefunden haben soll, wird als Santa Casa

men einer quasi kontinuierlichen Metamorphose über

in Loreto an der italienischen Adriaküste verehrt.876 Dort-

rund 1600 Jahre hinweg (vgl. Abb. 2.04; Taf. 5.08).

hin sollen es Engel transferiert haben,877 nachdem die in

Die römische Kirche S. Croce in Gerusalemme ist

Nazareth am ursprünglichen Ort über dem Haus Mari-

nachweislich in einen kaiserlichen Palast eingebettet

ens errichtete Verkündigungskirche 1263 durch das Heer

worden, über den die heilige Helena verfügte.882 Während

Sultans Baybas zerstört wurde.878 In Loreto richtete man

die derzeitige Forschung trotzdem dazu tendiert, die

in dem Gebäude, dem bemerkenswerterweise die Funda-

Gründung der Kirche Konstantin dem Großen oder einem

mente fehlen, zunächst eine Kapelle ein, bevor es schließ-

seiner Söhne zuzuschreiben,883 galt in der Tradition der

lich nach dem Matroschka-Prinzip von einem neuen Kir-

Kirche zumindest die hinter der Apsis gelegene Helena-

chenbau weiträumig umhüllt wurde.

Kapelle als originäres cubiculum der heiligen Kaisermutter.884 Wohl aus diesem Grund wurde der Fußboden vor

Bauwerke aus Heiligen-Viten (Rom, S. Lorenzo in Miranda; Trier, Dom; Rom, S. Croce in Gerusalemme)

dem Helena-Altar von späteren Restaurierungen bewusst ausgespart.885

S. Lorenzo in Miranda wurde im ehemaligen Tempel des Antoninus Pius und der Faustina auf dem Forum Roma-

St. Denis als von Christus geweihter Bau

num eingerichtet.

Das relativ viele Teile des antiken

Während in vorgenannten Beispielen Kirchen in Gebäu-

Tempels bis heute erhalten blieben, könnte damit zusam-

den eingerichtet wurden, die als authentische Stätten der

menhängen, dass er im Mittelalter als die Gerichtsstätte

Heilsgeschichte galten, wurde in anderen Fällen die Kir-

angesehen wurde, in welcher das Todesurteil des heiligen

che erst mit dem Bau oder danach Ort heiliger Ereignisse.

Laurentius verkündet wurde.880

Das ist der mittelalterlichen Überlieferung nach mit der

879

Im deutsch-römischen Imperium fällt beispielsweise

Abteikirche St. Denis geschehen, die, wie weiter oben dar-

der Trierer Dom unter die Kategorie von Sakralbauten,

gelegt, über den Gräbern des heiligen Dionysius und sei-

875 Pringle 2007, S. 285. – Zwischen 1332 und 1336 konnten die Franzis­ kaner den Abendmahlssaal mit finanzieller Unterstützung König Roberts von Neapel von den muslimischen Machthabern zurück­ kaufen und dort bis zu ihrer Vertreibung 1523 unter Sultan Süley­ man die Messe zelebrieren (Ebd., S. 269–271). Die ältere, noch immer in populärwissenschaftlichen Publikationen vertretene Annahme, die gotische Raumfassung resultiere aus einer Umgestaltung des Saals durch die Franziskaner, ist aus den genannten stilkritischen Gründen nicht haltbar. 876 »Ecclesia beate Marie de Loreto fuit camera domus beate virginis Marie, matris domini nostri Jesu Christi, que domus fuit in partibus Hierusalem Iudee, et in civitate Galilee, cui nomen Nazareth. In dicta camera fuit beata virgo Maria nata et ibi educata; et postea ab angelo Gabriele salutata et demum in dicta camera nutrivit filium suum Jesum Christum« (Tolomei, Translatio Ecclesie De Loreto [ed. Sensi, S. 355]). 877 Tolomei, Translatio Ecclesie De Loreto (ed. Sensi, S. 356f). – Zur Geschichte der Marienkirche in Loreto und der Verehrung der Santa Casa grundlegend: Grimaldi 1993. 878 Pringle 1998, S. 121. – Als Haus Mariens wurde ein nicht mehr vorhandenes, aber wissenschaftlich nachgewiesenes, kleines Gebäude angesehen, dass einer Höhle, welche gemäß der Nazarener Tradition als Ort der Verkündigung galt, vorgebaut gewesen ist (Ders., S. 129–134). Diese Lokalität wurde von der 1263 zerstörten Verkün-

digungskirche weiträumig überfasst (Ders., S. 116–129). Die Santa Casa soll der lauretanischen Überlieferung nach mit jenem Vorbau identisch sein, so dass sie lediglich aus drei originalen Mauern bestehen soll; wohingegen die vierte Wand, an der in Nazareth die Höhle anschloss, erst nach der Translation angefügt wurde. 879 Mondini 2010b; Buchowiecki 1970, S. 282–286. 880 Zu den Kirchen an Orten der Laurentius-Vita siehe auch weiter oben. 881 Horn 2015a, S. 22–75; Kap. 2.2.2. 882 Brandenburg 2005, S. 103–108; Claussen 2002, S. 412–443; de Blaauw 1997; Krautheimer 1937, S. 165–195. 883 Hugo Brandenburg glaubt den Angaben des Liber Pontificalis und sieht in Konstantin den alleinigen Gründer der Kirche (Ders. 2005, S. 104). Sible de Blaauw schließt Helena zwar aufgrund der Nichterwähnung im Liber Pontificalis als Gründerin aus, hält andererseits aber eine Gründung durch die – ebenfalls nicht erwähnten – Söhne Konstantins für möglich (Ders. 1997, S. 62f). Es stellt sich jedoch die Frage, wie viel Zeugniskraft dem erst im 6. Jahrhundert verfassten Liber Pontificalis beigemessen werden darf, denn auch für S. Agnese fuori le mura nennt die Quelle Konstantin als Bauherren, obwohl inschriftlich dessen Tochter Constantina als Gründerin belegt ist. 884 Friedrich 2000, S. 18–28; Buchowiecki 1967, S. 618f; Krautheimer 1937, S. 194. 885 Claussen 2002, S. 441f.

187

6.5  HOCHRANGIGE GRÜNDER

von König Dagobert errichtet worden sei (vgl. Taf. 5.03).

Von Engeln errichtete Kirchen (Monte Gargano, S. Michele Arcangelo; Glastonbury, Abteikirche)

Am Vorabend der geplanten Weihe im Jahr 636 erschien

Die Grottenkirche S. Michele Arcangelo auf dem Monte

gemäß der Gründungslegende Christus und weihte die

Gargano im italienischen Apulien wurde der Legende

Kirche höchstpersönlich in Begleitung von Dionysius

nach vom Erzengel Michael nicht nur geweiht, sondern

und dessen Gefährten sowie Petrus, Paulus und einer

auch gegründet und gebaut.888 Eine Inschrift über dem

ganzen Schar weiterer Heiliger und Engel.

linken Portal vermittelt diese Tradition noch den heutigen

ner Gefährten Rusticus und Eleutherius auf Veranlassung

886

Bei dieser

Gelegenheit heilte Christus einen Leprakranken, der bereits in der Kirche weilte. Verschiedene Gegenstände, die man mit der wundersamen Gründung assoziierte, wie die Fensterscheibe, durch welche Christus und die Heiligen die Kirche betreten haben sollen, wurden Gegenstand ei-

Besuchern des Michaelsheiligtums: »NON EST VOBIS OPUS HANC QUAM AEDIFICAVI BASILICAM DEDICARE IPSE ENIM QUI CONDIDI ETIAM ET CONSECRAVI«.889

ner reliquienartigen Verehrung. Vor diesem Hintergrund

Der Gründungsbau der Abteikirche zu Glastonbury wurde

verwundert es nicht, dass Abt Suger ehrfürchtig von den

der Legende nach zwar von Menschen errichtet, jedoch

»sacratis lapidibus«,887 den »geweihten Steinen«, seiner Kir-

nach göttlichem Entwurf unter Anleitung des Erzengels

che schreibt.

Gabriel.890 Als ausführende Kräfte dienten dem himmlischen Bauleiter nicht etwa gewöhnliche Arbeiter, sondern päpstlich ausgesandte Missionare.891

6.5 Hochrangige Gründer Die identitätsstiftende Tradition des Ortes konnte sich

Konstantin der Große

auch auf eine hochrangige weltliche Gründerpersönlich-

Den Kirchen aus frühchristlicher Zeit verlieh eine Grün-

keit stützen, wobei Rang und Bedeutung des Kirchenbaus

dung durch den als ersten christlichen Kaiser verehrten

in Relation zu Rang und Bedeutung des Gründers bzw.

Konstantin den Großen ein ganz besonderes Prestige.893

der Gründerin standen. Amy Remensnyder hat das aus ge-

In Rom traf das beispielsweise neben der eigentlichen Bi-

schichtswissenschaftlicher Perspektive für die Klöster Süd-

schofskirche der Stadt, der Lateranskirche, auf die über

westfrankreichs eingehend untersucht.892 Im Folgenden

Heiligengräbern errichteten Memorialkirchen S.  Pietro,

werden exemplarisch Sakralbauten aufgeführt, die an an-

S. Paolo und S. Lorenzo fuori le mura zu (vgl. Abb. 6.01–

derer Stelle der Arbeit hinsichtlich ihrer Spuren der Vergan-

6.03; Taf. 6.01). In Palästina wurden unter anderem die

genheit behandelt wurden, so dass ein Zusammenhang er-

Gründungen zentraler christlicher Kultstätten wie die Gra-

kennbar wird. Die Gründung einer Kirche hingegen durch

beskirche in Jerusalem und die Geburtskirche in Bethle-

Heilige oder Engel, beispielsweise das zuvor erwähnte

hem Kaiser Konstantin zugeschrieben (vgl. Abb. 2.06; 6.09).

Michaelsheiligtum auf dem Monte Gargano, machte den Sakralbau zu einem Teil der Geschichte des Heiligen bzw.

Theodosius

Engels und damit der Heilsgeschichte. Diese Bauten fallen

Als Kaiser Theodosius und seine Mitregenten einen

deshalb unter die Kategorie »Heilige Häuser«. Allerdings

grundlegenden Neubau der römischen Paulskirche ver-

lassen sich die beiden Kategorien nicht immer trennen,

anlassten, steigerten sie nicht nur ihr eigenes Ansehen,

denn in einigen Fällen wurden hochrangige Gründerper-

indem sie sich in die Tradition Konstantins stellten, son-

sönlichkeiten postmortal kanonisiert.

dern nobilitierten auch den Kirchenbau durch die erneute kaiserliche Förderung (vgl. Taf. 6.01). Hugo Brandenburg

886 887 888 889

Lombard-Jourdan 1985; Liebmann 1935; Albrecht 2003, S. 143–146. Suger, consecratione 47 (ed. Binding/Speer, S. 222). Apparitione Michaelis (ed. MGH, S. 541f). Zitiert nach Santer 2011, S. 112. »Es ist nicht Eure Aufgabe, diese Kirche, die ich gebaut habe, zu weihen. Denn ich selbst, der ich sie gegründet habe, habe sie auch geweiht.« (Dt. Übersetzung Santer).

890 Albrecht 2003, S. 27f. 891 Ebd. 892 Remensnyder 1995. 893 Zu Konstantins Kirchengründungen: Diefenbach 2011; Weber-Dellacroce/Weber 2007; de Blaauw 2006.

188

6  TRADITIONEN DES ORTES

stellte vor diesem Hintergrund heraus, dass S. Paolo

Karl der Große

»nicht nur Memoria für den Apostel, sondern zugleich

Im deutsch-römischen Imperium stechen in der Katego-

Staatsmomument«894 sei.

rie hochadliger Gründer die kaiserlichen Fundationen heraus. Die Pfalzkapelle in Aachen hatte als Gründung

Helena

und Grabstätte Kaiser Karls des Großen einen immen-

Im ehemals römischen Teil des mittelalterlichen Impe-

sen Stellenwert im mittelalterlichen Reich, der durch die

riums wurde die Kaiserin Helena, Mutter Konstantins,

Heiligsprechung Karls 1165 nochmals gesteigert wurde.899

in mehreren Kirchen als Gründerin verehrt. Neben dem

Der sogenannte Thron Karls des Großen,900 auf den sich

Trierer Dom, der legendär aus dem Palast der Augusta

die deutschen Könige bei den bis 1531 in Aachen durch-

hervorgegangen ist, führten die Thebäerstiftskirchen

geführten Krönungen bedeutungsschwer setzen mussten,

St. Gereon zu Köln, St. Viktor zu Xanten sowie St. Cassius

kann exemplarisch für die Vielzahl von Erinnerungsob-

und Florentius zu Bonn im Mittelalter ihre Gründung auf

jekten angeführt werden, die den kaiserlichen Kirchen-

die Kaisermutter zurück (vgl. Abb. 2.04; 2.08f; 2.41–2.43;

gründer visuell im Kirchenraum vergegenwärtigten.901 Die

5.12; 6.05f).

Weil Helena auch als Heilige kanonisiert

sächsischen Bistümer von Bremen, Halberstadt, Minden,

wurde, beinhalteten die Gründungslegenden neben der

Münster, Paderborn, Osnabrück und Verden führten ihre

hochherrschaftlichen Dimension auch eine nicht minder

Gründung – zum Teil offenbar historisch zutreffend – auf

wichtige sakrale.

Karl den Großen zurück (vgl. Abb. 2.16; 2.21f; 2.24; 2.33f;

895

2.36–2.38; 5.06).902

Dagobert

In Bremen, wo Karl gemeinsam mit dem als Heiligen

Die Gründung der französischen Abteikirche St. Denis über

verehrten ersten Bremer Bischof Willehad obendrein als

dem Grab des als Apostel Galliens verehrten Märtyrers Di-

Gründer der Stadt galt, erinnerten und erinnern zahlrei-

onysius und seiner Begleiter wurde in der hochmittelalter-

che Bildnisse nicht nur im Dom an Kaiser und Bischof als

lichen Geschichtsschreibung dem merowingischen König

Gründerfiguren (vgl. Abb. 2.49).903 In Osnabrück, wo Karl

Dagobert (rex 623–639) zugeschrieben.

Neben schriftli-

ebenso als Gründer der Stadt galt, finden sich ebenfalls

chen Quellen führten verschiedene, im mittelalterlichen

bildliche Darstellungen des Kaisers wie auch Objek­te im

896

Kirchenraum inszenierte Artefakte wie der vorgeblich au-

Domschatz, die mit ihm in Verbindung gebracht wurden.904

thentische Thron Dagoberts oder eine Skulptur des Königs

Ein eindrückliches Zeugnis für die Bedeutung Karls als

aus dem 12. Jahrhundert die königliche Gründung vor Au-

Gründer des Bistums Verden bietet das heute in der Säch-

gen.897 Das ist insofern bemerkenswert, als die Abteikirche

sischen Landesbibliothek Dresden befindliche Chronicon

nach derzeitigem Forschungsstand bereits rund 150 Jahre

episcoporum Verdensium (Chronik der Verdener Bischöfe),

vor der Regierungszeit Dagoberts etabliert wurde und im

das mit einem Bild Karls des Großen und einer Schilderung

frühen Mittelalter als Gründung der heiligen Genovefa galt

der Bistumsgründung durch den Kaiser beginnt, worauf-

(vgl. Taf. 5.03).898 Offenbar wurde der Rang der Gründerper-

hin eine chronologische Darstellung der Verdener Bischöfe

sönlichkeit gegenüber dem Alter der Kirche als höherwertig

und ihrer Taten folgen.905 Auch in Halberstadt wurde Karl

erachtet. Die Substitution Genovefas durch Dagobert ist

der Große als Gründer verehrt. Dass die moderne histori-

darüber hinaus beachtenswert, weil der König schließlich

sche Forschung einen entsprechenden Eintrag in die Gesta

einer Heiligen vorgezogen wurde. Dies lässt sich durch die

episcoporum Halberstadensium als Fälschung erkannte und

besondere Königsnähe der Abtei St. Denis erklären, die

einiges stattdessen auf eine Gründung des Bistums erst in

sich als Grablege des französischen Königtums etablierte.

der Zeit Ludwigs des Frommen hinweist,906 ist in diesem

894 Brandenburg 2011, S. 371. 895 Trier: Embach 2008; Heinen 1996, S. 77–117. – Thebäerstifte: Runde 2003, S. 177f; Friedrich 2000, S. 212–215; Pohlsander 1995, S. 48–61. 896 Albrecht 2003, S. 128–131. – Tatsächlich veranlasste Dagobert im zweiten Viertel des 7. Jahrhunderts einen Umbau der Kirche (Crosby 1987, S. 29–50). 897 Albrecht 2003, S. 161–164 (Thron), S. 175f (Bildnis). 898 Vita Genovefae (ed. Krusch, S. 204–238) [datiert um 520]. – Sumner McKnight Crosby datiert den Gründungsbau ins 5. Jahrhundert (Ders. 1987, S. 13–27). 899 Kerner 2014, S. 402f (Mythos); Görich 2014 (Heiligsprechung). 900 Ob der Thron tatsächlich für Karl den Großen errichtet wurde

oder später wird wissenschaftlich diskutiert, wobei die neueren Forschungsergebnisse wieder auf eine Entstehung in karolingischer Zeit hindeuten (Schütte 2011; Ders. 2000; vgl. Beumann 1967). – Zur historischen Bedeutung des Throns: Gussone 2000. 901 Maas/Siebigs 2013 (Überblick der wesentlichen Objekte); Minkenberg 2000 (Krönungsgeschenke im Domschatz); Grimme 1967 (Denkmäler der Karlsverehrung). 902 Johanek 1999, S. 499–504; Honselmann 1984, S. 1–23. 903 Kötzsche 1967, S. 163–167. 904 Schnackenburg 2005, S. 327–330; Queckenstedt 2005, insbesondere S. 51–63. 905 Kötzsche 1967, S. 167f.

189

6.5  HOCHRANGIGE GRÜNDER

Zusammenhang unerheblich. Entscheidend ist, dass im

zu vergegenwärtigen. Weiterhin rühmten sich unter an-

Halberstädter Dom eine Karlstradition im kulturellen Ge-

derem die Bischofskirchen in Brandenburg, Meißen oder

dächtnis verankert war, welche das Selbstverständnis der

Zeitz, Gründungen Ottos des Großen zu sein.913 Auch in

Institution prägte und deshalb mit Hilfe diverser Objekte

Havelberg berief man sich auf Kaiser Otto I., obwohl die

im Kirchenraum visuell herausgestellt wurde, wie es Hans

bereits im späten 10. Jahrhundert zerstörte Domkirche

Fuhrmann ausführlich aufgezeigt hat.

erst zur Mitte des 12. Jahrhunderts wiedererrichtet werden

907

Auch in Frankreich wurden viele Kirchengründungen

konnte (vgl. Abb. 2.18; 3.05).914

auf Karl den Großen zurückgeführt. Exemplarisch sei die Abtei Lagrasse genannt, die Karl nach der Gründung un-

Heinrich II. und Kunigunde

In der Gründungslegende des

Die Tradition großer kaiserlicher Bistumsgründer setzte

13. Jahrhunderts wurde der Kaiser hingegen zum Gründer

Heinrich II. mit seiner Frau Kunigunde in Bamberg

erhoben, der die Abtei auf Ratschlag des Papstes Leo und

fort, wo er im Jahr 1007 ein neues Bistum konstituierte

des Erzbischofs Turpin an einem gottgewählten Ort eta-

(vgl. Abb. 5.16).915 Der zu diesem Zweck gegründete Bam-

blierte.

berger Dom diente später als Grablege des Kaiserpaa-

ter seinen Schutz stellte.

908

909

res, wo dessen Memoria gepflegt wurde. Mit der Hei-

Ludwig der Fromme

ligsprechung Heinrichs II. 1146 und Kunigundes 1200

Der Hildesheimer Dom hingegen wurde seiner Fundatio

wurde das Herrschergrab auch zum Heiligengrab und

zufolge von Karls Thronfolger Kaiser Ludwig dem From-

die Kirche zum sichtbaren Zeugnis ihres Wirkens.916

men gegründet.910

Für den Bamberger Domklerus ergab sich daraus das Dilemma, einerseits dem neuen Rang der Kirche mit

Otto der Große

einer repräsentativen Architektur von angemessener

Andere Kirchen in Norddeutschland stützten sich wiede-

Größe Ausdruck verschaffen zu wollen, aber andererseits

rum explizit auf Kaiser Otto den Großen. In erster Linie

die Tradition des Ortes sichtbar lassen zu müssen. Man

ist hier der Dom zu Magdeburg an der Spitze des von Otto

entschied sich Anfang des 13. Jahrhunderts schließlich

konstituierten Erzbistums zu nennen, der zugleich auch

für einen kompletten Neubau, dessen altertümliche und

als Grabstätte Ottos und seiner ersten Frau Edith, der in

konservative Züge den Verlust der alten Bausubstanz

Magdeburg ebenfalls eine besondere Verehrung zuteil

kompensieren

wurde, fungiert (vgl. Abb. 2.50).

sollten.

Achim

Hubel

und

Manfred

Die zentrale Bedeutung

Schuller brachten die architektonische Strategie treffend

Ottos als Gründerfigur zeigen zwei Reihen von in den

auf den Punkt: »Der Neubau sollte in seiner Gestalt

Putz geritzten Bischofsbildnissen im Magdeburger Dom-

sinnfällig machen, dass die ehrwürdige Tradition des

kreuzgang, die im Zusammenhang mit dem Anfang des

Heinrichsdoms in ihm erhalten blieb.«917 Zu den politi-

13. Jahrhunderts einsetzenden Domneubau entstanden.

schen Beweggründen äußerte sich Bernd Schneidmüller:

911

912

Die beiden chronologischen, an Genealogien erinnernden

»Im Wettstreit der Reichsbistümer besann sich das peri-

Reihen nehmen jeweils von einer Darstellung des thro-

phere Bamberg seiner kaiserlichen Stifter und nutzte sie

nenden Kaisers Otto I. mit seinen beiden Frauen ihren

zum Erhalt von Königs- und Papstnähe.«918 Auch zahl-

Ausgang. Die Darstellung des Kaisers am Anfang der Bi-

reiche Bildnisse erinnerten in Bamberg an das heilige,

schofsreihen bringt, wie in der zuvor genannten Verdener

hochherrschaftliche Gründerpaar; exemplarisch sei auf

Chronik, das hochmittelalterliche Bewusstsein für die kai-

die auch kunsthistorisch bedeutsamen Skulpturen an der

serliche Gründungstradition offensichtlich zum Ausdruck

Adamspforte des Doms hingewiesen, wo Kunigunde mit

und belegt darüber hinaus den Willen, jene auch bildlich

einem Dommodell in der Hand dargestellt wird.919

906 Hierzu zuletzt: Vogtherr 2006. 907 Fuhrmann 2006; Ders. 2002. 908 Remensnyder 1995, S. 1. 909 Ebd. 910 Fundatio ecc. Hildensemensis (ed. Hofmeister, S. 941f). 911 Horn 2015a, S. 93–143; Ders. 2011. 912 Zu den Putzritzzeichnungen im Magdeburger Domkreuzgang: Waschbüsch 2012; Puhle 2009, Bd. 2, S. 214–216 (mit Literaturverzeichnis); Klamt 1989; Sciurie 1983. 913 Zu den Bistumsgründungen Ottos I. überblickend: Streich 2001, S. 78f.

914 Zur mittelalterlichen Geschichte des Bistums zuletzt: Bergstedt 2012. 915 Schneidmüller 2015; Ders. 2007; Ders. 2002. 916 Zur Heiligsprechung des Herrscherpaares: Guth 2002, S. 101–107. 917 Kat. Heinrich II. 2002, S. 389 (Hubel, Achim/Schuller, Manfred). 918 Schneidmüller 2002, S. 50. 919 Einführend zu den Figuren: Kat. Heinrich II. 2002, S. 393f (Achim Hubel).

190

6  TRADITIONEN DES ORTES

Im Basler Münster galt Heinrich II. als Restaurator der

1004 restituierte Heinrich II. das 981 von Otto II. auf-

Bischofskirche, die im 10. Jahrhundert von den Ungarn

gelöste Bistum Merseburg und wurde deshalb auch dort

zerstört wurde, so dass der Kaiser in Basel einem Gründer

als »nostre ecclesie reparatoris«922 wie ein Gründer verehrt

gleich verehrt wurde (vgl. Abb. 4.27; 4.39–4.42).920 Hiervon

(vgl. Abb. 2.27).923 Die Bewahrung alter Gebäudeteile im

legen zahlreiche Bildnisse des Kaisers und seiner Frau in

Zuge der kontinuierlichen Metamorphose der Kirche

Basel ein Zeugnis ab, von denen einige Heinrich II. mit

kann, wie Matthias Müller gezeigt hat,924 zur kaiserlichen

einem Kirchenmodell in der Hand als Neugründer des

Tradition des Ortes in Beziehung gesetzt werden. Zu Be-

Münsters ausweisen. Aufgrund der besonderen Verehrung

ginn des 16. Jahrhunderts scheint sich die Verehrung

Heinrichs II. und Kunigundes in Basel gelang es Bischof

Heinrichs II. und auch Kunigundes intensiviert zu ha-

Johann von Basel 1347, Reliquien des heiligen Kaiserpaa-

ben, wovon neben zahlreichen Bildnissen des Kaiserpaa-

res aus Bamberg geschenkt zu bekommen und ins Basler

res, welche Heinrich II. teils mit dem Kirchenmodell als

Münster zu überführen. In diesem Kontext wird die signi-

Gründer des Doms ausweisen, vor allem die 1517 erfolgte

fikante Herausstellung des Alters der Kirche beim Wieder-

Translation von Reliquien des heiligen Kaiserpaares von

aufbau nach dem Erdbeben 1356 verständlich.921

Bamberg nach Merseburg zeugt.925

6.6 Überlagerungen von Traditionen Auf den vorangegangenen Seiten wurden unterschiedliche

Märtyrern der Thebäischen Legion, wie auch als Ort des

Kategorien von Traditionen des Ortes, die formbestimmen-

Martyriums. Zu späterer Zeit wurde die Gründungsle-

den Einfluss auf die Architektur eines Kirchenbaus haben,

gende angereichert, indem man den Akt der Gründung

differenziert. Oftmals rekurrierten die Erinnerungen aus

der Kaiserin Helena zuschrieb, wie es auch in den The-

Stein jedoch nicht auf eine einzelne Sinnschicht, sondern

bäerstiften in Xanten und Bonn geschah, so dass man

auf eine vielschichtige Tradition des Ortes, die sich im

über die religiöse Tradition hinaus auch auf eine weltlich

Laufe der Zeit aus einer Überlagerung und Vernetzung ver-

hochgestellte, historisch bedeutsame und zugleich als

schiedener Referenzebenen bildete. Hierbei erfolgt nicht

Heilige verehrte Gründerpersönlichkeit der Antike ver-

selten eine bewusste Konstruktion der Vergangenheit, um

weisen konnte. Die oben dargelegte Tradition des Ortes

die Tradition des Ortes grandioser und bedeutsamer er-

der Abteikirche von St. Denis, deren Kern die Grabstätte

scheinen zu lassen. So verehrte man im Bremer Dom, wie

des heiligen Dionysius und seiner Gefährten bildet,

gezeigt, sowohl Kaiser Karl den Großen als auch Bischof

wurde hingegen nobilitiert, indem die Gründung der Kir-

Willehad als Gründer, wobei beide Persönlichkeiten später

che dem merowingischen König Dagobert zugeschrieben

heiliggesprochen wurden. Insofern konnte man sich in Bre-

und schließlich sakral überhöht wurde, indem die Weihe

men nicht nur auf einen hochgeschätzten weltlichen Herr-

der Dagobertkirche von Christus persönlich vollzogen

scher wie auch einen angesehenen Mann der kirchlichen

worden sein soll.

Elite der Karolingerzeit stützen, sondern ebenso gleich zwei

Die drei Beispiele verdeutlichen die Komplexität,

Heilige als Gründer benennen, wobei der eine, Willehad,

wel­che die spezifischen Traditionen des Ortes teilweise

zusätzlich im Dom begraben wurde. Ob der Bremer Dom

erreichten, wenn sich verschiedenen Kategorien überla-

darüber hinaus an der Stelle des Martyriums von Gerwal

gerten und mit unterschiedlichen Traditionen verwoben

und seinen Gefährten erbaut wurde, wie neuzeitlich vermu-

wurden. Es liegt auf der Hand, dass diese Komplexität an-

tet wurde, lässt sich bisher nicht belegen.926

gemessen berücksichtigt werden muss, um die Wirkung

Die Kirche von St. Gereon zu Köln galt, wie beschrie-

der Tradition des Ortes auf die Architektur differenziert

ben, im frühen Mittelalter sowohl als Grabstätte von

untersuchen zu können.

920 921 922 923 924

925 Ebd., S. 124–126, 132–136. 926 Dietsch 1978, S. 9. – Von Johann Christian Bosse und Hans Henry Lamotte wird die Errichtung des Doms an der Stelle des Martyriums hingegen als Fakt dargestellt. (Dies. 1989, S. 4).

Zur Heinrichsverehrung in Basel: Hess 2002; Pfaff 1963. Kap. 4.3.3. Chronica ep. Merseburgensis, S. 185. Schneidmüller 2015; Ders. 2005. Müller 2009b, S. 121–123.

191

6.7  RESÜMEE: TRADITIONEN DES ORTES

6.7 Resümee: Traditionen des Ortes Bei der Untersuchung exemplarischer Sakralbauten kris-

Schriftquellen lässt sich die konstitutive Wirkung eines

tallisierten sich verschiedene Kategorien von Traditionen

Ortes, an dem sich ein Wunder ereignete, für den Hildes-

des Ortes heraus, welche von sinnstiftender und teils kon-

heimer Dom gut fassen.

stitutiver Bedeutung für den Kirchenbau und die ihn tra-

Manchmal wurde über den Ort hinaus das Gebäude

genden Institutionen waren. In vielen Fällen wurde eine

selbst als Bestandteil eines heiligen Ereignisses oder des

Kirche über dem Grab eines oder einer Heiligen errich-

Wirkens von Heiligen angesehen.929 Während die Kirchen

tet.

Das Heiligengrab bildete dabei den Angelpunkt, um

der vorgenannten Kategorien erst zu einem späteren

welchen die Architektur herum konzipiert wurde. Die Tra-

Zeitpunkt über dem heiligen Ort errichtet worden sind,

dition des Ortes wog in der Folgezeit so schwer, dass man,

bestanden heilige Häuser bereits zum Zeitpunkt des

wenn Grabort und Kirchenbau in ein anderes räumliches

heiligen Ereignisses oder gingen aus diesem hervor. In

Verhältnis gesetzt werden sollten, lieber das Bauwerk neu

diesen Fällen wurde der Erinnerungsort folglich vom

ausrichtete als das Grab zu translozieren (Rom, St. Peter;

Bauwerk nicht nur markiert, sondern definiert. Über

Marburg, Elisabethkirche). In anderen Fällen wurden Kir-

die räumliche Ebene hinaus fungierte die Kirche auf

chen neben Heiligengräbern in späterer Zeit durch neue

materieller Ebene als originales Zeugnis für das jeweilige

Bauten über den Graborten ersetzt (Rom, S. Agnese fuori

Ereignis, als authentischer Erinnerungsträger aus Stein,

le mura und S. Lorenzo fuori le mura). Zum Teil wurden

dem das Gebäude einen räumlichen Rahmen gab oder aus

die Gräber in ihrer erkennbar von der Kirche abweichen-

dem es unmittelbar resultierte.

927

den Ausrichtung als authentische Graborte inszeniert

Der Zusammenhang zwischen heiligem Ereignis und

(Bonn, Münster; Marburg, Elisabethkirche). In den Fäl-

Gebäude artikulierte sich auf unterschiedliche Weise. In

len, in denen die Gebeine des Heiligen trotzdem trans­

Palästina wurden Gebäude biblischer Ereignisse zu Ge-

loziert wurden, konnte sogar das leere, ursprüngliche Grab

genständen der Verehrung (Jerusalem, Goldenes Tor und

Gegenstand der Verehrung bleiben. Beispiele hierfür las-

Abendmahlssaal in der Zionskirche), während Gebäude

sen sich sowohl für Translokationen innerhalb derselben

in West- und Mitteleuropa mit dem Leben von Heiligen in

Kirche finden (St. Denis), als auch dann, wenn die Ge-

Verbindung gebracht wurden (Trier, Dom; Rom, S. Croce

beine aus der Kirche entfernt wurden (Zionskirche, Jeru-

in Gerusalemme). In anderen Fällen führte eine Weihe der

salem). In der frühmittelalterlichen Vita Liudgeri wird die

Kirche durch Heilige oder sogar Christus selbst zu einer

konstitutive Bedeutung des Heiligengrabs für die räum­

(weiteren) religiösen Aufladung des Bauwerks (St. Denis)

liche Situierung der Lebuinuskirche in Deventer schrift-

oder Heilige wirkten direkt beim Bau mit (Monte Gargano,

lich geschildert.

S. Michele Arcangelo). Einen besonderen Fall stellt die Casa

Manche Kirchen wurden hingegen an Orten errich-

Santa dar, das legendäre Geburtshaus Mariens, welches

tet, an denen heilige Ereignisse stattfanden, so dass der

von Engeln aus Nazareth ins italienische Loreto überführt

Ort selbst als räumliche Manifestation des Ereignisses

worden sein soll. Dort wird das Haus ohne den ursprüngli-

verehrt wurde.928 Im Unterschied zu materiellen Spuren

chen Ortsbezug wie eine Reliquie verehrt. Manche Kirchen

der Vergangenheit dient der den Ort umfangende Raum

wurden also an religiös konnotierten Orten gegründet oder

als nicht sichtbarer, aber doch physisch präsenter und

es wurde zumindest eine religiöse Konnotation des Ortes im

sinnlich erfahrbarer Träger von Erinnerung. In besonde-

Nachhinein unterstellt. In diesen Fällen kam dem jeweili-

rem Maße finden sich Kirchen über heiligen Orten, nahe­

gen Ort, als räumlich festem Punkt im Raum, eine konsti-

liegender Weise, an den biblischen Stätten in Palästina

tutive Bedeutung für die Kirche zu. In anderen Fällen ba-

(Bethlehem, Geburtskirche; Jerusalem, Grabeskirche). In

sierte die Tradition des Ortes auf der Gründung durch eine

West- und Mitteleuropa markieren derartige Kirchen vor-

bedeutsame weltliche Person.930 Der Ort lässt sich in diesen

wiegend den Ort, an dem Heilige ihr Martyrium erlitten

Fällen nicht konkret greifen, sondern bezeichnet vielmehr

(Köln, St. Ursula; Rom, S. Lorenzo in Panisperna). In den

den Raum der Kirche in seiner Gesamtheit.

927 Kap. 6.2. 928 Kap. 6.3.

929 Kap. 6.4. 930 Kap. 6.5.

192

6  TRADITIONEN DES ORTES

Bei Kirchen aus der frühchristlichen Zeit indizierte

Schließlich, und das ist ein wichtiger Aspekt, überla-

eine Gründung durch einen römischen Kaiser oder An-

gerten sich vielerorts die genannten Kategorien und bil-

gehörige des Kaiserhauses das höchste Geltungsniveau,

den eine vielschichtige Tradition des Ortes, etwa wenn

wobei Konstantin der Große aufgrund seiner historischen

eine hochrangige weltliche Gründerpersönlichkeit zu spä-

Verdienste für das Christentum eine besondere Rolle ein-

terer Zeit heiliggesprochen wurde. In diesen Fällen wurde

nahm (Rom, St. Peter; Jerusalem, Grabeskirche). Im mit-

das Gründergrab zum Heiligengrab erhöht und der be-

telalterlichen Imperium stellten einige Kirchen, die sich im

treffende Kirchenbau geriet zum sichtbaren Ausdruck des

ehemaligen Gebiet der römischen Provinzen befanden, ihr

heiligen Wirkens (Aachen, eh. Pfalzkapelle; Marburg, Eli-

hohes Alter und ihre besondere Dignität heraus, indem sie

sabethkirche). Bei einer nennenswerten Zahl von Tradi­

ihre Gründung auf die Kaisermutter Helena zurückführ-

tionen des Ortes überschneiden sich die religiöse und po-

ten (Köln, St. Gereon; Trier, Dom). Die mittelalterliche Ge-

litische Ebene, wenn eine hochrangige Person die Kirche

schichtsschreibung in der Abteikirche St. Denis vermittelt

an einem religiös aufgeladenen Ort errichtet hat (Rom,

ein Beispiel für die Bedeutung der Gründerpersönlichkeit,

St. Peter; St. Gereon, Köln).

denn man ersetzte die heilige Genovefa bewusst durch den

Die Traditionen des Ortes liefern damit einen Erklä-

merowingischen König Dagobert, der zwar rund 150 Jahre

rungsansatz für die absichtsvollen Bezugnahmen auf die

später lebte, aber für die Instituierung einer Grablege des

Vergangenheit und die Integration ihrer Spuren in mittel-

französischen Königtums von Vorteil war.

alterlichen Sakralbauten. In vielen Fällen erinnerten die

Im mittelalterlichen Imperium stellte der Kaiser die

Steine nicht nur an die sinnstiftende Tradition des Ortes,

höchste weltliche Instanz für eine Kirchengründung dar.

sondern wurden darüber hinaus als authentische Zeug-

So beriefen sich auffallend viele Domkirchen im sächsi-

nisse angesehen und präsentiert. Der Stellenwert der je-

schen Raum, teils historisch korrekt, auf Karl den Großen

weiligen Tradition des Ortes stand offensichtlich bei reli-

als Fundator (Bremen, Osnabrück, Verden etc.); an der

giös konnotierten Orten in einem Zusammenhang mit der

Elbe wurde mehrfach Otto der Große als Bistumsgründer

Bedeutung des Heiligen oder des Ereignisses. Bei Tradi­

memoriert (Havelberg, Magdeburg, Meißen etc.). Kaiser

tionen, die auf Gründerpersönlichkeiten rekurrierten,

Heinrich II. wurde über seine Bistumsgründung Bamberg

wirkten sich Rang und Würden der Person auf die Bedeu-

hinaus auch in den mit seiner Hilfe restaurierten Bischofs­

tung der Tradition des Ortes aus.

kirchen in Basel und Merseburg wie ein Gründer verehrt.

193

FARBTAFELN

Taf. 2.01  Aachen, Dom (eh. Pfalzkapelle), Ansicht von Südwesten (rot: karolingischer Kern)

Taf. 1.01  Trier Dom, Grundriss 11. Jh. (rot: Quadratbau 4. Jh., grün: gedoppelte Quadratbaustruktur)

Taf. 2.02  Aachen, Dom (eh. Pfalzkapelle), Grundriss (rot: karo­ lingischer Kern)

194

FARBTAFELN

Taf. 2.03  Essen, Dom (eh. Münster), Überlagerung des ottonischen (rot) und gotischen (grau) Bauzustands (gefüllt: erhalten, konturiert: überbaut, gestrichelt: rekonstruiert, grün: spätromanisch)

Taf. 2.04  Essen, Dom (eh. Münster), Längsschnitt durch das nördliche Seitenschiff (Zustand 1929) mit Markierung der integrierten spät­ ottonischen Teile (violett: Westbau, blau: Seitenschiffswände, rot: Krypta)

FARBTAFELN

Taf. 2.05  St. Denis bei Paris, Längsschnitt durch die Ostteile, Zustand nach dem Umbau Mitte 12. Jh., Binnenchor rekonstruiert (grün: Apsismauer 8. Jh., rot: Krypta 9. Jh.)

Taf. 2.06  Canterbury, Cathedral, Längsschnitt durch die Ostteile, Plan 19. Jh. (rot: integrierte Krypta des frühen 12. Jh.)

195

196

FARBTAFELN

Taf. 5.01  Köln, Dom, Umriss der gotischen Kathedrale mit Über­ lagerung älterer Bau­ zustände (rot: 12. Jh., grün: 9. Jh., orange: 6. Jh., blau: 4./5. Jh.)

Taf. 5.02  Xanten, St. Viktor, gotischer Grundriss (grau) mit Eintragung der ältesten Bauzustände bzw. Vorgängerbauten (orange: sog. Märtyrergrab, rot: 2. Hälfte 4. Jh. mit Altarmensa, blau: 1. Hälfte 6. Jh., grün: Anbau 2. Hälfte 8. Jh.)

197

FARBTAFELN

oben: Taf. 5.03  St. Denis, Grundriss mit Bauzuständen Mitte: Taf. 5.04  Freiburg, Münster, Grundriss mit Bauzuständen unten: Taf. 5.05  Freiburg, Münster, ergrabene Fundamente (grün: 1120/30er Jahre, rot: um 1200)

198

Taf. 5.06  Freiburg, Münster, Grundriss (schwarz: romanisch, rot: gotisch, orange: spätgotisch, gelb: Renaissance)

Taf. 5.07  Mainz, Dom, Grundriss mit Datierung der Gebäudeteile

FARBTAFELN

199

FARBTAFELN

Taf. 5.08  Trier, oben: Dom, unten: Liebfrau­ en, Relation der Grundrisse zum frühchrist­ lichen Quadratbau (rot)

Taf. 5.09  Marburg, Elisabethkirche, Grundriss (gestrichelt: Vorgängerbau, orange: Elisabethgrab)

200

FARBTAFELN

oben: Taf. 5.10  Marburg, Elisabethkirche, Grundrisse der Vor­ gängerbauten (orange: Elisabethgrab, dünn: Hospitals­ kapelle, dick: Franziskuskirche) Mitte: Taf. 5.11  Essen, Dom (eh. Münster), Relation des karolin­ gischen Bauzustands (rot) zum ottonischen (schwarz) unten: Taf. 6.01  Rom, S. Paolo fuori le mura, Ostteile der theo­ dosianischen Basilika um 390 (rot: Apsis der konstanti­ nischen Vorgängerin)

201

7 RESÜMEE

7.1 Kategorien architektonischer Spuren der Vergangenheit Die Untersuchung mittelalterlicher Kirchenbauten lässt

lie« etabliert. Spolien fanden in den vergangenen Jahr-

vier grundsätzliche Kategorien von Spuren der Vergangen-

zehnten viel Aufmerksamkeit in der Forschung und stellen

heit in der Architektur erkennen: materielle, inszenierte,

deshalb die mit großem Abstand am besten erforschten

künstliche und räumliche.

Spuren der Vergangenheit dar. Wiederverwandte Elemente aus demselben Gebäude wurden bisher undifferenziert den

Materielle Spuren

Spolien zugeordnet. Dies ist jedoch problematisch, weil die

Die materiellen Spuren der Vergangenheit kennzeichnet

Herkunft den Bedeutungsgehalt bestimmt. So ist es offen-

in der Regel eine teils starke visuelle Präsenz und Signi-

sichtlich ein Unterschied, ob Säulenteile fremder Herkunft

fikanz, so dass sie vergleichsweise schnell und einfach

wie an der Fassade von San Marco in Venedig trophäenar-

wahrgenommen werden können. Ihre Größe variiert

tig zur Schau gestellt werden oder ob alte Säulenteile aus

von ganzen Gebäudeteilen wie Westbauten931 oder Kryp-

der eigenen Baugeschichte wie in St. Denis in einem neu-

ten932 über einzelne Bauteile wie Wände933 oder Portale934

artigen architektonischen Zusammenhang präsentiert wer-

bis hin zu einzelnen Werkstücken wie Kapitellen935 oder

den. Zwecks z­ ukünftiger (auch sprachlich) differenzierter

Tympana.936 In einigen Fällen blieb sogar ein alter Kern

Auseinandersetzung mit dem Phänomen wiederverwand-

erhalten, um den herum sich die Kirche entwickelte.937 Die

ter Werkstücke wurde hierfür der Terminus »Asservatie«

Wiederverwendung alter Baumaterialien, vor allem von

eingeführt. Die Komplexität des Themas wird deutlich an

Steinen, lässt sich zwar häufig beobachten, unterscheidet

Spolien, die in Drittverwendung zu Asservatien wurden,

sich aber von den vorgenannten Kategorien insofern, als

wie es im Dom zu Magdeburg oder in S. Lorenzo in Neapel

eine Erkennbarkeit des Alters oftmals nur schwer oder gar

geschehen ist. In diesen Fällen überlagern sich verschie-

nicht gegeben ist.

dene Bedeutungsschichten und der Sinngehalt der Arte-

938

Ein wichtiges Kriterium zur Differen-

zierung der materiellen Spuren stellt die Möglichkeit des

fakte wandelt sich im historischen Kontext.

Versatzes dar. Während Gebäudeteile und größere Bau-

Die gestalterischen Strategien zur sichtbaren Einbin-

teile aufgrund ihrer Dimensionen und Strukturen eine In-

dung alter Materie bewegen sich zwischen absichtsvoller

tegration in situ voraussetzen, lassen sich einzelne Werk-

Kontrastierung und erkennbarer Integration. Durch den

stücke oder auch kleinere Bauteile wie Portale in einen

Kontrast zwischen neuen und alten Teilen wird der Alters-

anderen architektonischen Kontext transferieren.

wert des einen Teils in Relation zum jeweils anderen über-

Die beweglichen Architekturelemente in Neuverwen-

haupt erst definiert. Das Neue lässt das Alte alt erscheinen

dung lassen sich nochmals nach ihrer Herkunft unter-

und umgekehrt. Die auf diese Weise aufgebaute Dialektik

scheiden, was notwendig ist, um deren Bedeutungsgehalt

zwischen neuen und alten Teilen visualisiert folglich die di-

zu erschließen. Wiederverwandte Werkstücke können aus

versen Zeitschichten des Bauwerks und verweist somit auf

einem anderen Gebäude stammen oder innerhalb dessel-

die Vergangenheit der Kirche und die sie tragende Institu-

ben Gebäudes versetzt worden sein. Für wiederverwandte

tion. Bei additiven Baukonzepten treten die unterschiedli-

Elemente aus fremden Bauten hat sich der Terminus »Spo-

chen Teile recht unvermittelt nebeneinander, was den Kon-

931 932 933 934

935 936 937 938

Essen, eh. Münster; Osnabrück, Dom. Canterbury, Kathedrale; Chartres, Kathedrale. Bremen, Dom; Köln, St. Gereon. Basel, Münster; Paris, Notre-Dame.

Bamberg, Dom; St. Denis, Abteikirche. Breslau, Marienkirche; Münster, Dom. Trier, Dom; Aachen, eh. Pfalzkapelle. Köln, Dom; Freiburg, Münster.

202

7 RESÜMEE

trast betont. Beispiele liefern die (auffällig) alten Türme am

Baukultur. Dieses Phänomen lässt sich als Teil der Me-

Dom zu Verden oder der Pfarrkirche in Earls Barton.

tamorphose von Kirchenbauten fassen, welcher die archi­

Andererseits wurde manchmal eine Synthese der

tektonische Struktur betrifft.940 Die Transformation alter

verschiedenen Teile angestrebt, welche die unterschied­

Bauteile, die häufig im Zusammenhang mit einer Einwöl-

lichen Zeitschichten zwar lesbar lässt, aber alte und neue

bung der Kirche stand, wurde bisweilen auch für die In-

Architekturteile zugleich als integrale Kompartimente eines

szenierung von Spuren der Vergangenheit genutzt, indem

übergeordneten Ganzen erkennbar macht, indem wechsel-

alte und neue Elemente erkennbar geschichtet wurden.

seitige architektonische Bezüge hergestellt wurden. Dies

Vergleichbar der Integration alter Gebäudeteile definie-

geschah in erster Linie im Rahmen inkorporierender Bau-

ren sich »alt« und »neu« dabei wechselseitig. Die gestalte-

konzepte, bei denen der alte Teil sichtlich dem neuen ein-

rischen Konzepte oszillieren ebenso zwischen den Polen

verleibt und damit die Einheitlichkeit betont wurde. Exem-

Kontrast und Synthese, um entweder die zeitliche Diffe-

plarisch lässt sich das am Westbau des Es­sener Doms oder

renz oder die gemeinsame Einbindung in das übergeord-

der Krypta von St. Denis erkennen, wo die alten Gebäude-

nete architektonische System stärker herauszustellen.

teile von den neuen nicht nur umfasst, sondern auch in ein architektonisches Verhältnis zuein­ander gesetzt werden.

Gemäß ihrer Ausrichtung lassen sich zwei Konzepte der Schichtung grundsätzlich unterscheiden: vertikale

Um ein besseres Verständnis der dem Bau zugrunde lie-

Schichtungen, bei denen die bestehende Wandstruktur

genden Intentionen zu gewinnen, muss zudem der zeitliche

derart von einer neuen Struktur überlagert wurde, dass die

Abstand zwischen neuen und alten Teilen berücksichtigt

alte durch die neue hindurch erkennbar blieb (Magdeburg,

werden. Bei vielen der untersuchten Kirchen wurden alte

Liebfrauenkirche; Gloucestershire, Cathedral),941 und

architektonische Elemente integriert, die zum Zeitpunkt

horizontale Schichtungen, bei denen die neue Struktur

der Baukampagne bereits hunderte von Jahren alt waren,

auf die alte gesetzt wurde (Trier, Dom; Bremen, Dom).942

etwa beim stauferzeitlichen Umbau von St. Gereon zu Köln

In beiden Fällen wird die architektonische Schichtung

oder der gotischen Erweiterung des Aachener Münsters. In

zum Sinnbild für die zeitliche Schichtung. Die Analyse

diesen Fällen macht es Sinn, von einer bewussten Einbin-

des Trierer Doms ergab, dass dort nicht nur die als neu er-

dung der alten Materie auszugehen, denn auf diese Weise

kennbaren Teile ergänzt wurden, sondern auch neue Teile

ließ sich der hohe Alterswert und die identitätsstiftende

in alten Formen ausgeführt wurden. Das beweist, dass

Tradition des Ortes visuell dokumentieren.939

das Bild der Schichtung von Alt und Neu planvoll erzeugt

Bei anderen Kirchen liegen die unterschiedlichen Gebäudeteile hingegen nur wenige Jahre oder Jahrzehnte

wurde, dass das architektonische Verhältnis von Alt und Neu also bewusst inszeniert wurde.

auseinander oder wurden für eine kurze Zeit sogar parallel errichtet, wie etwa das Langhaus und die Ostteile des

Künstliche Spuren

Freiburger Münsters. In diesen Fällen rührt das stilistisch

Einen schlagenden Beweis dafür, dass Spuren der Ver-

heterogene Erscheinungsbild des Kirchenbaus aus einem

gangenheit an oder in mittelalterlichen Sakralbauten

dynamischen Wandlungsprozess im Rahmen eines lang-

erwünscht sein konnten, liefern künstlich gelegte, also

fristigen Bauverlaufs. Der Kontrast zwischen den Gebäu-

nicht authentische Spuren der Vergangenheit, mit denen

deteilen resultiert folglich nicht aus der Einbindung eines

ältere Formen gezielt imitiert wurden. Hierfür ließen sich

altehrwürdigen Bauteils mit allen seinen inhaltlichen Im-

unerwartet viele Beispiele unterschiedlicher Ausprägung

plikationen. Gleichwohl gibt es Hinweise darauf, dass der

finden. Das Spektrum der künstlichen Spuren architek-

Kontrast durchaus gewünscht sein konnte und man sich

tonischer Vergangenheit reicht von der Imitation einzel-

zumindest in einigen Fällen gezielt am Bild gewachsener

ner Werkstücke wie Kapitellen über größere Bauteile wie

Kirchen orientierte.

ganze Gewölbe bis hin zu großangelegten Konzepten artifizieller Schichtungen, bei denen eine strukturelle Meta-

Inszenierte Spuren

morphose suggeriert wird, obgleich eine einheitliche Pla-

Neben der Substitution alter Gebäude- und Bauteile

nung vorlag. Künstlich erzeugte Spuren der Vergangenheit

ge­ hörte auch deren Umformung zur mittelalterlichen

lassen sich in sehr unterschiedlichen architektonischen

939 Kap. 2.2.2. 940 Kap. 5.1.

941 Kap. 3.3. 942 Kap. 3.4.

203

7.2  ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR SPUREN DER VERGANGENHEIT

Kontexten beobachten. Retrospektive Formen wurden bei

nen Kirchen, denen ein Ortsbezug a priori immanent ist,

Baukampagnen verwendet, bei denen alte Gebäudeteile

weisen ein stilistisch heterogenes Erscheinungsbild auf.

weitergebaut wurden, aber auch bei kompletten Neubau-

Die räumliche Kontinuität korreliert folglich mit einer In-

ten. Auch konnte die Dialektik von (vorgeblich) Alt und

tegration alter Gebäudeteile.

Neu unterschiedlich ausgeprägt sein. Während in einigen

Architektonische Metamorphosen vollzogen sich nach

Fällen der formale Kontrast recht deutlich ausfiel, so dass

zwei Grundmustern, die darüber hinaus auch vielen Neu-

die Schichten eine klare Kontur gewannen (Basel, Müns-

bauprojekten, die alte Kirchen ersetzen sollten, zugrunde

ter; St. Denis), baute man in anderen Fällen so weitrei-

lagen. Beim Matroschka-Prinzip wurden die alten Gebäu-

chend retrospektiv, dass offenbar die neuen Teile nicht als

deteile wie bei der namensgebenden Puppe von einem

neu herausstechen sollten, sondern die Einheit mit dem

größeren Bauteil umhüllt (Freiburg, Münster; St. Denis).

Bestehenden im Vordergrund stand (Halberstadt, Dom;

Beim fluchtgetreuen Bauen wurden hingegen die neuen

Rom, S. Lorenzo fuori le mura). Bemerkenswerterweise

Bauteile in den alten Fluchten errichtet. In diesen Fällen

wurde die Künstlichkeit der Konstrukte architektonischer

konnte die Kirche quantitativ nur in die Höhe wachsen,

Vergangenheit in manchen Bauwerken im Detail erkenn-

während die Dimensionen und Proportionen im Grund-

bar gemacht (Basel, Dom; Halberstadt, Dom). Anhand

riss erhalten blieben (Essen, Dom; Münster, Dom). Essen-

bewusst gesetzter Interferenzen in Form von dezidiert

tiell ist hierbei die Feststellung, dass die neuen Bauteile

zeitgenössischen Details kann der geübte Betrachter auf

häufig nicht, wie in der Literatur oft angenommen, auf

den zweiten Blick nachvollziehen, dass die Bauteile jünger

alten Fundamenten errichtet wurden, sondern dass in den

sind, als sie wirken.

meisten Fällen neu gegründet wurde. Folglich musste den alten Fluchten abseits ökonomischer Überlegungen ein

Räumliche Spuren

Wert beigemessen worden sein.

Die Analyse exemplarischer Bauwerke ergab, dass die Tra-

Im Unterschied zu den vorgenannten Kategorien, wel-

dierung und Bewahrung räumlicher Zusammenhänge in

che die Erinnerung an die Geschichte der Kirche und die

der mittelalterlichen Baukultur einen breiten Raum ein-

Tradition des Ortes allesamt über das Zeigen und Sehen

nahm. Neubauten ohne räumlichen Bezug zum Vorgän-

alter oder vorgeblich alter Materie aktivieren, lassen sich

gerbau bilden die Ausnahme. Die überwiegende Zahl von

hingegen die räumlichen Spuren der Vergangenheit in der

Neubauten weist demgegenüber teils frappante räumliche

Regel nicht visuell erkennen. Das heißt, dass der Herstel-

Bezüge zur Vorgängerkirche auf. Selbst bei Bauwerken,

lung von räumlichen Bezügen zur Vergangenheit nicht

die aufgrund ihrer dezidiert fortschrittlichen Formen und

das Interesse zugrunde lag, die Tradition des Ortes sicht-

Bautechnik bekannt geworden sind, ließen sich weitge-

bar zu machen, wie es etwa bei künstlichen Spuren der

hende, teils konstitutive Zusammenhänge mit dem Ort

Vergangenheit offensichtlich ist, sondern auch andere Be-

nachweisen (Marburg, Elisabethkirche; Trier, Liebfrauen-

weggründe ursächlich sein konnten. Die Fundatio eccles-

kirche).

siae Hildensemensis berichtet etwa, dass Ort und Grundriss

Darüber hinaus entwickelten sich zahlreiche Kirchen

der Bischofskirche von Gott selbst bestimmt wurden und

im Mittelalter im Rahmen einer langandauernden, quasi

zeigt damit eine religiöse Dimension der räumlichen Ver-

fortwährenden Metamorphose, was in der Literatur bisher

hältnisse eines Kirchenbaus auf, die für die folgende archi-

nicht angemessen berücksichtigt wurde. Diese gewachse-

tektonische Entwicklung relevant gewesen ist.

7.2 Erklärungsansätze für Spuren der Vergangenheit Erklärungsansätze in der älteren Literatur

men worden. Wenn Spuren der Vergangenheit überhaupt

In der älteren Literatur ist das Phänomen nicht als Ganzes

Beachtung fanden, dann geschah dies eher zufällig und ne-

der Bischofskirche von Gott selbst bestimmt wurden und

bensächlich im Rahmen anderweitiger Un­tersuchungen.

zeigt damit eine religiöse Dimension der räumlichen Ver-

Auffällig ist, dass Spuren der Vergangenheit oftmals nega-

hältnisse eines Kirchenbaus auf, die für die folgende archi-

tiv beurteilt oder zumindest nicht als integrale Bestandteile

tektonische Entwicklung relevant gewesen ist. wahrgenom-

des architektonischen Konzepts ernst genommen wurden.

204

7 RESÜMEE

Für die Integration alter Bausubstanz wurden oft wirt-

präjudiziertes Werturteil, das einer distanziert sachlichen

schaftliche Gründe angeführt, ebenso für räumliche Be-

Betrachtung entbehrt.948 Demgegenüber ließen sich mit-

züge älterer Bauzustände, die man häufig mit der Nutzung

telalterliche Baukampagnen aufzeigen, bei denen gezielt

alter Fundamente erklärte.943 Letzteres kann jedoch in vie-

alte Formen imitiert wurden, um an ältere Bauteile anzu-

len Fällen definitiv ausgeschlossen werden, weil die alten

schließen, wie im Halberstädter Dom,949 oder sogar ein

Fundamente aus statischen Gründen nicht mehr nutzbar

Nebeneinander von alten und neuen Formen künstlich

waren. Deshalb wurde, wie die Auswertung von Grabungs-

konstruiert wurde, wie im Basler Münster.950

berichten gezeigt hat, in der Regel selbst dann neu fundamentiert, wenn man in den alten Fluchten baute.

Im Zuge struktureller Metamorphosen ergab sich in

Bei der

manchen mittelalterlichen Kirchen ein Nebeneinander

Integration alter Bausubstanz lassen sich wirtschaftliche In-

von neuen und alten Teilen, das teilweise mittels vertikaler

teressen nicht ausschließen, doch lässt sich in einigen Fäl-

und horizontaler Schichtung regelrecht inszeniert wurde.

len belegen, dass die Integration primär aus einer anderen

In der älteren Literatur beurteilte man diese dialektische

Intention erfolgte.

Exemplarisch sei auf den Quadratbau

Gestaltung überwiegend negativ.951 So wundert es nicht,

des Trierer Doms hingewiesen, der als ehemaliger Palast

dass dementsprechende Details im Zuge falsch verstan-

der heiligen Helena von konstitutiver Bedeutung für die

dener Denkmalpflege in der Neuzeit mancherorts zerstört

Bischofskirche gewesen ist. Die schriftliche Überlieferung

wurden, wie im Bremer Dom,952 um sie durch vermeintlich

944

945

lässt keinen Zweifel daran, dass die Bausubstanz des Qua-

stilkonforme zu ersetzen. Das instruktive Beispiel des Bas-

dratbaus als architektonisches Zeugnis für die Wahrheit

ler Münsters beweist indes, dass dialektische Schichtungen

der Helena-Legende verstanden wurde. Darüber hinaus

von Alt und Neu sehr wohl gewünscht sein konnten, denn

brachte die Integration alter Bausubstanz nicht notwendi-

in Basel wurde die Schichtung künstlich herbeigeführt, das

gerweise einen wirtschaftlichen Vorteil mit sich. So lässt

heißt, neue und alte Formen gleichzeitig ausgeführt.953 Wis-

der immense technische Aufwand, der für die Einwölbung

senschaftsgeschichtlich sehr bedeutsam, und deshalb noch

der Kölner Gereonskirche wie auch den Langhausneubau

zu erwähnen, ist der Chorneubau der Abteikirche St. De-

der Kathedrale von Chartres aufgebracht werden musste,

nis, der stilgeschichtlich den Beginn der gotischen Archi-

erhebliche Zweifel am wirtschaftlichen Sinn der jeweiligen

tektur markieren soll, jedoch einen Krypta­umgang mit re-

Bewahrung alter Bau- bzw. Gebäudeteile aufkommen.946

trospektiven Formen aufweist, obwohl beide Gebäudeteile

Retrospektive Formen mittelalterlicher Architektur

innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums von wenigen Jahren

wurden häufig als Ausdruck einer stilgeschichtlichen

erstellt wurden. Diesen Widerspruch versuchte die ältere

Rückständigkeit interpretiert. Dieser Ansatz greift jedoch

Literatur mit unterschiedlichen, letztlich nicht überzeu-

nicht, wenn am selben Bauwerk fortschrittliche Formen

genden Erklärungsansätzen zu lösen, welche allesamt den

existieren, die nachweislich älter sind. Die Fenster im Vie-

Kryptaumgang in der altertümlichen Form als integralen

rungsturm der Trierer Liebfrauenkirche liefern hierfür ein

Teil des Umbaukonzepts negierten.954 Nicht erst in dieser

eindrückliches Beispiel. Der Versuch, die retrospektive

Arbeit konnte jedoch aufgezeigt werden, dass die Dialektik

Form im Kontext des dezidiert progressiven und hoch-

von Chor und Krypta aus einer bewussten Planung resul-

innovativen Gebäudes mit einer Rückständigkeit des Bau-

tiert,955 wohl aber die planerische Intention nochmals un-

meisters zu erklären,

terstrichen werden, indem die gestalterische Strategie als

947

entlarvt den Erklärungsansatz als

943 Kap. 5.2. 944 Ebd. 945 Kap. 2.2.2; 2.3.3; 2.4.4. 946 Kap. 2.2.1; 2.3.1. 947 »Die Fenster des oberen Geschosses kehren sogar zur romanischen, rundbogigen Form ohne Maßwerk zurück. Es ist ganz offensichtlich, daß hier ein Meister am Werke ist, der mit dem gotischen Bausystem noch nicht frei und selbstständig zu schaffen versteht, seinen klaren, logischen Gliederaufbau noch nicht völlig erfaßt hat. Wo er sich nicht direkt an sein Vorbild Reims anlehnt, zeitigt er noch Romanismen. Gerade für den Vierungsturm sah er in Reims kein Beispiel; darum baut er ihn ganz aus romanischem Empfinden heraus, wie er es ursprünglich gewöhnt war, …« (Hamann/WilhelmKästner 1924, S. 41). 948 Kap. 4.2.3. 949 Kap. 4.2.1.

950 Kap. 4.3.3. 951 »die schwerfällige Art der Konstruktion, zum Beispiel die Art, wie auf die romanischen Arkaden- und Gewölbekapitelle gotische Dienste aufgestockt werden, oder das plumpe, ungeformte Maßwerk der Seitenschiffsfenster zeugen von der mangelhaften Kenntnis, die dieser Meister von großer gotischer Baukunst hatte.« (Adam 1978, S. 39, bezogen auf das Freiburger Münster). – »Gelungen ist diese Lösung nicht« (Schäfke 1984, S. 201, bezogen auf St. Aposteln Köln). 952 Kap. 3.4. 953 Kap. 4.3.3. 954 Pevsner 1994, S. 71; von Simson 1968, S. 144f; Sedlmayr 1950, S. 236. 955 Albrecht 2003; Kimpel/Suckale 1985, S. 86; von Winterfeld 1984, S. 96–100. 956 Kap. 4.3.1.

205

7.2  ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR SPUREN DER VERGANGENHEIT

horizontale, artifizielle Schichtung erkannt und beschrie-

das Grab zu translozieren. So geschah es beispielsweise

ben wird.

beim Neubau der Marburger Elisabethkirche. Gleichwohl

956

gibt es auch Beispiele für innerkirchliche Translokatio-

Traditionen des Ortes

nen, zum Beispiel beim Chorneubau von St. Denis, wobei

Im Rahmen der Arbeit ließ sich querschnittartig aufzei-

der alte Grabort als Erinnerungsstätte erhalten bleiben

gen, dass viele Kirchen über eine identitäts- oder sogar

konnte. In jedem Fall prägte das räumliche Verhältnis

sinnstiftende Tradition des Ortes verfügen. Einige Kirchen

zum Grabort den Kirchenbau wesentlich.

wurden vom Ort konstituiert.957 Dies war immer dann der

Neben den religiösen Traditionen des Ortes ließen sich

Fall, wenn der Ort als originaler Schauplatz eines heiligen

andere ortsbezogene Traditionen auf hochrangige Gründer-

Ereignisses galt, zu dessen Erinnerung die Kirche errich-

persönlichkeiten zurückführen.960 In diesen Fällen wirkte die

tet wurde, wie es etwa für die Geburtskirche in Bethlehem

Tradition des Ortes zwar nicht s­ innstiftend, wohl aber iden-

zutrifft. Derartige Kirchen können nicht an einen anderen

titätsstiftend auf die Kirche und die sie tragenden Institutio-

Ort versetzt werden, ohne ihren ursprünglichen Sinn zu

nen. Im Magdeburger Dom beispielsweise wurde die Erinne-

verlieren. Über die generelle Ortsgebundenheit hinaus wa-

rung an die Gründung von Bistum und Kirche durch Otto den

ren in Kirchen, die an heiligen Orten gegründet wurden,

Großen gepflegt. Der tradi­tionsgebende Ort ist in Kirchen,

bestimmte, mit dem konstitutiven Ereignis in Zusammen-

die auf hochrangige Gründer zurückgehen, nicht exakt zu de-

hang stehende Stellen im Innenraum fixiert und wirkten

finieren, sondern prinzipiell mit dem Kirchenraum als Gan-

damit formbestimmend auf den Grundriss. So musste bei

zes gleichzusetzen. Gleichwohl konnten sich in der Folgezeit,

der Grabeskirche in Jerusalem über die Jahrhunderte hin-

und dies gilt generell für den Sakralbau, innerkirchliche Orte

weg stets der räumliche Bezug der Architektur zu den bei-

und Wege herausbilden, die als sekundäre Traditionen des

den primären Erinnerungsorten, dem Grab Jesu und dem

Ortes bei späteren Baumaßnahmen Berücksichtigung fin-

Hügel Golgatha, bewahrt bleiben.

den konnten.961

Manche Kirchen gingen aus einem heiligen Haus her-

Ein wichtiger Aspekt ist schließlich, dass verschie-

vor, das Teil eines heiligen Ereignisses war oder aus einem

dene Formen von Traditionen des Ortes sich im selben

heiligen Ereignis resultierte.958 In diesen Fällen bilden Ort

Gebäude überlagern und wechselseitig steigern konnten.

und Materie einen Sinnzusammenhang: Beide sind von

Ferner ist zu beachten, dass die Traditionen des Ortes

konstitutiver Bedeutung für die Kirche. So erklärt sich,

wandelbar waren und im Laufe der Zeit angereichert und

warum der Trierer Dom, im Unterschied zur Kölner Bi-

modifiziert werden konnten.

schofskirche, nie von Grund auf neu gebaut wurde: Mit einem Neubau hätte man den Palast der Helena zerstört,

Erinnerungen, geschrieben in Stein

aus dem der Trierer Dom der Legende nach hervorgegan-

Die Häufung von Spuren der Vergangenheit, zumal kate-

gen war. Stattdessen ging man bei mittelalterlichen Bau-

gorial verschiedenen, in ein und demselben Bauwerk legt

kampagnen am Trierer Dom stets vom frühchristlichen

nahe, dass Zusammenhänge bestehen. In manchen Fäl-

Bestand aus, wenn auch auf ganz unterschiedliche Art

len wurden die Spuren regelrecht inszeniert, woraus sich

und Weise. Die Translokation eines heiligen Hauses, die

schließen lässt, dass sie einem Betrachter absichtsvoll vor

für die Casa Santa überliefert wird, stellt eine bemerkens-

Augen geführt werden sollten. Die Konstruktion von Spu-

werte Ausnahme dar, welche durch die Zerstörung der

ren der Vergangenheit, also deren künstliche Erzeugung

bergenden Verkündigungskirche in Nazareth bedingt war

im Nachhinein, beweist schließlich definitiv, dass im

und zugleich einen eindrucksvollen Beweis für die Vereh-

mittelalterlichen Sakralbau ein Interesse daran bestand,

rung eines heiligen Hauses liefert.

architektonisch auf ältere Zeitschichten der Kirche zu re-

Kirchen, die über den Gräbern von Heiligen erbaut worden sind,

kurrieren. Ältere Erklärungsansätze, wie wirtschaftliche

weisen einen sinnstiftenden Ortsbezug

Motive oder stilgeschichtliche Rückständigkeit, konnten

auf, der so stark sein konnte, dass man, um Grab und

hingegen oft ausgeschlossen werden. Spuren der Vergan-

Kirche in ein neues räumliches Verhältnis zu setzen, in

genheit stellen folglich einen festen und vor allem bewusst

manchen Fällen die Kirche neu ausrichtete, statt einfach

integrierten Bestandteil mittelalterlicher Baukultur dar.

957 Kap. 6.3. 958 Kap. 6.4. 959 Kap. 6.2.

960 Kap. 6.5. 961 Kap. 5.3.1.

959

206

7 RESÜMEE

Auf die Frage nach den Gründen für die Integration, Inszenierung oder gar künstliche Erzeugung von Spuren

Kirche musste in diesem Kontext wie eine Beglaubigung der kaiserlichen Tradition des Ortes erscheinen.

der Vergangenheit bieten die Traditionen des Ortes eine schlüssige Antwort. Zahlreiche Kirchen verfügten über

Relikte der Vergangenheit

eine spezifische Tradition des Ortes, welche von identi-

Andere Spuren der Vergangenheit konnten hingegen von

tätsstiftender oder gar konstitutiver Bedeutung für die Kir-

einem Besucher ohne Vorwissen nicht gelesen werden. Die

che und die sie tragenden Institutionen war. Mittels der

Bewahrung alter Fluchten etwa ließ sich nur nachvollzie-

Spuren der Vergangenheit konnte die Tradition des Ortes

hen, wenn der vorherige Bauzustand bekannt war. In die-

im Medium der Architektur nicht nur sichtbar gemacht,

sem Zusammenhang muss jedoch die religiöse Dimension

sondern darüber hinaus authentifiziert werden. Es han-

der Tradition des Ortes mitbedacht werden. Die Fundatio

delt sich um Erinnerungen, geschrieben in Stein.

des Hildesheimer Doms schildert, dass der Grundriss der

Stephan Albrecht und der Verfasser haben dies für ein-

neuen Bischofskirche von Gott persönlich vorgezeichnet

Weitere

wurde, und auch die Abteikirche von Glastonbury wurde

Studien sind wünschenswert, um die Bezüge der Architek-

der Legende zufolge nach einem göttlichen Plan errich-

zelne Kirchenbauten stichhaltig nachgewiesen.

962

tur zur Tradition des Ortes für andere Bauwerke umfassend

tet.965 Auch für Kirchen, bei denen eine religiöse Aufla-

und differenziert herauszuarbeiten und in den jeweiligen

dung des Raumes nicht explizit überliefert wurde, darf an-

historischen Kontext zu stellen. Die Ergebnisse dieser Ar-

genommen werden, dass sie im Mittelalter nicht als pure

beit zeigen an, dass es eine Vielzahl von Bauwerken gibt,

Funktionsbauten angesehen wurden, sondern ihnen ein

bei denen die Tradition des Ortes (teils erheb­lichen) Ein-

spiritueller Eigenwert zugesprochen wurde.

fluss auf die Architektur hatte. Mit der Kategorisierung des

Über die räumliche Disposition hinaus betrifft das auch

Phänomens liegen nunmehr die Instrumente vor, die einen

die Bausubstanz der Kirche, die »geweihten Steine«,966 die Abt

raschen Zugriff auf die Architektur unter Fragestellungen

Suger »gleichwie Reliquien«967 zu ehren gebot. Die spirituelle

der Erinnerungskultur ermög­lichen.

Aufladung des Materials blieb zwangsläufig auch erhalten,

Wenn Erinnerungen in Stein geschrieben werden, stellt

wenn das Material bei einem Umbau der Kirche zweitverwen-

sich unweigerlich die Frage nach dem Leser und der Lesbar-

det und damit häufig auch den Blicken der Menschen entzo-

keit, sprich dem Adressaten und dessen Möglichkeiten, die

gen wurde.968 Gleichwohl blieben derartige Vorgänge nach

transportierten Inhalte wahrzunehmen und zu verstehen.963

mittelalterlicher Vorstellung nicht ungesehen: bei mittelalter-

Es ist offensichtlich, dass aufwändige und demonstrative In-

lichen Kirchenbauten sind Gott und die Heiligen als primäre

szenierungen der Vergangenheit wie im Basler Münster oder

Adressaten und ständige Beobachter stets mitzudenken.

im Magdeburger Dom auf einen Betrachter ausgelegt waren,

Spuren der Vergangenheit, die auf die Tradition des

der die Geschichte der Kirche buchstäblich sehen sollte. Für

Ortes rekurrieren, müssen folglich unterschieden werden:

den Trierer Dom lässt sich das auch in den Schriftquellen

Manche Spuren sind Erinnerungen, geschrieben in Stein,

greifen.964 Der Betrachter konnte die alte oder alt erschei-

manche Spuren sind Relikte der Vergangenheit, an deren

nende Architektur zu Objekten im Kirchenraum in Bezie-

Sinngehalt selbst erinnert werden musste, zum Beispiel mit-

hung setzen und auf diese Weise nähere Informationen

tels Schrift. In einigen Fällen ist es gut vorstellbar, dass das

über die Tradition des Ortes erlangen. So wiesen im Basler

Wissen über die Relikte der Vergangenheit im kommunika-

Münster diverse Skulp­turen und Bilder den heiligen Kaiser

tiven Gedächtnis verankert und generationenübergreifend

Heinrich II. unmissverständlich als eigentlichen Fundator

bekannt war. Beim Marienaltar des Aachener Doms muss

der Bischofskirche aus und im Binnenchor des Magdeburger

etwa davon ausgegangen werden, dass auch nach dem An-

Doms wurde der originale Sarkophag des Bistumsgründers

bau der gotischen Chorhalle die deutschen Könige noch

Kaiser Ottos I. präsentiert. Die Hervorhebung des Alters der

dort, und nicht am neuen Hochaltar, gekrönt wurden.969

962 Horn 2015a; Albrecht 2003. 963 Diese Fragestellung ist vom Verfasser bereits in einem anderen Rahmen beleuchtet worden (Horn 2015a, S. 191–193) und soll an dieser Stelle nur im Hinblick auf die neuen Ergebnisse ergänzt werden. 964 Almann, Vita Helenae, 9 (ed. Draeger, S. 22). »Dies beweist bis zum heutigen Tage ihr [d. i. Kaiserin Helena] Palast, der zum größten Teil der Kirche umgebaut wurde« (dt. Übersetzung Verf.). 965 »und gleichsam zum Graben des Fundamentes einer Kirche sind wie Frühlingsreif, die Umrisse einer Kirche in kunstvollem Rechteck

erschienen, und zwar von der ersten Marienkapelle nach Westen gerichtet« (Fundatio ecc. Hildensemensis (ed. Hofmeister, S. 943f). Dt. Übersetzung nach H. J. Schuffels (Kruse 2000, S. 291f)). – Zum Hildesheimer Dom siehe Kap. X (5.1.4); zur Abteikirche Glastonbury siehe Kap. 6.4. 966 Suger, consecratione 47 (ed. Binding/Speer, S. 222). 967 Ebd. 968 Zur religiösen Dimension des Baumaterials eingehend: Müller 2011. 969 Kap. 5.3.1.

207

7.3 SCHLUSSRESÜMEE

7.3 Schlussresümee Die mittelalterliche Sakralarchitektur weist unzählige

mittelalterlicher Sakralbaukultur. Das Phänomen konglo-

Spuren der Vergangenheit auf. Manche Spuren wurden

merathafter, gewachsener Bauwerke etwa gilt es als Be-

planvoll in den Kirchenbau integriert. Es sind Erinnerun-

standteil der mittelalterlichen Baukultur anzuerkennen

gen, geschrieben in Stein. Viele der Spuren wurden expli-

und folglich im Rahmen übergreifender Darstellungen

zit auf die visuelle Wahrnehmung hin ausgelegt. Mittels

adäquat zu berücksichtigen. Neben Neubauten vollzog

der Integration alter Materie, ihrer Inszenierung oder so-

sich die Entwicklung mittelalterlicher Sakralbauten oft im

gar ihrer Imitation sollte die Tradition des Ortes sichtbar

Rahmen einer Metamorphose, die teils memorial bedingt

vergegenwärtigt werden. Dieses Präsentieren alter oder

war. Das Verhältnis der alten und neuen Teile zueinander

vorgeblich alter Bausubstanz war Teil einer das Mittel­alter

ist für das Verständnis des Gebäudes unter anderem in

kennzeichnenden materiellen Kultur des Zeigens und

gestalterischer, technischer und ikonologischer Hinsicht

­Sehens, die sich an Objekten und Praktiken nicht nur im

von Relevanz. Hierbei muss stärker als bisher auf die plan-

sakralen Bereich nachvollziehen lässt.

volle Konstruktion und Imitation von Spuren der Vergan-

Allerdings lassen sich nicht alle Relikte der Vergangen­

genheit geachtet werden. Es erscheint daher ratsam, nicht

heit mit dem Auge erkennen. Vor allem räumliche Bezüge

einseitig vorzugehen, sondern Methoden zu bündeln und

zur Tradition des Ortes setzen oft ein Wissen über vorhe-

beispielsweise die architekturgeschichtliche Formenana-

rige Bauzustände voraus, das anderweitig kommuniziert

lyse und bauforscherische Ansätze miteinander zu verbin-

werden musste. Sie erklären sich aus einem spirituellen

den.

Eigenwert der Kirchen, der im Kontext religiöser Traditio­

So unterschiedlich wie die jeweiligen baulichen Vo-

nen des Ortes teils erheblich an Bedeutung gewann und

raussetzungen waren, fielen auch die Konzepte aus, mit

auch die materiellen Erinnerungsträger berührte. Religi-

denen die Erinnerungen in Stein konserviert wurden. In-

öse Bedeutung und Erinnerungsfunktion haben sich in

folgedessen sind es individuelle Kennzeichen und Eigen-

unterschiedlichem Maß durchdrungen und wechselseitig

arten des Kirchenbaus, welche die spezifische Tradition

gesteigert.

des Ortes zum Ausdruck bringen. Die in dieser Untersu-

Als identitätsstiftende oder sogar konstitutive Mo-

chung gebildeten Kategorien von Spuren der Vergangen-

mente des Kirchenbaus prägten die Traditionen des Ortes

heit helfen, die architektonischen Mittel zu erkennen und

das Selbstverständnis der kirchentragenden Institutionen

zueinander in Bezug zu setzen. Sie machen die Schrift, mit

wesentlich mit. Über die sakrale Dimension hinaus diente

der die Erinnerungen in Stein geschrieben wurden, leich-

die Visualisierung der Vergangenheit in dieser Hinsicht

ter lesbar.

auch der Absicherung von Ansprüchen und Privilegien, die aus der Tradition des Ortes abgeleitet wurden. Aus den skizzierten Zusammenhängen von Architektur und Erinnerungskultur, von Kirchenbau und Tradition des Ortes, ergeben sich Konsequenzen für die Betrachtung

970 »Every age has left its testimony written in stone: it is this history book whose pages I have ventured to leaf through with you.« (Coüasnon 1974, S. 62. (Dt. Übersetzung Verf.)).

»Jedes Zeitalter hat sein Zeugnis hinterlassen, geschrieben in Stein: Es ist dieses Geschichtsbuch, dessen Seiten ich mir erlaubt habe, mit Ihnen durchzublättern.«970

208

QUELLENVERZEICHNIS

Adam, Gesta Hammaburgensis – Magistri Adam Bremensis: Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, hg. von Bernhard Schmeidler, Hannover 31917. Almann, Vita Helenae – Almann von Hautvillers: Lebensbeschreibung oder eher Predigt von der heiligen Helena, hg. von Paul Dräger, Trier 2007. [deutsch-lateinische Parallelausgabe] Altfrid, Vita Liudgeri – Vita Sancti Liudgeri episcopi Mimigardefordensis, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 2, hg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1829, S. 403–425. – Das Leben des heiligen Liudger von Altfrid, in: Liudger in seiner Zeit, hg. von Basilius Senger, Münster 31984, S. 21–45. [deutsche Übersetzung] Apparitione Michaelis – De Apparitione Sancti Michaelis, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum, hg. von der Societas Aperiendis Fontibus Rerum Germa­ nicarum Medii Aevi, Hannover 1878, S. 541–543. Chronica ep. Merseburgensis – Chronica episcoporum ecclesiae Merse­burgensi, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, Bd. 10, hg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1852, S. 157–212. Eucherius, Passio Acaunensium – Auctore Eucherio Episcopo Lugdunensi: Passio Acaunensium Martyrum, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum, Bd. 3, hg. von Bruno Krusch, Hannover 1896, S. 20–41. Eusebios, Vita Constantini – Eusebios: Über das Leben des glück­ seligen Kaisers Konstantin (De vita Constantini), hg. von Paul Dräger, Oberhaid 2007. (Bibliotheca Classicorum, 1) [deutsch-griechische Parallelausgabe] Fundatio ecc. Hildensemensis – Fundatio ecclesiae Hildensemensis, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores Bd. 30, 2, hg. von Adolf Hofmeister, Leipzig 1934, S. 941–946. Gervasius, Tractatus – Gervasius: Tractatus de combustione et reparatione Cantuariensis ecclesiae, in: The Historical Works of Gervase of Canterbury, Bd. 1, hg. von William Stubbs, London 1879. Gesta Dagoberti – Gesta Dagoberti I. regis Francorum, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum, Bd. 2, hg. von Bruno Krusch, Hannover 1888, S. 396–425. Gregor von Tours, Liber in Gloria Martyrum – Gregorii Episcopi Turonensis liber in gloria martyrium, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum, Bd. 1,2, hg. von Bruno Krusch, Hannover 1885 (Repr. 1969), S. 34–111. Helinand, Passio Gereonis – Helinandus Frigidi Montis Monachis: Sanc­torum Gereonis, Victoris, Cassii et Florentii Thebaeorum Martyrum passio, in: Partrologiae Cursus Completus, Series latinas, Bd. 212, hg. von Jacques-Paul Migne, Paris 1853, S. 759–772.

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LITERATURVERZEICHNIS

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Zeitungen und Zeitschriften Berliner Zeitung – »Der Kaisersaal geht in die Luft«, 2.3.1996 Der Spiegel – »Fünf Meter pro Minute«, 3/1996

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BILDNACHWEIS

1.01 Klein 1998, S. 35 2.01, 2.09, 2.12, 2.13, 2.40, 2.57, 2.58, 2.59, 2.61, 2.71, 3.08, 4.01, 4.02, 4.14, 4.20, 4.31 Foto: Hauke Horn, 2012 2.02 Lange 2001, S. 25 2.03 Kaiser 1996, S. 33 2.04 Ronig 1982, S. 68 2.05 Ronig 1982, S. 27 2.06 Pringle 2007, S. 8 2.07 Krüger 2000, S. 83 2.08 Foto: Hauke Horn, 2007 2.10 Brandenburg 2013, S. 262 2.11 Brandenburg 2004, S. 318 2.14, 2.19, 2.27, 4.32, 5.19 Foto: Hauke Horn, 2015 2.15 Imhof 2009, S. 18 2.16 Imhof 2009, S. 7 2.17 http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Sankt-Sebastian Kirche_Magdeburguselang=de#mediaviewer/File:Magdeburg_ Sebastianskirche_02.jpg [26.1.2015] (Foto: Hoger, 2014) 2.18 Reichel 2012, S. 142 2.20, 2.23, 2.43, 2.46, 3.01, 3.02 Foto: Hauke Horn, 2016 2.21 Thümmler 1970, 186 2.22 Jacobsen/Schaefer/Sennhauser 1991, S. 283 2.24 Imhof/Kunz 2008, S. 387 2.25 http://en.wikipedia.org/wiki/Earls_Barton#mediaviewer/ File:EarlsBartonChurch.JPG [26.1.2015] (Foto: R. Neil Marshman, 2005) 2.26 kleine Bornhorst 2002, Taf. XIII 2.28 Kurmann-Schwarz/Kurmann 2001, S. 41 2.29 Dehio/von Bezold 1894, Taf. 363, 1 2.30 Mainzer 2002, S. 13 2.31 Mittmann 2007, S. 5 2.32 Haug u. a. 1957, S. 3 2.33, 2.34, 4.18, 4.19 Foto: Hauke Horn, 2011 2.35 Schütz 2002, S. 159 2.36 Tatton-Brown 1989, S. 76 2.37 Bosse/Lamotte 1989, S. 20 2.38 Bosse/Lamotte 1989, S. 41 2.39 Bosse/Lamotte 1989, S. 57 2.41 Skriver 2001, S. 18 2.42 Kier/Krings 1984, S. 164 2.44 Pringle 2007, S. 46 2.45 Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006, S. 83 2.47 Erlande-Brandenburg 1992, S. 25 2.48 Charles/Carl 2008, S. 129 2.49 Bosse/Lamotte 1989, S. 3 2.50 Puhle 2009, Deckelinnenseite 2.51 Foto: Klaus Weber, 1992 2.52 Vio 2001, S. 99 2.53 Untermann 2001, S. 48 2.54 Albrecht 2003, S. 141 2.55 von Winterfeld 1968, S. 316 2.56 Woodman 1981, S. 74 2.60, 4.11, 4.12, 4.13, 5.10 Foto: Hauke Horn, 2009

2.62 Hoffmann, J. 2012a, S. 129 2.63, 4.15, 4.16, 4.17, 4.24, 4.25, 4.26, 4.28, 4.39, 4.41 Foto: Hauke Horn, 2010 2.64 Albrecht 2002, S. 123 2.65 Albrecht 2002, S. 124 2.66 Poeschke/Syndikus/Weigel 1993, S. 55 2.67 Puhle 2001, S. 370 2.68 Foto: Klaus Kampelmann, 2015 2.69 Stracke 1992, 128 2.70 Bruzelius 2004, 68. 3.03 Beuckers/Cramer/Imhof 2002, S. 323. 3.04 Puhle/Hagedorn 1995, S. 12 3.05 Reichel 2012, S. 42 3.06 Welander 1991, S. 170 3.07 Ronig 1982, S. 43 3.09 Grote/Karrenbrock 2005, S. 40 3.10 Münsterbauverein 2011, S. 58 3.11 Münsterbauverein 2011, S. 141 3.12 Flum 2001, S. 21 3.13 Bosse/Lamotte 1989, S. 64 4.03 Crosby 1987, S. 145 4.04 Crosby 1987, S. 427 4.05 Schütz/Müller 1990, S. 75 4.06 Schwoch 2010, S. 45 4.07 Schwoch 2010, S. 37 4.08 Schwoch 2010, S. 221 4.09 Haas 1973, S. 67 4.10 Mondini 2010, S. 380 4.21 Brown 2001, S. 74 4.22 Kimpel/Suckale 1985, S. 64 4.23 von Winterfeld 2011, S. 61 4.27 Schütz/Müller 1990, S. 63 4.29 Brandl/Forster 2011, S. 455 4.30 Lobbedey/Scholz/Vestring-Buchholz 1993, S. 152 4.33 Kimpel/Suckale 1985, S. 85 4.34 Foto: Klaus Weber, 1992 4.35 Crosby 1953, Taf. 34 4.36 Quast/Jerratsch 2004, S. 72 4.37 Pietsch/Quast 2005, S. 59 4.38 Poeschke 1996a, S. 181 4.40 Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006, S. 62 4.42 Schwinn Schürmann/Meier/Schmidt 2006, S. 44 5.01 Freiburger Münster 2012, S. 63/Markierung: Hauke Horn, 2015 5.02 Kunst 1970, S. 129 5.03 Freiburger Münster 2012, S. 153 5.04 Flum 2001, S. 39 5.05 Weber 2004, S. 233 5.06 Poeschke/Syndikus/Weigel 1993, S. 13 5.07 Zimmermann 1956, Taf. IV 5.08 Leopold 1997, S. 31 5.09 Borger/Oediger 1969, Taf. 15 5.11 Kuhn, R. 2009, S. 44

224

5.12 Kubach/Verbeek 1976, S. 1265 5.13 Kemperdick/Sander 2008, S. 224 5.14 Kemperdick/Sander 2008, S. 225 5.15 Schubert 1984, S. 14 5.16 von Winterfeld 1979, Fig. 3 5.17 Mainzer 2002, S. 16 5.18 Hinkel 1990, S. 411 6.01 Arbeiter 1988, S. 67 6.02 Arbeiter 1988, S. 67 6.03 Krautheimer/Frankl/Corbett 1959, S. 117 6.04 Brandenburg 2013, S. 346 6.05 Lehner/Bader 1932, Taf. I 6.06 Lehner/Bader 1932, Taf. XI 6.07 Arbeiter 2011, S. 28 6.08 Krüger 2000, S. 81 6.09 Hauke Horn, 2015, auf Basis von Bagatti 1952 6.10 Pringle 2007, S. 273

BILDNACHWEIS

Taf. 1.01, Taf. 5.11 Hauke Horn, 2012 Taf. 2.01 Heckner 2014, S. 355 Taf. 2.02 Imhof/Winterer 2005, S. 129 Taf. 2.03 Hauke Horn, 2015 Taf. 2.04 Wilhelm-Kästner 1929/Markierungen: Hauke Horn, 2015 Taf. 2.05 Crosby 1987, S. 264/Markierungen: Hauke Horn, 2015 Taf. 2.06 Druffner 1994, 46/Markierung: Hauke Horn, 2015 Taf. 5.01 Hauke Horn, 2015, auf Basis von Ristow 2002 und Wolf 1986 Taf. 5.02 Hauke Horn, 2015, auf Basis von Otten 2003 Taf. 5.03 Wyss 1996, S. 118 Taf. 5.04 Münsterbauverein 2011, S. 44 Taf. 5.05 Erdmann 1970, S. 13/Markierungen: Hauke Horn, 2015 Taf. 5.06 Freiburger Münster 2012, S. 4 Taf. 5.07 von Winterfeld 2011, S. 44 Taf. 5.08 Hauke Horn, 2012, auf Basis von Irsch 1931 Taf. 5.09 Köstler 1995, 2/Markierung: Hauke Horn, 2015 Taf. 5.10 Köstler 1995, 3/Markierung: Hauke Horn, 2015 Taf. 6.01 Brandenburg 2011, S. 373/Markierung: Hauke Horn, 2015