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German Pages 366 Year 2021
Konrad Schellbach Erdbeben in der Geschichtsschreibung des Früh- und Hochmittelalters
Historical Catastrophe Studies/ Historische Katastrophenforschung
Edited by/Herausgegeben von Dominik Collet, Christopher Gerrard, Christian Rohr
Konrad Schellbach
Erdbeben in der Geschichtsschreibung des Früh- und Hochmittelalters Ursprung, Verständnis und Anwendung einer spezifisch mittelalterlichen Traditionsbildung
ISBN 978-3-11-061982-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062077-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061998-0 ISSN 2699-7223 Library of Congress Control Number: 2020943601 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Cloisters-Apokalypse, Metropolitan Museum of Art, New York, fol. 26v, CC0 1.0 Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für meine Eltern Constanze und Bernhard Schellbach
Vorwort Als ich unmittelbar zum Ende meines Grundstudiums im April 2008 die Gelegenheit bekam, als Studentische Hilfskraft im Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ) zu arbeiten, war mir das Fachgebiet der Historischen Seismologie völlig unbekannt. Viel gab es plötzlich für mich zu entdecken und ich hätte mir damals kaum vorstellen können, dass mich die Erforschung mittelalterlicher Erdbeben die nächsten zwölf Jahre beschäftigen würde. Es war für mich menschlich und wissenschaftlich eine sehr bereichernde und fruchtbringende Lebensphase, auf die ich überaus dankbar zurückschaue. Der vorliegende Text entspricht bis auf den umgestalteten Fußnotenapparat weitestgehend meiner im Wintersemester 2017/2018 an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam mit dem Titel „Terrae motus – Erdbeben in der Geschichtsschreibung des Früh- und Hochmittelalters. Ursprung, Verständnis und Anwendung einer spezifisch mittelalterlichen Traditionsbildung“ eingereichten und verteidigten Dissertation. Die Bearbeitung eines Promotionsthemas kann natürlich nie das Werk einer einzelnen Person sein. Viele Gespräche mit Kollegen, Freunden und in der Familie haben durch die erhaltenen Anregungen, die geäußerte Kritik und den gegebenen Rat sicherlich ganz entscheidend das Erscheinungsbild dieser Arbeit geprägt. Unter vielen möchte ich einigen Personen explizit danken. Hierbei sind drei Personen besonders herauszustellen, ohne die diese Arbeit nie verfasst worden wäre. Einen großen Dank möchte ich meiner akademischen Lehrerin Prof. Dr. Marie-Luise Heckmann aussprechen. Sie hat die Arbeit nicht nur als Erstgutachterin betreut, sondern hat über ein Jahrzehnt meinen Weg mit Vertrauen, Herzlichkeit sowie persönlichem und wissenschaftlichem Rat begleitet. In gleicher Weise möchte ich Prof. Dr. Gottfried Grünthal danken. Als Leiter der Sektion „Erdbebengefährdung und Spannungsfeld“ nahm er sich meiner, einem Studenten der Geschichte, mit väterlicher Fürsorge an und gab mir die Gelegenheit am GFZ Potsdam akademische Freiräume zu leben, und durch die Gewährung materieller Sicherheit das Glück, mich persönlich und fachlich zu entfalten. Beide lehrten mich Geduld, Genauigkeit und die Bereitschaft, über die eigene Fachdisziplin hinauszuschauen. Der großzügigen finanziellen und ideellen Förderung durch Prof. Dr. Fabrice Cotton, Leiter der Sektion „Erdbebengefährdung und dynamische Risiken“, habe ich es schließlich zu verdanken, dass meine Arbeit zu Ende geführt werden konnte. Diesbezüglich sei ebenfalls die wichtige Unterstützung erwähnt, die mir Prof. Dr. Michael Weber, als damaliger Departmentsdirektor am GFZ Potsdam, gewährte. Ebenfalls möchte ich Prof. Dr. Piotr Oliński (Toruń) dafür danken, mich als Zweitgutachter im Dissertationsverfahren begleitet zu haben. Prof. Dr. Heinz-Dieter Heimann gilt mein Dank für seine stets freundschaftliche, interessierte und überaus hilfsbereite Begleitung meines Studiums und der Dissertationsphase. Prof. Dr. Gerrit Jasper Schenk sei für die mehrfache Gelegenheit gedankt, mein Thema in seinem Forschungskolhttps://doi.org/10.1515/9783110620771-202
VIII
Vorwort
loquium vorstellen zu dürfen. Den Herausgebern der Reihe „Historical Catastrophe Studies/Historische Katastrophenforschung“, Prof. Dr. Dominik Collet, Prof. Dr. Christopher Gerrard und Prof. Dr. Christian Rohr bin ich für ihre Bereitschaft dankbar verbunden meine Dissertation als ersten Band in die Reihe aufgenommen und mit Geduld die auch für mich lange Zeit der Drucklegung abgewartet zu haben. In diesem Zusammenhang sei besonders Dr. Elisabeth Kempf und Dr. Julie Miess vom Verlag Walter de Gruyter für die kollegiale und verständnisvolle Zusammenarbeit gedankt. Dipl.-Inf. Steffi Lammers, Solveig Strutzke M.A., Dr. Dietrich Strohmeyer, PD Dr. Oliver Heidbach, Dipl.-Phys. Christian Bosse, Dr. Moritz Ziegler und besonders Dr. Karsten Reiter und Dr. Sebastian von Specht seien stellvertretend für die Kolleginnen und Kollegen „meiner“ alten Sektion am GFZ für die vielen Jahre der guten Zusammenarbeit gedankt, die mir den Kosmos der Geowissenschaften eröffnet haben. Am meisten möchte ich aber meiner Familie danken: zunächst meinen Großeltern, denen leider das Erleben der Fertigstellung des Manuskripts und die Disputation verwehrt blieb; sodann meinem Onkel Dipl.-Ing. Stefan Taube dafür, dass er nicht zögerte, die Korrektur des Gesamtmanuskripts vorzunehmen, und meiner Schwester Sophie Schellbach, B. Sc. für die zahlreichen Abwechslungen abseits mittelalterlicher Erdbeben. Am unmittelbarsten wurde jedoch Dr. Anne Schöpa Zeugin der Hoch- und Tiefphasen meines Promotionsverfahrens. In ihrem Beistand, ihrer Rücksicht und ihrem ausgeglichenem Wesen fand ich den für mich so wichtigen Rückhalt. Ohne ihre Hilfe wäre die Drucklegung der vorliegenden Arbeit, die in die Zeit der ersten zwei Lebensjahre unseres Sohnes Antonius und meines Archivreferendariats fiel, nicht zu einem glücklichen Ende gekommen. Zum Schluss gehört mein Dank meinen Eltern Constanze und Bernhard Schellbach. Sie sind mir an Ehrlichkeit, Standhaftigkeit, Idealismus, Anteilnahme und Wissensdurst ein immerwährendes Beispiel. Ihre ideelle Förderung und persönliche Teilhabe bestärkten mich stets in Studium und Beruf. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Potsdam, im Juni 2020 Konrad Schellbach
Inhaltsverzeichnis Vorwort I 1 2 3 4 5 6 II 1
1.1 1.2 1.2.1
1.2.2 2
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2
VII
Einleitung 1 Vorüberlegungen 1 Historische Seismologie und die Katalogisierung vergangenen Seismizitätsgeschehens 3 Beobachtungen und Desiderat 6 Fragestellung und methodische Lösungsansätze 11 Methodische Überlegungen zur zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Eingrenzung des Bearbeitungsfeldes 16 Aufbau der Arbeit 21 Bilder der Erschütterung – Erdbeben in der Geschichtsschreibung des Früh- und Hochmittelalters 25 Von der Beobachtung zur sprachlichen Variation – die sprachgeschichtlichen Ursprünge des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs 25 Ähnlichkeit und Eloquenz – Lateinische Erdbebenbeschreibungen in römisch-antiken Quellen 26 Eloquenz und Reduktion? – Erdbebenbeschreibungen als Ausdruck mittelalterlicher Schriftkultur 36 Das Veroneser Beben vom 3. Januar 1117 36 a) Die bisherigen Interessen der Forschung und der Ansatz zur Ordnung des Quellencorpus 36 b) Das Erdbeben von 1117 als Wendepunkt innerhalb mittelalterlicher Schriftkultur 39 Die Etablierung einer narrativen Konstanten – Über den Gebrauch der Wendung terrae motus factus est 49 Narrativ „die Erde zum Beben bringen“ – Der mittelalterliche Erdbebenbegriff terrae motus in der früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung des nördlichen Mitteleuropas 58 Die Verwendung typischer Verben als Muster zeitgenössischer Berichterstattung über Erdbeben 59 Concutere 59 Contingere 62 Accidere 64 Terrae motus als alleinstehender Begriff – eine typische Beschreibungsweise des Frühmittelalters? 66
X
2.3 2.3.1
2.3.2 2.4 III 1 1.1
1.1.1 1.1.2
1.1.3
1.1.4 1.1.5
1.2 2 2.1 2.2
Inhaltsverzeichnis
Den Blick zurück gerichtet – die historiographische Verarbeitung bekannter Erdbeben und deren Folgen 71 Das Beispiel des großen Schadenbebens vom 3. Januar 1117 bei Verona 73 a) Subvertere und subruere – Ein Beschreibungsmuster besonders heftiger Erdbeben? 74 b) Erschütterung zwischen narrativer Aufwertung und annalistischer Reduktion – Ein vergangenheitsgeschichtliches Fallbeispiel aus der sächsischen Geschichtsschreibung 79 c) Videre und die Betonung des sinnlichen Moments 80 Den Geschehenshergang im Fokus – terrae motus fuit 83 Momente einer Traditionsbildung – Ein erstes Zwischenfazit 87 Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums 91 Die formallogische Grundlegung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs terrae motus 94 Die Kategorisierung der sinnlichen Welt – Der mittelalterliche Kanon antiker Logik als Grundlage für die formallogische Erklärung des Begriffs terrae motus 94 Das Universalienproblem 95 Die Isagoge des Porphyrios als theoretische Grundlage für die urteilslogische Klärung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs 99 Die Augustinische Zeichenlehre als erkenntnistheoretisches Hilfsmittel für die zeitgenössische Interpretation des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs 105 Das mittelalterliche Seelenverständnis als urteilslogischer Akteur 112 Zwischen den Sphären – Terrae motus als Ausdruck eines Substanz-Akzidenz-Verhältnisses 116 a) Naturphilosophische Rahmenbedingungen 116 b) Terrae motus als Substanz-Akzidenz-Verhältnis 119 Zweites Zwischenfazit 133 Die grammatische Konstitution des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs 135 Terrae motus im Kontext seiner grammatischen Entstehung 135 Wenn „Erdbeben“ nicht gleich „Erdbeben“ bedeutet – Der lateinische Erdbebenbegriff und seine althochdeutschen Entsprechungen 138
Inhaltsverzeichnis
3
3.1 3.1.1
3.1.2
3.2
3.2.1
3.2.2 3.3
IV
1
2
Das Streben nach Glaubwürdigkeit – Das rhetorische Erbe antiker Gerichtsrede in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung über Erdbeben nördlich der Alpen 142 Narratio und rhetorische Tatbestandsklärung – Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen als factum 148 Deskription und Zeitstellung der Überlieferung im Spiegel einer Topik der Umstände 155 a) Lokalisierungsbezeichnungen in mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen 157 b) Zur Stärke-Beschreibung mittelalterlicher Erdbeben 164 Deskriptive Qualität und Narration – Zur Beschaffenheit des Faktums in spezifischen mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen 174 Glaubhaft durch Anschaulichkeit? – „Wirkliche“ und „falsche“ Erdbeben im Spiegel einer Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik 185 Die Beschreibung mittelalterlicher Falschbeben nördlich der Alpen 193 a) His namque et aliis signis quae pręnuntiata fuerunt opere completis – Falschbeben im Sinne einer eschatologischen Deutung 195 b) Prodigium – Die mittelalterliche Argumentation von Falschbeben als Unheilszeichen 200 c) Falschbeben als Ergebnis fehlerhafter Vergangenheitsrezeption 205 d) Naturkundliche und naturphilosophische Falschinterpretationen von Erdbeben 208 De terribili terrae motu – Das Erdbeben als schreckliches Ereignis 214 Schreib- und Darstellungskompetenz in der Überlieferung mittelalterlicher Erdbeben – Ein drittes Zwischenfazit 222 Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung – Die mittelalterliche Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est als Ausdrucksform christlicher Weltauslegung 225 Allegorie und Welterklärung – Die multiple Auslegung von terra als Schlüssel zum Verständnis des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs 227 Erfüllung des Alten im Neuen – Lateinische Erdbebenbeschreibungen in beiden Testamenten 234
XI
XII
Inhaltsverzeichnis
Vom exemplum zur imitatio Christi – Die mittelalterliche Auslegung der Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est gemäß den geistigen Schriftsinnen 246 Ubi cupiunt aut immolari pro Christo quasi victimae – Erdbeben und Kreuzzugsbegeisterung bei Gerhoch von Reichersberg. Ein Fallbeispiel 247 Terrae motus factus est magnus in der geistigen Auslegung des Mittelalters 251 Die typologisch-dogmatische Auslegung – terrae motus factus est magnus als Verweis auf das exemplum Christi 251 Die moralisch-tropologische Auslegung – terrae motus factus est magnus als Handlungsaufforderung zur imitatio Christi 266 Et vidi caelum novum et terram novam – die anagogischeschatologische Auslegung von terrae motus factus est magnus als Ausdruck einer spekulativen Erlösungsvorstellung 275 Terrae motus factus est magnus als Ausdruck eines Auferstehungstopos – Ein viertes Zwischenfazit 283
3
3.1
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3
4
V
Schlussbetrachtung 287 1 Teil: Weltdeutung oder Klischee? – Eine strukturelle Analyse des Auferstehungstopos terrae motus factus est magnus 287 2 Teil: Resümee 295
Quellen- und Literaturverzeichnis Register
303
345 Sachen, Personen und lateinische Formen Orte 353
345
I Einleitung 1 Vorüberlegungen Wer also zu stehen meint, der gebe Acht, dass er nicht fällt. (I Kor , )
There’s more to the picture Than meets the eye. (Neil YOUNG: Hey Hey, My My)
Erdbeben. Seit Anbeginn der Zeiten haben sie auf die Lebenswirklichkeiten der Menschen eingewirkt und durch ihr willkürliches Eintreten das Vorstellungsvermögen herausgefordert. Sie haben zu Erklärungsversuchen angeregt und schließlich Bewältigungsstrategien hervorgebracht, die den menschlichen Alltag neu zu ordnen versuchten. Dass eine mitunter zäsurartige Änderung des bisher Gewesenen nicht nur das rein lebenspraktische Handeln anspricht, sondern auch in tieferen Bewusstseinsstrukturen Niederschlag finden muss, ist nur schlüssig. Erdbeben befördern durch ihren zeichenhaften, ja schicksalhaften Charakter eine bildhafte, in ihrer Anwendung vielseitige Sprache. Das Gefühl der Ohnmacht, welches eintritt, wenn im Moment der Erschütterung scheinbar der Boden unter den Füßen zu verschwinden droht, der fehlende Halt im Raum, der sich durch die synchrone Bewegung alles Gegenständlichen einstellt, ist ein universeller menschlicher Eindruck im Erleben von Erdbeben. Panik und Fluchtreflexe, wie sie bis heute die menschliche Reaktion bei derartigen Ereignissen prägen, sind anthropologisch bedingt und machen durch ihre zeitlose Gültigkeit auch heute lange vergangenes Handeln nachvollziehbar sowie verständlich. Der Eindruck des Schwankens, welcher sich bei starken Erdbeben einstellt, ist ein auf viele Lebensbereiche analog zu übertragender Zustand. Das hierhin inbegriffene allegorische Ausdrucks- und Interpretationspotential wurde schon früh erkannt. Die einleitend zitierte Aufforderung des Heiligen Paulus, des Begründers der geistigen Auslegung der Heiligen Schrift,1 im Brief an die Korinther, macht dies deutlich. Die fragile Situation vermeintlicher Standfestigkeit dürfte jedem Augenzeugen eines Erdbebens vertraut vorkommen. Paulus’ Äußerung meint indes etwas vollkommen anderes. Die von ihm gewählte wörtliche Ausgestaltung dient nur zur Vermittlung – einer Versinnbildlichung – der eigentlichen geistigen Botschaft. Ist es nicht vielmehr so, wie es ein weithin bekannter kanadischer Musiker in dem zweiten vorangestellten Zitat populärer formuliert? In YOUNGS Zeilen deuten sich zwei wesentliche Bestandteile menschlicher Urteilsfindung an, die das Leitmotiv dieser Arbeit bilden: Erkennen und Verstehen. Es sind die unterschiedlichen Sinnebenen, die von einem Sachverhalt ausgehen,
1 Siehe hierzu das von Gottlieb SÖHNGEN verfasste sechste Kapitel „Die Weisheit der Theologie durch den Weg der Wissenschaft“ in: FEINER, LÖHRER 1965: 910 f., 918 f. https://doi.org/10.1515/9783110620771-001
2
I Einleitung
welche in dieser Strophe zum Ausdruck gebracht werden. In einer rationalisierten und nach messbarer Objektivität strebenden Gegenwart hat dieses hermeneutische Denken zunehmend an Relevanz verloren. Die geglaubte Existenz und Auslegung unterschiedlicher Seins-Dimensionen passt nicht mehr so recht in das aufgeklärte und von „vormodernen“ Denkstrukturen emanzipierte Jetzt. Jede Zeit denkt in ihren eigenen Kategorien.2 Die Ungleichheiten des Verstehens, die in diesem Aspekt verborgen liegen können, erscheinen umso größer, je deutlicher die Abstufungen zwischen den Formen des jeweiligen Weltverständnisses ausfallen. Es ist notwendig, in solchen Fällen einen historisch-kritisch fundierten Zugang zu eben diesem Denken, sei es nun als „vormodern“ oder im aufgeklärten Sinne als säkularisiert benannt, zu finden. Insbesondere die Epoche des Früh- und Hochmittelalters stellt uns durch ihre eigene Weltsicht vor diese Aufgabe. Sie bietet jedoch gleichsam einen wesentlichen Lösungsansatz an. Sententiarum ipsae per se sententiae,3 wie Augustinus trefflich schreibt. Es gilt, eben diese Aussagen aus sich selbst zu verstehen, ihren Ursprung und ihre Wertigkeit zu erschließen und in den Kontext ihrer Anwendung zu setzen. Das Begreifen von Sprache und ihrer semantischen Funktion als mündliche oder als schriftliche Artikulation des sinnlich Wahrgenommenen sowie kognitiv Verarbeiteten ist in diesem Zusammenhang grundlegend. Auf diesem Weg werden Vorstellungs- und Wissensstrukturen greifbar, die als progressive Elemente innerhalb der rhetorischen inventio eine Argumentation erst ermöglichen. Der Sprachgebrauch einer Zeit ist also immer auch Spiegel der Denkweisen einer Epoche. Das Verstehen dieser Mechanismen ist somit Zugang zum Thema selbst.4 Es verlangt ein annäherungsweises Hineinversetzen in den Autor und demnach einen Aufschluss darüber, wie dieser zu seiner Meinungsbildung gelangte.5 Das sich Bewusstmachen dieses grundlegenden Aspekts menschlicher Wissensund Erkenntnisvermittlung ist umso mehr von Relevanz, wenn vergangene Wissensbestände, also Traditionsquellen6 im weiteren Sinne, für die modernen Wissenschaften und ihre spezifischen Anwendungen erschlossen werden sollen. In den
2 Siehe auch OEXLE 1987: 80 f. 3 Augustinus: De doctrina christiana II, cap. XXXIV (52.), 68 f. In diesem Hinweis des Augustinus zur Auslegung christlicher Texte ist bereits das grundlegende Prinzip der Hermeneutik angesprochen, welches später von HEIDEGGER und GADAMER als hermeneutischer Zirkel weitergedacht worden ist. Siehe HEIDEGGER 2006: 152 f.; GADAMER 2010: 296. Es sei darauf hingewiesen, dass zum Zweck einer besseren Lesbarkeit, die Schreibweise der lateinischen Zitate hinsichtlich der Buchstaben „u“ und „j“ in dieser Arbeit normalisiert wurde. 4 Hinsichtlich der Rolle des Sprachgebrauchs im hermeneutischen Prozess siehe GADAMER 2010: 272. 5 GADAMER 2010: 297; Hans-Werner GOETZ vertritt im Rahmen seines vorstellungsgeschichtlichen Ansatzes ein ähnliches Vorgehen. Siehe GOETZ 2007c: 8. 6 Siehe BERNHEIM 1960: 479–494.
2 Historische Seismologie und Katalogisierung vergangenen Seismizitätsgeschehens
3
Geistes- und Kulturwissenschaften wird diese Transferleistung von jeher durch die Editionswerke der Philologien und der Geschichtswissenschaft geleistet. Doch wie gestaltet sich diese „Übersetzung“ innerhalb der Naturwissenschaften, wenn sie zum Zwecke der Abschätzung und Beurteilung gegenwärtiger und zukünftiger Prozesse auf vergangene, nicht instrumentell ermittelte Daten angewiesen ist? Das Fehlen einer gemeinsamen Sprachbasis zwischen den Fakultäten wird schmerzlich festgestellt und viel zu oft, sei es aus Resignation oder aus Unkenntnis, wird zu einem behelfsmäßigen Positivismus übergegangen, welcher die Sache jedoch nie in ihrer Gänze erfassen kann.7
2 Historische Seismologie und die Katalogisierung vergangenen Seismizitätsgeschehens Die Wissenschaft der Historischen Seismologie zeigt indes einen Weg auf, wie dieses Dilemma zumindest für den Bereich der Seismologie gelöst und durch die Rückbesinnung auf die gemeinsamen methodischen Wurzeln, nämlich das induktive Denken,8 eine Verständigung erreicht werden kann. Die notwendige Nutzbarmachung tradierten historischen, im Falle dieser Untersuchung mediävistischen Wissens für die probabilistischen seismischen Gefährdungsabschätzungen der Geophysik bietet diesbezüglich einen geeigneten Rahmen und wird als solche auch von der neueren seismologischen Forschung erkannt.9 Zur verlässlichen Abschätzung der Erdbebengefährdung ist es unerlässlich, Datenreihen zu Erdbeben zu verwenden, die so weit wie möglich in die Vergangenheit zurückreichen. Die Erforschung des vergangenen Seismizitätsgeschehens ist damit die aktuelle Basis zur Parametrisierung von Beben in Erdbebenkatalogen und für den seismologisch essentiellen Parameter der Seismizitätsraten für probabilistische seismische Gefährdungsabschätzungen (PSHA). Dabei zeigt sich, dass der beschriebene Transformationsvorgang von historischer in seismologisch nutzbare Information selten quellenkritisch-systematisch bedacht wurde, was zu Defiziten im Umgang mit den Voraussetzungen und den Formen historischer Wissensspeicher
7 Wesentlich liegt diese Beobachtung in einem Paradigmenwechsel begründet, der sich als Resultat zunehmender wissenschaftlicher Spezialisierung seit dem 17. Jahrhundert einstellte. Der unterschiedliche Zugang der Disziplinen, welcher sich im Sprachgebrauch niederschlägt, hat Arno BORST am Beispiel des Forschungsberichts anschaulich gegenübergestellt. Siehe BORST 1984: 379–381. 8 Siehe GADAMER 2010: 9–11. 9 VOGT 1993: 15 f., 22; GRÜNTHAL 2004: 637 ff.; AMBRASEYS 2005: 329 f.; EISINGER et al. 1992: 33–34, 38; siehe ebenfalls den Sammelband GLADE, ALBINI, FRANCÉS 2001. In diesem Zusammenhang ist auch der überaus informative Aufsatz über die archäologischen und bauhistorischen Untersuchungen am Aachener Dom zu nennen, welche gemeinsam von Archäologen sowie Seismologen vorgenommen wurden. Siehe: REICHERTER et al. 2011: 149–157.
4
I Einleitung
und Wahrnehmungsweisen führt.10 Das „Alltagsgeschäft“ der Historischen Seismologie, das bislang neben der schwerpunktmäßigen Erforschung einzelner Erdbeben gerade auch in der Erstellung parametrisierter Erdbebenkataloge bestand und das Gros des Forschungsstandes ausmacht, geht zunehmend auf diesen Aspekt ein.11 Die Anfertigung und Verwendung von in neuerer Zeit kritisch kompilierten parametrischen Erdbebenkatalogen12 zeugt davon. Von dieser immensen Katalogarbeit und der mit ihr verbundenen langfristigen Erforschung mittelalterlicher Erdbeben13 profitiert auch diese Arbeit. Dennoch hat die über viele Jahrzehnte maßgeblich praktizierte Fokussierung auf eine rein quantitative Datenerhebung bewirkt, dass dem Themenfeld der Historischen Seismologie von Seiten der deutschen Geschichtswissenschaft zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Infolgedessen werden, entgegen der im europäischen Ausland, besonders in Italien,14 Belgien,15 Österreich16 und der Schweiz17 interdisziplinär praktizierten Forschung, die Untersuchung historischer Erdbeben seit Generationen fast ausschließlich von Seismologen betrieben. Erwähnenswerte Ausnahmen stellen für das Mittelalter die Untersuchungen zu Erdbeben von Arno BORST,18 Lukas CLEMENS,19 Andrea VON HÜLSEN20 und Gerhard FOUQUET21 dar. Gerhard WALDHERRS22 eindrucksvolle Habilitationsschrift ist beispielhaft für die
10 Siehe diesbezüglich die nicht bis kaum nach historisch-kritischen Gesichtspunkten kompilierten Erdbebenkataloge. Stellvertretend für die große Anzahl dieser Art von Erdbebenkatalogen: SIEBERG 1940; SHEBALIN et al. 1998. Selbst der durch die „Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe“ (BGR) herausgegebene Katalog steht in dieser Tradition. Siehe: LEYDECKER 2011. Die Behandlung der Quellenfrage erfolgt in dem vom Ansatz lobenswerten Handbuch von GUIDOBONI und EBEL ebenfalls nicht ausreichend. Siehe GUIDOBONI, EBEL 2009: 39–298. 11 Beispielsweise in Italien: GALADINI, STUCCHI 2007: 93–98; GALLI 2005: 87–100; GUIDOBONI, STUCCHI 1993: 201–215; GALADINI et al. 2001: 3–27; in Frankreich: VOGT, CADIOT 1979; VOGT 1999: 15–54; VOGT 1992: 3–10; VOGT 1996: 50–52; VOGT 1985: 5–11; DUCELLIER 1996: 61–76; FRÉCHET et al. 2008. 12 Siehe z. B.: GRÜNTHAL, WAHLSTRÖM 2012: 535–570; GRÜNTHAL et al. 2009: 517–541; HAMMERL, LENHARDT 2013; STUCCHI et al. 2012: 523–544. 13 Siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 14 Stellvertretend für den italienischen Forschungsstand: GUIDOBONI, COMASTRI 2005a; GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994; GUIDOBONI 1989; GUIDOBONI 1984: 119–139; GUIDOBONI 1999: 44–66; GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 1–20; BONAZZI 2007: 254–259; ALBINI 2011: 111–114; ALBINI, MORONI 1994. 15 Stellvertretend für Belgien: ALEXANDRE 1990; ALEXANDRE 1994: 431–438; ALEXANDRE 2010: 1–12; DRAELANTS 1995. 16 Stellvertretend für Österreich: HAMMERL 1992; GUTDEUTSCH et al. 1987; HAMMERL, LENHARDT 1997; HAMMERL 1995: 350–368; ROHR 2007; OESER 2003. 17 Stellvertretend für die Schweiz: SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011; GISLER et al. 2007: 63–79; SCHWARZZANETTI et al. 2008: 125–129 sowie der überblicksartige Sammelband GISLER et al. 2008. 18 BORST 1984: 529–569. 19 CLEMENS 2002: 251–266; CLEMENS 2005: 193–207. 20 HÜLSEN 1993: 218–234. 21 FOUQUET 2003: 31–50; FOUQUET 2004: 101–131. 22 WALDHERR 1997. Gleichfalls ist an dieser Stelle der von ihm mit herausgegebene Aufsatzband zu nennen: WALDHERR, SMOLKA 2007.
2 Historische Seismologie und Katalogisierung vergangenen Seismizitätsgeschehens
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Antike zu nennen. Sie hat jedoch anders als BORST einen ausgesprochen wissenschaftshistorischen Ansatz. Generell ist festzustellen, dass im Vergleich zur deutschen Mediävistik in den Altertumswissenschaften ein ausgeprägtes Interesse an der historischen Seismologie herrscht.23 Arno BORSTS Untersuchung zum Erdbeben von 1348 ist es zu verdanken, dass den historischen Geisteswissenschaften der offensichtliche Zusammenhang zwischen Erdbeben und den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, ob nun in Form politischer, religiöser, wirtschaftlicher oder historiographischer Ausformung, erstmals bewusst wurde.24 BORST markiert eine Wende, er proklamiert ein Umdenken, hin zu einer auf historische Erdbeben angewandten Mentalitäts- und Alltagsgeschichte. Ihm folgten bisher aber nur wenige deutschsprachige Historiker.25 Allgemeinhin wurde bislang nur unzureichend erkannt, dass der allseitig akzeptierte Dualismus von geistiger Analyse und deren Materialisierung in Form schriftlicher Überlieferung selbstverständlich auch die heutige Kenntnis von den historischen Erdbeben des Mittelalters betrifft. Die weltweit betriebene Historische Seismologie hat sich dieser mentalitäts- und vorstellungsgeschichtlichen Einflussnahme auf die Geschichtsschreibung über Erdbeben bislang kaum angenommen. Hierdurch wird umso mehr deutlich, dass kein Erkenntnisgewinn über mittelalterliche Erdbeben zu erlangen ist, wenn zentrale Forschungsfragen nicht gestellt werden. Die Auseinandersetzung mit Erdbeben erfolgte insbesondere aus wissenschafts- sowie ideengeschichtlicher Perspektive zu einseitig26 und hatte, wenn überhaupt, lediglich die Erdbebentheorie im Blick, anstatt auf andere, beispielsweise theologische Erklärungsweisen27 aufmerksam zu machen bzw. daran zu erinnern, dass beide Deutungsmodelle im mittelalterlichen Denken in Eins fallen. So wurden bisher
23 Beispielhaft der Aufsatz von BAUDY 1992: 47–82; SONNABEND 2003: 37–44; MEIER 2007: 559–586; CONTI 2007: 57–74; siehe auch die Beiträge in den von BORSCH & CARRARA sowie OLSHAUSEN & SONNABEND herausgegebenen Tagungsbänden. Holger SONNABENDS Buch „Naturkatastrophen in der Antike. Wahrnehmung – Deutung – Management“ bleibt jedoch zu sehr einem populärwissenschaftlichen Anspruch verhaftet und weist bezüglich historischer Erdbeben vermeidbare Ungenauigkeiten auf, wie z. B. die falsche inhaltliche Gleichsetzung von makroseismischen Intensitäten mit Magnituden zeigt. Vgl. ebd.: S. 106. 24 BORST 1984: 533; hinsichtlich einer detailreichen Einzelstudie dieses Erdbebens sei ebenfalls auf HAMMERL 1992 verwiesen. 25 Zu nennen wären CLEMENS, FOUQUET, ROHR sowie GISLER, GIARDINI 2007: 101–110; SCHELLBACH 2014: 50–64. Etwas kurz fallen die Überlegung bei JANKRIFT 2003: 101–106 aus. Ebenfalls plausibel: WOLF, WOLF 1989: 35, 41 f. Interessant sind auch die Gedanken von Roman SANDGRUBER 2007: 9–15, obgleich sie mehr auf den allgemeinen Begriff der Katastrophe ausgerichtet sind. Gleiches gilt für WALTER 2008: bes. 21, 101 f., welcher sich maßgeblich mit einer sozialwissenschaftlichen Sicht der Thematik nähert, dabei jedoch die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft einbezieht. 26 Auf diesen Sachverhalt verweist ebenfalls GOETZ 2012: 18, bes. Anm. 24. 27 ROHR geht kurz auf diesen Sachverhalt ein. Er beschränkt sich jedoch zu sehr auf eine eschatologische Interpretationsweise von Erdbeben. Siehe ROHR 2007: 106–110.
6
I Einleitung
von zahlreichen Autoren Abhandlungen zum antiken28 und neuzeitlichen29 naturwissenschaftlich orientierten Verständnis von Erdbeben verfasst. Für das Mittelalter unterblieb hingegen eine in ihrer Ausführlichkeit vergleichbare Betrachtung.30 Nur in der französischsprachigen Forschung wurde dieser Ansatz, nicht zuletzt durch die starke mentalitätsgeschichtliche Tradition, bereits in Grundzügen aufgegriffen.31 Die Begründung, dass es sich bei der mittelalterlichen Sicht zu Erdbeben doch nur um die Rezeption antiken Wissens handele,32 ist somit generell verbreitet, entbehrt aber der quellenkritischen Überprüfung anhand von mittelalterlichen Zeugnissen. Demzufolge ist die Beobachtung schlüssig, dass die ereignisgeschichtliche Rekonstruktion vergangener seismischer Ereignisse33 mit deren anschließenden Parametrisierung, trotz beachtlicher Forschungsergebnisse, zu selten im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes erfolgt.34 Die Tatsache, dass die Überlieferung von Erdbeben in der vorinstrumentellen Ära gänzlich von menschlicher Wahrnehmung und den in ihr begriffenen Unsicherheiten abhängt, wird letztlich zu oft übergangen.
3 Beobachtungen und Desiderat Aus den dargelegten Ergebnissen einer umfangreichen Katalogarbeit muss geschlossen werden, dass zu wenig über die Beschreibungsweisen und den Bedeutungsgehalt von mittelalterlichen Erdbebendarstellungen bekannt ist.35 Eindrücklich lässt sich
28 Siehe: WALDHERR 1997; GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 42–54; OESER 2003: 13–16; OESER 1992: 11–31; ebenso SIEBERG 1923: 180. 29 Siehe: GRÜNTHAL 2004; GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 18–20; OESER 1992: 18–30; OESER 2003. 30 Erhard OESERS kapitelartige Abhandlung bleibt bei weitem zu schematisch. Vgl. OESER 2003: 16–18. Gleiches gilt für die Ausführungen in dem von Otto MAZAL verfassten Handbuch zur abendländischen Wissenschaftsgeschichte. Siehe MAZAL 2006: II 214–219. 31 Siehe beispielhaft: DRAELANTS 1995; LABBÉ 2008: 335–351. Zu nennen wären ebenfalls Jacques BERLIOZ Arbeiten, welche sich allerdings mehr dem großen Begriff der Naturkatastrophe und deren Stellung im mittelalterlichen Denken und Argumentieren nähern. Erdbeben werden von ihm nur ausschnittsweise herangezogen. Sein Hinweis auf die Exemplafunktion von Naturkatastrophen ist jedoch von grundlegender Bedeutung. Siehe z. B. BERLIOZ 1993: 7–24; BERLIOZ 1998. 32 OESER 1992: 17; OESER 2003: 6, 16 f. 33 Der Begriff „seismisches Ereignis“ wird in dieser Arbeit, gleichwohl er aus seismologischer Perspektive nicht immer mit einem Erdbeben gleichzusetzen ist, synonym mit diesem verwendet. 34 Siehe z. B. stellvertretend die Arbeiten von: GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 1–20. In gleicher Weise betrifft dies den historischen Erdbebenkatalog von Pierre ALEXANDRE. Siehe ALEXANDRE 1990; ebenfalls zutreffend: LEYDECKER 2011; HAMMERL 1987: 95–112; EISINGER et al. 1988: 52–69; ALEXANDRE 2010: 1–12; ALEXANDRE 1991: 45–52. 35 Dieser Aspekt betrifft maßgeblich die Arbeiten GUIDOBONIS, welche beispielsweise eine methodische Unschärfe in der Unterscheidung literarischer Gattungen aufweisen. Vgl. z. B. GUIDOBONI, EBEL 2009: 74, 79; GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 6.
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diese Problemstellung, sei sie nun auf die Parametrisierung von Erdbeben oder auf deren kulturhistorische Erklärungsweisen ausgerichtet, anhand von zahlreichen Beispielen belegen. Im Jahre 803 berichtet ein an der Hofkapelle Karls des Großen zeitgenössisch arbeitender, aber anonym bleibender Schreiber von einem Erdbeben. In den sogenannten Fränkischen Reichsannalen, eine der wichtigsten historiographischen Quellen des Frühmittelalters, äußert er sich wie folgt: Hoc hieme circa ipsum palatium et finitimas regiones terrae motus factus et mortalitas subsecuta est.36 Ein halbes Jahrhundert später schildert mit den Annales Fuldenses eine ebenso bedeutsame Quelle dieser Zeit ein heftiges Erdbeben, das sein wahrscheinliches Herdgebiet in der Nähe von Mainz hatte. DCCCLVIII. Kalendis Ianuarii terrae motus magnus factus est per civitates et regiones diversas, maximus tamen apud Mogontiacum, ubi maceriae antiquae scissae sunt et aecclesia sancti Albani martyris ita concussa est, ut murus de fastigio cadens oratiorum sancti Michaelis ad occidentem basilicae bicameratum cum tecto et laquearibus ruina sua confrigens terrae coaequaret.37
Aus der Gegenüberstellung beider Beschreibungen wird ersichtlich, dass, im Gegensatz zur ersten Erwähnung, die Vergabe einer makroseismischen Intensität für das Epizentrum (I0)38 für die zweite Darstellung besser möglich ist. Für das Aachener Ereignis dienen die Worte terrae motus factus [. . .] est als Ausgangspunkt der Bewertung. Durch das Fehlen einer Stärkeangabe, wie z. B. magnus, ist eine Ableitung der tatsächlichen Intensität alleine auf Grundlage dieser Quelle kaum möglich. Mit der Erzählung aus den Annales Fuldenses verhält es sich indes anders. Die durch die Phrase terrae motus magnus factus est verdeutlichte Heftigkeit der Erschütterung steht im Einklang mit den erwähnten Gebäudeschäden und scheint die Wertigkeit
36 Annales regni Francorum: 117; Die quellenkundliche Diskussion zu den Annales regni Francorum hat seit der Monumenta-Edition Friedrich KURZES stets fortgelebt und wird bis in jüngere Zeit ausgeprägt weitergeführt. Siehe z. B. EGGERT 2001: 124; MCKITTERICK 1997: 119; REIMITZ 2004: 279 f.; SCHIEFFER 2006a: 10, 14 f. Hinsichtlich deutscher Übersetzungen zu zitierten historiographischen und annalistischen Erdbebenbeschreibungen sei stets auf das aufbereitete Quellencorpus in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung) verwiesen. 37 Annales Fuldenses: 48. Ähnlich wie bei den Annales regni Francorum ist auch die Editionslage der Annales Fuldenses nach wie vor kritikwürdig und bedarf weiterer Forschungen. Der zitierte Eintrag des Jahres 858 entstand, als die Annalen zeitgenössisch in Mainz geführt wurden. Siehe diesbezüglich STAAB 1998: 641, 651 f., 654; WATTENBACH, LEVISON, LÖWE 1990: 678, 681 f.; CORRADINI 2006: 121 f. 38 Hinsichtlich der Vergabe von makroseismischen Intensitäten siehe GRÜNTHAL et al. 1998b: bes. 99. Weiterhin sei für die Erklärung des Begriffs der makroseismischen Intensität sowie für die Motivation und die Methode der Anwendung folgender Lexikonartikel empfohlen. GRÜNTHAL 2011: 237–242, bes. 237 f. Ergänzend sei hinzugefügt, dass die Parameter Intensität (I) und Magnitude (M), unabhängig von der methodischen Verschiedenheit ihrer Ermittlung, als qualitativ gleichwertig zu betrachten sind.
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des magnus zu bekräftigen. Die unbedingt zu berücksichtigende Ambivalenz im Gebrauch von sogenannten Stärkeadjektiven zeigt sich auch an weiteren Beispielen. Bernold von St. Blasien verfasste während seiner Zeit im Schaffhausener Kloster Allerheiligen eine weithin bekannte Chronik.39 Anfänglich abhängig entstanden und maßgeblich auf der Weltchronik Hermann von Reichenaus aufbauend, ist sein Bericht des Jahres 1092 dem selbständigen Teil des Werkes zuzurechnen.40 Bernold berichtet wortreich: Magnus quoque terrae motus in eodem episcopatu apud cellam Salvatoris eo tempore noctu contigit. Unde et paucis tunc innotuit, praeter quosdam religiosos viros et feminas, quibus eadem nocte nondum somnus obrepsit. Hunc terrae motum catholici iuxta evangelium divinam iram portendere pro supradicta praesumptione non dubitarunt.41
Die hier mit Hilfe eines magnus vorgenommene Beschreibung des Erdbebens steht in offensichtlichem Widerspruch zum nachfolgenden Fließtext. Angesichts dessen erscheint der wirklichkeitsbezogene Gebrauch des Wortes magnus weniger selbstverständlich zu sein, als es das vorangehende Beispiel vermuten ließ. Ausgehend von der von Bernold dargelegten Stärke wäre gemäß einer naiven Lesart das Schaffhausener Erdbeben, welches nur von wenigen, nicht schlafenden Mönchen verspürt wurde, mit derselben Intensität zu bewerten wie das Mainzer Schadenbeben von 858. Zweifel hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs von magnus sind hier also durchaus gerechtfertigt.42 Der Schlussabschnitt von Bernolds Darstellung zeigt eine Deutungsweise auf, die es bei allen historiographischen Erwähnungen von seismischen Ereignissen prinzipiell mitzudenken gilt. Seine Erdbebenbeschreibung ist in einen bewusst politisch-tendenziösen Kontext gesetzt. Als eine Form der Gegenwartsanalyse geht Bernold auf die Geschehnisse im Reich ein und instrumentalisiert das Beben als Strafe für die Investitur des kaiserlichen Gegenbischofs von Konstanz, Arnold von Heiligenberg.43 Wie verhält es sich jedoch, wenn Erdbeben in Werken mit weniger narrativem Anspruch oder gegebenen technischen Möglichkeiten, wie es bei einer großen Anzahl von mittelalterlichen Annalenwerken der Fall ist, überliefert werden? Alle drei bisher erwähnten Beispiele sind schließlich durch ihren chronikalischen Charakter hiervon ausgenommen. Die eigentliche Ereignisnennung ist stets mit einem Bericht
39 GOETZ 1999: 250. 40 GOETZ 1999: 250; Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz: 86 ff., 111. 41 Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz: 498 f. 42 Das hier exemplarisch gewählte Erdbeben wurde bereits mit der ähnlichen Einschätzung, dass ein Missverhältnis zwischen Beschreibungsweise und makroseismischer Intensität vorliegen muss, von einzelnen Beiträgen der Forschung bearbeitet. Siehe SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 43 f.; ALEXANDRE 1990: 144. 43 Siehe ALEXANDRE 1990: 144; MAURER 2003: 262–265.
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von jeweils individueller Länge sowie Detailvariation verbunden, der zumindest ansatzweise eine historische Einordnung erlaubt. Vielen der typischen Klosterannalen des Früh- und Hochmittelalters, die, eingetragen in Ostertafeln, eine der quantitativ bedeutendsten Quellen für die Überlieferung historischer Erdbeben darstellen, fehlt diese historiographische Eloquenz. Das datierte Faktum an sich, und seine mit ihm bezweckte Erinnerungsfunktion, rückt hier ausschließlich in den Fokus des Lesenden. Dass die „Schatzkammer des Gedächtnisses“44 jedes einzelnen Betrachters angeregt werden sollte, steht außer Frage. MCXVII. III. Non. Ian. Terrae motus magnus factus est45 berichtet der im Jahr 1126 arbeitende Schreiber der Annales S. Petri Erphesfurtenses antiqui46 über das Erdbeben vom 3. Januar 1117. Verona, als italienischen Ort des Geschehens, verschweigt er indes. Erst durch einen quellenkritischen Vergleich des überdurchschnittlich gut überlieferten Veroneser Erdbebens wird diese lokale Zuordnung möglich. Die Vergabe eines Intensitätsdatenpunktes ist jedoch selbst in diesem Fall ausschließlich mit größten Unsicherheiten behaftet möglich und sollte unterbleiben, da das Erdbeben wohl kaum bis Erfurt „heftig“ verspürt worden ist.47 Wie erfolgt aber eine Interpretation, wenn – was fast die Regel ist – die schriftliche Überlieferung des mittelalterlichen Erdbebens nur aus einem oder zwei kurzen Annaleneinträgen besteht? Zu bedenken bleibt, dass jede Erwähnung von seismischen Ereignissen48 insbesondere vor dem Hintergrund der geringen Schriftlichkeit des Mittelalters zu beachten ist. Wenn die Engelberger Annalen allein von einem Erdbeben im Jahr 1175 berichten49 oder ebenfalls nur ein Schreiber im holländischen Kloster Egmont eine Erschütterung für 1142 festhält,50 so verdienen die mit annalistischer Kürze niedergeschriebenen Wortlaute dieselbe kritische Aufmerksamkeit wie andere durch die mittelalterliche Geschichtsschreibung besser wahrgenommene und tradierte Erschütterungen. Exemplarisch vorgetragen zeigt sich, dass das historische und seismologische Verständnis des historiographisch prägenden, standardisiert-formelhaft gebrauchten
44 Beispielhaft für diese seit der Antike gebrauchten Metapher siehe Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 39, 545: thesaurus est omnium rerum memoria. 45 Annales S. Petri Erphesfurtenses antiqui: 16. 46 WATTENBACH, SCHMALE 1976: 406. 47 Hinsichtlich einer quellenkritischen Untersuchung des Erdbebens vom 3. Januar 1117 siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 48 Siehe hierzu auch GUIDOBONI, EBEL 2009: 227. Etwas zu restriktiv sind SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 14. 49 Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279: 1175. Pridie Kal. Maii terre motus factus est prima hora noctis. Der Eintrag in den Annalen geschah gegen Ende der Amtszeit des Engelberger Abts Frowin. Siehe diesbezüglich WATTENBACH, SCHMALE 1976: 320; BÜCHLER-MATTMANN, HEER 1986: 596, 611 f. 50 Annalen van Egmond (Annales Egmundenses): 190: Anno. M.c. xlii. Quarto nonas novembr. terrę motus factus est.
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Narrativs terrae motus factus est nahezu im Dunkeln liegt.51 Welche Schreiberabsichten hinter diesem über Jahrhunderte hinweg, lokal unabhängig gebrauchten Ausdrucks vermutet werden können, ist bislang nur oberflächlich und schemenhaft erarbeitet worden.52 Die oftmals unzureichende Quellenlage zu mittelalterlichen Erdbeben hat bisher offenbar zusätzlich die Entscheidung erleichtert, sich diesem Thema nicht zu widmen. Der günstigere Zugang zu den weit besser überlieferten Erdbeben der Frühen Neuzeit und der Moderne war für die Forschung bislang anscheinend zu verlockend, wie zahlreiche Publikationen zeigen.53 Stereotype Interpretationen von Erdbeben als Strafe und Zornesausdruck Gottes sowie als apokalyptisches Zeichen sind allgegenwärtig in der Literatur zu lesen.54 Doch handelt es sich hierbei tatsächlich um originär mittelalterliches Denken? Oder setzt unsere heutige Lesart der Quellen nicht vielmehr die Deutungsgewohnheiten der Frühen Neuzeit fort, indem sie Erdbeben vornehmlich als negativ besetztes Prodigium versteht? Das Mittelalter, soviel sei bereits angedeutet, hatte eine weitaus differenziertere Vorstellung von dem Faktum Erdbeben, als bislang bekannt ist.55 Vor diesem Hintergrund ist eine Bestandsaufnahme mehr als dienlich. So unzureichend das Wissen der Geschichtswissenschaft um mittelalterliche Erdbeben ist, so wenig ist auf eine tatsächliche Qualitätsverbesserung der in der Historischen Seismologie verwendeten Datengrundlage zu hoffen. Beide Anliegen bedingen einander. Gleichwohl wird offensichtlich, dass der in einem konkreten Anwendungsbezug beheimatete Wunsch nach verlässlicher Informationsbasis, soweit dies überhaupt möglich ist, nur über einen geisteswissenschaftlichen Zugang erfolgen kann. Daher ist es notwendig, innerhalb der Quellenbasis zu differenzieren.
51 Siehe SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 19–21; GISLER et al. 2007: 70. 52 Siehe stellvertretend die Untersuchung Pierre ALEXANDRES zu den beiden Erdbeben vom 23. und 29. März 845, welche den Entstehungshintergrund der berichtenden Annales Xantenses vernachlässigt. Siehe ALEXANDRE 1990: 38, 131. Zu einem anderen Fall siehe ALEXANDRE 1991: 45–52. Ebenso steht GUIDOBONIS bekannter Aufsatz zum Erdbeben von 1117 in dieser Tradition. Siehe Tabelle in: GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 8. SCHWARZ-ZANETTI & FÄH fordern zu Recht zusätzlichen Forschungsbedarf zum Verständnis mittelalterlicher Erdbebenbeschreibung ein. Allerdings greift ihre richtige Feststellung, dass der alleinstehende Begriff terrae motus hauptsächlich auf das Frühmittelalter zutrifft, zu kurz. Vgl. SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 19. 53 Siehe beispielhaft: MEHLIN 2003; HAMMERL 2007: 21–44; GRÜNTHAL 2006a: 169–172; GRÜNTHAL 2006B: 165–168; GRÜNTHAL, MEIER 1995: 5–27. Siehe ebenfalls die bearbeiteten Beben in GISLER et al. 2008 sowie die Aufsätze der beiden thematisch gut zusammengestellten Sammelbände STUCCHI 1993 und ALBINI, MORONI 1994. 54 Siehe z. B. LEYDECKER 2011: 9; MAYER-ROSA 2009: 2125–2126; GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 50–52; GUIDOBONI, EBEL 2009: 49, 53, 57; JANKRIFT 2003: 10; STEINWACHS 1983: 87. Eine Kritik findet sich bereits bei WALDHERR 1997: 19. 55 Dies sieht ROHR 2007: 63 ähnlich; ebenso WALTER 2008: 12. Interessante Ansätze bieten vor allem für die griechische Antike CHANIOTIS 1998: 404–416, bes. 406, 411; MEIER 2007: bes. 574–577; WALDHERR 2016: 89 f.
4 Fragestellung und methodische Lösungsansätze
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Die Niederschrift von Erdbeben erfolgte im Verlauf des Mittelalters in ganz verschiedenen Quellengruppen. Sie sind Gegenstand von apologetischen, exegetischen, homiletischen und enzyklopädischen Abhandlungen; die gesamte Patristik und Kirchenlehrerzeit ist letztlich von ihren Erwähnungen durchdrungen. Doch von ereignisgeschichtlicher Verwendbarkeit, d. h. zum Zwecke der Rekonstruktion, sind für den Zeitraum des Früh- und Hochmittelalters fast ausschließlich die Erdbebenbeschreibungen in der Annalistik und Chronistik.56 Hier wird die eigentliche Problematik und Schwierigkeit des Zugangs offensichtlich, der in der Unterscheidung zwischen dem Faktum an sich und dessen Auslegungsmöglichkeiten liegt. Es ist das Streben des menschlichen Geistes nach Analogie, dem Exemplarischen,57 welches dem Menschen in seinem Bestreben, seine Herkunft und Gegenwart zu verstehen, die Vielfalt der Lebenswirklichkeiten erklärbar machen soll. Hier erfolgt die Vermittlung des Faktischen mit dem Ideellen und führt zu dem gerade im mittelalterlichen Denken bestimmenden Verständnis, jedes Einzelne als Teil eines ontologischen Ganzen aufzufassen.58 Die scheinbar deskriptive Darstellung des Beobachteten, wie sie für die Geschichtsschreibung als wünschenswert erachtet wird, ist davon nicht frei und muss deshalb stets in den aus menschlicher Erfahrung determinierten Vorstellungs- und Wissenskontext gesetzt werden. Dieser hermeneutischen Herausforderung hat sich die Untersuchung mittelalterlicher Erdbeben zu stellen. Umso mehr, wenn, wie z. B. im Fall des nordalpinen Heiligen Römischen Reiches für den Zeitraum von etwa 800 bis 1250, keine seriellen und nur marginal diplomatische Quellen erhalten sind, die Erdbeben zum Berichtsgegenstand haben. Das Fehlen dieser durch den Anspruch der Zähl- und Überprüfbarkeit für jede Form von Rechtssicherheit und Verwaltungshandeln evidenten Quellengattung gilt es, soweit wie möglich, zu kompensieren, indem sich auf die Wesensmerkmale und Mechanismen mittelalterlicher Geschichtsschreibung besonnen wird.
4 Fragestellung und methodische Lösungsansätze Folgerichtig stehen grundlegende Fragen gleich zu Anfang im Raum: Was heißt eigentlich „Geschichte schreiben“ im Früh- und Hochmittelalter? Inwieweit ist diese befähigt Naturereignisse, im konkreten Fall Erdbeben, darzustellen? Geschichtsschreibung, das ist bis ins 13. Jahrhundert hinein vor allem kirchliche Geschichtsschreibung. Was bedeutet es also für einen mittelalterlichen Mönch oder Kanoniker,
56 Ersichtlich am kritisch aufbereiteten Quellencorpus in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 57 Hinsichtlich dieses Gedankens siehe die schlüssigen Überlegungen von Peter VON MOOS zum anthropologisch bedingten Gebrauch von Exempla. Siehe MOOS 1988: XIX, 40, Anm. 96, 516–520. 58 Stellvertretend sei für dieses Denken auf den Heiligen Augustinus verwiesen. Siehe Augustinus: De vera religione, cap. XL (76.), 237.
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I Einleitung
wenn er die weitverbreitete sprachliche Formulierung terrae motus factus est (magnus) für die historiographische oder annalistische Darstellung eines Erdbebens verwendet? Was konnte der begrenzte Adressatenkreis seiner Leser anhand dieser Beschreibungen verstehen? Ist der Verdacht des Topischen, der schon bei der verwendeten Umschreibung „standardisiert-formelhafter Sprachgebrauch“ durchscheint, gerechtfertigt? Angesichts dieser Überlegungen ist also Geschichtsschreibung nicht als abstraktes Gebilde zu verstehen, sondern letztlich immer in einen menschlichen Bezug zu setzen. Dies ist umso mehr erforderlich, wenn die Erforschung eines Naturereignisses, wie eines Erdbebens, im Fokus steht, welches in seinen seismologischen Abläufen und Determinanten der Menschheit erst in den letzten 100 Jahren verständlich geworden ist und bis heute neue Fragen aufwirft. In diesem skizzierten klerikalen Umfeld, in dem unbekannt war, worin denn ein tektonisches Erdbeben tatsächlich besteht, in welchem Erscheinungen für wahr aufgefasst wurden, es aber heute in naturwissenschaftlich nachgewiesener Weise nicht sind, ebnet das Wesen des Menschen und somit die Anthropologie den grundlegenden Zugang zum Thema. Ernst BERNHEIMS fundamentaler Ausspruch: „Nur der Mensch ist Objekt der Geschichtswissenschaft“,59 gilt maßgeblich auch für die Historische Seismologie, obwohl gerade die Beschäftigung mit vergangenen Erdbeben lange nicht zum traditionellen Gegenstand der Geschichtswissenschaft gezählt wurde.60 „Sittliche Geschichte“, dass heißt zu ermitteln, was die mittelalterlichen Menschen – und diesbezüglich ist in unserem Fall einschränkend der schriftkundige, im Kloster oder Stift lebende Personenkreis angesprochen – unter einem Erdbeben verstanden haben. Wie sind innerhalb dieses quellenkundlich festgelegten Überlieferungsrahmens Rückschlüsse zu ziehen, die der naturgegebenen menschlichen Erkenntnisfähigkeit, sei es als Augenzeuge oder als Rezipient von Wissen, gerecht werden und den Umgang und die historiographische Verarbeitung derartiger Ereignisse verständlich machen? Die Einflussfaktoren, die auf den Geschichtsschreiber und sein Werk einwirkten, sind demnach von grundlegendem Interesse, um zu verstehen, welche zeittypischen Vorstellungs- und Wahrnehmungsweisen sowie Bewältigungsstrategien durch die Phrase terrae motus factus est (magnus) ausgedrückt werden. Der topische Gehalt dieser Formulierung ist demgemäß zu überprüfen und gegebenenfalls zu erhärten, wobei in diesem Zusammenhang nicht zu sehr die moderne, gerade
59 BERNHEIM 1960: 5; siehe ebenfalls DROYSEN 1943: 10. 60 Beispielhaft DROYSEN 1943: 13: „Natürlich kann man, wie bemerkt, auch von Dingen, welche die dargelegte Auffassung als der Natur zugehörig bezeichnete, ihre Veränderlichkeit und die Reihenfolge ihrer Veränderung ins Auge fassen, sie nach dem Moment der Zeit betrachten; und so wird von der Geschichte der Erde, von der Entwicklungsgeschichte etwa der Raupe, es wird von der Geschichte der Erdbeben, von Naturgeschichte gesprochen. Aber man wird sagen dürfen, das ist nur vel quasi Geschichte; Geschichte im eminenten Sinn ist nur die des sittlichen Kosmos, die der Menschenwelt.“
4 Fragestellung und methodische Lösungsansätze
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durch die Literaturwissenschaften seit Ernst Robert CURTIUS61 geprägte Definition von Topik im Fokus des Forschungsinteresses62 stehen soll, sondern vielmehr der aus der Antike übernommene und bis zur Aufklärung angewendete Toposbegriff.63 In diesem Aspekt wird das gesamte Spektrum der mittelalterlichen Wissenskultur und -vermittlung angesprochen. Welche Funktion hatte die Topik als antike Methode zur Stoffauffindung innerhalb dieser Denkstrukturen inne und in welchem Umfang fand sie Anwendung in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung? Hierbei wird ein mannigfaltiges Spannungsfeld sichtbar, das im Wesentlichen aus dem Verhältnis von inventio, ordo und elocutio, also dem schulrhetorischen Prinzip von gedanklicher Konzeption und deren sprachlicher Ausformulierung besteht. Die Unterscheidung zwischen einer dialektischen Inhalts- und einer rhetorischen Ausdruckstopik64 ist im Mittelalter immer schwerer vorzunehmen. In gerade dieser methodischen Unterscheidung liegt allerdings der für die Geschichtsschreibung so maßgebliche Wirklichkeitsbezug der Topik65 verborgen. Letztlich kann ein solcher Einblick in zeitgenössische Berichtsabsichten nur über eine Dekonstruktion der Quellenaussagen bewirkt werden. Die Argumentationsziele, die Handlungsmotive und Intentionen eines Schreibers – die sogenannten causae scribendi66 – die in einem Topos zu vermuten sind, werden erst am Ende, am Darstellungsrahmen und insbesondere an der Sprachgestaltung ersichtlich. Die Unterscheidung zwischen gehaltvollem oder leerem Topos, wie es beispielhaft von Lothar BORNSCHEUER anhand
61 CURTIUS 1993: 79 f. 62 Siehe MOOS 1988: XXXVII, XLIVf.; siehe auch BORNSCHEUER 1987: 2 f., 6; BECHT-JÖRDENS 1993: 77. In Tradition von CURTIUS steht stellvertretend für die ältere Forschung auch noch Helmut BEUMANN, obwohl er dessen etwas statische Interpretation des Topos-Begriffs aufzulösen versteht. Siehe BEUMANN 1951: 338, 349 f. 63 Siehe: BORNSCHEUER 1987: 26 f.; BECHT-JÖRDENS 1993: 77 f.; BORNSCHEUER 1976: 14–17, 24; MOOS 2006: 116 f.; MOOS 1997: 133 f.; 138 f.; WIEDEMANN 1981: 235–237, 246; SCHMIDT-BIGGEMANN, HALLACKER 2007: 21–23; HAGENEIER 2004: 42–44. 64 Siehe diesbezüglich OSTHEEREN 2009: 691 f. Zu einem späteren Zeitpunkt dieser Arbeit wird auf die explizite Bedeutung von Ausdrucks- und Inhaltstopik noch eingegangen. Für ein vorläufiges Verständnis sei darauf verwiesen, dass mit Ausdruckstopik der rhetorisch-materielle Topos in römischer Tradition (Cicero, Rhetorica ad Herennium, Quintilian etc.) verstanden wird, dessen bekannteste Ausformung der sogenannte Locus communis ist. Die Inhaltstopik beschreibt indes das ursprüngliche formallogische Vorgehen zur Argumentationsfindung im Sinne logischer Schlüsse (Syllogismen), wie es maßgeblich durch Aristoteles überliefert wurde. Siehe diesbezüglich die sehr informativen Lexikonartikel: WAGNER 2009: 605–626; OSTHEEREN 2009; GETHMANN 1996: 319–321; PRIMAVESI et al. 1998: 1263–1288. 65 Siehe beispielhaft OEXLE 1987: 76 f., 82; ebenfalls empfehlenswert KÖSTLER 1993: 50–64; FERN 2012; KERSCHER 1993: 65–71; ebenfalls methodisch wertvoll: PADBERG 1997: 35–70, bes. 68–70; LOTTER 1976: 69, 97. 66 Hinsichtlich der mittelalterlichen Interpretation der causa scribendi siehe z. B. BRINKMANN 1980: 8–10.
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der Merkmale Potentialität, Intentionalität, Symbolizität sowie Habitualität67 eines Topos erarbeitet worden ist, wird erst dort, am lesbaren Ergebnis, nachvollziehbar. Die literarische Gattung bestimmt den Inhalt68 in gleicher Weise, wie „feste Denkformen [. . .] [durch starre] Sprachformen tradiert“69 werden. Dieser Aspekt ist umso mehr von Bedeutung, wenn das Medium Sprache die lebendige Funktion einer sogenannten Mutter- und Volkssprache verloren hat und nur als pragmatische „Fremdsprache“ praktiziert wird.70 Dieses Schicksal ist unverrückbar mit dem Lateinischen im Mittelalter verbunden. Die sukzessive Herausbildung von Sprachund Formulierungsgewohnheiten als Ausdruck normierter Deutungsweisen sollte bezüglich mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen als gegeben angesehen werden. Das Abrutschen ins Klischee, wie es die oftmals gleichlautende Darstellung von seismischen Ereignissen in den annalistischen und erzählenden Quellen vermuten lässt, bedeutet jedoch keinesfalls, dass Erdbeben prinzipiell gleich verstanden und gedeutet wurden. Es zeigt vielmehr die individuelle Fähigkeit und den Willen zur Interpretation auf, die in der geistigen und literarischen Bildung begründet liegen. Das Maß an Schriftlichkeit ist somit für das zeitgenössische Verständnis essentiell. Doch selbst das heute negativ besetzte „Klischee“ bedarf einer fallbezogenen Aufwertung. Wie wäre es sonst in einem mehrheitlich bildungsfernen Umfeld, wie es das Mittelalter nun einmal unzweifelhaft war, möglich gewesen, Inhalte zu vermitteln? Ist es dem Klischee nicht erst zu verdanken, dass Sprachaussagen für ein unbelesenes Publikum verständlich, das heißt anschaulich, gemacht werden können? Schon Augustinus weist auf diesen Aspekt hin.71 Die klösterliche Ausbildung im Trivium, sprich die Schulung in Grammatik, Rhetorik und Dialektik, wohlgemerkt unter biblisch-christlicher Diktion und auf die kirchliche Anwendung in Predigt und Exegese hin ausgerichtet, erweist sich vor diesem Hintergrund als wesentlicher Einstieg ins Thema. Hier werden die Möglichkeiten und
67 BORNSCHEUER 1976: 91–108, bes. 105 u. 108. 68 Dies ist anschaulich am Beispiel historiographischer Quellengattungen erkennbar. Siehe GOETZ 1999: 110–135. Entsprechendes ist schon bei Quintilian zu lesen. Siehe Quintilianus: Institutio oratoria, X, 2. 21–22: Id quoque vitandum, in quo magna pars errat, ne in oratione poetas nobis et historicos, in illis oratores aut declamatores imitandos putemus. sua cuique proposito lex, suus decor est. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, II, 493, 495. 69 OSTHEEREN 2009: 691. 70 Hierzu bereits BERNHEIM 1960: 416; ebenso CURTIUS 1993: 319. 71 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. X (24.), 133: Quid enim prodest locutionis integritas, quam non sequitur intellectus audientis, cum loquendi omnino nulla sit causa, si, quod loquimur, non intellegunt, propter quos ut intellegant loquimur? Qui ergo docet, vitabit verba omnia quae non docent; et si pro eis alia quae intellegantur integra potest dicere, id magis eliget. Sowie ebd.: III, cap. XVII (25.), 92 f.: Saepe autem accidit ut, quisquis in meliori gradu spiritalis vitae vel est vel esse se putat, figurate dicta esse arbitretur, quae inferioribus gradibus praecipiuntur. [. . .] In suo quippe genere curandum est, quod ad melius genus non potest erigi. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 169, 120 f.
4 Fragestellung und methodische Lösungsansätze
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auch Grenzen sichtbar, innerhalb derer geistiges Arbeiten im Früh- und Hochmittelalter wirksam wurde. Die im lateinischsprachigen Europa innerhalb der Klöster und Stifte vermittelten Grundlagen spiegeln einen allgemeinhin übertragbaren Wissens- und Erfahrungshorizont wider, der durch einen Kanon ausgewählter Werke angezeigt wurde.72 Im Wesentlichen bestand diese sogenannte „Schullektüre“ aus spätantiken und frühmittelalterlichen Arbeiten, welche bis zur Scholastik weitestgehend inhaltlich konstant blieb und nur marginal verändert wurde. Das hohe Maß der Verbreitung dieser Schriften, seien sie von Cicero,73 Boethius,74 Cassiodor,75 Martianus Capella,76 Augustinus,77 Isidor,78 Hrabanus Maurus79 oder Alkuin80 verfasst, um nur eine Auswahl zu nennen, erlaubt die Rekonstruktion eines allgemein annehmbaren Mindestmaßes an argumentativer und logischer Kompetenz, die innerhalb der zumeist kirchlichen Bildungselite bestand. Auf diesem Wissen und diesen Fähigkeiten gilt es bezüglich der Untersuchung mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen konkret aufzubauen. Generell ist die Ausbildung der Geistlichen der methodische Ausgangspunkt dieser Arbeit. Schließlich wurde hier nicht nur das rein technische Wissen des Triviums, also richtiges Schreiben, Sprechen und Denken,81 vermittelt. In gleicher Weise wurden auch die Inhalte gepflegt und tradiert, die schließlich sogar zu einer Epochenbezeichnung, nämlich der des „christlichen Mittelalters“, beitrugen. Die Heilige Schrift galt im Mittelalter als oberste Autorität. Die Vulgata82 hat durch ihre Sprache, ihr Studium sowie ihre Auslegung das geistige Leben geprägt und deshalb auch den Blick auf das Alltägliche mit allen seinen Facetten geleitet.83 Es fällt nicht schwer, in ihr den
72 Der Buchbestand einer mittelalterlichen Klosterbibliothek des 11. und 12. Jahrhunderts kann anhand des überlieferten Katalogs des Bamberger Klosters Michelsberg gut erschlossen werden. Gleichwohl es sich um ein reiches und wahrscheinlich überdurchschnittlich gut ausgestattetes Kloster handelte, besitzt der Michelsberger Katalog einen exemplarischen Charakter für die großen Abteien und Stifte des Reiches. Siehe DENGLER-SCHREIBER 1979: bes. 151–195. 73 Cicero: De inventione. 74 Boethius: De topicis differentiis. Das Werk liegt in einer englischen Übersetzung vor. Siehe Boethius’s De topicis differentiis. 75 Cassiodor: Institutiones. 76 Martianus Capella: De nuptiis. Hinsichtlich der deutschen Übersetzung siehe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur. 77 Augustinus: De doctrina christiana. 78 Isidor: Etymologiae; dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie. 79 Hrabanus Maurus: De institutione. 80 Siehe zunächst beispielhaft für sein große Werk: Alkuin: De Rhetorica et de virtutibus, 523–550. Hinsichtlich einer älteren deutschen Übersetzung siehe: Alkuins pädagogische Schriften, 83–137. 81 Mit Bezug auf die Grammatik: MAZAL 2006: I 461. 82 Zum Zwecke einer einheitlichen Zitierweise wird im Folgenden die von WEBER & GRYSON herausgegebene Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem verwendet. 83 SANDERS 1975: 331–340; ebenfalls ILLMER 1981: 551, 553.
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hermeneutischen Rahmen zu erkennen, in dem die Untersuchung früh- und hochmittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen erfolgen sollte. Die Maßgabe von Bildung ist in diesem Sinne in zweierlei Hinsicht zu verstehen. Einmal geht es in der oben erläuterten Weise um technische Wissens- und Kompetenzvermittlung. Zum andern ist „Bildung“ in diesem Zusammenhang wörtlich als das „Bilden von Bildern“ zu nehmen und als erkenntnisleitende Vorbedingung zu lesen. Beides bedarf einander. Dennoch handelt es sich um unabhängige Vorgänge. „Bildung“ als Prozess der Bildvermittlung wird durch die sinnliche Wahrnehmung und Beurteilung eines Ereignisses vorbestimmt. Der diesem zugrundeliegende epistemologische Vorgang leitet unseren Blick auf die Welt mittels geistiger Bilder, des Gedächtnisses, tradierter Vorstellungsweisen, aber auch durch die menschliche Phantasie an. Die Verbindung zur maßgeblich von Augustinus geprägten mittelalterlichen Zeichentheorie84 sei diesbezüglich inbegriffen und ist für den methodischen Beweisgang dieser Arbeit essentiell. Hinsichtlich des hermeneutischen Potentials der signa, gerade in Bezug auf das zeitgenössische Verständnis von Erdbeben, sei schließlich mit den Worten des Kirchenvaters gesprochen: Signum est enim res praeter speciem, quam ingerit sensibus, aliud aliquid ex se faciens in cogitationem venire.85
5 Methodische Überlegungen zur zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Eingrenzung des Bearbeitungsfeldes Wenn diese Arbeit ein annäherungsweises Verständnis der Weltsicht hinter der Formulierung terrae motus factus est (magnus) zum Anliegen hat, so sind zwei Aspekte als unmittelbar gegeben zu betrachten. Bedingt durch die sprachliche Erscheinung kann und soll sich die Untersuchung nur auf den Kulturkreis des lateinischen Mittelalters konzentrieren. Die gleichwertige Berücksichtigung eines anderen, z. B. des griechischen Sprachraums, würde den Umfang dieser Arbeit bei weitem überfordern. Nur vergleichend kann somit an passender Stelle eine Berücksichtigung stattfinden. Sprache ist mehr als nur die Aneinanderreihung von Lauten. Sie ist der Zugang zu einer jeweils expliziten Sprachgemeinschaft, die individuelle Ausdrücke für die Lebenswirklichkeiten der Menschen gefunden hat.86 Anlass dieser Arbeit ist somit die Untersuchung einer lateinisch formulierte Weltsicht, die zur Herausbildung und Anwendung von typischen historiographischen Erdbebenbeschreibungen angelei-
84 Einen guten und kritischen Überblick zur augustinischen Zeichentheorie verschafft z. B. MAYER 1974: 100–112. 85 Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. I (1.), 32; dt. Übersetzung siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 46. 86 GADAMER 2010: 447, 450.
5 Methodische Überlegungen
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tet hat. Aufgrund der Verschiedenheit von Sprachen sollte die griechische Sprachnormierung des Begriffs daher keineswegs analog zu lesen sein. Schon die beiden Kirchenväter Hieronymus87 und Augustinus88 sind auf diesen Sachverhalt eingegangen. Das Lateinische hat in diesem Sinne eine ganz besondere Bedeutung. Als Kultur- und Gelehrtensprache ist es durch die Schaffung und tendenzielle Bewahrung einer gemeinsamen Sprachbasis in West- und Mitteleuropa, in dem das Wissen und der Geist der Antike in grundlegender Weise weiterbestand, ohne immer sofort augenscheinlich zu werden, besonders reizvoll, um ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Strukturen des Denkens nachzeichnen zu können. Anderseits handelt es sich durch die Limitierung auf einen lateinischsprachigen Anwenderkreis aus einer mentalitäts- und alltagshistorischen Perspektive um ein nur bedingt aussagefähiges Untersuchungsmedium, da die mündlichen Denk- und Handlungsweisen der analphabetischen Mehrheit in Bezug auf mittelalterliche Erdbeben nur unzureichend einfließen können. Somit muss sich also auch diese Arbeit den Vorwurf gefallen lassen, nur eine wissenschaftliche Elitengeschichte vorzunehmen und kein im heutigen Verständnis gesamtgesellschaftliches Abbild darzustellen. Neben der Ausrichtung auf den lateinischen Kulturkreis ist für die Beschreibung terrae motus factus est (magnus) eine zweite gegebene Bedingung maßgeblich. Es wurde eingangs erläutert, dass im Gegensatz zur antiken und neuzeitlichen Erdbebentheorie eine vergleichende Untersuchung für das Mittelalter bislang weitestgehend ausblieb. Schaut man in die parametrisierten Kataloge der Seismologie, so verdeutlicht sich dieses Desiderat insofern, dass gerade für das Mittelalter kaum verlässliche Intensitäten vergeben werden.89 Sicherlich ist die mitunter problematische Quellenlage hierfür ursächlich, dennoch ist der schwierige Umgang mit den zeittypischen Beschreibungen für diesen Umstand mit verantwortlich. Der zeitliche Rahmen dieser Arbeit folgt daher auch konkret den Bedürfnissen der Parametrisierung. Die schwerpunktmäßige Betrachtung des Früh- und Hochmittelters konzentriert sich gerade auf die Epoche, in welcher die Historische Seismologie eine sehr begrenzte Kenntnis über stattgefundene Erdbeben besitzt. Die Festlegung das Zeitfenster mit der Hochscholastik, das heißt in der Mitte des 13. Jahrhundert, zu schließen, ist jedoch neben der exemplarischen Stoffauswahl von Beispielerdbeben ebenfalls konzeptionell bedingt. Eine zeitliche Öffnung geschieht daher nur in Ausnahmen. Die Rekonstruktion eines historischen Modells zeittypischer Wahrnehmungs-, Vorstellungs-
87 Hieronymus: Epistulae, LVII, cap. 11, 4, 524: Quanta enim apud Graecos bene dicuntur, quae, si ad verbum transferamus, in Latino non resonant, et e regione, quae apud nos placent, si vertantur iuxta ordinem, apud illos displicebunt! Dt. Übersetzung siehe Hieronymus: Ausgewählte Briefe, 284. 88 Augustinus: De vera religione, cap. L (99.), 251: Habet enim omnis lingua sua quaedam propria genera locutionum, quae cum in aliam linguam transferuntur, videntur absurda. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über die wahre Religion, 167. 89 Siehe SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011; ALEXANDRE 1990 sowie die tabellarische Auflistung bei HAMMERL, LENHARDT 2013: 151 f.
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I Einleitung
und schriftlich fixierter Erklärungsweisen verlangt, unter Vorbehalt der bereits angesprochenen methodischen Bedenken eines derartigen Vorhabens, ein konstantes Bestehen auf wesentlichen Grundannahmen. Ein Wandel hinsichtlich der Schreib- und Aufzeichnungsgewohnheiten, nicht nur in Bezug auf die Auswahl literarischer Gattungen, sondern auch in der Art und Weise der Reflexion durch den Autoren- sowie Adressatenkreis, würde eine Neuanpassung des Ansatzes erfordern. Während der Scholastik ist solch eine Ausweitung des Denkens aufgrund der lateinischen Rückübersetzungen der verlorengegangenen Teile des aristotelischen Organon feststellbar. Die dadurch implementierten neuen Möglichkeiten der dialektischen Problem- und Sachlösung würden eine derartige Anpassung des Zugangs verlangen. Es ist somit ersichtlich, dass das Maß an Schriftlichkeit, so restriktiv es in vielen Belangen für die historische Erforschung des Abschnitts vom ausgehenden 8. bis zur Mitte des 13. Jahrhundert ist, hinsichtlich des hier vorgestellten Anliegens durchaus methodisch positiv zu bewerten ist. Der weitestgehend konstante Kanon logischen, grammatischen und rhetorischen Schriftguts erleichtert die Annahme eines allgemeinen Handlungsrahmens, in dem für jeden, der das mittelalterliche Bildungssystem durchlaufen hatte, die Möglichkeiten gegeben schien, die Beobachtungen seiner Umwelt gemäß dem eigenen Horizont erklärbar zu machen. Die Kommentierungen und lateinischen Übersetzungen der bis zur Scholastik verwendeten aristotelischen Schriften (Kategorien90 und De interpretatione91) waren im Wesentlichen ein Werk des Neuplatonismus.92 Porphyrios93 sowie besonders Boethius schufen das logische, im ersten Sinne sprach- und erkenntnistheoretisch94 ausgerichtete Grundgerüst des Früh- und Hochmittelalters, welches im Verlauf der karolingischen Renaissance durch Übersetzungen z. B. des Pseudo-Dionysius Areopagita, unter anderem durch Johannes Scottus Eriugena,95 partiell ergänzt
90 Aristoteles: Categoriae; dt. Übersetzung: Aristoteles: Kategorien. 91 Aristoteles: De interpretatione vel Periermenias; dt. Übersetzung: Aristoteles: Peri hermeneias. 92 BÜHLER, KANN 2005: 185 f. Das logische Werk des Aristoteles wurde ebenfalls durch eine Bearbeitung des nordafrikanischen Gelehrten Apuleius von Madaura tradiert. Stark an Aristoteles angelehnt und mit stoischen Auffassungen verbunden war es ebenfalls im Mittelalter verbreitet. Zur kritischen Edition siehe Apuleius von Madaura: Peri Hermeneias, 189–215 sowie The Logic of Apuleius: bes. 5. 93 Der Neuplatoniker Porphyrios verfasste eine Einleitung zu Aristoteles’ Kategorien, welche von Marius Victorinus und ebenso von Boethius ins Lateinische übertragen wurde. Victorinus’ Übersetzung gilt heute allerdings als verloren. Siehe COLISH 1985: 269; BÜHLER, KANN 2005: 170 f., 175. Porphyrios Schrift Isagoge erläutert die philosophischen Grundbegriffe Gattung, Art, Differenz, Proprium und Akzidenz und zählte, den Kategorien des Aristoteles vorangesetzt, zu den meist gelesenen logischen Werken des Mittelalters. Siehe Boethius: Trost der Philosophie, IX–X. Hinsichtlich der kritischen Edition der Übersetzung des Boethius siehe: Porphyrios: Isagoge, 1–31. Hinsichtlich einer deutschen Übersetzung siehe: Porphyrius: Einleitung in die Kategorien, 1–26. 94 BÜHLER, KANN 2005: 178. 95 Die Werke De mystica theologia, De divinis nominibus, De ecclesiastica hierarchia und De caelesti hierarchia des sogenannten Pseudo-Dionysius Areopagita waren im Mittelalter im Corpus Dio-
5 Methodische Überlegungen
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wurde. Hier zeichnen sich der Ansatz und die Hilfsmittel zur formallogischen Erklärung von Erdbeben im Mittelalter ab. Bevor eine „Horizontverschmelzung“ im Sinne GADAMERS96 mit unserer modernen Perspektive, als einem angestrebten Ziel dieser Arbeit, stattfinden kann, ist die Rekonstruktion dieser zeitgenössisch-mittelalterlichen Weltsicht unabdingbar. Insbesondere Boethius sei an dieser Stelle hervorgehoben. Sein von der Stoa, dem Platonismus und dem Christentum durchdrungenes Werk,97 ob nun als Übersetzer, Kommentator oder christlicher Philosoph, prägte nicht nur das logische Denken des Mittelalters bis zur Scholastik, sondern auch darüber hinaus. Er ist für die Entwicklung des mittelalterlichen Triviums und für die Theologie des Mittelalters von ähnlichem Rang, wie es die Kirchenväter und Kirchenlehrer, hießen sie nun Hieronymus, Augustinus oder Gregor der Große, waren.98 Auch der historiographische Prozess, den die Verschriftlichung eines Erdbebens durchläuft, wird von der Grundannahme einer vorhandenen logischen Urteilsfindung und Artikulation im mittelalterlichen Denken bestimmt. Durch diese Mittel vergegenständlicht sich der Vorgang vielmehr selbst zum Teilnehmer. Besonders die Schrift De topicis differentiis des Boethius macht dies wirkmächtig deutlich. Seine grundlegende Arbeit zu Beweisgang und Argumentationsführung tradierte für das Mittelalter die Inhalte der verlorenen Topik des Aristoteles und verband sie mit dem rhetorisch-materiellen, d. h. sprachlich normierten Topik-Begriff Ciceros und Quintilians.99 Boethius verstand die Topik nicht nur als Teil von Logik und Rhetorik,100 sondern definierte in dieser Schrift ebenso die Mittel, welche mittelalterliche Geschichtsschreibung möglich machten.101 Als programmatische Bedingung dieser Arbeit wurde die lateinische Sprache bestimmt. Aus dieser Feststellung ergeben sich weitere Grundannahmen: Zum einen determiniert das Lateinische für den definierten Zeitraum von der karolingischen
nysiacum zusammengefasst, welcher unter anderem von Hilduin und Johannes Scottus Eriugena aus dem Griechischen übersetzt wurde. Siehe diesbezüglich folgende Ausgabe: Dionysius Areopagita: Dionysiaca. Hinsichtlich einer älteren Ausgabe des von Johannes Scottus Eriugena übersetzten Textes siehe: Joannis scoti versio operum S. Dionysii Areopagitae. Hinsichtlich der kritischen Edition der griechischen Ausgabe siehe: Pseudo-Dionysius Areopagita: De Divinis Nominibus; PseudoDionysius Areopagita: De Coelesti Hierarchia, De Ecclesiastica Hierarchia, De Mystica Theologia, Epistulae. 96 Siehe GADAMER 2010: 312. 97 BÜHLER, KANN 2005: 177 f. 98 BÜHLER, KANN 2005: 173; Boethius: Trost der Philosophie, X. 99 Siehe Boethius’s De topicis differentiis: 16 f., 23. 100 Siehe beispielhaft Boethius: De topicis differentiis, 1205C: verum id multo magis ut dialecticos locos a rhetoricis segregemus. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 79. 101 Boethius: De topicis differentiis, 1205C-D: Dialectica facultas igitur thesim tantum considerat. Thesis vero est sine circumstantiis quaestio. Rhetorica vero de hypothesibus, id est de quaestionibus circumstantiarum multitudine inclusis, tractat et disserit. Circumstantiae vero sunt: quis, quid, ubi, quando, cur, quomodo, quibus adminiculis. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 79.
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I Einleitung
Bildungsreform bis zur Scholastik des beginnenden 13. Jahrhunderts eine bildungssprachlich überwiegend monoglott agierende, maßgeblich kirchliche Bildungselite in West- und Mitteleuropa. Zum anderen kondensierte die fragmentarische Bewahrung der griechischen Sprachkenntnis die Verfügbarkeit des antiken Wissens um die griechische Logik auf einen kleinen Kanon an übersetzten Schriften. Inhaltlich konserviert, jedoch quantitativ gepflegt und in vielen Kloster- sowie Stiftsbibliotheken vorhanden, wird hier ein allgemeinhin annehmbarer spezifischer Wissenshorizont für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit ersichtlich und anwendbar. Die bevorzugte Verwendung des Lateinischen bedingt gleichfalls das Corpus der annalistischen und historiographischen Quellen zu Erdbeben. Eine volkssprachige Geschichtsschreibung, welche seismische Ereignisse thematisiert, ist indes für den gewählten Zeitraum nicht bekannt.102 Ein Blick auf die Ausbreitung des lateinischen Kulturkreises veranschaulicht, dass es sich um einen überaus heterogenen, an sich zu weit angelegten Bereich für die Bearbeitung in der vorliegenden Arbeit handelt. Für die Auswahl des Untersuchungsrahmens sind daher weitere Aspekte maßgeblich. Aus seismologischer Perspektive ist das Gebiet West- und Mitteleuropas hinsichtlich der seismischen Aktivität überaus different. Regionen mit einer relativ hohen Anzahl starker Erdbeben, wie Norditalien, Österreich oder die Schweiz, stehen Gebiete mit seismisch schwacher bis mittelstarker Aktivität gegenüber.103 Es erübrigt sich zu betonen, dass dieser determinierte Sachverhalt vor dem Hintergrund einer gemeinsamen, durch die lateinischen Sprache getragenen Weltsicht zu einem regional unterschiedlichen Umgang mit Erdbeben beigetragen hat,104 der nicht nur die allgemeine Wahrnehmungsweise, sondern auch besondere historiographische Aufzeichnungsgewohnheiten beeinflusste.105 Der diskutierte Forschungsstand hat gezeigt, dass die historische Forschung bislang maßgeblich den großen zentraleuropäischen Erdbeben des Mittelalters, also den Ereignissen in Verona 1117, Kärnten 1348 und Basel 1356, Aufmerksamkeit schenkte. Bedingt durch die gute Überlieferungslage handelt es sich bei diesen Erschütterungen allerdings um Ausnahmeerscheinungen, welche zudem ohnehin in seismisch stark aktiven Regionen stattgefunden haben. Wie gestaltete sich jedoch der historische Umgang mit Erdbeben und deren schriftliche Tradierung, z. B. in Form der Phrase terrae motus factus est (magnus), in seismisch schwächer aktiven Gebieten? Hat hier aufgrund der Außergewöhnlichkeit und einer vermeintlich besonders prädestinierten Wahrnehmung von Erdbeben als memorabile vielleicht eine andere Form der verschriftlichten Erinnerung stattgefunden? Boethius
102 Volkssprachliche Erwähnungen von Erdbeben sind dennoch in christlichen Texten, wie dem althochdeutschen Tatian, überliefert. Siehe diesbezüglich die Argumentation in Kap. III. 2. 2. 103 Diesbezüglich sei ein Blick in moderne parametrisierte Erdbebenkataloge (z. B. EMEC und SHEEC) empfohlen. 104 Siehe beispielhaft DINZELBACHER 1996: 11. 105 SCHELLBACH 2014: 52 f.
6 Aufbau der Arbeit
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selbst ist diesem Aspekt bereits in seinem philosophischen Vermächtnis, der Philosophiae consolatio, in Versform nachgegangen und belegt den speziellen Reiz des Nicht-Alltäglichen. Seine Worte: Hic enim causas cernere promptum est, / illic latentes pectora turbant. / Cuncta quae rara provehit aetas / stupetque subitis mobile vulgus, / cedat inscitiae nubilus error, / cessent profecto mira videri!106 verdeutlichen in klarer Weise den Dualismus zwischen dem Unbekannten und dem Bekannten. Der erfahrungsbasierte Übergang vom Außergewöhnlichen zum Normalen scheint zu allen Zeiten erkenntnistheoretisch festgelegt zu sein. Eine exemplarische Eingrenzung ist daher für das hier dargelegte Thema umso notwendiger. Das Heilige Römische Reich in seinen nordalpinen Grenzen dürfte für ein solches Vorhaben in besonderen Maßen geeignet sein und definiert somit die Auswahl der historiographischen sowie annalistischen Beispiele mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen. Die Katalogisierung des hiesigen historischen Seismizitätsgeschehens zeigt eine moderate seismische Aktivität auf, die bei einer hohen Anzahl von überlieferten Erdbeben, wir sprechen von etwa 70 Ereignissen während des Untersuchungszeitraums (siehe Abb. 1), einen mittelstarken Intensitätsbereich nur selten übersteigen lässt.107 Es liegt ein durchaus beachtliches Corpus von über 300 veröffentlichten Quellen vor, das jedoch ausgerichtet auf die speziellen Fragestellungen und Interessen der Historischen Seismologie, von Seiten der Mediävistik bisher nur in Ansätzen quellenkritisch bearbeitet und entschlüsselt worden ist. Hierzu möchte diese Arbeit einen Beitrag leisten.
6 Aufbau der Arbeit Die zielführende Rekonstruktion des früh- und hochmittelalterlichen Verständnisses von Erdbeben, wie es in der schriftlichen Überlieferung dieser Zeit zum Ausdruck kommt, erfordert ein strukturiertes Vorgehen. Insofern vermittelt der Untertitel dieser Arbeit bereits einen ersten methodischen Ablaufplan. Bevor von einer originär mittelalterlichen Traditionsbildung gesprochen werden kann, die sich in der historiographischen oder annalistischen Anwendung spezifischer Formulierungsweisen zu Erdbeben materialisiert, ist deren Ursprung in älteren Wissens- und Erfahrungsbeständen zu erfassen. Traditionen benötigen stets Vorbilder und Anknüpfungspunkte, um Bezugspunkt für weiterführende oder gar opponente Denk- und Handlungsmuster zu sein. Diese Arbeit fühlt sich in ihrer Durchführung einem hermeneutischen Prinzip verpflichtet, welches Hans-Georg GADAMER als Verstehen – Auslegen – Anwenden108 106 Boethius: Philosophiae consolatio, IV, cap. 5, M. V., 78; dt. Übersetzung siehe Boethius: Trost der Philosophie, 241. 107 Auf die zum Teile hohen Unsicherheiten bei der Intensitätsbestimmung mittelalterlicher Erdbeben wurde bereits an anderer Stelle eingegangen. 108 GADAMER 2010: 312–316.
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I Einleitung
Abb. 1: Darstellung des dieser Arbeit zugrunde liegenden Kataloggebiets mit allen zwischen 782 und 1249 historisch-kritisch bewerteten seismischen Ereignissen.
für die moderne Wissenschaftstheorie benannte. Die inhaltliche Gestaltung dieser Arbeit versucht diese Herangehensweise aufzugreifen und durch die Bildung verschiedener Themenblöcke den Ursprung, das Verständnis und die Anwendung von Erdbebenbeschreibungen in der früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung fassbar zu machen. Demzufolge wird der erste inhaltliche Schwerpunkt dieser Arbeit durch formgeschichtliche Fragestellungen bestimmt. Ausgehend von der Rekonstruktion von
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Erdbebenbeschreibungen in römisch-antiken Quellen, gilt es die narrativen Wurzeln des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs zu bestimmen. Der sprachgeschichtliche Ansatz dieses Themenblocks bezweckt, das Spektrum jener mittelalterlichen Termini in früh- und hochmittelalterlichen Quellen abzubilden, die zur Benennung des Faktums Erdbeben herangezogen wurden. Anforderung an diese Seiten ist es, Gemeinsamkeiten mit bestehenden Beschreibungsweisen zu benennen. Gleichzeitig ist auf die narrativen Unterschiede zu schauen und dementsprechend regionale sowie zeit- und gattungsspezifische Schreibgewohnheiten herauszuarbeiten. Mittels dieses form- und historiographiegeschichtlichen Statusberichts, der durchaus den Zweck eines Handbuchs erfüllen soll, werden die für die weitere Untersuchung relevanten, historiographischen Traditionsbildungen und sprachlichen Formalisierungen freigestellt. Um jedoch den Ursprung und das Ausmaß der sprachlichen Normierung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs aussagekräftig bewerten zu können, ist ein Abgleich mit zeittypischen Schreib- und Beschreibkompetenzen unausweichlich. Diesen Zweck erfüllt die methodische Ausrichtung der anschließenden Kapitel. In Anlehnung an das mittelalterliche Trivium ist der mittelalterliche Erdbebenbegriff gemäß logischer, grammatischer und rhetorischer Gesichtspunkte zu erforschen, um dessen spezifische Anwendung in der früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbeschreibung zu erfassen. Auf diese Weise wird ein Blick hinter das eigentliche Narrativ angestrebt und dieses in den Kontext des zeittypischen Wissens- und Erfahrungshorizonts gesetzt. Es gilt, zumindest annäherungsweise, den Rahmen mittelalterlichen Denkens auszuloten, in dem Mittel und Möglichkeiten zur schriftlichen Vermittlung von seismischen Ereignissen zu ihrer Entfaltung gelangten. Somit hat besonders das Kapitel zur formallogischen Konstitution des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs eine Schlüsselrolle. Hier wird die philosophische Tiefe mittelalterlicher Weltauslegung ersichtlich, ohne die das Argument Erdbeben sowie dessen zeichenhafte Verweisfunktion in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung kaum plausibel vermittelt werden kann. Der Leser wird hier mit den zeitgenössischen Werkzeugen zur Welterklärung bekannt gemacht, welche das Früh- und Hochmittelalter in seiner maßgeblich neuplatonischen Unterscheidung zwischen mundus sensibilis und mundus intelligibilis für die Sinndeutung des Phänomens Erdbeben nutzte. Wenn es einige Seiten voran in grundlegender Weise lautete, was es eigentlich im Früh- und Hochmittelalter hieß, Geschichte gerade auch mit Blick auf Naturereignisse wie Erdbeben zu verfassen, so sind hiermit essentielle Fragen der technischen Arbeitsweise, aber auch von Aufgabe und Geltung mittelalterlicher Geschichtsschreibung angesprochen. Im Kapitel „Das Streben nach Glaubwürdigkeit“ wird diesbezüglich der Fokus auf die antike Rhetorik gelegt. Welche sprachlichen Mittel machten sich die Gelehrten unserer Untersuchungszeit aus diesem Lehrgebäude zu eigen, um dem Anspruch der historiographischen narratio nach grammatisch konziser und aussagefähiger, aber gleichzeitig rhetorisch anschaulicher und überzeugender Inhaltsver-
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mittlung von seismischen Ereignissen Genüge zu tun? Folglich wird eine Evaluation der deskriptiven Qualität des historischen Faktums Erdbeben angestrebt. Die Bestimmung spezifischer narrativer und argumentativer Wertigkeiten der zeittypischen mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen ermöglicht es, robuste Schlussfolgerungen hinsichtlich annalistischer und historiographischer Berichtsintentionen der Schreiber zu ziehen. In diesem Kapitel wird schwerpunktmäßig die ereignisgeschichtliche und die argumentative Relevanz von Lokalisierungsbezeichnungen und Stärkeangaben in Erdbebenbeschreibungen untersucht. Hiervon wird sich auf lange Sicht eine präzisere Vergabe von makroseismischen Intensitäten sowie eine Qualitätsverbesserung der seismologischen Langzeitdaten erhofft. Ein zentrales Anliegen dieses Themenblocks besteht darin, die Arbeitsweise mittelalterlicher Geschichtsschreibung hinsichtlich des Faktums Erdbeben offenzulegen und diese in den Kontext spezifischer rhetorischer Argumentationsstrategien zu setzen. Wie konnte die mittelalterliche Geschichtsschreibung das Interesse und die Aufmerksamkeit seiner Adressaten gewinnen, ohne hierbei den Anspruch nach wahrer und glaubwürdiger Vergangenheitsvermittlung zu übergehen? Diese Praxis, die wir als eine Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik bezeichnen, werden wir anhand mittelalterlicher Überlieferungen von sogenannten Falschbeben sowie dem Deutungsmuster des „schrecklichen Erdbebens“ detailliert ausführen. Der folgende Themenbereich versteht sich als Synthese aller bisherigen Ergebnisse und zielt gänzlich auf das mittelalterliche Verständnis der Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est magnus ab. Die methodische Herangehensweise versucht dabei die aus heutiger Perspektive als selbstverständlich angenommene Kluft zwischen Geschichtsschreibung und christlicher Exegese zu überbrücken. Schließlich ist diese Differenz für das Mittelalter keineswegs gegeben. Ausgehend von dem Einheitsgedanken des christlichen Kosmos werden durch diese Studie verschiedene Auslegungsstufen des christlich-mittelalterlichen „Arguments Erdbeben“ sichtbar gemacht. Anhand zahlreicher Beispiele wird hervorgehoben, wie sich innerhalb des hermeneutischen Horizonts des sogenannten vierfachen Schriftsinns die argumentative und faktische Verwendung von Erdbeben entfaltet. In diesem Kapitel wird gerade auch in der Untersuchung von lateinischen Erdbebenbeschreibungen im Alten und Neuen Testament die grundlegende mittelalterliche Interpretation von Erdbeben herausgearbeitet, welche ganz entscheidend die narrative und inhaltliche Normierung von terrae motus factus est magnus vorangetrieben hat. Die Eruierung der Toposhaftigkeit mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen bildet den Einstieg des Schlusskapitels. In resümierender Weise wird hier die Existenz eines spezifisch-mittelalterliche Erdbebentopos benannt und dessen Aussage, Funktion und Bedeutung für die mittelalterliche Weltsicht bestimmt.
II Bilder der Erschütterung – Erdbeben in der Geschichtsschreibung des Früh- und Hochmittelalters Ecce sunt caelum et terra, clamant, quod facta sint; mutantur enim atque variantur.
Sieh, Himmel und Erde sind. Indem sie sich wandeln und verändern, rufen sie, dass sie gemacht sind.
(Augustinus: Confessiones, XI, cap. IV (6.))1
1 Von der Beobachtung zur sprachlichen Variation – die sprachgeschichtlichen Ursprünge des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs Nam dum videris unde ortum est nomen, citius vim eius intellegis. Omnis enim rei inspectio etymologia cognita planior est.2
Wirkmächtig für das gesamte lateinische Mittelalter formuliert Isidor von Sevilla in diesen Worten den konzeptionellen Anspruch seiner in den Etymologiae verfassten Welterklärung. Das Wissen um die Herkunft eines Wortes oder eines Ausspruchs hat zu allen Zeiten das geistige Denken gleichsam angeleitet, aber ebenso zu falschen Schlussfolgerungen verführt.3 Auch wenn das meiste schon von denen festgelegt worden sei, die die Sprache gebildet haben, wie der römische Rhetor Quintilian schreibt,4 so zeigt der Vorgang der Begriffsbildung, dass in der Sprache ein unerschöpfliches Potential zur begrifflichen Differenzierung angelegt ist und zu einer „Vielheit möglicher Benennungen“ anregt.5 Der Vorgang der Definition, also der sprachlichen und inhaltlichen Normierung, ist hiervon unmittelbar eingenommen. Die Wesensabgrenzung eines Sachverhalts in Gestalt kurz und bündig6 aggregierter 1 Augustinus: Confessiones, XI, cap. IV (6.), 197; dt. Übersetzung siehe Augustinus: Bekenntnisse, 571. 2 Isidor: Etymologiae, I, cap. XXIX, 2; dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 52. 3 KINDERMANN 2005: 283–285. Ebenso mit einer Betonung der christlichen Etymologie für das Mittelalter: SANDERS 1975: 334 f. 4 Quintilianus: Institutio oratoria, VIII, 6. 31: Et sunt plurima ita posita ab his, qui sermonem primi fecerunt. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, II, 231. 5 GADAMER 2010: 439; siehe ebenfalls Eucherius von Lyon: Formulae spiritalis intellegentiae, 52 f., V. 844–846. 6 Rhetorica ad Herennium: IV, cap. XXV, 242: Definitio est, quae rei alicuius proprias amplectitur potestates breviter et absolute; dt. Übersetzung siehe ebd.: 243; Boethius: De topicis differentiis, 1196C: Diffinitio vero est oratio quae uniuscujusque rei quidem esse designat. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 64. https://doi.org/10.1515/9783110620771-002
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II Bilder der Erschütterung
Eigenschaften war im Sinne antiker Rhetorik und mit ihr der mittelalterlichen Traditionsbildung eng mit der Etymologie verbunden.7 Wortschöpfung verstand sich als analoge Applikation der sinnlich wahrgenommenen Umwelt und erklärt, um Quintilians anfangs zitierten Satz zu beenden, dass für ‚mugitus‘ et ‚sibilus‘ et ‚murmur‘ inde venerunt8. Die „Spiegelfunktion“9 von Sprache, welche in diesen exemplarisch gewählten Begriffen zum Ausdruck kommt, soll auch den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit unmittelbar berühren. Die Bildung allgemeinverständlicher Ausdrücke, und nur dies macht mündliche oder schriftliche Kommunikation möglich, leitet auf Grundlage von Beobachtung und sinnlicher Empfindung10 unmittelbar zum lautmalerischen Moment der Wortschöpfung über.11 Dieser Ursprung des Wortes im Wahrgenommenen gehört zum sprachphilosophischen Allgemeinverständnis der Antike und wurde durch Aristoteles12 sowie Donat13 bis weit in das Mittelalter tradiert.
1.1 Ähnlichkeit und Eloquenz – Lateinische Erdbebenbeschreibungen in römisch-antiken Quellen „Das Ähnliche“, schreibt Cicero in seinem zu allen Zeiten gelesenen Werk De inventione, „wird von dem vergleichbaren Aussehen oder von der zum Vergleich heranziehbaren und für ähnlich zu haltende Natur her beurteilt“.14 Die aussagenlogische Konsequenz dieser Tradition, die Apuleius von Madaura, aristotelisch gefärbt, derart bestimmte, dass die Wahl von Aussagen sich an Ähnlichkeiten orientieren sollte,15
7 Quintilianus: Institutio oratoria, V, 10. 55: praeterea finimus aut vi, sicut superiora, aut έτνμολογίᾳ; Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, I, 567, 569; siehe ebenso VII, 3, 25; Boethius: De topicis differentiis, 1187 D: Sunt etiam diffinitiones quae non a rei substantia, sed a nominis significatione ducuntur. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 50. 8 Quintilianus: Institutio oratoria, VIII, 6. 31: aptantes adfectibus vocem: nam ‚mugitus‘ et ‚sibilus‘ et ‚murmur‘ inde venerunt. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, II, 231. 9 GADAMER 2010: 429. 10 Quintilianus: Institutio oratoria, I, Prooemium. 16: Quis non etiam rusticorum aliqua de causis naturalibus quaerit? Nam verborum proprietas ac differentia omnibus, qui sermonem curae habent, debet esse communis. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, I, 11. 11 Hinsichtlich der mittelalterlichen Praxis einer Wortschöpfung aus dem Gegensätzlichen, Analogen und Ähnlichem siehe SANDERS 1975: 332 f. 12 Aristoteles: De interpretatione vel Periermenias, 1, 16a1-5, 5. 13 Siehe z. B. Donats Definition der Onomatopöie (Lautmalerei). Donat: Ars maior, 166: Onomatopoeia est nomen de sono factum, ut tinnitus aeris, clangor tubarum. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 167. 14 Cicero: De inventione, I. 42, 82: Simile autem ex specie comparabili aut ex conferenda atque assimilanda natura iudicatur. Übersetzung siehe ebd.: 83. 15 Der Begriff der Aussage definierte sich an dieser Stelle im klassischen Sinne als die Kombination von Substantiv und Verb. Siehe Apuleius von Madaura: Peri Hermeneias, IV, 193: Agnoscitur hic de pluribus declarativa, licet converse ordine rogamentum proponatur, primo, quod plura comprehendere potest declarativa quam subdita, dehinc, quod numquam vocabulo sed semper verbo terminatur,
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liegt jeder Wortschöpfung zu Grunde, die außerhalb wissenschaftlich fundierter Begriffsbildung vollzogen wird.16 Sie gilt schließlich bis in unsere heutigen Tage. In besonders prägender Weise ist sie jedoch für die sogenannten vormodernen Zeiten zutreffend. Unter der Prämisse des grammatisch und rhetorisch determinierten Anwendungsbezugs von Niedergeschriebenem findet sie schließlich als Schmuck und Variantenreichtum ihre zweckgebundene Entsprechung.17 Es verwundert daher wenig, wenn der jüngere Seneca in seiner Tragödie Troades sich dieses Verständnisses annimmt und von verborgenem, dumpf tosendem Gebrüll der Erde, einem caeco terra mugitu fremens,18 spricht. Auch abseits klassischer lateinischer Dichtung findet sich diese für das Spätlatein durchaus übliche Wendung19. In der römisch-antiken Geschichtsschreibung ist es beispielsweise der durch seinen Prodigiorum liber bekannt gewordene spätantike Autor Julius Obsequens, welcher das für ihn selbst zeitlich weit zurückliegende Erdbeben von 118 v. Chr.20 mit dem Ausdruck terra cum mugitu tremuit21 umschreibt. Mit einer abweichenden Wortwahl greift er durch ein terrae fremitus auditus22 an anderer Stelle seines Werkes erneut den lautmalerischen Ursprung dieser Beschreibungsweise auf. Sueton, einer der auch noch im Mittelalter bekannten römischen Schriftsteller, bemerkt hingegen mit phantasievoller Beobachtungsgabe: terrae tremor et assimilis quidam mugitui sonus.23 Das Erzittern der Erde klänge also wie das Rufen von Rindern. Die symbolhafte Rolle dieses bedeutenden vorchristlichen Opfertieres sei hier nur erwähnt, veranschaulicht dieses Formulierung doch in erster Linie, dass man sich bei der sprachlichen Komposition neuer Ausdrücke in der Antike nur zu gerne auf die lebenspraktische Ebene der Analogie zurückbegeben hat.24 Heute wissen
quo praecipue etiam in illis proprietatibus a pari subiectiva discernitur. Id etiam pro similitudine tenendum est, quia, ut sunt propositiones definitae et indefinitae, ita etiam constat particulas tam subiectivas quam declarativas partim definitas esse, ut homo, animal, partim indefinitas, non homo, non animal: non enim definiunt, quid sit, cum hoc non sit, sed tantum ostendunt aliud praeter hoc esse; engl. Übersetzung siehe The Logic of Apuleius: 86; ebenfalls Aristoteles: Categoriae, 7, 6b21-26, 18. 16 GADAMER 2010: 439. 17 Quintilianus: Institutio oratoria, V, 11. 5: Similitudo adsumitur interim et ad orationis ornatum. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, I, 599. 18 Seneca: Le troiane, 171, 128. 19 CONTI 2007: 60. 20 Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen und seismologischen Bewertung dieses Erdbebens siehe GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 154. 21 Obsequens: Prodigiorum liber, cap. 35, 162 f; Siehe ebenfalls CONTI 2007: 60. 22 Obsequens: Prodigiorum liber, cap. 48, 168; An dieser Stelle wird ein Erdbeben im Jahr 97 v. Chr. beschrieben, das sich wahrscheinlich in der Nähe der heute an der Adriaküste gelegenen Stadt Pesaro zugetragen hat. Siehe diesbezüglich GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 156 f. 23 Sueton: De vita Caesarum, VII Galba, cap. 18, 1–2, 271. Dt. Übersetzung siehe Sueton: Kaiserviten, 763. 24 Siehe z. B. Cicero: De oratore I, 34 (155), 58: sed etiam exprimerem quaedam verba imitando. Dt. Übersetzung siehe Cicero: Über den Redner, 127.
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wir, dass es sich bei diesem „Gebrüll“ um die tatsächlich hörbaren Erdbebengeräusche im unmittelbaren Epizentralgebiet handelt.25 Ein weiteres Beispiel aus der ebenfalls spätantiken Historia Augusta, einer der wichtigsten Quellen für die Zeit der sogenannten römischen Soldatenkaiser,26 ordnet dieses „Krachen“ und „Donnern“, für welches das Verb mugire gleichermaßen angewendet wird, einem Gewitter zu. Die Wendung terrae motus gravissimus fuit et tenebrae per multos , auditum praeterea tonitruum terra mugiente27 steht durch ihre Zuordnung von Wetterereignis und Erderschütterung gleichermaßen in der klassischen Tradition antiker Erdbebentheorie28 wie auch für das Genre der römischen Prodigien-Literatur, für die Julius Obsequens geradezu exemplarisch zu nennen ist.29 Die Beschreibung vermischt durch die synonyme Verwendung des Verbes mugire beide Geschehnisse miteinander. Die sprachliche Gestaltung folgt somit analog der eigentlichen Interpretation beider Ereignisse, die in Ursache und Wirkung in eins fällt. Die Erde „brüllt“, sei es nun aufgrund eines Erdbebens oder eines Gewitters. Auslöser bleibt in allem der „Donnerer“30 selbst. Motivgeschichtlich ist dieser Zusammenhang in Erinnerung zu behalten. Den Einzug naturphilosophischer Erklärungsweisen in die römisch-lateinische Poetik verdeutlicht unter anderem De bello civili des antiken Dichters Lucanus. Er schreibt: saepe cavas motu terrae mugire cavernas.31 Ebenso wie die zitierte Formulierung der Historia Augusta lässt sein Beispiel eine der maßgeblichen lateinischen Wendungen zur Beschreibung von Erdbeben anschaulich werden. Terrae motus oder mitunter motus terrae ist die bei weitem prägendste Formel zur Verschriftlichung von Erdbeben und wurde seit der Antike wirkmächtig ange-
25 SIEBERG 1923: 110–117, bes. 110 u. 115. 26 Die Historia Augusta ist unter quellenkritischen Gesichtspunkten ein schwierig zu bewertendes Werk. Die Vielzahl der Autoren, von denen die meisten anonym bleiben, schaffen einen heterogenen Gesamteindruck des Werkes, der die Erforschung von Schreibgewohnheiten erschwert. Siehe auch SOMMER 2004: 14. 27 Scriptores Historiae Augustae: Gallieni duo, cap. 5, 2–3, 84; dt. Übersetzung siehe Historica Augusta, 99. Es handelt sich hier um ein Erdbeben in Kleinasien im Jahr 262 n. Chr. Siehe GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 242 f. 28 WALDHERR 1997: 52–55, 63, 69; OESER 2003: 14 f. 29 BARCELÓ 1998: 101; WALDHERR 1997: 158, 218 f. 30 Hinsichtlich der Umschreibung Jupiters als „Donnerer“ siehe Martianus Capella: De nuptiis, I. 42, 17: tunc etiam ut inter alios potissimi rogarentur ipsius collegae Iovis, qui bis seni cum eodem Tonante numerantur; in Erläuterung der dritten Person erwähnt Martianus am Beispiel des Zeus: nisi forte de deo dicatur aliquid, quod de eo solo potest intellegi; ut, cum dicimus ‚pluit‘, iam potest esse verum aut falsum, cum non addamus nomen. notum est qui pluat. Ebd.: IV. 389, 130. Dt. Übersetzungen siehe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur, 58, 142. 31 Lucanus: De bello civili libri X, III, 418, 65; dt. Übersetzung siehe Lucanus: Bürgerkrieg, I, 117; ebenso Lucius Accius: Tragoediarum fragmenta, Troades, II, 133.
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wendet.32 Dennoch finden sich zunächst auch parallel etablierte, gleichwertig gebrauchte Darstellungsvarianten. Die gesamte sprachliche Varianz in der Niederschrift seismischer Ereignisse ist im klassischen Latein überaus vielseitig belegt.33 Beispielhaft sollte das schwere Erdbeben vom 5. Februar 62 n. Chr. bei Herculaneum zur Veranschaulichung herangezogen werden. Weite Teile Kampaniens wurden im Umkreis des Vesuv an diesem Tag von einem überaus schweren Erdbeben erschüttert, GUIDOBONI bewertet es immerhin mit einer makroseismischen Intensität (MSK) von I0 = IX34, so dass der schicksalhafte Untergang der betroffenen Orte Herculaneum und Pompeij bereits Jahre vor dem katastrophalen Vulkanausbruch vorweggenommen zu sein schien. Der berühmte jüngere Seneca, ein Zeitgenosse der Ereignisse, beschreibt dieses Erdbeben in ausführlichen Worten gleich zu Beginn des sechsten Buches seiner Naturales quaestiones. Das Werk ist zudem der Entfaltungsraum seiner Erdbebentheorie. Pompeios, celebrem Campaniae urbem, in quam ab altera parte Surrentinum Stabianumque litus, ab altera Herculanense conueniunt et mare ex aperto reductum amoeno sinu cingunt, consedisse terrae motu vexatis quaecumque adiacebant regionibus, Lucili, virorum optime, audivimus, et quidem hibernis diebus, quos vacare a tali periculo maiores nostri solebant promittere.35
Er schließt unmittelbar an: Nonis Februariis hic fuit motus [Regulo et Uerginio consulibus] qui Campaniam, numquam securam huius mali, indemnem tamen et totiens defunctam metu, totam magna strage vastavit. Nam et Herculanensis oppidi pars ruit, dubieque stant etiam quae relicta sunt, et Nucerinorum
32 Cicero: De divinatione, I. 78, 47; I. 97, 57; I. 101, 58; II. 31, 91; II. 120, 134; Cicero: De haruspicum, (62), 17; (63), 117; Tacitus: Annales IV, cap. 13, 1, 140; cap. 55, 2, 164; XII, cap. 43, 1, 257; cap. 58, 2, 266; XV, cap. 22, 2, 358; Seneca: Naturales quaestiones, II, cap. 1, 3, 54; III, cap. 11, 1, 121; III; cap. 29, 4, 159; V, cap. 14, 4, 217; VII, cap. 28, 3, 315; Sueton: De vita Caesarum, II Divus Augustus, cap. 47, 76; ebd.: III Tiberius, cap. 8, 115; cap. 48, 2, 137; cap. 74, 151; ebd.: VI Nero, cap. 20, 2, 232; Livius: Ab urbe condita, III, cap. 10, 6; IV, cap. 21, 5; VII, cap. 6, 1; XXII, cap. 5, 8; XXXIV, cap. 55, 4; XXXV, cap. 21, 6; Ammianus: Res gestae XVII, 7, 1, 114; XVII, 7, 13, 116; XXII, 13, 5, 280; Aurelius Victor: Liber de Caesaribus, cap. 13, 11, 92; cap. 16, 12, 95; Epitome de Caesaribus: cap. 13, 12, 149; cap. 16, 3, 152; cap. 43, 8, 171; Obsequens: Prodigiorum liber, cap. 7, 153; cap. 29, 161; cap. 45, 167; cap. 46, 167; cap. 48, 168; cap. 54, 171; cap. 59, 174; cap. 61, 175; cap. 68, 178; cap. 71, 181; Scriptores Historiae Augustae: Hadrianus, cap. 21, 5, 22; ebd.: Antoninus Pius, cap. 9, 1, 42; ebd.: Gordiani tres, cap. 26, 1, 49. 33 An dieser Stelle sei noch einmal auf den sehr informativen Aufsatz von CONTI 2007: bes. 57–62 verwiesen. 34 GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994, 409. Die ereignisgeschichtliche Untersuchung des Erdbebens erfolgt bei ihr auf den Seiten 196–210. 35 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 1, 1, 229; dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 323.
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colonia ut sine clade ita non sine querela est; Neapolis quoque privatim multa, nihil publice amisit, leviter ingenti malo perstricta. Villae vero prorutae, passim sine iniuria tremuere.36
Die Beschreibung erfolgt sachlich sowie anschaulich und wählt für die historiographische Einordnung die Wendung terrae motu sowie motus ohne terra. Das Weglassen des Substantivs terra ist, wenn auch mit wenig historiographischem Nachhall, durchaus eine antike Formulierungsgewohnheit,37 die sich vor allem bei Seneca,38 in der Historia Augusta,39 aber auch bei Plinius d. Älteren40 wiederfindet. Der unbestimmte Charakter dieser Variante scheint maßgeblich in längeren Beschreibungstexten auf, bei welchem der Tatbestand, dass ein Erdbeben stattgefunden hat, bereits erläutert wurde. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus äußert sich in seinen Annalen, allerdings auf fortgeschrittener Rezeptionsstufe,41 ebenfalls zum Erdbeben des Jahres 62 n. Chr. Auch er greift in gleicher Weise die zitierte Beschreibungsform auf und berichtet in annalistischer Kürze et motu terrae celebre Campaniae oppidum Pompei magna ex parte proruit.42 Senecas Verwendung des konjugierten Verbes tremere im Ausklang seiner Beschreibung zeigt eine weitere sprachliche Gestaltung an, die in der Verbindung von terra und tremere zu lesen ist. Neben terrae motus handelt es sich bei dem angesprochenen terrae termuit um die zweite Standardformulierung seismischer Ereignisse in lateinischsprachigen Schriftquellen der antiken Welt, wobei, wie im Falle des singulär verwendeten motus, auch tremor bzw. tremere alleinstehend für eine Erderschütterung gebräuchlich ist.43 Ganz im Sinne stoischen Denkens klassi-
36 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 1, 2, 230; dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 323. Seneca setzt die Beschreibung des Erdbebens von 62 n. Chr. an folgenden Stellen fort: VI, cap. 1, 3, 230; VI, cap. 25, 3–4, 268 f.; VI, cap. 27, 1, 270 f. 37 Siehe CONTI 2007: 59. 38 Beispielhaft: Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 1, 2, 230: fuit motus; VI, cap. 1, 11, 232: nondum mota; VI, cap. 20, 1, 259: ait enim motum aliquando spiritu fieri. 39 Scriptores Historiae Augustae: Gallieni duo, cap. 5, 4: mota est et Roma, mota Libya. Dt. Übersetzung siehe Historica Augusta, 99. 40 Plinius: Naturalis historia, II, cap. 80, 202. 41 Tacitus war zum Zeitpunkt des Erdbebens zwei Jahre alt und kann demnach nur aus mündlichen und schriftlichen Quellen, die vor allem in Inschriften vorhanden sind, von der folgenschweren Erschütterung erfahren haben. Hinsichtlich der Inschriften siehe GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994, 199–202. 42 Tacitus: Annales, XV, cap. 22, 2, 358. Dt. Übersetzung siehe Tacitus: Annalen III, 157. 43 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 11, 1, 247: Quidam ignibus quidem adsignant hunc tremorem; Dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 349; ebd.: VI, cap. 31, 1, 275: Non desiit enim assidue tremere Campania; dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 389; Lucretius: De rerum natura, VI, 577, 536: Est haec eiusdem quoque magnis causa tremoris; engl. Übersetzung siehe ebd.: 537; Plinius: Naturalis historia, II, cap. 84, 205: urbs Romas tremuit; dt. Übersetzung siehe Plinius: Naturkunde, 171; Ovid: Metamorphoses, VI, 699, 145: sollicito manes totumque tremoribus orbem. Dt. Übersetzung siehe Ovid: Metamorphosen, 208.
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fiziert Seneca44 in seinen Naturales quaestiones in schicksalsergebener Weise Erdbeben als Hauptgefahr seitens der Natur für die menschliche Existenz. Seine Feststellung sine dubio id unum periculi nobis est quod tremunt terrae, quod subito dissipantur ac superposita deducunt45 wird sicherlich auch aus der emotionalen Ergriffenheit des Selbsterlebten verständlich. Die Willkür und Unvorhersehbarkeit eintretender Erdbeben billigen dem Menschen keinerlei selbstbestimmten Handlungsspielraum zu.46 Jeder ist im Verständnis Senecas verdammt, das Ereignis über sich ergehen zu lassen. Einen Ausweg zur Bewältigung der eigenen Furcht bietet ausschließlich die Vernunft und das Wissen um die Ursachen.47 In dieser beinahe unaufgeregten Weltsicht formuliert Seneca in Antwort auf die Frage, warum Quellen bei Erdbeben aufbrechen, dass saepe tremuit terra, et nihil umoris novi fluxit.48 Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass dieses narrative Muster ausschließlich auf römisch-antike Erdbebentheorien zu beschränken sei oder gar eine individuelle Schreibgewohnheit Senecas ist, empfiehlt sich eine ergänzende Ansicht zusätzlicher lateinischer Überlieferungen. Tacitus verwendet beispielsweise in seinen Annalen49 diese Wendung, ebenso wie der durch sein Werk Noctes Atticae auch im Hochmittelalter bekannte50 römische Schriftsteller Aulus Gellius.51 Eine Vorliebe für diese Variante besitzt ebenfalls Sueton, welcher neben der bereits weiter oben zitierten Passage, in seinen Kaiserviten ein anderes Erdbeben mit der Phrase tremore terrae beschreibt.52 Ammianus Marcellinus, einer der wenigen heidnischen Geschichtsschreiber der Spätantike, greift im ausgehenden vierten nachchristlichen Jahrhundert ebenfalls oft auf diese Darstellung zurück.53 Obgleich griechischer Muttersprachler fällt Ammianus
44 Hinsichtlich der wissenschaftshistorischen Untersuchung der Erdbebentheorie des Seneca siehe ebenfalls WALDHERR 1997: 69–81 sowie BARCELÓ 1998: 100 f. 45 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 2, 3, 235; dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 331. 46 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 1, 5–7, 231 f. 47 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 2, 1, 234; VI, cap. 3, 2, 237; cap. 3, 4, 238. 48 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 6, 4, 241; dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 341. 49 Tacitus: Annales, XIV, cap. 27, 1, 323: Eodem anno ex inlustribus Asiae urbibus Laodicea tremore terrae prolapsa. Dt. Übersetzung siehe Tacitus: Annalen III, 97. 50 LINDERMANN 2006: 43–45, 47 f. 51 Aulus Gellius: Noctium Atticarum, II, cap. 28, 1, 138. 52 Sueton: De vita Caesarum, III Nero, cap. 48, 2, 255: Statimque tremore terrae et fulgure adverso pavefactus audiit. Dt. Übersetzung siehe Sueton: Kaiserviten, 721. Es handelt sich um ein Erdbeben im Jahr 68 n. Chr. nahe Roms. Siehe GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994, 212 f. Es ist an dieser Stelle erneut auf die gemeinsame Erwähnung von Erdbeben und Blitzschlag hinzuweisen. Siehe ebenfalls Sueton: De vita Caesarum, VII Galba, cap. 18, 1–2, 271. 53 Hinsichtlich Ammians Beschreibung des Erdbebens vom 24. August 358 am Bosporus siehe Ammianus: Res gestae, XVII, 7, 3, 114 f.: atque presteres cum horrifico tremore terrarum civitatem et suburbana funditus everterunt. Sowie in ebd.: XVII, 7, 11, 116 dessen Rezeption der Erdbebentheorie
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durch einen besonderen literarischen Reichtum in der Formulierung seismischer Ereignisse auf. Neben den allgegenwärtig lesbaren Varianten terrae motus54 und terrae tremuit gebraucht er mitunter die originelle Phrase terrae pulsare.55 Selbst wenn sich eine verwandte Beschreibung in Ovids Metamorphosen56 findet, kann diese Wendung durchaus als eine individuelle Sprachgewohnheit Ammians verstanden werden. Ein vergleichbarer Fall schriftstellerischer Ausdruckskraft kann erneut bei Seneca festgestellt werden. In der Beschreibung von Erdbeben entfaltet er maßgeblich im sechsten Buch seiner Naturales quaestiones ein breites literarisches Spektrum, welches in seiner Vielheit bemerkenswert ist und zum Teil bereits dargelegt wurde. Sein dort etablierter Ausdruck in der Verbindung des Substantives terra mit dem Verb concutere bleibt im klassischen Latein auf ihn selbst beschränkt, sollte jedoch im Verlauf der Spätantike und des Frühmittelalters durchaus seine Nachahmer finden. Hierauf wird noch einzugehen sein.57 Eine ähnliche Eloquenz ist auch bei Plinius dem Älteren nachweisbar. In dessen bis in die Frühe Neuzeit als naturwissenschaftliches Standardwerk angesehener Naturalis historia finden sich in ganz unterschiedlicher Weise angelegte Erdbebenbeschreibungen. Sein in der Regel für Erdbeben verwendeter Terminus terrae motus58 wird ganz im Sinne Ciceros59 zum Zweck einer angenehmen, künst-
von Aristoteles und Anaxagoras: unde plerumque observatur terra tremente ventorum apud nos spiramina nulla sentiri, quod in ultimis eius secessibus occupantur. Dt. Übersetzungen siehe Ammianus Marcellinus: Römische Geschichte I, 227, 229. Hinsichtlich dieser Erdbeben siehe auch GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994, 255–259; Weiterhin: Ammianus: Res gestae, XXII, 9, 5, 271: quae terrae subverterat tremor. Dt. Übersetzung siehe Ammianus Marcellinus: Römische Geschichte III, 35. 54 Ammianus: Res gestae, XVII, 7, 1, 114: Isdem diebus terrae motus horrendi per Macedoniam Asiamque et Pontum; ebenso: XVII, 7, 13, 116; XVII, 7, 14, 117; XXII, 13, 5, 280. Dt. Übersetzung siehe Ammianus Marcellinus: Römische Geschichte I, 227. 55 Ammianus: Res gestae, XVII, 7, 9: Adesse tempus existimo pauca dicere, quae de terrae pulsibus coniectura veteres conlegerunt; XXIII, 1, 7: Constantinopolim terrae pulsu vibratam. Dt. Übersetzungen siehe Ammianus Marcellinus: Römische Geschichte I, 229 und III, 69. Siehe ebenso CONTI 2007: 61. 56 Ovid: Metamorphoses, VI, 692, 145: nives et terras grandine pulso. Dt. Übersetzung siehe Ovid: Metamorphosen, 208. Auch wenn die Erde hier durch herabfallenden Hagel bebt, so ist dieses Motiv dennoch übertragbar. 57 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 5, 239: terra concutitur; ebd.: VI, cap. 12, 3, 249: terra concussa est; ebd.: VI, cap. 13, 6, 251: terra concutitur. 58 Plinius: Naturalis historia, II, cap. 46 (47), 174; II, cap. 79, 200–201; II, cap. 84, 204; II, cap. 87, 206; II, cap. 93, 208; II, cap. 96, 210. 59 Cicero: De oratore, III 42 (167), 329 f.: Sumpta re simili verba illius rei propria deinceps in rem aliam, ut dixi, transferuntur. est hoc magnum ornamentum orationis, in quo obscuritas fugienda est; etenim hoc fere genere fiunt ea, quae dicuntur aenigmata. non est autem in verbo modus hoc, sed in oratione, id est in continuatione verborum. ne illa quidem traductio atque immutatio in verbo quandam fabricationem habet sed in oratione: Africa terribili tremit horrida terra tumultu. Dt. Übersetzung siehe Cicero: Über den Redner, 549, 551.
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lerischen Wirkung des Textes gegebenenfalls durch ein terra tremor,60 intremiscunt terrae61 oder terrae moventur62 ersetzt. Letztere Form, die das Verb movere anstatt des sonst üblichen Substantivs motus gebraucht, dürfte als stilistisches Element fungiert haben. Die gerade für Livius typische Variante terra movit63 steht hingegen im ungewohnt aktiven Perfekt. Aus diesem Sachverhalt lässt sich durchaus eine ganz individuelle Naturwahrnehmung ableiten. Denn schließlich ist es ein grundsätzlicher Unterschied, ob die Erde sich selbst bewegt oder bewegt wird. Livius sollte mit seiner Beschreibungsvariante ausgerechnet in dem christlich apologetischen Schreiber Tertullian einen alleinigen Nachahmer dieser Formulierung finden.64 Aus einem für die Antike typischen Analogiedenken dürfte gleichfalls die Übertragung resultieren, welche bei dem römischen Geschichtsschreiber Publius Annius Florus zu lesen ist. Er schildert, dieser narrativen Tradition folgend, dass durch das Schlachtengeschehen im zweiten Punischen Krieg die Erde schwer gebebt habe. Seine bildhafte Übertragung ingens terrae tremor65 zeigt erneut das kreative Potential auf, das im Faktum Erdbeben verborgen liegt und zur anschaulichen Erzählung – auch nicht seismischer Ereignisse – bereitwillig aufgegriffen wurde. Ergänzend sei an dieser Stelle der Exkurs gestattet, dass dieser Sachverhalt seinen Reiz bis in die Berichterstattung der Gegenwart des 21. Jahrhunderts omnipräsent bewahrt hat.66 Ähnlich, wenn auch in bekannter Diktion – man beachte das bereits zitierte Beispiel der spätantiken Historia Augusta – argumentiert wohl der bedeutendste aller lateinischen Dichter. Vergil lässt in seiner Georgica den Gottesvater selbst spannungsreich auftreten und Blitze schleudernd die Erde zum Erzittern bringen.67
60 Plinius: Naturalis historia, II, cap. 79, 201; II, cap. 94, 209. 61 Plinius: Naturalis historia, II, cap. 79, 201. 62 Plinius: Naturalis historia, II, cap. 80, 202. 63 Livius: Ab urbe condita, XL, cap. 59, 7; ebf.: XXXV, cap. 40, 7: terra dies duodequadraginta movit. 64 Tertullian: Apologeticum, cap. XL, 2, 153: Si Tiberis ascendit in moenia, ni Nilus non ascendit in rura, si caelum stetit, si terra movit, si fames, si lues, statim: „Christianos ad leonem!“. Dt. Übersetzung siehe Tertullian: Verteidigung des Christentums, 189. Tertullians Beschreibung ist an dieser Stelle im Kontext der antiken Christenverfolgung zu sehen, wonach jede Unregelmäßigkeit der Natur per Pauschalverurteilung durch christliche Martyrien in den Arenen des römischen Imperiums kompensiert wurde. Siehe diesbezüglich BÄHNK 2001: 54, bes. Anm. 53. 65 Annius Florus: Epitomae, I, cap. XXII, 14, 59: Inminentem temerario duci cladem praedixerant insidentia signis examina et aquilae prodire nolentes et commissam aciem secutus ingens terrae tremor; nisi illum horrorem soli equitum virorumque discursus et mota vehementius arma fecerunt. Dt. Übersetzung siehe Florus: Römische Geschichte, 81. 66 Siehe z. B. die beliebte Metapher, ein „politisches Erdbeben“ habe stattgefunden, oder in Bezug auf Börsennachrichten: „Die Kurse zitterten nicht und ließen niemanden erbeben.“ Tagesschau vom 10.02.2015, 12:00 Uhr. 67 Vergil: Georgica, I 328–330, 136: Ipse pater media nimborum in nocte corusca/ fulmina molitur dextra, quo maxima motu/ terra tremit. Dt. Übersetzung siehe Vergil: Vom Landbau, 27.
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Während sich die von ihm verwendete Mischform maxima motu terra tremit nicht erneut in seinem Werk findet, lässt Vergil die Theophanie des Zeus/Jupiter auf dem irdischen Schauplatz indes noch öfters durch Erdbeben ankündigen68 und steht damit ganz in römisch-griechischer Tradition.69 Die lateinischsprachige Antike besaß eine überaus hohe Varianz in der Beschreibung seismischer Ereignisse. Dieser angesichts der überlieferten und zeitlos angewendeten Sprachdenkmäler wenig verwunderliche Sachverhalt überrascht dennoch durch die in Worte gehüllte genaue Beobachtungsgabe der Zeit. Ein derartiges Ausdrucksvermögen, wie es wohl für jede aktiv gebrauchte Kultursprache typisch ist, kann gerade in der spezifischen Verwendung der beiden beherrschenden Wendungen terrae motus und terrae tremore festgestellt werden. Die zeitgenössische naturkundliche Auseinandersetzung war sich der terminologischen Wertigkeit von Sprache sehr wohl bewusst und versuchte eine präzise Begrifflichkeit zu etablieren, die sich möglichst eng der Wahrnehmung annäherte. Es ist erneut Seneca, der mittels seiner Bezeichnungen hervorsticht. Im Zitat des griechischen Naturforschers Poseidonios definiert er drei verschiedene Erdbebentypen, die entweder auf und ab bewegend, wie ein Schiff schwankend oder aber die Erde zum Erzittern bringend, durch unterschiedliche Verben ausgedrückt werden. Duo genera sunt, ut Posidonio placet, quibus movetur terra. Utrique nomen est proprium: altera succussio est, cum terra quatitur et sursum ac deorsum movetur, altera inclinatio, qua in latera nutat alternis navigii more. Ego et tertium illud existimo, quod nostro vocabulo signatum est: non enim sine causa tremorem terrae dixere maiores, qui utrique dissimilis est; nam nec succutiuntur tunc omnia nec inclinantur sed vibrantur, res minime in eiusmodi casu noxia; sicut longe perniciosior est inclinatio concussione; nam nisi celeriter ex altera parte properabit motus qui inclinata restituat, ruina necessario sequitur. Cum dissimiles hi motus inter se sint, causae quoque eorum diversae sunt. Prius ergo de motu quatiente dicamus. Si quando magna onera per vices vehiculorum plurium tracta sunt et rotae maiore nisu in salebras inciderunt, tecta concuti senties.70
Seine Differenzierung zwischen auf und ab bewegen (movere), zur Seite neigen bzw. schwanken (nutare) sowie erzittern (tremere) ist aufgrund der angeschlossenen Wertigkeiten umso interessanter. Ein terrae tremor, den Seneca an anderer Stelle mit einem fröstelnden Zittern beim Menschen vergleicht71 und damit dem 68 Vergil: Aeneis, III 90–93, 68: tremere omnia visa repente/ liminaque laurusque dei, totusque moveri/ mons circum et mugire adytis cortina reclusis. In erneuter Gleichsetzung von Erdbeben und Gewitter siehe ebd.: V 693–695, 150: vix haec ediderat, cum effusis imbribus atra/ tempestas sine more furit, tonitruque tremescunt/ ardua terrarum et campi. Dt. Übersetzungen siehe Vergil: Aeneis, 99, 211, 213. 69 Siehe HERMANN 1962: 1085–1086; GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994, 48; BARCELÓ 1998: 100; CHANIOTIS 1998: 413–414. 70 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 21, 2 bis cap. 22, 1, 262 f.; dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 369, 371. 71 Seneca: Naturales quaestiones: VI, cap. 24, 4, 266 f.: ceu cum frigore inhorruimus, tremor sequitur, sic terras quoque spiritus extrinsecus accidens quassat. [. . .] accidere autem terrae simile quiddam
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Leser erneut eine anschauliche Analogie liefert, hat gemäß seinem Verständnis die geringste Schadenswirkung. Movere und nutare sind sich indes von der Art der Bewegung am ähnlichsten. Seneca weist jedoch der Neigung (nutare), die er gleichfalls zu einem klassisch-antiken Schifffahrtsmotiv in Beziehung setzt, ein höheres Zerstörungspotential zu. Der konsequent angewandte spezifische Gebrauch einer derart definierten Terminologie innerhalb der lateinischen Literatur der Antike ist selbstverständlich schwer zu belegen. Schließlich würde eine solche restriktive Handhabung dem primär schriftstellerischen und künstlerischen Anspruch antiker Prosa und Historiographie und somit dem Autorenwunsch nach eloquentem Ausdruck widersprechen.72 Dennoch ist einigen Schreibern in gewisser Weise ein differenzierter Gebrauch der Formulierungen terrae motus sowie terrae tremor nachzuweisen. Es ist besonders Vergil, aber auch Sueton und Plinius zu eigen, im unmittelbar dargelegten Sachzusammenhang von Blitzeinschlag und Erderschütterung den grammatikalisch individuell angepassten Ausdruck terrae tremor zu verwenden.73 Der sinnlichen Empfindung eines nahen, schweren Gewitters, das die Erde wohl eher zum Zittern als zum Beben bringt, wird durch diese Worte präzise entsprochen. Das Moment der Unruhe dürfte indes für den Begriff terrae motus prägend gewesen sein. Während sich der Gebrauch des nutare74 nicht durchsetzen konnte, wohl auch wegen des synonym anwendbaren motus, und selbst bei Seneca nicht konsequent berücksichtigt wird, konnte sich der durch movere verdeutlichte Aspekt der Bewegung etablieren. Dieser Terminus findet sich in historiographischen Quellen und der Poetik ebenso wie in naturphilosophischen und enzyklopädischen Schriften wieder und wurde offenbar gerne wegen seiner augenscheinlichen Allgemeingültigkeit ausgewählt. Entgegen der breiten eloquenten Anwendung in den literarischen Quellengattungen ist hingegen in römischen Inschriften nur eine einzige sprachliche Norm bestimmend. Der Aspekt einfacher Informationsvermittlung innerhalb eines äußerst limitierten Raums, beispielsweise auf einer Grabplatte oder über einer Toreinfahrt,
nostrae adfectioni, sed non ex simili causa, concesserim. Dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 375. 72 Der rhetorische Anspruch von antiker Geschichtsschreibung wird unter anderem ersichtlich bei Quintilianus: Institutio oratoria, XII, 4. 2; Cicero: De oratore, II 12 (51), 124; ebd.: II 13 (55), 125. 73 Bezüglich Vergil siehe die bereits zitierten Beispiele Georgica, I 328–330, 136; Aeneis, III 90–93, 68; V 693–695, 150; Sueton: De vita Caesarum, III Nero, cap. 48, 2, 255; Plinius: Naturalis historia, II, cap. 79, 201. 74 Seneca gebraucht den Ausdruck des Schwankens z. B. in: Naturales quaestiones, VI, cap. 2, 6, 236: quid stultius timere nutationem sowie an der o. g. Stelle. Siehe ebd.: VI, cap. 21, 2, 262; ebenfalls verwendet der spätantike Dichter Claudian diese Wendung. Siehe Claudianus: In Eutropium, II, 97; ebenfalls CONTI 2007: 61.
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führte zu der ausschließlichen Verwendung der Phrase terrae motus.75 Betrachten wir, dass die frühmittelalterliche Annalistik durch ihre Gewohnheit, Nachrichten in Ostertafeln einzutragen, mit einem ähnlich begrenzten Aktionsfeld umzugehen hatte, können hier durchaus Parallelen gesehen werden.
1.2 Eloquenz und Reduktion? – Erdbebenbeschreibungen als Ausdruck mittelalterlicher Schriftkultur Tacitus’ und Senecas Beschreibungen des Erdbebens von 62 n. Chr., das unweit des Vesuv die Stadt Herculaneum in Mitleidenschaft zog, verdeutlichen beispielhaft die Breite der sprachlichen Mittel, welche in klassischen lateinischen Erdbebenberichten Anwendung fanden. Diese Varianz ist ebenfalls anhand zahlreicher, z. T. differenziert gebrauchter Erdbeben-Termini nachgewiesen. Angesichts dieser Beobachtungen ist von Interesse, in welcher Weise die Beschreibung von Erdbeben einer ähnlichen Intensität in mittelalterlichen Quellen vorgenommen wurde. 1.2.1 Das Veroneser Beben vom 3. Januar 1117 a) Die bisherigen Interessen der Forschung und der Ansatz zur Ordnung des Quellencorpus Dem Kenner des vergangenen mitteleuropäischen Seismizitätsgeschehens dürfte das heftige Erdbeben vom 3. Januar 1117 für einen solchen Vergleich als besonders geeignet auffallen. In der Nähe des norditalienischen Verona erschütterte am späten Nachmittag jenen Tages, an dem symbolträchtig die Oktav des heiligen Johannes des Evangelisten gefeiert wurde, ein schwerer Hauptstoß weite Teile der Lombardei und Venetiens. Begleitet von einem starken Vor- und Nachbeben, ebenfalls in Norditalien, regte dieses Erdbeben Chronisten und Annalisten in ganz Europa zur Niederschrift entsprechender Nachrichten an. Das Resultat ist ein Quellenbestand, welcher mit einem Umfang von über 93 historiographischen und annalistischen Zeugnissen für das Hochmittelalter einzigartig ist. Das Überlieferungscorpus zum Erdbeben vom 3. Januar 1117 ist durch eine heterogene Entstehung gekennzeichnet. Immerhin umfasst es mehr als 60 Quellen außerhalb des Epizentralgebiets. Besonders die Regionen nördlich der Alpen dürfen als ein Schwerpunkt der historiographischen Traditionsbildung zu diesem Erdbeben gelten. Die außergewöhnlich reiche Quellenlage hat maßgeblich die italienische76
75 Siehe CONTI 2007: 63–68; EHMIG 2012: 294 f. Hinsichtlich einer Analyse zur Evidenz antiker Erdbebeninschriften siehe ebenfalls SONNABEND 2001: 1219–1224, bes. 1220. 76 GUIDOBONI 1984: 119–139; GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 84–129; GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 1–20; BONAZZI 2007: 254–259; GALLI 2005: 87–100; GALADINI, STUCCHI 2007: 93–98; GALADINI et al. 2001: 3–27.
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und belgische77 Forschung zu einer ereignisgeschichtlichen Untersuchung des Bebens motiviert. Seit den 1980er Jahren haben vor allem GUIDOBONI78 und ALEXANDRE79 ihre Interpretation bekräftigt, dass der Hauptstoß der Intensität I0 = IX80 bei Verona bis in das belgische Lüttich verspürt worden sei. In der Lesart GUIDOBONIS hat sogar am Morgen des selbigen Tages nördlich des Bodensees ein zusätzliches süddeutsches Erdbeben mit einer Intensität von I0 = VII–VIII bzw. Imax = VIII–IX stattgefunden.81 Die Schweizer Forschung folgte dieser Sicht weitestgehend, reduzierte jedoch das anzunehmende Schadensmaß für das vermeintliche süddeutsche Epizentrum auf I0 = V.82 Eine erste kritische Analyse des gesamten Quellenbestandes zum Erdbeben von 1117 beruhte auf der Untersuchung von Schreibumständen sowie der Berücksichtigung der Zeitstellung der Schriftzeugnisse innerhalb einer Spanne von hundert Jahren. Infolge einer kritischen Kontextualisierung des Überlieferungszusammenhangs mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des späten Investiturstreits erwiesen sich die bisherigen Thesen der Forschung als wenig überzeugend. Mitunter sind sie quellenkritisch nicht haltbar. Die Existenz eines eigenständigen süddeutschen Bebens nördlich des Bodensees ist hiervon maßgeblich berührt. Insbesondere die Untersuchung von vorstellungs- und kommunikationsgeschichtlichen Aspekten der Überlieferung bestätigte ein hohes Potential dieses vermeintlichen Erdbebens zur historiographischen Gegenwartsanalyse83 und bestätigt die von Andrea VON HÜLSEN vorgetragene Einschätzung einer Quellenkontamination nördlich der Alpen.84 In Ergänzung zur bisherigen Untersuchung ist vielmehr von Interesse, in welcher konkreten narrativen Beschreibungsweise die Darstellung des Erdbebens vorgenommen wird. Hier ist der Wesenskern jeder zeitgenössischen Katastrophenbewältigung verborgen, ohne den keine Ereignisgeschichte wirklich überzeugend erforscht werden kann. Das bereits angesprochene, in seiner heterogenen Beschaffenheit äußerst 77 ALEXANDRE 1990: 147–154, 232; DRAELANTS 1995: 25–27, 133 f. 78 GUIDOBONI 1984: 119–139; GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 1–20; GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 84–126. 79 ALEXANDRE 1990: 154. 80 GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 9; GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 126. 81 GUIDOBONI und COMASTRI vertreten ein süddeutsches Epizentrum in der Nähe des heutigen Bad Saulgau (48°N, 9.42°E). Siehe GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 8, 10, bes. Table 2a, var. a; GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 84, 89 f. 82 SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 45–55, bes. 48 u. 52. 83 Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Rekonstruktion des Erdbebens vom 3. Januar 1117 siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 84 Siehe HÜLSEN 1993: 224. Weiterhin haben sich in der deutschen Geschichtswissenschaft CLEMENS 2002: 252–254; CLEMENS 2005: 194–196 sowie vor ihm bereits ZELLER mit dem Erdbeben von 1117 befasst. Siehe ZELLER 1913; ZELLER 1917. Stellvertretend für die älteren nicht parametrisierten Erdbebenkatalogen sowie Quellensammlungen sei auf SIEBERG 1940: 27 f. und GIEßBERGER 1922: 21–24 verwiesen. Ergänzend sei hinzugefügt, dass das Erdbeben von 1117 in einem Aufsatz von GUTDEUTSCH und HAMMERL als Anschauungsbeispiel zur Bestimmung der sogenannten Aufzeichnungsschwelle von Erdbeben diente. Siehe GUTDEUTSCH, HAMMERL 1997: 2–4.
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imposante Quellencorpus ist vorrangig das Ergebnis einer vergangenheitsgeschichtlichen Überlieferung und umfasst 48 Überlieferungen zu diesem Beben. Hierunter verstehen wir Quellen fortgeschrittener Rezeptionsstufe, die meistens in unselbstständigem Wortlaut verfasst, bekannte Nachrichten mehr oder weniger geschickt kompilierten und ab dem 43. Jahr nach dem stattgefundenen Erdbeben niedergeschrieben wurden.85 Allein 24 Quellen diese Gruppe aus vergangenheitsgeschichtlichen Zeugnissen finden sich in Italien. Nur sieben italienische Quellen gehören hingegen einer jüngeren Verschriftlichungsstufe an. Nördlich der Alpen fällt das Verhältnis der vergangenheitsgeschichtlichen (24x) Überlieferung zu den zeitgenössisch (12x) und zeitnahe (27x) niedergeschriebenen Erdbebenbeschreibungen gleichmäßiger aus. Mit den beiden quellenkritischen Kriterien86 der zeitgenössischen und der zeitnahen Abfassung wird der Versuch unternommen, einen am zeitlichen Abstand zwischen Ereignis und Verschriftlichung ausgerichteten Anhaltspunkt zu etablieren, um den Quellenwert besser einzuschätzen. Die Klassifizierung als zeitgenössische Überlieferung umfasst alle bis zum 7. Jahr nach dem Erdbeben verfassten Texte. Für die verbleibende Zeitspanne vom 8. bis zum 42. Jahr werden hingegen alle schriftlichen Zeugnisse als zeitnahe Quellen bewertet. Alle Quellen, die nach dem 42. Jahr nach dem Erdbebenereignis entstanden, gelten als vergangenheitsgeschichtlich. Die Niederschrift entspricht insbesondere in diesem Fall weitestgehend einer generationenbezogenen Erinnerung.87 Der weitere Fortgang der Arbeit wird zeigen, dass die Implementierung dieses methodisch notwendigen Schritts zu robusten Ergebnissen führt. Ohne die hier eingeführten Grenzen zu schematisch zu verstehen, unterliegt letztlich jede Quelleninterpretation einer Einzelfallentscheidung und steht damit gleichsam für sich. Mittels dieser methodischen Annäherung können jedoch, mit Wissen um die inbegriffenen Unsicherheiten dieses Vorgehens, zwei prägende Momente jeder Geschichtsschreibung quellenkritisch bedacht werden. Angesprochen sind das Vergessen von Informationen und der Prozess der subjektiven Umformung von Nachrichten, sprich deren Verschmelzung mit einem individuell vorhandenen Wissenshorizont. Beides hat stets die Geschichtsschreibung geprägt. Weit vor Johannes FRIED88 ist bereits Hugo von St. Viktor auf diese hermeneutische Grundbedingung mündlicher und schriftlicher Erinnerung eingegangen. Mit letzterem sei festgehalten: memoria hominis hebes est et brevitate gaudet.89
85 Hinsichtlich der quellenkritischen Überlegungen zur Festlegung dieses Kriteriums siehe die Einleitung in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 86 Zur Abgrenzung zeitgenössischer, zeitnaher und vergangenheitsgeschichtlicher Quellen siehe Einleitung in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 87 Vgl. das exemplarische Vorgehen bei GOETZ 1994: 165. 88 FRIED 2012: 48, 73, 270, 294. 89 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, III, cap. 11, 248. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 249.
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b) Das Erdbeben von 1117 als Wendepunkt innerhalb mittelalterlicher Schriftkultur Zum Erdbeben vom 3. Januar 1117 sind aus ganz Europa Überlieferungen erhalten. Von Schottland90 bis Salerno,91 vom Burgund92 bis nach Prag93 haben mittelalterliche Gelehrte dieses Geschehnis der schriftlichen Erinnerung übergeben. Angesichts des großen Schadensausmaßes im Raum Verona und der von der Forschung bewerteten Intensität, die mit I0 = IX so stark wie bei dem Beben von Herculaneum im Jahr 62. n. Chr. abgeschätzt wird, sollte eine ähnlich elaborierte Varianz in der Beschreibung des Erdbebens erwartet werden. Diese Annahme wird jedoch nur zum Teil erfüllt. Während für 1117 zahlreiche Beschreibungen überliefert sind, die sich in Detailreichtum, Umfang, Weltverständnis und Tendenz erheblich unterscheiden, folgt die Form der gewählten Erdbeben-Termini diesen vielschichtigen Beschreibungen, wie sie insbesondere an den chronikalisch gefärbten Werken des nordalpinen Reiches ablesbar wird, in keiner Weise. Die gesamte sprachliche Fülle, welche in den antiken Quellen für die Darstellung des Faktums Erdbeben beeindruckte, scheint an diesem Punkt verloren. Maßgeblich ist nur noch ein Terminus: terrae motus. Er bestimmt alle Quellen zum Erdbeben von 1117, seien sie nun selbständig oder abhängig verfasst, seien sie zeitgenössisch, zeitnahe oder vergangenheitsgeschichtlich entstanden. Allein das in Versform in Lüttich entstandene Chronicon rhythmicum Leodiense94 hat einen anderen Wortlaut. Trotz der rezeptionsgeschichtlich bedeutenden Stellung dieser zeitgenössischen Arbeit, die für viele weitere wallonische Quellen als
90 Ex Annalibus Melrosensibus: 434: 1117. Apud Italiam magno terre motu 40 diebus durante, plurima edificia corruerunt, villaque quedam pregrandis de proprio loco mota est. 91 Romuald von Salerno: Chronicon Romualdi II. episcopi Salernitani, 181: Anno ab incarnatione Domini 1117. indictione 10. mense Aprilis in Venecia, Liguria, Emilia atque Flamminia Italie provinciis, in Gallia quoque Transalpina, multorum domus contritis hominibus pluraque aedificia simul et ecclesie ingenti terre motu concusse ceciderunt. Der vergangenheitsgeschichtlich entstandene Text, der nur in einer Abschrift (sogenannten Codex A) erhalten ist, entstand zwischen 1178 und 1181. Er kompiliert zu diesem Erdbeben bekannte Nachrichten und ist ereignisgeschichtlich, anders als es der Wortlaut vermitteln mag, von unerheblicher Bedeutung. Siehe HOFFMANN 1967: 157, 165. 92 Z. B. Annales S. Benigni Divionensis: 43: 1117. terre motus magni per loca et fulgura multos occiderunt. 93 Cosmas von Prag: Chronik, 217: XLIII. Anno dominice incarnationis MCXVII. III. non. Ianurarii, quinta existente feria, horam iam vespertinali, terre motus factus est magnus, sed multo maior in partibus Langobardie. Nam, uti fama referente percipimus, multa ibi edificia cecederunt, multa castella sunt diruta, multa monasteria sive delubra corruerunt et multos homines oppresserunt. 94 Chronicon rhythmicum Leodiense: 124–140. Vermutlich handelt es sich bei dem Autor dieses Werkes um einen anonymen Lütticher Mönch, entweder aus dem Kloster St. Martin oder St. Bartholomäus. Siehe ÉVRARD 1982/1983: 193; ALEXANDRE, WILKIN 2009: 100 f.
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Vorlage diente95 bzw. zumindest inhaltlich bekannt war,96 bleibt das hier zu lesende urbis contigit motio97 in der Überlieferung ein Außenseiter. Der poetische Anspruch des Werkes dürfte hieran sicherlich seinen Anteil haben. Eine ähnliche Schlussfolgerung erlaubt der Vergleich mit der zeitlich weiter zurückliegenden Überlieferung zum Erdbeben von 801. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts schrieb in diesem Zusammenhang der wahrscheinlich im Kloster Corvey wirkende sogenannte Poeta Saxo98 überaus gewandt die ihm bekannten Annales regni Francorum aus.99 Sein gleichfalls in Versform verfasster historischer Bericht steht unverkennbar in antiker Tradition, wenn er berichtet, dass audiri quoque mugitus e montibus altis. Der lautmalerische Ursprung war offenkundig wie in vorangehenden Zeiten100 auch in diesem Fall die Triebfeder der Eloquenz. Durch den Gebrauch des singulär stehenden motu bestätigt sich die klassisch-lateinische Bildung des Poeta Saxo.101 Sein Vermögen der anschaulichen Umschreibung von Bebenereignissen steht antiken Vorbildern wenig nach, wenn er den allgemein verfassten zeitgenössischen Bericht der fränkischen Hofannalen, wonach eodem anno [801, d. Verf.] loca quaedam circa Renum fluvium et in Gallia et in Germania tremuerunt102 eigenständig mit den Worte plurima terrifico nimium concussa fuerunt zusammenfasst. Durch das Gedicht des Poeta Saxo sowie das in weit späterer Zeit niedergeschriebene Chronicon rhythmicum Leodiense zeichnet sich ab, dass für die Poetik des Früh- und Hochmittelalters durchaus eine elaborierte Sprache hinsichtlich der Beschreibung von Erdbeben erhalten blieb. Für die historiographische Traditionsbildung gelten indes wohl andere Maßstäbe. In antiken Zeiten genügte es zur terminologischen Darstellung einer Erschütterung, dem Substantiv terra ein weiteres Substantiv wie tremor oder motus bzw. ein Verb, z. B. movere, tremere und concutere, beizustellen. Vereinzelt erhielt sich diese Gewohnheit durchaus noch in frühmittelalterlichen Quellen, wie die Überlieferun-
95 So z. B. die sogenannte Annalium Leodiensium continuatio: 30; Annales Floreffienses: 624. Siehe ebenfalls DRAELANTS 1995: 26, 44. 96 Hiermit ist die ebenfalls für das Erdbeben von 1117 zeitgenössisch niedergeschriebene Chronik des Anselm von Gembloux, einem der Fortsetzer von Sigebert von Gembloux’ Weltchronik, angesprochen. Siehe Anselmi Gemblacensis continuatio: 376; Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters: Chronica sive chronographia universalis; ÉVRARD 1982/1983: 130, 195. Zur möglichen Sinnstiftung seitens des Chronicon rhythmicum Leodiense siehe ÉVRARD 1982/1983: 129–134. 97 Chronicon rhythmicum Leodiense: 125. 98 [EB 801]: Poeta Saxo: IV, 47: Gallia nec tantae fuit aut Germania cladis/ Immunis; circa Rhenum loca denique motu/ Plurima terrifico nimium concussa fuerunt;/ Audiri quoque mugitus e montibus altis/ Et tetri sonitus reddi variique boatus/ Morborumque lues fieri permaxima coepit. 99 Siehe Annales Quedlinburgenses: 168 f. sowie die ältere Edition Poetae Saxonis vita Caroli Magni: 544. 100 Siehe z. B. die in Kapitel II. 1. 1 erwähnten römisch-antiken Beispiele. 101 Siehe CONTI 2007: 59. 102 Annales regni Francorum: 114.
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gen zu dem bereits angesprochenen Erdbeben von 801 sowie der Erschütterung von 855 belegen. Die Darstellung der Annales regni Francorum wie auch der von diesen in Abhängigkeit verfasste Wortlaut der Annales Mettenses priores103 verwenden für ihren Eintrag zum Erdbeben von 801 die alte Terminologie. Nicht terrae motus, sondern allein das konjugierte Verb tremere beschreibt die Erschütterung. Die Unschärfe in der Lokalisierung dieses Bebens104 spiegelt sich somit zwangsläufig in der Auswahl der sprachlichen Mittel wider. Dass die Unbestimmtheit einer Beobachtung den mnemotechnisch geleiteten Vorstellungs- und Erkenntnisakt bestimmt und sich schließlich in der Sprache niederschlägt, war auch schon in den Zeiten Augustinus oder eines Hrabanus Maurus geistiges Allgemeingut.105 Zumindest wird so die Abweichung in der Terminologie nachvollziehbar, welche sich etwa an der Überlieferung des Erdbebens von 855 zeigt. Die Annales Fuldenses berichten als alleinige Quelle von etwa 20 Erdbeben, die sich im Verlauf des Jahres 855 vermutlich in der Nähe der Stadt Mainz zugetragen haben.106 Für den mittelalterlichen Schreiber dürfte die Schwierigkeit groß gewesen sein, mehrere über einen langen Zeitraum gewiss mit unterschiedlichen Intensitäten wahrgenommene Erdbeben zu beschreiben. Angesichts seiner wohl der mündlichen Kommunikation entnommenen Informationen kann die allgemein gehaltene Formulierung terra vicies tremuisse durchaus als Kompromiss zwischen narrativer und schriftlich übermittelter Beobachtung interpretiert werden. Letztlich bleiben die erläuterten Beispiele aus der Poetik sowie der karolingischen Geschichtsschreibung aber Ausnahmen innerhalb der Quellenlage. Neben dem marginal belegten Gebrauch von tremere übernahmen mittelalterliche Schreiber in bescheidenem Umfang die antike Formulierungsgewohnheit terra mota est für ihre Überlieferung. Lediglich zwei Quellen zum Erdbeben von 1117 bei Verona schreiben diese Wendung für ihren Ereignisbericht aus.107 Dabei ist die Kombination von terra mit dem Verb movere bereits für Livius belegt.108 Ebenso hat die im passiven Perfekt stehende Konstruktion mota est in dem spätantiken Vergil-Kommentator Servius eine besonders aus ideengeschichtlicher Perspektive
103 [EB 801]: Annales Mettenses priores: 87: Eodem anno loca quaedam circa Renum fluvium inter Galliam et Germaniam tremuerunt. Hinsichtlich der quellenkritischen Bewertung dieser Annalen siehe auch SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung); SCHIEFFER 2006a: 17; HOFFMANN 1958: 9 ff., 53 ff. 104 Siehe Rekonstruktion des Erbebebens von 801 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 105 Augustinus: Confessiones, X, cap. VIII (13.-15.), 161–163; Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 9, 488. 106 [EB 855]: Annales Fuldenses: 45: DCCCLV. Apud Mogontiacum terra vicies tremuisse perhibetur. 107 Annales Sancti Dionysii Remenses: 83: 1117. Hic incipit cyclus tertius Bedae presbyteri. Vigilia sancti Rigoberti ad vesperas Remis terra mota est et multis aliis locis, et motae sunt in ecclesiis imagines Domini et multa in eis dependentia; Guido von Pisa: Notula, 258 f. 108 Livius: Ab urbe condita, XL, cap. 59, 7; ebenfalls XXXV, cap. 40, 7.
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bemerkenswerte Anwendung erfahren.109 Vergils zugrundeliegender Aeneis-Vers silescit et tremefacta solo tellus110 beschreibt angesichts des in Aktion tretenden allmächtigen Göttervaters Jupiter ein sogenanntes Schweigen der Natur.111 Servius’ Interpretation nam et quicquid in aeterno motu est, quievit, et contra terra mota est, semper immobilis,112 bezieht sich auf die antike Elementelehre. In den Worten des heidnischen Grammatikers findet eine Verkehrung der Natur statt.113 Das göttliche Auftreten bringt die allgemeine Ordnung aus dem Gleichgewicht. Alle Elemente, die sonst in stetiger Bewegung begriffen sind, ruhen. Nur die auf ewig feststehende Erde wird plötzlich bewegt. Am Ende des vierten nachchristlichen Jahrhunderts zeigen sich an diesen Versen die Wesensmerkmale heidnischer Naturphilosophie,114 die für die ontologische Beschaffenheit des Begriffs terrae motus und dessen christliche Auslegung konstituierend wirken sollten.115 In den alttestamentlichen Schriften wird diese Tradition der Verkehrung in Form einer Naturanrufung116 fortgesetzt. Terra mota est zeigt auch hier einen Modus der Veränderung angesichts der Erscheinung Gottes auf dem irdischen Schauplatz an. Entweder wird die Erde allein aufgrund einer Theophanie bewegt117 oder sie bebt in Folge des höchstrichterlichen Eingreifen Gottes.118 Die ursachenlogische Ähnlichkeit zum Terminus terrae motus bleibt in der Beschreibung terra mota est durch die morphologische Verwandtschaft von movere und motus durchaus erhalten. Das Moment der Bewegung respektiv des Wandels ist auch hier bestimmend. Die grammatisch verschiedene Bildung beider Formulierungen zeugt jedoch von einer differenzierten inhaltlichen Aussage. Im Gegensatz zum ontologisch vieldeutigen und primär die Ursachen widerspiegelnden Begriffs terrae motus119 bezweckt eine auf dem Verb movere basierende Erdbebendarstellung eine Akzentuierung der Folgen.
109 Servius: In Vergilii Aeneidos, X, cap. 102, 398: Tremefacta solo tellus loquente Iove stupor elementorum omnium ostenditur per naturae mutationem: nam et quicquid in aeterno motu est, quievit, et contra terra mota est, semper immobilis, unde Horatius et bruta tellus. Dt. Übersetzung: „Der sprechende Jupiter erschütterte den Boden der Erde, so dass durch die Veränderung der Natur das Staunen aller Elemente gezeigt wird, denn alles was auf ewig in Bewegung ist, hat geruht und im Gegenzug ist die immer unbewegliche Erde, weshalb Horaz schwere Erde sagt, bewegt worden.“ 110 Vergil: Aeneis, X. 101–102, 297. Dt. Übersetzung siehe Vergil: Aeneis, 411. 111 Siehe SCHMITZ 1993: 178. Dieser Topos liegt auch dem bereits zitierten Beispiel caeco terra mugitu fremens aus Senecas Troades zugrunde. Siehe Seneca: Le troiane 171, 128 sowie SCHMITZ 1993: 179. 112 Servius: In Vergilii Aeneidos, X, cap. 102, 398. 113 CURTIUS 1993: 105. 114 Hinsichtlich weiterer Beispiele für dieses Motiv in der klassisch-lateinischen Literatur siehe SCHMITZ 1993: 178. 115 Siehe diesbezüglich Kap. III. 1. 1. 5. 116 CURTIUS 1993: 101–103. 117 Jdc 5, 4; Ps 67, 9 (Psalter Gallicanum); Ps 113, 7 (Psalter Gallicanum). Der Nachweis der Bibelstellen folgt in dieser Studie dem Beispiel der Theologischen Realenzyklopädie. 118 Ps 45, 7 (Psalter Gallicanum). 119 Hinsichtlich der grammatischen Bewertung des Begriffs terrae motus siehe Kap. III. 2. 1.
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Die oft nach Imitation strebende mittelalterliche Geschichtsschreibung knüpfte in den zwei im zugrundeliegenden Quellencorpus enthaltenen Beispielen für die Verwendung von terra mota est an diese autoritative Vorgabe an. Einem maßgeblich beschreibenden Aspekt wird durch den Satz „die Erde wird bewegt“ unmittelbar entsprochen. Zudem gewinnt die Überbringung einer Zustandsänderung durch den direkten Gegenwartsbezug an Glaubwürdigkeit. Diese klare Darstellungsabsicht wird an der vermutlich zeitgenössisch120 entstandenen Notiz Guidos von Pisa zum VeronaBeben von 1117 ersichtlich. Terra mota est adeo graviter quod maxima pars turrium et edificiorum et campanilium cum gravi damno dirueret et scinderetur, in quibus virorum quidam, mulierum ac puerorum subruti sunt et extincti.121 Die Erde als Zielrichtung der Bewegung wird ebenso wie die Folgen der Erschütterung geschildert. Der vergangenheitsgeschichtliche122 Eintrag in den Annales Sancti Dionysii Remenses ist in gleicher Lesart zu verstehen. Offensichtlich ist nicht eine Ursachenklärung, sondern die Überlieferung der sichtbaren Auswirkungen der Erschütterungen das Berichtsinteresse beider Schreiber. Diese Motivation wird durch die Wahl von movere abgebildet. Sie sollte abseits des Erdbebens von 1117 für das Früh- und Hochmittelalter allerdings ohne Parallelen bleiben. Als bestimmende Wendung etablierte sich im Frühmittelalter der Terminus terrae motus. Die Neuerung im Vergleich zu antiken Sprachgewohnheiten besteht jedoch nicht allein in der einheitlichen Festlegung auf eine Formulierung. Der sprachlich gefestigte Gebrauch von terrae motus wird vielmehr zusätzlich durch eine weitere Änderung der Begrifflichkeit sekundiert. Die quellenkritische Gegenüberstellung der Berichte zu den Erdbeben von Herculaneum 62 n. Chr. und von Verona 1117 bestätigt, dass die Ergänzung des sprachlich normierten Begriffs terrae motus um zusätzliche Verben, wie z. B. facere,123 esse,124 concutere125 oder accidere,126 keineswegs den Formulierungsgewohnheiten der Antike entspricht. Die Relevanz dieses Wandels des 120 Guidos Bericht entstand um 1118. Seine Notiz wird allerdings nur in einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert überliefert, die sich heute in der Vatikanischen Bibliothek (Cod. Vat. Lat. 11564, f. 184r-v) befindet. Siehe hierzu GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 882; Guido von Pisa: Notula, 283 f., bes. Anm. 5; RUYSSCHAERT 1959: 312–315. 121 Guido von Pisa: Notula, 285 f. 122 Die Annalen wurden von Augustiner Chorherren am Reimser Dom verfasst. Sie sind erst ab der Mitte des 12. Jahrhunderts als selbständig zu werten. Siehe GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 856. 123 Auf die Formulierung terrae motus factus est, wird in Kapitel Kap. II. 1. 2. 2 explizit eingegangen. 124 Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 277: 1116. Tercio Non. Ianuar. terre motus fuit ubique tam validus, ut turres aliaque edificia plura subruerent, in galli cantu semel, et ad nonam secundo. 125 Siehe z. B. Annales Corbeienses maiores: 51: 1117. In octava sancte Iohannis evangeliste late per orbem terra terribili et inaudito hactenus terre motu concutitur. Bei den sogenannten Annales Corbeienses maiores handelt es sich um eine durch Franz Josef SCHMALE erbrachte editorische Rekonstruktion bzw. Neubewertung der Annales Patherbrunnenses. Hinsichtlich der durch NAß vorgetragenen quellenkritischen Bedenken siehe NAß 1996: 209–211 und Annalista Saxo: 559, Anm. 2. 126 Siehe z. B. Annales Brunwilarenses: 726: 1117. Hoc anno 3. Nonas Ianuarii accidit terremotus per universum orbem.
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mittelalterlichen Sprachgebrauchs für die Gesamtüberlieferung sei nun exemplarisch anhand des Veroneser Schadenbebens vorgestellt. Die Geschichtsschreibung zum Erdbeben von 1117 belegt die kontinuierliche Anwendung einer typisch mittelalterlichen Beschreibungsform über Erdbeben, die in der Ergänzung des Terminus terrae motus um ein zusätzliches Verb besteht. Innerhalb der Gesamtüberlieferung zum Erdbeben von 1117 ist lediglich bei acht Quellen eine andere Schreibweise nachweisbar und das Ereignis mit dem klassischen Schema terrae motus überliefert, d. h. es wird auf die Ergänzung eines zusätzlichen Verbes verzichtet.127 Eine zeitgenössische Niederschrift liegt für diese Variante nur bei der vierten Rezension der Weltchronik Ekkehards von Aura vor.128 Stattdessen dominiert die Wendung terrae motus ohne Verb bei der vergangenheitsgeschichtlichen und unselbständigen Abfassung von Nachrichten. Womöglich ist daher in diesem Fall weniger eine bewusste Rückbesinnung auf die traditionelle Terminologie als vielmehr ein rezeptionsbedingter Informationsverlust bestimmend gewesen. Diese Einschätzung wird zusätzlich durch den annalistischen, auf Berichtskürze hin ausgerichteten Stil der Einträge bestärkt. Die aus dem bekannten Fundus klassisch-lateinischer Wendungen erfolgte Reduktion auf den Begriff terrae motus, wie sie gerade das Erdbeben von 1117 aufzeigt, bedingt einerseits eine spürbare sprachliche Festlegung. Dies widerstrebt einer abwechslungsreichen Literarität durchaus. Anderseits wirkt die begriffliche Normierung unterstützend für eine betont ausführliche Umschreibung der Ereignisse selbst. Somit rückt das Eintreten des Erdbebens und demnach der Geschehenshergang in den Fokus der Überlieferung. Die Bündelung einer informativen Aussage, wie beispielsweise das Hervorheben der erschütternden Eigenschaft, ist somit verstärkt
127 Annales Corbeienses: 59: MCXVII. Terremotus magnus in Saxonia; Annales Zwifaltenses minores: 55: 1117. Terre motus magnus; Annales S. Benigni Divionensis: 43: 1117. terre motus magni per loca et fulgura multos occiderunt; Annales Brixienses (Codex B): 812: 1117. terremotus magnus; Chronica romanorum pp. et imperatorum (Cronica S. Mariae de Ferraria): 16: Signa plurima temporibus illis apparuerunt: terremotus scilicet magni per universam terram, ita quod muri plurimarum terrarum conruerent, turres et ecclesie quedam interirent, et strages plurime fierent, aque quoque omnes turbarentur, ecclesiarum lampades, nec vento nec aliquo quatiente, moverentur; hoc in horis vespertinis. Mediolani diebus ac noctibus sanguinem pluvit. Mare contra consuetudinem insonuit. Aque fontium et puteorum in sublimis erepte non minus quam in sublimis erant surrexerunt; Annales Ceccanenses: 282: 1117. ind. 10. terrae motus magnus per totam Longobardiam, et submersa sunt multa aedificia; Herbod v. Michelsberg: Herbordi dialogus de vita s. Ottonis episcopi Babenbergensis: 25. 128 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334: Quapropter inter ipsa dominicę nativitatis festa tercia Nonas Ianuarii hora vespertina super tantis divini iudicii contemptibus‚ commota est et contremuit terra, a ira nimirum furoris Domini, adeo ut nemo inventus sit super terram, qui tantum se unquam sensisse fateatur terrę motum. Nam multa subversa sunt inde ędificia, civitates etiam quasdam subrutas dicunt in Italia.
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möglich. Obwohl auch in der römischen Antike eine ausgeprägte annalistische Tradition gepflegt wurde,129 ist diese Art der Ausdrucksweise wohl maßgeblich mit dem Entstehen der monastischen Annalistik des Mittelalters verbunden. Grundsätzlich gilt, dass sich im Verlauf des Mittelalters eine eigenständige schriftliche Darstellung seismischer Ereignisse etablierte. Auch wenn diese narrative Evolution gegenüber den bekannten Beispielen aus der römischen Antike in besonders einleuchtender Weise anhand des Veroneser Bebens von 1117 veranschaulicht werden kann, ist selbiges nur hinsichtlich der außergewöhnlich umfangreichen gesamteuropäischen Quellenlage eine Ausnahme innerhalb der mittelalterlichen Traditionsbildung. Sicherlich ist zu beachten, dass die weit verspürte Schütterwirkung dieses norditalienischen Ereignisses ein spürbares Mehr an narrativen Beschreibungsweisen beförderte. Dennoch steht die Überlieferung zum Erdbeben von 1117, obgleich sie nicht mehr mit der Ausdruckskraft eines Seneca vergleichbar ist, im Einklang mit einer auf eigene Weise sprachlich vielfältigen und inhaltlich abwechslungsreichen Schriftkultur in der Darstellung seismischer Ereignisse, die gerade für die Geschichtsschreibung seit dem Frühmittelalter typisch ist. Bis in das erste Viertel des 12. Jahrhunderts etablierte sich nördlich der Alpen eine überraschend eloquente Geschichtsschreibung zu Erdbeben, welche dem allgemein feststellbaren Zurückweichen der Schriftlichkeit im 10. und 11. Jahrhundert standhalten konnte. Die Verwendung von Tätigkeitswörtern wie contingere,130 concutere,131 contremere,132 esse133 sowie in origineller Weise videre134 ist durchaus als Erbe der enormen Bildungsleistung des Karolingerreiches anzuerkennen. Die historiographische Tradition einer in Bezug auf Erdbeben möglichst vielseitigen Erzählweise hält innerhalb des Heiligen Römischen Reichs bis zum Erdbeben von 1117 an. Dessen abwechslungsreiche Sprache in der narrativen Darstellung kann unabhängig von der breiten Überlieferungslage als Höhepunkt früh- und hochmittelalterlicher Geschichtsschreibung zu Erdbeben angesehen werden. Dessen Beispiel zeigt zudem exemplarisch den Gestaltungsspielraum zur Beschreibung schwerer seismischer Ereignisse im Mittelalter auf. Gleichzeitig definiert dieses eigentlich italienische Erdbeben zumindest für die nordalpine Tradition eine Zeitenwende.
129 Siehe z. B. Cicero: De oratore, II 12 (52–53), 124 f. 130 Zum Beben von 1021 siehe z. B.: Annales Hildesheimenses: 32; zum Erdbeben des Jahres 1081 siehe unter anderem Annales Laubienses: 21. 131 Siehe z. B. [EB 870] Annales Fuldenses: 71. 132 Siehe die Beschreibung des Falschbebens von 1000 in den Annales Blandinienses: 22; ebenfalls Annales Elmarenses: 87. Siehe auch Kap. III. 3. 2. 1. a). 133 [EB 867] unter anderem: Annales S. Emmerammi minores: 47; [EB 782]: Notae Wissenburgenses: 405. 134 Siehe hierfür den Eintrag zum Jahr 895 der Regensburger Fortsetzung der Annales Fuldenses. Annales Fuldenses Continuatio Ratisponensis: 126.
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Bereits wenige Jahre später, als Anselm von Gembloux135 sowie die von ihm abhängigen Annales Aquenses136 über ein 1121 vermutlich in den Ardennen verspürtes Erdbeben berichten, zeichnet sich erneut eine sprachliche Reduktion ab. Der Trend verstetigt sich im Gebrauch weniger Formulierungsgewohnheiten. Die klassische Beschreibung terrae motus factus est wird bestimmend für die Berichterstattung.137 Gelegentlich lässt sich zwar der Gebrauch der Verben accidere138 bzw. esse139 in Verbindung mit terrae motus nachweisen. Die sprachliche Ausdruckskraft vorangehender Zeiten erscheint indes erneut gemindert und einer zunehmenden Formalisierung gewichen. Das Erdbeben von 1117 markiert einen Wendepunkt in vielerlei Hinsicht. Was bezüglich abnehmender Narrativität mittelalterlicher Erdbebendarstellungen im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts auffällt, gilt für den gesamten Berichtszeitraum in umgekehrter Weise. Innerhalb der räumlichen Grenzen des nordalpinen Heiligen Römischen Reiches besitzen wir für den Zeitraum von 782 bis zum Jahr 1112 Kenntnis von 39 seismischen Ereignissen.140 Für den weit kürzeren temporären Abschnitt von 1121 bis 1249 sind es immerhin 33 überlieferte Erschütterungen. Keineswegs kann somit ein Desinteresse der mittelalterlichen Geschichtsschreiber an der Überlieferung von Erdbeben bestimmend gewesen sein. Vielmehr verringerte sich aufgrund der stetig zunehmenden Schriftlichkeit der zeitliche Abstand zwischen den jeweils überlieferten Erdbeben von durchschnittlich acht auf vier Jahre. Die Rückbesinnung auf eine historiographische Tradition, wie sie seit den späten Saliern im nordalpinen Reich vermehrt gepflegt wurde,141 schuf für schriftliche Erinnerungsformen zu Erdbeben ein sicheres Fundament. Gleichfalls führte die Welle neuer Klostergründungen des Reformmönchtums142 seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu einem sprunghaften Anwachsen potentieller Überlieferungsorte.143 Steigende Schriftlichkeit sowie ein enger werdendes Netz seismischer Wahrnehmung gingen jedoch nicht mit einem
135 Anselmi Gemblacensis continuatio Chronicon Sigeberti: 378. 136 Annales Aquenses: 37. Bei den Aachener Annalen handelt es sich um ein unselbständig kompiliertes Werk des 12. Jahrhunderts. Die Annalen sind für ihre inhaltlich ungenauen Einträge bekannt. Siehe WATTENBACH, SCHMALE 1976: 371 ff. sowie Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters: Annales Aquenses. 137 Siehe hinsichtlich dessen Kap. II. 1. 2. 2. 138 Beispielhaft Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 775 zum Erdbeben von 1152. 139 Siehe unter anderem für [EB 1179]: Chronica regia Coloniensis: 130; [EB 1201]: Chronicon Montis Sereni: 169. 140 Die Anzahl umfasst ebenfalls falsche Erdbeben und solche, die als fraglich eingestuft worden sind. Siehe die Liste falscher Erdbeben in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 141 GOETZ 1999: 114, 117; HEINZER 2008: 176, 178. 142 Bezogen auf das Kloster Hirsau und dem von dort ausgehenden Hirsauer Reformkreis siehe z. B. JAKOBS 1961. 143 Diese Entwicklung ist zwangsläufig mit einer gesteigerten Bautätigkeit einhergegangen. Siehe diesbezüglich KUMMER 2006: 359–370.
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Mehr von berichtenden Quellen pro Erdbeben einher. Sowohl vor 1117 als auch danach sind es im Durchschnitt drei Überlieferungen, die eine Erschütterung dem schriftlichen Gedächtnis übergeben haben. Die Erinnerungswürdigkeit seismischer Ereignisse verläuft somit vom ausgehenden 8. bis zum 13. Jahrhundert stabil. Allein das quantitative Anwachsen von Klöstern und Stiften führte im Verlauf des beginnenden Hochmittelalters zu einer zunehmenden Dichte seismischer Vollständigkeit144 (siehe auch Abb. 2, 50). Angesichts dieser Feststellung ist der Rückgang einer eloquenten Geschichtsschreibung über Erdbeben, bei gleichzeitig ansteigender Schriftlichkeit, eine gegenläufige Entwicklung, deren Ursache weniger in einem verminderten zeitgenössischen Interesse an Erdbeben als vielmehr in gewandelten Sprachgewohnheiten und somit einem anderen Denken gesucht werden sollte. Hier liegen die weiteren Forschungsfragen dieser Untersuchung begründet. Weshalb ist unter der Vielzahl lateinischer Beschreibungen gerade der Terminus terrae motus ausgewählt worden? Wie ist die formallogische, aber auch wie die grammatische Grundlegung dieses Begriffs zu verstehen? Welche Ausdrücke und Formeln sind konkret für das Früh- und Hochmittelalter maßgeblich und welche Motive sind aus ihrer Anwendung ableitbar? Die im Verlauf der Jahrhunderte zum sprachlichen Selbstverständnis gewordene Nutzung des Ausdrucks terrae motus mit seiner ideen- und vorstellungsgeschichtlichen Wertigkeit für die Erklärung realhistorischer Vorgänge ließe sich wohl kaum anders rekonstruieren. Dies werden die Kapitel zur formallogischen Beschaffenheit und der Grammatik des Begriffs zeigen. Die spezifische Arbeitsweise des mittelalterlichen Geschichtsschreibers, welcher im Bestreben um Glaubwürdigkeit „Mitteilungen älterer Schriftsteller wie Blumen auf geistigen Feldern pflückt“,145 um in den Worten des Kirchenvaters Eusebius von Caesarea aus dem vierten Jahrhundert zu bleiben, ist stets mitzudenken. Im Autoritätsbezug erlangt der mittelalterliche Schreiber eine Bestätigung seiner Argumente und Gedanken. Die so geschöpfte eigene Gewissheit diente schließlich als Grundlage für die Vermittlung von Botschaften an das Publikum. Um das stilprägende Moment in Formulierungen – und im Besonderen in Erdbebenbeschreibungen – erkennen zu können, gilt es, den Ursprung ihrer Normierung zu ergründen. Die Gefahr der schematisch übernommenen Phrase, sozusagen einer aus reinem Selbstzweck praktizierte Eloquenz,146 die Lothar BORNSCHEUER mit 144 Dies betrifft gleichwohl nur hohe Intensitäten. Hinsichtlich der Vollständigkeitsannahme einzelner Intensitätsklassen für die Schweiz, Österreich und Deutschland siehe GRÜNTHAL et al. 1998a: 758. 145 Siehe die im Mittelalter weit verbreitete lateinische Übersetzung des Rufinus. Eusebius Caesariensis: Historia ecclesiastica, I, cap. 1. 4, 9: ex his, quae illi sparsim memoraverant, eligentes ac velut e rationabilibus campis doctorum flosculos decerpentes. 146 Eine solche Warnung sprach z. B. schon Hrabanus Maurus aus. Siehe Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 28, 576: fassi sunt enim, sapientiam sine eloquentia parum prodesse civitatibus, eloquentiam vero sine sapientia nimium obesse plerumque, prodesse numquam. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 577.
Abb. 2: Regional verschiedene Entwicklung (Zone 1–9) von potentiellen Überlieferungsorten zu Erdbeben für den Überlieferungszeitraum und das Kataloggebiet dieser Arbeit.
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dem sogenannten inhaltsleeren Topos definiert hat,147 sollte den kritischen Betrachter stets wachsam machen. Die Autorität Isidors von Sevilla, für den, wie für viele seiner Zeitgenossen, eine in sich geschlossene, durch die lateinische Sprache tradierte Welterklärung selbstverständlich war, umreißt gleichsam spiegelbildlich für die folgenden Jahrhunderte den geistigen Gestaltungsspielraum. Latine autem loquitur, qui verba rerum vera et naturalia persequitur, nec a sermone atque cultu praesentis temporis discrepat.148 1.2.2 Die Etablierung einer narrativen Konstanten – Über den Gebrauch der Wendung terrae motus factus est Anno Domini 1167. Terrae motus factus est 13. Kal. Februar. media nocte.149 Geradezu beispielhaft formuliert der Verfasser der Kölner Königschronik in kurzen Worten seine Erinnerung an das vermutlich bei Siegburg stattgefundene Erdbeben von 1167.150 Wohl keine Wendung ist typischer für die mittelalterliche Beschreibung seismischer Vorgänge anzusehen als terrae motus factus est. Über den gesamten von 782 bis 1250 reichenden Beobachtungszeitraum dieser Studie ist die Verbindung des Terminus terrae motus mit dem ins Partizip Perfekt Passiv gesetzten Verb facere die bestimmende Schreibgewohnheit. Gut zwei Drittel aller überlieferten seismischen Ereignisse dieses Zeitraums (57 von 72) benennen in jeweils mindestens einer Quelle die wahrgenommene Erschütterung mit jenen Worten. Allein in der Überlieferung zum Erdbeben von 1117 finden sich insgesamt 42 Berichte, welche auf die Formel terrae motus factus est, meistens um das Stärkeadjektiv magnus ergänzt, zurückgreifen.151 Dieser Befund zeigt eine zunehmend normiert erfolgende mittelalterliche Beschreibungsweise von Erdbeben auf, welche unabhängig von Niederschriftszeit und lokalen Schreibgewohnheiten einen allgemeinverständlichen Charakter angenommen hat. Auch wenn die Formulierung terrae motus factus est für das Sprachverständnis des Mittelalters eine hohe Geltung besitzt, führt eine differenzierte Betrachtung zur
147 Hinsichtlich einer Unterscheidung zwischen gehaltvollem und leerem Topos siehe BORNSCHEUER 1976: 91–108; sowie Kap. V. 1. 148 Isidor: Etymologiae, II, cap. XVI, 2. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie 95 f. 149 Chronica regia Coloniensis: 117. 150 Die Niederschrift der Erdbebennachricht von 1167 wurde vor Ablauf des Jahres 1177 im Kloster Siegburg vollzogen. Die kritische Einordnung, ob es sich nun hierbei um eine zeitgenössische oder eine zeitnahe Niederschrift handelt, ist daher als Grenzfall zu bewerten. Da der Eintrag jedoch im selbständigen Teil der Chronik erfolgte, ist dessen Quellenwert als hoch einzustufen. Siehe GROTEN 1997: 70. Hinsichtlich weiterführender quellenkundlicher Erläuterungen sowie der ereignisgeschichtlichen Rekonstruktion des Bebens von 1167 sei auf SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung) verwiesen. 151 Davon sind 20 Quellen im Wortlaut als unselbständig anzusehen. 26 Quellen verwenden dabei das Adjektiv magnus.
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Annahme eines weit weniger homogenen Gebrauchs der Wendung, als der Quellenbefund zunächst nahelegt. Die narrativen Wurzeln dieser typisch mittelalterlichen Erdbebenbeschreibung liegen einmal mehr in der Antike. Sie finden sich bei Cicero. Sein Werk De divinatione, eine kleinere Schrift aus dem Œuvre des antiken Universalgelehrten, beschäftigt sich mit der kritischen Erörterung der römischen Weissagungstradition. Zur Darstellung eines Erdbebens als Mittel innerhalb der göttlichmenschlichen Kommunikation wählt er hier die Formel terrae motus factus esset.152 Abgesehen von der inhaltlichen Botschaft blieb Ciceros Ausdruck in seiner eigenen Zeit allerdings ohne Nachahmer. Die römisch-lateinischen Gelehrten bevorzugten andere Wortlaute.153 Eine mittelalterliche Adaption der antiken Aussageabsichten kann somit, trotz des Ursprungs der Wendung, nicht zwingend angenommen werden. Die fehlende römisch-antike Traditionsbildung ist in Bezug auf diese konkrete Formulierung zu beachten. Der Bedeutungsgehalt der Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est ist demnach nicht von dessen Etablierung als zeittypische Darstellung seismischer Ereignisse im Verlauf des Mittelalters zu trennen. Schließlich ist durch den passiven Vergangenheitsausdruck factus est die Betonung eines aus einer bewirkenden Ursache resultierenden Ereignisses oder Sachverhalts in besonders prägnanter Weise möglich. Ungeachtet der im gesamten Überlieferungszeitraum nachweisbaren Verwendung der Formulierung bleibt festzuhalten, dass der syntaktisch verbundene Gebrauch von terrae motus und facere maßgeblich für Zeiten höherer Schriftlichkeit ist. Hierfür spricht zunächst die auffallend häufig belegte zeitgenössische Anwendung in der karolingischen Annalistik. Sowohl die Schreiber der Annales regni Francorum154 als auch die der Annales Fuldenses155 und der Annales Xantenses156 bedienen sich wiederholt dieser Formulierung. Der übrige Quellenbefund, welcher frühmittelalterliche Erdbeben, beispielsweise zu den Jahren 823,157 849,158 867159 oder 944,160 unter
152 Cicero: De divinatione, I 101, 58. 153 Siehe Kap. II. 1. 1. 154 [EB 803]: Annales regni Francorum: 117: DCCCIII. Hoc hieme circa ipsum palatium et finitimas regiones terrae motus factus et mortalitas subsecuta est; [EB 829]: ebd.: 176 f. 155 [EB 838]: Annales Fuldenses: 28: DCCCXXXVIII. XV. Kal. Febr. vespere terrae motus apud sanctum Nazarium et in Wormacense ac Spirense et Lobadunense factus est; [EB 858]: ebd.: 48; [EB 867]: ebd.: 66; [EB 881]: ebd.: 97. 156 [EB 838]: Annales Xantenses: 10: Anno DCCCXXXVIII. [in] quibusdam partibus terrae motus factus est; [EB 845]: ebd.: 14; [EB 858]: ebd.: 19. 157 Sigebert von Gembloux: Chronographia, 338; Supplementum Annalium Xantensium: 39. 158 Annales Ratisponenses (Codex Monacensis): 582. 159 Chronicon Suevicum Universale: 65; Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 106; Annales Mellicenses: 496; Annales Admuntenses: 573; Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 770. 160 Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi: 114; Chronicon Suevicum Universale: 67; Annales Mellicenses: 496; Annales Admuntenses: 574.
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Verwendung des vorliegenden Musters überliefert, ist indes mehrheitlich einer vergangenheitsgeschichtlichen Tradition zuzuordnen. Die Tradierung erfolgt zum einen durch Hermann von Reichenau,161 zum anderen durch Zeugnisse, die in Abhängigkeit zu diesem stehen.162 Die Rezeption der karolingerzeitlichen Erdbeben ist somit, abseits der zeitgenössisch arbeitenden Annalistik, überwiegend ein Werk des fortschreitenden 11. sowie beginnenden 12. Jahrhunderts.163 Allgemeinhin ist eine hohe Dichte der genannten Wendung in annalistischen Quellen nachweisbar.164 Das Potential einer kurzen und prägnanten Informationsweitergabe ist durch die Formulierung zweifellos gegeben. Ob alleine dieser Aspekt sich auf die narrative Etablierung von terrae motus factus est förderlich ausgewirkte, wird noch zu klären sein. Das historiographische Bewusstsein, welches sich nach dem Auseinanderfallen der karolingischen Teilreiche nördlich der Alpen vor allem im Bodenseeraum erhielt,165 führte zu einer Rückbesinnung auf die Verwendung der Formel terrae motus factus est. Generell ist die fortgeschrittene Rezeptionsstufe in der Verwendung von terrae motus factus est ein quellenkritischer Befund. Beinahe alle in ihrem Berichtsgegenstand unselbständig verfassten Quellen, die dieses Muster ausschreiben, sind oftmals Jahrzehnte nach dem jeweiligen Ereignis entstanden.166 Besonders die Überlieferung des Erdbebens von 1117 ist dafür beispielhaft. Zur besseren Veranschaulichung des sprachlichen Wandels, der sich schließlich in der Wendung terrae motus factus est verstetigen sollte, scheint es erneut notwendig zu sein, exemplarisch vorzugehen. Die beliebte Verwendung dieser Formulierung in der karolingischen Annalistik konnte bereits nachgewiesen werden. Allerdings zeigen besonders die Einträge der sogenannten ostfränkischen Reichsannalen einen
161 Hermann von Reichenau tradiert des Weiteren Nachrichten zu den Erdbeben von 801 (Chronica de sex aetatibus mundi: 101), 803 (ebd.), 823 (ebd.: 102), 829 (ebd.: 103), 838 (ebd.), 858 (ebd.: 105), 859 (ebd.), 872 (ebd.: 107) und 881 (ebd.: 108). 162 Dies betrifft vorrangig die Quellen der österreichischen Annalistik, wie die Annales Mellicenses, die sogenannten Annales Admuntenses bzw. die Annales Rudperti Salisburgenses. Siehe diesbezüglich SCHMALE 1975: 148. 163 Dies betrifft die Überlieferung des Erdbebens von 823, die maßgeblich durch Sigebert von Gembloux sowie dem sogenannten Supplementum Annalium Xantensium, einer im Kloster Egmond angefertigten Fortsetzung der Annales Xantenses, erfolgte. Siehe: Annales Xantenses, VI; Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters: Annales qui dicuntur Xantenses. Gleiches kann aus dem im späten 12. Jahrhundert niedergeschriebenen Eintrag zum Erdbeben von 849 erkannt werden, welchen der Regensburger Domkanoniker Hugo von Lerchenfeld vermutlich aus einer heute verlorenen Handschrift entnahm und in sein Notizbuch (heute BSB München, Clm. 14733) übertrug. Die frühmittelalterliche Provenienz der Beschreibung ist daher keineswegs gesichert. Siehe besonders PROBST 1999: 15, 17, 21 f., 23; BAETHGEN 1924: 267. 164 Nur etwa jede fünfte Quelle, welche die Wendung terrae motus factus est ausschreibt, weist chronistische Züge auf. 165 GOETZ 1999: 114. Mit Bezug auf die Reichenau siehe BEGRICH 1986: 1062, 1076. 166 81 von insgesamt 82 unselbständigen Quellen, welche die Formulierung terrae motus factus est verwenden, sind zeitnahe (27x) oder vergangenheitsgeschichtlich (54x) entstanden.
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nach wie vor elaborierten Schriftgebrauch in der Darstellung seismischer Ereignisse auf. Für die Annales Fuldenses, hinsichtlich der Wiedergabe von Erdbeben ohnehin eine der beständigsten Quellen des Frühmittelalters, sind insgesamt vier verschiedene narrative Verbindungen nachweisbar. Neben der bereits erwähnten Verwendung von terrae motus sowie facere in fünf Einträgen167 sowie dem gleichfalls angesprochenen terra tremuisse für die Beschreibung des zu vermutenden Erdbebenschwarms von 855168 findet sich in dem ostfränkischem Geschichtswerk weiterhin der alleinige Gebrauch des Terminus terrae motus.169 Eine Zuordnung auf explizite Schreibergewohnheiten lassen die Annales Fuldenses am ehesten im Falle der Verbindung von terrae motus und dem Verb concuterre zu. Beispielhaft sei diesbezüglich auf die beiden Erdbeben aus den Jahren 870 und 872 bei Mainz verwiesen.170 Die für den Berichtszeitraum von 829 bis 881 durchmischt verlaufende Formulierung der insgesamt neun seismischen Ereignisse lässt zudem – abseits einer wenig aussichtsreichen Zuordnung möglicher Verfasser – kaum Rückschlüsse auf eine besonders prädestinierte Verwendung des Ausdrucks zur Darstellung überdurchschnittlich schwerer Erdbeben zu. Die heterogene Entstehungsgeschichte der Annales Fuldenses mit ihren wechselnden Entstehungsorten vermittelt, da einzelne Zuweisungen schwer belegbar sind, vielmehr ein allgemeines Bild des im Karolingerreich angewendeten eloquenten Sprachgebrauchs. Die vergleichsweise hohe Schriftlichkeit, die aus der Karolingischen Renaissance hervorging, lässt einen Fundus möglicher Beschreibungsweisen erscheinen, die gleichwertig zueinander angewendet wurden. Nam et eadem dici solent aliter atque aliter manetque sensus elocutione mutata.171 So fasst es schon der römische Rhetor Quintilian, im Karolingerreich gleichwohl kein Unbekannter,172 treffend zusammen. Es ist ein grundsätzliches Merkmal sprachlichen Ausdrucksvermögens, dass sich das Gleiche verschieden formulieren lässt, ohne dass der Sinn des Gesagten einen unmittelbaren Qualitätsverlust erleiden muss.
167 [EB 829]: Annales Fuldenses: 25: DCCCXXVIIII. Ante pascha in sabbato sancto terrae motus noctu Aquisgrani factus; [EB 838]: ebd.: 28; [EB 858]: ebd.: 48; [EB 867]: ebd.: 66; [EB 881]: ebd.: 97. 168 [EB 855]: Annales Fuldenses: 45. 169 [EB 859]: Annales Fuldenses: 54: DCCCLVIIII. Urbs Mogontia cum locis sibi contiguis per totum anni circulum inmani terrae motu vexatur. 170 [EB 870]: Annales Fuldenses: 71: 870. Ipsa quoque civitas terrae motu bis numero concussa est; [EB 872]: Annales Fuldenses: 76 f.: 872. Sed et terrae motus III. Non. Decembris hora prima Mogontiam concussit civitatem. 171 Quintilianus: Institutio oratoria, IX, 1. 16; Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, II, 257. 172 Quintilians Lehrbuch Institutio oratoria wurde, obwohl als antikes Original verloren, in zahlreichen frühmittelalterlichen Handschriften, vor allem seit dem 9. Jahrhundert, weitertradiert. Auch wurde Quintilian in klassischen schulrhetorischen Werken dieser Zeit, so z. B. bei Cassiodor und Isidor von Sevilla, ausgeschrieben. Siehe SCHIRREN 2005: 96 f.
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Mit dem Zerfall der karolingischen Teilreiche und der Neuordnung der Herrschaftsbereiche trat eine Phase zurückgehender Schriftlichkeit ein. Ausgehend von wenigen erhalten gebliebenen Bildungszentren, beispielsweise in Liège173 oder in der Nähe des Bodensees, in den Klöstern Reichenau und St. Gallen, stellt sich mit den Ottonen und Saliern eine Konsolidierung der Schriftlichkeit ein.174 Sie sollte schließlich in eine Erneuerung des historiographischen Bewusstseins im Verlauf des 11. Jahrhunderts übergehen. Beispielgebend für diese Zeit und in ihrem Nachhall von großer rezeptionsgeschichtlicher Wirkung war das Wiedererstarken der literarischen Gattung der Weltchronik.175 Hermann von Reichenaus ab 1048 entstandenes Geschichtswerk176 bildete hierfür eines der ersten Vorbilder. Mit Blick auf seine Körperbehinderung, die ihm den mittelalterlichen Namen Contractus – der Lahme – einbrachte und ihn zeitlebens zu einer sitzenden Tätigkeit zwang,177 verdeutlicht sein Werk die gelebte Praxis mittelalterlicher Kommunikationswege. Ähnlich wie der Mainzer Inkluse Marianus Scottus, ebenfalls Autor einer bedeutenden Weltchronik,178 verfasste Hermann seine Chronik weitestgehend auf Grundlage mündlich an ihn herangetragener Nachrichten, aber auch aufgrund ihm zugänglicher schriftlicher Quellen.179 Auf diese Weise fanden kompilierte Informationen zu 12 mittelalterlichen Erdbeben den Weg in seine Weltchronik. Im Vergleich zu den weit älteren Annales Fuldenses ist auffällig, dass Hermann für die Beschreibung seismischer Ereignisse beinahe ausschließlich auf die narrative Verbindung von terrae motus und facere zurückgreift. Allein bei der Darstellung der beiden Erdbeben von 823 sowie 859 entscheidet er sich statt facere für die Verwendung des Verbes concutere.180 Das Ausmaß der überlieferten Gebäudeschäden an der Aachener Kaiserpfalz181 bestärkte Hermann wohl bei der Anfertigung seines Eintrages zu 823 in der Benutzung eines weniger allgemein beschreibenden Verbes. Alle übrigen Erwähnungen, zu den zehn für Hermann vergangenheitsgeschichtlich 173 RENARDY 1979: 313 f., 316 f., 321. 174 FREISE 1984: 482 f.; AUTENRIETH 1977: 43; WATTENBACH, LEVISON, LÖWE 1990: WATTENBACH, LEVISON, LÖWE 1990: 787–789; WATTENBACH, SCHMALE 1976: 286–288. 175 GOETZ 1999: 114. 176 Zur Entstehungsgeschichte der Chronica de sex aetatibus mundi Hermanns von Reichenau siehe Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 68; POKORNY 2001: 489. 177 Zur Lebensgeschichte Hermanns sowie den Grundzügen seiner monastischen Ausbildung siehe z. B. BORST 1984: 392–400; STRUVE 2009b: 2167–2168. 178 BRINCKEN 1961: 193–194, 196; BRINCKEN 1982: 970, 973 f.; MACCARTHY 1892: 7. 179 Siehe BRINCKEN 1982: 978 sowie FRIED 2012: 190 f. 180 [EB 823]: Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 102: Inter alia prodigia terrae motus Aquense palatium concussit; [EB 859]: ebd.: 105: Crebri terrae motus Mogontiacum concutiunt. Hermann schreibt in beiden Fällen die Annales Fuldenses aus. 181 Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Untersuchung des Erdbebens von 823 siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). Für Rückschluss auf die Gebäudeschäden am Aachener Dom siehe REICHERTER et al. 2011: 153, 155; SCHAUB, KOHLBERGER-SCHAUB 2008: 121; SCHAUB, KOHLBERGERSCHAUB 2007/2008: 34 ff.
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stattgefundenen Beben von 801 bis 944182 sowie zu zwei bis in seine Gegenwart reichenden Ereignissen von 1021 und 1048,183 veranschaulichen die wachsende Präsenz einer auf facere beruhenden Formulierung.184 Hermann ist in der Kompilation seiner Nachrichten somit in sprachlich reduzierender Weise vorgegangen. Von ihm inhaltlich übernommene Einträge, für seinen unselbständigen Teil maßgeblich aus den Fuldaer Annalen oder den Annales regni Francorum, erscheinen in einer sprachlich vereinheitlichenden Weise, welche die Aussage von facere in das Zentrum der Beschreibung setzt.185 Handelt es sich bei diesem Vorgehen um den Wunsch nach Versachlichung?186 Eine aus unzureichender Sprachkenntnis geborene Reduktion ist angesichts des in den Feinheiten des Versmaßes versierten und um einen elaborierten Ausdruck bestrebten187 Hermann gänzlich auszuschließen. Es sind wohl andere Motive, welche hinter der Gepflogenheit des Reichenauer Mönchs verborgen liegen, Erdbeben mit terrae motus factus (est) zu beschreiben. Hermann von Reichenau wie auch sein Zeitgenosse Marianus Scottus standen, wenn nicht in der komputistischen, so doch in der historiographischen Tradition von Bedas Weltchronik De ratione temporum.188 Die konzeptionelle Verwandtschaft liegt im heilsgeschichtlichen Aufbau beider Werke, ergänzt um einen ausgeprägt autobiographischen Anspruch.189 Die Maßgabe einer christlichen Heilsgeschichte ist der Wesenskern mittelalterlicher Weltchronistik,190 als deren konkrete Wortwerdung sich u. a. die spezifische Narration terrae motus factus est erweist. Hermanns Umsetzung einer sachlich-nüchternen Chronologie bezweckt letztlich die historische
182 [EB 801 u 803]: Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 101, [EB 823]: ebd.: 102, [EB 829 u. 838]: ebd.: 103, [EB 858]: ebd.: 105, [EB 867]: ebd.: 106, [EB 872]: ebd.: 107, [EB 881]: ebd.: 108, [EB 944]: ebd.: 114. 183 [EB 1021]: Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 120, [EB 1048]: ebd.: 128. 184 Ergänzend sei hinzugefügt, dass Hermann von Reichenau in seinem Eintrag zu den Erdbeben von 829, 838, 867, 872, 881 und 1021 auf die additive Verbindung von facere und esse verzichtet und ausschließlich ein factus ausschreibt, . 185 So im Fall der Erdbeben von 801 und 823, die hinsichtlich ihrer zeitgenössischen Überlieferung gänzlich ohne die Verwendung von facere auskommen. Siehe Annales Mettenses priores: 87; Annales regni Francorum: 114, 163; Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XXXVII, 420. 186 Hermann wird in der quellenkundlichen Literatur für seinen sachlichen und klaren Stil gelobt. Siehe z. B. BRUNHÖLZL 1969: 649; STRUVE 2009b: 2168. 187 So schreibt es Bernold von St. Blasien in seinem zu Beginn der eigenen Chronik gesetzten Nachruf für Hermann. Siehe Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz: 163 f.: artium omnium perplexitates metrorumque subtilitates per semet ipsum suo sensu fere comprehendit; ebd.: 164 f.: tamen auditoribus suis eloquens et sedulus dogmatistes; ebd.: 169: Libellum ad hec de octo vitiis principalibus iocundulum, metrica diversitate liricum, poetice satis elaboravit. 188 SCHMALE 1974: 127, 131; BRINCKEN 1961: 192, 202 f.; BRINCKEN 1982: 972, 988; Beda Venerabilis: De ratione temporum; Beda Venerabilis: Chronica maiora et minora. 189 BRINCKEN 1961: 192–194; BORST 1984: 393; BORGOLTE 1979: 4, 15. 190 KRÜGER 1976: 17.
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Übermittlung und Bekräftigung des sich im sechsten Weltzeitalter offenbarten Werk Gottes. Eine alle regionalen Grenzen überschreitende, den gesamten mundus191 von Christi Geburt bis in seine eigene Gegenwart aufnehmende Darstellung ist mit den Worten von Franz-Josef SCHMALE als „die Geschichte etwas von Gott Gewollte[n]“192 aufzufassen. Der Titel Chronica de sex aetatibus mundi wie auch die sprachliche Liaison von terrae motus sowie facere kommen also nicht von ungefähr. Sie entsprechen einem fassbar artikulierten Weltverständnis.193 Auch Marianus Scottus erarbeitet eine christliche Weltchronik. Der Mainzer Inkluse argumentiert merkbar in der Tradition der Evangelien194 und bekräftigt damit seine heilsgeschichtliche Motivation. Die inhaltliche und sprachliche Nähe zu den Formulierungsgewohnheiten der Vulgata ist nicht zu vernachlässigen und entspricht generell der Belegweise mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Bezogen auf die Beschreibung mittelalterlicher Erdbeben verdeutlicht sich diese Anspruch konkret an der chronistischen Darstellung des Kreuzestodes Christi in der Chronik Hermanns,195 die den Duktus des Matthäus-Evangeliums aufnimmt196 und somit die wesentliche Provenienz der Wendung terrae motus factus est für die mittelalterliche Argumentationskultur belegt.197 Die seit der Mitte des 11. Jahrhunderts zunehmende Etablierung der Formel terrae motus factus est als standardisierte Erdbebenbeschreibung erlebte im Verlauf des 12. Jahrhunderts eine erneute Verbreitung. Während im Frühmittelalter terrae motus factus est eine gleichwohl bekannte, aber neben anderen Erdbebenbeschreibungen gleichwertig verwendete Darstellung war, erfuhr die Formulierungsgewohnheit im Hochmittelalter eine deutliche Normierung. Beinahe alle bekannten Beben nach 1117 werden durch mindestens eine Quelle überliefert, die sich dieser Wortwahl bedient.198 Als Beleg für den zeitgenössischen Gebrauch der Wendung besitzt die zu Beginn des 12. Jahrhunderts einsetzende, eigenständig verfasste Österreichische
191 Zum mundus-Konzept siehe Kap. III. 1. 1. 5 sowie GOETZ 2012: 59–74. 192 SCHMALE 1974: 126; ebenso SCHMALE 1978: 5 f. 193 Hinsichtlich der Intentionen Hermanns siehe auch BORST 1984: 392; SCHMALE 1981: 1086. 194 BRINCKEN 1982: 974, 991. Zu erkennen auch in Marians Darstellung des Erdbebens vom 1. 12. 1080 bei Mainz. 195 Hermann fasst die Sonnenfinsternis sowie die drei Erdbeben zwischen dem Kreuztod sowie der Auferstehung Christi mit den Worten eclipsis solis et maximi terrae motus facti sunt zusammen. Siehe Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi: 75. 196 Matth 27, 51; 27, 54; 28, 2. 197 Für eine eingehende Untersuchung des biblischen Erdbebenbegriffs siehe Kap. IV. 2. 198 Ab dem Jahr 1117 findet sich in 30 Überlieferungen von insgesamt 33 bis zum Jahr 1249 bekannten Erdbeben mindestens eine Quelle, welche terrae motus factus est zur Umschreibung verwendet. Von 782 bis 1117 sind es immerhin 25 von 39 Erdbeben, die diese Wendung nutzen. Jedoch erfolgt die Überlieferung dieses Musters hierbei in 29 von insgesamt 59 relevanten Quellen vergangenheitsgeschichtlich.
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Geschichtsschreibung199 exemplarischen Wert. Quellenkundlich wurde die Annalistik und Historiographie des Alpenlandes stets leidenschaftlich und mit hohem Engagement diskutiert. Im Fokus stand hierbei auch die Entstehungsgeschichte der Admonter Annalen.200 Von WATTENBACH für die MGH ediert,201 beruhen die Annales Admuntenses maßgeblich auf einer in Admont zwischen 1177 und 1181 verfassten, heute verlorenen Handschrift.202 Sie wird in der neueren Forschung als Archetyp eines als „alpenländische Annalengruppe“ benannten Überlieferungszusammenhangs interpretiert. Die älteste erhaltene Rezeptionsstufe, die ab 953 vermutlich direkt von dieser Stammhandschrift abgeleitete wurde, soll im Folgenden besonders beachtet werden.203 Bis zum Jahr 1181 schrieb ein anonymer Mönch des Klosters Garsten in einem Zug alle Nachrichten in annalistischer Form nieder.204 Danach taten es ihm zahlreiche Mönche über viele Einträge hinweg gleich, bis die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrte Handschrift ÖNB, Cod. 340, schließlich mit dem Jahresbericht von 1257 abbricht.205 Insgesamt werden in sechs annalistischen Einträgen Erinnerungen an vergangene Erdbeben überliefert. Die österreichische Annalistik, und mit ihr Cod. 340, fußt bis 1139206 bzw. 1143207 auf einem weitestgehend einheitlichen Nachrichtenbestand. Der kompilierte Charakter des sogenannten Chronicon Garstenses sowie dessen Abhängigkeit von maßgeblich aus dem Kloster Reichenau stammendem Material208 zeigt sich besonders in ihrem älteren Teil.209 Die tradierte Erschütterung des Jahres
199 Siehe unter anderem WATTENBACH, SCHMALE 1976: 214 sowie Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters: Annales Mellicenses. 200 Für einen Querschnitt des Forschungsdiskurses zur österreichischen Annalistik siehe: KLEBEL 1928: 43–176; LHOTSKY 1963: 173–203; SCHMALE 1975: 144–203, bes. 185–187; WATTENBACH, SCHMALE 1976: 224–229; BEIHAMMER 1998: 253–327. 201 Annales Admuntenses: 569–579; WATTENBACH, SCHMALE 1976: 227; ebenfalls BEIHAMMER 1998: 263. 202 Begründet vorgetragen durch BEIHAMMER 1998: 261. 203 BEIHAMMER 1998: 261, 263. Dem Überlieferungszusammenhang zugehörige Handschriften sind: Wien, ÖNB, Cod. 340; ÖNB, Cod. 1180; Vorau, StiftsB., Cod. 33; Admont, StiftsB., Cod. 501; München, BSB, Clm. 24571; Salzburg, StiftsB. St. Peter, Cod. a VII 45. 204 Zumindest endet mit dem Jahresbericht zu 1181 die Hand des ersten Schreibers. Siehe Chronicon Garstenses, ÖNB Wien, Cod. 340, f. 2v; siehe ebenfalls UNTERKIRCHER 1969: 19. Cod. 340 enthielt wohl ursprünglich ebenfalls Nachrichten vor 953. Laut UNTERKIRCHER sind diese aber verloren. 205 ÖNB Wien, Cod. 340, ff. 2v-4v. 206 BEIHAMMER 1998: 254. 207 WATTENBACH, SCHMALE 1976: 225; SCHMALE 1975: 147, 185. 208 SCHMALE 1975: 148; WATTENBACH, SCHMALE 1976: 214; SCHMALE 1974: 155–158. 209 Vgl. die Jahresberichte von 953 bis 1043 des sogenannten Chronicon Suevicum Universale, einer vermutlichen Vorstufe von Hermanns Weltchronik, mit den auf ÖNB, Cod. 340 ff. 1r-1v eingetragenen Notizen.
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1021210 bezieht sich in Gänze auf ein Ereignis im Bodenseeraum. Im Alemannischen ereigneten sich ebenfalls die Erdbeben der Jahre 867 sowie 945, die, wenn auch nicht in Cod. 340 tradiert, dem gleichen Überlieferungszusammenhang zuzuordnen sind, wie der rekonstruierte Wortlaut der Admonter Annalen zeigt.211 Terre motus factus est lässt sich in jenen vier Beschreibungen des Garstener Codex lesen, welche die Erdbeben zwischen 1117 und 1163212 zum Gegenstand haben. Auch der nach 1181 vollzogene oftmalige Schreiberwechsel blieb ohne Auswirkung auf die Anwendung dieser spezifischen Wortfolge. Die Erinnerung zum schweren Erdbeben von 1201 im Lungau folgt in Cod. 340 der etablierten Darstellungsweise213 und belegt die terminologische Kontinuität. Das Beispiel der österreichischen Annalistik veranschaulicht, dass die bereits anhand der Weltchronik Hermann von Reichenaus dargestellte Gewohnheit, Erdbeben mit terrae motus factus est schriftlich festzuhalten, sich folglich auch in der Berichtsweise des östlichen Alpenraums fortsetzte. Die Beschreibung der Erdbeben im Garstener Codex (ÖNB, Cod. 340) unterstreicht die These dieser Arbeit, dass im Verlauf des 12. Jahrhunderts ein narrativer Konsens in der Beschreibung seismischer Ereignisse im nördlichen Heiligen Römischen Reich eintrat. Die mit den Worten Lothar BORNSCHEUERS „formelhafte Fixierung“214 eines gemeinsamen zeitgenössisch-mittelalterlichen Wissenshorizontes scheint Teil einer historiographischen Traditionsbildung und somit Ausdruck eines einheitlichen Kommunikationsgefüges geworden zu sein. In wie weit gleichzeitig Aspekte der vielschichtigen Interpretierbarkeit der symbolhaft formulierten Wendung terrae motus factus est und somit der Anwendungsbezug für eine konkrete Gegenwartsanalyse gegeben sind, wird Teil folgender Kapitel sein.215
210 ÖNB, Cod. 340, f. 1r: M.XXI. Terre motus factus est magnus IIII. Id. mai. Feria VI. Die Annales Admuntenses in der Edition Wattenbachs berichten hingegen: 1021. Terre motus factus est magnus. Siehe MGH SS 9, 574. 211 [EB 867]: Annales Admuntenses: 573: 867. Terre motus factus est et cometes visa est; [EB 944]: ebd.: 574: 945. Terrae motus factus est. 212 [EB 1117]: ÖNB, Cod. 340, f. 2r: M.CXVI. Terre motus factus est magnus per universam Teutonicam et Italicam terram, IIII. Nonas Ianuarii; [EB 1127]: ebd.: M.CXXVII. [. . .] Terre motus factus est magnus nocte et die Idus Aprilis; [EB 1152]: ebd.: M.CLII. Terrae motus factus est V. Kal. Nov. circa vesperam; [EB 1163]: ebd.: f. 2v: M.CLXIII. Terre motus factus est magnus V. Kal. Octobris vespere. Für die Überlieferung im Rahmen der Admonter Annalen vgl. Annales Admuntenses: 577–578, 581, 583, 589. 213 [EB 1201]: ÖNB, Cod. 340, f. 2v: M.CCI. Terremotus magnus factus est IIII. Nonas Maii. 214 BORNSCHEUER 1976: 103. 215 Die hier angesprochenen Merkmale Potentialität, Intentionalität, Symbolizität sowie Habitualität, als Bestandteile eines Topos, beruhen auf Lothar BORNSCHEUERS Topikbegriff. Siehe BORNSCHEUER 1976: 91–108, bes. 105 u. 108; Als Beispiele für die Forschungsrezeption siehe SPILLNER 1981: 257 und ALLGAIER 1981: 266; OSTHEEREN 2009: 687.
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2 Narrativ „die Erde zum Beben bringen“ – Der mittelalterliche Erdbebenbegriff terrae motus in der früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung des nördlichen Mitteleuropas Als Ergebnis der bisherigen Untersuchung kann resümiert werden, dass sich aus einer Vielzahl antiker lateinischen Erdbebenbeschreibungen der Terminus terrae motus als einheitliche Formulierungsgewohnheit seit dem Frühmittelalter etablierte. Die Beschränkung auf diese Wendung ging im weiteren Verlauf des Mittelalters zusätzlich mit auf typische Tätigkeitswörter wie facere reduzierten syntaktischen Verbindungen einher. Diese Entwicklung konnte als Ausdruck mittelalterlicher Schriftkultur umrissen werden, die in Zusammenhang mit der Entwicklung mittelalterlicher Geschichtsschreibung zu sehen ist. Die unterschiedlich praktizierten Level von Schriftlichkeit und die Nutzung typischer literarischer Gattungen, sei es die Weltchronistik oder die Annalistik, sind als Rahmenbedingungen zu verstehen, innerhalb derer sich eine explizite mittelalterliche Erklärungsweise von Erdbeben narrativ durchsetzte. Ausgehend von einem rein technischen Verständnis spezifischer Arbeitsweisen wurde bereits auf die besonderen Intentionen eingegangen, die durch die Verwendung der genannten literarischen Gattungen tradiert wurden. Die Etablierung typischer mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen entspricht somit einem klar umrissenen Weltverständnis und einer spezifischen Aussageabsicht. Der konzeptionelle Hintergrund dieses Vorgangs ist in der schulrhetorischen inventio beheimatet. Die für wahr und erinnerungswürdig erachteten Tatbestände und Ereignisse216 bildeten die Grundlage, für welche die mittelalterliche Historiographie geeignete Ausdrücke für eine den Inhalten angemessene Darstellung finden musste.217 In der inventio liegt die Quelle der Argumentation. Sie bildet die individuellen Schreiberabsichten ab und begründet die elocutio als deren ausführendes Instrument. Die Umsetzung dieses Prinzips, das Quintilian – bildlich gesprochen – als
216 Siehe hinsichtlich des antik-frühmittelalterlichen Konsenses über die Funktionsweisen von Geschichtsschreibung z. B. Cicero: De oratore, II 15 (62–63), 128; Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. XXVIII (44.), 63; Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, 6. Später war Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 3, 360–370 maßgeblich. 217 So definiert Alkuin, in der Tradition von Ciceros De inventione stehend die ersten drei Teile der Rhetorik, wie folgt: Inventio est excogitatio rerum verarum aut verisimilium, quae causam probabilem reddant: dispositio est rerum inventarum in ordinem distributio: elocutio est idoneorum verborum ad inventionem accommodatio. Siehe Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 4, 526. Dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 86. Auch in Rhetorica ad Herennium: I, cap. II, 8; Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 2, 2, 310.
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Modellierung mehrerer Beschaffenheiten aus dem gleichen Wachs218 umschreibt, wird auf den nächsten Seiten ersichtlich werden. In welchen narrativen Varianten vermochte es die mittelalterliche Geschichtsschreibung, die Erde sprachlich erbeben zu lassen, und welche Rückschlüsse sind hieraus für die ereignisgeschichtliche Rekonstruktion mittelalterlicher Erdbeben zu ziehen?
2.1 Die Verwendung typischer Verben als Muster zeitgenössischer Berichterstattung über Erdbeben Terrae motus factus est war eine prägende, aber bei weitem nicht die einzige Darstellungsweise für seismische Ereignisse im Mittelalter. Die bisherige Arbeitsweise konnte den Gebrauch des Terminus terrae motus als regional und zeitlich variabel umreißen. Dieser Sachverhalt ermutigt zu einer eingehenden Betrachtung der quellenmäßig belegten Anwendung. Es ist auffällig, dass besonders die zeitgenössische Berichterstattung zu früh- und hochmittelalterlichen Beben an die Verwendung spezifischer Verben gebunden ist. Hierbei sind zwei wesentliche Merkmale dieser Formulierungsgewohnheiten quellenmäßig belegt. Zum einen lässt sich ein maßgeblicher Einsatz in der Annalistik nachweisen, zum anderen ist eine Benutzung für das gesamte Früh- und Hochmittelalter mit regional wechselnden Schwerpunkten festzustellen. 2.1.1 Concutere Die Verwendung des Begriffs terrae motus in Verbindung mit dem Verb concutere ist sehr alt und bereits in antiken Erdbebenbeschreibungen zu lesen.219 Die frühchristlichen Quellen der Spätantike knüpfen unmittelbar an diese Ausdrucksweise an. Tertullian belegt in seinem dogmatischen Werk De carnis resurrectione die Adaption dieser Narration für die beginnende Patristik.220 Die Darstellung seismischer Ereignisse mittels des Verbes concutere ist in der Spätantike durchaus in den Kontext einer alttestamentlichen Tradition zu setzen. In zahlreichen Passagen des Alten Testaments, so z. B. im Buch Hiob oder der auf den hebräischen Urtext zurückgehenden lateinischen Fassung des Psalters,221 stößt man auf diese Formulierung. Hierin besteht ein weiteres Indiz, das gleichermaßen auf Herkunft sowie Kontinuität
218 Quintilianus: Institutio oratoria, X, 5. 9: Velut eadem cera aliae aliaeque formae duci solent. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, I, 517, 519. 219 So z. B. Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 5, 239; siehe besonders Kapitel II. 1. 1. 220 Tertullian: De carnis resurrectione, cap. 26, 62: [Dehinc subiungit] vidit et concussa est terra; montes sicut cera liquefacti sunt a facie domini, caro scilicet profanorum. Dt. Übersetzung siehe Tertullian: Über die Auferstehung des Fleisches, 453. 221 II Sam 22, 8; Hi 9, 6; Ps 17, 8 (iuxta Hebr.); Ps 45, 7 (iuxta Hebr.); Ps 76, 19 (iuxta Hebr.); Jes 14, 16; Jes 24, 18.
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der Beschreibung hinweist. Tertullians Zitat concussa est terra zeigt durch seine vor der Kanonisierung der Vulgata erfolgten Niederschrift die Existenz paralleler Überlieferungsstränge der Heiligen Schrift auf,222 da der von ihm zitierte Ps 96, 4 in seinen späteren Übersetzungen mit commota est terra223 bzw. contremuit terra224 wiedergeben wird. Der eigenständige Wortlaut bestätigt somit die antiken Wurzeln einer auf concutere beruhenden Erdbebenbeschreibung. Letztlich gilt dieser Sachverhalt wohl auch für Hieronymus’ lateinische Übersetzung des hebräischen Psalters, da die auf Grundlage der Septuaginta beruhende Fassung einen anderen Wortlaut bevorzugt.225 Die wortgewordene Beobachtung einer schüttelnden Einwirkung der Erde, so die wohl zutreffende buchstäbliche Übersetzung von concutere, war auch in der christlich-spätantiken Geschichtsschreibung üblich. Hieronymus’ Zeitgenosse Orosius macht sich in seinen im Mittelalter weitverbreiteten226 Historiae adversum paganos diese Formulierung zur Beschreibung von Erdbeben zu eigen.227 Allein 43 noch heute erhaltene Abschriften seiner Chronik entstanden vor der ersten nachchristlichen Jahrtausendwende.228 Sie bezeugen gerade für das Frühmittelalter die Bekanntheit und stilprägende Rolle seiner Arbeit. Sicherlich dürften Orosius’ Historiae ihren Teil zur Verbreitung einer auf concutere gestützten Beschreibung seismischer Ereignisse beigetragen haben. Die Auswertung der nordalpinen Schreibgewohnheiten über Erdbeben ergab, dass die mit concutere verbundene Aussage maßgeblich eine Besonderheit des Frühmittelalters ist.229 Ipsa quoque civitas terrae motu bis numero concussa est.230 Mit diesen Worten überliefern die bereits zitierten Annales Fuldenses zeitgenössisch ein Beben im Jahr 870. Die passive Konjugation concussa ist eine häufige Beschreibungsweise in Mainzer Quellen. Die Fuldaer Annalen, welche zu dieser Zeit in der Bistumsstadt am Rhein geführt wurden,231 überliefern zusätzlich eine weitere
222 Gleiches betrifft Augustinus. Siehe Kap. II 1. 1. 3. 223 Ps 96, 4 (Psalter Gallicanum). 224 Ps 96, 4 (iuxta Hebr.). 225 Vgl. Ps 17, 8 (Psalter Gallicanum); Ps 45, 7 (Psalter Gallicanum); Ps 76, 19 (Psalter Gallicanum). 226 Zur Verbreitung von Orosius’ Historiae adversum paganos, die er nach Ermutigung durch Augustinus stark apologetisch motiviert niederschrieb, siehe GUENÉE 1980: 250, 271; GOETZ 1999: 128, Anm. 101; OLBERG-HAVERKATE 2004: 155 sowie HEINZELMANN 2002: 39. 227 Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um Beben aus vorchristlicher Zeit handelt. Siehe Orosius: Historiae, II, cap. 18. 6, 129; III, cap. 3. 1, 146; IV, cap. 13. 13, 242. 228 GUENÉE 1980: 271; GOETZ 1999: 128. 229 Eine Ausnahme bildet diesbezüglich die vergangenheitsgeschichtliche Darstellung des Bebens von 823 durch Hermann von Reichenau, welches er jedoch in Kenntnis der Annales regni Francorum verfasste. Siehe Chronica de sex aetatibus mundi: 102: Inter alia prodigia terrae motus Aquense palatium concussit. 230 Annales Fuldenses: 71. 231 WATTENBACH, LEVISON, LÖWE 1990: 682, 686.
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Erschütterung in dieser Weise.232 Auch Marianus Scottus nimmt in der zweifellos allegorischen Darstellung des Erdbebens von 1080 diesen regionaltypischen Duktus auf.233 In seinem Stil hat Orosius’ Gewohnheit, besonders schwere Schütterwirkungen mit der Vokabel concutere zu verbinden, ein Fortbestehen. Marians zeitgenössische Worte, wonach sich durch die vermeintliche Stärke des Erdbebens die Gräber öffneten und die Toten herausgeschleudert wurden, lässt, abseits der seismologischen Bewertung dieses Vorgangs.234 zusätzlich eine Nähe zu Tertullians De resurrectione carnis erkennen. Beide bezwecken die durch concutere ausgedrückte Regung der Erde mit dem Motiv der körperlichen Auferstehung zu verbinden. Die exegetische Gleichsetzung von Erde und Mensch,235 welche tief im mittelalterlichen Weltverständnis bestand,236 bedingt eine analoge Interpretation der Ursachen und Folgen. Sicut ostendimus, dat mihi disciplinam in carnem quoque interpretandi, si quid irae vel gratiae in terram Deus statuit.237 In diesen Worten des Kirchenvaters Tertullian wird der Stellenwert einer in der göttlichen Allmacht begründeten christlichen Naturphilosophie für die folgenden Jahrhunderte erkennbar.238 Das Sichtbarwerden des göttlichen Willens anhand der Veränderungen der Erde ist im christlichen Verständnis demnach als die Reaktion auf menschliche Verhaltensweisen zu begreifen.239 In diesem Denken miteinander verbunden, besteht der Unterschied zwischen Tertullian und Marianus konkret darin, dass Tertullians strikt theologische Argumentation concussa est terra symbolisch mit der Bestrafung der Gottlosen spielt und damit als Abgrenzung zur Auferstehung der Heiligen verstanden werden will. Marians Chronik bestärkt hingegen durch die Formulierung terre motu ita concussa eine weiterführende Deutung. Sein ebenfalls
232 Gemeint ist das Erdbeben von 872. Siehe Annales Fuldenses: 76 f. 233 Marianus Scotus: Chronicon: 562: 1101. [. . .] Mogontia cum muris Kal. Decembr. terre motu ita concussa, ut in monasterio sancti Victoris quasi dimedio miliario a Mogontia mortuum terra sursum cum feretro proiceret. Ebenso ist eine zeitnahe Überlieferung dieses Erdbebens erhalten geblieben, welche auf Grundlage der Chronik Marians vermutlich im Kloster Fulda eigenständig angefertigt wurde. Siehe Mariani Scotti chronici recensio altera: 79: 1103. [. . .] Mogontia in Kal. Dec. terrae motu cum muris plus vel minus uno miliari terribiliter est concussa. Hinsichtlich der quellenkundlichen Einordnung dieser Handschrift siehe DÜMMLER 1876: 169 sowie MOLHUYSEN 1910: 15. 234 Siehe Erdbeben von 1080 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 235 Hinsichtlich der ideengeschichtlichen sowie ontologischen Begründung dieses Gedankens innerhalb der christlichen Naturphilosophie des Mittelalters siehe Kap. II. 1. 1. 5. 236 Siehe z. B. Augustinus: De vera religione, cap. XII (23.), 201: Hoc pacto autem vita carnalis et terrena efficitur et ob hoc etiam caro et terra nominatur. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über die wahre Religion, 39. 237 Tertullian: De carnis resurrectione, cap. 26, 62; dt. Übersetzung siehe Tertullian: Über die Auferstehung des Fleisches, 453. 238 Siehe zu diesem ganzen Exkurs Kap. II. 1. 1. 5. 239 Tertullian: De carnis resurrectione, cap. 26, 62: Iam [et] si iuvari seu laedi habet terra quoque propter hominem. Dt. Übersetzung siehe Tertullian: Über die Auferstehung des Fleisches, 453.
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einem Auferstehungstopos240 entstammendes Beispiel bezweckt, die Wahrnehmung des Stifts St. Victor bei Mainz als heiligen Ort im Rahmen der regional etablierten Viktors-Verehrung241 zu stärken. Nachweislich ist der Gebrauch des Verbes concutere in der Geschichtsschreibung des nordalpinen Reiches letztmalig im Zuge der Überlieferung des Erdbebens von 1117 belegt.242 Allerdings ist hier auffällig, dass entgegen der üblichen PPPKonstruktion concussa nun concutere als ins Präsens gesetztes Passiv gebraucht wird.243 In dem sächsischen, wahrscheinlich vom Kloster Corvey ausgehenden Überlieferungszusammenhang zum Erdbeben von 1117, dem auch die Annales Hildesheimenses sowie die Kölner Königschronik angehören,244 wurde einer zeitgleich anmutenden Abfassung des Geschehens offenbar ein großer Wert beigemessen. Zusätzlich unterstreicht die detailreich dargelegte Schütterwirkung in diesen Beispielen erneut die schriftlich praktizierte Korrelation zwischen Erdbebenintensität und der Verwendung des Verbes concutere, welche als eine maßgeblich zeitgenössisch geführte Schreibgewohnheit des Früh- sowie des beginnenden Hochmittelalters heraussticht. 2.1.2 Contingere Die Beschreibung eines Erdbebens mittels concutere ist eine besonders für Mainzer Quellen zutreffende Formulierungsgewohnheit. Diese regionale Zuordnung ist indes für die narrative Darstellung von Erdbeben mittels contingere nicht möglich. Die Formel contigit terrae motus,245 so lautet ein Beispiel aus dem Kloster Lobbes für diese Konstruktion, weist keine spezifischen Überlieferungsschwerpunkte auf. Mönche in Hildesheim246 und eben im wallonischen Lobbes verwendeten diese
240 Eine detaillierte Analyse der mittelalterlichen Interpretation von Erdbeben als Zeichen für die allgemeine Auferstehung erfolgt in den Kapiteln IV und V dieser Arbeit. 241 In dem vor den Toren der Stadt Mainz gelegenen Stift wurde wie in Xanten, Köln und Trier des Heiligen Viktor, eines Offiziers der sogenannten Thebäischen Legion, gedacht. Siehe HANSEL 1959: 1; RUNDE 2003: 216; siehe Erläuterungen zum Erdbeben von 1080 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 242 Romuald von Salerno überliefert das Erdbeben von 1117 in eigenen, aber vergangenheitsgeschichtlichen niedergeschriebenen Worten. Siehe Romuald von Salerno: Chronicon Romualdi II. episcopi Salernitani, 181. 243 Zeitgenössisch berichten die editorisch rekonstruierten Annales Corbeienses maiores: 51: 1117. In octava sancte Iohannis evangeliste late per orbem terra terribili et inaudito hactenus terre motu concutitur. Vergangenheitsgeschichtlich, aber repräsentativ für die Schreibgewohnheit der Zeit, berichtet Hermann von Reichenau zu diesem Erdbeben. Siehe Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi: 105: Crebri terrae motus Mogontiacum concutiunt. 244 Annales Hildesheimenses: 64; Chronica regia Coloniensis: 57. 245 Annales Laubienses: 21: 1081. [. . .] Contigit terrae motus vehementissimus 6. Calend. Aprilis. 246 Annales Hildesheimenses: 32: 1021 [. . .] Ingens terremotus in Boariae partibus 4. Id. Maii, hora 10. diei, feria 6. post ascensionem Domini contigit.
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Beschreibung in gleicher Weise, wie es in Schaffhausen247 oder in Weihenstephan248 getan wurde. Gemeinsam sind allen der annalistische Bezug und die mit Ausnahme der Annales S. Stephani Frisingensis zeitgenössische Verschriftlichung des erinnerungswürdigen Erdbebens.249 Stets erfolgt die Nutzung von contigit eingebettet in einen eigenständigen Wortlaut. Die Unabhängigkeit dieser Formulierungsgewohnheit wird zusätzlich am Fehlen einer antiken Traditionsbildung als nachweisbaren literarischen Anknüpfungspunkt mittelalterlicher Geschichtsschreibung deutlich. Vor dem Hintergrund des stark an die Vulgata angelehnten mittelalterlichen Lateins ist die Gewohnheit, seismische Ereignisse mittels der Verbindung von terrae motus sowie contingere zu beschreiben, bemerkenswert, da keine stilistische Vorlage in der Heiligen Schrift belegt ist. Gleichwohl überträgt die Bedeutung von contingere, welche neben der sachlichen Wiedergabe eines Geschehens auch „anstoßen“ oder „berühren“ meinen kann, einen nicht unwesentlichen Aspekt des christlich-mittelalterlichen Weltverständnisses auf das Phänomen Erdbeben. Der Bezug zum allmächtigen Einwirken Gottes in seine Schöpfung scheint auch in dieser Wendung gegeben.250 Der Einsatz von contingere ist für das nordalpine Reich für einen Zeitraum von 1021 bis zum Jahr 1117 belegt. Die Wendung ist eine originär hochmittelalterliche Erdbebenbeschreibung, die bezogen auf die selbstständige Nutzung sogar als ein sprachliches Muster des 11. Jahrhunderts gelesen werden kann. Der zeitgenössische Quellenbefund verbindet zur Betonung der wahrgenommenen seismischen Stärke, und dies ist formengeschichtlich von Belang, die bekannte Wendung mit zusätzlichen Adjektiven. Ingens, vehementissimus oder magnus, ein literarisches Muster lässt sich jedoch aus der jeweiligen Niederschrift nicht ableiten. Umso mehr gilt es, in diesen Beispielen die Aussagekraft der annalistischen Einträge zur Kenntnis zu nehmen. Ähnlich wie im Fall von concutere kann contingere somit durchaus als historiographische Betonung eines Erdbebens verstanden werden. Das zu Anfang dieser Arbeit zitierte Beispiel Bernold von Konstanz’ zeigt jedoch,
247 Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz, 498 f.: Magnus quoque terrae motus in eodem episcopatu apud cellam Salvatoris eo tempore noctu contigit. Unde et paucis tunc innotuit, praeter quosdam religiosos viros et feminas, quibus eadem nocte nondum somnus obrepsit. Hunc terrae motum catholici iuxta evangelium divinam iram portendere pro supradicta praesumptione non dubitarunt. 248 Annales S. Stephani Frisingensis: 53: 1117. Hoc anno contigit terre motus in 3. Non. Ian. in nocte ante diem, et in die secundo contigit ante vesperam feria 4. Die Schilderung zweier Erdbeben ist der Wahrnehmung der beiden norditalienischen Erdbeben in Süddeutschland geschuldet. Siehe die Erläuterung zum Erdbeben von 1117 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 249 Die selbständige Niederschrift der Annales S. Stephani Frisingensis erfolgte erst ab Mitte des 12. Jahrhunderts. Siehe MÜLLER 1983: 242. Für eine weitere quellenkundliche Bewertung der erwähnten Annalen siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 250 Siehe diesbezüglich Kap. II. 1. 1. 5.
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dass dieser Aspekt mit der tatsächlichen makroseismischen Intensität nicht zwangsläufig korrelieren muss.251 2.1.3 Accidere Als markantes Beispiel für die sich im Verlauf des Mittelalters ändernde Begrifflichkeit zur Beschreibung seismischer Ereignisse steht der aufkommende Einsatz des Verbes accidere. Wie schon bei contingere liegt hinsichtlich der Verbindung von terrae motus mit accidere keine klassisch-lateinische Traditionsbildung vor. Auch im Sprachgebrauch der Vulgata werden Erdbeben nicht in dieser Weise beschrieben.252 Anders als bei den beiden vorangehenden Formulierungsweisen setzt der selbständige Gebrauch des Verbes accidere erst mit dem Beben von 1117 ein. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts sollte sich die Wendung terrae motus accidit schließlich fest als hochmittelalterliche Erdbebenbeschreibung etabliert haben. Die bisherige Beobachtung einer narrativen Normierung, welche hinsichtlich des Ausdrucks terrae motus factus est eine nachgewiesener Maßen fortschreitende Formalisierung aufweist, ist durchaus auch auf accidere zutreffend. Die handlungsbezogene Betonung des Ereignisses ist hier besonders gegeben, wenn auch das exegetische Potential von accidere, entgegen des inhaltlich festgelegten facere,253 wenig ausgeprägt ist. Hinsichtlich der Verwendung von accidere in der annalistischen Geschichtsschreibung des Mittelalters ist eine gesonderte Aufmerksamkeit den zwei regionalen Überlieferungszentren dieser Wendung zu schenken. Innerhalb des großen Quellencorpus zum Erdbeben von 1117 sind vier Zeugnisse belegt, welche die Benutzung von accidere eint. Drei dieser Quellen sind im Nordwesten des Reiches entstanden. In der Nähe Kölns schrieb im Kloster Brauweiler ein anonymer Mönch die kurzen zeitgenössischen254 Worte: 1117. Hoc anno 3. Nonas Ianuarii accidit terremotus per universum orbem.255 Das limitierte Platzangebot der Ostertafel, in deren Rahmen die Niederschrift dieser Notiz erfolgte,256 erfordert ein sprachlich prägnantes Ausdrucksmittel. Accidere entspricht durchaus dieser Anforderungen. In einem ebenfalls unmittelbar engen zeitlichen Bezug schrieb Anselm von Gembloux einen Eintrag zu diesem bedeutenden Erdbeben.257 Hinsichtlich der
251 Siehe Kap. I. 3. 252 Siehe Kap. IV. 2. 253 Siehe Kap. IV. 2. 254 WISPLINGHOFF 1992: 136. 255 Annales Brunwilarenses: 726. 256 Fontes Rerum Germanicarum: LVII. 257 Anselmi Gemblacensis continuatio: 376: 1117. Mense Ianuario 3. Non. ipsius, 4. feria, in aliquibus locis, sed non usquequaque, terremotus accidit, alias clementior, alias validior; adeo ut quarundam urbium partes cum aecclesiis subruisse dicatur. Mosa etiam fluvius iuxta abbatiam quae dicitur Sustula, quasi pendens in aere, fundum suum visus est deseruisse.
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Beschreibung seismischer Vorgänge scheint accidere durchaus eine sprachliche Gewohnheit Anselms darzustellen. Wenige Jahre später nimmt der wallonische Geschichtsschreiber erneut diesen Duktus auf und berichtet über das wohl bei Gembloux stattgefundene Erdbeben von 1121: Terremotus in secunda epdomada adventus Domini, sabbato hora tertia, 4. Idus Decembris, alias clementior, alias inclementior accidit.258 Dieser Tradition schließen sich ebenfalls die im holländischen Kloster Egmond geführten Annalen an. Deren vergangenheitsgeschichtlicher Eintrag zum Erdbeben von 1117259 erklärt durch die Abhängigkeit von Anselms Chronik260 die gleichlautende Wortfolge. Ein zweiter regionaler Schwerpunkt ist hinsichtlich dieses Musters in Salzburg nachweisbar. Die am Dom St. Rupert geführten Annalen belegen eindrücklich eine klar definierte Schreibgewohnheit der dort ansässigen Kanoniker. Die im Verlauf des 12. Jahrhunderts erfolgte vergangenheitsgeschichtliche Niederschrift261 der Erdbeben von 944262 und 1117263 ermöglicht ebenso wie die zeitnahe Schilderung von 1152264 sowie die zeitgenössischen Einträge in den Jahre 1183265 und 1248266 diese Folgerung. Terre motus accidit ist am Salzburger Dom die vorherrschende Formulierungsweise des 12. und 13. Jahrhunderts für die eigenständige und zeitgleiche Vermittlung seismischer Nachrichten. Lediglich in zwei Fällen, einmal rezeptionsbedingt 867 und ein
258 Anselmi Gemblacensis continuatio Chronicon Sigeberti: 378. 259 Annalen van Egmond (Annales Egmundenses): 162: Anno M. cxvii. Mense ianuario .iii. non. ipsius in aliquibus locis terrę motus accidit. adeo ut quarumdam urbium partes cum ecclesiis subruisse dicatur. 260 Gemäß der Edition der Annales Egmundenses durch GUMBERT-HEPP & GUMPERT erfolgt die Niederschrift der Erdbebennachricht von 1117 auf Grundlage der Chronik Anselms wahrscheinlich ab dem Jahr 1170 durch den sogenannten Schreiber „F“. Siehe Annalen van Egmond (Annales Egmundenses): XXIII-XXIV, 382. Siehe ebenso Quellencorpus zu 1117 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung) sowie BURGERS 2000: 99. 261 Ähnlich wie die bereits argumentativ herangezogenen Annales Admuntenses haben die Annales Sancti Rudperti Salisburgenses eine lange Editionsgeschichte. Die kritische Edition, welche WATTENBACH für die Monumenta bereitete, basiert zum einen auf einer zwischen 1200 und 1213 angefertigten Abschrift (Salzburg, StiftsB. St. Peter, Cod. a VII 45) einer heute verlorenen Fassung, zum anderen auf weiteren Transkripten des 14. und 15. Jahrhunderts. Bis 1285 haben alle diese Abschriften einen gemeinsamen Wortlaut, der jedoch bis 1137 auf dem Nachrichtenbestand der Melker Annalen gründet. Diese Abhängigkeit liegt in der Zugehörigkeit der Annalen von St. Peter zur sogenannten „alpenländischen Annalengruppe“ begründet. Siehe diesbezüglich WATTENBACH, SCHMALE 1976: 227; BEIHAMMER 1998: 255, Anm. 7; Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters: Annales Sancti Rudperti Salisburgenses. 262 Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 771: 945. [. . .] Terre motus accidit. 263 Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 774: 1117. Terre motus semel in die, semel in nocte accidit. 264 Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 775: 1152. [. . .] Admuontense cenobium exuritur. Terre motus accidit. 265 Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 777: 1183. Terre motus accidit 2. Kal. Mai. 266 Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 790: 1248. [. . .] Terre motus accidit in crepusculo noctis.
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anderes Mal bei der überdurchschnittlich starken Erschütterung im Jahr 1201, ist in den Annales Sancti Rudperti Salisburgenses ein abweichender auf facere beruhender Wortlaut zu lesen.267 Die Beschreibung seismischer Ereignisse in Gestalt der Verben concutere, contingere sowie accidere veranschaulicht regional und zeitlich wechselnde Formulierungsgewohnheiten. Innerhalb dieser Überlieferungstraditionen ließen sich der Wille sowie das Vermögen einzelner mittelalterlicher Geschichtsschreiber belegen, von der Standardwendung terrae motus factus est narrativ abzuweichen. Der aus unterschiedlichen Provenienzen hervorgegangene zeittypische Einsatz dieser Verben spiegelt durch ihr literarisches Aufkommen und Abklingen in gewisser Weise einen für sich genommenen Lebenszyklus mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen wider. Die Etablierung von concutere, contingere und accidere erlaubt aber nicht nur Rückschlüsse auf die Schreibermotivation hinsichtlich einer eigenständig geführten zeitgenössischen Annalistik. Diese Beispiele belegen vielmehr auch, bezogen auf einen kleineren Rahmen, ein ähnliche narrative Gewohnheit wie bei der Wendung terrae motus factus est. Auf lange Sicht scheint sich während des 12. Jahrhunderts ein Wandel im Gebrauch spezifischer Wendungen eingestellt zu haben, der maßgeblich zu einer narrativen Vereinfachung von Erdbebenbeschreibungen führte.
2.2 Terrae motus als alleinstehender Begriff – eine typische Beschreibungsweise des Frühmittelalters? Trifft der Trend einer sprachlichen und inhaltlichen Vereinfachung ebenfalls für die singulär gebrauchte Formulierung terrae motus zu? In diesem Fall handelt es sich schließlich um die wohl komprimierteste Form der narrativen Vermittlung seismischer Ereignisse im Verlauf des Mittelalters. Immerhin überliefert schon das antike Lehrbuch Rhetorica ad Herennium, welches in keinem bedeutenden Skriptorium fehlte, dass die Deutlichkeit der Rede sowohl durch die Anwendung einer alltäglichen Sprache als auch durch die Auswahl zutreffender, sprich den Sachverhalt hinreichend beschreibender Wörter erzielt wird.268 Diese Klarheit in der Aussage wird durch den Terminus terrae motus ohne Zweifel erfüllt. 267 [EB 867]: Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 770: 867. Terre motus factus est; [EB 1201]: Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 779: 1201. Terre motus multis terrarum locis factus est magnus, ita ut multas ecclesias et urbes destrueret, et mortes hominum fierent. Duravit autem idem terre motus in pago, qui dicitur Longou, anno et dimidio, ita ut homines illius provincie domos suas relinquerent, et sub udo aeris habitarent. Cepit autem idem terre motus 4. Non. Mai. Hoc quoque anno Wernhardus prepositus Berthesgadem fratri suo domino Perhtoldo Rome defuncto Nonis Octobris successit. 268 Rhetorica ad Herennium: IV, cap. XII, 210: Explanatio est, quae reddit apertam et dilucidam orationem. Ea conparatur duabus rebus, usitatis verbis et propriis. Usitata sunt ea, quae versantur in sermone et consuetudine cottidiana; propria, quae eius rei verba sunt aut esse possunt, qua de loquemur. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 211.
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Es ist zu beachten, dass es sich im vorliegenden Fall um eine Traditionslinie handelt, welche weit zurück in die römische Antike reicht. Der Aussage des Ergänzungsbandes zum Schweizer Erdbebenkatalog ECOS, wonach „die annalistische Kurzform einer Erdbeben-Beschreibung mit einem Datum und dem Begriff ‚terrae motus‘ [. . .] hauptsächlich auf das Frühmittelalter“269 beschränkt sei, ist also mit Blick auf die bisherigen Ergebnisse beizupflichten. Sie greift jedoch, auch verursacht durch das Fehlen einer quellenbasierten Belegführung, zu kurz. Denn gerade im Frühmittelalter bestand ja für seismische Vorgänge eine nachweisbare Vielzahl von Beschreibungsmustern. Die durchaus intendierte Lesart, wonach der alleinstehende Begriff terrae motus maßgeblich für die Geschichtsschreibung dieser Zeit sei, ist somit ohne eine Ursachenklärung dieser Beobachtung vorerst nicht zu halten. Wenn SCHWARZ-ZANETTI & FÄH in ihrem Zitat zu Recht einen Zusammenhang von Quellengattung und sprachlichem Gestaltungsspielraum implizieren, ist dieser auf die technischen Abläufe mittelalterlicher Geschichtsschreibung und insbesondere auf die Annalistik hin zuzuspitzen. Ein rezeptionsbedingter Informationsverlust oder ein limitierter Spaltenbzw. Zeilenraum sind demnach mindestens gleichrangig zu bewerten wie eine bewusste, durch den Autor gewählte Reduktion auf einen durch den mittelalterlichen Terminus terrae motus artikulierten inhaltlichen Grundkonsens. Alkuins Ratschlag, dass in wenigen Worten alles zusammenzufassen sei, da sich oft mit einem Schlüssel viele Schatzkammern öffnen ließen,270 versteht sich durchaus als mittelalterliche Handlungsanweisung. Die Verkürzung des Wortlautes ist letztlich als eine Aufforderung an den Rezipienten aufzufassen, im Rahmen der inventio einen Imaginationsakt zu starten und bewusst oder unbewusst gemäß einer rhetorisch-materiellen Topik Inhalte zu ergänzen271 bzw. mitzudenken. So formt sich je nach Auge des Betrachters ein Gesamtbild.272 Alkuin hat dieses Prinzip in eindrucksvoller Weise am Beispiel Roms vorgeführt.273 Es sollte auch für den alleinstehenden Begriff terrae motus in der mittelalterlicher Geschichtsschreibung gelten. Die Spezifik annalistischer Arbeitsweise lässt sich gerade in Bezug auf die Wendung terrae motus anhand einer spätestens im 11. Jahrhundert in St. Gallen zusammengestellten Handschrift beispielhaft veranschaulichen.274 Es handelt sich hauptsächlich um ein liturgische Texte beinhaltendes Kapiteloffiziumsbuch, das zusätzlich einen Faszikel mit zahlreichen, sowohl kompilierten als auch selbstän-
269 SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 19. 270 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 25, 537: Tamen stringe paucis plura; nam saepe una clave multae thesaurorum gazae aperiuntur. Dt. Übersetzung: Alkuins pädagogische Schriften: 108. 271 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 9, 392. 272 Siehe hinsichtlich dessen auch das Kapitel III. 1. 1. 4. 273 Siehe Alkuin: De ratione animae, cap. IV, 48 f. 274 St. Gallen, StiftsB., Cod. Sang. 915; AUTENRIETH 1977: 43; EUW 2008: 354; WATTENBACH, LEVISON, LÖWE 1990: 788.
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dig geführten Notizen enthält, die später als Annales Sangallenses maiores ediert wurden.275 In engen Zeilen trug hier der erste Schreiber, welcher die Annalen in einem Zuge bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts führte,276 die Jahreszahlen vor. Pergament war teuer. Viel Platz war somit nicht gegeben, um für die Jahre 849277 und 867278 die Nachricht eines Erdbebens zu überliefern. Die maßgebliche Vorlage beider Einträge, die zu dieser Zeit noch auf der Bodenseeinsel Reichenau verfassten Annales Alamannici,279 belegen die Arbeitsweise des St. Gallener Annalisten. Die kurze Erwähnung eines Erdbebens bildet zusammen mit der Todesnachricht des einflussreichen Reichenauer Abts Walahfrid Strabo280 die erinnerungswürdige Information zum Jahr 849.281 Anders als im Fall des Jahres 867 passen diese Notizen auch für die Hand des St. Gallener Schreibers auf eine Zeile. Um den limitierten Raum nicht zu überschreiten, wurden die als Vorlage dienenden Annales Alamannici durch das Weglassen des Todes von Papst Nicolaus I. auf das passende Maß gekürzt.282 Rezeptionsbedingter Informationsverlust sowie begrenzter Schreibraum gehen also in diesem Beispiel einen gemeinsamen Weg. Wie weit die prägnant kurze Wendung terrae motus zur Schreibgewohnheit des ersten Autors der St. Gallener Annalen geworden ist, zeigt der Eintrag zum Jahr 902. Erneut zieht der Annalist die Annales Alamannici, welche zu diesem Zeitpunkt bereits in St. Gallen in einer eigenen Rezeptionsstufe geführt wurden,283 heran. Allerdings ergänzt er nun zusätzliche Nachrichten zum bekannten Informationsbestand. Die Erwähnung des Erdbebens von
275 St. Gallen, StiftsB., Cod. Sang. 915, p. 196–236. Hinsichtlich der letzten kritischen Edition siehe Annales Sangallenses maiores: 265–323. 276 Über den Wechsel der Verfasserhände hat die Forschung unterschiedliche Auffassungen erarbeitet. Für 955 plädiert FREISE 1984: 483. AUTENRIETH 1977: 50 sowie WOLLASCH 1980: 69 sehen den Beginn der neuen Schreiberhand im Jahr 956. 277 St. Gallen, StiftsB., Cod. Sang. 915, p. 204: ω.XL.IX. Terremotus. Vualafredus abba obiit; ebenso Annales Sangallenses maiores: 274. Die Maßgabe des limitierten Schreibraumes wird ebenfalls in der angegebenen Datierung ersichtlich. Die Verwendung eines ω, welches im griechischen Zahlensystem für „800“ steht, ersetzt die deutlich längere römische Zahl DCCC. Hinsichtlich des ω als griechische Zahl siehe IFRAH 1991: 289, 301. 278 St. Gallen, StiftsB., Cod. Sang. 915, p. 205: ω.LX.VII. Terrę motus & nimia super fluitas ymbrium; ebenso Annales Sangallenses maiores: 275. 279 WATTENBACH, LEVISON, LÖWE 1990: 787. 280 Walahfrid Strabo, Abt des Klosters Reichenau und Lehrer Karls des Kahlen, ertrank 849 in der Loire, als er sich auf einer Reise an den westfränkischen Hof Karls befand. Siehe BISCHOFF 1967: 45; WATTENBACH, LEVISON, LÖWE 1990: 790. 281 Vgl. Annales Alamannici (Codex Turicensis): 178: 849. terrę motus. vualachfredus obiit. 282 Vgl. Annales Alamannici (Codex Turicensis): 180: 867. terrę motus. papa nicolaus obiit et nimia superfluitas ymbrium. 283 Annales Alamannici (Codex Turicensis): 186: 902. ungares a baioariis ad brandium vocati plures occiduntur et terrę motus per loca; WATTENBACH, LEVISON, LÖWE 1990: 788; Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters: Annales Alamannici.
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902 lässt er indes unverändert. Obwohl zum Schluss des Jahresberichts eingetragen, schöpft er den noch vorhandenen Zeilenraum nicht aus und verbleibt bei einem einfachen terrę motus per loca.284 Anhand eines weiteren Beispiels aus dem Kloster Brauweiler verdichtet sich die Annahme, dass die alleinstehende Nutzung der Wendung terrae motus tatsächlich eng mit der literarischen Gattung der Annalistik verbunden ist. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wurde dort ein Codex angefertigt,285 welcher unter anderem eine Ostertafel im Stil des Dionysius Exiguus enthält. Insgesamt elf Nachrichten wurden hier zeitgleich zur Entstehung des Manuskripts als Marginalien eingetragen.286 Eine hiervon erwähnt für das Jahr 939 ein Erdbeben mit dem bekannten Muster terremotus.287 Die ausschließlich auf das Faktum reduzierte Erinnerungsfunktion und Informationsweitergabe ist somit gesichert. So wie sich die Anwendung dieser Formulierung in der mittelalterlichen Annalistik belegen lässt, steht sie auch im Einklang zur schulmäßigen Definition Hugos von St. Viktor. Littera aliquando perfecta est, quando ad significandum id quod dicitur nihil praeter ea quae posita sunt vel addere vel minuere oportet.288 Allerdings zeigt die in Brauweiler eingetragene Marginalie, dass bei der Anwendung der für sich stehenden Form terrae motus weder von einer regionalspezifischen Zuordnung noch von einer lokal besonders ausgeprägten Schreibgewohnheit auszugehen ist. Schließlich verteilen sich die 44 Erdbebenbeschreibungen, die im Untersuchungszeitraum und Kataloggebiet belegt sind, über den gesamten Geltungsbereich des nordalpinen Reiches.289 Die Ursachen dieser aus den Schriftquellen gezogenen Beobachtung wurden bereits in den vorangehenden Beispielen vorgetragen. Sie können nun weiter erhärtet werden. Das Aufkommen der alleinstehenden Wendung terrae motus steht für zwei quellenkritische Befunde. Der Terminus ist unzweifelhaft als Indiz für einen Rezeptionsverlust anzuerkennen. In fast allen Fällen der unselbständigen Niederschrift der Formulierung handelt es sich um eine fortgeschrittene Rezepti-
284 St. Gallen, StiftsB., Cod. Sang. 915, p. 207: Agareni a Baioariis ad brandium vocati ubi rex eorum Chussol occisus est, & alii quam plurimi cum eo. Terręmotus per loca; ebenso Annales Sangallenses maiores: 277. 285 Der Codex wird heute in der Apostolischen Bibliothek im Vatikan aufbewahrt (Vat. Urb. lat. 290). Die annalistischen Marginalien (fol. 7r-10r) wurden als Annales Colonienses breves für die MGH ediert. Hinsichtlich einer kurzen Handschriftenbeschreibung siehe EUW 2009: 428 f. 286 BETHMANN 1874: 262 ff.; Annales Colonienses breves: 729. 287 Annales Colonienses breves: 730. Das Erdbeben von 939 ist als ein fragliches Ereignis einzustufen. Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Bewertung des Bebens siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 288 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 9, 392. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 393. 289 Die 44 Beschreibungen mittels der alleinstehenden Wendung terrae motus verteilen sich hierbei auf insgesamt 18 Erdbeben.
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onsstufe.290 Großer Zeitabstand zum stattgefundenen Erdbeben und die Abhängigkeit von mündlicher sowie schriftlicher Überlieferung291 sind als maßgeblich für die Verwendung von terrae motus anzunehmen. Anderseits verweist der zweite aus dem Quellencorpus geschöpfte Befund auf eine gegenteilige Lesart, welche auf eine ausdrückliche Nutzung dieser Erdbebenbeschreibung in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung hindeutet. Immerhin 13 Quellen und somit gut zwei Drittel der selbständig angefertigten Quellen entsprechen dieser Tradition.292 Anders als im ersten Fall, in dem vor allem durch Selektion gearbeitet wurde, darf bei der expliziten Niederschrift von terrae motus als Mittel der zeitgenössischen Geschichtsschreibung in begründeter Weise von einer aus der Gattung selbst geborenen Notwendigkeit gesprochen werden. Dieser Aspekt ist unmittelbar mit zeitgleich getätigten Eintragungen in mittelalterlichen Ostertafeln verbunden. Allerdings belegt erneut ein Eintrag aus den bereits zitierten Annales Sangallenses maiores, dass selbst begrenzter Schreibraum für ausgefallene Formulierungsweisen, abseits üblicher Wendung, keineswegs hinderlich war. Die Erdbebenbeschreibung zum Jahr 1021: hic quatitur totus terrae globus undique motus,293 getätigt durch die Hand Ekkehards IV. von St. Gallen,294 belegt das sprachliche Vermögen einzelner mittelalterlicher Gelehrter, den mitunter streng limitierten Rahmen der Annalistik eigenschöpferisch auszufüllen. Unter Berücksichtigung der geringen Belegdichte der alleinstehenden Wendung terrae motus in der Chronistik295 lässt sich diese individuelle Fähigkeit zum eloquenten 290 Von 23 unselbständig verfassten Quellen, die sich dieses Musters bedienen, entsprechen 22 einer fortgeschrittenen Rezeptionsstufe. Dass heißt sie sind entweder zeitnahe (6) oder vergangenheitsgeschichtlich (16) zum Erdbeben niedergeschrieben worden. Ausschließlich der Bericht des Lütticher Mönchs Lambertus Parvus zum Beben von 1179 legt trotz der zeitgenössischen Niederschrift einen kompilierten Wortlaut nahe. Siehe Lambertus Parvus: Annales S. Jacobi Leodiensis, 649: 1180. [. . .] Terre motus Kal. Augusti. Ebenso SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 291 Beispielhaft seien hierfür die Überlieferungen zu den Erdbeben von 849 und 867 anzuführen. [EB 849]: Annales Floriacenses: 218; Annales Ratisponenses (Codex Vindobonensis): 582; Excerpta Aventini ex Annalibus Iuvavensibus antiquis derivati: 744; Annales Altahenses maiores: 6; Annales Alamannici (Codex Turicensis): 178; Annales Weingartenses: 66; Annales Sangallenses maiores: 274; [EB 867]: Annales Alamannici (Codex Turicensis und Codex Modoetiensis): 180; Annales Xantenses: 25 f.; Annales Sangallenses maiores: 275; Annales Heremi (II): 251; Annales Weingartenses: 66. 292 Insgesamt schreiben 21 Quellen in selbständiger Weise die alleinstehende Wendung terrae motus aus. Jeweils vier Quellen sind zeitnahe oder vergangenheitsgeschichtlich zu bewerten. 293 Der Eintrag wird fortgesetzt mit der originellen Erwähnung von Erdbebengeräuschen. Siehe Annales Sangallenses maiores: 306: Horrida ceu fissis portenta sonant in abyssis; St. Gallen, StiftsB., Cod. Sang. 915, p. 225: MXXI. Hic quatitur totus terrę globus undique motus. Horrida ceu fissis portenta fonant in abyssis. 294 POKORNY 2001: 469. 295 Von 44 Quellen, welche das Muster terrae motus ausschreiben sind lediglich acht Zeugnisse chronistisch verfasst und besitzen somit einen längeren Erzählteil. Hiervon sind erneut nur drei Berichte zeitgenössisch entstanden.
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Ausdruck durchaus auch für die zeitgenössisch geführten Quellen dieser Gattung erhärten.296 Zur historischen Überlieferung eines Erdbebens wurde der Begriff terrae motus in der Annalistik des Mittelalters regelmäßig genutzt. Über alle Rezeptionsstufen hinweg fand er Anwendung, wenn auch die Motive und Ursachen der Traditionsbildung unterschiedlicher Natur sind. Zusätzlich liegt in der Quellenlage ein Aspekt verborgen, welcher eine weitere Schärfung der zeittypischen Nutzung dieses Musters erlaubt. Nach dem Erdbeben von 1117, das ja bereits als Wendepunkt innerhalb der mittelalterlichen Geschichtsschreibung erläutert wurde, werden ausschließlich die Erdbeben von 1162,297 1163298 sowie 1179299 mittels dieser spezifischen Narration überliefert. Das Veroneser Beben wird indes unter Einbezug der italienischen Quellen von immerhin acht zutreffenden Quellen300 überliefert. Die Traditionsbildung vor 1117 unterstreicht eindringlich, dass es sich hinsichtlich dieser Formulierung nicht alleine um eine Gewohnheit mittelalterlicher Annalistik handelt, sondern tatsächlich von einer ausgewiesenen Schreibweise des Frühmittelalters zu sprechen ist. Seit dem Jahr 799 werden 13301 und somit fast jedes zweite Erdbeben in mindestens einem Fall durch ein für sich stehendes terrae motus überliefert.302 2.3 Den Blick zurück gerichtet – die historiographische Verarbeitung bekannter Erdbeben und deren Folgen Bislang beschäftigten uns maßgeblich die Funktionsweisen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, wenn sie sich in relativ geringem zeitlichem Abstand mit 296 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334; ebenso [EB 823]: Annales regni Francorum: 163; [EB 867]: Annales Xantenses: 25 f. Für einen eloquenten Anspruch bei der Verwendung des alleinstehenden Begriffs terrae motus spricht auch, dass alle drei Quellen in einer Zeit lebhaft praktizierter Schriftlichkeit entstanden. 297 Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279. 298 Annales Admuntenses a. 1140–1250 (Continuatio Admuntensis): 583. Der edierte Wortlaut basiert auf den in Vorau (StiftsB., Cod. 33), Admont (StiftsB., Cod. 501) und Wien (ÖNB, Cod. 1180) liegenden Fassungen der sogenannten Admonter Annalen. 299 Neben Lambertus Parvus (siehe Anm. 290) sind dies die Annales Floreffienses: 625. 300 Siehe Anm. 127. 301 [EB 799]: Notae Wissenburgenses: 405; [EB 823]: Annales regni Francorum: 163; Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XXXVII, 420 ff.; [EB 849]: siehe Anm. 291; [EB 858]: Annales Bertiniani: 76; [EB 859]: Annales Fuldenses: 54; [EB 867]: siehe Anm. 291; [EB 872]: Annales Stabulenses: 42; [EB 902]: Annales Alamannici (Codex Turicensis): 186; Annales Sangallenses maiores: 277; [EB 939]: Annales Colonienses breves: 730; [EB 978]: Annales Sancti Nazarii: 33; [EB 1021]: Annales Altahenses maiores: 17; Annales Ratisponenses (Codex Vindobonensis): 584; Annales Sangallenses maiores: 306; [EB 1048]: Annales Altahenses maiores: 48; Annales Ratisponenses: 584; [EB 1081]: Annales Leodienses: 29; Annales Blandinienses: 29; Annales Elmarenses: 94. 302 Von den insgesamt 39 Erdbeben dieses Zeitraums werden 14 seismische Ereignisse durch insgesamt 32 Quellen beschrieben.
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einem Erdbeben auseinandersetzte. Verschiedene Ausdrucksmittel dieser spezifischen Form von Zeitgeschichtsschreibung konnten erkannt und hinsichtlich ihrer Aussagewirkung interpretiert werden. Erwiesenermaßen ist die schriftliche Erinnerung an Erdbeben aber nicht ausschließlich das Werk von Zeit- oder Augenzeugen. Geschichtsschreibung, und das war stets Konsens, ist gerade auch die Arbeit späterer Generationen, die auf die Vergangenheit zurückschauen und die res gestae früherer Zeiten nach Maßgabe ihres eigenen Horizontes bewerten. Viele Schreiber waren darum bestrebt, Kenntnisse von den Geschehnissen entweder weiter zu vermitteln oder aus der Tradition Rückschlüsse über gegenwärtige oder kommende Dinge abzuleiten.303 Das Wissen um die Geschichte ist demnach gerade als Reflexion über den eigenen Standpunkt im Leben anzusehen. Hierin begründet sich aus theologischer Perspektive ihr erbaulich-pädagogischer Charakter, wie er maßgeblich für die kirchliche Geschichtsschreibung des Früh- und Hochmittelalters gilt.304 Die geschichtliche Beglaubigung der zurückliegenden Denkmäler305 ist bereits für Isidor von Sevilla grundsätzlich vom Erinnerungswillen der Schreiber abhängig.306 Die mündliche oder schriftliche Wissensvermittlung über stattgefundene Ereignisse, d. h. die Bezeichnung beteiligter Personen, die Benennung des Orts des Geschehens und des Zeitpunkts des Eintretens,307 müssen zumindest in Teilen im Gedächtnis des Rezipienten vorhanden sein, um eine Imagination und einen auf Bestehendem gründenden Analogieschluss vollziehen zu können.308 Ibi invenio quid dicam atque inde profero.309 Einfacher und präziser als mit den Worten des Augustinus kann der Gedächtnisakt wohl kaum beschrieben werden. Die Anregung der Erinnerung, das Hervorholen geistiger Bilder, die im Fall von Erdbeben konkrete Vorstellung310 über vertraute oder vermeintlich bekannte Aspekte
303 In dieser Weise verstand bereits Hrabanus Maurus das Anwendungsgebiet der Artes. Siehe Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 17, 524. 304 So schreibt z. B. Ambrosius von Mailand in seinem Lukas-Kommentar (Expositio Evangelii secundum Lucam), II, cap. 84, 68: Et ut ad historiam veniamus – non enim simplicem tantum rei gestae sertem debemus haurire, sed etiam actus nostros ad aemulationem scriptorum referre. Dt. Übersetzung siehe Ambrosius von Mailand: Lukaskommentar, 105. Auf den pädagogischen Wert der Geschichte verweist ebenso Eusebius Caesariensis: Historia ecclesiastica, V, 2, 401. 305 Cicero: De inventione, I. 27, 58; Isidor: Etymologiae, I, cap. XLI, 2. 306 Augustinus: De trinitate, XI, cap. VII (12.), 348 f. 307 So definiert es Hugo von St. Viktor: De tribus maximis, 491. 308 Augustinus: De trinitate, XI, cap. VII (12.), 348 f.; Augustinus: Confessiones, X, cap. VIII (14.), 162; ebenso Boethius: De topicis differentiis, 1181C: ut his sponte animus discentis accedat, sed quoniam demonstrantur aliis argumentis, illa quoque scita et cognita, ad aliarum speculationum fidem ducuntur. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 41. 309 Augustinus: Confessiones, X, cap. XIV (22.), 166; hinsichtlich einer dt. Übersetzung siehe Augustinus: Bekenntnisse, 491. 310 Augustinus definiert den Vorstellungsakt unter anderem in seinem Werk De trinitate, XI, cap. III (6.), 340–341.
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der Natur und örtlicher Verhältnisse,311 ist die Triebfeder des historiographischen Prozesses.312 Es sind somit die Dinge der praeteriti temporis vel praesentis, die sich auf die sinnliche Wahrnehmung beziehen und den Geschichtsschreiber fesseln.313 Hier liegen schließlich auch die grundlegenden Wesensmerkmale von Zeit- und Vergangenheitsgeschichtsschreibung begründet. Die Unterschiede im Zugang zwischen beiden Erinnerungsformen waren dem Mittelalter sehr wohl bewusst, wie Isidor von Sevilla mit der Abgrenzung der Begriffe Historia und Annales belegt.314 Das Wissen um die Geschichte und ihre sprachliche Ausgestaltung soll nicht primär aus der Position des Selbsterlebten, sondern aus einem zeitlich betont retrospektiven Blickwinkel Gegenstand der folgenden Seiten sein. 2.3.1 Das Beispiel des großen Schadenbebens vom 3. Januar 1117 bei Verona Die Erinnerungswürdigkeit eines historischen Geschehens ist abhängig vom Grad der Besonderheit und somit von dem Umfang, mit dem bestehende Erfahrungsstände widerlegt werden. „Nur ein anderes Unerwartetes kann dem, der Erfahrung besitzt, eine neue Erfahrung vermitteln“,315 schreibt GADAMER, um das negative Moment der Erfahrung – wohlgemerkt aus dialektischer Perspektive – für den hermeneutischen Vorgang zu bestimmen.316 Umso mehr gilt die Annahme der Besonderheit für Ereignisse, die über viele Generationen hinweg bewahrt werden. Schon im antik-römischen Lehrbuch Rhetorica ad Herennium wird dieser gerade für die Geschichtsschreibung grundlegende Aspekt der Erinnerungswürdigkeit anhand einer Sonnenfinsternis ausgeführt. Solis exortus, cursus, occasus nemo admiratur, propterea quia cottidie fiunt; at eclipsis solis mirantur, quia raro accidunt, et solis eclipsis magis mirantur quam lunae, propterea quod hae crebriores sunt.317
Das Außergewöhnliche im Eintreten einer Sonnenfinsternis318 kann ohne weiteres analog auf die Wahrnehmung von Erdbeben übertragen werden. Die Natur lehrt, so 311 Hugo von St. Viktor: De tribus maximis, 490. 312 Zur Bedeutung von Wahrnehmung und Vorstellung im historiographischen Prozess siehe besonders GOETZ 2007d: 25–29. 313 Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. XXXIX (58.), 72: praeter historiam rerum vel praeteriti temporis vel praesentis ad sensus corporis pertinentium, quibus etiam utilium artium corporalium experimenta et coniecturae annumerantur. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 95 f. 314 Isidor: Etymologiae, I, cap. XLIV, 4: Inter historiam autem et annales hoc interest, quod historia est eorum temporum quae vidimus, annales vero sunt eorum annorum quos aetas nostra non novit. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 83. 315 GADAMER 2010: 359. 316 GADAMER 2010: 359. 317 Rhetorica ad Herennium: III, cap. XXII, 174; dt. Übersetzung siehe ebd.: 175. 318 Zur Exemplafunktion von Naturereignissen siehe MOOS 1988: 120, bes. Anm. 287.
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argumentiert die anonym verfasste Schrift, das Normale vom Bedeutenden zu trennen. Diese Auswahl neuartiger und beeindruckender Tatsachen prägt sich im Gedächtnis ein und wird in der Anwendung gleichsam auf die Kunst selbst, und somit durchaus auch auf eine rhetorisch motivierte Geschichtsschreibung, übertragen.319 Die Wesensmerkmale eines memorabile werden durch das bedeutende Schadenbeben von Verona, das am dritten Januartag 1117 weite Teile Norditaliens erschütterte, zweifellos erfüllt. Ein umfangreiches Quellencorpus ist Zeuge einer generationsübergreifend praktizierten Erinnerung, wobei besonders in den Überlieferungen der fortgeschrittenen Rezeptionsstufe Merkmale einer bewusst retrospektiven Geschichtsschreibung beobachtet werden können. Vermittels mündlicher und schriftlicher Kommunikationswege gelangte die Kenntnis der Schütterwirkung des Erdbebens von 1117 in entfernte Regionen,320 wo schließlich eine historiographische Niederschrift nach eigenen Maßstäben erfolgte.321 Das Wissen um das starke Schadensmaß sowie über den Ort des Geschehens war bekannt und spiegelt sich in zahlreichen entstanden Quellen wider. Somit ist kaum überraschend, dass besonders die unmittelbar beobachteten Auswirkungen des Erdbebens wie Gebäudeschäden und damit einhergehende menschliche Opfer Teil dieser eigenen Traditionsbildung geworden sind. Kennzeichen dieser mit zeitlichem Abstand erfolgten Niederschrift ist erneut eine Verwendung typischer Verben. a) Subvertere und subruere – Ein Beschreibungsmuster besonders heftiger Erdbeben? Als Otto von Freising im Jahr 1145 das Tridentiner Tal auf seiner Reise nach Italien durchquerte,322 präzisierte er seine gesammelten Beobachtungen durch das Verb subvertere.323 Aus seinem Gedächtnis sowie den Erzählungen „glaubhafter Männer“ schöpfend,324 verbindet er in seinem Bericht geschickt Bekanntes mit Selbsterlebtem.
319 Siehe Rhetorica ad Herennium: III, cap. XXII, 174, 176. Hinsichtlich des mnemotechnischen Prozesses siehe Hugo von St. Viktor: De tribus maximis, 489. 320 Hinsichtlich der kommunikationsgeschichtlichen Untersuchung des Veroneser Bebens, die maßgeblich mit dem zweiten Italienzug Heinrichs V. verbunden ist, siehe das entsprechende Kapitel zum Beben von 1117 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 321 In diesen rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang ist auch die eigenständige nordalpine Tradition zu setzen, zwei Erdbeben am 3. Januar zu überliefern. 322 Hinsichtlich Ottos zweiter Italienreise, die er im Auftrag seines Bruders Konrad III. an den Hof Papst Eugens III. unternahm, siehe z. B. ZIEGLER 2008: 136 f. 323 Otto von Freising: Chronica sive Historia, VII, cap. 15, 526: Circa idem tempus terrae motus horribilis oppida, templa, villas omnesque plurimos, sicut usque in valle Tridentina apparet, subvertit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 527. 324 Otto von Freising begründet mit dieser Äußerung den Beginn seines eigenständig verfassten Teils in der Chronica sive Historia, den er mit dem Jahr 1106 beginnen lässt. Siehe Otto von Freising: Chronica sive Historia, VII, cap. 11, 518: Ceterum quae secuntur, quia recentis memoriae sunt, a probabilibus viris tradita vel a nobis ipsis visa et audita ponemus. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 519.
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Das schreckliche Erdbeben, welches Jahrzehnte vor seinem Besuch die Gegend erschütterte, war Otto als wohl idealtypischsten Weltchronisten des Mittelalters,325 zweifellos bekannt. Die breite Rezeptionstradition in Süddeutschland sowie Österreich, mit der er während seiner Jugend326 sicherlich in Berührung kam, sollte in diesem Punkt keineswegs vernachlässigt werden. Die Verwendung von subvertere zur Darlegung der Vulnerabilität mittelalterlicher Gesellschaften in Folge eines heftigen Erdbebens lässt die große Anzahl beschädigter Städte, Kirchen und Ortschaften in Norditalien glaubhaft erscheinen und auf eine lange Dauer des Wiederaufbaus schließen. Es dürfte sich um eine bewusste Wortwahl Ottos handeln, und seine selbstbenannten Quellen Orosius und Eusebius von Caesarea327 waren hier sicherlich eine Inspirationsquelle. Zumindest legt dies deren Umschreibung des Erdbebens aus dem Jahr 105 in Kleinasien328 nahe. Letztlich greifen jedoch alle drei Autoren mit ihrer Formulierung eine narrative Tradition des Alten Testaments auf. Die Zerstörung Sodom und Gomorrhas ist in der lateinischen Übersetzung der alttestamentlichen Schriften unmittelbar an subvertere gebunden.329 Auch wenn die Vernichtung der beiden Städte nicht durch ein Erdbeben geschah, kann die Verwendung des Verbes als ein Indikator überaus heftiger Zerstörung verstanden werden, die im gesamten Alten Testament oftmals lesbar ist.330 Eine Stelle aus dem Buch Hiob zeigt indes, dass subvertere auch in Zusammenhang mit Erdbeben benutzt wurde.331 In der Zeile nescierunt hii quos subvertit in furore suo bildet sich zudem der deutungsspezifische Brückenschlag zur Zerstörung Sodom und Gomorrhas ab. Subvertere ist als Ausdruck größter Zerstörung inhaltlich auf den Zorn Gottes sowie dessen Strafgericht festgelegt. Grundsätz-
Auch wenn es sich bei diesem Argument um einen beliebten locus communis mittelalterlicher Geschichtsschreibung handelt, ist Ottos eigene Beobachtung der Erdbebenschäden keinesfalls klischeehaft aufzufassen. 325 BRINCKEN 1957: 220. 326 Otto von Freising erhielt seine klösterliche Ausbildung im Stift Klosterneuburg. Siehe SCHMALE 1989: 215; GOETZ 1984: 28. 327 Otto von Freising: Chronica sive Historia, VII, cap. 11, 518. Besonders Orosius’ Historiae adversum paganos war für Ottos Geschichtsbild prägend. Siehe hierzu besonders GOETZ 1984: 55–60. 328 Orosius: Historiae, VII, cap. 12. 5, 466: Terrae motu quattuor urbes Asiae subversae, Elea Myrina Pitane Cyme, et Graeciae civitates duae, Opuntiorum et Oritorum. Dt. Übersetzung siehe Orosius: Die antike Weltgeschichte (V–VII), 162. Für weiterführende ereignisgeschichtliche Informationen siehe GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 229 f. 329 Gen 19, 24–25: igitur Dominus pluit super Sodomam et Gomorram sulphur et ignem a Domino de caelo et subvertit civitates has et omnem circa regionem universos habitatores urbium et cuncta terrae virentia. Ebenso: Gen 13, 10; Dtn 29, 22; Jer 49, 18; Thr 4, 6. 330 Z.B.: Gen 19, 29; II Sam 20, 19; Ez 29, 12. Das Verb subvertere findet sich in dem vorgebrachten Zusammenhang im Neuen Testament nur an einer Stelle. Siehe Tit 1, 11. 331 Hi 9, 5–6: qui transtulit montes et nescierunt hii quos subvertit in furore suo qui commovet terram de loco suo et columnae eius concutiuntur. Siehe ebenso: I Reg 19, 11; Hi 22, 16; Hag 2, 22–23.
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lich spiegelt der Begriff den unmittelbaren Eingriff Gottes in seine Schöpfung wider, wie auch andere Passagen des Alten Testaments zeigen.332 Die Tradition der zeichenhaften Deutung des Erdbebens von 1117 als Hinweis auf das bevorstehende Jüngste Gericht, wie es sich in zahlreichen Quellen des nordalpinen Reiches abbildet,333 wird also durch Otto von Freisings Verwendung des Verbes subvertere334 bewusst aufgegriffen und in den eschatologischen Kontext seiner Weltchronik eingebunden.335 Besonders nahe steht Otto mit seiner durch diese Wendung zum Ausdruck gebrachten Deutung der zeitgenössischen Berichterstattung des Veroneser Bebens durch Ekkehard von Aura. Bezogen auf den italienischen Schauplatz überliefert dieser in seiner vierten Rezension eindringlich nam multa subversa sunt inde ędificia, civitates etiam quasdam subrutas dicunt in Italia.336 Ekkehard interpretiert hierbei die Zerstörung der baulichen Strukturen nicht nur als Folge eines durch den furor Domini337 bewirkten Erdbebens. Er benennt gleichsam wörtlich den Untergang Sodom und Gomorrhas als die biblische Vorlage seiner Schilderung.338 Gottes Strafgericht, heraufbeschworen durch den Teutonicus furor339 – die deutsche Raserei –, mit der Ekkehard von Aura die bürgerkriegsartigen Zustände während des späten Investiturstreits im Reich umschreibt, wird an der mit den Argumenten des Alten Testaments geführten Gegenwartsanalyse ersichtlich. Mit der kausalen Verbindung von Zorn (furor), Erdbeben (terrae motus) und umfassender Zerstörung (subvertere)
332 Maßgeblich im Buch Hiob. Siehe Hi 9, 5–6; Hi 12, 15–16; Hi 22, 16; Hi 28, 9. 333 Beispielhaft zu lesen in den Annales Sancti Disibodi: 22 f.; Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42 f. sowie bei Ekkehard von Aura. Siehe hier Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334. 334 Dies wird auch im achten Buch von Ottos Weltchronik deutlich, in welchem er das Beispiel Sodom und Gomorrhas mehrfach wörtlich mit subvertere umschreibt. Siehe Otto von Freising: Chronica sive Historia, VIII, cap. 20, 626. 335 Ottos Geschichtstheologie versteht sich als die Darstellung des Wirkens Gottes in der Geschichte. Auf diese Geschichte der göttlichen Offenbarung hat GOETZ 1984: 65 stringent hingewiesen. Im Kleinen scheint diese Geschichtsauffassung in Ottos narrativen Gebrauch von subvertere durch. Siehe weiterhin GOETZ 1984: 63, 66–69, 78, 82. 336 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334. 337 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334: Quapropter inter ipsa dominicę nativitatis festa Nonas Ianuarii hora vespertina super tantis divini iudicii contemptibus commota est et contremuit terra, a ira nimirum furoris Domini. Ekkehard zitiert hier Ps 17, 8. 338 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334: nec minus quam quondam Sodomorum et Gomorreorum clamor huiusmodi in aures Domini Sabaoth introiit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 335. 339 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334: Dum cuncta per circuitum regna nationum suis limitibus rebusque contenta diu sanguine madentes gladios ceteraque vasa mortis iam in vagina concordie reconderent, universalis etiam ecclesia mater post numerosa persecutionum, heresium ac scismatum bella iam sub vera vite Iesu lassa oppido membra per multas gratiarum actiones mandatis divinis inservitura locaret, solus eheu! Teutonicus furor cervicositatem suam deponere nescius et quam multa six pax legem die diligentibus, immo qualiter per presentis prosperitatis tranquillitatem ad eterne visionem pacis pertingi possit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 335.
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schöpft die Darstellung des Schadenbebens von 1117 bei Ekkehard von Aura offenkundig aus der Vorlage des alttestamentlichen Buches Hiob.340 Subvertere als Oberbegriff für die umfassende Zerstörung ganzer Städte in Folge stattgefundener Erdbeben lässt sich abseits der Überlieferung zu 1117 nördlich der Alpen außerdem mit der Kölner Königschronik belegen. So berichtet der anonyme Schreiber der Chronica regia Coloniensis über eine 1170 im Heiligen Land eingetretene Erderschütterung: terrae motus in oriente plures urbes tam christianorum quam paganorum subvertit.341 Die von der Forschung nachgewiesene Heftigkeit dieses Erdbebens342 macht erneut den überlegt erfolgten Einsatz des Verbes subvertere wahrscheinlich. Eine solche Schlussfolgerung wird auch durch die geringe Belegdichte dieser Formulierung in nordalpinen Quellen bestätigt. Die Schreiber der Chronica regia Coloniensis sowie der Chronik des Kölner Klosters St. Pantaleon343 nutzten zur Überlieferung einer heftigen Schütterwirkung an der baulichen Substanz zusätzlich einen abweichenden Begriff. In diesem Fall sind die dargestellten Gebäudeschäden maßgeblich an das Verb subruere344 gebunden. Bezüglich seiner Anwendung sollte es gegenüber subvertere jedoch ähnlich verstanden werden, wie es schon an der eingangs zitierten Passage aus Ekkehards Chronik abzulesen ist.345 Gemeinsam sind beiden Formulierungen die Fähigkeit zu einer stark komprimierenden Aussage. Alkuins rhetorischer Rat, wenn möglich, bekanntes Wissen
340 Hi 9, 5–6; Hi 22, 16. 341 Chronica regia Coloniensis: 121. Innerhalb der Handschriftengruppe B, die von WAITZ als sogenannte zweite Rezension der Kölner Königschronik ediert wurde, bei der es sich jedoch um ein eigenständiges Werk, nämlich die Chronik von St. Pantaleon, handelt, wird das Erdbeben in der Handschrift B2 nicht erwähnt. Dies ist auf eine rezeptionsbedingte Auslassung im Zuge der Abschrift aus B1 zurückzuführen (Chronica regia Coloniensis: VIII). Siehe ebenfalls WATTENBACH, SCHMALE 1976: 106, 359; GROTEN 1997: 60 f., 72–74. 342 Siehe GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 189–210. 343 WAITZ edierte auf Grundlage von drei Handschriftengruppen zwei Rezensionen der Chronica regia Coloniensis. Im Nachgang gelangte die Forschung zu der Überzeugung besser von zwei selbständigen Werken auszugehen. Die von WAITZ edierte zweite Rezension entstand nicht mehr in Siegburg, sondern im Kölner Kloster St. Pantaleon, weshalb sich die Bezeichnung „Chronik von St. Pantaleon“ in der Forschung durchsetzte. Siehe Chronica regia Coloniensis: V–IX; WATTENBACH, SCHMALE 1976: 106, 359; GROTEN 1997: 68 f., 70, 72–77, bes. 73. 344 So wird das durch einen Sturm verursachte Einstürzen von Gebäuden in beiden Fassungen mit subruere beschrieben. Siehe Chronica regia Coloniensis: 69: Vehementissima vis ventorum innumera edificia subruit. 345 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334. In der Gesamtüberlieferung des Erdbebens von 1117 werden Gebäudeschäden weiterhin in folgenden Quellen mit subruere beschrieben: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 277; Zwiefaltener Chroniken Ortliebs und Bertholds: 218; Casus monasterii Petrishusensis: IV, cap. 2, 174; Reginbald von Lüttich: Itineraria, 2; Anselmi Gemblacensis continuatio: 376; Annalen van Egmond (Annales Egmundenses): 162.
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auf ein gesundes Maß zusammenzufassen, scheint auch hier zuzutreffen.346 So überliefert die Chronik von St. Pantaleon347 hinsichtlich des Erdbebens von 1117 die Schütterwirkung mit den Worten: Anno Domini 1117. In octava sancti Iohannis euangelistae terre motus maximus late per orbem plurima aedificia subruit.348 Mit dem Text der Chronica regia Coloniensis, in deren Abhängigkeit sie steht,349 verbindet diese Fassung nur noch die Datierung in octava sancti Iohannis evangelistae.350 Als im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts der Wortlaut im Kloster St. Pantaleon niedergeschrieben wurde,351 lag das Erdbeben von 1117 gut ein Jahrhundert zurück. Die komprimierte Beschreibung der bereits über zahlreiche Rezeptionsstufen hinweg tradierten großen norditalienischen Schäden mittels des ausdrucksstarken Verbes subruere erscheint durch den gewachsenen zeitlichen Abstand gerechtfertigt. Anders als bei subvertere ging eine narrative Sinnstiftung im Falle dieser Formulierung jedoch nicht von den Heiligen Schriften aus. Das verbindende Element zwischen beiden Begriffen liegt wohl erneut im Vorbild von Orosius’ Historiae adversum paganos.352 So verbildlicht subruere im Sprachgebrauch des christlich-apologetischen Geschichtsschreibers oftmals einen Grad allgemeiner Zerstörung baulicher Strukturen.353 Für ein historiographisches Verständnis dieser Schreibgewohnheit, sei es bei Orosius, sei es hinsichtlich der Beschreibung des Schadenbebens von 1117 in Norditalien, ergibt sich somit eine einheitliche Schlussfolgerung. Wenn Städte zerstört bzw. umgestürzt werden (subvertere) oder prinzipiell zum Einsturz kommen (subruere), hindert dies keinesfalls Autor und Adressat an einer individuellen Vorstellung von zusammenfallenden Häusern, Kirchen und Türmen.354 Beide Vokabeln
346 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 25, 537. 347 Gemäß WAITZ ist dies die zweite Rezension der Chronica regia Coloniensis. 348 Chronica regia Coloniensis: 57: Anno Domini 1117. In octava sancti Iohannis euangelistae terre motus maximus late per orbem plurima aedificia subruit. In Ytalia sane tantum desevit, ut Verona sive Berna, civitas nobilis, eodem concussa, oppressis multis mortalibus, corrueret. Similiter in aliis Ytalie urbibus plures interięrunt. 349 GROTEN 1997: 72. 350 Vgl. Chronica regia Coloniensis: 57. 351 GROTEN 1997: 70, 73. 352 Orosius wird vom Schreiber der Chronica regia Coloniensis gleich zu Beginn des ersten Teils als Quelle genannt. Siehe Chronica regia Coloniensis: XV, 1, 8. 353 Orosius: Historiae, VII, cap. 12. 6, 467: Terrae motus in Antiochia paene totam subruit civitatem; VII, cap. 32. 6, 512. Dt. Übersetzung siehe Orosius: Die antike Weltgeschichte (V–VII), 162. Orosius steht mit seiner Formulierung in römisch-antiker Tradition. So benennt z. B. Livius: Ab urbe condita, XXXIV, cap. 29. 6 Gebäudeschäden mit subruere. 354 Das (sub)ruere und subvertere auch für die explizite Darstellung eingestürzter Häuser und Kirchen verwendet wurden, zeigt die zeitnahe zum Erdbeben von 1117 entstandene Fortsetzung der Chronica monasterii Casinensis durch Guido von Montecassino bzw. dessen Plagiator Petrus Diaconus. Siehe Chronica monasterii Casinensis: IV, cap. 62, 524: Hoc preterea tempore terremotus magni per universam fere Italiam facti sunt, ita quod multi multarum civitatum ruerent, ecclesie a fundamen-
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unterstreichen geradezu exemplarisch das Potential einer sogenannten rhetorischmateriellen Topik. Als Signalwörter fördern sie gleichsam eine gedankliche Ergänzung um bekannte Inhalte und konstruieren somit ein geistiges Bild aus Ähnlichkeitsgrößen.355 Im Frühmittelalter wusste schon Alkuin, am Beispiel Jerusalems einen solchen erfahrungsbasierten Vorstellungsakt auszuführen.356 Maßgeblich subvertere signalisiert durch seine inhaltliche Verbindung zum Fall Sodom und Gomorrhas eine rhetorische Gedankenfigur. Der Vergleich mit dem Erdbeben von 1117, wie ihn Otto von Freising oder Ekkehard von Aura herstellen, zieht somit seine argumentative Kraft aus der Wahl des durch subvertere versinnbildlichten Beispiels. Hier erfüllt sich die Aufforderung Gregors des Großen, eine Einheit aus der Sprache der Heiligen Schrift und den Gedanken der Lesenden zu bilden.357 Das rhetorische Prinzip der Inhaltsvermittlung gilt für das christliche Denken des Mittelalters und dementsprechend für den Erdbebenbegriff der Zeit. b) Erschütterung zwischen narrativer Aufwertung und annalistischer Reduktion – Ein vergangenheitsgeschichtliches Fallbeispiel aus der sächsischen Geschichtsschreibung Das Motiv der Erschütterung ist prägend für Formulierungen, die aus der Mehrheit der normierten Beschreibungsweisen des Erdbebens von 1117 herausstechen. Ein weiteres Beispiel liefern hierfür die weitentfernt vom norditalienischen Epizentralgebiet verfassten Annales Rosenveldenses. Quellenkritisch sind diese im sächsischen Teil des Heiligen Römischen Reichs verfassten Jahrbücher, welche auch unter dem Namen Annales Harsefeldenses bekannt sind,358 keineswegs unkommentiert in die vorliegende Untersuchung einzubinden. Ihre Entstehungsgeschichte ist weitestgehend unsicher und der edierte Wortlaut hat ausschließlich eine fragmentarische Abschrift des 14. Jahrhunderts aus dem Michaelskloster in Lüneburg zur Vorlage.359 Abseits dieser quellenkundlichen Einschränkungen kann die vergangenheitsge-
tis subverterentur et excelse turres demergerentur et multorum hominum strages fierent. Guido verfasste seine Chronik ursprünglich zwischen den Jahren 1075 und 1125. Hinsichtlich der Autorenschaft der Chronica monasterii Casinensis sowie weiterführender quellenkritischer Informationen siehe HOFFMANN 1973: 149 f. und SMIDT 1931: 295, 311 f., 320 f. 355 Siehe hierzu Augustinus: De trinitate, XI, cap. III (6.), 340 f.; ebenso LAUSBERG 1990: 419–421. 356 Alkuin: De ratione animae, cap. IV, 49: Muros et domos et plateas non fingit in eo sicut in Hierusalem facit. Quicquid in aliis civitatibus vidit sibi cognitis hoc fingit in Hierusalem esse posse (ex notis enim speciebus fingit ignota); nec enim in civitate Hierusalem fingit hominis membra sed aedificia civitatibus consueta. Dt. Übersetzung siehe: Alkuins pädagogische Schriften: 156. 357 Gregor der Große: Homiliae in Hiezechihelem, I, VII. 10, 90: Quia igitur dicta sacri eloquii cum legentium spiritu excrescunt. Frz. Übersetzung siehe Grégoire le Grand: Homélies sur Ézéchiel, 251. 358 Siehe Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters: Annales Rosenveldenses. 359 NAß 1996: 305.
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schichtliche Abfassung der Quellen allerdings als sicher gelten. Stütze dieser Schlussfolgerung sind maßgeblich die kompiliert wirkenden Jahresberichte. Es ist auffällig, dass der anonyme Autor den Bericht zum Veroneser Beben angesichts von sonst wortreich erfolgten Jahresberichten nur annalistisch kurz verfasst.360 Offensichtlich erfuhr er durch andere Quellen von dem Erdbeben. Der Schreiber der Annales Rosenveldenses fügt der etablierten Beschreibung terrae motus factus est einen Nebensatz an, dessen grundlegende Aussage durch das Verb corruere bestimmt wird. Durch die Zusammenfassung der im sächsischen Raum, z. B. durch Ekkehard von Aura361 oder die Annales Corbeienses maiores,362 tradierten italienischen Gebäudeschäden ist mittels der Beschreibung ut plurima menia corruerent eine ausreichende Bündelung der ursprünglichen Überlieferungslage belegt. Es findet zusätzlich eine Verstärkung der Aussagewirkung der mittelalterlichen Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est statt. Im Jahr 1117 ist gemäß dem Eintrag die Erde – wohlgemerkt in Italien – nicht nur bewegt worden. Das Erdbeben war zudem von einstürzender Wirkung. c) Videre und die Betonung des sinnlichen Moments Die historiographische Verarbeitung bekannter Erdbeben ist für fortgeschrittene Rezeptionsstufen nicht prinzipiell an ein mehr oder weniger intensiv auftretendes Schadensmaß gebunden. Zweifellos ist die Stärke der Erschütterung bedeutend für eine nachhaltige und somit generationsübergreifende Traditionsbildung. Das Erdbeben von 1117 belegt indes, dass eine vergangenheitsgeschichtliche Überlieferung durchaus Formen abseits einer entweder standardisiert anmutenden Beschreibung in Gestalt der Wendung terrae motus factus est oder einer explizit auf bauliche Schäden abzielenden Narration annehmen kann. An der Peripherie des norditalienischen Seismizitätsgeschehens sind zwei Quellen erhalten geblieben, die in ihrer zunächst originell anmutenden Lesart diese Beobachtung unterstützen. Im nordostfranzösischen Mouzon sowie dem im Burgund
360 Annales Rosenveldenses: 104: 1117. Terre motus factus est, adeo ut plura menia corruerunt. In den Annales Magdeburgenses wurde dieser Passus erneut ausgeschrieben. Siehe Annales Magdeburgenses: 182. 361 Bezüglich der Verbreitung und Rezeption der Chronik Ekkehards siehe: NAß 1996: 70, 80–83 und GOETZ 1999: 127–129. 362 Annales Corbeienses maiores: 51: 1117. In octave sancti Iohannis evangeliste late per orbem terra terribili et inaudito hactenus terremotu concutitur. Maxime vero in Italia minax hoc periculum per multos dies continue desevit, adeo ut montium collisione et subversione Edisii fluminis per aliquot dies obstrueretur. Verona civitas Italie nobilissima edificiis concussis multa quoque mortalibus obrutis corruit. Similiter in Parma et in Venetia aliisque urbibus, oppidis et castellis non pauca hominum milia interierunt. Unstrot fluvius alvei sui profundo scisso ex toto absortus est terre motu. Repleto autem ipso hiatu licet post multa horarum spacia solita fluebat lapsu.
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gelegenen Kloster Saint-Bénigne trugen Mönche annalistische Notizen über das Erdbeben vom 3. Januar 1117 jeweils in Ostertafeln ein. Der Wortlaut beider Quellen zielt unvermindert auf die sinnliche Wahrnehmung ab. In heute sehr stark verblasster Schrift am rechten Rande des Pergaments eingetragen,363 heißt es in den sogenannten Annales Mosomagenses: 1117. Terraemotus visum est 3. Non. Ianuar.364 Auch die Annales sancti Petri Catalaunensis,365 welche quellenkritisch problematischer zu beurteilen sind,366 schildern das Erdbeben mit videre. Mittels dieser Wendung rückt die Beobachtung, das Verspüren der Erschütterung, in das Zentrum der Aussage. Terraemotus visum est signalisiert, dass Menschen die „Bewegung der Erde“ erkannten und anschließend einer Erinnerungsform übergeben haben. Somit lässt sich auf einen Erkenntnisvorgang schließen, der unmittelbar an vorhandene Wissensbestände anknüpft und durchaus gewisse Erfahrungen mit seismischen Ereignissen voraussetzt.367 Videre ist hierbei der verschriftlichte Ausdruck einer visuellen Interpretation, welche zunächst durch eine mündliche Überlieferung getragen wird. Zumindest legt die vergangenheitsgeschichtliche Abfassung in den Annales Mosomagenses sowie Annales sancti Petri Catalaunensis eine Abhängigkeit von älteren Informationen zum Erdbeben von 1117 nahe. Videre bündelt offensichtlich die Nachrichten aus verschiedenen Regionen, in denen das Erdbeben verspürt worden ist. Mit der Formulierung visi per loca368 schwingt eine Unbestimmtheit in der Lokalisierung des eigentlichen Schauplatzes mit, welcher sich mitunter auch für zeitgenössische Darstellungen problematisch gestaltete, wie ein Bericht aus der Regensburger Fortsetzung der frühmittelalterlichen Annales Fuldenses belegt.369 Videre ist, gemessen am Gesamtquellenbestand die-
363 Die Annalen sind ein Werk des 13. Jahrhunderts und Teil einer Sammelhandschrift, die heute in der BnF in Paris verwahrt wird (BnF, Latin 5371). Die Marginalie zum Erdbeben von 1117, welche sehr schwer leserlich ist, findet sich auf fol. 252r. Siehe auch Annales Mosomagenses: 160. 364 Aufgrund der stark eingeschränkten Lesbarkeit des Manuskripts wird die Ausgabe der Monumenta zitiert. Siehe Annales Mosomagenses: 162. 365 Annales sancti Petri Catalaunensis: 489: 1117. 3. Kal. Ianuarii terrae motus visi per loca. 366 Die Edition der Annales sancti Petri Catalaunensis in der MGH beruht im Wesentlichen auf annalistischen Notizen aus einer heute in Paris aufbewahrten Sammelhandschrift (BnF, Latin 5009) sowie einer verlorenen Handschrift, welche im 17. Jahrhundert von Philippe LABBÉ abgeduckt wurde. Siehe Chronicon sancti Petri Catalaunensis: 296; ebenso Annales sancti Petri Catalaunensis: 488. 367 Siehe diesbezüglich auch das von GOETZ erarbeitete vorstellungsgeschichtliche Theoriemodell. Siehe GOETZ 2007d: 25, 29. 368 Annales sancti Petri Catalaunensis: 489. 369 Annales Fuldenses Continuatio Ratisponensis: 126: DCCCXCIII. [. . .] Per idem tempus magni terrae motus in plurimis locis occidentalium Francorum visi sunt. Die Tatsache zahlreicher Erdbeben motivierte den Autor der Annalen wohl zu der Formulierung, dass an vielen Orten Erdbeben beobachtet wurden. Hinsichtlich einer ereignisgeschichtlichen Untersuchung des Erdbebens von 895 siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung).
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ser Untersuchung, zudem keine Wendung, mit der Erdbeben im unmittelbaren Schüttergebiet geschildert werden. Die beiden Einträge zu 1117 kennzeichnen den Terminus eher als Indikator für eine schwächer gefühlte Erschütterung, die im vorliegenden Fall die Grenze des Wahrnehmungsbereichs definieren könnte. Zusätzlich kann zumindest für die Annales Mosomagenses auf eine regionale Formulierungsgewohnheit geschlossen werden. Denn in der nicht weit von Mouzon entfernten Abtei Gembloux fasste der bekannte Weltchronist Sigebert von Gembloux seinerzeit die Beobachtung zahlreicher als Prodigien verstandenen Naturphänomene in ähnlicher Weise zusammen.370 Die Betonung des Sehsinns,371 wie es durch videre geschieht, bindet den Umstand des eingetretenen Erdbebens unvermindert an die mittelalterliche Beglaubigungsformel visa et audita.372 In der mittelalterlichen Kommunikationspraxis des Hören-Sagens373 begründet sich demnach die anfangs formulierte These, videre als schriftlichen Ausdruck einer breiteren mündlichen Tradition zu verstehen. Wenn Autoren eine Formulierung in dieser Weise ausführten, bezwecken sie durchaus, den Anschein von Augenzeugenschaft und somit eine erhöhte Glaubwürdigkeit zu erreichen.374 Schließlich hatte das eigene Sehen und Erleben im Mittelalter stets Vorrang vor dem mit möglichen Täuschungsabsichten verbundenen mündlich vorgetragenen Wort.375
370 So zum Beispiel in seinem Bericht für das Jahr 1000. Die eschatologische Ausrichtung Sigeberts wird hier durchaus ersichtlich. Siehe Sigebert von Gembloux: Chronographia, 353 f.: Anno Iesu Christi millesimo secundum supputationem Dionisii multa prodigia visa sunt. Terrae motus factus est permaximus; cometes apparuit; ebenso ebd.: 317. Ähnlich formuliert der Annalista Saxo: 27. 371 Isidor vermittelt dem Mittelalter die Auffassung, dass durch den sogenannten Seh- bzw. Gesichtssinns (visus) die gegenwärtigen Dinge, sprich die praesentia, durch die Seele aufgenommen werden. Die Realitäten erscheinen gleichsam vor den Augen. Siehe Isidor: Etymologiae, XI, cap. I, 19; Hinsichtlich der epistemologischen Leitfunktion im mittelalterlichen Denken siehe Kap. III. 1. 1. 4. Ebenso versteht Isidor den Seh- bzw. Gesichtssinn, als den kräftigsten aller fünf Sinne. Siehe Etymologiae, XI, cap. I, 21. 372 Beispielhaft seien angeführt: Vita Germani abbatis Grandivallensis: 33; Iotsald von SaintClaude: Vita Odilonis, 224; Lantbert von Deutz: Vita Sancti Heriberti, Lectio XI, 184; cap. 26, 252; Chronica monasterii Casinensis: IV, cap. 30, 496; Otto von Freising: Chronica sive Historia, VII, cap. 11, 518; HAGENEIER 2004: 45. 373 Entsprechende Hinweise für diese Kommunikationspraxis finden sich bezüglich des Erdbebens von 1117 z. B. in den Chroniken des Cosmas von Prag: 217: uti fama referente percipimus sowie bei Berthold von Zwiefalten (Zwiefaltener Chroniken Ortliebs und Bertholds: 218: ut Romipetas audivimus dicere). 374 Siehe hierzu auch GOETZ 1999: 151 f. 375 So schreibt der westgotische Gelehrte Theodulf von Orléans, welcher am Hof Karls des Großen wirkte, in poetischen Worten: os fert falsa, oculus nil nisi vera videt. Siehe Theodulf von Orléans: Carmina, XLV, 544; ähnlich Isidor: Etymologiae, I, cap. XLI, 1–2.
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2.3.2 Den Geschehenshergang im Fokus – terrae motus fuit Historia facta narrat fideliter atque utiliter.376 An diesen Worten des ostfränkischen Metropoliten Hrabanus Maurus wird beispielhaft das grammatische377 Erbe mittelalterlicher Geschichtsdarstellung ersichtlich. Die Übermittlung des Faktums und somit das Wissen um den Lauf vergangener Dinge378 liefert die hermeneutische Basis für die exegetische Welterklärung des Mittelalters,379 wie sie sich im Verlauf der Frühscholastik besonders bei Otto von Freising nachweisen lässt.380 Das gemäß dem zeittypischen Wissens- und Erfahrungshorizont als wahr Aufgefasste ist der Wesenskern mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Der Einfluss der Rhetorik, welcher stets an ein Maß allgemeiner Schriftlichkeit gebunden ist, mindert bei richtiger Anwendung diesen zweifellos idealistischen Anspruch von Vergangenheitsvermittlung nicht. Das historiographische und mit diesem auch das theologische Interesse am Faktum wird durch die verhältnismäßige Wahl sprachlicher Mittel lediglich vielseitiger präsentiert. Dabei galt die Kürze seit der Antike wohlgemerkt als rhetorisches Qualitätsmerkmale der narratio.381 Ein in diesem Sinne motiviertes, nach kurzer Tatsachenüberlieferung strebendes Anliegen ist an einer schlichten grammatischen Konstruktion zu erkennen, die für die Beschreibung von Erdbeben belegt ist. Als letzte aller typischen Darstellungen des Früh- und Hochmittelalters ist die einfache Verbindung des im Perfekt konjugierten Verbes esse mit dem etablierten Terminus terrae motus zu benennen. Die Schreibgewohnheit terrae motus fuit kann, wie auch terrae motus factus est, als eine fest etablierte narrative Konstruktion mittelalterlicher Geschichtsschreibung über Erdbeben gelten.382 Die sprachliche Klarheit und Sachlichkeit der Wendung beruht wohl bereits auf einer antiken Traditionsbildung. In klassisch-lateinischer Zeit war es besonders eine Gewohnheit Senecas, Erdbeben in dieser Weise schriftlich festzuhalten. Der römische Philosoph und Naturforscher war aufgrund seines sprachlich beispielhaften
376 Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 17, 522; dt. Übersetzung siehe ebd.: 523: „Die Geschichte berichtet getreulich und nützlich das Geschehene“. Hrabanus’ Vorlage findet sich bei Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. XXVIII (44.), 63. 377 Isidor: Etymologiae, I, cap. XLI, 2. 378 Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 17, 520: Quicquid igitur de ordine temporum transactorum indicat ea, quae appellatur historia. Dt. Übersetzung ebd.: 521. 379 Beispielhaft nachvollziehbar in der Erläuterung des vierfachen Schriftsinns in der Lehrschrift De tribus maximis Hugos von St. Viktor. Siehe ebd.: 491. 380 GOETZ 1984: 79, 82; siehe auch Kap. IV. 3. 2. 3. 381 Rhetorica ad Herennium: I, cap. VIII, 22 sowie ebd.: I, cap. IX, 24: nam quo brevior, eo dilucidior et cognitu facilior narratio fiet; dt. Übersetzung siehe ebd.: 25; Cicero: De inventione, I. 27, 60; Martianus Capella: De nuptiis, V. 551, 193; Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 22, 535 f.; Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, III, V. 188, 94. Siehe diesbezüglich auch Kap. III. 3. 1. 382 Insgesamt ist die Wendung terrae motus fuit in 36 Quellen nachgewiesen, mittels derer zehn seismische Ereignisse überliefert werden.
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Ausdrucksvermögens bereits an anderer Stelle Gegenstand dieser Arbeit. Gleich mehrfach griff er auf fuit383 zurück, um das zurückliegende Eintreten von Erdbeben beschreiben zu können. Ein bekräftigter Geschehens- bzw. Tathergang, wie im Falle des starken Erdbebens von 62 n. Chr. bei Herculaneum dargestellt, entsprach seinem Interesse. Ebenso lag Seneca der literarische Wunsch nach einer einfachen Überlieferung offensichtlich nicht fern. Diese Intention dürften sich gleichwohl jene mittelalterlichen Geschichtsschreiber zu Eigen gemacht haben, welche terrae motus fuit in ihrer Zeit ausschrieben. Nach Maßgabe der festgelegten quellenkritischen Orientierungspunkte ist diese spezifische Beschreibungsweise für die gesamte Überlieferungsperiode nachgewiesen. Allerdings sind örtlich sowie zeitlich auftretende Häufigkeiten belegt, die durchaus als regionale Schreibgewohnheiten interpretiert werden können. Hauptsächlich lassen sie aber auf einen gewandelten narrativen Umgang mit Erdbeben schließen. In spätkarolingischer Zeit kann die Wendung terrae motus fuit im Wesentlichen als eine Eigenart der beiden ersten Schreiber der sogenannten Annales S. Emmerammi minores384 gelten. Sie blieb daher weitestgehend auf deren Wirkungsstätten in den Klöstern Mondsee und St. Emmeram beschränkt.385 Die Summe der belegten Quellen ist für diese Zeit gering.386 Erst mit dem Erdbeben von 1117 bei Verona findet ein erheblicher Anstieg in der belegten Nutzung dieses Musters statt. Terrae motus fuit bzw. vereinzelt ein ins Plural gesetztes fuerunt findet sich in 28 Quellen
383 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 1. 2, 230; VI, cap. 17. 3, 256; VI, cap. 31. 1, 275. Als ein zerstörerischer Brand die Stadt Lyon verwüstete, verglich Seneca die Schäden mit den Folgen eines starken Erdbebens. Siehe Seneca: Epistulae morales ad Lucilium, II, Ep. XCI. 1, 224. In spätrömischer Zeit sind es vor allem Schreiber der Historia Augusta, welche sich dieser Wendung bedienen. Siehe: Scriptores Historiae Augustae: XX Gordiani tres, cap. 26. 1, 49; XXIII Gallieni duo, cap. 5. 2–3, 84. 384 Eine aus dem Kloster Mondsee stammende Ostertafel gelangte im 10. Jahrhundert in das Kloster St. Emmeram bei Regensburg. Hier wurden in der Folgezeit zahlreiche Marginalien von vielen Händen eingetragen. Die Ostertafel ist heute Teil einer in der BSB München aufbewahrten Sammelhandschrift (München, BSB, Clm. 210, fol. 17v-49r). Der Eintrag zum Erdbeben von 867 erfolgte durch eine zeitgenössische Hand des 9. Jahrhunderts. Die Marginalie zum Jahr 895 wurde hingegen zeitnahe im Verlauf des 10. Jahrhunderts hinzugefügt. Hinsichtlich paläographischer sowie quellenkundlicher Aspekte siehe BISCHOFF 1980: 9, 12, 34 sowie hinsichtlich der erwähnten Erdbeben SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 385 [EB 867]: BSB, Clm. 210, fol. 48v; Annales S. Emmerammi minores: 47; hinsichtlich des fraglichen Erdbebens von 895 siehe Untersuchung in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung); vgl. auch München, BSB, Clm. 210, fol. 50v; Annales S. Emmerammi minores: 47. 386 Zusätzlich wird das Erdbeben von 782, dessen Epizentrum vermutlich bei Wissembourg lag, in diesem Wortlaut überliefert. Siehe Notae Wissenburgenses: 405 sowie SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung).
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dieses Überlieferungszusammenhangs.387 Das spezifische Corpus dieses Bebens ist indes zweigeteilt. Neben einzelnen selbständig sowie zeitgenössisch nördlich wie südlich der Alpen verfassten Zeugnissen wird diese Sprachgewohnheit maßgeblich von einem großen norditalienischen Quellenbestand an vergangenheitsgeschichtlichen und abhängig entstandenen Überlieferungen repräsentiert. Insgesamt 19 Quellen weisen terrae motus fuit als eine offensichtliche Formulierungsgewohnheit in dieser Region nach. Erneut bestätigt sich anhand dieses Beispiels die These, das Erdbeben vom 3. Januartag 1117 als einen Wendepunkt innerhalb mittelalterlicher Geschichtsschreibung über seismische Ereignisse aufzufassen. Denn gerade in der Folgezeit lässt sich eine auf esse gründende Schreibgewohnheit vermehrt nachweisen. Innerhalb des Untersuchungszeitraums sind von 1127 bis 1239 sechs Ereignisse belegt, deren Überlieferung diesen Duktus aufnehmen.388 Die Häufigkeit von zeitnah und vergangenheitsgeschichtlich niedergeschriebenen Quellen bestätigt hierbei eine verstetigte Traditionsbildung seit dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts.389 Auch der Befund an zeitgenössisch verfassten Zeugnissen unterstützt diese Beobachtung.390 Die Verwendung von terrae motus fuit beschränkt sich abseits des Veroneser Schadenbebens von 1117 weitestgehend auf zwei quellenkritische Merkmale: zum einen Zeitunabhängigkeit zum niedergeschriebenen Ereignis sowie zum anderen selbständige Verschriftlichung. Beide gehen in den vorliegenden Belegstellen Hand in Hand.391 Diese Gemeinsamkeit konstituiert die Alleinstellung dieser Wendung gegenüber den übrigen bisher vorgestellten Erdbebenbeschreibungen.
387 Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 277; Ex Annalibus Anglosaxonicis: 118; Reginbald von Lüttich: Itineraria, 2; Annales Pragenses: 120; Annales Floreffienses: 624; Albert von Bezano: Cronica pontificum et imperatorum, 19; Annales Cremonenses: 3; Annales Pisani antiquissimi: 13; Chronicon breve Cremonese ab Anno 1096 ad Annum 1232: 634; Chronichetta Cremonese, siehe GALLI 2005: 90; Sicardi episcopi Cremonensis Cronica: 162; Annales Mediolanenses minores: 393; Annales Mediolanenses brevissimi: 391; Memoria Mediolanenses: 399; Notae S. Georgii Mediolanensis: 388; Annales Ferrarienses: 663; Annales Veronenses veteres: 89; Annales Veronenses breves: 2; Annales Venetici breves: 71; Chronicon Estense: 299; Annales Parmenses minores: 662; Guido von Pisa: Notula, 285 f.; Annales Casinenses: 308. 388 [EB 1127]: Annales Scheftlarienses maiores: 336; [EB 1179]: Chronica regia Coloniensis: 130; Annales Elmarenses: 114; [EB 1201]: Chronicon Montis Sereni: 169; Canonicorum Pragensium continuationes Cosmae, Annalium Pragensium Pars I: 170; [EB 1214]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio III: 237; [EB 1223]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252; [EB 1239]: Cartulaire du chapitre de Notre-Dame de Lausanne, Nr. 907, 752. 389 Dies bestätigen ebenfalls die editorisch rekonstruierten sogenannten Annales Iuvavenses maximi. Zu Schulzwecken von zahlreichen Händen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts im Kloster Admont niedergeschrieben, berichten sie vergangenheitsgeschichtlich über das Erdbeben von 867: DCCCLXVII. Fuit terre motus VI. idus Octobr. hora tercia. Siehe Annales Iuvavenses maximi: 741. 390 [EB 1179]: Chronica regia Coloniensis: 130; [EB 1223]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252; [EB 1239]: Cartulaire du chapitre de Notre-Dame de Lausanne, Nr. 907, 752. 391 Eine Ausnahme sind lediglich die für das Erdbeben von 1127 zeitnah verfassten Annales Scheftlarienses maiores: 336.
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Neben Norditalien etabliert sich mit dem Erdbeben von 1117 zwischen dem belgischen Kloster Floreffe und Köln ein weiterer Überlieferungsschwerpunkt.392 Obgleich der regionalen Häufung zeigt die weite Streuung der übrigen Quellenlage, dass ab dem 12. Jahrhundert terrae motus fuit als normierte Beschreibungsweise für Erdbeben im gesamten Untersuchungsgebiet gelten kann. Wie schon bei der am häufigsten belegten mittelalterlichen Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est393 ist im Gebrauch des konjugierten Verbes fuit ein sprachlicher Wandel erkennbar. Die vorliegende Wendung kann als zusätzlicher Anhaltspunkt gewertet werden, wonach die Beschreibung von seismischen Ereignissen im Verlauf des Hochmittelalters nach zunehmend vereinfachter Narration strebte. Besonders die italienischen Quellen hatten durch ihre überwiegend fortgeschrittene Rezeptionsstufe und die hieraus resultierende Kenntnis um das Ereignis ausreichend Möglichkeit zur narrativen Ausgestaltung. Die verantwortlichen Schreiber nahmen diese jedoch weniger im Sinne einer überbordenden Amplifikation war. Sie bestärkten durch ihre Wortwahl vielmehr eine nüchtern-inhaltliche Informationswiedergabe, welche die verursachten Gebäudeschäden tradiert.394 Die literarische Gattung hat hierbei nicht limitierend gewirkt. Obwohl die italienische Quellenlage zu 1117 hauptsächlich annalistisch geprägt ist, sollte gerade bei der vorherrschenden vergangenheitsgeschichtlichen Niederschrift die Eventualität der inhaltlichen Verkürzung sowie des rezeptionsbedingten Informationsverlusts mitbedacht werden. Es sei diesbezüglich an die alleinstehende Wendung terrae motus erinnert.395 Dennoch dürfte das Bestreben, den reinen Geschehenshergang wiederzugeben, maßgebend gewesen sein. Schließlich ist auch in erzählenden Quellen, beispielsweise bei Sichard von Cremona396 oder Guido von Pisa,397 der Gebrauch von terrae motus fuit nachgewiesen. Die Formulierung wird zusätzlich durch eine dichte und vielseitige Verwendung von Stärkeadjektiven sekundiert. Die Betonung der heftigen Erschütterung
392 [EB 1117]: Reginbald von Lüttich: Itineraria, 2; Annales Floreffienses: 624; [EB 1179]: Chronica regia Coloniensis: 130; Annales Elmarenses: 114; [EB 1214]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio III: 237; [EB 1223]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252. 393 Siehe Kap. II. 1. 2. 2. 394 So zu lesen in den: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 277; Ex Annalibus Anglosaxonicis: 118; Albert von Bezano: Cronica pontificum et imperatorum: 19; Annales Cremonenses: 3; Annales Pisani antiquissimi: 13; Sicardi episcopi Cremonensis Cronica: 162; Annales Veronenses veteres: 89; Annales Venetici breves: 71; Annales Parmenses minores: 662; Guido von Pisa: Notula, 285 f. 395 Siehe Kap. II. 2. 2. 396 Sicardi episcopi Cremonensis Cronica: 162: Anno Domini millesimo CXVI. terre motus magnus in Ianuario fuit, propter quem maior Cremonensis ecclesia corruit, et corpus confessoris Ymerii diu latuit sub ruina. Albert von Bezano: Cronica pontificum et imperatorum, 19 übernimmt Sichards Schilderung wörtlich. 397 Guido von Pisa: Notula, 285.
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durch validus,398 magnus,399 ingens,400 maximus,401 adeo graviter402 folgt in Verbindung mit terrae motus fuit hierbei keinem feststellbaren Muster, sondern ist als Anteil bedingter Selbständigkeit zu werten. Sicherlich war die überdurchschnittliche Stärke des Erdbebens für diesen Aspekt sinnstiftend. Allerdings lässt sich der Gebrauch des Adjektivs magnus in Verbindung mit terrae motus fuit auch abseits des Erdbebens von 1117 nachweisen.403
2.4 Momente einer Traditionsbildung – Ein erstes Zwischenfazit Antike Autoren schrieben in vielfältigen narrativen Varianten über Erdbeben.404 In der Folgezeit konnte allerdings nur ein Bruchteil dieser Schreibgewohnheiten seine eloquente Attraktivität für die Beschreibung seismischer Ereignisse bewahren und so jene kulturelle und politische Zäsur überdauern, die der Untergang des Weströmischen Reiches über Europa brachte. Ein Einschnitt von gleicher Wertigkeit, wenn nicht gar von größerer Prägung für das geistige Leben war jedoch die Etablierung des Christentums. Die Überwindung alter Traditionen durch die Begründung neuer Autoritäten405 manifestierte einen Wandel des Weltverständnisses. Die neue christliche Religion, welche dem Verbum jene für sie besondere hermeneutische Gewichtung als Kennzeichnung irdischer und geistiger Kategorien zuwies,406 formte eine eigene, christlichen Glaubensinhalten folgende Sprache. Für die Etablierung von Begrifflichkeiten blieb das antike Motiv der Analogie weiterhin zeitgemäß. Diese wurde nun jedoch auf die Lehre des Christentums, deren Botschaft sowie die Übersetzung und Kanonisierung der Heiligen Schriften übertragen. Tradition ist durch ihre Ausstrahlung von Autorität stets an Terminologien gebunden.407 Die Begriffssetzung des Terminus terrae motus für die Beschreibung
398 Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 277. 399 Ex Annalibus Anglosaxonicis: 118; Annales Floreffienses: 624; Albert von Bezano: Cronica pontificum et imperatorum, 19; Annales Cremonenses: 3; Chronichetta Cremonese, siehe GALLI 2005: 90; Sicardi episcopi Cremonensis Cronica: 162; Memoria Mediolanenses: 399; Annales Veronenses veteres: 89; Annales Veronenses breves: 2; Guido von Pisa: Notula: 285; Annales Casinenses: 308. 400 Annales Pisani antiquissimi: 13. 401 Annales Mediolanenses brevissimi: 391; Annales Ferrarienses: 663; Chronicon Estense: 299; Annales Parmenses minores: 662. 402 Guido von Pisa: Notula, 285. 403 [EB 782]: Notae Wissenburgenses: 405; [EB 1127]: Annales Scheftlarienses maiores: 336; [EB 1223]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252. 404 Siehe Abbildung 3. 405 Siehe auch GADAMER 2010: 285. 406 Siehe z. B. das Kapitel Verbum abbreviatum in LUBAC 1959–1964: 181–197; ebenso FEINER, LÖHRER 1965: 289–291, 306, 793–795. 407 GADAMER 2010: 300.
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seismischer Ereignisse erfolgt klar in diesem Sinne. Das folgende Kapitel wird zeigen, dass die klassisch-lateinische Wendung terrae motus aufgrund ihrer grammatischen und logischen Konstitution am ehesten dem damaligen christlichen Weltverständnis entspricht und sich gerade deshalb harmonisch in die neue Konzeption einpassen ließ.408 In der Antike übliche Formulierungsweisen für Erdbeben, wie beispielsweise terra tremuit, gerieten ebengerade deshalb aus der Mode, weil sie jenes christlichhermeneutische Ausdruckspotential nicht aufwiesen. Degradiert zu Synonymen stellen sie fortan nur vereinzelte sprachliche Alternativen zu motus bzw. movere dar, ohne dabei deren Status einer allgemeinverbindlichen Sprachgewohnheit einzunehmen.409 Die karolingische Bildungsreform beförderte durch die Betonung klösterlicher Ausbildung gleichfalls die Stärkung eines neuen Geschichtsbewusstseins. Seit dem Ende des 8. Jahrhunderts erlebte die Historiographie im lateinischen Europa auf diese Weise eine Wiedergeburt. Sie bedingte in der Folge eine deutlich verbesserte Quellenlage und ermöglicht den Beleg einer sich seit der Antike veränderter Schreibgewohnheiten über Erdbeben. Unvermindert wird eine neue Tradition sichtbar, die den Begriff terrae motus fortan als Wesenskern mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen heraushebt (siehe Abb. 3). Die christliche Bedeutungsebene der Terminologie fungiert nachweislich als sinnstiftendes Moment für die Bildung und Neuinterpretation typischer narrativer Erdbebenbeschreibungen des Mittelalters. Ersichtlich wird diese Genese an Abb. 4. Die sprachliche Bindung eines breiten Spektrums verschiedener Verben an den Terminus technicus terrae motus klassifiziert Formulierungen wie terrae motus factus est, terrae motus fuit oder andere als einzelne Momente dieser Tradition. In regionaler Verschiedenheit und zeitlich wechselnden Kontinuitäten belegt, ist die z. T. erheblich voneinander abweichende Häufigkeit dieser Wendungen (siehe Abb. 4) auch als Resultat unterschiedlicher, mitunter technisch limitierender Faktoren zu werten. Es wurde dargelegt, dass die Formulierungsweise schon alleine durch die Wahl des Schreibmediums oder die literarische Gattung beeinflusst sein kann. Ebenso ist ein mit der Zeit gewandelter Anspruch an den Berichtsgegenstand von Geschichtsschreibung beobachtbar. Für alle Beschreibungen verbindend ist aber, dass jede als Moment einer gemeinsamen Tradition eine Variante mittelalterlicher Weltsicht darstellt, die in ihrer Gesamtheit einen durch den Begriff terrae motus getragenen Wissenshorizont über Erdbeben verkörpert.
408 In diesem Fall kann man mit den Worten Friedrich OHLYS durchaus von einer „christlichen Grammatik“ sprechen. Siehe OHLY 1958–1959: 13. 409 Beispielhaft Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 979A: Tremere est idem quod moveri, unde terra dicitur tremere, id est moveri, quando fit terraemotus. Dt. Übersetzung: „Zittern ist dasselbe, wie bewegt werden, weshalb zittern zur Erde gesagt wird. Dies meint bewegt werden, wenn ein Erdbeben geschehen wird.“
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Abb. 3: Schematische Darstellung der formgeschichtlichen Entwicklung verschiedener im Mittelalter verwendeter Begriffe zur Bezeichnung von Erdbeben. Aus einer antiken Sprachgewohnheit übernommen, besitzt der Terminus terrae motus eine zentrale Stellung bei der Bildung neuer mittelalterlicher Beschreibungsweisen.
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II Bilder der Erschütterung
Abb. 4: Visualisierung des zeitlichen Auftretens aller im Untersuchungszeitraum und -gebiet nachweisbaren mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen.
III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums Sprache ohne Grammatik ist nicht vorstellbar.1 Verbindliche Regeln und Normen, die den mündlichen und schriftlichen Austausch innerhalb und zwischen menschlichen Sprachgemeinschaften ermöglichen, bedürfen aber auch einer formallogischen Grundlegung, um ein allgemeinverbindliches Verstehen und somit eine Anerkennung von Aussagen zu bewirken. Die formale Schlüssigkeit des Artikulierten muss sich frei vom konkreten Inhalt im Verständnis jedes Adressaten von selbst, sozusagen aus sich selbst erwachsend, einstellen.2 Dieser Gedanke ist keineswegs neu, sondern war von jeher fester Bestandteil griechisch-römischer Aussagenlogik.3 Das Mittelalter reflektierte diese Grundbedingung auf eigene Weise4 und kleidete das sogenannte Trivium gemäß der antiken Tradition aus. Das Elementare der Grammatik war Konsens. Sie wurde als hermeneutisches Fundament verstanden, um das Studium der artes liberales erfolgreich bestehen zu können. Richtiges Sprechen und Schreiben, das Verstehen und Erläutern von poetas atque historicos wäre ohne sie unmöglich.5 Weit poetischer drückt diesen Anspruch Alanus ab Insulis, einer der großen Dichter und Scholastiker des Mittelalters, aus. Auf den Befehl der Sophia hin steige die Grammatik auf den Jüngling herab, um in ihm beständiges geistiges Wachstum zu befördern.6 Die Formulierungen von Hrabanus und Alanus, beide mit deutlichem
1 Auf diesen Sachverhalt weist unter anderem schon Augustinus hin. Siehe Augustinus: Soliloquia, II, cap. XI (19.), 70: Est autem grammatica vocis articulatae custos et moderatrix disciplina. Hinsichtlich einer deutschen Übersetzung siehe Augustinus: Selbstgespräche und Unsterblichkeit, 112. 2 Quintilianus: Institutio oratoria, X, 2. 22: Habet tamen omnis eloquentia aliquid commune: id imitemur quod commune est. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, II, 495. 3 Aristoteles: De interpretatione vel Periermenias, 1, 16a2-9, 5; 4, 16b26-17a22, 7–9; Apuleius von Madaura: Peri Hermeneias, IV, 191 f.; siehe ebenfalls GADAMER 2010: 436. 4 Siehe z. B. für die patristische Tradition: Augustinus: De magistro, cap. V (16.), 174: illis auctoribus, quibus verborum leges consensu omnium tribuuntur. Eine deutsche Übersetzung findet sich in Augustinus: Über den Lehrer, 49. Hinsichtlich einer späteren Verarbeitung siehe Hugo von St. Viktor: Didascalicon, I, cap. 11, 148, 150. 5 Siehe Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 18, 528: Grammatica est scientia interpretandi poetas atque historicos et recte scribendi loquendi que. Ratio haec, et origo et fundamentum est litterarum liberalium. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 529. Hrabanus Formulierung entstammt aus Isidor: Etymologiae, I, cap. V, 1. 6 Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, VII. 248–254, 164: Gramatice doctrina prior precepta Sophye / Complet et in iuvenem descendit tota, nec in se / Fit minor, immo, magis crescens, grandescit in illo. / Omne quod ipsius discernit regula, canon / Precipit et dictat artis censura magistre, / In dotem iuvenis confert, ne verba monetet / Citra gramaticam, ne verbo barbarus erret. Dt. Übersetzung siehe Alanus ab Insulis: Anticlaudian: 216. https://doi.org/10.1515/9783110620771-003
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zeitlichen Abstand voneinander verfasst, spiegeln die Wertigkeit des Grammatikunterrichts innerhalb der klösterlichen Ausbildung des Triviums wider. Die Wissenschaft vom Buchstaben7 wird demnach qua Weisheit als notwendig erachtet. Die propädeutische Aufgabe der Grammatik wird am Libellus Scolasticus des Walther von Speyer ersichtlich. Martianus Capellas De nuptiis Philologia et Mercurii dürfte unzweifelhaft Pate gestanden haben,8 als Walther im ausgehenden 10. Jahrhundert anschaulich seinen eigenen Bildungsweg im Speyerer Scriptorium beschrieb.9 Sein Werk spiegelt den Kanon vorscholastischer Ausbildung wider. Die Abfolge der Lerninhalte entspricht einem Bildungsideal, wie es seit dem Frühmittelalter von Cassiodor, Isidor, Beda oder Hrabanus vermittelt und mit dem Erlass der admonitio generalis von herrschaftlicher Seite gefördert worden war.10 Auf die an erster Stelle gesetzte Alphabetisierung folgte zur Übung unmittelbar das Studium von Psalmtexten.11 Augustinus’ Lehrmeinung, die lateinische Sprache aus der Heiligen Schrift zu erlernen,12 wird mittels dieser Praxis in gleicher Weise entsprochen, wie sie das Auswendiglernen von biblischen Texten13 für den späteren Mönch oder Kanoniker förderte. Das Trivium als Ganzes wurde in den Dienst der Auslegung der Heiligen Schrift gestellt, wobei die Grammatik eine besondere Stel-
7 Isidor: Etymologiae, I, cap. V, 2: Grammatica autem a litteris nomen accepit. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 26; ähnlich Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 18, 528. 8 Dies wird unter anderem an den personifizierten Darstellungen der Artes als Dienerinnen der Logik ersichtlich. Ebenfalls wird Martianus’ Sinnstiftung an der allegorischen Sprache und den antik-profanen Entlehnungen des Libellus Scolasticus deutlich. Siehe beispielhaft: Libellus Scolasticus: 39: Felix arguto cecinit sponsalia plectro / Ac septemgeminas recitavit rite sorores; ebd.: 40: Adducit famulas prestanti corpore quinas / Omnia sub gemino claudens Dialectica puncto: / Prima quidem miles, generali nomine pollens, / Insignita tribus unum selegit amictum; / Hac vice continua sequitur gradiente secunda; / Tercia discrevit, quicquid primoeva coegit / Dans operam sane cyrros crispare secundae, / Quos quartę solido collegit fibula nodo; / Instabilem fucum tulit ultima quinque sororum, / Docta quibus geminas decernens Gręcia formas / Pinxit „quale“ tribus, „quid sit“ referendo duabus; ebenfalls ebd.: 87 f., 99. Dt. Übersetzungen siehe ebd.: 50, 51. 9 Zur Werkgeschichte siehe z. B. Libellus Scolasticus: 10; ebenfalls FINKEL 1976: 375. 10 Unter der Vielzahl von Veröffentlichungen zur admonitio generalis sei in dem hier vorgetragenen Zusammenhang stellvertretend der Aufsatz von LAUDAGE 2009: 29–71, bes. 43–59 zu empfehlen. 11 Libellus Scolasticus: 37: Imbibit alphabetum notularum docta tenore, / Syllabicas recta rugas plicuisse rubrica, / Nuda mihi clausas tribuit psalmodia mammas. Dt. Übersetzungen siehe ebd.: 47. 12 Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. XIV (21.), 47: Quamquam tanta est vis consuetudinis etiam ad discendum, ut, qui in scripturis sanctis quodammodo nutriti educatique sunt, magis alias locutiones mirentur easque minus latinas putent quam illas, quas in scripturis didicerunt neque in latinae linguae auctoribus reperiuntur. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 63 f. 13 Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 2. 16, 332.
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lung innehatte.14 Exemplarisch wird dies an einer Passage aus Augustinus’ bekanntem Werk Enarrationes in Psalmos ersichtlich. Viele Klosterbibliotheken besaßen eine Abschrift dieses wichtigen Psalmenkommentars.15 Umso nachhaltiger dürften die Ausführungen des Kirchenvaters zu Ps. 113 gewirkt haben – sie lauten: In hoc ergo psalmo quamvis futura intueatur mirabilis prophetiae Spiritus, tamen videtur velut transacta narrare. Facta est, inquit, Iudaea sanctificatio eius: mare vidit et fugit: et facta est, et vidit, et fugit, praeteriti temporis verba sunt; et conversus est Iordanis, et gestierunt montes, et commota est terra, eodem modo praeteritum sonant; sine praeiudicio tamen intellegendi futura.16
Mit dem Hinweis auf die im Psalter gebrauchten Vergangenheitsformen zur Beschreibung verschiedener biblischer Ereignisse, wie die Umkehrung der Fließrichtung des Jordan oder eben einem Beben der Erde, legt Augustinus einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Testamenten offen. Allein die grammatische Analyse – so zumindest ist aus diesen Zeilen zu schlussfolgern – verdeutlicht bereits den exegetischen Zusammenhang zwischen dem prophetisch angekündigten Inhalt des Alten Testamentes sowie dessen Erfüllung im Wirken des Neuen Testaments. Angesichts dieses aus der patristischen Literatur entnommenen Beispiels erscheint es nur als folgerichtig, dass sich in der Darstellung des Libellus Scolasticus der Grammatikunterricht unmittelbar an das Psalmenstudium anschließt.17 Erst nach der Vermittlung der Poesie, in erster Linie von Vergil,18 wurden den jungen Schülern anhand der Isagoge des Porphyrios19 und wohl auch an der von Boethius
14 Cassiodor: Institutiones, 1, cap. 27. 1, 252: Quoniam tam litteris sacris quam in expositoribus doctissimis multa per schemata, multa per definitiones, multa per artem grammaticam, multa per artem rethoricam, multa per dialecticam [. . .]. Est enim rerum istarum procul dubio, sicut et Patribus nostris visum est, utilis et non refugienda cognitio, quandon eam in litteris sacris, tamquam in origine generalis perfectaeque sapientiae, ubique reperis esse diffusam; dt. Übersetzung siehe ebd.: 253. Gleichfalls zutreffend ebd.: 1, cap. 28. 3, 256: Verumtamen nec illud Patres sanctissimi decreverunt, ut saecularium litterarum studia respuantur, quia non exinde minimum ad sacras Scripturas intellegendas sensus noster instruitur. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 257. 15 Siehe Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, VI, Anm. 4, VII–IX, XXIIIf. 16 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 3, Ps. CXIII. 4, 1637; engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 550 f. 17 Libellus Scolasticus: 37: Grammaticis opibus me tercius applicat annus / Et mihi Romanam primum monstraverat aulam / In signo signi vertentem insignia rei; / Interius variis eadam depicta figuris. Dt. Übersetzungen siehe ebd.: 47. 18 Hinsichtlich des Verweises auf Vergil siehe: Libellus Scolasticus: 39: Omnibus excellens docuit nos Musa Maronis. Dt. Übersetzungen siehe ebd.: 50; ebenfalls: Donat: Ars minor, 8. 19 Die Isagoge war den meisten lateinischen Abschriften der aristotelischen Kategorien vorangesetzt. Auch wenn der Libellus Scolasticus die Kategorien des Aristoteles nicht explizit erwähnt, ist deren Vermittlung im Kontext des mittelalterlichen Logikunterrichts anzunehmen. DÖRRIE 1971: 33; LASK 1993: 240 f.
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übersetzten Kategorienschrift des Aristoteles Grundlagen in der griechischen Aussagenlogik vermittelt.20 Walther erklärt mit seinen Worten bereits in ottonischer Zeit, was zwei Jahrhunderte später Hugo von St. Viktor als die herausragende Stellung der Logik ausführen sollte. Sub pedibus Logice recubabat nexa coaevę / Commissura tibi reliquorum munia, Tulli,21 formuliert Walther in poetischer Sprache, die Reminiszenz an Cicero als Stellvertreter der Rhetorik nicht vergessend. Hugo steht in der Kontinuität mittelalterlichen Denkens, wenn er in seinem Didascalicon im beginnenden 12. Jahrhundert schreibt: Die Logik umschließe das Wirken der Grammatik, Rhetorik und Dialektik.22 Die wegweisende Autorität des französischen Gelehrten für das Denken der Scholastik leuchtet in diesem Satz, der in antiken Denktraditionen verwurzelt ist, unverkennbar auf. Logik, das ist im Sinne Hugos die Lehre von der Natur der Wörter sowie Begriffe23 und demnach maßgeblich eine auf Aussage und Urteil ausgerichtete Interpretation. Es ist zu überprüfen, in welchem Ausmaß dieses Grundverständnis den mittelalterlichen Erdbebenbegriff geformt hat.
1 Die formallogische Grundlegung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs terrae motus 1.1 Die Kategorisierung der sinnlichen Welt – Der mittelalterliche Kanon antiker Logik als Grundlage für die formallogische Erklärung des Begriffs terrae motus Wofür steht die Bezeichnung „sinnliche Welt“? Schon die Philosophen der Antike beschäftigte diese Frage.24 Ihnen ist ein Wissen zu verdanken, das in seinen erkenntnistheoretischen Grundzügen bis in die Moderne seine Gültigkeit bewahren konnte. Das Zeitalter des Mittelalters ist umso mehr Teil dieser Geistestradition, als
20 Libellus Scolasticus: 40: Inde ubi maiorum tetigit nos cura ciborum, / Porphirius claras nobis reseravit Athenas, / Qua multi indigent librabant verba sophistae. Dt. Übersetzungen siehe ebd.: 50. 21 Libellus Scolasticus: 40. Dt. Übersetzungen siehe ebd.: 51. 22 Hugo unterteilt die Logik in eine „Vernunftwissenschaft“ und „Wortwissenschaft“. Siehe Hugo von St. Viktor: Didascalicon, I, cap. 11, 150: Logica rationalis, quae dissertiva dicitur, continet dialecticam et rhetoricam. Logica sermocinalis genus est ad grammaticam, dialecticam atque rhetoricam, et continet sub se dissertivam. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 151. 23 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, I, cap. 11, 148, 150.: propterea quod in ea docetur vocum et intellectu[u]m natura [. . .]. Dicitur enim logos sermo sive ratio, et inde logica sermocinalis sive rationalis scientia dici potest. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 149, 151. 24 Beispielsweise siehe Aristoteles Auseinandersetzung zum Begriff der Wahrnehmung. Aristoteles: Categoriae, 7, 7b35-8a10, 61.
1 Die formallogische Grundlegung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs terrae motus
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es mit Augustinus unter sinnlich v. a. körperlich versteht.25 Sinnliche Welt, dass bedeutet in der mittelalterlichen Überzeugung vorrangig ein aus der Schöpfung entstandenes Weltganzes, das in der zur Realität gelangten Körperlichkeit der Entitäten eine Erfüllung des göttlichen Heilsplans darstellt. Bezogen auf den Aspekt der Wahrnehmung ist es das Verständnis der fünf Sinne, wie es etwa Isidor von Sevilla für das Mittelalter überliefert,26 das den Menschen unmittelbar in ebendieser irdischen Welt verortet. Die Sinne ermöglichen es der Seele, so die antik-mittelalterliche Überzeugung, den Körper durch die gelieferten Eindrücke anzutreiben und vernunftmäßige Entscheidungen zu treffen.27 Die sinnliche Welt versteht sich als alles durch die körperlichen Sinne in der menschlichen Umwelt Wahrnehmbare.28 Sie charakterisiert sich primär als eine menschliche Bewertungskategorie, die jedoch eine große Unsicherheit aufweist. 1.1.1 Das Universalienproblem Im Mittelalter, in welchem man um die Klärung der sich aus sinnlicher Wahrnehmung ergebenden urteilslogischen Problematik bemüht war, fußt deren Beurteilung maßgeblich auf zwei ontologischen Interpretationsmodellen.29 Zum einen wirkte die Ideen-Lehre Platons einflussgebend. Zum anderen ist die vetus logica des Aristoteles und somit dessen junge Ontologie in der Kategorienschrift und sein aussagenlogisch konzipiertes Werk Peri hermeneias angesprochen. Beide in zentralen Fragen, wie der Bestimmung der Universalien, differierende ontologische Konzepte wurden unter anderem in der Isagoge des Neuplatonikers Porphyrios miteinander vermittelt. Gemeinsam haben beide Ansätze über das Denken der Scholastik hinaus den logischen Diskurs bestimmt.30 Innerhalb einer enorm vielschichtigen und langanhaltenden intellektuellen Auseinandersetzung wurde
25 Siehe Augustinus: De inmortalitae animae, cap. VII (12.), 113: Nam quoniam quodlibet corpus pars est mundi sensibilis. Hinsichtlich einer deutschen Übersetzung siehe Augustinus: Selbstgespräche und Unsterblichkeit, 177. Ebenso Augustinus: Soliloquia, II, cap. IV (6.), 53. 26 Isidor: Etymologiae, XI, cap. XVIII-XXIII, bes. cap. XVIII. Isidor steht selbst in einer langen Rezeptionstradition. Die Definition der fünf Sinne findet sich schon in der klassischen Philosophie. Siehe z. B. Aristoteles: Categoriae, 9b5-10, 25 oder Platon: Timaios, 64a-69a, 127–141. 27 Isidor: Etymologiae, XI, cap. I, 19: Sensus dicti, quia per eos anima subtilissime totum corpus agitat vigore sentiendi. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 471. 28 Augustinus: De magistro, cap. III (5.), 162: Ego cum corpora dicerem, omnia corporalia intellegi volebam, id est omnia, quae in corporibus sentiuntur. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 19. 29 Siehe diesbezüglich auch den Lexikonartikel zum Substanz-Begriff in REGENBOGEN, MEYER 2005: 639–641, bes. 640. 30 Hinsichtlich einer lohnenden ideengeschichtlichen Überblicksdarstellungen des sogenannten Universalienstreits in Antike und Mittelalter siehe z. B. das von Hans-Ulrich WÖHLER verfasste Nachwort „Zur Geschichte des Universalienstreits. Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik“ in dem von ihm herausgegebenen Band. Siehe WÖHLER 1992: 307–354.
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im Wesentlichen die Klärung philosophischer Grundfragen, v. a. um das Verhältnis von Allgemeinem, Einzelnem und Besonderem zueinander, angestrebt.31 Die im platonischen und aristotelischen Verständnis voneinander konzeptionell abweichende Bewertung der sogenannten Substanz (ousia) und der sie jeweils ausmachenden Gattungen (genera) und Arten (spezies) ist dafür von elementarer Bedeutung. Das Anliegen dieser Abhandlung betrifft die Konkretisierung der Formen des Seins-Verständnisses, die maßgeblich der logischen Grundstruktur des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs entsprechen. Folgerichtig betrifft dieses Bestreben unmittelbar das seit der Antike energisch diskutierte Universalienproblem und somit die Erörterung, ob allgemein angenommene Begriffe als real existierende Einzelheiten angenommen werden können. Durch die angestrebte aussagen- und urteilslogische Bestimmung des Terminus terrae motus muss in gegebener Kürze auf diesen Disput eingegangen werden. Er soll jedoch nicht die Diskussion bestimmen. Platons Erbe etablierte durch das Wirken des Neuplatonismus und dessen Rezeption aus theologischer Sicht ein erkenntnistheoretisches Grundverständnis des Mittelalters.32 Seine Thesen bestimmten grundsätzlich den Wissenschaftsdiskurs, obwohl sein unmittelbares Werk den Philosophen und Theologen des Mittelalters über einen langen Zeitraum lediglich in einer von dem christlichen Neuplatoniker Calcidius auszugsweise angefertigten lateinischen Übersetzung des Timaios zugänglich war.33 Durch die neuplatonische Rezeption prägte die platonische Überzeugung, dass die sinnliche Wahrnehmung eines Dinges als Abbild eines ontologisch höherstehenden Urbildes zu gelten habe, nachhaltig die mittelalterlichen Artes und somit die christlich-abendländische Weltsicht. Platons Ideen-Lehre, als Anstoß des Universalienstreits,34 definiert das Verhältnis der unbeweglichen Idee zu den ihr inhärenten, als unstetig klassifizierten sinnlichen Dingen. Erst durch den Vorgang der Teilhabe an der mit dem Urbild gleichgesetzten Idee gelangen die konkreten Einzeldinge zu ihrer Wirklichkeit und werden demzufolge Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung.35 Grundsätzlich sind die existenten Dinge somit als eine Ableitung der Idee, als in mehr oder minder ausgeprägter Ähnlichkeit angelegte Beispiele aufzufassen.
31 WÖHLER 1992: 307. 32 Beispielhaft ist zum Beispiel die im Timaios dargelegte naturphilosophische Lehre von den vier Elementen. Siehe Platon: Timaios, 31b-34a, 41–47; 38c-40d, 57–63; 48b-49c, 85–87; 52d-53c, 97–99. 33 WESCHE 2009: 1391 f. Hinsichtlich der kritischen Edition des Werkes siehe Platon: Timaeus a Calcidio translatus. Zur Verbreitung der Schriften Platons im Mittelalter siehe MEINHARDT 2009a: 11 f. 34 WÖHLER 1992: 307. 35 FONFARA 2003: 28 f. GADAMER sollte dies als die „platonische Abwertung der sinnlichen Erscheinung“ beschreiben. Siehe GADAMER 2010: 429.
1 Die formallogische Grundlegung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs terrae motus
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Die Annahme einer ontologisch zweigeteilten Welt36 mit einer diese auszeichnenden zweifellosen Unschärfe in der Bestimmung konkreter Realitäten37 veranlasste Platons Schüler Aristoteles zu seiner fundamentalen Kritik an der platonischen Ideenlehre. Ein maßgeblicher Anstoß des späteren Lehrers Alexanders des Großen bestand darin, dass im platonischen Sinne Veränderungen – Aristoteles nennt sie Bewegung38 – des Realen nicht abgebildet werden könnten.39 Mit seiner Formulierung der Kategorien versucht Aristoteles indes ein Werkzeug zur Strukturierung ebendieser real beobachtbaren Spielarten zu finden. Er greift hierzu die Terminologie seines Lehrers Platon auf, doch zeigt insbesondere die Definition der Substanz einen diametralen Unterschied. Während sich in der platonischen Lesart alle Entitäten aus der Allgemeinheit ableiten und somit ein Primat des Ganzen vor seinen Teilen im Substanz-Begriff angelegt ist, dreht Aristoteles die Zielrichtung um. Er unterteilt die ousia in zwei Klassen, an deren oberster Stelle die konkrete unteilbare Einzelheit steht.40 Die Substanzen zweiter Ordnung stellen indes als Gattungen und Arten ausschließlich eine Teilhabe an der ersten Substanz (ousia) dar.41 Sie sind nur Vernunftbegriffe und nicht von selbständigem Dasein.42 Anders als bei Platon hat das Allgemeine somit sein deduktives Primat eingetauscht. Aristoteles versteht das Allgemeine als das allen Einzelheiten
36 Hinsichtlich dessen ist die Unterscheidung der platonischen Ontologie in eine visible, d. h. körperlich wahrnehmbare, sowie eine intelligible, d. h. ausschließlich geistig erkennbare Welt zu verstehen. Siehe FONFARA 2003: 28. Hinsichtlich der Rezeption im frühscholastischen Mittelalter, z. B. bei Abbo von Fleury, sei ENGELEN 1993: bes. 23 ff. empfohlen. 37 WÖHLER 1992: 308. 38 Zu den Arten der Bewegung, zu den neben der Veränderung auch das Werden, das Vergehen, die Zunahme, die Abnahme und der Ortswechsel gehören, siehe Aristoteles: Categoriae, 14, 15a1215b9, 39 f. 39 WÖHLER 1992: 308. 40 Aristoteles: Categoriae, 5, 2a11-13, 7: Substantia autem est, quae proprie et principaliter et maxime dicitur, quae neque de subiecto praedicatur neque in subiecto est, ut aliqui homo vel aliqui equus. Dt. Übersetzung: Aristoteles: Kategorien, 11. Hinsichtlich des aristotelischen Substanzbegriffs siehe ebenfalls FONFARA 2003: 19–24, 35; SEIDL 2006: 294–296. Mit besonderer Blickrichtung auf die mittelalterliche Rezeption siehe MEINHARDT 2009b: 274–276. 41 Aristoteles: Categoriae, 5, 2a14-18, 7: Secundae autem substantiae dicuntur, in quibus speciebus illae quae principaliter substantiae dicuntur insunt, hae et harum specierum genera; ut aliquis homo in specie quidem est in homine, genus vero speciei animal est; secundae ergo substantiae dicuntur, ut est homo atque animal. Dt. Übersetzung: Aristoteles: Kategorien, 11. 42 Diese Problemstellung nahm Porphyrios seiner Zeit als Anlass für die Anfertigung seiner Isagoge. Siehe hierzu Porphyrios: Isagoge, 1. 10–14, 5: Mox de generibus et speciebus illud quidem sive subsistunt sive in solis nudis purisque intellectibus posita sunt sive subsistentia corporalia sunt an incorporalia, et utrum separata an in sensibilibus et circa ea constantia, dicere recusabo (altissimum enim est huiusmodi negotium et maioris egens inquisitionis). Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 3.
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gemeinsam Zugrundeliegende.43 Ontologisch begründet sich hier die Höherwertigkeit der Substanz gegenüber den anderen neun Kategorien,44 welche dennoch in diesem Verständnis als für sich stehende, höchste Allgemeinbegriffe existent bleiben. In der hier inbegriffenen Wechselwirkung zwischen den Kategorien liegt ein Substanz-Akzidenz-Verhältnis begründet, wie es uns noch besonders in der urteilslogischen Bewertung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs beschäftigen soll. Exemplarisch veranschaulicht die aristotelische Neudefinition der ousia, dass Eigenschaften wie Größe und Farbe, aber auch generelle Zustandsänderungen, die im platonischen Sinne selbstständig bestehende Existenzen wären, nur prädikative Funktion haben. Sie können also nur auf eine Substanz einwirken, ohne für sich selbst real zu sein.45 Die Prämisse der ersten Substanz als unabhängige, selbstständige, für sich existierende Einzelheit46 ergibt, dass das Mittel der Kategorisierung zur urteils- und aussagenlogischen Bestimmung von Realitäten angewendet werden kann.47 Die
43 WÖHLER 1992: 309. Dieser grundlegenden Unterscheidung der Kategorie der Substanz als „Seiendes“ wird insbesondere in Aristoteles’ Bestimmung vom synonymen und homonymen Wortverständnis nachvollziehbar. Als ontologischer Allgemeinbegriff kann das „Sein“ somit nicht als synonyme Entsprechung seiner Einzelheiten verstanden werden, sondern als eine homonyme Klassifikation, welche mit der namentlichen Bezeichnung ausschließlich Seins-Momente für alle partizipierenden Entitäten bereitstellt. Gattungsspezifisch besitzt die Verwirklichung des „Seins“ jedoch einen synonymen Charakter. Siehe Aristoteles: Categoriae, 1, 1a1-15, 5. Ebenfalls ging Porphyrios darauf ein. Siehe Isagoge, 6. 2–12, 11 f.: Sed in familiis quidem plerumque ad unum reducuntur principium, verbi gratia ad Iovem, in generibus autem et speciebus non se sic habet; neque enim est commune unum genus omnium ens, nec omnia eiusdem generis sunt secundum unum supremum genus, quemadmodum dicit Aristoteles, sed sint posita (quemadmodum in Praedicamentis) prima decem genera quasi prima decem principia. Vel, si omnia quis entia vocet, aequivoce (inquit) nuncupabit, non univoce; si enim unum esset commune omnium genus ens, univoce entia dicerentur, cum autem decem sint prima, communio secundum nomen est solum, non etiam secundum definitionis rationem quae secundum nomen est. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 7. Hinsichtlich der mittelalterlichen Rezeption dieses methodischen Ansatzes der Kategorien-Schrift siehe z. B. Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 3. 9, 344, 346. 44 Die anderen Kategorien des Aristoteles sind Quantität, Qualität, Relation, Wo, Wann, Lage, Haben, Tun, Erleiden. Siehe Aristoteles: Categoriae, 4, 1b25-2a10, 6 f. Das ontologische Primat der Substanz gegenüber den anderen Kategorien findet sich ebenfalls in Porphyrios Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles. Siehe Porphyrios: In Categorias, 89. 12–25. Eine englische Übersetzung des altgriechischen Originaltextes liegt vor. Siehe Porphyry: On Aristotle’s Categories, 89. 12–27, 78 f. 45 Aristoteles: Kategorien, 249. 46 FONFARA 2003: 17. 47 FONFARA 2003: 19, 35. Diese Sichtweise entspricht ebenfalls der für das Mittelalter bedeutenden Lehrmeinung des Boethius. Siehe Boethius: In Categorias, 184A: Quoniam hic de nominibus tractatus habetur, nomina autem primo illis indita sunt quae principaliter sensibus fuere subjecta, posteriora vero in nominibus ponendis putantur quaecunque ad intelligibilem pertinent incorporalitatem; quare quoniam in hoc opera principaliter de nominibus tractatus est, de individuis vero substantiis quae primae sensibus subjacent prima sunt dicta vocabula in opere quo de vocabulis tractabatur, merito individuae sensibilesque substantiae primae substantiae sunt positae. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 48.
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metaphysische Unsicherheit Platons scheint somit bei Aristoteles gebannt. Der Weg für die mittelalterliche Traditionsbildung war hiermit bereitet, wie Boethius’ Unterscheidung der Substanz in ihre universalen und partikulären Erscheinungen veranschaulicht.48 1.1.2 Die Isagoge des Porphyrios als theoretische Grundlage für die urteilslogische Klärung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs Im dritten nachchristlichen Jahrhundert bemühte sich Porphyrios, als Schüler Plotins, den Dissens zwischen beiden Strömungen zu beheben. Den Kategorien misst er die aussagen – und urteilslogische Wertigkeit zur Strukturierung der durch Wörter und Namen zum Ausdruck gebrachten sichtbaren Welt zu.49 Unter Beibehaltung des aristotelischen Ontologieverständnisses erweitert Porphyrios das Bewertungsspektrum durch die Evaluierung und partielle Neueinführung der schon von Aristoteles erwähnten und mit den zehn Kategorien jeweils korrespondierenden fünf philosophischen Grundbegriffe Gattung, Art, Differenz, Proprium und Akzidenz.50 Er etabliert variable Möglichkeiten zur Unterscheidung jeder einzelnen Kategorie. Die Wesensordnung sinnlich wahrnehmbarer Dinge kann dementsprechend in deren explizite Bestandteile aufgeteilt werden, ohne das aussagenlogische Primat der Kategorie anzugreifen. Die Prädikamente fungieren demnach als jeweilige Seins-Momente.51 Durch ihre formallogische Hierarchie52 ermöglichen sie Rückschlüsse auf das sinnlich Wahrgenommene und erleichtern, beispielsweise durch die Definitionsbildung,53 eine Speicherung des Wissens um die verstandesmäßig erschlossene Welt. Das Verständnis der Substanz, an deren Interpretation sich die platonische von der aristotelischen Lesart unterscheidet, erscheint seit Porphyrios in einem neuen Licht. Den Substanzen erster Ordnung, das sind die nach wie vor unmittelbar bezeichneten Dinge, stellt er nun „Arten des sprachlichen Ausdrucks“54 als zweite Substanzen zur Seite. Die hermeneutische Kraft des Platonismus findet an dieser 48 Boethius: Contra Eutychen, cap. 2, 304: Rursus substantiarum aliae sunt universales, aliae particulares. Universales sunt quae de singulis praedicantur, ut homo, animal, lapis, lignum ceteraque huiusmodi quae vel genera vel species sunt; nam et homo de singulis hominibus et animal de singulis animalibus lapisque ac lignum de singulis lapidibus ac lignis dicuntur. Particularia vero sunt quae de aliis minime praedicantur, ut Cicero, Platon, lapis hic unde haec Achillis statua facta est, lignum hoc unde haec mensa composita est. Frz. Übersetzung siehe ebd.: 305. 49 WÖHLER 1992: 316. 50 Porphyrios: Isagoge, 1. 1–6, 5. 51 Siehe Abb. 6. 52 Siehe auch WÖHLER 1992: 318. 53 Porphyrios: Isagoge, 1. 5–10, 5: et ad definitionum adsignationem, et omnino ad ea quae in divisione vel demonstratione sunt utili hac istarum rerum speculatione. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 3. 54 WÖHLER 1992: 316.
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Stelle eine Versöhnung mit der rationalen Weltsicht des Aristoteles. Für das Mittelalter sollte sich diese Sichtweise durchsetzen.55 Porphyrios entfaltet die Wertigkeit des Substanz-Begriffs anhand des Verhältnisses von Gattung und Art in sehr anschaulicher Weise. Wissenschaftsgeschichtlich sollte sich aufgrund des organologischen Ansatzes seiner Systematik die Bezeichnung arbor porphyriana – Der Baum des Porphyrios – etablieren.56 Die Entwicklung von der Substanz, als oberster Gattung, hin zur untersten Spezies, dem individuellen Menschen ist in Abb. 5 schematisch dargestellt.
Abb. 5: Die Kategorie der Substanz, eingeteilt in die sie ausmachenden Genera und Spezies. Die Darstellung zeigt das von Porpyhrios erläuterte Beispiel, ohne die übrigen im sogenannten „Baum des Porphyrios“ möglichen Abzweigungen abzubilden.
55 Besonders Boethius sollte Porphyrios Isagoge aufgreifen und im Sinne seiner Kommentierungsarbeit weiterdenken. Siehe Boethius’s In Ciceronis Topica, 244–247. 56 Porphyrios: Isagoge, 4. 21–5. 1, 9 f.; dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 6; siehe ebenfalls Boethius: Commentaria in Porphyrium, 103C.
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Die Gattung, als Überbegriff für die den Arten gemeinsamen Bestimmungsmerkmale,57 wird im Fortgang zur an ihr teilhabenden Spezies von der Differenz bestimmt. Porphyrios fasst die Differenz diesbezüglich in drei verschiedenen Interpretationen auf. Seiner Unterscheidung in vom Genus abtrennbare und nichtabtrennbare Differenzen58 sollte sich später auch Boethius, der die Isagoge für das lateinische Mittelalter verfügbar machte, anschließen.59 Die Gruppierung der sogenannten nicht-abtrennbaren Differenzen teilt Porpyrios in an sich existente, d. h. mit dem Wesen verbundene, sowie in akzidentiell Bestehende, und somit mehreren unterschiedlichen Arten inhärente, ein.60 Die Wirkung der Differenz kann somit ein Anderes konstituieren oder aber ein schon bestehendes Wesen in seiner Beschaffenheit ändern.61 Innerhalb der Verschiedenheit hebt Porphyrios besonders das Verständnis von Differenz als artbildender Unterschied62 hervor. In ebendieser Weise prädiziert die Differenz eine Qualitätsänderung sowohl innerhalb der Spezies als auch gegenüber der jeweils übergeordneten Gattung.63 Die nicht-abtrennbare Differenz drückt somit kein Was, und somit eine Wesensbezeichnung, sondern ein Wie und dementsprechend die Modifikation der Beschaffenheit eines Genus aus.64 Die Differenz „beseelt“ oder „unbeseelt“ trennt beispielsweise die Gattung Körper in die Spezies
57 Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 3. 8, 344: Genus est ad species pertinens, quod differentibus specie in eo quod quid sit praedicatur, ut animal. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 345. 58 Porphyrios: Isagoge, 9. 24–25, 16. 59 WÖHLER 1992: 318. Die dialektische Bedeutung des Differenz-Begriffs wird insbesondere in Boethius’ De topicis differentiis sichtbar. Es zeigt sich hier, dass das logische Verständnis der Kategorien sowie ihrer Prädikabilien für die Funktionsweisen mittelalterlicher Topik elementar sind. Siehe z. B. Boethius: De topicis differentiis, 1178B-C; 1186A; 1196C-D. Siehe ebenfalls, allerdings mit einem Schwerpunkt auf die Scholastik, GREEN-PEDERSEN 1984: 118–121. 60 Porphyrios: Isagoge, 9. 14–10. 3, 16: Illae igitur quae per se sunt, in substantiae ratione accipiuntur et faciunt aliud; illae vero quae secundum accidens, nec in substantiae ratione dicuntur nec faciunt aliud, sed alteratum. [. . .] et rursus inseparabilium cum hae quidem sint per se illae vero per accidens, rursus earum quae sunt per se differentiarum aliae quidem sunt secundum quas dividimus genera in species, aliae vero secundum quas haec quae divisa sunt specificantur. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 10. 61 Porphyrios: Isagoge, 8. 18–20, 15. 62 FONFARA 2003: 20. 63 Porphyrios: Isagoge, 3. 5–8, 7 f.: a differentia vero et ab his quae communiter sunt accidentibus differt genus quoniam, etsi de pluribus et differentibus specie praedicantur differentiae et communiter accidentia, sed non in eo quod quid sit praedicantur sed in eo quod quale quid sit interrogantibus nobis enim illud de quo praedicantur haec, non in eo quod quid sit dicimus praedicari sed magis in eo quod quale quid sit. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 5. 64 Porphyrios: Isagoge, 15. 3–4, 23: Amplius genus quidem in eo quod quid est, differentia vero in eo quod quale quiddam est, quemadmodum dictum est, praedicatur. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 14.
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beseelter und unbeseelter Körper.65 Das Verhältnis von Gattung und Spezies, durch die Abgrenzungsfunktion der Differenz konkretisiert, ist es schließlich, die alle drei Prädikamente zu Kernbestandteilen jeder Definition konstituiert66. Fasst man das artbildende Prinzip der Differenz zusammen, wie es in Abb. 5 veranschaulicht wird, so ergeben sich aus den ontologischen Realisierungsstufen der Substanz/Gattung gattungsspezifische Differenzen. Bündelt man im konkreten Fall des Menschen diese variablen Eigenschaften,67 so vergegenständlicht sich dieser als ein beseeltes, sinnliches und vernünftiges Wesen. Seele, sinnliche Wahrnehmung sowie Verstand sind somit die konstitutiven Merkmale der Gattung Mensch. Porphyrios’ Prinzip, verschiedene Seinsmomente einer Gattung durch fünf Prädikamente abzubilden, ist als ein wichtiges theoretisches Werkzeug zum logischen Verständnis des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs aufzufassen. Seine Worte est autem genus quidem ut ‚animal‘, species vero ut ‚homo‘, differentia autem ut ‚rationale‘, proprium ut ‚risibile‘, accidens ut ‚album‘, ‚nigrum‘, ‚sedere‘68 werden in der nächstfolgenden Grafik (Abb. 6) veranschaulicht. Hinsichtlich der verschiedenen Aussagemöglichkeiten der Prädikabilien sind zwei grundlegende Differenzierungen
Abb. 6: Die Grafik veranschaulicht ausschließlich die Aussagemöglichkeiten, die von der Gattung (Genus) ausgehen und in der Isagoge von Porphyrios als Beispiele hervorgehoben werden. Gleichwohl sind entsprechende Beziehungen auch zwischen den übrigen Prädikamenten in analoger Weise bestimmend.
65 Porphyrios: Isagoge, 10. 5–6, 16. Die Aufteilung zwischen beseeltem und unbeseeltem Körper ist nicht in der Abb. 3 dargestellt. Siehe diesbezüglich Boethius’s In Ciceronis Topica, 254. 66 Porphyrios: Isagoge, 9. 3–5, 15. 67 Porphyrios befürwortet ausdrücklich die Addition von Differenzen. Siehe Isagoge, 18. 24–19. 1, 28. Entgegengesetzte Differenzen sind indes nicht kombinierbar. Siehe ebd.: 20. 5, 29. 68 Porphyrios: Isagoge, 2. 21–23, 7; dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 4. Hinsichtlich der Gattung siehe auch Porphyrios: Isagoge, 2. 24, 7.
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von Bedeutung. Porphyrios unterscheidet zwischen Prädikamenten zur Wesensbezeichnung und solchen zur Qualitätsbestimmung. Beide inhaltlichen Grundbestimmungen sind zudem individuell gebunden oder universell übertragbar. Konkret kann der Abbildung entnommen werden, dass die Spezies „Mensch“ der Gattung „Lebewesen“ angehört. Der artbildende Unterschied besteht in der Eigenschaft „vernunftbegabt“. Die Trennung aller Lebewesen gemäß dieser Eigenart konstituiert die Spezies Mensch und scheidet diese von den nicht-vernunftbegabten Arten. Dennoch gehören alle derselben Gattung an. Die Differenz, welche eine Beschaffenheit aussagt, kann des Weiteren auf verschiedene Spezies übertragen werden. So gilt Vernunftbegabung sowohl für Gott als auch für den Menschen.69 Ein mehr oder weniger an Vernunft lässt die Differenz als Aussage jedoch nicht zu.70 Anders verhält es sich mit dem Proprium, das als spezifisches Charakteristikum einer Art anzusehen ist.71 Dabei ist zu bedenken, dass diese natürliche Anlage nicht von jedem Individuum einer Art tatsächlich realisiert wird.72 Demnach ist es eine explizite Besonderheit des Menschen, von Natur aus „zum Lachen fähig“ zu sein. In bekannter Weise lässt sich dieses schöne Wesensmerkmal des Menschen leider nicht generalisieren. Während die Eigenschaften des Proprium auf andere Arten nicht übertragbar sind,73 sind es die Akzidenzen gleichwohl.74 So drückt z. B. die Farbe „schwarz“ eine für viele „Lebewesen“ beobachtbare Eigenschaft aus, welche zudem artspezifisch mehr oder weniger ausgeprägt sein kann75. Eine konzeptionelle Verwandtschaft zwischen den Prädikamenten der Differenz und der Akzidenz begründet sich maßgeblich durch deren Fähigkeit zur Beschreibung von Beschaffenheit. Die Differenz besitzt durch ihr gegebenenfalls vom Zugrundeliegenden nicht-abtrennbares, akzidentell existierendes Wesen eine qualifizierende Eigenschaft, die ebenso der Akzidenz gemeinsam ist.76 Diese bestimmten Merkmale sind somit konkret an ein Subjekt gebunden und prägen in ähnlicher Weise dessen Beschaffenheit, wie es von der Differenz bekannt ist. Porphyrios schreibt dieser im Zugrundeliegenden existierenden Akzidenz eine hohe Spezialisierungsfunktion zu, deren
69 Porphyrios: Isagoge, 19. 10–12, 28: Proprium autem differentiae est quoniam haec quidem de pluribus speciebus dicitur saepe (ut rationale de homine et de deo). Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 18. Ein anderes Beispiel für Differenz wäre fliegend oder nicht fliegend. 70 Porphyrios: Isagoge, 20. 4–5, 29. 71 Porphyrios: Isagoge, 19. 12–13, 29. 72 Porphyrios: Isagoge, 12. 18–20, 20. 73 Porphyrios: Isagoge, 16. 15, 25. 74 Porphyrios: Isagoge, 16. 20–22, 25. 75 Porphyrios: Isagoge, 20. 5, 29. 76 Porphyrios: Isagoge, 19. 16–19, 29: Differentiae autem et accidenti commune quidem est de pluribus dici, commune vero ad ea quae sunt inseparabilia accidentia semper et omnibus adesse; bipes enim semper adest omnibus corvis, et nigrum esse similiter. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 18.
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Wirken sich besonders in den partikulären Individuen selbst zeigt.77 Gleichwohl können diese akzidentiellen Merkmale auch unabhängig, als trennbare Akzidenzen, existieren.78 Das Substanz-Akzidenz-Verhältnis, wie es die Wesensordnung innerhalb der zehn aristotelischen Kategorien bestimmt, kann im Kleinen ebenso auf der Ebene der Prädikamente festgestellt werden. Durch die Fähigkeit zur Steigerung oder Verminderung einer mit dem Subjekt verbundenen oder abgetrennten Eigenschaft ist die Akzidenz befähigt, Relationen auszudrücken. Der Vergleich mit bestehenden, sinnlich wahrgenommenen und somit erkannten Dingen ermöglicht einen bedeutenden Urteilsschluss. Hierdurch wird eine verstandesmäßig erschlossene Veränderung der Lebenswirklichkeit zum Ausdruck gebracht. Der Ausgangspunkt dieser Bewertung bildet ein als Status angenommener Wissensstand, auf den Modifikationen in Form von Ähnlichkeitsgrößen appliziert werden.79 Aristoteles schuf für die Klassifizierung diese Zustandsänderungen neben der Akzidenz in erster Linie die Kategorie der Relativa.80 Für die neuplatonischen Vermittlungsversuche, beispielsweise durch Porphyrios, dürfte sich in diesen Gedanken ein dankbarer Anknüpfungspunkt an das Analogiedenken des Platonismus ergeben haben. Als eine Art der Kategorie der Relativa versteht Aristoteles die Wahrnehmung.81 Sie definiert die sinnliche Aufnahme eines Dinges bzw. Körpers.82 Deren Existenz ist aber gänzlich unabhängig von diesem Akt. Vielmehr ist zu bedenken, dass die Objekte der Wahrnehmung bereits vor dieser Handlung Bestand hatten.83 Aristoteles vermittelt durch dieses Denken einen wichtigen erkenntnistheoretischen Aspekt, den man später auch bei Augustinus wiederfindet.84 Das Wissen und Verstehen um die Dinge ist losgelöst von deren eigentlicher Existenz. Körper und sinnliche Wahrnehmung verdeutlichen somit ein Substanz-Akzidenz-Verhältnis.85 An dieser Stelle soll sich nicht nur der zu Beginn gezogene Kreis schließen. Gleichfalls bietet sich eine Schnittstelle zur spezifischen Weltsicht mittelalterlicher Gelehrter, wenn diese bestrebt waren, das Phänomen Erbeben erklärbar zu machen.
77 Porphyrios: Isagoge, 17. 7, 25. 78 Porphyrios: Isagoge, 12. 26, 20. 79 Aristoteles: Categoriae, 7, 6b34-36, 19. 80 Aristoteles: Categoriae, 7, 6a35-6b10, 58 f. 81 Aristoteles: Categoriae, 7, 6b1-5, 58. Andere Arten dieser Kategorie sind Haltung, Zustand, Wissen, Lage und Größe. Siehe ebd. 82 Aristoteles: Categoriae, 7, 7b35-8a1, 21. 83 Aristoteles: Categoriae, 7, 8a6-12, 21. 84 Hinsichtlich dessen ist die Zeichentheorie des Augustinus angesprochen. Siehe Aurelius Augustinus: Über den Lehrer, 132, Anm. 72. 85 Aristoteles: Categoriae, 7, 7b35-8a5, 21.
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1.1.3 Die Augustinische Zeichenlehre als erkenntnistheoretisches Hilfsmittel für die zeitgenössische Interpretation des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs Mit den Augen des Mittelalters betrachtet, konnte die analog zum Substanz-AkzidenzVerhältnis begriffene Interaktion zwischen Körper und sinnlicher Wahrnehmung ihre Geltung bewahren. Der hinführende und allgemeinbeschreibende Charakter86 der Kategorienschrift bzw. der Isagoge beförderte einen breiten Anwendungsbezug. Das variable Erklärungspotential beider Schriften wurde immer wieder gerne aufgegriffen. Die schrittweise Etablierung des Christentums knüpfte beinahe nahtlos an diese urteilslogische Tradition der Antike an. Gleichzeitig erfolgte eine erkenntnistheoretische Umwertung zu Gunsten einer christologischen Welterklärung.87 Dieser Vorgang war maßgeblich mit dem Wirken der Kirchenväter und -lehrer verbunden und erscheint umso mehr verständlich, da viele dieser Persönlichkeiten ihre klassisch-antike Bildung mit der Glaubenslehre des Christentums zu verbinden suchten. Unter den spätantiken Gelehrten leuchtet in besondere Weise Augustinus hervor. Seine als junger Mann entwickelte Zeichentheorie sollte das erkenntnistheoretische Denken der nachfolgenden Jahrhunderte wesentlich prägen. Für Augustinus ist die sinnliche Wahrnehmung alles Irdischen stets an einen Urteilsschluss gebunden, der sich aus dem Beobachteten ergibt. Diese Erkenntnisfähigkeit bzw. Schlussfolgerung aus dem Sinneseindruck ist für ihn eine Gabe des Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen.88 Augustinus steht damit ganz in antiker Tradition. Seine Zeichenlehre formte in der Folgezeit eine spezifische Weltsicht, die das Vermögen des beseelten Menschen nicht in der sinnlichen Wahrnehmung sah. Vielmehr betont er das menschliche Vermögen zur Beurteilung des Empfundenen.89 Das sinnliche und das verstandesmäßige Erfassen der Welt sind nicht nur als Grundbedingung jedes hermeneutischen Vorgangs zu verstehen. Beide dienen gleichsam als Ausgangspunkt der christlichen Exegese, welche Augustinus später in De doctrina christiana weiter ausführen sollte. In seinem Werk De magistro schreibt er, dass aus der Erkenntnis der Sache erst die Erkenntnis der Wörter resultiere.90 Augustinus leitet damit zu einem Verständnis über, gemäß dem jedes Wort als ein Zeichen, aber nicht jedes
86 Siehe diesbezüglich z. B. den Aristoteles-Kommentar von Porphyrios. In Categorias, 56. 87 GADAMER 2010: 432. 88 Augustinus: De magistro, cap. XII (39.), 196: Namque omnia, quae percipimus, aut sensu corporis aut mente percipimus. Illa sensibilia, haec intellegibilia. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 105. 89 Augustinus: De vera religione, cap. XXIX (53.), 221: Sed quia irrationalia quoque animantia vivere atque sentire nemo ambigit, illud in animo humano praestantissimum est, non quo sentit sensibilia, sed quo iudicat de sensibilibus [. . .] Sed iudicare de corporibus non sentientis tantum vitae, sed etiam ratiocinantnis est. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über die wahre Religion, 89. 90 Augustinus: De magistro, cap. XI (36.), 194: Rebus ergo cognitis verborum quoque cognitio perficitur. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 101.
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Zeichen als ein Wort aufzufassen sei.91 So könne das Wirken von Feuer und Rauch in der Relation von Ursache und Folge als natürliches Zeichen interpretiert werden.92 Gleichwohl könnten Töne, Schriftzeichen, Feuer, Rauch und Wolken, wie Augustinus an anderer Stelle schreibt, als verba visibilia Gottes verstanden werden.93 In dieser zweifellos theologisch-dogmatisch zu verstehenden Aussage, die auf die göttlich-menschliche Kommunikation mittels äußerer Zeichen im Sinne einer alttestamentlichen Tradition abzielt,94 ist gleichwohl ein epistemologisches Problem verborgen. Für die weitere Untersuchung ist es von Augustinus’ primär theologischer Intention zu trennen. In den Worten des nordafrikanischen Kirchenvaters scheinen zwei grundsätzliche Momente des Erkenntnisakts durch. Ein wesentliches Merkmal liegt in der von Augustinus formulierten Bezeichnungsfunktion des Zeichens.95 Demnach wirken sich der menschliche Erfahrungshorizont sowie die von einer Beobachtung ausgehende Vergleichbarkeit eines Sachverhalts determinierend auf die Interpretation des expliziten Signums aus.96 Die Episteme, sprich das Wissen um die Dinge, fungiert erkenntnisleitend. Ohne sie würde eine hinreichend konkrete Benennung des
91 Augustinus: De magistro, cap. IV (9.), 168: Ita omne verbum signum, non autem omno signum verbum est. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 35. 92 Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. I (2.), 32 f. 93 Augustinus: De vera religione, cap. L (98.), 250: Rationali creatura serviente legibus suis per sonos ac litteras, ignem, fumum, nubem, columnam, quasi quaedam verba visibilia, cum infantia nostra parabolis ac similitudinibus quodam modo ludere et interiores oculos nostros luto huiusce modi curare non aspernata est ineffabilis misericordia dei. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über die wahre Religion, 165. 94 Augustinus: De magistro, cap. XIV (46.), 202: Quid sit autem in caelis, docebit ipse, a quo etiam per homines signis admonemur foris, ut ad eum intro conversi erudiamur. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 119. 95 Augustinus: De magistro, cap. VIII (23.), 183: Nam quae loquimur, ea significamus, non autem res, quae significatur, sed signum, quo significatur, loquentis ore procedit, nisi cum ipsa signa significantur. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 73. Siehe weiterhin in De magistro: cap. IV (8.), 165 f.; cap. IV (9.), 167 sowie Augustinus: De doctrina christiana, I, cap. II (2.), 7. Hinsichtlich einer aussagenlogischen Interpretation sei diesbezüglich auf die volkssprachliche Bearbeitung, der von Boethius übersetzten Aristoteles-Schrift De interpretatione (bzw. Peri hermenaias), durch Notker III. von St. Gallen im 11. Jahrhundert verwiesen. Dieser führt aus: Et oratio. Únde uuáz óuh tés genus sî. i. oratio. Sunt ergo ea quę sunt in voce. i. ipse voces. earum quę sunt in anima passionum. i. conceptionum notę. et ea quę scribuntur. i. litterę. eorum quę sunt in voce. i. vocum. Ferním ze êrist. táz tíu genámden séhsíu. voces sínt. Samo so er cháde. Nomen. Verbum. Negatio. Affirmatio. Enuntiatio. Oratio. sínt óffenúnga. únde zéichen dero gedáncho. únde áber íro zéichen sínt litere. Tíe sélben gedáncha. tûont tero sêlo ételîcha dólúnga. sô sie conceptę uuérdent in anima. Pe díu héizet er sie passiones animę. Siehe Notker der Deutsche: De Interpretatione, 3, 5 ebenso BRINKMANN 1975: 26 sowie BRINKMANN 1980: 25. 96 Augustinus: De trinitate, XI, cap. VIII (13.), 350: Visiones tamen illae cogitantium ex his quidem rebus quae sunt in memoria, sed tamen innumerabiliter atque omnino infinite multiplicantur atque variantur. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: On the Holy Trinity, 152.
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Wahrgenommenen im ungünstigsten Fall scheitern.97 Das Zeichen steht somit nur sinngemäß für einen Sachverhalt. Es verweist nur, ohne mit den Dingen selbst identisch zu sein. Diese Vermittlungsfunktion, durch die eine andere Tatsache erkenntlich wird,98 wie bereits Quintilian für die rhetorische Bedeutung des Zeichens innerhalb der antiken Gerichtsrede ausführt, unterstreicht das Auslegungspotential dieser Lesart. Dem vormaligen Rhetoriklehrer Augustinus99 dürfte das sprachliche Gewicht des Zeichens sehr wohl bekannt gewesen sein. Dieses Verständnis sollte sich schließlich als Grundbedingung seiner christlichen Hermeneutik formieren. Insbesondere das ein jeder Begriffssetzung zugrundeliegende Abstraktionspotential von Sprache, welches auf den Wahrnehmungs- und Verständnishergang nur nachgeordnet reagiert,100 erkannte Augustinus früh. Als zweites Moment des Erkenntnisakts macht Augustinus die Gefahr der Täuschung der sinnlichen Wahrnehmung aus, die im Wesentlichen in der Ähnlichkeit – als Vergleichsgröße der Bezeichnung – angelegt ist.101 In anschaulichen Worten legt Augustinus in seinem Werk Soliloquia dar, was ebenso für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit hilfreich ist. Sed ipsum, quod anima patitur, aut in sensu patitur, ut turris motum, qui nullus est, aut apud seipsam ex eo quod accepit a sensibus.102 Später sollte Alanus ab Insulis diesen in der Wissenschaftstheorie als epistemologische Unsicherheit bekannten Vorgang poetisch der Scholastik vermitteln: „Das Abbild des Wahren [. . .] machet die Schatten der Dinge selber zu Dingen, die Täuschung des Bildes in Wahrheit verwandelnd“.103 In diesem Zusammenhang sei an die Ausführungen zum antik-römischen Erdbebenbegriff erinnert, wonach besonders die similitudo als Motor für eine vielfältige Sprachtradition nachgewiesen werden konnte.104
97 Augustinus: De magistro, cap. II (3.), 160: Sed quando non habemus quid significemus, omnino stulte verbum aliquod promimus. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 15. 98 Quintilianus: Institutio oratoria, V, 9. 9: signum vocatur [. . .] per quod alia res intellegitur, ut per sanguinem caedes. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, I, 545. 99 Zur Herkunft Augustins als Rhetoriklehrer siehe GRÖZINGER 2009: 1799. 100 Augustinus: De magistro, cap. X (33.), 192: Quod priusquam repperissem, tantum mihi sonus erat hoc verbum; signum vero esse didici, quando cuius rei signum esset inveni, quam quidem ut dixi non significatu, sed aspectu didiceram. Ita magis signum re cognita quam signo dato ipsa res discitur. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 95, 97. 101 Augustinus: Soliloquia, II, cap. III (3.), 50: Non igitur est in rebus falsitas, sed in sensu. Ebd.: II, cap. VI (10.), 58: Similitudo igitur rerum, quae ad oculos pertinet, mater est falsitatis. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Selbstgespräche und Unsterblichkeit, 81, 95. 102 Augustinus: Soliloquia, II, cap. VI (11.), 59; dt. Übersetzung siehe Augustinus: Selbstgespräche und Unsterblichkeit, 95. 103 Alanus ab Insulis: Anticlaudian, I, IV, 111; Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, I, 60: picturaque simia veri, / Arte nova ludens, in res umbracula rerum / Vertit et in verum mendacia singula mutat. 104 Siehe Kapitel II. 1. 1; ebenso mit Blick auf die schulrhetorische Theoriebildung LAUSBERG 1990: 419–421.
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Im Mittelalter galt die Auffassung, dass die Sinnesorgane ausschließlich einen Eindruck des Wahrgenommenen erzeugen. Erst im Kontext bisheriger Erfahrung und Erinnerung105 sowie einer in Gott begründeten Vernunft106 wird es möglich, eine Interpretation des Sinnlichen zu vollziehen. Das Primat des Glaubens als erkenntnistheoretische Maxime war im augustinischen Denken stets mächtig.107 Dementsprechend schreibt der Kirchenvater in seiner apologetischen Frühschrift De vera religione: „Was [. . .] zweifelhaft ist, das glaube so lange, bis Vernunft lehrt oder Autorität vorschreibt, dass es entweder zu verwerfen oder als wahr zu erkennen oder allzeit zu glauben sei“.108 Jahre später wird Augustinus in seinem hermeneutischen Hauptwerk De doctrina christiana auf ebendiesen Dualismus von körperlicher Sinneswahrnehmung und geistiger Vernunft erneut hinweisen.109 Dieser Aspekt der tieferen Auslegung der physischen Welt, welcher stets als Fundament einer dialektisch höheren Sinnstufe zu gelten hat, ist unserem heutigen Wissenschaftsverständnis sowie alltäglichen Lebensweise gänzlich fremd. Für das Mittelalter bildet er indes den Einstieg in eine geschichtstheologisch fundierte Interpretation und eine spekulative Erlösungsvorstellung. Der ontologische Aufstieg der Vernunft vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Zeitlichen zum Ewigen, bestimmte das Denken.110 Mit ihm ging eine ganz spezifische Naturwahrnehmung einher, welche Veränderungen der fassbaren Wirklichkeit differenzierter aufnahm, als es in säkularisierten Gesellschaften Gewohnheit ist. Zur praktischen Veranschaulichung dieser Weltvorstellung eignet sich das exegetische Werk des Augustinus in besonderer Weise. Die beispielhaften, aus der Ähnlichkeit des unmittelbar vorhandenen Alltags geborenen Darstellungen sind die Inspirationsquelle der augustinischen Hermeneutik. Prinzipiell zeigt sich, dass die Akzeptanz einer phänomenologisch strukturierten Welt die erkenntnistheoretische Einstiegsvoraussetzung jeder christlichen Exegese darstellt. Inwieweit trifft diese Annahme nun auch auf das Verständnis von Erdbeben zu?
105 Hierauf verweist z. B. auch Hugo von St. Viktor. Siehe Didascalicon, I, cap. 3, 120. 106 Augustinus: De vera religione, cap. XXIV (45.), 215: Auctoritas fidem flagitat et rationi praeparat hominem. Ratio ad intellectum cognitionemque perducit, quamquam neque auctoritatem ratio penitus deserit, cum consideratur cui credendum sit. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über die wahre Religion, 73. 107 FEINER, LÖHRER 1965: 819. 108 Augustinus: Über die wahre Religion, X. 20, 34, 36; Augustinus: De vera religione, cap. X (20.), 200: Quae dubia crede, donec aut respuenda esse aut vera esse aut semper credenda esse vel ratio doceat vel praecipiat auctoritas. Ähnlich ebd.: cap. VIII (14.), 197. 109 Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. XXVII (41.), 82. Die Unterscheidung von äußerem Faktum und innerer Bedeutung ist für das augustinische Denken essentiell. Siehe z. B. Augustinus: De genesi ad litteram, XI, cap. XXXIX, (52.), 316. 110 Augustinus: De vera religione, cap. XXIX (52.), 221: Videamus, quatenus ratio possit progredi a visibilibus ad invisibilia et a temporalibus ad aeterna conscendens. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über die wahre Religion, 87.
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Augustinus stellt zahlreiche Beispiele bereit, die eine derartige Belegführung erlauben würden. Aufgrund einer variantenreichen Darstellung, die bestimmte Aspekte des alttestamentlichen Erdbebenbegriffs herausstellt, sollen seine Enarrationes in Psalmos nun im Fokus stehen. Betrachten wir Augustinus’ Kommentierung von Psalm 45.111 Aus zweierlei Gründen erscheint dieser Text besonders geeignet zu sein. Im Psalter des Alten Testament betonen die für uns besonders interessanten Psalmen 45, 3 und 45, 7 die schützende und richtende Gewalt Gottes. Die Botschaft lautet hier: So wie der Glaube an Gott keine Angst vor dem Chaos der Welt befürchten lässt, so straft dieser umgehend all jene, die nicht seine Worte erhören wollen. Die Erschütterung der Erde dient in beiden Versen als Beispiel, wenn auch mit unterschiedlicher Auslegung in Ursache und Wirkung. Das besagte Schwanken der Erde, das Erschüttern der Berge und das Tosen der Meere,112 welche im Psalmenwort ihren Ursprung in einer analogen Übertragung der Kenntnis realer seismischer Ereignisse haben, werden allerdings nicht mit dem mittelalterlichen Terminus terrae motus benannt.113 Augustinus hat diesen Schritt im Rahmen seiner Auslegung indes vollzogen und somit die explizite Bezeichnungsfunktion von Erdbeben herausgestellt. Augustinus formuliert in Bezug auf den dritten Vers die Frage: Quid iam sequitur ex eo quod translati sunt montes in cor maris?114 Schon an diesem kurzen Satz offenbart sich die Tiefe der christlich-mittelalterlichen Weltsicht. Stetiges und Unstetiges, Land und Meer stehen sich gegenüber.115 Die in die Fluten des unruhigen
111 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV, 517–529. 112 Die von Augustinus in den Enarrationes zitierten Bibelverse weichen in ihrem Wortlaut z. T. deutlich von der Psalter-Übersetzung des Hieronymus ab. Dieser Sachverhalt ist der parallelen Existenz zahlreicher lateinischer Übersetzungen der biblischen Schriften geschuldet, die besonders während der Spätantike im Umlauf waren. Hieronymus’ lateinische Übersetzung gründet auf dem hebräischen Urtext des Psalters. Die Auswahl dieser Vorlage wurde von Augustinus nicht geteilt, da er sich als Grundlage für die lateinische Neuübersetzung des Alten Testaments den griechischen Wortlaut der Septuaginta wünschte. Siehe FÜRST 2011: 359, 370 f., 373 f., 376. Der vorliegende Vers bestätigt, dass Augustinus in seiner Kommentierung einen Bibeltext verwendete, der auf der Septuaginta beruht. Siehe die in die Vulgata aufgenommene frühmittelalterliche lateinische Psalter-Übersetzung auf Grundlage der Septuaginta (sog. Psalter Gallicanum) Ps 45, 4: sonaverunt et turbatae sunt aquae eorum conturbati sunt montes in fortitudine eius. Vgl. hierzu die Übersetzung des Hieronymus auf Basis des hebräischen Urtexts Ps 45, 4: sonantibus et intumescentibus gurgitibus eius et agitatis montibus in potentia eius. 113 Auf die Ursachen wird im Kapitel IV. 2 eingegangen. 114 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 7, 522. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 157. 115 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 6, 521: Mare autem significat hoc saeculum, in cuius maris comparatione tamquam terra videbatur gens Iudaeorum. Non enim idololatriae amaritudine tegebatur, sed erat tamquam arida amaritudine gentium tamquam mari circumdata. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 156 f. Selbstverständlich ist in diesen
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Ozeans versetzten Berge verkörpern für Augustinus Christus und die Apostel,116 welche sich gegenüber dem feindlichen Ansturm einer heidnischen Welt erwehren müssen. Nur der Glaube ermöglicht eine vertrauenswürdige Standfestigkeit innerhalb dieser Umwelt. Er bildet ein sicheres Fundament, das den Erschütterungen der Berge oder den durch ein schweres Erdbeben verursachten Meereswellen standhalten kann. Es dürfte zweifellos eine apologetische Motivation seitens Augustinus vorgelegen haben, als er diese Zeilen schrieb. Tunc dederunt voces contra christianos, quando turbati sunt montes sonantibus fluctibus; et montes sunt turbati, et factus est magnus terrae motus cum motu aquae. Sed cui haec? Civitati ille fundatae super petram.117
Die Unruhen der Zeiten, auf welche die Erschütterung der Berge sowie der ausgelöste Tsunami verweisen, können einen auf dem „Fels“ Christus118 gegründeten Glauben nicht erschüttern. Die Zeichenfunktion von Erdbeben soll also in diesem Kontext auf das schützende Wirken des in der Mitte der civitatis Dei unverrückbar ruhenden Herrn hindeuten.119 Auf diese Weise sollen trotz der Erschütterung Halt und Zuvertrauen gewonnen und eine Prüfung für den eigenen Glauben ermöglicht werden. Angesichts der anagogischen Lesart dieses Verses ist es stets ein zu berücksichtigender Aspekt, dass ein gläubiger Christ gewappnet sein soll, wenn „der Morgen anbricht“.120 In Ps. 45, 3 kann somit eine Handlungsanweisung zur Bewältigung von real eintretenden Naturkatastrophen erkannt werden, die aus einer christlichen Vorstellung über das Phänomen Erdbeben und seiner Einordnung in das Weltganze erwachsen ist. Ps. 45, 7 veranschaulicht hingegen die Folgen für all jene, die nicht zum rechten
Zeilen stets der prophetische Gehalt des Alten Testaments mit zu lesen. Siehe ebenfalls die allegorische Beschreibung bei Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, VII, 169: Est rupes maris in medio, quam uerberat equor / Assidue, cum qua corrixans litigat unda, / Que uariis agitata modis percussaque motu / Continuo, nunc tota latens sepelitur in undis, / Nunc, exuta mari, superas expirat in auras. Dt. Übersetzung siehe Alanus ab Insulis: Anticlaudian: 221. 116 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 6, 521: Forte monti huic de seipso dixit; dictus est enim mons: Erit in novissimis temporibus manifestus mons Domini. Sed iste mons super alios montes collocatus est; quia et apostoli montes, portantes montem hunc. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 156. 117 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 7, 522. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 157. 118 I Kor 10, 4: petra autem erat Christus. 119 Ps 45, 6 (Psalter Gallicanum): Deus in medio eius non commovebitur; Ps 45, 6 (iuxta hebr.): Dominus in medio eius non commovebitur; Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 9, 524: Deus in medio eius et non commovebitur. Unde non commovebitur? Quia in medio eius Deus. Adiuvabit eam Deus vultu suo. Ille est adiutor in tribulationibus, quae invenerunt nos nimis. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 158. 120 Ps 45, 6 (Psalter Gallicanum): adiuvabit eam Deus mane diluculo; Ps 45, 6 (iuxta hebr.): auxiliabitur ei Deus in ipso ortu matutino.
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Glauben gefunden haben. Augustinus betont in der Auslegung des Verses conturbatae sunt gentes inclinata sunt regna dedit vocem suam mota est terra121 eine zweite Zeichenfunktion von Erdbeben. Mit den Worten dedit vocem suam Altissimus, et mota est terra122 legt er diesen Psalmentext als strafende Theophanie gegen alle Ungläubigen und Götzenanbeter123 aus. Die Königreiche der Heiden geraten in Erschütterung und sind entweder dem Untergang preisgegeben124 oder aber sie konvertieren durch das friedensschaffende Wirken Gottes.125 Die durch ein Erdbeben angezeigte Theophanie kann also auch als Bekehrungsmotiv verstanden werden, wie es Augustinus an anderer Stelle direkt anspricht. In seinen Sermones berichtet er von zwei Erdbeben in Palästina und Nordafrika,126 die eine beachtliche Bekenntniswelle zum Christentum in Gestalt tausender Taufen bewirkte.127
121 Ps 45, 7 (Psalter Gallicanum). Es ist erneut darauf hinzuweisen, dass die lateinischen Fassungen der Vulgata auch an dieser Stelle in der Wortwahl erheblich voneinander abweichen. Ps 45, 6 (iuxta hebr.): conturbatae sunt gentes concussa sunt regna dedit vocem suam prostata est terra. Die Nova Vulgata berichtet gar (Ps 46 (45), 7): Fremuerunt gentes, commota sunt regna; dedit vocem suam, liquefacta est terra. 122 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 10, 524; engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 158. 123 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 10, 524: Conturbatae sunt gentes. [. . .] Arreptitii idolorum tamquam ranae de paludibus personabant, tanto tumultuosius, quanto sordidius de luto et caeno. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 158. 124 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 10, 524: Et inclinata sunt regna. Inclinata, inquit, sunt regna, iam non erecta, ut saevirent; sed inclinata, ut adorarent. Quando inclinata sunt regna? Quando factum est quod praedictum est in alio psalmo: Adorabunt eum omnes reges terrae, omnes gentes servient ei. Quae res fecit ut inclinarentur regna? Quae res, audi: Dedit vocem suam altissimus, et mota est terra. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 158. 125 Ps 45, 10; Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 15, 528: Facta sunt miracula in gentibus, impletur fides gentium, ardent arma praesumptionis humanae. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 160. 126 Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Bewertung dieser beiden vermutlich im Jahr 419 ereigneten Erdbeben, auf die hier nicht eingegangen werden soll, siehe GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994, 287 f. 127 Augustinus: Sermones, XIX. 6, 258: Terrae motus magni de orientalibus nuntiantur. Nonnullae magnae repentinis conlapsae sunt civitates. Territi apud Hierosolimam qui inerant iudaei, pagani, catechumini, omnes sunt baptizati. Dicuntur fortasse baptizati septem millia hominum. Signum Christi in vestibus iudaeorum baptizatorum apparuit. Relatu fratrum fidelium constantissimo ista nuntiantur. Sitifensis etiam civitas gravissimo terrae motu concussa est, ut omnes forte quinque diebus in agris manerent, et ibi baptizata dicuntur fere duo millia hominum. Dt. Übersetzung: „Es werden uns schwere Erdbeben im Osten mitgeteilt. Einige große Städte sind unvermutet zusammengefallen. Erschrocken sind alle Juden, Heiden und Glaubensschüler, die sich in Jerusalem befanden, getauft worden. Es wird gesagt, dass ungefähr siebentausend Menschen getauft worden. Das Zeichen Christi hat sich auf der Kleidung der getauften Juden gezeigt. Dieses wird im Bericht gläubiger Brüder übereinstimmend gemeldet. Die Stadt Setif ist durch ein Erdbeben sogar so stark erschüttert worden, dass alle tapfer fünf Tage auf freiem Feld verharrten und dort, wie gesagt wird, etwa zweitausend Menschen getauft worden.“
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Sowohl die theologisch-dogmatische Inszenierung von Erdbeben in Psalm 45 als auch ihre Auslegung in den Enarrationes belegen, dass die augustinische Zeichentheorie zur Interpretation von Erdbeben hilfreich ist. Wie eingangs erörtert, stellt die analoge Übertragung der weithin bekannten Begleiterscheinungen eines Erdbebens, wie das empfundene Schwanken und Wanken, ein literarisch phantasievolles Potential dar, um das zeichenhafte Wirken Gottes in einem exegetischen Kontext zu erklären. Im Umkehrschluss dürfte anzunehmen sein, dass eine derart erkenntnistheoretisch geformte Weltsicht auch das Verständnis über reale Erdbeben geprägt hat. 1.1.4 Das mittelalterliche Seelenverständnis als urteilslogischer Akteur Das Anliegen des Augustinus und weiterer Zeitgenossen führte zu einem nachhaltig in christlicher Diktion bestimmten Prozess des Erkennens und Verstehens. Seinen konzeptionellen Entfaltungsraum fand dieser Vorgang maßgeblich in der universal gedachten, neuplatonisch gefärbten Idee der „Seele“.128 Der im Neuplatonismus als kosmische Kategorie verstandene Seelenbegriff, der in seinem ontologischen Wesen auch als Überbegriff für den Akt des Wahrnehmens sowie für das Vorstellungsvermögen begriffen wurde,129 fand im Denken des Frühmittelalters eine Fortsetzung. Augustinus führt in den Retractationes die Seele als Bezeichnung für die ganze unkörperliche Kreatur aus130 und schließt hierbei das im Wortsinn verstandene „Belebende“ mit ein.131 Das Mittelalter leitete aus dieser Überzeugung eine eigene anthropologische Sichtweise ab, indem sie den Menschen als ein in einen äußeren und einen inneren Teil getrenntes, aber an und für sich einheitliches Wesen begreift.132 Die Interaktion von körperlicher Wahrnehmung und geistiger Vernunft führt schließlich zum Urteilsschluss. Generalisierend gesprochen vollzieht sich somit der Prozess mittelalterlicher Weltdeutung, indem eine Verifizierung erlebter Sinneseindrücke auf Grundlage eines autoritätsbasierten Erfahrungswissens erfolgt.133 Der Übertritt vom reinen Wahrnehmen
128 Siehe KERSTING 2005: 59, 61, 63–70. 129 Boethius: Isagogen Porphyrii commentorum. Editio prima, I, cap. 10, 25; auch MOOS 1991: 742. 130 Augustinus: Retractationum, I, cap. XIII (2.), 36. 131 Augustinus: Retractationum, I, cap. XIII (2.), 36. 132 Isidor: Etymologiae, XI, cap. I, 6: Duplex est autem homo: interior et exterior. Interior homo anima, [et] exterior homo corpus. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 416. Im Mittelalter sind gleichfalls die Begriffspaare himmlischer – irdischer Mensch oder Seele und Leib synonym gültig. Allen wohnt eine Aufforderung zur imitatio Christi inne. Siehe ANGENENDT 2003: 27–30. 133 Hrabanus Maurus erläutert, in der hermeneutischen Tradition zu Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. XXVII (41.), 62 stehend, diesen Prozess folgendermaßen. Sed illa, quae ad sensum corporis adtinguntur, vel narrata credimus vel demonstrata sentimus vel experta conicimus. Siehe Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 17, 520. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 521.
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zum Erkennen und somit Verstehen des Erfassten ist auch für das Mittelalter ein intellektueller Akt.134 Gleichzeitig beschreibt dieser Vorgang die dualistische Idee von Körper und Geist. Bedas Gedanken zur Seele erscheinen im Kontext seiner Schrift De elementis philosophiae nur konsequent, wenn er schreibt: Huius autem diversae sunt potentiae; intelligentia, ratio, memoria. Et est intelligentia vis animae qua percipit homo corporalia cum certa ratione, quare ita sit; ratio vero est quaedam vis animae, qua percipit homo quid sit res, et in quo conveniat cum aliis, et in quo differat; memoria vero est vis, qua firme retinet homo ante cognita.135
Das Wahrnehmen, man könnte auch vom Empfinden sprechen, kennzeichnet Beda als Seelenfunktion. Er steht mit dieser Ansicht keineswegs alleine. Auch Isidor von Sevilla und Alkuin sind im Frühmittelalter in dieser neuplatonischen Tradition zu sehen. Beide fassen den Begriff in seiner konzeptionellen Breite sogar weiter. Die Seele wird nicht nur als Ort des Lebens im Körper begriffen. Sie steht gleichsam für menschliche Überlegung, Empfindung, Denkkraft, Einsicht, Unterscheidung und Willensentscheidung,136 also für den gesamten epistemologischen Vorgang. Besonders Alkuin beschreibt anschaulich diese in der Seele zusammengefassten Mittel zur urteilslogischen Entschlussfindung. Das Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung und Erinnerung schafft gemäß seiner Überzeugung eine individuelle Imagination. Alkuin liefert ein erstaunlich zeitloses Erklärungsmodell für die Vorstellung selbst unbekannter oder zumindest unerfahrener
134 Augustinus: De magistro, cap. XII (39.), 196: Namque omnia, quae percipimus, aut sensu corporis aut mente percipimus. Illa sensibilia, haec intellegibilia sive. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 105. 135 Beda Venerabilis: Elementorum philosophiae, 1177A-B. Dt. Übersetzung: „Diese Möglichkeiten sind jedoch verschieden: Erkenntnis, Vernunft, Erinnerung. Und die Erkenntnis ist die Kraft der Seele, mit der der Mensch mit sicherer Vernunft Körperliches versteht, warum es auf diese Weise ist. Die Vernunft ist wahrhaft eine Kraft der Seele, mit der der Mensch begreift, weshalb eine Sache besteht und wie sie mit anderen zusammenpasst und worin sie sich unterscheidet. Die Erinnerung ist wahrhaft eine Kraft der Seele, mit der der Mensch das zuvor Wahrgenommene zuverlässig behält.“ 136 Alkuin: De ratione animae, cap. VI, 55–56: Atque secundum officium operis sui variis nuncupatur nominibus: anima est dum vivificat, dum contemplatur spiritus est, dum sentit sensus est, dum sapit animus est, dum intellegit mens est, dum discernit ratio est, dum consentit voluntas est, dum recordatur memoria est. Non tamen haec ita dividentur in substantia sicut in nominibus quia haec omnia una est anima. Die Edition von Curry weist gegenüber der Migne-Ausgabe (PL 101, 639– 647B) eine abweichende Kapiteleinteilung auf. Dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 161. Siehe ebenso Isidor: Etymologiae, XI, cap. I, 13: Nam et memoria mens est, unde et inmemores amentes. Dum ergo vivificat corpus, anima est: dum vult, animus est: dum scit, mens est: dum recolit, memoria est: dum rectum iudicat, ratio est: dum spirat, spiritus est: dum aliquid sentit, sensus est. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 417.
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Dinge.137 Die Verfügbarkeit unterschiedlich angelegten Erfahrungswissens ermöglicht, dass sich jeder Mensch ein Bild von der Stadt Rom machen könne, selbst wenn er dieser Stadt nie ein Besuch abgestattet hat. Das im Sinne Hans-Georg GADAMERS durch die Empirie determinierte Vorverständnis,138 welches gleichbedeutend mit dem „Verstehen leitenden Vor-Urteil“139 ist, ermöglicht als hermeneutische Voraussetzung – konsequent zu Ende gedacht – erst die historiographische Verarbeitung seismologischer Ereignisse durch Schreiber, welche selbst nie Zeuge eines Erdbebens geworden sind. Auf die Gefahr der Täuschung und eines falschen Urteilsschlusses, die sich aus einem solchen Vorstellungs- und Erkenntnisvorgang ergibt, hat bekanntlich schon Augustinus hingewiesen.140 Der individuelle (Vor-)Urteilsschluss und in Folge die Erkenntnis selbst resultieren demnach aus Ähnlichkeitsgrößen.141 Die bestrebte induktive Herleitung etwas weniger Bekanntes aus Bekanntem zu erklären, wie Isidor schreibt,142 entspricht nicht nur dem neuplatonisch geprägten Analogiedenken des Mittelalters. Zugleich verbirgt sich hier die christlich-mittelalterliche Erklärungsweise, die wahrgenommene Realität der sichtbaren Welt auf das Werk Gottes und somit seine Schöpfung zu beziehen. Diese als Seelenfunktion verstandene „Modellierung“ der Wirklichkeit als eine Annäherung an die göttliche Idee143 prägt, wenn auch zunächst theoretisch konzipiert, ebenso den mittelalterlichen Erdbebenbegriff terrae motus.
137 Alkuin: De ratione animae, cap. IV, 48 f.: Nunc autem consideremus miram velocitatem animae in formandis rebus; quae percipit per carnales sensus a quibus quasi per quosdam nuntios quicquid rerum sensibilium cognitarum vel incognitarum percipit. Mox in seipsa earum ineffabili celeritate format figuras informatasque in suae thesauro memoriae recondit. Sicut enim qui Romam vidit; Romam enim fingit in animo suo et format qualis sit. Et dum nomen audierit vel rememorat Romae statim recurrit animus illius ad memoriam ubi conditam habet formam illius et ibi recognoscit eam ubi recondidit illam. Et adhuc mirabilius est quod incognitarum rerum si lectae vel auditae erunt in auribus animae statim format figuram ignotae rei. Dt. Übersetzung siehe: Alkuins pädagogische Schriften, 155 f. 138 Zur terminologischen Einführung des hermeneutischen Begriffs des Vorverständnisses siehe BULTMANN 1952: 231; GADAMER 2010: 272 f. 139 GADAMER 2010: 304. GADAMER widersetzt sich der negativen Deutung des Vorurteils, wie es seit der Aufklärung praktiziert wird. Das „Vor-Urteil“ ist in seinem Sinne das Urteil vor der eigentlichen Prüfung, weshalb es von sich aus weder falsch noch richtig sein kann. Das Vorurteil/Vorverständnis baut auf bestehende Wissens- und Erfahrungsstände auf und ist der Ausganspunkt im hermeneutischen Prozess. Siehe GADAMER 2010: 275, 284, 300 f., 304. 140 Vgl. Augustinus: De vera religione, cap. XXXIV (64.), 228; Augustinus: De trinitate, XI, cap. VIII (13.), 349 f. Siehe ebenfalls das vorangehende Kap. III. 1. 1. 3. 141 Im Rahmen der Rhetorik-Theorie siehe unter anderem LAUSBERG 1990: 420 f. 142 Bezogen auf die Ähnlichkeit schreibt Isidor Isidor: Etymologiae, I, cap. XXXVII, 31: Homoeosis est, quae Latine interpretatur similitudo, per quam minus notae rei per similitudinem eius, quae magis nota est, panditur demonstratio. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 74. Ebenso Alkuin: De ratione animae, cap. IV, 49; Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 30, 540. 143 Siehe hierzu Hugo von St. Viktor: Didascalicon, Appendix C, 412.
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In der Frühscholastik wird die Idee von der epistemologischen Leitfunktion der Seele unter anderem von Anselm von Canterbury weiter gedacht. In seinem für die mittelalterliche Philosophie wichtigen Werk Proslogion, einem dialektisch konzipierten Gottesbeweis, argumentiert er, dass der Vorgang des Empfindens mit dem des Erkennens gleichbedeutend sei. Sed si sentire non nisi cognoscere aut non nisi ad cognoscendum est.144 Wenn Anselm schreibt, die Sinne hätten mit Körpern zu tun und seien im Körper,145 steht er durch seine Anleihe bei den aristotelischen Kategorien146 in der Tradition antiken Denkens. An seinen Worten wird der für diese Untersuchung entscheidende Wesenskern deutlich. Wie können gemäß mittelalterlicher Vorstellung Veränderungen der sichtbaren Wirklichkeit fassbar, das heißt begreifbar gemacht werden? Es gilt sich also, mit den Worten Hugo von St. Viktors, auf ein Merkmal innerhalb des ganzheitlichen Seelenbegriffs zu konzentrieren. Wir haben zu fragen, wie Sinneswahrnehmungen,147 das heißt die von der „Seele“ im Körper aufgenommenen äußeren Eindrücke,148 im Mittelalter verstanden wurden. Das Erfassen der res,149 sprich der durch Sinneseindrücke wahrgenommenen sichtbaren Formen tatsächlicher Dinge,150 war im Mittelalter eine hermeneutische Grundbedingung, wie bereits die augustinische Zeichenlehre gezeigt hat. Der universale Anwendungsbezug, der in der von Porphyrios eingeleiteten Kategorisierung der sinnlichen Welt verborgen liegt, ist aus anthropologischer Sicht ein notwendiger Vorgang. Die logische Konstitution der Seele als Ort des Denkens bedingt, dass auch der Mensch nur als logisch denkendes Wesen verstanden werden kann.151 Sein Bestreben zu begreifen, „was [. . .] ist, und wie groß, wie beschaffen und auf welche Weise sich eine Sache verhält und [. . .] aus welchem Grunde,
144 Anselm von Canterbury: Proslogion, cap. 6, 28, 30: Sed si sentire non nisi cognoscere aut non nisi ad cognoscendum est – qui enim sentit cognoscit secundum sensuum proprietatem, ut per visum colores [. . .], non inconvenienter dicitur aliquo modo sentire, quidquid aliquo modo cognoscit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 29, 31. 145 Auf den von Anselm in diesem Kapitel intendierten Beweis, Gott könne, obgleich körperlos, bedingt durch seine allmächtige Existenz und Erkenntniskraft, umfassend empfinden, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 146 Aristoteles: Categoriae, 7, 8a1, 21: Sensus enim circa corpus et in corpore sunt. Dt. Übersetzung siehe Aristoteles: Kategorien, 22. 147 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, I, cap. 3, 118. 148 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, II, cap. 6, 170: Sensus est passio animae in corpore ex qualitatibus extra accidentibus. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 171. 149 Auf den analogen Charakter des Symbols bzw. Zeichens verweist auch BRINKMANN 1975: 37. 150 Hugo von. St. Victor: Didascalicon, I, cap. 1, 112: quia et invisibiles per intelligentiam rerum causas comprehendit, et visibiles actualium formas per sensuum passiones colligit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 113. 151 Augustinus: De immortalitate animae, cap. I (1.), 101: Si nos sumus qui ratiocinamur, id est animus noster, nec recte ratiocinari sine disciplina potest nec sine disciplina esse animus, nisi in quo disciplina non est, potest, est in hominis animo disciplina. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Selbstgespräche und Unsterblichkeit, 155.
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warum und wann und auf welche Weise diese Welt geschaffen, unstet, flutend, beweglich“152 ist, entspricht daher einem inneren Bedürfnis des Menschen. Alanus ab Insulis umschreibt mit diesen Worten die Zeitlosigkeit dieses typisch menschlichen Bestrebens. Das Erfassen und Einteilen, die Klärung von logischen Zusammenhängen, soweit sie mit den zeitgenössischen Wissensständen korrespondieren, sind somit keineswegs nur ein Merkmal der Moderne. In der Kategorisierung kann ein Werkzeug mittelalterlichen Denkens verstanden werden, um die Beschaffenheit eines so und so bestimmten Naturvorgangs153 formallogisch zu konstituieren. 1.1.5 Zwischen den Sphären – Terrae motus als Ausdruck eines SubstanzAkzidenz-Verhältnisses Der im Mittelalter hauptsächlich zur Beschreibung von Erdbeben angewendete Wortlaut terrae motus spiegelt eine im Begriff angelegte urteilslogische Übereinkunft wider. Die Untersuchung der Aussagekraft dieser Formulierung, sowohl mit Blick auf das Ganze als auch hinsichtlich der Betrachtung der einzelnen Bestandteile terra und motus, erfordert als Einstieg eine ontologische Erklärung. Diese Herangehensweise ist zunächst von einer grammatischen Analyse zu trennen, gleichwohl sie für sich genommen das logische Fundament der Grammatik bildet, wie sich später zeigen lassen wird. a) Naturphilosophische Rahmenbedingungen Methodisch verlangt die angestrebte Untersuchung einige kritische Anmerkungen. Das bis zum frühscholastischen Mittelalter verfügbare lateinische Quellencorpus zur griechischen Logik zeichnet sich durch einen breiten Anwendungsbezug aus. Ein Sachverhalt, der maßgeblich in dem allgemein beschreibenden Wesen der vetus logica sowie der Isagoge begründet liegt. Dennoch entfaltet sich in Antike und Mittelalter die thematische Anwendung dieser Schriften schwerpunktmäßig in einem theologisch-anthropogenen Zusammenhang. Stets konzentrieren sich die Abhandlungen entweder auf den Menschen als sinnliches Seelenwesen154 oder auf Trinitätsdiskussionen im Rahmen des Universalienstreits.155 Eine naturphilosophische
152 Alanus ab Insulis: Anticlaudian, 122; hinsichtlich des lat. Originals siehe Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, I, 70 f.: Quid sit [. . .] quanta, qualis uel quomodo sese / Res habeat reliquosque status perquirit in illa. [. . .] Qua racione, quibus causis, cur, quomodo, quando / Instabilis, genitus, fluitans, mutabilis iste. 153 Martianus Capella: De nuptiis, IV. 368, 120: item quae nobis ex aliqua passione naturae inoleverint. Dt. Übersetzung siehe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur, 134. 154 Siehe KERSTING 2005: 59, 61. 155 Siehe z. B. die Definition der Substanz bei Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 960A-C; ebenfalls KERSTING 2005: 73.
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Betrachtung, d. h. ein gleichwertiges logisches Durchdringen beseelter und unbeseelter Körper auf Grundlage der Kategorien und somit gemäß den logischen Prinzipien, die wir heute der Physik zurechnen, war für das lateinische Mittelalter kaum ausgeprägt.156 Dieses Vorgehen sollte sich erst im Verlauf des 12. Jahrhunderts durchsetzen,157 wie es unter anderem bei Petrus Abaelard, einem der großen Logiker des Mittelalters und Wegbereiter der Scholastik, explizit erkennbar wird.158 Dialektisch diskutiert dieser, ob terra im Sinne des Boethius als Spezies und somit als eine Verstandesgröße aufzufassen ist oder ob die Lesart des sogenannten „magister Vasletus“159 zu präferieren sei, die terra als konkretes Individuum und demnach als erste Substanz versteht.160 Bedingt durch den begrenzt überlieferten Bestand griechisch-antiker Schriften zur Naturphilosophie in den mittelalterlichen Bibliotheken Mittel- und Westeuropas, agierten entsprechend motivierte Arbeiten bis zur Scholastik in dem engen Korsett, welches ihnen von der biblischen Genesis-Lehre angelegt wurde.161 Im Tractatus de Generibus et Spezies konkretisiert im 12. Jahrhundert der sogenannte Pseudo-Gauslenus, ein anonymer Zeitgenosse eben jenes Petrus Abaelard, den Handlungsspielraum der mittelalterlichen Naturphilosophie. Im Kapitel über die Elemente heißt es: Physici, rerum naturas investigantes, visibiles res quas subiectas sensibus habebant primitius inquisierunt. Eorum vero naturam utpote integraliter compositorum cognoscere non poterant plane, nisi ipsorum componentium proprietatem cognovissent. Institerunt ergo ipsas partes componentes subdividendo, usque dum ad illam partem minutissimam intellectu venirent, quae in partes integrales dividi non poterant.162
Die Worte dieses scholastisch geprägten Autors erinnern an die Problematik des Universalienstreits. Die Aufteilung der sinnlichen Dinge in ihre einzelnen, kleinsten Bestandteile, wie sie hier dargestellt wird, bedeutete zwangsläufig eine Überleitung zur christlichen Schöpfungslehre. Die aus der antiken Naturphilosophie bekannten
156 Eine Ausnahme stellt sicherlich Johannes Scottus Eriugenas Werk Periphyseon dar. Siehe Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon. Ebenfalls BRINCKEN 1992: 1 f. 157 Siehe z. B. die Ausführungen zu Wilhelm von Conches in: GOETZ 2012: 48–57. 158 Zu nennen ist Petrus Abaelards Auseinandersetzung über den quantitativen Unterschied zwischen zwei am weitesten voneinander entfernten Orten, die er am Beispiel des Mittelpunkts sowie dem Ende der Erde erläutert. Siehe Petrus Abaelard: Glossae super Praedicamenta Aristotelis, 198 f. Gleiches gilt für die naturphilosophischen Arbeiten Wilhelm von Conches. Zu nennen wäre z. B. Wilhelm von Conches: Dragmaticon. 159 Unter diesem Geistlichen ist vermutlich der Leiter der Domschule von Angers während der Jahre 1125 bis 1148 zu verstehen. Siehe Hilarius von Orléans: Versus et ludi epistolae, 89. 160 Petrus Abaelard: Glossulae super Porphyrium, 544. 161 Schön zu erkennen z. B. bei Beda Venerabilis: De natura rerum, cap. II, 192 f. 162 Ps-Gauslenus (= Pseudo-Joscelin): Tract. Gener. et Speci, 184; Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 127.
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Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde163 aggregieren durch das ordnende Wirken Gottes164 von einer gestaltlosen Materialität zu einer konkreten Form, wie es Augustinus kommentiert.165 Hier zeigt sich der Wissenshorizont, den die vorliegende Untersuchung zu berücksichtigen hat. Eine intellektuelle Auseinandersetzung über die „Welt“ mit all ihren Teilen hat also spürbar die Gelehrten beschäftigt und neben der Theologie und Philosophie maßgeblich zu Erklärungsweisen im Rahmen des Quadriviums geführt. Insbesondere die Astronomie und die Komputistik seien hier erwähnt, welche einen bedeutenden Anteil an der mittelalterlichen Bildungskultur innehatten.166 Die Zielrichtung ihrer Tätigkeit, nämlich vorrangig die Bestimmung des Ostertages, war jedoch auch hier kein primär naturphilosophisches, sondern ein christliches Anliegen. Erneut ist auch in diesem Fall festzustellen: Die theologische Weltsicht, wie sie sich aus den biblischen Schriften und dabei maßgeblich aus der Schöpfungslehre ableitet,167 war über die Zeit des Mittelalters hinaus vorrangig eine exegetisch dominierte Erklärung. Dies zeigte sich exemplarisch an den Ausführungen zur Zeichentheorie des Augustinus.168 Folglich ist zu bedenken: Die Untersuchung der Beschaffenheit natürlicher Einzeldinge vollzog sich überwiegend als allegorische Interpretation im Sinne einer christlichen Hermeneutik und erfolgte kaum unter der Maßgabe einer primär formallogischen Schlussfindung. Dies zeigt sich an der mittelalterlichen Edelsteinallegorese169 genauso wie an der Pflanzenheilkunde. Diese findet sich in vielen Enzyklopädien der Zeit,170 aber auch in den bekannten Arbeiten Hildegards von Bingen.171
163 Platon: Timaeus a Calcidio translatus, 32a-c, 24 f.; 46d, 43; 49b-c, 46 f.; 52d-53c, 51 f.; Lucretius: De rerum natura, I. 705–829, 58–68; bes. V. 235–305, 396–402. 164 Ambrosius von Mailand: Expositio Evangelii secundum Lucam, II, cap. 95, 75: Credamus patri, cuius vocem elementa sonuerunt. Dt. Übersetzung siehe Ambrosius von Mailand: Lukaskommentar, 114. 165 Augustinus: De genesi ad litteram, II, cap. XI. 24, 184: Deus haec simul creaverit materiamque formatam instituerit, cuius informitatem usitato, ut dixi, vocabulo vel terre vel aquae scriptura praedixit. Diese Ausgabe wird gegenüber der älteren CSEL-Edition (Bd. 28) bevorzugt, da sie eine verbesserte Fassung darstellt. Die aussagenlogische Bezeichnungsfunktion von Sprache, wie sie gerade für Augustinus typisch ist, kann hier erneut abgelesen werden. Hinsichtlich einer deutschen Übersetzung siehe Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis, 58 f. Siehe gleichfalls Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, III. 3970–3972, 137 und Hrabanus Maurus: De universo (= De rerum naturis), 262D. 166 ENGELEN 1993: 113. 167 Siehe z. B. Augustinus: De genesi ad litteram, III, cap. III. 5, 218. 168 Siehe Kapitel III. 1. 1. 3. 169 Siehe diesbezüglich die umfangreiche und informative Arbeit von MEIER: Gemma. 170 Siehe z. B. das 19. Buch in Hrabanus Maurus’ De universo, 503–532. 171 Zu nennen ist an dieser Stelle besonders die Physica bzw. das Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum. Hinsichtlich der Edition siehe Hildegart von Bingen: Physica.
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Dennoch war urteils- und aussagenlogisches Denken im Mittelalter präsent. Es wurde aber durch christliche Glaubensvorstellungen bestimmt.172 So blieb der strukturelle Zusammenhang von Substanz und Körperlichkeit, den Aristoteles beispielhaft äußert,173 nach wie vor gültig. Diese Verbindung erfuhr in ihrem ontologischen und urteilslogischen Gehalt allerdings eine christliche Umdeutung, wie die Äußerung des Augustinus: „Unser Körper sei irgendwie eine Substanz“,174 deutlich macht. Das durch die Kategorien und die Isagoge dem Mittelalter vermittelte Wissen zur Unterteilung der Substanz in Gattungen und Spezies wurde in der christliche Naturphilosophie auf die Schöpfung selbst und deren Verwirklichung in den einzelnen Körpern übertragen.175 Die Assimilation antik-logischen Denkens mit dem System christlicher Weltauslegung wurde bei entsprechender Eignung bereitwillig vollzogen. Ähnliches gilt für die Enzyklopädien des Früh- und Hochmittelalters. Als Kompendien des zeitgenössischen Wissensstandes überliefern sie eine Kategorisierung der bekannten sinnlichen Welt. An ihrem Beispiel vollzieht sich ein Ordnungsmodell der göttlichen Schöpfung, welches die praktische Verfügbarkeit des damaligen symbolisch-spekulativen Naturverständnisses erst erlaubte. Für die weitere Untersuchung ist es daher zweckmäßig, von einem Fortbestehen antiker logischer sowie ontologischer Grundstrukturen auszugehen, die sich in den Begrifflichkeiten des Mittelalters manifestierten. b) Terrae motus als Substanz-Akzidenz-Verhältnis Erinnern wir uns also grundsätzlich zurück an das von Aristoteles konzipierte Verhältnis der Substanz zu den übrigen neun obersten Kategorien. Trotz ihrer Eigenständigkeit werden diese als Akzidenzen der Substanz verstanden176 und zeigen die Beschaffenheit und somit die Zustands- bzw. Qualitätsmodi an. Die Akzidenzen realisieren sich also im Zugrundeliegenden, ohne selbst mit diesem identisch zu sein. Einer derart expliziten Wechselwirkung zwischen Substanz und Akzidenz entspricht
172 Siehe diesbezüglich die Äußerung des Augustinus in seinem bedeutenden Werk De doctrina christiana, II, cap. XXXI (49.), 66 f. 173 Aristoteles: Categoriae, 2, 1a27, 6; Porphyrios: Isagoge, 1, 9: Substantia est quidem et ipsa genus, sub hac autem est corpus. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 6. 174 Augustinus: De immortalitate animae, cap. II (2.), 102: corpus nostrum nonnulla substantia est. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Selbstgespräche und Unsterblichkeit, 157. 175 Besonders ersichtlich bei Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, III. 1171–1179, 42: Audiens quippe illud: ‚Qui fecisti mundum de materia informi‘ non aliter cogitabam nisi quia mundus et visibilis et invisibilis de materia informi, quam deus de omnino nihilo veluti auspicium quoddam suae operationis creavit, factus narratur; et erat quando totius mundi universitas non erat. Ac per hoc, in primordiis conditionis suae de omnino nihilo in informem processit materiem, et consequenter per genera et formas caeterosque numeros naturales ad perfectionem quandam creatori soli cognitam pervenit. Dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 286; gleichfalls: Isidor: Etymologiae, XI, cap. I, 2. 176 Siehe Kapitel III. 1. 1. 2.
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auch der Erdbebenbegriff terrae motus. Es ist allerdings zu eruieren, welches gewählte Wort sich jeweils als Ausdruck für welche ontologische Seins-Form etablierte. Was kann somit innerhalb des Terminus terrae motus als Substanz und was als Akzidenz verstanden werden? Aristoteles selbst liefert für die Unterscheidung einen grundlegenden Lösungsansatz. Aus der kritischen Betrachtung der platonischen Ontologie erwuchs sein Konzept der Kategorien. Den Wandel dieser zehn höchsten Allgemeinbegriffe, welcher nicht zuletzt deren Potential zur Beschreibung wirklicher Phänomene festschrieb, geschieht nach seiner Auffassung durch einen sehr weit gefassten Bewegungs-Begriff. Neben dem Werden und Vergehen, die maßgeblich eine existenzielle Wertigkeit ausdrücken, verdeutlicht die Bewegung auch Qualitätsänderungen, denn sie unterliegt der Zunahme, Abnahme und Veränderung. Aristoteles versteht jedoch ebenso den Ortswechsel als Moment der Bewegung.177 Insbesondere diese Bedeutung dürfte sich im Verlauf der Moderne als die maßgebliche Interpretation des Begriffs durchgesetzt haben. Für die konzeptionelle Einordnung des aristotelischen Bewegungsbegriffs ist hingegen die Art der Veränderung besonders dienlich. Sie verdeutlicht durch die Betonung einer Zustandsmodifikation das grundsätzliche Wesen der Bewegung, die als Antagonist zur Ruhe in Erscheinung tritt.178 Aristoteles weist den einzelnen Kategorien bestimmte Arten der Bewegung (motus) zu. So ist z. B. der Aspekt des Werdens und Vergehens der Substanz zugehörig.179 Auch wenn gerade diese Zuordnung durch ihre existentielle Aussage ein wichtiger Bestandteil der aristotelischen Naturphilosophie wurde,180 lösten sich diese strikten ontologischen Begriffspaare im Verlauf der philosophischen Auseinandersetzung der Antike und des Mittelalters weitestgehend auf. Neben der primären Bedeutung für den innerhalb eines definierten Zeitverlaufs vollzogenen Ortswechsels181 wurde die Bewegung hinsichtlich ihres strukturellen Einwirkens auf eine grundsätzliche Lesart vereinfacht. Sie verstand sich hauptsächlich als Modus der Veränderung einer als Subjekt verstandenen Substanz.182 Zwei elementare Prinzipien innerhalb der aristotelischen ousia sind hier von Belang: Die gestaltlose, allem zugrundliegende Materie wird durch das prägende Wirken der Form
177 Aristoteles: Categoriae, 14, 15a12-15b15, 39 f. 178 Aristoteles: Kategorien, 347; Aristoteles: Categoriae, 14, 15b1, 40: Simpliciter autem motus quieti contrarius est. Dt. Übersetzung siehe Aristoteles: Kategorien, 37. Siehe auch Porphyrios: Isagoge, 8. 20, 15. 179 Aristoteles: Kategorien, 346. 180 Aristoteles: Kategorien, 188. Siehe ebenso LALLA 2003: 144. 181 BLUME 2003: 273; siehe auch Petrus Abaelard: Glossae super Praedicamenta Aristotelis, 302 f. 182 Aristoteles: Kategorien, 346; siehe auch Porphyrios: Isagoge, 8. 21–9. 2, 15: animali enim differentia adveniens rationalis, aliud fecit et speciem animalis fecit; illa vero quae est movendi, alteratum solum a quiescente fecit. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 9.
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zum ontologischen Subjekt.183 Das schöpferische Eingreifen der Form ist in seinem Wesen gleichzusetzen mit dem Handeln der Bewegung selbst.184 In diesem Sinne begründet die aristotelische Theologie schließlich das Wirken des unbewegten Bewegers.185 Die Bewegung agiert somit in wie auch an der Substanz. Für dieses existentielle Werden des Subjekts ist zu bedenken, dass das bewegende Prinzip der Form stets die Materie als Grundlage benötigt. Überdies kann die Form selbst nicht inhaltsleer agieren, da sie sonst zu einem Schattenbild186 verfallen würde. Nicht nur Boethius weist darauf hin, dass ein derart substanzloses Wirken der Form zur Subjektbildung ungeeignet ist. Es gilt zu bedenken: Im Konstituierenden,187 welches beispielsweise im artbildenden Unterschied (= Differenz) eine Entsprechung findet, liegt im spätantik-mittelalterlichen Verständnis das schöpferische Potential der Form. Aristoteles’ im ousia-Begriff angelegtes formgebendes Prinzip des eidos188 sollte hier, als „göttliche Idee“ verstanden, eine christlich-theologische Aufwertung erhalten.189 Dies sollte innerhalb des Diskurses mitbedacht werden. Welches Ergebnis lässt sich für den Terminus terrae motus aus dem bisher Erläuterten ableiten? Einmal mehr ist bei dem spätantiken Gelehrten Boethius eine passende Zusammenfassung zu lesen: Materia, quae a corporibus actu separari non possunt: quae corpora in motu sunt, ut cum terra deorsum ignis sursum
183 Boethius: In Categorias, 184A-B: Cum autem tres substantiae sint, materia, species, et quae ex utrisque conficitur undique composita et compacta substantia, hic neque de sola specie, neque de sola materia, sed de utrisque mistis compositisque proposuit. Partes autem substantiae incompositae et simplices sunt, ex quibus ipsa substantia conficitur, species et materia, quas post per transitum nominat dicens, substantiarum partes et ipsas esse substantias, atque haec hactenus. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 18. Ebenfalls REHFUS 2003: 632; BLUME 2003: 273; BERGER, GOMBOCZ 2009: 274; FONFARA 2003: 35. 184 BLUME 2003: 273; eine Gleichsetzung von Bewegung und Form vertrat ebenfalls Abbo von Fleury. Siehe ENGELEN 1993: 33. 185 BLUME 2003: 273. 186 Boethius: De sancta trinitate, cap. II, 140, 142: Forma vero quae est sine materia non poterit esse subiectum nec vero inesse materiae: neque enim esset forma, sed imago. Ex his enim formis quae praeter materiam sunt, istae formae venerunt quae sunt in materia et corpus efficiunt. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 54. 187 Ps-Gauslenus: Tract. Gener. et Speci, 42, 138: Facta est species ex genere et substantiali differentia; et sicut in statua aes est materia, forma autem figura, similiter genus est materia speciei, forma autem differentia. Materia est qua suscipit formam. Ita genus in ipsa specie constituta formam sustinet. Nam et postquam constituta est ex materia et forma constat, id est ex genere et differentia. Et ita redimus ad idem quia ipsa differentia in genere fundatur. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 106. 188 FONFARA 2003: 21 f., 23, 31. 189 Dies wird zum Beispiel anhand der funktionalen Zuordnung von facere durch Boethius deutlich. Siehe Boethius: Contra Eutychen, cap. 1, 296: ‚facere‘ vero tantum, ut Deus ceteraque divina. Frz. Übersetzung siehe ebd.: 297. Ebenso Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, III. 1166–1185, 42.
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fertur, habetque motum forma materiae coniuncta.190 Alles Existierende – und somit Substantielle – ist also entweder körperlich oder unkörperlich,191 wie Selbiger an anderer Stelle ausführt. Das Merkmal der Körperlichkeit der Erde, 192 denn sie kann angefasst und gesehen werden,193 weist der Erde somit die konkrete Funktion einer Substanz zu.194 Um aber das Subjekt terra, als Träger des Substanz-Akzidenz-Verhältnisses, sowie motus, als einwirkende Eigenschaft, besser verstehen zu können, ist es notwendig, zwischen der aussagenlogischen sowie der ontologischen Ebene des Begriffs zu unterscheiden.195 Aussagenlogisch ist dementsprechend festzustellen, dass terra sowie motus als Bezeichnungsweisen für einen realen Veränderungsvorgang fungieren. Somit kann innerhalb des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs insbesondere motus in seinem Wortsinne aufgefasst werden. Im ausgehenden 12. Jahrhundert bestätigt beispielsweise Petrus Abaelard diese Interpretationsweise. In seinem Werke Logica ingredientibus – einem Kommentar zu den aristotelischen Kategorien – arbeitet er den Charakter des Wortes motus heraus. Innerhalb des Kapitels über die verschiedenen Arten der Bewegung erläutert Abaelard, zunächst den spätantiken Rhetor und Grammatiker Priscian zitierend, die aussagenlogische Bedeutung von motus. Durch dessen Verweisfunktion sei, wie er schreibt: omne verbum actionis vel passionis designativum.196 Die Kontinuität eines derart definierten motus-Begriffs reicht damit erneut bis in die Zeit des Aristoteles zurück. Der Tun-Erleiden-Zusammenhang, der innerhalb der aristotelischen Ursachenlehre bestimmend ist197 und den Abaelard auf motus anwendet, dürfte indes seine Anleihen ebenso bei Boethius haben. Dessen Beschreibung des Prinzips des pati und facere als Wirkweisen der natura auf sowie innerhalb der konkreten Substanzen ist durchaus in
190 Boethius: De sancta trinitate, cap. II, 136, 138; dt. Übersetzung WÖHLER 1992: 53. 191 Boethius: Isagogen Porphyrii commentorum. Editio prima, I, cap. 10, 30; Boethius: Isagogen Porphyrii commentorum. Editio secundae, 160; siehe ebenfalls Boethius: Contra Eutychen, cap. 1, 296; ebenso in späterer Zeit Ps-Gauslenus: Tract. Gener. et Speci, 187, 204. 192 Donat: Ars maior, 42: Alia enim sunt corporalia, ut homo, terra, mare. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 43. 193 Isidor: Etymologiae, I, cap. VII, 3: ex quibus corporalia dicta, quia vel videntur vel tanguntur, ut ‘caelum,‘ ‘terra.‘ Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 27. 194 Siehe z. B. Alanis ab Insulis: Distinctiones dictionum, 969C: Dicitur [gem. ist terra, d. Verf.] corporea substantia [. . .] terra vero corporalia quae indigniora sunt dicitur scabellum pedum eius. Dt. Übersetzung: „Es wird von körperlicher Substanz gesprochen [. . .] Die wahrhaft körperliche Erde, von der gesagt wird, dass sie der Schemel der Füße derer ist, die unwürdig sind.“ 195 Die Notwendigkeit dieses Schritts macht zum Beispiel Petrus Abaelard in seiner Kommentierung der Kategorien des Aristoteles deutlich. Siehe Petrus Abaelard: Glossae super Praedicamenta Aristotelis, 140. 196 Petrus Abaelard: Glossae super Praedicamenta Aristotelis, 296. 197 TREUSCH-DIETER 2005: 31.
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diesem Sinne zu verstehen.198 Seine praktische Entsprechung findet dieser Zusammenhang schließlich in der Grammatik als aktive und passive Ausdrucksweise eines Geschehenshergangs. Gleiches gilt für die direkt aus dem gelesenen Wort abgeleitete Lesart von motus, die sich in der grammatischen Bildung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs an der spezifischen Bindung an terra widerspiegelt.199 Abaelard grenzt die ontologische Ebene des Begriffs vom einfachen Wortverständnis ab. Denn im modus largior wird in seinem Verständnis die Aussageabsicht von motus innerhalb der Substanz selbst angewendet.200 In seinem Wirken auf das Subjekt terra drückt motus folglich einerseits eine akzidentielle Zustandsveränderung aus. In diesem Sinne entspricht motus einem bereits von Porphyrios beschriebenen, allgemein umfassenden und universell applizierten Prinzip,201 das im vorliegenden Fall eben in der Bewegung der Erde besteht. Anderseits agiert motus als existentielles Moment innerhalb aller Körper, wie Boethius am Beispiel des gleichfalls umfangreichen Begriffs der natura ausführt.202 In diesem Sinne nimmt motus die Rolle der Differenz und nicht einer Akzidenz ein. Der motus principium, auf den Abaelards modus largior anspielt, beschreibt demnach das Werden und Vergehen der Substanzen und spricht deren Wesen direkt an. Aus ontologischer Perspektive wirkt also motus am Subjekt terra als auch in diesem selbst. Das Bewegungsprinzip innerhalb der Substanz Erde bleibt jedoch für sich genommen abstrakt und wird im vorliegenden Fall nur über eine entsprechende Annäherung an das Subjekt terra greifbar.203 Folglich gilt es zu klären, worin im mittelalterlichen Denken das konkrete Wesen desjenigen besteht, für das sich im lateinischen Sprachgebrauch die Bezeichnung terra gefunden hat.
198 Boethius: Contra Eutychen, cap. 1, 296: Sin vero de solis substantiis natura dicitur, quoniam substantiae omnes aut corporeae sunt aut incorporeae, dabimus definitionem naturae substantias significanti huiusmodi: ‚natura est vel quod facere vel quod pati possit‘. ‚Pati‘ quidem ac ‚facere‘, ut omnia corporea atque corporeorum anima: haec enim in corpore et a corpore et facit et patitur. Frz. Übersetzung siehe ebd.: 297. 199 Siehe diesbezüglich die weiterführenden Gedanken im Kapitel III. 2. 1. 200 Petrus Abaelard: Glossae super Praedicamenta Aristotelis, 296. 201 Porphyrios: Isagoge, 13. 19–21, 21: Et moveri de homine et de equo, quod est accidens separabile, sed principaliter quidem de individuis, secundum posteriorem vero rationem de his quae continent individua. Dt. Übersetzung siehe WÖHLER 1992: 13. 202 Boethius: Contra Eutychen, cap. 1, 298: ‚Natura est motus principium secundum se, non per accidens‘. Quod ‚motus principium‘ dixi, hoc est, quoniam corpus omne habet proprium motu, ut ignis sursum, terra deorsum. Frz. Übersetzung siehe ebd.: 299. Boethius verbindet dieses im Subjekt angelegte Bewegungsprinzip, dass frei von akzidentiellen Einwirkungen ist, exemplarisch mit dem heute als Schwerkraft bekannten Prinzip. Siehe ebd.: Idcirco enim quia lignum est, quod est terra, pondere et gravitate deducitur. Bei den beiden Eigenarten pondere und gravitate handelt es sich um Differenzen, nicht um Akzidenzen. Dieser Sachverhalt wurde später von Johannes Scottus Eriugena erneut aufgegriffen. Siehe Periphyseon, III. 3968–3970, 137. 203 Siehe diesbezüglich die Ausführungen über die Gemeinsamkeiten der Bewegung bei Aristoteles und Abbo von Fleury in: ENGELEN 1993: 56.
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„Der Begriff terra wird nach herrschender Meinung in frühmittelalterlichen Quellen (bis ca. 1100) untechnisch benutzt“.204 Projiziert man die säkularisierte Weltsicht unsere Zeit auf diesen Terminus, so ist der Definition des Lexikons des Mittelalters sicherlich zu unterstützen. Vernimmt man nämlich heute das Wort „Erde“, so denkt man buchstäblich an „unseren“ blauen Planeten. Daneben steht „Erde“ aber auch für den Boden im heimischen Gemüsegarten. Die Ursprünge dieser aussagenlogischen Verknüpfung liegen einmal mehr im Sprachgebrauch der Antike. Gleichwohl hat sich auf der Verständnisebene im Verlauf der Jahrhunderte eine Transformation vollzogen, die zumindest den synonymen Gebrauch der Begriffe Erde und Planet für das Denken des Mittelalters ausschließt. Terra autem significari [. . .] elementum: terras vero singulas partes, ut Africa, Italia,205 schreibt Isidor von Sevilla in seiner bereits mehrfach zitierten Enzyklopädie. In diesen einfachen Worten zeigt sich, dass unter terra, ähnlich wie im modernen Sprachgebrauch, eine Mehrdeutigkeit angelegt ist. Sie ist jedoch ontologisch anders fundiert. Isidor artikuliert stellvertretend für seine Zeit eine Interpretation, welche zwei grundsätzliche Aussagenweisen von terra gegenüberstellt. „Erde“, dass ist seit der Antike zunächst eines der vier Elemente. Terra drückt aber auch eine kosmische Sphäre aus. Das Verhältnis zwischen beiden Seinsformen wird bestimmt durch die platonische Naturphilosophie, wie sie sich seit der Spätantike im lateinischen Europa etablierte. Die Annäherung an den Begriff terra, der in seiner Vielschichtigkeit das Verständnis des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs prägt, hat auf diesem Weg zu erfolgen. Obgleich terra für die Bezeichnung von zwei verschiedenen Aspekten, nämlich für das Element als auch für die von den Menschen bewohnte Landmasse verwendet wird, besteht zwischen beiden Bedeutungen eine ontologische Abhängigkeit. Erkennbar wird diese Verwandtschaft an Boethius Worten: terra quoque ipsa non κατὰ τὴυ ὕλην dicitur, sed secundum siccitatem gravitatemque, quae sunt formae.206 Durch seinen Hinweis, dass die Benennung der Erde nicht von dem gleichnamigen Element abstammt, sondern als aussagenlogisches Resultat aus dem Einwirken der Faktoren Trockenheit und Schwere herrührt, unterstreicht Boethius in De sancta trinitate ein existenzielles Moment des Werdens, welches in der Schöpfungslehre dem Mittelalter vermittelt wurde. Die antike Lehre von den Elementen verschmolz mit dem aristotelischen ousia-Begriff zu der spezifisch jüdisch-christlichen Glaubensvorstellung, welche sich gleich zu Beginn des Alten Testament in dem Satz: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“,207 manifestiert.
204 205 206 207
REINLE 2009: 552. Isidor: Etymologiae, XIV, cap. V, 20. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 531. Boethius: De sancta trinitate, cap. II, 138; dt. Übersetzung WÖHLER 1992: 54. Gen 1, 1: In principio creavit Deus caelum et terram.
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Das Spannungsfeld zwischen Materie und Form, wie es uns schon beschäftigte, findet hier seine konkrete Entsprechung. Johannes Scottus Eriugena, wohl einer der progressivsten Denker des Frühmittelalters, fasst es beispielhaft in die Worte: Universitas ista, quae constat ex caelo et terra, quattuor elementis in speciem orbis absoluti conglobata mundique nomine vocitata, et de nihilo facta est.208 Die vier Elemente werden aus der Allgemeinheit der Materie durch das Prinzip der Form geboren.209 Das hiermit implizierte schöpferische Wirken Gottes konstituiert jedes der einzelnen Elemente gemäß konkreter Eigenschaften und Größen.210 Im Liber Floridus Lamberts von St. Omer findet sich eine geradezu beispielhafte bildliche Darstellung dieser typisch christlich-mittelalterlichen Weltsicht. Jesus, als Herr der Welt im Zentrum thronend, ist umgeben von den vier Elementen211. Er ist das χ (Chi),212 in welchem sich gemäß dem christlichen Neuplatonismus die Weltseele trifft.213 Da sich Wasser, Feuer, Luft und Erde entsprechend ihrer Anlagen miteinander verbinden, bilden sie die Grundlage aller
208 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, III. 1230–1232, 44; dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 287. 209 Isidor: Etymologiae, XIII, cap. III, 1: Ὕληυ Graeci rerum quandam primam materiam dicunt, nullo prorsus modo formatam, sed omnium corporalium formarum capacem, ex quae visibilia haec elementa formata sunt. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 493. Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 2288–2292, 74: Non enim aliud te suadere aestimo quam ut cognoscamus quattuor mundi huius elementorum in se invicem concursu contemperantiaque materiam corporum fieri, cui adiecta qualicunque ex qualitate forma perfectum corpus efficitur. Dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 98. Für die Frühscholastik beispielhaft Isaak von Stella: Sermones, LIV. 5, 848. 210 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 2305–2307, 75: Si itaque elementa quantitate qualitateque fiunt et corpora ex elementis, ex quantitate igitur et qualitate corpora sunt. Dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 99. 211 Lambert von St. Omer: Liber Floridus, Herzog August Wilhelm Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1 Gud. Lat., fol. 58v. Ein lohnenswerter Überblick über die mittelalterliche Elemente-Lehre findet sich z. B. bei GOETZ 2012: 39–57. 212 Die beiden griechischen Buchstaben χ (Chi) und Ρ (Rho) bilden das bekannte Christusmonogramm☧. 213 Platon: Timaeus a Calcidio translatus, 34b, 26: Haec igitur aeterni dei prospicientia iuxta nativum et umquam futurum deum levem eum et aequiremum indeclivemque et a medietate undique versum aequalem exque perfectis universisque totum perfectumque progenuit. Animam vero in medietate eius locavit eandemque per omnem globum aequaliter porrigi iussit, quo tectis interioribus partibus extima quoque totius corporis ambitu animae circumdarentur. Ebd.: 36b-c, 28: Tunc hanc ipsam seriem in longum secuit et ex una serie duas fecit easque mediam mediae in speciem chi Graecae litterae coartavit curvavitque in orbes, quoad coirent inter se capita, orbemque orbi sic inseruit, ut alter eorum adverso, alter obliquo circuitu rotarentur. Dt. Übersetzungen siehe Platon: Timaios, 47, 49, 51. Für die mittelalterliche Vorstellung einer Weltseele, die gleichgesetzt mit dem Heiligen Geist existiert, war besonders die sog. Schule von Chartres prägend. Siehe z. B. Wilhelm von Conches: Philosophia, I, cap. IV, § 13, 22 f.
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sinnlichen Körper.214 Hier offenbart sich die organologisch fundierte Maxime der spätantik-mittelalterlichen Naturphilosophie. Die Bildung des Subjekts aus der Materie wird also im Kleinen wie im Großen durch die Form ermöglicht. Auf eine formallogische Ebene abstrahiert, ist es der artbildende Unterschied – die Differenz – wie er aus Porphyrios Isagoge bekannt ist, der sich an dieser Stelle entfaltet. Das Erwachsen des Elements terra aus der Materie wird somit durch ein Prinzip ermöglicht, für das die Bezeichnung motus gefunden wurde.215 Ohne eben jene von motus ausgedrückte dialektische Bewegung, welche gleichsam synonym für die Form sowie für die Differenz steht,216 kann sich die Spezies des „Elements Erde“ nicht aus der obersten Gattung – der Materie – bilden. Erst die artbildenden Wesensmerkmale Trockenheit,217 Kälte218 und Schwere219 grenzen terra von Luft, Feuer und Wasser ab (siehe Abb. 7). Terram frigiditas ariditati copulata conficiunt,220 umschreibt diesen Vorgang einmal mehr Johannes Scottus Eriugena. Dabei bleibt zu bedenken, dass die Differenzen trocken und kühl einerseits als gemeinsame Eigenschaften mit den Elementen Feuer (trocken) und Wasser (kalt) fungieren. Anderseits drücken sie reziprok betrachtet eben jene artbildende Abgrenzung von terra gegenüber den verbleibenden Grundstoffen aus. Von allen in Abb. 7 veranschaulichten Differenzen bildet wohl hinsichtlich des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs die Eigenschaft der Schwere den charakteristischsten Unterschied. Aus der Rezeption griechischsprachiger Quellen schöpfte
214 Im Wesentlichen handelt es sich bei diesem Sachverhalt um die Rezeption platonischer Naturphilosophie. Siehe Platon: Timaeus a Calcidio translatus, 32b-c, 25; Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 2292–2307, 74 f.; ebd.: I. 2382–2384, 77; Isidor: Etymologiae, XI, cap. I, 16; XIV, cap. 3, 2; Honorius Augustodunensis: Imago Mundi, I, cap. 3, 50. Zudem weist Augustinus den vier Elementen die Eigenschaften der fünf Sinne zu. Siehe Augustinus: De genesi ad litteram, III, cap. IV. 6, 218, 220. 215 Siehe Kapitel III. 1. 1. 2. 216 Zu erkennen bei Porphyrios: Isagoge, 8. 21–9. 2, 15. 217 Die Rezeption der Eigenschaft der Trockenheit ist stark mit Gn 1, 10: et vocavit Deus aridam terram verbunden. Boethius: De sancta trinitate, cap. II, 138; Beda: De natura rerum, cap. IV, 195: terra quidem arida et frigida; Hrabanus Maurus: De universo, 331A: Proprie autem terra ad distinctionem aquae arida nuncupatur [. . .]. Naturalis enim proprietas siccitas est terras. Dt. Übersetzung: „Die Erde wird in Unterscheidung zum Wasser hingegen eigentümlich als trocken bezeichnet. [. . .] Naturgemäß ist nämlich die Trockenheit eine Eigenschaft der Erde.“ Hrabanus schreibt an dieser Stelle Isidors Etymologiae, XIV, cap. I, 2 aus. Für die Frühscholastik beispielhaft Wilhelm von Conches: Philosophia, I, cap. VII, § 22, 28; Wilhelm von Conches: Dragmaticon, I, cap. 6. 6, 25; II, cap. 5. 1, 45 und Honorius Augustodunensis: Imago Mundi, I, cap. 3, 50. 218 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 2299, 75; Beda: De natura rerum, cap. IV, 195; Honorius Augustodunensis: Imago Mundi, I, cap. 3, 50. 219 Beda: De natura rerum, cap. IV, 195; Honorius Augustodunensis: Imago Mundi, I, cap. 3, 50; Lambert von St. Omer: Liber Floridus, Cod. Guelf. 1 Gud. Lat., fol. 58v. 220 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 2299–2300, 75; dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Über die Eintheilung der Natur, 99.
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Abb. 7: Aussagemöglichkeiten des Elements terra dargestellt mittels der Isagoge des Porphyrios. Schematisch lässt sich das Prinzip „Form = motus = Differenz“ erkennen.
Johannes Scottus Eriugena diesbezüglich eine für das Element terra konsequent wirkende Erklärung. Atque ideo, quoniam in gravitate terra est constituta, semper immobilis manet – nam gravitas moveri nescit – et est in medio mundi constituta extremumque ac medium obtinet terminum.221
Auf diesem Wege wird eine natürliche Ordnung zwischen den vier Elementen sichtbar, die in der Abstufung zwischen dem Leichten (Feuer) und dem Schweren (Erde) besteht.222 Die eingangs zitierte Aussage des Boethius, wonach Feuer nach oben und Erde nach unten strebt,223 dürfte nun besser zu verstehen sein. Luft und Wasser wandeln beständig zwischen diesen beiden Polen.224 Hierdurch wird ein Prozess der Bewegung vollzogen, der alle drei Grundstoffe erfasst.
221 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 1494–1497, 50; dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 77. Johannes bezieht sich im vorliegenden Fall auf Gregor von Nyssa, dessen Schriften er aus dem Griechischen ins Lateinische übertrug. 222 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, III. 3957–3960, 136: Ἄχθος appellatur terra ex gravitate. Non enim corpus est, quod proportione sui ponderis naturalem suum locum non appetat, sive in medium mundi, sive in extrema vergatur. Dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 362; Petrus Abaelard: Glossulae super Porphyrium, 553; Wilhelm von Conches: Dragmaticon, II, cap. 6. 5, 50. 223 Boethius: Contra Eutychen, cap. 1, 298. 224 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 1500–1506, 50 f.: Duo vero in medio elementa constituta, aqua videlicet et aer, proportionali moderamine inter gravitatem et levitatem assidue moventur ita ut proximum sibi extremum terminum utraque magis sequantur quam ab eis longe remotum. Aqua namque tardius movetur aere quoniam gravitati telluris adhaeret, aer vero velocius aqua concitatur quoniam aetheriae levitati coniungitur. Dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 77. Auch diese Zuordnung ist platonischen Ursprungs. Siehe Platon: Timaeus a Calcidio translatus, 32b-c, 25.
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Nur die Erde steht durch das aus der Schwere abgeleitete Proprium der Unbeweglichkeit unverrückbar fest.225 Sie ist das Fundament.226 Sie bildet damit das ewig an unterster Stelle in der Mitte des Kosmos verankerte Element.227 Aus der durch spezifische Eigenschaften gebildeten Wesenheit eines Körpers resultiert also sein Platz im Weltganzen.228 Für das ontologische Denken des Mittelalters ist dies eine wirkmächtige Schlussfolgerung. Am existentiellen Prozess des Werdens sind dennoch alle Grundstoffe beteiligt. Wasser, Luft und Feuer kreisen in ewiger Bewegung um die stillstehende Erde und bilden in gegenseitiger Einwirkung229 die einzelnen Körper, indem sich die Eigenschaften der einzelnen Elemente konstitutiv auswirken. Non enim mortalia nostra corpora sine his possunt permanere. Terra siquidem pascuntur, umore potantur, aere inspirantur, igne caleficantur,230 wie Johannes Scottus Eriugena formuliert. Er ist es auch, welcher terra zusammen mit dem Wasser eine passive, sprich erleidende
225 Augustinus: De genesi ad litteram, II, cap. XI. 24, 184: Acceperint haec duo species proprias istas notissimas nobisque tractabiles, aqua mobilem, terra immobilem: ideo de illa dictum est: congregetur, de hac: adpareat; aqua enim est labiliter fluxa, terra stabiliter fixa. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis, 59. Später auch bei Hugo von St. Viktor: Didascalicon, II, cap. 6, 170: alia immobilia, ut terra. Das terra fest sei, findet sich schon in Platons Timaios. Siehe Platon: Timaeus a Calcidio translatus, 31b, 24: Ignem terramque corporis mundi fundamenta iecit deus. Dt. Übersetzung siehe Platon: Timaios, 41. 226 Beda: De natura rerum, cap. XLV, 227: Terra fundata est super stabilitatem suam. Dt. Übersetzung: „Die Erde ist auf ihrer Festigkeit gegründet.“ 227 Wilhelm von Conches: Philosophia, IV, cap. I, § 4, 88: Est ergo terra elementum in medio mundi positum atque ideo infimum; Dt. Übersetzung: „Das Element Erde ist in der Mitte der Welt gelegen und deshalb der unterste Teil.“; Wilhelm von Conches: Dragmaticon, II, cap. 6. 6, 51: Terra vero, cum naturaliter ad centrum movetur, quia ipsa centrum est, hoc motu non movetur nec transfertur. Cum enim est infima, ad nullum locum transire potest, quin ascendat; sed hoc est a centro moveri, quod est contra eius naturam. Engl. Übersetzung siehe William of Conches: A Dialogue on Natural Philosophy, 34. 228 Augustinus: De genesi ad litteram, II, cap. I. 3, 148, 150: Non enim tantum locis, sed etiam qualitatibus elementa distingui, ut pro qualitatibus propriis etiam loca propria sortirentur. Aqua scilicet super terram, quae etiam si sub terra stat aut labitur, sicut in antris cavernisque abditis, non tamen ea terrae parte, quam supra, sed ea, quam infra se habet, continetur. Nam si ex parte superiore fuerit terrae pars ulla delapsa, non manet super aquam, sed ea perrupta demergitur et pergit ad terram: quo veniens conquiescit tanquam in loco suo, ut supra sit aqua, subter autem terra. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis, 40 f. 229 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 1441–1447, 49: Ut enim totus iste mundus sensibus apparens assiduo motu circa suum cardinem volvitur, circa terram dico circa quam veluti quoddam centrum caetera tria elementa, aqua videlicet, aer, ignis, incessabili rotatu volvuntur, ita invisibili motu sine ulla intermissione universalia corpora, quattuor elementa dico, in se invicem coeuntia singularum rerum propria corpora conficiunt. Dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 76. 230 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 2382–2384, 77; dt. Übersetzung: Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 101; ähnlich Isidor: Etymologiae, X, cap. I, 16.
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Funktion zuweist.231 Aus der Erde erwächst das Leben. Sie ist gleichwohl in sich statisch, die schöpferische Grundlage des Werdens.232 In diesem Aspekt erklärt sich ein scheinbarer Widerspruch. Wie kann das motus-Prinzip nicht nur in, sondern auch an dem unbeweglichen Element terra wirken? Im Verlauf des 11. Jahrhunderts niedergeschrieben,233 zeigt der aus der Sammlung Otloh von St. Emmerams entnommene Spruch coelum et terra transibunt, verba autem Dei non transibunt234 die Relevanz dieses Zusammenhangs für das zeitgenössische Denken auf.235 Es sei nur daran erinnert, dass besonders Otlohs Libellus proverbiorum im klösterlichen Schulunterricht genutzt wurde.236 Das Sprichwort offenbart die scheinbare Ambivalenz innerhalb der damaligen Weltordnung, die auch Johannes Scottus Eriugena mit seiner Formulierung generatio venit, generatio vadit, terra vero in aeternum stat237 unterstreicht. Der Wandel inmitten einer ewigen, ontologisch determinierten Beständigkeit wird aber keineswegs als Widerspruch aufgefasst. Vielmehr definiert sich dieser Dualismus als Wesensmerkmal einer exegetischen Weltauffassung, welche das Irdische nach dem göttlichen Heilsplan zum Himmlischen streben lässt. Ein solcher Standpunkt belegt einmal mehr die Vielschichtigkeit des antik-mittelalterlichen motus-Begriffs. Es ist schlicht das Bild der Welt, das Himmel und Erde als Ausdruck der Vergänglichkeit238 stetigen Veränderungen aussetzt. Die eigentliche Substanz und somit die Wesenheit der Elemente bleiben hiervon unberührt.239 Die
231 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 2385–2386, 77. 232 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 1512–1516, 51: Terra vero e contrario cum aeternaliter in statu sit, omnia tamen quae ex ea oriuntur ad similitudinem levitatis aetheriae semper in motu sunt, nascendo per generationem, crescendo in numerum locorum ac temporum, iterumque decrescendo et ad solutionem formae atque materiae perveniendo; ebd.: I. 2384–2385, 77. Dt. Übersetzung des erste Zitats siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 77. 233 RÖCKELEIN 2009: 1559. 234 Otloh von St. Emmeram: Libellus proverbiorum, 305A. Dt. Übersetzung: „Himmel und Erde werden sich wandeln, das Wort Gottes wird jedoch nicht vergehen.“ 235 Vgl. z. B.: Wilhelm von Conches: Dragmaticon, II, cap. 6. 6, 51. 236 RÖCKELEIN 2009: 1559. 237 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, III. 1247–1248, 44. Dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 288. Otlohs und Johannes’ scheinbar gegensätzliche Zitate liegen näher beisammen, als man annehmen würde. Beide waren durch die Rezeption der neuplatonischen Schriften des sog. Pseudo-Dionysius Areopagita mit einander im Denken verbunden. Siehe unter anderem FREISE 1984: 468. 238 Isidor: Etymologiae, XI, cap. I, 14: Corpus dictum eo quod corruptum perit. Solubile enim atque mortale est, et aliquando solvendum. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 417. 239 Hrabanus Maurus: De universo, 102B: figuram mundi, id est, imaginem non substantiam, transituram. Dt. Übersetzung: „Die Gestalt der Welt, das ist das Bild nicht die Beschaffenheit, wird sich wandeln.“ An dieser Stelle sei an das Zitat aus den Confessiones des Augustinus erinnert, welches den Hauptteil dieser Arbeit einleitet. Auch Otto von Freising argumentiert in ähnlicher Weise. Siehe Otto von Freising: Chronica sive Historia, VIII, cap. 9, 600, 602.
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Differenzierung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren erfolgt gemäß der Autorität Gottes. Seine Ordnung ist bindend. Der Wandel ist gewollt und geschieht entsprechend seiner Idee. Quod Natura facit divinus perficit auctor; / Divinum creat ex nichilo, Natura caduca / Procreat ex aliquo; Deus imperat, illa ministrat; / Hic regit, illa facit.240 Die poetischen Verse des Alanus ab Insulis bestätigen beispielhaft die allgemeine Gültigkeit dieses Grundprinzips für die christliche Weltauslegung des Mittelalters. Durch das Erkennen der Veränderung manifestiert sich das Fortbestehen der Schöpfung und ermutigt schließlich zu einem Glauben an das Himmelreich. Die ontologische Sinnhaftigkeit von terra kann nicht losgelöst von der kosmologischen Verortung des Begriffs erfolgen. Bislang wurde vor allem die Bedeutung des Elements „Erde“ innerhalb dieser Weltordnung beleuchtet. Viel offensichtlicher und unmittelbar mit der Aufmerksamkeit des Menschen im Falle eines Erdbebens verknüpft ist aber die Bedeutung von terra als kosmologischer Sphäre. Die mittelalterliche Verortung dieses Begriffs ist erneut nicht von der christlichen Schöpfungslehre zu trennen. Als Gott in der Genesis das untere Chaoswasser sammelte und schließlich das Trockene sichtbar wurde,241 erschuf er eine bewohnbare Landmasse, die von terere abgeleitet – so zumindest die Herleitung Isidors – für ihren betretbaren242 Teil den Namen terra erhielt.243 Eingebettet in das aus der Antike übernommene mundus-Konzept244 entstand auf diese Weise das spezifische Weltbild des christlichen Mittelalters. In dieser Welt finden die einzelnen Sphären Himmel, Erde, Meer und Sterne ihren von Gott zugewiesenen Platz,245 so dass ein wohlgeordnetes Bild
240 Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, II, 75; dt. Übersetzung siehe Alanus ab Insulis: Anticlaudian, 126. Ebenso ableitbar aus Boethius: Philosophiae consolatio, III, cap. 9, M. IX, 51–52: O qui perpetua mundum ratione gubernas, / terrarum caelique sator, qui tempus ab aevo / ire iubes stabilisque manens das cuncta moveri, / quem non externae pepulerunt fingere causae / materiae fluitanis opus verum insita summi / forma boni livore carens, tu cuncta superno / ducis ab exemplo, pulchrum pulcherrimus ipse / mundum mente gerens similique in imagine formans / perfectasque iubens perfectum absolvere partes. / Tu numeris elementa ligas, ut frigore flammis / arida conveniant liquidis, ne purior ignis / evolet aut mersas deducant pondera terras. / Tu triplicis mediam naturae cuncta moventem / conectens animam per consona membra resolvis; / quae cum secta duos motum glomeravit in orbes, / in semet reditura meat mentemque profundam / circuit et simili convertit imagine caelum. Dt. Übersetzung siehe Boethius: Trost der Philosophie, 155, 157. 241 Gen 1, 9–10. 242 Hiermit ist der obere Teil der Erde gemeint, welcher in Abgrenzung zum unteren besteht und von Isidor mit humus bezeichnet wird. Siehe Isidor: Etymologiae, XIV, cap. I, 1: humus ab inferiori vel humida terra, ut sub mari. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 515. 243 Isidor: Etymologiae, XIV, cap. I, 1: nam terra dicta a superiori parte, qua teritur. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 515. 244 Siehe z. B. Platon: Timaeus a Calcidio translatus, 33b-c, 25 f.; MOXTER 2006: 538 f. 245 Isidor: Etymologiae, III, cap. XXIX: De mundo et eius nomine. Mundus est is qui constat ex caelo, [et] terra et mare cunctisque sideribus; ebd.: XIII, cap. 1, 1. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 141. Auch bei Beda: De natura rerum, cap. III, 194.
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Abb. 8: Verschiedene Aussagemöglichkeiten der kosmischen Sphäre terra, dargestellt mittels der Isagoge des Porphyrios.
entsteht.246 Terra ist als Heimstätte der Menschheit247 innerhalb dieses Konzepts mit vielen Eigenschaften des gleichnamigen Elements wesensgleich. Die Analogie zwischen beiden Seinsformen (Abb. 8) ist keineswegs zufällig, sondern durch die konzeptionelle Verwandtschaft beider zueinander bedingt. Quapropter omnia elementa omnibus inesse, sed unumquodque eorum ex eo quod amplius habet accepisse vocabulum.248 Auch wenn sich Isidor bezogen auf das Wort terra in seiner etymologischen Herleitung täuscht, so ist die mehrheitlich erfolgende Übertragung von Seinsmerkmalen durch das bestimmende Element terra durchaus einleuchtend. Inmitten des in ewiger kreisförmiger249 Bewegung begriffenen Kosmos250 bildet, wie schon im Spektrum der Elemente-Lehre dargelegt, terra den feststehenden Mit-
246 Die Schönheit der geordneten Welt ist der etymologische Ursprung des Wortes Kosmos. Siehe z. B. Beda: De natura rerum, cap. III, 194. Die Herleitung des Begriffs mundus von motus, wie bei Isidor zu lesen, ist indes nicht zutreffend. Vgl. Isidor: Etymologiae, III, cap. XXIX sowie XIII, cap. I, 1. 247 Boethius: Philosophiae consolatio, III, cap. 6, M. VI, 46: Ille homines etiam terris dedit. Dt. Übersetzung siehe Boethius: Trost der Philosophie, 139. 248 Isidor: Etymologiae, XIII, cap. III, 3. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 493. 249 Isidor: Etymologiae, III, cap. XXXII, 2; Beda: De natura rerum, cap. III, 194: terra, quae mundi media atque ima. Librata volubili circa eam universitate pendet immobilis. Dt. Übersetzung: „Die Erde, die die Mitte der Welt und das Unterste ist, hängt unbeweglich, während das Ganze sich gleichmäßig um sie herum dreht.“ 250 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 1441–1443, 49: Ut enim totus iste mundus sensibus apparens assiduo motu circa suum cardinem volvitur, circa terram dico; dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 76; Isidor: Etymologiae, XIII, cap. I, 1: Mundus Latine a philosophis dictus, quod in sempiterno motu sit, ut caelum, sol, luna, aer, maria. Nulla enim requies eius elementis concessa est, ideoque semper in motu est. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 491.
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telpunkt251 des Weltganzen. Dieser Zustand wird in analoger Weise aus der Eigenschaft der Schwere abgeleitet. Auch im großen Rahmen des geozentrisch angeordneten Kosmos strebt alles Dasein zur Mitte hin und bedingt, dass alles Gewicht auf der Erde selbst lastet.252 Das Erbe platonischer Philosophie ist in dieser Zuordnung besonders mächtig. Der durch die lateinische Übersetzung des Timaios dem Mittelalter tradierte Wissenshorizont der Antike rückt die Erde nicht nur in die Mitte des sogenannten Weltkörpers. Es erleichtert vielmehr die Vorstellung, eben jene mit der Weltseele selbst gleichzusetzen.253 Umso logischer erscheint demnach die Überlieferung der biblischen Schriften. Im himmlischen Gewölbe, das gemäß der Genesis durch die Trennung von oberem sowie unterem Wasser entstand,254 stellt die Erde das Zentrum des Kosmos dar. In Gänze unbeweglich hat sie, von Wasser umgeben, ihren Platz innerhalb der himmlischen Sphäre gefunden.255 Das zum Zweck der Veranschaulichung der augustinischen Zeichenlehre gewählte Beispiel aus den Enarrationes in Psalmos.256 dürfte angesichts dieser kosmologischen Ordnung noch einleuchtender die naturphilosophische Verbundenheit mittelalterlicher Argumentationsfindung vermitteln. Der Unterschied zum modernen Weltbild könnte kaum größer ausfallen. Aber nur die Annahme dieses Weltkonzepts kann die Grundlage für eine hinreichend zufriedenstellende Eruierung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs bilden. Es wird nämlich keineswegs die Erde als Planet im modernen Sinne verstanden, welche den Auswirkungen eines Erdbebens ausgesetzt ist. Die Lesart des Mittelalters nimmt als Ort des Spektakels alleine die feste von Menschen bewohnte Landmasse, den orbis terrarum, an.257 In seinem begrenzten und demnach endlichen Geltungsbereich ist der als terra bezeichnete Erdkörper überdies Auswirkungen anderer Sphären ausgesetzt. Indem
251 Isidor: Etymologiae, XIV, cap. I, 1: Terra est in media mundi regione posita, omnibus partibus caeli in modum centri aequali intervallo consistens. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 515. 252 Wilhelm von Conches: Philosophia, IV, cap. I, § 5, 89. 253 Platon: Timaeus a Calcidio translatus, 34b, 26: Animam vero in medietate eius locavit eandemque per omnem globum aequaliter porrigi iussit, quo tectis interioribus partibus extima quoque totius corporis ambitu animae circumdarentur; dt. Übersetzung siehe Platon: Timaios, 47; ebd.: 36b, 28; Boethius: Philosophiae consolatio, III, cap. 9, M. IX, 52. 254 Gen 1, 6–7. 255 Isidor: Etymologiae, III, cap. XXXII, 1; ebenso Hrabanus Maurus: De universo, 331A. 256 Siehe Kapitel III. 1. 1. 3. 257 Diese Vorstellung wird maßgeblich durch die biblischen Schriften genährt, wie sie z. B. in Ps 76, 17–19 artikuliert wird. Für den Fall, dass eine Erschütterung den orbis terrarum überschritt, wie z. B. bei den kosmischen Erdbeben der Heiligen Schrift, wurde dies auch so formuliert. Siehe Hebr 12,26: et ego movebo non solum terram, sed et cælum. Ebenso: II Sam 22, 8; Sir 16, 18; Jes 13, 13; Joel 2, 10; Hag 2, 7.
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Wasser die Erde umgibt und auch durchfließt,258 wird nicht nur die Grundbedingung des Lebens geschaffen.259 Es vollziehen sich auch jene Änderungen des natürlichen Zustands, welche eben dazu führen, dass die Trockenheit der Erde durch die Feuchte des Wassers genährt wird.260 Hier beginnt jener Kreislauf des Werdens, den schon Platon beschreibt.261 Mehr noch: In der gegenseitigen Einwirkung der irdischen Sphären findet die mittelalterliche Erdbebentheorie ihren maßgeblichen Anknüpfungspunkt. Nicht in den biblischen Schriften, sondern in der Rezeption von Plinius und Lucretius erfährt die naturkundliche Betrachtung ihre glaubwürdige Entsprechung. Die Homogenität innerhalb des antiken Wissens war wohl auch für Isidor einleuchtend. Seine bekannte Zuordnung262 sollte über Jahrhunderte hinweg ihre allgemeine Gültigkeit bewahren. Von einer christlich überformten Naturphilosophie, wie sie gerade den Begriff terra einnimmt, ist die mittelalterliche Erdbebentheorie hingegen kaum beeinflusst. In ihrer uniformen Rezeption durch die zeitgenössische Enzyklopädik bildet sie wohl gerade deshalb einen merkbaren Fremdkörper. Die eigentliche intellektuelle Auseinandersetzung des vorscholastischen Mittelalters über das Faktum Erdbeben fand in anderen Quellengattungen statt. Für die Rekonstruktion des authentischen mittelalterlichen Wissens- und Vorstellungshorizonts ist deshalb vor allem die exegetische sowie liturgische Literatur der Patristik und Kirchenlehrerzeit maßgebend. Dies wird das Kapitel zum biblischen Erdbebenbegriff unterstreichen.263
1.2 Zweites Zwischenfazit Es dürfte eine große „systemimmanente“ Gemeinsamkeit aufgefallen sein. Die beiden ontologischen Seinsformen, für die der Begriff terra gefunden wurde, repräsentieren, gemessen an ihren spezifischen Eigenschaften, den Gedanken der Einheit. Die neuplatonische Philosophie als Ursprung dieser als Wesensgleichheit von
258 Beda: De natura rerum, cap. III, 194. 259 Isidor: Etymologiae, XIV, cap. I, 2. 260 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, I. 2380–2381, 77. 261 Platon: Timaeus a Calcidio translatus, 49b-c, 46–47: Principio ut de aqua, cuius modo fecimus mentionem, ordiamur: cum astringitur in glaciem, certe saxum terrenaeque soliditatis corpus et minime fusile apparet, eadem haec ignita et diffluens discretaque varie in humorem, spiritum et aereas auras dissolvitur; aer porro exustus ignem creat rursumque extinctus ignis aera corpulentior factus instituit, aer item crassior factus in nubes nebulasque concrescit, quibus elisis et expressis pluviae stagnorumque et fontium largitas demumque ex aqua terrenae moles aggerantur. Atque ita circuitu quodam vires fomentaque generationis corporibus invicem sibi mutuantibus. Dt. Übersetzungen siehe Platon: Timaios, 87. 262 Isidor: Etymologiae, XIV, cap. I, 2–3. 263 Siehe Kapitel IV.
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Mikro- und Makrokosmos zu beschreibenden Weltordnung prägte hier nachhaltig das Denken des gesamten Mittelalters. Ausgehend von den aus der Antike hinübergeretteten Grundlagen in Logik und Naturphilosophie wurde versucht, ein spezifisches Bild mittelalterlichen Denkens zu rekonstruieren. Es zeigt sich, dass mit den im Trivium erlernten Mitteln eine Kategorisierung hinsichtlich der ontologischen, aussagen- und urteilslogischen Verfassung des Begriffs terrae motus in den Möglichkeiten der Zeit lag. Hierbei war es zunächst grundlegend erforderlich, den Geltungsbereich der logischen Begriffe zu eruieren. Dieses Vorhaben erwies sich aufgrund der besonderen Weltsicht des neuplatonisch geprägten Frühmittelalters als besonders anspruchsvoll. Die Abgrenzung zwischen mundus sensibilis und mundus intelligibilis, wie sie für das Denken der Zeit bestimmend war, konnte nicht ohne eine Bezugnahme auf den sogenannten Universalienstreit erfolgen. Eine Annäherung an den mittelalterlichen Erdbebenbegriff wäre anders nicht erfolgversprechend, da das Mittelalter gerade über diese Diskussion die Beschaffenheit ihrer Weltordnung zu klären versuchte. Ein ähnlicher Stellenwert kann auch der Zeichenlehre des Augustinus zugesprochen werden. Das Wissen um ihre Funktionsweisen ist der erkenntnistheoretische Kompass des Mittelalters. Sie bestimmt jene besondere methodisch-exegetische Weltsicht, für die innerhalb moderner Wissenschaftlichkeit das Wort Hermeneutik gefunden wurde. Dieser spezifischen Handlungsanweisung des Denkens konnte sich ebenfalls die Verwendung des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs nicht entziehen. Um die bisher genannten Aspekte miteinander in Einklang zu bringen, konnte das formallogische Werkzeug der Isagoge des Porphyrios als wohl dienlichstes Instrument der Zeit erkannt werden. Mittels seiner Anwendung versuchte das Mittelalter, antike Logik und Naturphilosophie mit christlichen Glaubensvorstellungen zu verbinden, wie der Universalienstreit zeigt. Aus der ontologischen Bestimmung der Substanz terra, in Gestalt ihrer spezifischen Ausformungen als Element sowie als kosmischer Erdkörper, wurde eine konzeptionelle Hinführung bereitet. Erst zusammen mit einer Erläuterung des ebenfalls vielschichtigen motus-Begriffs erscheint eine aussagen- sowie urteilslogische Untersuchung nachvollziehbar. Durch die Definition von terra als Substanz sowie motus als Akzidenz wurde ein Prinzip mittelalterlicher Naturvorstellung verdeutlicht. Die in Tradition aristotelischer Logik als Substanz-Akzidenz-Verhältnis erkannte Wechselwirkung der beiden ontologischen Einheiten terra und motus entfaltet eine große Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten. So konnte nicht nur terra als aussagenlogische Bezeichnung für zwei Kategorien umrissen werden. Vielmehr zeichnet sich gerade auch motus durch eine duale Wirkweise aus. Als zentrales ontologisches Prinzip des Werdens und Vergehens beschreibt es nicht nur das Entstehen des Subjekts Erde, sei es nun als Element oder als kosmischen Körper, es determiniert ebenso das allgemeine Moment der Veränderung. Hier findet sich der urteilslogische Übergang. Die Bewegung der Erde wird ausge-
2 Die grammatische Konstitution des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs
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drückt durch die aussagenlogisch festgelegten Größen terra und motus. Die in ihrer Beschaffenheit als ruhend beschriebene Erde wird durch ihren logischen Antagonisten motus in Bewegung gesetzt. Die nachgewiesene logische Konstitution des Terminus terrae motus, welche unmittelbar mit der sprachlichen Normierung des Begriffs als allgemeine Formulierungsgewohnheit einhergegangen sein dürfte, öffnet die Tore für die weitere Untersuchung. Das Wissen um die urteilslogische Übereinkunft, d. h. die kodierte Vielheit der Aussagenmöglichkeiten in der Formulierung selbst, wird es erleichtern, nicht nur die rein grammatische Bildung von terrae motus zu verstehen. Die in sich logische Ordnung des Begriffs bildet das argumentative Fundament. In diesem wird die mittelalterliche Topik, per definitiones, den Sitz ihrer Argumente finden. Die Exegese sowie die Geschichtsschreibung des Mittelalters sind in diesem Sinne geprägt.
2 Die grammatische Konstitution des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs 2.1 Terrae motus im Kontext seiner grammatischen Entstehung Wenn der interessierte Leser eine deutsche Übersetzung eines lateinischen Werkes aus der Antike oder dem Mittelalter aufschlägt, so liest er im Fall eines seismischen Ereignisses stets von einem „Erdbeben“. Der Informationstransfer scheint an dieser Stelle unmittelbar gegeben. Die große Fülle an lateinischen Beschreibungsformen fällt jedoch oftmals der Übersetzung zum Opfer. Die Vielschichtigkeit im inhaltlichen Ausdruck geht zu Lasten einer Vereinfachung, die für viele Leser vernachlässigbar oder weniger gewichtig erscheint, da sie den eigentlichen Inhalt – nämlich, dass ein Erdbeben stattgefunden hat – nicht weiter berührt. Für die Eruierung des zeitgenössischen Verständnisses von Erdbeben ist diese Verallgemeinerung jedoch nicht ausreichend. Das Wort „Erdbeben“ ist keineswegs mit dem lateinischen Ausdruck terrae motus gleichzusetzen. Die Herkunft beider Begriffe ist verschieden. Sie steht durchaus exemplarisch für den Unterschied zwischen indogermanischen und romanischen Sprachen. Es verdeutlicht sich hier zudem die spezifische spätantikmittelalterliche Bedeutung des Terminus terrae motus. Etymologisch sind beide Ausdrücke unterschiedlich zu bewerten. Gleichwohl sind sie aufgrund ihrer ähnlichen grammatischen Bildung miteinander verwandt. Zunächst ist auffällig, dass für das deutsche Substantiv „Erdbeben“ im klassischen Latein ein Syntagma,264 also die zusammengesetzte Konstruktion der zwei Substantive terra und motus,
264 WOLF 1987: 315.
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notwendig ist. Erst später, im Verlauf des Mittelalters, wurde ein verbundener Begriff terraemotus bzw. terremotus üblich, der jedoch parallel zur nach wie vor gebrauchten getrennten Schreibweise terrae motus in den Sprachgebrauch übergeht. Diese spezifische Schreibweise findet sich in insgesamt 67 Quellen des Überlieferungszusammenhangs.265 Wobei die Beliebtheit des verbundenen Terminus regional verschieden ist und durchaus als eine Gewohnheit in flämisch-wallonischen und Kölner Quellen266 sowie von sächsischen,267 bayerischen268 und italienischen269 Autoren auffällt. „Die Bewegung der Erde“, so die wörtliche Übersetzung von terrae motus, lenkt die Aufmerksamkeit zurück auf die bereits ausführlich erläuterte formallogische Funktion der Akzidenz. Terra als klassisches Substantiv, der Substanz gleichbedeutend, hat alleinstehend keinerlei Qualitäten beschreibende Eigenschaften. Um als Aussage verbindlich zu gelten, d. h. darauf hinzuweisen, was genau geschieht, benötigt es die Verbindung mit einem tätigkeitsbestimmenden Verb.270 Die Zeichenfunktion von Verben, mittels derer sich Menschen ihre Überlegungen gegenseitig zeigen, wie es unter anderem Isidor271 definierte, ist somit als aussagenlogisches Mittel272 bestimmend. Zur terminologischen Begriffsbildung ist es zweckdienlich, den Geschehenshergang betonenden Charakter des
265 25 Schreibweisen entstammen aus unselbständig verfassten Quellen. 266 Sigebert von Gembloux: Chronographia: 338, 364, 367; Anselm von Gembloux: Continuatio Chronicon Sigeberti, 376, 378; Annales Elnonenses: 153; Annales Blandinienses: 22, 29; Annales Elmarenses: 87, 94, 114; Annales Floreffienses: 624, 625; Annalium Leodiensium continuatio: 30; Annales Colonienses breves: 730; Annales Brunwilarenses: 726; Chronica regia Coloniensis: 192; Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252; Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, 1994. 267 Annales Hildesheimenses: 32, 64; Annales Corbeienses (ed. PRINZ): 126; Annales Corbeienses: 59. 268 Annales Ratisponenses: 584, 590; Ex Chronographia Heimonis presbyteri Sancti Michaelis Babenbergensis, 3; Annales Caesarienses: 28, 29; Annales Osterhovenses (= Chronicon Osterhoviense): 542, 545. 269 Annales Brixienses: 812; Annales Venetici breves: 71; Guido von Pisa: Notula, 285 f.; Chronica monasterii Casinensis: 464, 524; Chronica romanorum pp. et imperatorum (Cronica S. Mariae de Ferraria): 16. 270 Isidor: Etymologiae, I, cap. IX, 1: Sicut autem nomen significat personam, ita verbum factum dictumque personae. In persona verbi agentis et patientis significatio est. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 32; Beda: De orthographia, 57; Apuleius von Madaura: Peri Hermeneias, IV, 193; Donat: Ars maior, 79; Donat: Ars minor, 65. Mit Verweis auf Cicero siehe Augustinus: De magistro, cap. V (16.), 175: Ergo si dicerem sedet tantum aut currit tantum, recte a me quaereres quis vel quid, ut responderem „homo“ vel „equus“ vel „animal“ vel quodlibet aliud, quo posset nomen redditum verbo implere pronuntiatum, id est illam sententiam, quae affirmari et negari potest. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Über den Lehrer, 51. 271 Isidor: Etymologiae, I, cap. IX, 1: Sunt autem verba mentis signa, quibus homines cogitationes suas invicem loquendo demonstrant; dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie, 32; siehe ebenso Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 3. 11, 349 f. 272 Aristoteles: De interpretatione vel Periermenias, 3, 16b10-12, 7.
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Verbes und somit die Kraft der Sprache, wie es Quintilian ausdrückt,273 auf Substantive zu übertragen,274 um eine Formalisierung von Sachverhalten zu befördern. Dieser Aspekt betrifft das Substantiv motus, das keineswegs im herkömmlichen Sinne einen Gegenstand bezeichnet, sondern durch die Substantivierung des Verbes movere275 dessen Eigenschaften auf sich ableitet. Allerdings verliert das alleinstehende Verbalsubstantiv motus – wie auch terra – seine Ausdruckskraft und lässt keine Rückschlüsse auf seine Wesensart und Zielrichtung zu.276 Die Qualität, sprich die Festlegung der Beschaffenheit eines Faktums,277 fehlt in diesem Zusammenhang ebenso wie die Erkenntnis, was unter „Bewegung“ konkret zu verstehen sei. Die strukturelle Abhängigkeit beider Begriffe voneinander zeigt sich schließlich in der morphologischen Struktur, mit der das Syntagma terrae motus in den allgemeinen Sprachgebrauch des Mittelalters überging. Die spezifische Bedeutung von motus benötigt zur Sichtbarmachung seiner Wirkung ein Attribut. Die Zielrichtung seiner Handlung vergegenständlicht sich in terrae, das als genitivus subiectivus278 nicht nur von dem Nominativ motus abhängig ist,279 sondern weiterhin die Ursache des Geschehens anzeigt. Die grammatische Aussage bedeutet somit primär, dass es das Subjekt Erde ist, auf welches im konkreten Fall eingewirkt wird.280 Erst durch das Prädikatsnomen motus wird also ersichtlich, was überhaupt mit der Erde geschieht: Sie gerät in Bewegung. Das vorliegende Beispiel hat die logische Grundstruktur der lateinischen Sprache erneut eindrücklich bestätigt. GADAMERS Analyse, dass „nur eine auf die Logik gerichtete Grammatik [. . .] die eigentliche Bedeutung des Wortes von seiner übertragenen Bedeutung unterscheiden [wird]“,281 ist somit insbesondere vor dem Hintergrund des im Begriff terrae motus verborgen liegenden mittelalterlichen
273 Quintilianus: Institutio oratoria, IX, 4. 26: in verbis enim sermonis vis est. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, II, 375. 274 Siehe SOMMERFELDT, SCHREIBER 1983: 37. 275 Dies wird unter anderem durch die Zugehörigkeit von motus zur u-Deklination angezeigt, welche maßgeblich Substantivierungen von Sinneseindrücken, Beobachtungen und Bewegungen beinhaltet. Siehe ALSDORF-BOLLÉE 1970: 40 f., 44. Hinsichtlich der argumentativen Praxis, die eine Beweisfindung – sprich einem Topos – aus der Verwandtschaft beschreibt, siehe Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 3. 15, 374. 276 Siehe diesbezüglich ebenfalls die Ausführungen zum spätmittelalterlichen Bewegungsbegriff bei LALLA 2003: 150. 277 Martianus Capella: De nuptiis, IV. 363, 118: Qualitas est, secundum quam dicimus quale est. Dt. Übersetzung siehe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur, 132. 278 Zur Funktion des genitivus subiectivus siehe z. B. HELMS 1991: 73; SCHLÜTER, STEINICKE 1997: § 43, 45; ebenso WOLF 1987: 315. 279 Zur Deklination nominaler Syntagmata äußerte sich bereits Dona: Ars maior, 63. 280 Zur Subjektbezogenheit von Substantiven der u-Deklination siehe ebenso ALSDORF-BOLLÉE 1970: 41. 281 GADAMER 2010: 436.
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Auslegungspotentials in Erinnerung zu behalten. Vorrangig machen die Worte des berühmten deutschen Philosophen aber die Notwendigkeit einer grammatischen Untersuchung deutlich. In der Bildung des lateinischen Erdbebenbegriffs findet diejenige These ihre Versicherung, wonach die Mittel zur formallogischen Darstellung von sinnlich Wahrgenommenen in Sprache und besonders im Lateinischen vorhanden sind.282 Die menschliche Interpretation von Ursache und Folge einer Beobachtung können demnach zumindest formal durch die hierarchische Struktur der Grammatik abgebildet werden. Der Begriff terrae motus bzw. terraemotus unterstreicht, wie die gegenseitige grammatische Bezugnahme und Abhängigkeit zweier Wörter zum Sinnbild einer Welterklärung wird und in seiner Wertigkeit menschliche Wahrnehmung speichert, tradiert sowie zur erneuten Anwendung verfügbar macht.
2.2 Wenn „Erdbeben“ nicht gleich „Erdbeben“ bedeutet – Der lateinische Erdbebenbegriff und seine althochdeutschen Entsprechungen Das Substantiv „Erdbeben“ sei keineswegs mit dem lateinischen Ausdruck terrae motus gleichzusetzen, hieß es zu Beginn des vorangehenden Kapitels. Die Untersuchung des lateinischen Terminus konnte diese semantische und morphologische Annahme bestätigen. Übertragen auf das grammatische Arrangement von Wörtern und Wortgruppen stellt sich anhand der deutschen Entsprechung für die lateinische Formulierung terrae motus die Frage, ob die von Sprache getragene Sichtweise eines gleichen Sachverhalts aus einer grammatischen sowie etymologischen Perspektive verschieden ausfallen kann. Aus einem Vergleich beider Begriffe wird ersichtlich, dass auch das Wort „Erdbeben“ aus der Substantivierung eines Verbes hervorgegangen ist. Die erste volkssprachlich überlieferte Erwähnung des Begriffs, enthalten im Althochdeutschen Tatian283 aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhundert, belegt aber die Unterschiede. Als der bekannte ostfränkische Metropolit Hrabanus Maurus als Abt des Klosters Fulda wirkte, begannen dort zahlreiche unbekannte Schreiber eine althochdeutsche Übersetzung der antiken Evangelienharmonie Diatessaron des syrischen Christen Tatian anzufertigen.284 Konzipiert als eine eigenständige, auf den vier Evangelien aufbauende chronikalische Zusammenfassung des Lebens Jesu war dessen Werk in Fulda bereits in einer lateinischen Übersetzung verfügbar, die im sogenannten BonifatiusCodex des Bischofs Victor von Capua vermutet wird.285 Die Fuldaer Mönche stellten
282 Diesbezüglich siehe z. B. Libellus Scolasticus: 68. 283 Siehe St. Gallen, StiftsB., Cod. 56; SEEBOLD et al. 2008: 260. 284 KARTSCHOKE 2009: 489; Tatian: 33; zur Auflistung der Schreiber siehe ebd.: 31. 285 KARTSCHOKE 2009: 489; GANSWEIDT 2009: 130; Hessische Landesbibliothek Fulda, Cod. Bonif. 1 (Victor-Codex); siehe ebenfalls Tatian: 33 f.
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eine korrigierte lateinische Fassung dieses Textes ihrer althochdeutschen Übersetzung gegenüber.286 In einer aus dem Lukas-Evangelium entnommenen Passage heißt es in der volkssprachlichen Übersetzung inti sint thanne suhti Inti hungara inti erdbibunga.287 In marginaler orthographischer Abänderung zum vorher arbeitenden Schreiber ζ formuliert der Autor δ′ der Tatian-Übersetzung hinsichtlich des Erdbebenbegriffs an späterer Stelle: Inti sinu tho erhtbibunga uuas giuuortan michil.288 Den hier verwendeten Terminus erdbibunga bzw. erhtbibunga wandelt wenige Jahrzehnte später Otfrid von Weißenburg in seinem althochdeutschen Bibelepos Liber evangeliorum289 zu einem érdbiba290 ab. Beide Wörter haben den gleichen Ursprung. Während sich Ersteres morphologisch aus dem Substantiv erda sowie dem durch das Suffix unga gekennzeichneten substantivierten Verb biben zusammensetzt,291 verzichtet Letzteres auf die explizite Endung. Ursächlich könnte hierfür der ältere Gebrauch der alleinstehenden Substantive biben bzw. biba sein, welche bereits seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts belegt sind.292 Beide zitierten Quellen zeigen, dass das Wort movere und demnach der Bewegungsaspekt eines Gegenstandes nicht den Ausgangspunkt der althochdeutschen Erdbebenbegriffe erdbibunga und érdbiba bildet. Das charakteristisch angewendete biben verweist vielmehr auf das Erschütterungsmoment, das Erzittern und Beben, welches im Lateinischen durch tremere bzw. das Substantiv tremor ausgedrückt wird.293 Im Verlauf des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verstetigte sich diese Begriffsbildung schließlich in den deutschen Termini ertbidem bzw. erdbidem.294 Die Gewohnheit, den Sachverhalt eines eingetretenen Erdbebens mit unterschiedlichen Begriffen zu benennen, ist nicht ausschließlich klassischen lateinischen Texten vorbehalten. Auch für das Althochdeutsche ist dieser universale Aspekt der Sprache belegt. Neben dem zitierten erdbibunga sind im Althochdeutschen Tatian zwei weitere, morphologisch miteinander eng verwandte Varianten überliefert. In der Übersetzung von aus dem Matthäus-Evangelium entnommenen
286 KARTSCHOKE 2009: 489. Achim MASSER, der Herausgeber der aktuellen Ausgabe des Althochdeutschen Tatian, geht hingegen von einer wortwörtlichen Abschrift des Bonifatius-Codex durch die Fuldaer Mönche aus. Siehe Tatian: 33 f. 287 Tatian: 513, [251], V. 9–10. 288 Tatian: 657, [323], V. 28–29. 289 ERNST 2009: 1557. 290 Otfrid von Weissenburg: Otfrids Evangelienbuch, V, cap. 4. 21, 221. 291 WOLF 1987: 315. Zur Verwendung des althochdeutschen Suffix „unga“, maßgeblich in Bezug auf den Tatian, siehe DITTMER 1987: 290–304, bes. 299, 301. Siehe ebenfalls LLOYD et al. 1998: 9–12, 1118, 1120. 292 Siehe SEEBOLD et al. 2001: 87; SEEBOLD et al. 2008: 166. Im Mittelhochdeutschen ist ebenfalls die Bezeichnung bibenôt noch gebräuchlich. Siehe MICHELS 1979: 57. 293 SEEBOLD et al. 2008: 166; siehe ebenso LLOYD et al. 1998: 9–10. 294 PAUL 2002: 285.
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Passagen heißt es in der Beschreibung des Kreuzestodes Jesu: Inti erda giruorit uuas295 sowie kurz darauffolgend ther hunteri Inti thie imo uuarun bihaltenti then heilant gisehenemo erdgiruornessi Inti then dar uuarun forhtun in thrato.296 Im lateinischen Matthäus-Evangelium werden an entsprechender Stelle zwei Formulierungen verwendet, die grammatisch unterschiedlich gebildet werden. Im erstgenannten Zitat ist dies die biblische Vorlage terra mota est,297 eine Verbindung des im Nominativ stehenden Substantivs terra mit dem in der dritten Person Singular des im Partizip Perfect Passiv konjugierten Verbes movere. Im vorherigen Kapitel wurde dargelegt, dass diese Beschreibung als keineswegs typisch für den in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung verwendeten Erdbebenbegriff anzusehen ist. Es wird sich zeigen, dass die althochdeutsche Übersetzung in diesem Beispiel getreu der lateinischen Vorlage folgt. Die Verwendung des Substantivs erda sowie die des konjugierten Verbs giruorit finden schließlich ihre gemeinsame Entsprechung in dem zusammengesetzten Substantiv erdgiruornessi, womit der im Matthäus-Evangelium unmittelbar folgende Begriff terraemotu298 in die althochdeutsche Volkssprache übertragen wurde. Im Gegensatz zu terrae mota est steht diese Variante vollständig in der bereits nachgewiesenen narrativen historiographischen Traditionsbildung. Der aus den Wörtern erda und giruornessi299 gebildete Ausdruck verkörpert somit im Gegensatz zu erdbibunga und érdbiba die wörtliche Übertragung der Erdbebenbeschreibung terrae motus. Mit giruornessi – der „Bewegung“ bzw. „Unruhe“300 – einer Ableitung aus dem schon im 8. Jahrhundert nachgewiesenen Substantiv ruoren,301 wird der spezifischen Bedeutung des lateinischen movere präziser entsprochen, als es in erwähnter Weise für das althochdeutsche Wort biben zutrifft. Die vier Beispiele aus dem Tatian veranschaulichen eindrücklich den Unterschied zwischen der volkssprachlichen und der lateinischen Anwendung verschiedener Erdbebenbegriffe. Eine erneute Betrachtung der Vorlage für die althochdeutsche Übersetzung inti sint thanne suhti inti hungara Inti erdbibunga thurah steti inti bruogon fon himile inti mihiliu zeichan,302 einem Auszug aus den synoptischen Endzeitreden des Lukas-Evangeliums, unterstreicht diese für die volksprachliche Bewertung des Erdbebenbegriffs wesentliche Annahme. Gemäß diesen Zeilen erläutert Jesus auf dem Ölberg seinen Jüngern die Vorzeichen des
295 Tatian: 647 [318], V. 21. 296 Tatian: 649 [319], V. 1–6. 297 Mt 27, 51. 298 Mt 27, 54: Centurio autem et qui cum eo erant custodientes Iesum viso terraemotu et his quae fiebant timuerunt valde dicentes vere Dei Filius erat iste. 299 DITTMER 1987: 297; LLOYD et al. 1998: 1122. 300 Siehe SEEBOLD et al. 2008: 693; LLOYD et al. 2009: 381. 301 SEEBOLD et al. 2001: 245. 302 Tatian: 513, [251], V. 9–12.
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Jüngsten Gerichts und somit die Kennzeichen seiner Wiederankunft: terraemotus magni erunt per loca et pestilentiae et fames terroresque de caelo et signa magna erunt.303 Die Übertragung im Tatian ist an dieser Stelle bemerkenswert und offenbart den Dualismus zwischen volkssprachlicher sowie lateinischsprachiger Praxis. Obwohl mit der Bezeichnung erdgiruornessi eine wörtliche Entsprechung des Lateinischen terrae motus bekannt war und später auch im selben Text angewendet wurde, zeichnet sich anhand dieser belegten Übersetzung die volksprachliche Übereinkunft, ab den althochdeutschen Begriff erdbibunga bereits im beginnenden 9. Jahrhundert als allgemeinverbindlich anzuerkennen. Die werkintern uneinheitlich gehandhabte Translation von terrae motus, welche an expliziter Stelle nicht auf den weitaus präziseren Begriff erdgiruornessi zurückgreift, wird gerade an den beiden übersetzten Passagen des Matthäus-Evangeliums offenkundig. Das Erdbeben zur Auferstehung Jesu, in der Bibel mit dem für das Mittelalter klassischem Wortlaut terraemotus factus est magnus304 beschrieben, wird im Althochdeutschen Tatian mit erhtbibunga uuas giuuortan michil305 dargelegt. Für diese, gerade für die vorliegende Untersuchung so essentielle Formulierung wurde also der Begriff erhtbibunga gewählt. Die ersten drei Übersetzungen der angeführten biblischen Erdbeben sind ein Werk des sogenannten Schreibers ζ.306 Die vierte Erwähnung verfasste hingegen der als Schreiber δ′307 identifizierte Mönch. Eine Gegenüberstellung beider Übertragungen offenbart einen wesentlichen Aspekt. Beide Erdbeben verweisen im Sinne der Heilsgeschichte auf den spirituell erhöhenden eschatologischen Sinngehalt des zukünftigen Jüngsten Gerichts. Sowohl in der Endzeitrede aus dem Lukas-Evangelium als auch die Kennzeichnung der Auferstehung Jesu im Matthäus-Evangelium werden von ζ und δ′ mit dem Begriff erdbibunga beschrieben. Gleichwohl erdgiruornessi eine weitaus präzisere Übersetzung von terrae motus als erdbibunga ist, wird dieses unmittelbar auf den Kreuzestod Jesu und somit seine Passion angewendet. Die klar erkennbare Funktion des Verbes movere in der Formulierung terra mota est dürfte sicherlich eine derartige Übertragung befördert haben. Anders als bei terrae motus hatte der Fuldaer Mönch ζ ein eindeutig definiertes Verb zu übersetzen, was er wortgetreu mit girouit angab. Die nur drei Verse später mittels der Wortschöpfung erdgiruornessi erneut erfolgte Übersetzung des von den römischen Wachen
303 Lk 21, 11; Im Gegensatz zur getrennten Schreibweise der Nova Vulgata, wird in der Vetus Vulgata und der Vulgata Clementina die Schreibweise terraemotus gewählt. Als Beispiel für die Vetus Vulgata siehe z. B. die St. Gallener Alkuin-Bibel (St. Gallen, StiftsB., Cod. 75, p. 732). Weiterhin Biblia Sacra juxta Vulgatam Clementinam. editio electronica: 766. 304 Mt 28, 2. 305 Tatian: 657, [323], V. 28–29. 306 Tatian: 512, 648. 307 Tatian: 656.
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nach dem Martyrium Christi wahrgenommenen Erdbebens sollte in diesem Entstehungskontext verstanden werden. Die erarbeiteten Ergebnisse lassen eine beachtliche Schlussfolgerung zu. Selbst im unmittelbaren Umfeld intellektuell und theologisch außergewöhnlich agierender Persönlichkeiten, wie es für das Kloster Fulda unter Hrabanus Maurus anzunehmen ist, reichte die Strahlkraft umfassender monastischer Bildung und für die Zeit beispielgebender Lateinkenntnisse nicht aus, um volkssprachliche Formulierungsgewohnheiten, wie erdbibunga, einzudämmen. Das Beispiel des Tatian belegt, wonach für die althochdeutsche Anwendung ein Begriff anderen Sinngehalts gewählt wurde, als es im Falle des mehrheitlich Lateinisch geprägten Schriftgebrauchs vielfach nachgewiesen ist. Indem Schreiber einen gleichen Sachverhalt in zwei unterschiedlichen Sprachen verschieden ausdrücken, verdeutlichen die jeweiligen Autoren des Althochdeutschen Tatian die hermeneutische Kraft, mit der die jeweils praktizierte Sprache das Denken bestimmt.308 Die Übersetzungspraxis der vier althochdeutschen Passagen lässt ebenso einen wichtigen Rückschluss zum lateinischen Erdbebenbegriff des Mittelalters zu. Stets diente die Formulierung terrae motus bzw. einmalig terra mota est als Vorlage für die Arbeit der Fuldaer Mönche. Es ist zwar zu bedenken, dass es sich beim Althochdeutschen Tatian um eine Kompilation der Evangelien handelt und somit der Gestaltungsspielraum des Übersetzers durch die Vulgata theologisch sowie sprachlich weitestgehend festgelegt war. Dennoch scheint der Begriff terrae motus zu Beginn des 9. Jahrhunderts bereits normiert gewesen zu sein. Allgemeinverständlich definiert er schon zu jener Zeit dasjenige, was im ostfränkischen Reichsteil als erdbibunga bzw. erdgiruornessi bezeichnet wurde und wir im modernen Deutschen als „Erdbeben“ kennen.
3 Das Streben nach Glaubwürdigkeit – Das rhetorische Erbe antiker Gerichtsrede in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung über Erdbeben nördlich der Alpen Die bisherige Untersuchung konnte die begriffs- und ideengeschichtlichen Provenienzen mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen innerhalb zeitgenössischer Annalistik sowie Historiographie nachweisen. Bei einer formgeschichtlichen Eruierung belegter Erdbebentermini darf die Diskussion jedoch nicht verbleiben. Eine Interpretation der für das Mittelalter als typisch belegten Erdbebenbeschreibungen hat ebenso eine Rekonstruktion der Aussageabsichten mittelalterlicher Geschichts-
308 Siehe diesbezüglich auch GADAMER 2010: 272, 392.
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schreiber anzustreben. Deswegen schloss sich im zweiten Abschnitt dieser Arbeit die Diskussion der formallogischen Beschaffenheit sowie der grammatischen Konstitution des mittelalterlichen Terminus terra motus an. Wenn die überwiegend dem Klerus zugehörigen Gelehrten unserer Untersuchungszeit, sei es der karolingische Abt Walahfrid Strabo im Jahr 849,309 sei es der anonyme Autor der Annales Hildesheimenses zum Ereignis von 1021,310 eine Erschütterung der Erde in ein sprachliches Kleid webten, müssen deren Darstellungen in den Kontext vorhandener Schreibkompetenzen gesetzt werden. Die Berücksichtigung erworbener sowie praktizierter narrativer und argumentativer Techniken ist eine grundlegende Voraussetzung, um die Interessenlage zeitgenössischer Schreiber ableiten und differenzierte Aussagen zu mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen über den Gebrauch von konkreten Termini hinweg treffen zu können. Zunächst ist allerdings zu klären, ob die wirklichkeitsgetreue Darstellung der wahrgenommenen Umwelt überhaupt als ein primäres Anliegen mittelalterlicher Autoren gezählt werden kann. Diese explizit realitätsbezogene Aussagefähigkeit mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen betrifft schließlich grundlegend die Parametrisierung vergangener seismischer Informationen in Form verlässlicher makroseismischer Intensitäten, praktikabler Lokalisierungen sowie vertrauenswürdiger Datierungen. Der Anwendungsbezug ist für die Katalogarbeit der Historischen Seismologie in diesem Aspekt unmittelbar betroffen. Auf die Diskussion des Berichtsanspruchs mittelalterlicher Geschichtsschreibung sowie die Ergründung jener sprachlichen Mittel und Werkzeuge, auf welche mittelalterliche Autoren zurückgriffen, um Erdbeben nach unserem heutigen Verständnis hinreichend präzise zu beschreiben, soll auf den nächsten Seiten eingegangen werden. Authentizität und Glaubwürdigkeit der Geschichtsdarstellung waren für Beda Venerabilis keine Nebensächlichkeit. In der Praefatio seiner für die mittelalterliche Geschichtsschreibung vorbildhaften Historia ecclesiastica gentis Anglorum lässt der Angelsachse keinen Zweifel aufkommen, dass die wahrheitsgemäße Aussage vertraulicher Zeugen das methodische Kernstück seiner Arbeitsweise darstellt. Vero ea quae certissima fidelium virorum adtestatione per me ipse cognoscere potui, sollerter adicere curaui.311 Die Quelle, als Grundlage des historischen Berichts,312 hat für
309 Walahfrid Strabo: Vademecum, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 878, 305: Anno ab incarnatione dni. DCCCXLVIIII. Terrae motus maximus factus est post primum gallorum cantum XII. kal. Mais. [sic!] die Saturnis et fuit diebus: et postea per interualla tamen sepe venit kl. iun. ipso anno prima mane die sabbato accidit. 310 Annales Hildesheimenses: 32: Anno imperii Heinrici 8, ind. 4, 1021 [. . .] Ingens terremotus in Boariae partibus 4. Id. Maii, hora 10. diei, feria 6. post ascensionem Domini contigit. 311 Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, 6; engl. Übersetzung siehe ebd.: 7. 312 Schon für die antike Geschichtsschreibung war dies selbstverständlich. Siehe Quintilianus: Institutio oratoria, V, 10. 19.
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Beda einen essentiellen Stellenwert. Seine Vorrede in der Historia ecclesiastica weiß auch hiervon zu berichten. Lectoremque suppliciter obsecro ut, siqua in his quae scripsimus aliter quam se veritas habet posita reppererit, non hoc nobis inputet, qui, quod vera lex historiae est, simpliciter ea quae fama vulgante collegimus ad instructionem posteritatis litteris mandare studuimus.313
Der Wahrheitsanspruch, wie ihn Beda in diesen Zeilen proklamiert, definiert grundlegend das Wesen und die Bestimmung mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Als pädagogisches Überzeugungsmedium dient sie schließlich zur Unterscheidung von Gut und Böse, um dem Adressaten Wege der Nachahmung oder Besserung aufzuzeigen.314 Gleichzeitig formuliert Beda in seinem dem heiligen Hieronymus315 entlehnten Ausspruch vera lex historia einen Maßstab für die Glaubwürdigkeit von Geschichtsschreibung. Zusätzlich benennt das „Gesetz der Geschichte“ auf einer technischen Ebene die Ursprünge einer eklektizistischen Disziplin, welche die sprachliche Verbindlichkeit der Grammatik mit den Mitteln der Stoffauffindung und Tatsachenschilderung der Gerichtsrede verband, um sie je nach Anlass mit einer eloquenten Rhetorik zu überliefern.316 Bedas Betonung der Zeugenschaft definiert ein maßgebliches Instrument, welches die mittelalterliche Geschichtsschreibung aus der antiken Rhetoriklehre, im speziellen der Gerichtsrede, in ihr eigenes Lehrgebäude übernahm. Die Definition der eigenen Arbeitstechnik reflektiert hierbei den Kanon jener rhetorischen Schriften, die den Wissensverlust nach dem Untergang des Weströmischen Reiches überstanden und als Schullektüre im Rahmen des Triviums dienten. Der Schwerpunkt dieser Schriften, sei es Ciceros De inventione oder sei es die Rhetorica ad Herennium, lag hierbei auf einer Inhaltsvermittlung anhand der rhetorischen Gattung der Gerichtsrede.317 Die maßgebliche Reduzierung der schulrhetorischen Lektüre auf diesen Anwendungsbereich der Rhetorik bewirkte ein ins Hintertreffen kommen der beratenden sowie der lobenden Rede.318 Abzulesen ist diese inhaltliche Eingrenzung merklich an spätantiken und frühmittelalterlichen Arbeiten aus den Federn Martianus Capellas, Cassiodors, Alkuins oder eines Hrabanus Maurus.319
313 Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, 6; engl. Übersetzung siehe ebd.: 7. 314 Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, 2: Sive enim historia de bonis bona referat, ad imitandum bonum auditor sollicitus instigatur; seu mala commemoret de pravis, nihilominus religiosus ac pius auditor sive lector devitando quod noxium est ac perversum, ipse sollertius ad exsequenda ea quae bona ac Deo digna esse cognoverit, accenditur. Engl. Übersetzung siehe ebd.: 3. 315 Hieronymus: De perpetua virginitate B. Mariae, 187C. 316 Hierzu äußerte sich bereits Cicero: De oratore II, 15 (62–64), 128 f. 317 Siehe diesbezüglich MOOS 1988: 30. 318 Boethius: De topicis differentiis, 1207B, 1211B; Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 2. 2, 310; Isidor: Etymologiae, II, cap. IV, 1; Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 5, 526. 319 Siehe unter anderem HOHMANN 1996: 791 f.; siehe auch ARBUSOW 1963: 11–14.
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Die narratio, sowie ihr Ausdruck in Gestalt der res gestae,320 praktiziert der Redner gemäß der schulrhetorischen Definition innerhalb der inventio.321 Indem die Darstellung von Umständen und Taten322 als Aufgabenbereich der narratio in kurzer, klarer und wahrscheinlicher Weise323 zu erfolgen hat, ist der Glaubwürdigkeitsanspruch konzeptionell festgeschrieben. Die Forderungen probabilis,324 credibilis,325 veri similis,326 so die verschiedenen zeitgenössischen Terminologien für den glaubhaft darzustellenden Bericht der narratio, sollte indes keineswegs eine Gleichsetzung mit einem Wahrheitsanspruch der Darstellung intendieren. Die klassische Definition: narratio est rerum gestarum aut ut gestarum expositio,327 welche bis ins Mittelalter tradiert wurde,328 betont letztlich das ambivalente Wesen der Erzählung.329 Der Anspruch einer verbindlichen Schilderung wirklicher Ereignisse – wenn möglich in chronologischer Reihenfolge – wie sie für die historisch-kritische Bewertung mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen essentiell ist, gilt also nur für die historische Erzählung.330 Die Glaubwürdigkeit, selbst von tatsächlich geschehenen Dingen,331 ist stets an einen vorherrschenden Wissen- und Erfahrungshorizont gebunden. Diese allgemeinhin anerkannten öffentlichen Meinungen – auch als Endoxa geläufig – stellen
320 Rhetorica ad Herennium: I, cap. VIII, 22; Cicero: De inventione, I. 27, 59; Quintilianus: Institutio oratoria, II, 4. 2; Martianus Capella: De nuptiis, V. 550, 193; Priscian: Praeexercitamina, cap. 2, 552; siehe ebenfalls KNAPE 2003: 100. 321 LAUSBERG 1990: 147–149, 164; MELVILLE 1975: 43. 322 Cicero: De inventione, I. 26, 56; Rhetorica ad Herennium: III, cap. XIII, 156; Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 2. 31; Isidor: Etymologiae, I, cap. XLIV, 5. 323 Siehe unter anderem Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 2. 31; Martianus Capella: De nuptiis, V. 551, 193; Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 2. 2, 310; Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 22, 535. 324 Cicero: De inventione, I. 27, 60: Oportet igitur eam tres habere res: ut brevis, ut aperta, ut probabilis sit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 61. Ebenso Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 22, 535 f. 325 Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 2. 31: Neque enim refert, an pro lucida perspicuam, pro veri simili probabilem credibilemve dicamus. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, I, 449. 326 Rhetorica ad Herennium: I, cap. VIII, 22: Tres res convenit habere narrationem, ut brevis, ut dilucida, ut veri similis sit; Dt. Übersetzung siehe ebd.: 23; Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 2. 31. 327 Cicero: De inventione, I. 26, 56; dt. Übersetzung siehe ebd.: 57; siehe ebenso Rhetorica ad Herennium: III, cap. XIII, 156; Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 2. 31. 328 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 22, 535. 329 Hinsichtlich der verschiedenen Varianten der narratio, die im klassischen Sinne als eine tendenziöse Tatsachenschilderung bei Gerichtsverhandlungen verstanden wurde, siehe LAUSBERG 1990: 165–167. 330 Cicero: De inventione, I. 27, 58; ebd.: I. 29, 62; LAUSBERG 1990: 166. 331 Isidor: Etymologiae, I, cap. XLIV, 5.
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die urteilslogische Übereinkunft zwischen dem Autor und seinem Adressaten dar.332 Die Glaubwürdigkeit ist gemäß der mittelalterlichen Auffassung demnach auch abhängig von einem aus einer natürlichen Ordnung abgeleiteten Wertekanon.333 Probabilia sunt, quae fere fieri solent,334 wie Alkuin für seine Zeit argumentierte. Die kollektive Erfahrung gebiert somit eine Überzeugungskraft, die einen selbstverständlichen Zuspruch beim Publikum erwarten lässt, ohne dass es mitunter einer Bekräftigung durch Zeugen bedarf,335 zumal diese im klassischen Verständnis nicht den höchsten argumentativen Wert besitzt.336 Für die Wahrheit oder Fehlerhaftigkeit eines Arguments macht es demnach keinen Unterschied, ob dieses nur den Anschein der Wahrheit hat, wie schon Boethius zu berichten wusste.337 Solange die Darlegung zu überzeugen weiß und Zustimmung bei den Hörenden oder Lesenden findet, erfüllt sie eine elementare Anforderung der Rhetorik.338 Der Überzeugungsanspruch der Rhetorik und insbesondere die übernommenen Mittel der Gerichtsrede wirken sich dann als Problem auf die verschiedenen Ausdrucksformen mittelalterlicher Geschichtsschreibung aus, wenn das Streben nach Glaubwürdigkeit nicht an eine getreuliche Überlieferung tatsächlicher, vergangener Taten gebunden ist. Ohne diese Annahme würde schließlich jeglicher Berichtsan-
332 Siehe z. B. den von Boethius dargelegten Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Glaubwürdigen. Boethius: De topicis differentiis, 1181A-B. In dieser Weise ist auch die Aussage der Rhetorica ad Herennium: I, cap. IX, 26: nam saepe veritas, nisi haec servata sint, fidem non potest facere, zu verstehen. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 27. Zur Rolle des Endoxon siehe auch MOOS 1991: 712 f., 740 f. 333 Rhetorica ad Herennium: I, cap. VIII, 22; Cicero: De inventione, I. 29, 62, 64; Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 2. 52; Martianus Capella: De nuptiis, V. 551, 193; Cassiodor: Institutiones, Appendix A, 473. 334 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 29, 539; dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 114. 335 Cicero: De inventione, I. 48, 91: Credibile est, quod sine ullo teste auditoris opinione firmatur. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 92. 336 Rhetorica ad Herennium: II, cap. VII, 64. Hinsichtlich der Argumentation sind Zeugen deswegen als problematisch eingeschätzt worden, weil sie einen „Topos von außerhalb“ darstellen. Die Argumentation wird somit nicht aus dem Sachverhalt selbst hergeleitet. Siehe diesbezüglich Boethius: De topicis differentiis, 1195A: Ex rei vero judicio quae sunt argumenta quasi testimonium praebent et sunt inartificiales loci, atque omnino disjuncti, nec rem potius quam judicium opinionemque sectantes. Sowie ebd.: 1199C-1200A. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 61. 337 Boethius: De topicis differentiis, 1180C-D: Probabile vero est quod videtur vel omnibus, vel pluribus, vel sapientibus, et his vel omnibus, vel pluribus, vel maxime notis atque praecipuis, [. . .] id praeterea quod videtur ei cum quo sermo conseritur, vel ipsi qui judicat, in quo nihil attinet verum falsumve sit argumentum, si tantum verisimilitudinem teneat. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 39. Ebenso Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 19, 534, 536; MOOS 1991: 725. 338 Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 2. 31; Boethius: De topicis differentiis, 1208D; Martianus Capella: De nuptiis, V. 439, 152; MESCH 2009: 859.
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spruch ins Leere laufen und die historica zur fabula verkommen.339 Die vera lex historia ist nicht zuletzt als hermeneutische Vorstufe der Argumentation zu verstehen.340 Als „Literalsinn“ bildet sie gleichsam das Fundament der juristischen Fallauslegung,341 wie auch für die theologische Exegese.342 Eine falsche Gründung gefährdet somit den Bestand des gesamten „Gebäudes“.343 Die systemische Gleichsetzung zwischen Historiker und Richter sowie von Buchstabe und Gesetz kommt daher nicht von ungefähr.344 Die Gelehrten des Mittelalters waren sich des Glaubwürdigkeitsproblems durchaus bewusst, das aus dem rhetorischen Postulat der Überzeugung erwächst.345 Das Wesen der Rhetorik, als „Mittel zum Zweck“ sowohl zum Guten als auch zum Schlechten zu überzeugen,346 führte schließlich zu jener Abwertung der rhetorischen Praxis als einer als ausgeufert wahrgenommen elocutio,347 die nur den Schein des Wahren vermittle. Das mittelalterliche Rhetorikverständnis ist gerade in diesem Aspekt nicht nur als Ergebnis abgebrochener Traditionslinien und begrenzter Überlieferung älterer Lehrbücher aufzufassen. Die Auswahl bestimmter rhetorischer Werkzeuge zur wirklichkeitsgetreuen Geschichtsdarstellung348 ist keineswegs zufällig geschehen. Dieser Vorgang markiert sehr wohl eine bewusste Abgrenzung des christlichen Mittelalters von einer zwar im Rahmen des Bibelverständnisses als nützlich empfundenen,349 darüber hinaus jedoch überwiegend als prinzipienlos
339 Isidor: Etymologiae, I, cap. XL, 1; ebd.: XLIV, 5; MOOS 1988: 60. 340 LAUSBERG 1990: 164. 341 Tertullian: Apologeticum, cap. XIX, 1. 5*, 120: Adeo respici potest tam iura vestra quam studia de lege deque divina doctrina concepisse. Frz. Übersetzung siehe Tertullien: Apologétique, 43. Noch immer zutreffend ist VIEHWEG 1953: 30, 37 f., 40, 43 f.; KNAPE 2003: 100–102. 342 Gregor der Große: Moralia in Iob (ep. ad Leandrum) 3, 4: Nam primum quidem fundamenta historiae ponimus; deinde per significationem typicam in arcem fidei fabricam mentis erigimus; ad extremum quoque per moralitatis gratiam, quasi superducto aedificium colore vestimus. Frz. Übersetzung siehe Grégoire le Grand: Morales sur Iob (I, II), 118. Für die Scholastik tradierte diesen Gedanken Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 3, 368; dt. Übersetzung siehe ebd.: 369. Siehe ebenso Hieronymus: Commentariorum in Esaiam, VI, praef., 223, Z. 1–10; NIEDERWIMMER 2006: 74, 76; OHLY 1958–1959: 10 f. 343 Anschaulich dargestellt bei Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 27, 572, welcher aus Lk 6, 47–49 zitiert. 344 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, V, cap. 4, 326; Hugo von St. Viktor: De tribus maximis, 491, Z. 4–5; HARTH 1996: 857. 345 Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 19, 534, 536; Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, III, 94: Quomodo sub brevibus verbis narratio verum / Explicat, aut latitans veri sub imagine falsum. Dt. Übersetzung siehe Alanus ab Insulis: Anticlaudian: 146. 346 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. II ( 3.), 117: Nam cum per artem rhetoricam et vera suadeantur et falsa. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 149. 347 KNAPE 2008: 56. 348 Siehe hierzu MELVILLE 1975: 45. 349 Z. B.: Cassiodor: Institutiones, 1, cap. 27. 1, 252; Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 2, 462; ebd.: 3, cap. 19, 534.
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verstandenen Rhetorik der heidnischen Antike.350 Die einfache Sprache der Heiligen Schrift, und mit ihr das universell praktizierte Kirchenlatein des Mittelalters, ist demnach mehr als nur ein stilistisches Merkmal.351 Die Aussage des reinen Buchstabens soll Glaubwürdigkeit und Transparenz verkörpern. Der Reiz der Sprache darf nicht ablenken von der aus dem Buchstaben hervorgehenden christlichen Botschaft.352 Insbesondere die Umdeutung der Allegorie von einem tropischen Ausdrucksmittel heidnischer Rhetorik353 hin zu einer Form christlicher Auslegung im Rahmen des vierfachen Schriftsinns spricht für diesen Paradigmenwechsel.354 Statt die Rede zu verschleiern und den Sinn zu verdunkeln,355 dient ihre christliche Transformation nun einer Erklärung der Geschichte sowie einer geistigen Erleuchtung.356 Als Kennzeichen einer christlichen Wahrheitsvorstellung steht diese Rhetoriktradition, wie sie uns in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung über Erdbeben begegnet, somit für eine konkrete Vermittlung inhaltlicher Botschaften.
3.1 Narratio und rhetorische Tatbestandsklärung – Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen als factum Während in der römischen Antike junge Schüler ihre rhetorischen Fähigkeiten unter anderem anhand von Geschichtserzählungen erprobten, brach diese Tradition
350 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. III (4. u. 5.), 117–119; cap. V. (7. u. 8.), 120 f. Dieser Aspekt gilt letztlich auch für die Dialektik. Siehe Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. XXXII (50.), 67. 351 Siehe diesbezüglich die Aussagen von Hieronymus und Augustinus. Hieronymus: Epistulae, LVII, cap. 12. 4, 525 f.: Venerationi mihi semper fuit non verbosa rusticitas, sed sancta simplicitas: qui in sermone imitari se dicit apostolos, prius imitetur in vita. Illorum in loquendo simplicitatem excusabat sanctimoniae magnitudo. Dt. Übersetzung siehe Hieronymus: Ausgewählte Briefe, 286; Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XIV (31.), 138: Linguam doctrinae christianae sanitas ab ista redundantia revocaverit et ad eloquentiam graviorem modestioremque restrinxerit. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 176. Auf die bewusste mittelalterliche Abweichung des Kirchenlateins vom klassischen Latein verweist auch BRINKMANN 1980: 26. 352 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XX (41.), 148: Sed cavendum est, ne divinis gravibusque sententiis, dum additur numerus, pondus detrahatur. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 188. Allgemeiner formuliert Hugo von St. Viktor: Didascalicon, III, cap. 6, 238. 353 FREYTAG 1992: 338, 341 f. 354 Besonders deutlich wird dies in Bedas Erläuterung der Allegorie, welche er zunächst als Trope darstellt, um anschließend die exegetische Bedeutung der Allegorie anzuschließen. Siehe Beda: De arte metrica et de schematibus et tropis, II, cap. II, XII, 161–169. 355 Hinsichtlich des Verständnisses der Allegorie als figürliche Rede siehe z. B. Quintilianus: Institutio oratoria, VIII, 6. 44; ebd.: VIII, 6. 52; Donat: Ars maior, 170. Im Hochmittelalter ist gerade für die Poetik Matthäus von Vendôme: Ars versificatoria, III. 43, 185 zu beachten. 356 Hinsichtlich einer patristischen Auslegung siehe Hieronymus: Commentarii in epistulam Pauli Apostoli ad Galatas, II, cap. 4. 24a, 139 f.; Gregor der Große: Moralia in Iob, XVIII, cap. XXXVIII (59.), 926; XVIII, cap. XXXIX (60.), 926; weiterhin OHLY 1958–1959: 9, 20; LUBAC 1959–1964: 648 f.
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für das lateinische Mittelalter weitestgehend ab.357 Eher schematisch wurden die Bestandteile der narratio innerhalb des Triviums vermittelt. Zumindest während des Frühmittelalters ist durch die Lektüre von Priscians Praeexerminata358 die Gegenwart von Vorübungen, sogenannter Progymnasmata, gewiss.359 Schulmäßig wurde hier geübt, dass eine überzeugende Darstellung Informationen über betroffene Personen, den Fall, die Art und Weise der Durchführung, den Ort, die Zeit sowie den Tatbestand selbst beinhalten sollte.360 Dass die ursprüngliche Motivation hinter diesen Elementen der narratio in der antiken Gerichtsrede liegt, dürfte unstrittig sein. Schließlich bezeichnet diese auch die erzählende Darstellung einer vergangenen Tathandlung.361 Bekanntlich macht erst die Bestimmung des juristischen Streitfalls, sprich die Ermittlung der beteiligten Personen, von Ursachen und Umständen, die eigentliche Tathandlung greifbar.362 Als Status-Lehre bekannt, erfolgt dieser erste Akt der Tatbestandsklärung im Rahmen einer strukturierten Fragestellung.363 Die Maßgabe einer strategischen Prozessführung im Sinne von Verteidigung oder Anklage, welche jeweils ihre Argumente in „Schlachtordnung“364 bringen muss, ist als Prämisse klar erkennbar. Sie ist aber nicht zwingend deckungsgleich mit den Prinzipien der Geschichtsschreibung. Dennoch ist in der Status-Lehre ein Vermögen zur stofflichen Erfassung und Auslegung vergangener Ereignisse enthalten,365 welches das methodische Werkzeug zu einer aussagefähigen Geschichtsvermittlung bereitstellt. Was der juristischen Falldarstellung dient, muss gerade auch für die gehaltvolle Überlieferung historischer Ereignisse gelten. Schließlich kann es keine Tat ohne Ort, Zeit, Möglichkeit, Methode und Sinn geben.366 Eben jene „Attribute
357 Quintilianus: Institutio oratoria, I, 9. 1; ebd.: II, 4. 2; KRAUS 2005: 159 f., 165. 358 Priscian: Praeexercitamina, cap. 2, 552. 359 KRAUS 2005: 165 f.; MOOS 1988: 31. 360 Martianus Capella: De nuptiis, V. 552, 194; Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 22, 536. Auf diese Bestandteile der Erzählung ging schon Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 2. 36 sowie IV, 2. 55 ein. 361 Martianus Capella: De nuptiis, V. 448, 155. 362 Quintilianus: Institutio oratoria, III, 6. 1–104, bes. 6. 1–2; ebenso ebd.: VII, 6. 12, und VII, 8. 3–5; Boethius: De topicis differentiis, 1209A, 1212C. 363 Die Status-Lehre geht auf Hermagoras von Temnos (2. Jh. v. Chr.) zurück. Durch methodisches Erfragen mittels des status coniecturae, status finitionis, status qualitatis, status translationis wird der eigentliche Streitfall geordnet und strategisch für die weitere Stoffauffindung und Argumentation vorbereitet. Siehe grundlegend: LAUSBERG 1990: 64–70; HOPPMANN 2007: 1327–1330. 364 LAUSBERG 1990: 65; HOPPMANN 2007: 1330. 365 Das hiermit angesprochene Erfragen nach dem ob etwas sei (an sit), was es ist (quid sit) und welche Qualität es aufweist (quale sit), ist auch Gegenstand in Augustinus’ Bekenntnissen. Siehe Confessiones X, cap. X (17.), 163. 366 Boethius: De topicis differentiis, 1213D: Factum enim praeter locum, tempus, occasionem, modum, facultatemque esse non poterit. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 91.
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der Tat“,367 wie sie Matthäus von Vendôme im Hochmittelalter benennt, dienen dazu, den historischen Sachverhalt als factum zu definieren und somit zu einem Teil der historischen Überlieferung werden zu lassen. Erforderlich ist hierfür eine strukturierte Fragestellung,368 welche ihren systematischen Ursprung in der antiken Topik, genauer in sogenannten „Suchformeln“, besitzt.369 Das methodische Erkundigen nach dem „Was“, „Wer“, „Warum“, „Wann“, „Wo“ und „Wie“ definiert in Boethius’ Worten eine Topik, die sich auf die „Umstände der Tat“ konzentriert.370 Mittels einer zielgerichteten Stoffauffindung aus den circumstantiae wird das factum für den Autor in der inventio und für den Leser in dessen narrativer Umsetzung klar erkennbar. Diese Umständetopik
367 Matthäus von Vendôme: Ars versificatoria, I. 113, 126: Siquidem in attributis negotio tempus et locus, quia sunt inseparabilia attributa negotio. Engl. Übersetzung siehe Matthew of Vendôme: Ars Versificatoria, 58. 368 Siehe hinsichtlich dessen auch Quintilians Aussage (Institutio oratoria, III, 6. 2): quod nos statum, id quidam constitutionem vocant, alii questionem, alii quod ex questione appareat. Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, III, 309. Ebenfalls BRINKMANN 1980: 6 f. 369 Quintilianus: Institutio oratoria, V, 10. 32: Nunc ad res transeo, in quibus maxime sunt personis iuncta quae agimus, ideoque prima tractanda. in omnibus porro, quae fiunt, quaeritur aut quare aut ubi aut quando aut quo modo aut per quae facta sunt? Dt. Übersetzung siehe Quintilianus: Ausbildung des Redners, I, 559. Siehe ebenso: Cicero: De inventione, I. 38, 78; ebenso WIEDEMANN 1981: 240; LAUSBERG 1990: 203. 370 Boethius: De topicis differentiis, 1212C-1213B: Has igitur circumstantias in gemina Cicero partitur, ut eam, quae est quis, circumstantiam in attributis personae ponat. Reliquas vero circumstantias in attributis negotio constituat. Et primam quidem ex circumstantiis eam, quae est quis, quoniam personae attribuit, secat in undecim partes: nomen ut Verres, naturam ut barbarus, victum ut amicus nobilium, fortunam ut dives, studium ut geometer, casum ut exsul, affectionem ut amans, habitum ut sapiens, consilium, facta, et orationes, ea quae extra illud factum dictumque sunt quod nunc in judicium devocatur. Reliquas vero circumstantias, quae sunt quid, cur, quomodo, ubi, quando, quibus auxiliis, in attributis negotio ponit; quid et cur, dicens continentia cum ipso negotio; cur in causa constituens: ea enim causa est uniuscujusque facti, propter quam factum est. Quid vero secat in quatuor partes: in summam facti, ut parentis occisio, ex hac maxime locus sumitur amplificationis; ante factum, ut concitus gladium rapuit; dum fit, vehementer percussit; post factum, in abdito sepelivit. Quae cum omnia sint facta, tamen quoniam ad gestum negotium de quo quaeritur pertinent, non sunt ea facta quae in attributis personae numerata sunt; illa enim extra negotium, de quo agitur posita, personam informantia, fidem ei negotio praestant de quo versatur intentio; haec vero facta quae continentia sunt cum ipso negotio, ad ipsum negotium de quo quaeritur pertinent. Postremas vero quatuor circumstantias Cicero ponit in gestione negotii, quae est secunda pars attributorum negotiis; et eam quidem circumstantiam, quae est quando, dividit in tempus, ut nocte fecit, et in occasionem, ut cunctis dormientibus; eam vero circumstantiam, quae est ubi, locum dicit, ut in cubiculo fecit, quomodo vero ex circumstantiis modum, ut clam fecit. Quibus auxiliis circumstantiam, facultatem appellat, ut cum multo exercitu. Quorum quidem locorum, etsi ex circumstantiarum natura discretio clara est, nos tamen benevolentius faciemus, si uberius eorum a se differentias ostendamus. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 89 f. Ebenfalls Isidor: Etymologiae, II, cap. XXX, 15; BRINKMANN 1980: 7.
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besaß ihre Wurzeln zwar in der Inhaltstopik der griechischen Antike,371 emanzipierte sich aber seit Cicero und Quintilian zu einer rhetorischen-materiellen und auf die Gerichtsverhandlung ausgerichteten Topik.372 Diese Gewichtung wird gerade an Boethius’ Trennung zwischen dialektischen und rhetorischen Topoi373 ersichtlich, welche sich für die weitere Entwicklung mittelalterlicher Topik als prägend erweisen sollte.374 Mittels dieser konkreten Form der rhetorischen Tatbestandserklärung liefern die loci somit die Argumente der eigentlichen „Er-Örterung“. Zahlreiche spätantike und frühmittelalterliche Gelehrte wie Martianus Capella, Isidor von Sevilla oder Alkuin375 bewahrten zumindest formal eine Erinnerung an die Gerichtsrede. Auch im Mittelalter war es Konsens, die narratio als Ausgangspunkt einer glaubwürdigen argumentatio aufzufassen. Allerdings führte das Verkümmern einer gewandt und flexibel agierenden rhetorischen Argumentationsfindung im Stile der klassisch-antiken Rhetoren im Zusammenspiel mit einer maßgeblich auf die Schriftauslegung gestützten Beweisführung zu einer tendenziellen Auflösung einer auf die inventio bezogenen Topik. Die elocutio als im theoretischen Sinne zu verstehende, nachgeordnete sprachliche Ausführung einer gedanklichen Stoffauffindung, Argumentation und Anordnung trat zunehmend an die Stelle der inventio selbst. Folglich wurde der Topos nicht mehr primär als Sitz des Arguments376 wahrgenommen. Die res gestae, also die Handlung bzw. die mitunter beispielhaft erfolgende Darstellung der Tat bzw. des Ereignisses, wurden somit selbst zum Topos.377
371 BORNSCHEUER 1976: 40; Quintilianus: Institutio oratoria, III, 6. 23–28. 372 Boethius: De topicis differentiis, 1212A; WIEDEMANN 1981: 240; ALLGAIER 1981: 264; BORNSCHEUER 1976: 70; OSTHEEREN 2009: 646, 657, 691 f. 373 Boethius nennt als rhetorischen Topos die Argumentationsfindung, welche in den Personen oder der Handlung liegt oder von außerhalb stammt, also aus dem Geschehenen selbst resultiert oder zwischen allen liegt. Siehe Boethius: De topicis differentiis, 1215B. 374 Sehr ausführlich OSTHEEREN 2009: 650–661; siehe weiterhin das in Anlehnung an Boethius formulierte Lehrbeispiel aus Matthäus von Vendôme: Ars versificatoria, I. 116, 128: Attributa vero tam negotii quam persone in hoc versiculo continentur: Quid, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando. Quis continet XI persone attributa; quid continet summam facti et triplicem negotii administrationem, scilicet ante rem et cum re et post rem; ubi, locum; quibus auxiliis, facultatem faciendi; cur, causam facti; quomodo, modum sive qualitatem; quando, tempus. Engl. Übersetzung siehe Matthew of Vendôme: Ars Versificatoria, 59. 375 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 6, 527: Plenaria causa septem habet circumstantias, personam, factum, tempus, locum, modum, occasionem, facultatem; dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 88; siehe ebenfalls HOPPMANN 2007: 1350 f. 376 Hinsichtlich der traditionellen Definition eines Topos siehe z. B.: Boethius: De topicis differentiis, 1185A: Locus namque est (ut M. Tullio placet) sedes argumenti; engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 46; Isidor: Etymologiae, II, cap. XXIX, 16: Nunc ad Topica veniamus, quae sunt argumentorum sedes, fontes sensuum et origines dictionum. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie: 117. 377 Hier sei einmal mehr ausdrücklich auf Peter von MOOS’ Standardwerk „Geschichte als Topik“ verwiesen. Hinsichtlich des obigen Gedankens empfiehlt sich bes. 56, 75.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Für die mittelalterliche Geschichtsschreibung und speziell die auf dem Begriff terrae motus basierende mittelalterliche Traditionsbildung hat dieser Aspekt eine erhebliche aussagenlogische Wirkung. Denn gemäß einer rhetorisch-materiellen Topik ist nun das spezifische narrative Beschreibungsmuster selbst als Argument zu begreifen.378 Die unterschiedliche Bedeutungsebene von mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen, wie sie durch die Botschaft einzelner Verben, wie z. B. subvertere,379 ausgesagt wird, macht dies deutlich. Die autoritative Arbeitsweise mittelalterlicher Geschichtsschreiber mit ihren besonderen Rezeptionsgewohnheiten verstärkte diesen Effekt zusehends. Die Wurzeln dieser Argumentationsführung blieben zwar erkennbar, doch führte diese Entwicklung schließlich zu einer eigenen Art der Bekräftigung. Die angestrebte Glaubwürdigkeit eines Berichts, wie sie uns in den Zeilen Bedas begegnet, gewann man nun aus dem Ausdruck selbst. Die einst wenig angesehenen rhetorischen „Topoi von außerhalb“,380 d. h. eine auf Schriftdokumenten, Zeugen und anerkannten Meinungen möglichst angesehener und sittlich rechtschaffener Personen381 gestützte Bekräftigung, erhielten infolgedessen eine zentrale Aufwertung.382 Das in der Gerichtsrede angelegte strukturierte Hinterfragen der Ursachen und Folgen einer Tat – des Faktums – erfordert ebenso eine Darlegung dessen, was zu einem Ereignis führte (ante rem), wie dessen, was während eines Ereignisses geschah (cum re) und was seine Folgen waren bzw. sein mögen (post rem).383 In diesem Prinzip der Stoffauffindung ist gleichwohl ein zeitloses Wesensmerkmal von Geschichtsschreibung zu entdecken, wie Ekkehard von Auras Beschreibung des Erdbebens von 1117 erkennen lässt. Seine Worte orientieren sich unverkennbar an dieser logischen Abfolge. So heftig er das durch den späten Investiturstreit bewirkte Auseinanderfallen der Ecclesia als institutionelle und moralische Krise und demnach als Ursache für das Erdbeben begriff, so heftig stellte er auch die Schadenswir378 Siehe hierzu OSTHEEREN 2009: 655. 379 Siehe Kapitel II. 2. 3. 1. a. 380 Boethius: De topicis differentiis, 1199C-D: Restat is locus quem extrinsecus dixit assumi, hic judicio nititur et auctoritate, et totus probabilis est, nihil continens necessarium. [. . .] Hic vero locus extrinsecus dicitur constitutus, quoniam non de his qui praedicati vel subjecti sunt termini sumitur, sed ab extrinsecus posito judicio venit; hic etiam inartificialis et artis expers vocatur, quoniam non sibi hinc ipse conficit argumentum orator, sed peractis positisque utitur testimoniis. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 70. 381 Cassiodor: Institutiones, Appendix A, 472: Et prius a persona, ut non qualiscumque sit [sed] illa quae testimonii pondus habet ad faciendam fidem, sed et morum probitae debet esse laudabilis. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 473; Martianus Capella: De nuptiis, V. 474, 166; ebd.: V. 560, 197; Isidor: Etymologiae, II, cap. XXX, 14. Siehe ebenfalls MOOS 1991: 729. 382 WAGNER 2009: 614. 383 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 27, 538: Cum vero ex negotiis argumenta sumenda erunt, tria consideranda sunt: primo, quid sit ante rem, quid in re, quid post rem. Dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 112. Hinsichtlich einer älteren Vorlage dieser Methodik siehe erneut Quintilianus: Institutio oratoria, V, 10. 32.
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kung dar. Schließlich erscheint der strafende Eingriff Gottes, durch eine sündhaft entzweite Menschheit bedingt, als eschatologisches Vorausbild des kommenden Jüngsten Gerichts.384 Ekkehards Beispiel betont, wie wichtig das schulmäßige Erlernen und Anwenden eines konzeptionellen Grundgerüsts für die aussagekräftige Tatbeschreibung angesehen werden muss. Das Vermögen, eine beliebige sinnliche Wahrnehmung als factum zu definieren, um aus diesem eine argumentative Stoffauffindung zu ermöglichen, ist essentiell, wenn Geschichtsschreibung sowohl deskriptive Darstellung als auch argumentative Grundlage sein soll. Der geschichtstheologische Berichtsanspruch mittelalterliche Historiographie, welcher wohl am ehesten an Inhalt und Aufbau vieler Chroniken ablesbar ist, stellt eine bewusst gewählte Form christlich-mittelalterlicher Weltauslegung dar. Dieser Anspruch verlangt stets eine Art von Argumentation bzw. von Beweis für das mit Ort, Zeit sowie den handelnden Personen beschriebene zurückliegende Ereignis. Wenn, was es zu eruieren gilt, das Erdbeben als Argument glaubhaft und beweiskräftig erscheinen soll, wie es Ekkehard exemplarisch darlegt, muss es demnach aussagefähig dargestellt werden. Die Berichtsabsicht zwischen antik-paganer und christlicher Geschichtsschreibung des Mittelalters verschiebt sich in diesem Aspekt merklich. Für Quintilian und Cicero hatte die Geschichtsschreibung noch eine hohe rhetorische Komponente. „Breit und fließend“385 solle sie sein und das Publikum informieren, aber auch unterhalten. Geschichte solle erzählen und nicht beweisen, wie Quintilian meint.386 Dieser Anspruch verschob sich mit Beginn 384 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334, 336. Hinsichtlich des ante rem siehe: Anno Domini MCXVII. Dum cuncta per circuitum regna nationum suis limitibus rebusque contenta diu sanguine madentes gladios ceteraque vasa mortis iam in vagina concordie reconderent, universalis etiam ecclesia mater post numerosa persecutionum, heresium ac scismatum bella iam sub vera vite Iesu lassa oppido membra per multas gratiarum actiones mandatis divinis inservitura locaret, solus eheu! Teutonicus furor cervicositatem suam deponere nescius et quam multa six pax legem die diligentibus, immo qualiter per presentis prosperitatis tranquillitatem ad eterne visionem pacis pertingi possit, ediscere nequaquam voluntarius, solus, inquam, nostre gentis populus, dum pre omni terrarum orbe in perversitatis inolitę pertinacia incorrigibiliter perstitit, indeque iam periurium et mendatium cęteraque, quę vox lamentatur prophetica, inundaverunt et sanguis sanguinem tetigit, nec minus quam quondam Sodomorum et Gomorreorum clamor huiusmodi in aures Domini Sabaoth introiit. Für das cum re: Quapropter inter ipsa dominicę nativitatis festa Nonas Ianuarii hora vespertina super tantis divini iudicii contemptibus commota est et contremuit terra, a ira nimirum furoris Domini, adeo ut nemo inventus sit super terram, qui tantum se unquam sensisse fateatur terrę motum. Nam multa subversa sunt inde ędificia, civitates etiam quasdam subrutas dicunt in Italia. Hinsichtlich des post rem: His et huiusmodi cladibus rex Heinricus cordetenus sauciatus non cessat legationes satisfactorias ad apostolicam sedem, licet ipse multum infestationibus Italicis insudans, destinare, quas tamen constat minime profecisse. 385 Cicero: De oratore, II, 15 (64), 129: Verborum autem ratio et genus orationis fusum atque tractum et cum levitate quadam aequabiliter profluens sine hac iudiciali asperitate et sine sententiarum forensibus aculeis persequendum est. Dt. Übersetzung siehe Cicero: Über den Redner, 247; ebenso Quintilianus: Institutio oratoria, IX, 4. 18. 386 Quintilianus: Institutio oratoria, X, 1. 31.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
der Spätantike, als Kirchenväter, wie Eusebius von Caesarea, sehr wohl den Beweischarakter der Geschichte betonten.387 Die Berichterstattung über die Erschaffung der Welt, das mannigfaltige Wirken Gottes, seinen Eingriff in den Alltag der Menschen, sie sind gemäß christlicher Überzeugung wesentlicher Gegenstand der Geschichtsschreibung. Die Geschichte, als auszulegendes Vorausbild388 verstanden, ermöglicht im Rahmen der Heilsgeschichte eine analoge Ableitung der zukünftigen Ereignisse. Dies ist ein Aspekt, der gerade auch für die zeitgenössische Interpretation von Erdbeben zutreffend sein sollte, wie Tertullian389 für die Patristik und Ekkehard für die mittelalterliche Chronistik offenlegen. Im Verlauf der vorangehenden Seiten sollte deutlich geworden sein, dass die historische narratio untrennbar mit einer stofflichen Erfassung des Faktums verbunden ist. Auch nach der kulturellen Blüte des Karolingerreiches geriet diese Erkenntnis nicht in Vergessenheit. Sehr wohl wurden deskriptive Techniken erlernt, wenn auch der Rückgang allgemeiner Schriftlichkeit eine erneute quantitative Reduzierung bedingte. Für das zumindest in geistigen Bildungszentren vorhandene Fortbestehen dieser Schreibkompetenz spricht unter anderem der Libellus Scolasticus Walther von Speyers. Rhetorische Fallerörterung und Frageübungen werden hier als Unterrichtsstoff des 10. Jahrhunderts zumindest erwähnt.390 Die aussagekräftige Beschreibung von erinnerungswürdigen Tatbeständen, zu denen eben auch Erdbeben zu rechnen sind, lagen somit weiterhin in den Möglichkeiten der Zeit. Im 12. Jahrhundert sollte schließlich Hugo von St. Viktor diese Elemente der klassischen Rhetorik in seine Geschichtstheorie übertragen. Seine Kategorisierung unterstreicht entschieden die Rolle der circumstantiae für den historiographischen Prozess. Die Geschichte solle in seinen Worten Aussagen über
387 Eusebius Caesariensis: Historia ecclesiastica, V, cap. 5. 8–9, 437, 439. 388 Tertullian dürfte mit seinem düsteren Weltbild zahlreichen nordalpinen Beschreibungen des Erdbebens von 1117 und besonders Ekkehard von Aura sowie den Annales Sancti Disibodi Pate gestanden haben. Siehe Tertullian: Apologeticum, cap. XX. 1–3, 122: Nec hoc tardius aut aliunde discendum; coram sunt quae docebunt: mundus et saeculum et exitus rerum. Quicquid agitur, praenuntiabatur; quicquid videtur, audiebatur: quod terra vorant urbes, quod insulas maria fraudant, quod interna et externa bella dilaniant, quod regnis regna compulsant, quod fames et lues et locales quaeque clades et frequentia plerumque mortium vastant, quod humiles sublimitate, sublimes humilitate mutantur, quod iustitia rarescit, iniquitas increbrescit, bonarum omnium disciplinarum cura torpescit, quod etiam official temporum et elementorum munia exorbitant, quod et monstris et portentis naturalium forma turbatur, providentiae scripta sunt. Dt. Übersetzung siehe Tertullian: Verteidigung des Christentums, 127. Ebenso: Hilarius: Tractatus mysteriorum, I, cap. 22, 19. 389 Hinsichtlich der Analogievorstellung von Geschichte siehe Ambrosius von Mailand: Expositio Evangelii secundum Lucam, I, cap. 1, 6. 390 Libellus Scolasticus: 40: Monstrat ypothetici nobis spectacula ludi. [. . .] Causarum rivos patulo profudit ab ore. Dt. Übersetzungen siehe ebd.: 51. Auch Hugo von St. Viktor berichtet, dass er sich in seiner Jugend anhand ausgedachter Rechtsfälle übte. Siehe Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 3, 362.
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Person, Handlung, Zeit und Ort beinhalten. Das „Was“, „Wann“ und „Wo“ eines erinnerungswürdigen Ereignisses, dargestellt wohlgemerkt in chronologischer Ordnung,391 besitzt mit dem „Wer“ für die kritische Bewertung der Aussagefähigkeit mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen einen hohen Wert. Für den konkreten Nachweis der deskriptiven Fähigkeiten mittelalterlicher Geschichtsschreibung hinsichtlich der Beschreibung seismischer Vorgänge sollen infolgedessen diese Fragen die methodische Grundlage bilden. 3.1.1 Deskription und Zeitstellung der Überlieferung im Spiegel einer Topik der Umstände In welchem Ausmaß lässt sich die Fähigkeit zur Umschreibung eines Tatbestandes, sprich die aussagefähige Schilderung eines Faktums, in der historiographischen und annalistischen Arbeit mittelalterlicher Schreiber wiederfinden, wenn sie Erdbeben in ihren Texten für die Nachwelt überliefern? Zur Veranschaulichung dieser mit der Schreibkompetenz verbundenen Problemstellung sei exemplarisch auf eine Stelle aus der zweiten Fortsetzung der Chronica regia Coloniensis hingewiesen. An diesem Quellentext wird gleichsam die Zielrichtung der nächsten Seiten ersichtlich. Ab dem Jahr 1215 entstand diese Fassung der sogenannten Kölner Königschronik vermutlich im Kloster Siegburg durch die Hand eines unbekannt bleibenden Schreibers.392 Für den 29. August 1214 berichtet dieser in zeitgenössischen Worten: Anno Domini 1214. [. . .] In decollatione Iohannis baptiste in confinio Confluentie ante diluculum terremotus magnus factus est.393 In idealtypischer Weise erfüllt seine chronikalische Schilderung dabei jene Merkmale einer Umständebeschreibung („Was?“, „Wann?“, „Wo?“, „Wie?“), die nach Hugo von St. Viktor den Berichtsumfang von Geschichtsschreibung ausmachen sollen. So erfährt das lesende oder hörende Publikum, „Was“ geschah (terremotus). Es erhält Kenntnis über das „Wann“ (1214, decollatione Iohannis baptiste und ante diluculum) sowie mit der Beschreibung des „Wo“, nämlich in der Nähe von Koblenz am Rhein (in confinio Confluentie), Informationen über die Lokalisierung des Geschehnisses. Abgeschlossen wird der Eintrag schließlich mit der Erwähnung des „Wie“, wonach es sich um ein starkes (magnus) Erdbeben gehandelt habe.
391 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 3, 360: Sic nimirum in doctrina fieri oportet, ut videlicet prius historiam discas et rerum gestarum veritatem, a principio repetens usque ad finem quid gestum sit, diligenter memoriae commendes. Haec enim quattuor praecipue in historia requirenda sunt, persona, negotium, tempus et locus. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 361. Ähnlich argumentiert Hugo in seiner Schrift De tribus maximis, 491, Z. 16–18. 392 GROTEN 1997: 68, 70. Siehe auch den quellenkundlichen Kommentar zum Beben von 1215 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 393 Chronica regia Coloniensis: 192.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Abb. 9: Prozentualer Anteil der Umstandsfragen „Wann“, „Was“ und „Wo“ am Gesamtquellencorpus, aufgeschlüsselt in jeweils selbständige sowie abhängige Überlieferung.
Tab. 1: Anzahl der zeitgenössischen, zeitnahen und vergangenheitsgeschichtlichen Quellen, welche die Grundlage für Abb. 9 bilden. Quellen
wann (Σ)
wann (selb.)
wann (unselb.)
was (Σ)
was (selb.)
was (unselb.)
wo (Σ)
wo (selb.)
wo (unselb.)
zg (x)
zn (x)
vg (x)
Die Betrachtung des gesamten Quellencorpus verdeutlicht indes, dass dieser Berichtsmaßstab nicht in allen Überlieferungen eingehalten wurde. Hierbei erweist sich die Einteilung der Überlieferung nach zeitabhängigen Kriterien als hilfreich. Der Vergleich zwischen 95 zeitgenössischen, 88 zeitnahen sowie 124 vergangenheitsgeschichtlichen Quellen ermöglicht eine gewichtete Bewertung (siehe Tabelle 1). Die Korrelation, wie sie Abb. 9 verdeutlicht, stellt hinsichtlich des Faktums Erdbeben ein breites mittelalterliches Berichtsinteresse heraus. Den fortschreitenden Rezeptionsstufen ist hierbei an der Wie-
3 Das Streben nach Glaubwürdigkeit
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dergabe des „Was“ und „Wann“ viel gelegen, weshalb sich in fast allen zeitgenössischen, zeitnahen und vergangenheitsgeschichtlichen Quellen die terminologische Nennung eines Erdbebens in Form der eingangs vorgestellten Beschreibungsweisen sowie einer Datierung finden lässt. Selbst mit wachsendem zeitlichem Abstand zwischen Ereignis und Verschriftlichung ist keine Veränderung festzustellen. Aus selbständig verfassten Quellen wird eine abhängige Berichterstattung, ohne dass sich ein merkbarer Informationsverlust einstellt. Dies belegt ein stets hohes Interesse der mittelalterlichen Autoren an diesen beiden Kriterien. Deren Bedeutung für die Aussagefähigkeit der Beschreibung wird somit klar unterstrichen. a) Lokalisierungsbezeichnungen in mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen Die verlässliche Lokalisierung historischer Erdbeben gehörte zu den Kernaufgaben der Historischen Seismologie. Neben der Evaluierung makroseismischer Intensitäten kann besonders durch die Überprüfung und fallbezogenen Verbesserung älterer Epizentralkoordinaten die Katalogqualität verbessert werden. Umso mehr ist es daher erforderlich, Kenntnis über die Berichtsabsichten mittelalterlicher Geschichtsschreiber hinsichtlich der Wiedergabe von Ortsangaben zu erlangen. Die Umstandsfrage nach dem „Wo“ definiert somit die Beschreibungskompetenz und die Motivation mittelalterlicher Autoren, ein stattgefundenes Erdbeben mit einer topographischen Einordung im orbis terrarum zu überliefern. Exemplarisch sei zunächst auf eine Ostertafel aus dem Kloster Lorsch geschaut. Der zeitgenössisch eingetragene Wortlaut DCCCCLXXVIII. VI. NON. IV IUL. in ipso crepusculo diei terre motus394 veranschaulicht stellvertretend für das Quellencorpus einen durchaus problematischen Befund. Wie hier zu lesen, nimmt knapp die Hälfte der zeitgenössischen Überlieferungen keine konkrete Ortsbezeichnung der Erschütterung vor. Im Zuge fortschreitender Rezeptionsstufen nimmt die Erwähnung einer konkreten Lokalität weiter ab, bis nur noch etwa jede dritte aller vergangenheitsgeschichtlichen Quellen dieses Merkmal erfüllt. Ein Vergleich der Gesamtüberlieferung mit einer Quellenauswahl, die bewusst alle schriftlichen Zeugnisse zum Erdbeben vom 3. Januar 1117 bei Verona ausklammert, ermöglicht eine weitere Konkretisierung. Die Angabe der Lokalisierung, wie sie an Abb. 10 veranschaulicht wird, ist für den Überlieferungszeitraum offenbar in großen Teilen abhängig von der übermächtigen Quellenlage des starken Veroneser Bebens.
394 Es handelt sich um die in den Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 17: 33 edierten sogenannten Annales Sancti Nazarri. Zitiert wird aus der Originalhandschrift des 10. Jahrhunderts. Siehe Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Pal. lat. 495, fol. 280v. Hinsichtlich der quellenkritischen Bewertung des Erdbebens von 978 siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). Außerdem seien die quellenkundlichen Untersuchung zu den Annales Sancti Nazarri in EIZENHÖFER 1977: 131, 132, 159 sowie HOFFMANN 1986: 218 nahegelegt.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Abb. 10: Prozentualer Anteil des Merkmals „Wo“ an der Gesamtüberlieferung. Verglichen wird das Gesamtquellencorpus mit der Quellenlage, welche die Überlieferung des Erdbebens von 1117 bei Verona ausklammert. Unterschieden wird jeweils die selbständige bzw. die unselbständige Überlieferung.
Tab. 2: Anzahl der zeitgenössischen, zeitnahen und vergangenheitsgeschichtlichen Quellen, welche die Grundlage für Abb. 10 bilden. wo – ohne (Σ)
wo – ohne (selb.)
wo – ohne (unselb.)
zg – ohne (x)
zn – ohne (x)
vg – ohne (x)
Quellen (Σ)
wo (Σ)
wo (selb.)
wo (unselb.)
zg (x)
zn (x)
vg (x)
Ohne die Berücksichtigung dieses Schlüsselbebens wird ersichtlich, dass bereits ab einer zeitnahen Abfassung der prozentuale Anteil selbständiger sowie unselbständiger Quellen sich beinahe aneinander angeglichen hat. Über die zeitgleiche Rezeptionsstufe hinweg ist demnach ein starker Informationsverlust hinsichtlich der Ereignislokalisierung feststellbar. Im weiteren Verlauf verstetigt sich die Nutzung auf ein konstant niedriges Niveau, bis schließlich nicht einmal mehr jede dritte vergangenheitsgeschichtliche Quelle eine Lokalisierung vermerkt. Die Wiedergabe des „Wo“ wird mit Blick auf die Gesamtüberlieferung ausschließlich durch das Erdbeben von 1117 ausgeglichen (siehe Tabelle 2).
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Die Angabe einer konkreten Ortsbezeichnung erschien für die mittelalterlichen Geschichtsschreiber offenbar nicht zwingend notwendig, wenn die Erschütterung nicht tatsächlich, wie bei 1117 geschehen, ein gewisses Schadensmaß überschritt. Sicherlich hat die gute Überlieferungslage zu diesem Beben gleichwohl dazu beigetragen, dass der Ort der Erschütterung überhaupt bekannt war und somit tradiert werden konnte. Hierfür steht besonders der oftmals in den Quellen zu lesende Italienbezug.395 Der vorliegende Befund legt ein schleichendes Vergessen des Erschütterungsortes in der historiographischen Berichterstattung nahe. Der ausgesprochen regionale Bezug vieler Klosterannalen sollte jedoch gleichwertig beachtet werden. Für die explizite Erinnerung an ein mit einem Kloster oder Stift verbundenes Ereignis wurde anscheinend die Nennung des Ortes, sprich dass z. B. im Kloster Lorsch ein Erdbeben wahrgenommen wurde, als nicht kontextrelevant erachtet. Die Eintragung eines Erdbebens in dem jeweiligen Erinnerungswerk intendiert für Autor und Adressaten offenkundig bereits die lokale Zuordnung. Gleichfalls sollte jenes christlich-mittelalterliche Weltverständnis bedacht werden, wonach die präzise Erwähnung eines expliziten Wahrnehmungsortes als unnötig aufgefasst wird. Die Tatsache eines erbebenden Erdkreises intendiert das Erschüttern des gesamten Kosmos. Das narrative Herausheben eines einzelnen Ortes erscheint in dieser Lesart als überflüssig, da das Erbeben der Erde universal und somit für alle Orte gleichermaßen anzunehmen ist.396 In diesem Sinne kann besonders die Überlieferungstradition zum schweren Erdbeben von 1117 verstanden werden. Obgleich dieses Aspekts bieten die Ergebnisse der statistischen Auswertung ausreichend Anreiz, einen differenzierenden Blick auf jene Formen der Ortsbezeichnung in Erdbebenbeschreibungen vorzunehmen, welche als Schreibgewohnheit mittelalterlicher Autoren belegt sind.
395 Z.B. im sogenannten Chronicon Duchesne: Appendix I, 497: Anno MCXVII. Multa inusitata et stupenda hoc anno visa sunt contigisse, maxime in Italia. Nam terraemotus vehemens per totum orbem factus est III. Nonis Ianuarii in matutino, crepusculo similiter et in vespertino. Qui terraemotus vehementius in Italia ortus non solum monasteria, turres, aedificia ad solum complanavit, sed etiam urbes prostravit. Diversis locis in diversis temporibus terra conpaginibus ruptis in profundum sinum patuit; stantes civitates atque viventes homines recedentes soli hiatus absorbuit. Sed et alia perplura hoc anno cladibus insignissimo acciderunt, quae, sicut visu et auditu insolita, sic dicta vel scripta, vix creduntur facta. Ähnlich in den sogenannten Annales Corbeienses maiores: 51; Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334; Annalista Saxo: 558 f.; Ex Annalibus Melrosensibus: 434; Chronica monasterii Casinensis: IV, cap. 62, 524; Annales Ceccanenses: 282; Chronica regia Coloniensis: 57. 396 Siehe hierzu BOIADJIEV 2003: 97. Im 9. Jahrhundert schreibt Remigius von Auxerre in seiner Auslegung von Ps. XVII: Et non solum terra, sed etiam Judaea contremuit, id est, simul cum Judaea termuit tota terra, scilicet gentilitatis terra, id est, terreni omnes timuerunt. Siehe Remigius von Auxerre: Enarrationes in Psalmos, 226D. Dt. Übersetzung: „Und nicht nur die Erde, sondern auch Judäa wird erzittern, das heißt, zugleich mit Judäa bebte die ganze Erde, nämlich das Heidentum der Erde, das heißt alle Erdbewohner haben sich gefürchtet.“
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Das Quellencorpus wird hierfür in drei Gruppen unterteilt. Zum einen in Quellen mit einer konkreten Ortbezeichnung (I), zum anderen in Nachrichten mit einer allgemeinen Lokalisierung (II) und abschließend in Überlieferungen, welche auf Ortsangaben verzichten (III). Die Auswertung von (I) legt hierbei schnell offen, dass eine große Anzahl von Erdbeben mit wenigstens einer Quelle hinreichend präzise lokalisiert wird. Maßgeblich ist dieser Befund für die Geschichtsschreibung des 8. und 9. Jahrhunderts. Vor allem in den großen karolingischen Annalen, wie den Annales regni Francorum oder den Annales Fuldenses, mitsamt deren Fortsetzungen wird unverkennbar der Anspruch der jeweils ausführenden Schreiber deutlich, die Orte der Erschütterung klar zu benennen. Ob nun der Pfalzpalast in Aachen,397 die Stadt Mainz398 oder Regionen wie der Wormsgau,399 Speyer400 oder Westfranken401 betroffen waren, die Geschichtsschreiber gaben es unmittelbar an und definierten damit das „Wo“ des Tathergangs. Auch im 10. Jahrhundert sollten sich noch derartige Beschreibungen finden. Doch mit dem Erdbeben von 1117 wird für einen Zeitraum von beinahe 80 Jahren letztmalig ein Beben mit präzisen Ortsbezeichnungen überliefert.402 Erst mit dem beginnenden 13. Jahrhundert wurde man sich am Salzburger Dom403 sowie in Köln404 wieder bewusst, die Wahrnehmungs- bzw. Erschütterungsorte genauer anzugeben. Die Erwähnung allgemein lautender Lokalisierungen (II) ist für alle Zeiten relevant, auch wenn sich im Verlauf des Hochmittelalters eine Zunahme dieser
397 [EB 803]: Annales regni Francorum: 117: DCCCIII. Hoc hieme circa ipsum palatium et finitimas regiones terrae motus factus et mortalitas subsecuta est; [EB 823]: ebd.: 136: fuerunt in Aquense palatio terrae motus. 398 [EB 855]: Annales Fuldenses: 45: DCCCLV. Apud Mogontiacum terra vicies tremuisse perhibetur. Siehe ebenso [EB 858]: ebd.: 48: terrae motus magnus factus est per civitates et regiones diversas, maximus tamen apud Mogontiacum; [EB 859]: ebd.: 54; [EB 881]: ebd.: 97. Interessant ist auch die Formulierung Mogontiam concussit civitatem. Siehe [EB 872]: ebd.: 77 sowie [EB 870]: ebd.: 71. 399 [EB 845]: Annales Xantenses: 14: Bis in pago Wormaciense terre motus factus est. 400 [EB 838]: Annales Fuldenses: 28: terrae motus apud sanctum Nazarium et in Wormacense ac Spirense et Lobadunense factus est. 401 [EB 895]: Annales Fuldenses Continuatio Ratisponensis: 126: terrae motus in plurimis locis occidentalium Francorum visi sunt. 402 Für das Erdbeben von 1117 sind allgemeine Lokalisierungen, wie z. B. per totam Langobardiam (Annales Ceccanenses: 282), per totam terram Italiam (Annales Mediolanenses minores: 393), per diversa loca Italiae civitates (Annales Sancti Disibodi: 22) maßgeblich. Für die quellenkritische sowie ereignisgeschichtliche Einordnung der nordalpinen Ortsangaben, wie z. B. per universam Teutonicam (Annales Mellicense: 501), siehe Kapitel zu 1117 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 403 Dies betrifft die Überlieferung des sehr schweren Lungauer-Bebens im Jahr 1201. Siehe Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 779: terre motus in pago, qui dicitur Longou. 404 Siehe z. B. [EB 1214]: Chronica regia Coloniensis: 192; [EB 1223]: Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, 1994.
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Beschreibungsweise einstellen sollte. Für bestimmte Überlieferungsperioden, z. B. das 12. Jahrhundert, klassifiziert diese Form der Lokalisierung sogar die alleinige Art und Weise der Ortsbeschreibung. Allgemein versteht sich an dieser Stelle jedoch keineswegs als einheitlich. Vielmehr ist ein erstaunlicher Variantenreichtum an Darstellungsweisen überliefert. Im Gesamtquellencorpus ist insgesamt eine beeindruckende Vielzahl von 25 verschiedenen narrativen Formulierungen zu entdecken. Trotz der scheinbaren Allgemeingültigkeit ihrer Grundaussage sind Anwendung und Kontext jedoch weder unsystematisch noch unbedacht erfolgt. Vielmehr erlauben diese sprachlichen Formen einen tiefen Einblick in das spezifische christlich-mittelalterliche Weltverständnis und den Versuch, den „Erdkreis“ topographisch zu strukturieren. Die Anleitung zu einer solchen Anwendung fand das Mittelalter in dieser Frage offensichtlich in Isidors Etymologien. Zur Ordnung des belegten Variantenreichtums sowie des hiermit intendierten Verständnisses soll deshalb der westgotische Kirchenvater die Grundlage bilden. Isidor schreibt hinsichtlich der Beschreibung der Erde als fester Landmasse im 14. Buch seiner Enzyklopädie: Terra autem significari, ut praediximus elementum: terras vero singulas partes, ut Africa, Italia. Eadem et loca; nam loca et terrae spatia in orbe terrarum multas in se continent provincias, sicut in corpore locus est pars una, multa in se continens membra; sicut et domus, multa in se habens cubicula: sic terrae et loca dicuntur terrarum spatia, quorum partes sunt provinciae; sicut in Asia Phrygia, in Gallia Raetia, in Hispania Baetica.405
Im ersten Satz weist Isidor mit der zweifachen Auslegungsmöglichkeit des terraBegriffs auf jenen naturphilosophischen Wissenshorizont hin, der uns bereits bei der ontologischen Erklärung von terra eindringlich beschäftigte.406 Bereits im Anschluss wird allerdings ersichtlich, dass dem westgotischen Bischof vor allem die topographische Einordnung der bekannten Welt ein Anliegen ist. Isidor argumentiert hierbei in klassischer Weise und legt allem ein organologisches Ordnungsmodell zugrunde. Terra, als feste Landmasse im Zentrum des Kosmos, wird hierarchisch aufgeteilt. Auf die Teile des Erdkreises,407 d. h. der als bewohnt bekannten Erde, welche mit dem Nominativ Plural terrae beschrieben wird, folgen die loca und schließlich auf unterster Ebene die provinciae. Hierbei wird nicht
405 Isidor: Etymologiae, XIV, cap. V, 20; dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie: 531. Isidors Etymologien waren in etwa 1000 mittelalterlichen Handschriften verbreitet. Siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie: 16. 406 Siehe Kap. III. 1. 1. 5. 407 Als die drei Teile des Erdkreises galten Asien, Europa und Afrika. Siehe Isidor: Etymologiae, XIV, cap. II, 1: Divisus est autem trifarie: e quibus una pars Asia, altera Europa, tertia Africa nuncupatur. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie: 516. Ersichtlich wird dieses Ordnungsmodell auch auf den typischen T-Karten des Mittelalters. Siehe exemplarisch BRINCKEN 1968: 131 sowie ENGLISCH 2002: 229, 249.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
nur eine immer differenzierter werdende Einordnung in Landschaften, Gegenden und Gebiete vorgenommen. Der Satz sicut et domus, multa in se habens cubicula: sic terrae et loca dicuntur terrarum spatia, quorum partes sunt provinciae, welcher das organologische Prinzip zusammenfasst, erlaubt zudem eine theoretische Überleitung zur argumentativen Toposlehre, die sich nicht allein aus dem Wortlaut von Topos bzw. locus ableitet.408 Isidors Metapher des aus vielen Zimmern bestehenden Hauses entspricht jener mnemonischen Technik, die eben auch innerhalb antiker Topik zum Gebrauch kam.409 Isidors deduktives Ordnungsmodell fasst in diesem Sinne, vom Allgemeinen zum Einzelnen strebend, alle topographisch untergeordneten Einheiten als Teile des orbis terrarum auf. Das Mittelalter nutzte diese Systematik nachweisbar zur gewerteten Auswahl treffender Lokalisierungen, in dem es sich der Terminologien Isidors bediente, wie Abb. 11 veranschaulicht. Ohne Ausnahme lassen sich alle im Quellencorpus enthaltenen Bezeichnungen in dieses vierteilige Modell einteilen. Die narrative Variation erfolgt stets ausgehend von einem der topographischen Begriffe Isidors. Die sprachliche Variabilität, aber auch die aussagenlogische Einordnung der spezifischen Formulierung in das bekannte System waren somit gegeben. Bedingt durch ihren topischen Charakter war eine differenzierende Regionalisierung gleichwohl möglich. Die Klassifizierung der Lokalisierungsbeschreibungen fördert zutage, dass die Variabilität der Formulierungen in einem verstärkten Maße im Quellencorpus des Erdbebens von 1117 gefunden werden kann. Die außergewöhnliche Stärke der italienischen Erschütterung beflügelte offensichtlich in hohem Maße die eloquenten Darstellungen des „Wo“. Über alle vier Sprachbilder hinweg sind für dieses Beben Ortsbeschreibungen vertreten. Allerdings tritt eine Häufigkeit insbesondere in Bezug auf den Erdkreis auf. Formulierungen wie per universam terram,410 per universam orbem,411 longe lateque per orbem,412 per totum orbem,413 per totum orbem terrarum414 oder late per orbem415 unterstreichen den weiten Wahrnehmungsbereich des Bebens in Europa. Die Erschütterung des Erdkreises
408 Die Topographie – als Ortsbeschreibung aufgefasst – war Teil der antiken Gerichtsrede. Innerhalb der mittelalterlichen Literatur stehen zum Zweck der Amplifikation sowie Argumentationsfindungen der sogenannte locus amoenus sowie dessen Antagonist, der locus terribilis, in dieser Erzähltradition. Siehe RUPP 2009: 626 f.; LICHTBLAU 2008: 504. 409 NEUBER 2001: 1045 f. 410 Annales Halesbrunnenses: 14; Chronica romanorum pp. et imperatorum (Cronica S. Mariae de Ferraria): 16. 411 Annales Brunwilarenses: 726. 412 Casus monasterii Petrishusensis: IV, cap. 2, 174. 413 Chronicon Duchesne: Appendix I, 497; Chronicon Estense: 299. 414 Annales Sancti Disibodi: 22. 415 Annales Corbeienses maiores: 51; Annales Hildesheimenses: 64; Chronica regia Coloniensis rezensio I: 57; Chronica regia Coloniensis, rezensio II: 57.
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Abb. 11: Theoretische und praktische Einteilung von allgemeinlautenden mittelalterlichen Lokalisierungen für Erdbeben.
war somit für zeitgenössische Autoren tatsächlich gegeben. Auch die übrigen Lokalisierungsbeschreibungen dieser Gruppe lassen sich vor allem bei starken Beben, wie 849416 oder 1201,417 nachweisen. Die Vielzahl der Wahrnehmungsorte des Erdbebens von 1117 zeigt jedoch gleichfalls eine zunehmend regional anmutende Zuordnung. Hierfür sprechen Formulierungen wie ubique terrarum,418 aliquibus locis,419
416 417 418 419
Annales Flaviniacenses: 152. Annales Mellicense: 506; Annales Windbergenses: 752**. Ex Chronographia Heimonis presbyteri Sancti Michaelis Babenbergensis: 3. Annalen van Egmond (Annales Egmundenses): 162.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
multis aliis locis,420 per diversa loca,421 per multa locus,422 per loca,423 aber auch multas provintiae.424 Gerade nostrae provintiae425 sowie apud nos426 verkörpern hierbei eine ausgesprochen regionale Verbundenheit der jeweiligen mittelalterlichen Schreiber, die im Fall der zeitgenössischen Mailänder Notizen auch direkt auf das norditalienische Epizentralgebiet verweist. Letztlich fällt aber explizit für 1117 auf, dass die Erwähnungen generalisierender Ortsbezeichnungen maßgeblich für eine fortgeschrittene Rezeptionsstufe gelten oder in weit vom lombardischen und venetischen Schauplatz entfernt niedergeschriebenen Quellen auftreten. Die häufigste Anwendung innerhalb aller Allgemeinbeschreibungen ist für die Lokalisierung per loca nachzuweisen. Sie findet sich nicht nur mehrfach in der Überlieferung von 1117, sondern erscheint ebenso in Quellen zu den Beben von 902,427 954,428 1012429 und 1179.430 Hinsichtlich der Wortfindung ist in diesem Fall durchaus eine Sinnstiftung seitens der synoptischen Endzeitreden der Evangelien hervorzuheben. Consurget enim gens in gentem et regnum in regnum et erunt pestilentiae et fames et terraemotus per loca.431 So lautet der Bericht des Evangelisten Matthäus zu den auf dem Ölberg gesprochenen Worten Jesu. Dieser steht stellvertretend für die ähnlichen Berichte der Evangelisten Lukas432 und Markus.433 Die von allen drei proklamierte Lokalisierung per loca dürfte durch ihre unzweifelhafte Autorität mittelalterliche Geschichtsschreiber zur Nachahmung ermutigt haben. b) Zur Stärke-Beschreibung mittelalterlicher Erdbeben Mit der Beschreibung des „Wie“ wird unmittelbar die Wiedergabe des Erschütterungsmaßes eines Erdbebens angesprochen. Aus erzähltheoretischer Perspektive
420 Annales Sancti Dionysii Remenses: 83. 421 Annales Casinenses: 308. 422 Annales Pragenses: 120. 423 Reginbald von Lüttich: Itineraria, 2; Notae Halesbrunnenses: 13; Annales Floreffienses: 624; Annalium Leodiensium continuatio: 30; Annales S. Benigni Divionensis: 43; Annales sancti Petri Catalaunensis: 489. 424 Annales Remenses et Colonienses: 732. 425 Notae Sanctae Mariae Mediolanenses: 385. 426 Sigeberti Gemblacensis Continuatio Praemonstratensis: 448, Auctarium Laudunenses: 445. 427 Annales Alamannici (Codex Turicensis): 186; Annales Sangallenses maiores: 277. 428 Willihelmi Moguntini memoriae: 706. Wörtliche Abhängigkeit zu Wilhelm besitzt Marianus Scotus: Chronicon, 554. 429 Annales Quedlinburgenses: 534; von diesen abhängig: Annalista Saxo: 326. 430 Annales Floreffienses: 625. 431 Matth 24, 7. 432 Lk 21, 11: terraemotus magni erunt per loca et pestilentiae et fames terroresque de caelo et signa magna erunt. 433 Mk 13, 8: exsurget autem gens super gentem et regnum super regnum et erunt terraemotus per loca et fames.
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kann in dieser Frage eine Stoffauffindung aus dem cum re erkannt werden. Die Art und Weise, wie der mittelalterliche Historiograph oder Annalist den Augenblick des Erbebens zu überliefern pflegte, soll deshalb Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. Die als typisch erkannten, maßgeblich adjektivischen Formulierungsweisen sind in den Kontext gegebenenfalls überlieferter Beobachtungen zu setzen und so auf die Spezifik ihrer Aussage hin zu ergründen, um Rückschlüsse für die Vergabe makroseismischer Intensitäten zu gewinnen. Die Verwendung von Umständebeschreibungen zur Stärkeangabe – sprich dem „Wie“ – lässt sich in mittelalterlichen Erdbebenberichten ähnlich häufig nachweisen, wie es bereits aus der Untersuchung verschiedener Lokalisierungsbezeichnungen bekannt ist. Der Übergang von einer zeitgenössischen zu einer zeitnahen Verschriftlichung fällt bei diesem Merkmal ebenso deutlich aus wie es von den Lokalisierungsbezeichnungen bekannt ist. An Abb. 12 kann dieser Trend beispielhaft abgelesen werden.
Abb. 12: Prozentualer Anteil des „Wie“, gemessen an der Gesamtüberlieferung und jeweils betrachtet für ein Quellencorpus mit und ohne das Erdbeben von 1117 sowie eine selbständige oder abhängige Quellenlage.
Die Anzahl selbständig bzw. abhängig verfasster Erdbebenbeschreibungen hat für das Gesamtquellencorpus in der zeitnahen Rezeptionsstufe fast ein Gleichmaß. Für die Überlieferung, die das Erdbeben von 1117 ausspart, übersteigt der Anteil an unselbständigen Quellen in dieser Niederschriftsphase sogar den der selbständigen Überlieferungen (siehe auch Tabelle 3). Der Informationsverlust, wie er am rapiden Abfall
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Tab. 3: Anzahl der zeitgenössischen, zeitnahen und vergangenheitsgeschichtlichen Quellen, welche die Grundlage für Abb. 12 bilden. Quellen (Σ)
wie wie wie wie – ohne wie – ohne wie – ohne (Σ) (selb.) (un-selb.) (Σ) (selb.) (unselb.)
zg (x)
zn (x)
vg (x)
zg – ohne (x)
zn – ohne (x)
vg – ohne (x)
unabhängiger Erdbebenbeschreibungen, die eine Angabe zum „Wie“ des Ereignisses machen, erkennbar wird, ist erheblich. Nur etwa jede zehnte selbständige sowie zeitnah entstandene Quelle nimmt eine Beschreibung vor, wie sie z. B. in den Engelberger Annalen mit MCLXVI. [. . .] Item eodem anno terrae motus ingens IIII. Non. Dec. circa pullorum cantum434 stellvertretend für diese Quellengruppe zu lesen ist. Der Übergang zur vergangenheitsgeschichtlichen Verschriftlichung zeigt indes, dass sich wieder eine leichte Zunahme an Stärkeangaben in den Quellen nachweisen lässt. Dieser Aspekt liegt sicherlich im größeren Informationsbestand hinsichtlich der einzelnen Erdbeben begründet, auf die der mittelalterliche Schreiber bei seiner zum Ereignis deutlich zeitversetzten Arbeit – zumindest theoretisch – zurückgreifen konnte. Tendenziell gilt für den Gebrauch des „Wie“ die gleiche Schlussfolgerung, wie sie schon bei der Eruierung der Lokalisierungsbezeichnungen gezogen werden konnte. Das schwere Schadenbeben von 1117 prägt mit seinem großen Quellencorpus erheblich die belegte Häufigkeit der Erdbebenbeschreibungen, die eine unmittelbare Wortbeschreibung der wahrgenommenen Erschütterungsstärke vornehmen. So kann immerhin für den Gesamtquellenbestand festgestellt werden, dass konstant über alle Rezeptionsstufen hinweg fast in jeder zweiten Erdbebendarstellung Angaben wie magnus oder ingens zu lesen sind. Ohne das Veroneser Beben schrumpft deren Anzahl jedoch auf ein gutes Drittel zusammen. Daher sollte keinesfalls von einem inflationären Gebrauch entsprechender Stärkeadjektive ausgegangen werden. Vielmehr ist eine große sprachliche Varianz von insgesamt 15 verschiedenen Formulierungsweisen belegt. Erneut liegt hier eine Parallele zu den mittelalterlichen Lokalisierungsbezeichnungen für Erdbeben vor. Anders als bei Ortserwähnungen erscheint die Auswahl jedoch weniger durch ein Ordnungsmodell strukturierbar,
434 Sarnen, Benediktinerkollegium, Cod. membr. 10, fol. 9r. bzw. Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279. Der Eintrag geschah wohl frühestens 1175 im Kloster Engelberg, da die bis dahin arbeitende Hand mit diesem Jahr abbricht.
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sondern mehr von den individuellen Schreibgewohnheiten der mittelalterlichen Autoren abhängig zu sein. Umso eindringlicher sollte daher insbesondere die wörtlich zu interpretierende Aussage der Stärkeangaben in den wenigen belegten selbständigen Quellen als überwiegend realistisches Beobachtungskriterium interpretiert werden, deren Botschaft erst im Nachgang quellenkritisch zu falsifizieren ist. Das bereits zitierte Erdbeben von 1092 bei Schaffhausen435 ist diesbezüglich heranzuziehen. Als prägende Beschreibung weist das Quellencorpus das Adjektiv mag436 nus aus. In den Überlieferungen von insgesamt 24 mittelalterlichen Erdbeben
435 Siehe Kapitel I. 3. 436 [EB 782]: Notae Wissenburgenses: 405; [EB 849]: Annales Ratisponenses (Codex Vindobonensis): 582; [EB 858]: Annales Fuldenses: 48; [EB 867]: Annales Xantenses: 26; Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 106; [EB 881]: Annales Fuldenses: 97; [EB 895]: Annales Fuldenses Continuatio Ratisponensis: 126; [EB 954]: Willihelmi Moguntini memoriae, 706; Marianus Scotus: Chronicon, 554; [EB 1000]: Annales Elnonenses: 153; [EB 1021]: Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 120; Chronicon Suevicum Universale: 70; Annales Einsidlenses: 281; [EB 1048]: Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 128; Notae Weltenburgenses: 572; [EB 1081]: Annales Leodienses: 29; Annales Blandinienses: 29; Annales Elmarenses: 94; [EB 1088]: S. Petri Erphesfurtensis Auctarium et Continuatio Chronici Ekkehardi: 34; Annalista Saxo: 481; Chronica S. Petri Erfordensis moderna: 155; Historia de Landgraviis Thuringiae: 360; [EB 1092]: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz: 498; [EB 1117]: Annales Pegavienses et Bosovienses: 253; Annales Zwifaltenses maiores: 55; Zwiefaltener Chroniken Ortliebs und Bertholds: 218; Annales Scheftlarienses maiores: 336; Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42; Ex Chronographia Heimonis presbyteri Sancti Michaelis Babenbergensis: 3; Cosmas von Prag: Chronik, 217; Annales Mellicense: 501; Auctarium Zwetlense: 540; Ex Annalibus Anglosaxonicis: 118; Ex Florentii Wigorniensis Historia: 567; Chronicon rhythmicum Leodiense: 125; Annales Corbeienses: 59; Annales S. Petri Erphesfurtenses antiqui: 16; Annales S. Petri Erphesfurtenses breves et maiores: 51; Chronica S. Petri Erfordensis moderna: 162; Annales Einsidlenses: 287; Annales Marbacenses: 40; Annales Zwifaltenses minores: 55; Annales Halesbrunnenses: 14; Annales Ratisponenses: 585; Joannis Staindelius Presbyter Patavensis: Chronicon Generale, 489; Notae Halesbrunnenses: 13; Ex Annalibus Melrosensibus: 434; Roger von Howden: Chronica, 171; Annales Floreffienses: 624; Annales Laubienses: 22; Annalium Leodiensium continuatio: 30; Annales Rodenses: 699; Annales S. Benigni Divionensis: 43; Annales Brixienses B: 812; Albert von Bezano: Cronica pontificum et imperatorum, 19; Annales Cremonenses: 3; Chronichetta Cremonese, siehe GALLI 2005: 90; Sicardi episcopi Cremonensis Cronica: 162; Annales Mediolanenses breves: 390; Landulphus de Sancto Paulo: Historia Mediolanensis, 39; Memoria Mediolanenses: 399; Annales Veronenses veteres: 89; Annales Veronenses breves: 2; Parisi de Cereta: Annales, 2; Guido von Pisa: Notula, 285; Annales Ceccanenses: 282; Annales Casinenses: 308; Chronica monasterii Casinensis: IV, cap. 62, 524; Chronica romanorum pp. et imperatorum (Cronica S. Mariae de Ferraria): 16; [EB 1127]: Annales Scheftlarienses maiores: 336; Auctarium Garstenses: 569; Annales Ratisponenses (Codex Monacensis): 585; Annales Gotwicenses: 601; Annales Admuntenses: 578; [EB 1128]: Chronicon Elwacense: 36; [EB 1146]: Annales Sancti Disibodi: 26; [EB 1163]: Annales Admuntenses a. 1140–1250 (Continuatio Admuntensis): 583; Lilienfelder Annalen-Fragmente: 116; [EB 1170]: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279; [EB 1179]: Annales Brunwilarenses: 728; Annales Aquenses: 38; [EB 1189]: Annales Scheftlarienses maiores: 337; [EB 1201]: Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 779; Annales Mellicenses: 506; Annales Scheftlarienses maiores: 337;
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ist es zu finden. Keine andere Formulierung ist in einer vergleichbar hohen Belegfülle sowie Konstanz über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg nachweisbar. Adjektive wie ingens,437 validus438 oder fortis439 erscheinen hingegen nur vereinzelt in den Quellen oder entsprechen, wie im Fall des Bezugpaares clementior – validor, der individuellen Schreibgewohnheit Anselm von Gembloux’.440 Für den Gebrauch des ausschließlich für die Beschreibung des Erdbebens von 1117 nachweisbaren Adjektivs vehemens441 ist hingegen eine in der Analogie begründete Übertragung wahrscheinlich. Denn üblicherweise wurden schwere Stürme in mittelalterlichen Quellen mit der Konstruktion ventus vehemens überliefert.442 Ebenso lässt sich für den allgemeinhin beobachtbaren Gebrauch von Stärkeadjektiven bestätigen, dass sich ein Wandel in der narrativen Qualität im Verlauf des Mittelalters einstellte. Wie schon bei der auf terrae motus aufbauenden spezifischen historiographischen Traditionsbildung sowie den nachgewiesenen Lokalisierungsangaben ist bis zum Erdbeben von 1117 auch für Stärkeangaben ein höheres Level an Formulierungsweisen nachweisbar, als es danach der Fall ist. Während im Früh- und im beginnenden Hochmittelalter mitunter Qualitätsangaben wie ita,443
Annales Admontenses continuatio (Codex Novimontensis): 589 f.; Annales Garstenses (= Continuatio Garstenses): 595; Annales Caesarienses: 28; Hermann von Niederaltaich: Annales, 386; [EB 1201, 1202]: Hermann Korner: Chronica Novella, 5; [EB 1214]: Chronica regia Coloniensis: 192; [EB 1223]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252; [EB 1237]: Annales Seldentalenses: 527; Annales Caesarienses: 29; Annales Augustani minores: 9. 437 [EB 1021]: Annales Hildesheimenses: 32; Annales Altahenses maiores: 17; [EB 1117]: Casus monasterii Petrishusensis: IV, cap. 2, 174; Romuald von Salerno: Chronicon Romualdi II. episcopi Salernitani, 181; [EB 1162]: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279; [EB 1189]: Annales Sancti Disibodi: 30. 438 [EB 829]: Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XLIII, 450; [EB 858]: Annales Bertiniani: 76; [EB 1117]: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 277; [EB 1223]: Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, 1994. Hinsichtlich des Adverbs valide siehe [EB 849]: Annales Bertiniani: 56. 439 [EB 1201]: Annales Admontenses continuatio (Codex Novimontensis): 589. 440 [EB 1117 und 1121]: Anselm von Gembloux: Continuatio Chronicon Sigeberti: 376 u. 378. 441 [EB 1117]: Chronicon Duchesne: Appendix I, 497. 442 Stilbildend war sicherlich Hiob 1, 19. Exemplarisch für das Quellencorpus Annales regni Francorum: 177: ventusque tam vehemens; Annales Sancti Dionysii Remenses: 83; Annales Remenses et Colonienses: 732; Chronica S. Petri Erfordensis moderna: 186. Durchaus typisch ist diese Wendung für die verschiedenen Fortsetzungen der Weltchronik Sigeberts von Gembloux. Siehe beispielhaft: Sigeberti Gemblacensis Continuatio Praemonstratensis: 448; Sigeberti Gemblacensis Continuatio Burburgensis: 457; Auctarium Laudunenses: 445, 446. Weiterhin wurde vehemens ebenso zur Darstellung einer Sturmflut verwendet. Siehe diesbezüglich die von dem Prämonstratenser Menko fortgesetzte Chronik des friesischen Klosters Wittewierum. Siehe Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 408: Et occeanus vehementer commotus aggeres infregit. 443 [EB 1080]: Marianus Scotus: Chronicon, 562.
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inmani,444 magnitudo445 oder gravi446 auftreten, fehlen diese für spätere Beben gänzlich. Stattdessen ist hier eine Reduzierung und Formalisierung auf Adjektive wie magnus und ingens zu beobachten.447 Das Erdbeben vom 3. Januar 1117 stellt indes erneut eine durch die reiche Quellenlage bedingte Ausnahme dar. Die große Schütterwirkung sowie der weite, überregionale Wahrnehmungsbereich dieses Bebens spiegeln sich gerade auch im vielseitigen Einsatz von Adjektiven zur Stärkebeschreibung wider. Insgesamt sieben verschiedene, unabhängig voneinander etablierte Schreibgewohnheiten sind für dessen Überlieferung bestätigt.448 Hierbei erlaubt der am Quellencorpus von 1117 ablesbare Superlativ maximus durchaus die Schlussfolgerung auf eine wirklichkeitsbezogene Beschreibung, die bestrebt war, das Zerstörungsmaß des norditalienischen Bebens in Worte zu fassen. So ergänzt ein, um die schweren Schäden des Bebens wissender, vergangenheitsgeschichtlich arbeitender Mailänder Annalist seine Bewertung in hora vespera fuit terre motus maximus, qui antea non erat visus um ein maximus passend zu ergänzen.449 Das narrative Motiv des in seiner Intensität als singulär betonten Bebens findet sich noch in weiteren italienischen Quellen,450 erfolgte jedoch auch in ähnlicher Diktion in den sogenannten Annales Corbeienses maiores451 sowie bei Ekkehard von Aura.452 Das alleinige Auftreten dieser Formulierung im Überlieferungscorpus zum Erdbeben von 1117 gibt für unseren Untersuchungszeitraum keinen Anlass, in diesen Worten einen primär literaturwissenschaftlich zu interpretierenden Topos zu suchen. Vielmehr ist es ein durch die Stärke der Erschütterung hervorgerufener erfahrungsbasierter
444 [EB 859]: Annales Fuldenses: 54. 445 [EB 1000]: Annales Blandinienses: 22; Annales Elmarenses: 87. 446 [EB 1081]: Sigebert von Gembloux: Chronographia: 364. 447 Ingens findet sich in den Beschreibungen der Beben von 1021, 1117, 1162 und 1189. Somit handelt es sich um eine typisch hochmittelalterliche Formulierung. Hinsichtlich der umfangreichen Nutzung von magnus siehe Anm. 436. 448 Für magnus, ingens, validus, vehemens, clementior/validor siehe Anm. 436–438, 440; für maximus siehe Annales Sancti Michaelis Babenbergensis: 553; Chronica regia Coloniensis, rezensio II: 57; Annales Mediolanenses brevissimi: 391; Annales Ferrarienses: 663; Chronicon Estense: 299; Annales Parmenses minores: 662; für graviter siehe Guido von Pisa: Notula, 285. 449 Annales Mediolanenses brevissimi: 391. 450 Vergangenheitsgeschichtlich niedergeschrieben heißt es zum Erdbeben von 1117 bei Parisi de Cereta: Annales, 2: 1117. terrae motus factus est magnus in Italia, ita et taliter quod non non fuit talis ab initio seculi, et fuit 4. Iunii dicti millesimi. Die fortgeschrittene Rezeptionsstufe wird auch anhand der falschen Datierung ersichtlich. Ebenso, allerdings zeitgenössisch entstanden, schreibt Guido von Pisa: Notula, 285: terremotus magni, quales nostris temporibus non fuerunt. 451 Annales Corbeienses maiores: 51: 1117. In octave sancti Iohannis evangeliste late per orbem terra terribili et inaudito hactenus terremotu concutitur. 452 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334: adeo ut nemo inventus sit super terram, qui tantum se unquam sensisse fateatur terrę motum.
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Vergleich und demnach eine Bewertung, die im Urteilsschuss der mittelalterlichen Schreiber begründet liegt. Bezogen auf die Gesamtüberlieferung lässt sich feststellen, dass nur eine geringe Anzahl von Superlativen zur Beschreibung von Erdbeben verwendet wird. Die höchste Glaubwürdigkeit vermittelt für das Früh- und Hochmittelalter offensichtlich maximus. Es ist für die Erdbeben von 849, 453 858, 454 1117 und 1201455 belegt. Die ereignisgeschichtlich nachgewiesene hohe Intensität zumindest der drei letztgenannten seismischen Erschütterungen unterstreicht durchaus die Wertigkeit dieser Formulierung für die Vergabe makroseismischer Intensitäten. Eine Ausnahme bildet lediglich das nachgewiesene Falschbeben von 1205 in der Mark Brandenburg.456 Die Motivation des vergangenheitsgeschichtlich wirkenden Dominikaners Hermann Korner bestand unverkennbar in der Amplifikation,457 wenn er in seiner schrittweise zu beobachtenden historiographischen Verfälschung in der letzten Fassung seiner Chronica novella von einem magnus zu einem maximus überging.458 Der Aspekt einer narrativ übersteigerten Wiedergabe einer Erschütterung liegt ebenso in Gestalt von permaximus459 sowie vehementissimus460 vor. Ein positivistisches Verständnis dieser Wortlaute würde zweifellos zu einer überschätzten Parametrisierung führen. Dies ließ sich durch die ereignisgeschichtliche Rekonstruktion der Beben aus den Jahren 1000461 sowie 1081,462 die beide im südlichen Belgien historiographisch verarbeitet wurden, nachweisen. Rückschlüsse zu Aussagefähigkeit sowie spezifischem Quellenwert einzelner mittelalterlicher Beschreibungsweisen der Erdbebenstärke ergeben sich zudem aus der Eruierung jener Quellen, welche die Beschädigung baulicher Strukturen überliefern. Es ist schließlich nicht zu vergessen, dass die Beobachtung der
453 Walahfrid Strabo: Vademecum, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 878, 305. 454 Annales Fuldenses: 48: terrae motus magnus factus est [. . .] maximus tamen apud Mogontiacum. 455 Chronica Reinhardsbrunnensis: 564. 456 SCHELLBACH 2014: 53–64 und SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung): 47. 457 SCHELLBACH 2014: 62 f. 458 Chronica novella de quarte opere, Lüneburg, Ratsbücherei, Ms. Hist. C 2.2, fol. 72r, a. sowie vgl. Hermann Korner: Chronica Novella, 5, 141. 459 Sigebert von Gembloux: Chronographia, 353 f.: Anno Iesu Christi millesimo secundum supputationem Dionisii multa prodigia visa sunt. Terrae motus factus est permaximus; cometes apparuit. Die Übersteigerung wird aus einer rein grammatischen Perspektive betrachtet gerade an permaximus ersichtlich. Das Präfix per würde den Superlativ maximus erneut um ein „sehr“ erhöhen. Siehe hierzu das analoge Bsp. permagnus bei WALDE 1910: 574. 460 [EB 1081]: Annales Laubienses: 21. 461 Siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). Die Beschreibung des Falschbebens von 1000 wird weiterhin noch Gegenstand des Kap. III. 3. 2. 1. a) sein. 462 Siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung).
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durch Erdbeben hervorgerufenen Gebäudeschäden sowie deren Überlieferung für die Parametrisierung historischer Erdbeben einen Schlüsselwert besitzen. Die Vergabe von makroseismischen Intensitäten > V (EMS-98) ist hiervon grundlegend abhängig.463 Befragen wir also das Quellencorpus auf die explizite Überlieferung von Gebäudeschäden, so fällt zunächst die geringe Überlieferungsdichte dieses Sachverhalts auf. Durch die Ausklammerung des Erdbebens von 1117, das aufgrund seiner überdurchschnittlichen Stärke die Überlieferungslage nachweislich prägt, wird die Quellendichte auf ein geringeres Maß kondensiert. Somit lassen sich aus einer kleinen Anzahl von beschriebenen Erdbeben eben jene typisch mittelalterlichen Formulierungsgewohnheiten ableiten, welche abseits von 1117 für die Beschreibung starker Beben üblich waren. Hierbei wird schnell ein einheitlicher Gebrauch offenkundig. Im Falle erwähnter Gebäudeschäden wird die narrative Konstruktion terrae motus + verb stets durch das Adjektiv magnus ergänzt. Dieser Befund lässt sich für die Erdbeben von 858,464 1201465 und 1237466 belegen. Hierbei ist insbesondere das erstgenannte Ereignis aus der Mitte des 9. Jahrhundert von Interesse. Der Annalist der sogenannten Ostfränkischen Reichsannalen lässt in seiner Beschreibung terrae motus magnus factus est per civitates et regiones diversas, maximus tamen apud Mogontiacum467 eine genaue Beobachtungsgabe sowie Urteilsfähigkeit erkennen, welche durch die Steigerung von magnus zu maximus eine Eingrenzung hinsichtlich Lokalisierung sowie Stärke des Erdbebens vornimmt. In den angesprochenen Annales Fuldenses ist weiterhin ein Eintrag zum seismischen Ereignis von 881 zu lesen, bei dem ein mit magnus geschildertes Erdbeben Tongeschirr habe zu Bruch gehen lassen.468 An diesen beiden Beispielen wird eine maßgebliche Schwierigkeit der Untersuchung ersichtlich: Magnus dient zum einen für die Beschreibung von schweren Erdbeben, wie sie in den
463 Eine weltweit anerkannte Richtlinie zur Vergabe von makroseismischen Intensitäten besteht in der EMS-98-Skala. Siehe GRÜNTHAL et al. 1998b. Hinsichtlich der Parametrisierung historischer Beben siehe auch SCHELLBACH 2014: 54 f., bes. Anm. 18 sowie SCHELLBACH, GRÜNTHAL 2016: 48 f. 464 Annales Fuldenses: 48. 465 Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 779; Annales Admontenses continuatio (Codex Novimontensis): 589 f. 466 Annales Seldentalenses: 527: MCCXVI. [. . .] Kal. octobris terre motus factus est magnus hora diei prima, ita ut castella ruerent. Ebenso Annales Augustani minores: 9: 1237. Hoc anno factus est terre motus magnus, ita ut concuterentur templa et structura lapidea 16. Kal. Octobris in die sanctorum martirum Luciani ez Gemelliane post diluculum ante prima missam. 467 Annales Fuldenses: 48. 468 Annales Fuldenses: 97: 881. [. . .] Tertio Kal. Ianuar. ante galli cantum Mogontiaei terrae motus factus est magnus, ita ut aedificiis conquassatis vasa fictilia, sicut compositores luti fatebantur, invicem se conlidentes frangerentur.
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Jahren 858 oder 1201 stattfanden. Zum anderen wird das Adjektiv auch für die Überlieferung deutlich weniger schadhafter Erdbeben wie 881 oder 1237, bei welchem Gebäude erschüttert, aber nicht zerstört wurden, herangezogen. Vergewissert man sich der Belegdichte von magnus für die Mehrzahl gerade jener Erdbeben, die keine Bauschäden nennen, so erschwert sich die Bewertung von dessen Aussagefähigkeit um ein Weiteres. Diese Unschärfe dürfte in verschiedenen Aspekten begründet sein. Die Umständebeschreibung des „Wie“ mittels eines magnus ist im Rahmen mittelalterlicher Geschichtsschreibung stets als Teil einer christlichen Deutungstradition zu verstehen, die für den jeweils ausführenden Schreiber gemäß seiner Sozialisation eine Selbstverständlichkeit darstellte. Ein in dieser Weise rhetorisch aufgewerteter Bericht über Erdbeben ist somit prinzipiell als narrative Ausführung dieses Ideals zu lesen. Die Eruierung der spezifischen Erdbebenbeschreibungen der Heiligen Schrift wird die Übernahme von Traditionslinien durch die christlich-mittelalterliche Geschichtsschreibung freilegen, in deren Kontext magnus weniger ein realistisches Schadensmaß ausdrückt, als vielmehr auf den heilsgeschichtlichen Stellenwertes eines Erdbebens hinweist.469 Neben dieser mächtigen Denk- und Erzähltradition dürfte die Nutzung des Adjektivs magnus gleichwohl durch eine unspezifische grammatische Definition beeinflusst worden sein, wie sie von den beiden spätantiken Grammatikern Donat und Priscian an die mittelalterliche Leserschaft vermittelt wurde. So dient magnus in der Ars maior als Beispiel für eine Quantitätsbezeichnung.470 Später konkretisierte Priscian diesen Aspekt um die bei Donat fehlende Bestimmung, dass für jene Wörter, die eine Eigenschaftsbeschreibung vornehmen,471 die Bezeichnung adiectiva zutreffend sei. Magnus erscheint auch in Priscians Lehrschrift als oftmaliges Beispiel, um die spezifischen grammatischen Aufgaben eines Adjektivs, zu denen die aussagenlogische Zuweisung zum Substantiv zählt, näher zu veranschaulichen.472 Bezogen auf die narrative Anwendung mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen verbirgt sich explizit in diesem Sachverhalt die belegte Ungenauigkeit von magnus. Die große Anwendungsbreite des Wortes ist eine Folge von dessen grammatisch festgeschriebener Übertragbarkeit. Priscian exemplifiziert diesen Spielraum mittels einer durch magnus vorgenommenen
469 Dieser Aspekt wird auch durch Alanus ab Insulis allegorisches Wörterbuch Distinctiones dictionum theologicalium gestützt. Hinsichtlich der zahlreichen in diesem Werk dargelegten Bedeutungen von magnus siehe ebd.: 846C-847A. Siehe ebenfalls Kapitel IV. 470 Donat: Ars maior, 46: Sunt alia mediae significationis et adiecta nominibus, ut magnus, fortis: dicimus enim magnus vir, fortis exercitus: haec epitheta dicuntur [id est adiectiva]. sunt alia qualitatis ut, bonus, malus; alia quantitatis, ut magnus, parvus. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 47. 471 Priscian: Institutionum grammaticarum, II. 25, 58. 472 Priscian: Institutionum grammaticarum, II. 25, 58.
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moralischen Bewertung, die sowohl die Bezeichnung magnus imperator als auch magnus latro erlaubte.473 Mit diesem Wissen vermittelt die Verwendung von magnus als einem Ausdruck wahrgenommener Stärke in mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen eine ausgesprochen subjektive Perspektive, die unmittelbar am individuellen, erfahrungsbasierten Urteilsschluss der Autoren ansetzt. Die Schilderung eines Erdbebens als magnus drückt demzufolge weniger eine im Sinne Donats und Priscians zu verstehende Quantität aus.474 Vielmehr definiert magnus ein Verhältnis, wonach eine Erschütterung gegenüber anderen Erdbeben als größer bzw. heftiger eingeschätzt wird.475 Dieser Vergleich bedingt aber entweder selbsterlebte Erfahrung seitens der Schreiber oder beruht auf dem Urteil Dritter.476 Nun ist zweifellos anerkannt, dass das, was ein Mensch als stark empfindet, noch lange nicht für einen anderen gelten muss. Dieses Problem ist als epistemologische Unsicherheit hinreichend bekannt und stellt selbst für die moderne Auswertung von Fragebögen zur Bestimmung makroseismischer Intensitäten eine immer noch vorhandene Schwierigkeit dar. Für das Mittelalter kann somit eine Annäherung an den Quellenwert von magnus, das dürften die vorangehenden Ausführungen gezeigt haben, ausschließlich über eine quellenkritische Untersuchung erfolgen. Insbesondere die Bestimmung des Zeitabstands zwischen dem stattgefundenen Erdbeben sowie dessen erfolgter Niederschrift ermöglicht zumindest einen partiellen Einblick. Daneben ist eine Analyse des Wortgebrauchs durch den jeweiligen Schreiber von Nutzen. Die Auswirkungen seismischer Erschütterungen auf bauliche Strukturen erfolgt jedoch nicht prinzipiell in Beschreibungsweisen, die ein magnus in ihre Darstellungen einbinden. Abseits dieses ohne Zweifel prägenden Befundes ist ebenfalls eine weitere Formulierungsgewohnheit im Mittelalter üblich. Die Überlieferung zu den
473 Priscian: Institutionum grammaticarum, II. 28, 60. 474 Hinsichtlich des Verhältnisses von Quantität und Relativa siehe mit Blick auf die obige Sachlage Aristoteles: Categoriae, 6, 5b30-39, 18; 6a8-11, 18; 6a20-25, 19. Für das Mittelalter wichtig: Martianus Capella: De nuptiis, IV. 372, 122. 475 Aristoteles: Categoriae, 7, 6a37-40, 19; Martianus Capella: De nuptiis, IV. 375, 123 sowie ebd.: IV. 384, 127: et parvum opponitur [ut eius sit] magno ita, ut ipsum parvum ad hoc magnum, cui opponitur, parvum sit. Dt. Übersetzung siehe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur, 140. Gleiches lässt sich aus Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 846C-847A, schlussfolgern. Hier wird die Bedeutung von magnus unter anderem mit Adjektiven wie immensus, insuperabilis, gravis, profundus, amplus und spatiosus gleichgesetzt. Auch Beda nimmt diesbezüglich Stellung. Siehe De orthographia, 41. 476 Auf diesen Aspekt geht auch schon Augustinus in seinen Confessiones ein. Siehe X, cap. VIII (14.), 162: Intus haec ago, in aula ingenti memoriae meae. Ibi enim mihi caelum et terra et mare praesto sunt cum omnibus, quae in eis sentire potui, praeter illa, quae oblitus sum. Ibi mihi et ipse occurro meque recolo, quid, quando et ubi egerim quoque modo, cum agerem, affectus fuerim. Ibi sunt omnia, quae sive experta a me sive credita memini Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Bekenntnisse, 479.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
in den Jahren 829,477 849478 sowie 1223479 erfolgten Erdbeben weist die spezifische Gemeinsamkeit eines durch die Erschütterung drohenden Einsturzes von Gebäuden auf, ohne dass es jedoch zu einem solchen kam. Zur Bezeichnung der Stärke greifen alle Quellen in diesem Fall nicht auf magnus zurück, sondern wählen stattdessen validus bzw. valide als Ausdruck. Erwähntermaßen findet sich validus noch in der Beschreibung von zwei weiteren Erdbeben. Die Annales Bertiniani berichten jedoch für das Jahr 858,480 anders als die Annales S. Blasii et Engelbergenses für 1117,481 von keinen Gebäudeschäden. Auch wenn der Beleg in den westfränkischen Annales Bertiniani auf eine spezifische Schreibgewohnheit der dortigen Mönche hinweist und validus an zahlreichen Stellen als Synonym zu magnus verwendet wird,482 ergibt sich mit Blick auf die Intensitätsabschätzung hier doch ein konkreterer Eindruck, als es für magnus der Fall ist. In diesen Quellen dient validus für die Klassifizierung eines wahrgenommenen Erdbebens von erheblicher Stärke, dessen Erschütterung ein drohendes Schwanken, aber keinen eintretenden Einsturz von Gebäuden bewirkte. Demnach ist validus am ehesten für die Vergabe von makroseismischen Intensitäten der Stärke V bis VII (EMS-98) geeignet.483 Somit ist validus etwas schwächer zu bewerten als ein in einen konkreten inhaltlichen Zusammenhang zu einstürzenden Gebäuden gesetztes magnus oder maxime. 3.1.2 Deskriptive Qualität und Narration – Zur Beschaffenheit des Faktums in spezifischen mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen Die Mönche und Kleriker des Früh- und Hochmittelalters griffen für ihre historiographischen und annalistischen Beschreibungen wahrgenommener Erschütterun477 Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XLIII, 450: tempesta nocte terre motus adeo validus extitit, ut edifitiis ruinam cunctis minaretur. 478 Annales Bertiniani: 56: DCCCXLVIIII. [. . .] Apud Galliam XIII kalendas martii nocte sequenti, clericis nocturnas preces Domino soluentibus, terra motus valide, sed nulla quorumlibet aedificiorum ruina factus est. 479 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, cap. 50, 1994: Parvo intervallo post iam dictum terraemotum, id est tertio Idus Januarii, factus est Coloniae et circa, novus terraemotus tam validus, ut parietes aedificiorum concussi, ruinam minarentur. Eadem hora Abbas noster in Monte sanctae Walburgis, erat ante ortum solis missam celebrans, sic concussus est, ut ex eodem motu ecclesiam lapsuram, et altare cui astabat a terra deglutiendum esse formidaret. 480 Annales Bertiniani: 76: DCCCLVIII. Ipso [. . .], dominicae Natiuitatis festo noctu et interdiu Mogontiae ualidus et creberrimus terre motus efficitur; quem etiam ualida hominum mortalitas insequitur. 481 Annales S. Blasii et Engelbergenses: 277: 1116. Tercio Non. Ianuar. terre motus fuit ubique tam validus, ut turres aliaque edificia plura subruerunt, in galli cantu semel, et ad nonam secundo. 482 Z. B. Annales Bertiniani: 50: DCCCXLVI. [. . .] Fames valida Galliae inferiora consumit; ebd.: 72: DCCCLVI. [. . .] pestilentia valida; ebd.: 76: DCCCLVIII. [. . .] etiam valida hominum mortalitas insequitur. Schon in der römischen Antike lässt sich eine synonyme Verwendung nachweisen. Siehe z. B. Lucretius: De rerum natura, III. 494, 226: ventorum validis; ebd.: III. 509, 226; ebd.: VI. 124, 502. Gleiches findet sich im Neuen Testament Mt 14, 30; Lk 15, 14; Jak 3, 5. 483 Siehe schematische Kurzübersicht in GRÜNTHAL et al. 1998b: 99.
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gen nachweislich auf eine strukturierte Methode der Stofferhebung zurück. Ausgehend von einer auf die Umstände konzentrierten rhetorischen Topik wurde in variierender Berichtsqualität vollständig oder zumindest partiell auf charakteristische Merkmale wie Ereignis, Zeit, Ort und Stärke eingegangen. Mittels der Besinnung auf diese aus der juristischen Falldarstellung stammenden Kriterien wurde es in belegter Weise möglich, aussagefähige Erdbebenbeschreibungen zu verfassen und eine glaubwürdige Erinnerung an die Nachwelt weiterzugeben. Zusätzlich konnte dieser Aspekt durch die explizite Anwendung einer auf die Zeitabhängigkeit der Quellen ausgerichteten Kritik verdichtet werden. Lässt sich nun die soweit umrissene deskriptive Beschaffenheit des historiographischen Faktums Erdbeben durch die vergleichende Interpretation mit den zahlreich nachgewiesenen mittelalterlichen Schreibgewohnheiten über das bereits dargestellte Maß hinweg weiter erhärten? Bislang galt es schließlich, vor allem eine allgemein anzunehmende mittelalterliche Schreibkompetenz zur deskriptiven Darlegung von Erdbeben zu eruieren. Im Folgenden ist dieser Wissensstand um den Nachweis zu ergänzen, inwieweit die Kriterien zur Klassifizierung des Faktums aus den circumstantiae auf die einzelnen ermittelten historiographischen Traditionslinien zur Erdbebenbeschreibung zu übertragen sind. Diesbezüglich wird jeweils unterteilt, ob die Quellen in ihrem Bericht auf die Umstandsfragen „Was“, „Wann“ sowie „Wo“ eingehen (Abb. 13). Dieser Befund wird zusätzlich mit der Anzahl der Quellen verglichen, die allen vier Merkmalen geschlossen Beachtung schenken (Abb. 14). Diese gesonderte Betrachtung des „Wie“ und somit der Stärke eines Erdbebens resultiert aus der fast ausnahmslos484 einheitlichen Bewertung mittelalterlicher Autoren, stets von einem stärker als dem „Normalmaß“ angenommenen Erdbeben zu sprechen. Eine Klassifizierung von „schwachen“ oder „schwächer“ wahrnehmbaren Erschütterungen ist indes nie zu lesen. Als Ziel ist herauszuarbeiten, welche mittelalterlichen Schreibgewohnheiten charakteristisch für eine hohe deskriptive Qualität sind und demnach für eine vollständige Wiedergabe des Ereignisses, seiner Datierung und Lokalisierung sowie dessen Stärke stehen. Diese Betrachtung ist gleichzeitig darauf hin zu erhärten, in welcher Weise sich der Quellenwert einzelner narrativer Formen im Prozess fortschreitender Rezeptionsstufen wandelt. Mit Blick auf die in den vorangehenden Kapiteln ermittelten mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen lässt sich in der Tat eine differenzierte Wertigkeit zwischen den Formulierungen rekonstruieren. Erneut lässt sich in beiden Abbildungen, wie schon bei den vorangehenden Erörterungen, ein signifikanter Unterschied zwischen dem Gesamtquellencorpus sowie einer um das Erdbeben von 1117 reduzierten Fassung feststellen. Am eindringlichsten veranschaulicht sich dieser Befund anhand der verbindenden Beschreibungsweise
484 Eine Ausnahme bildet die von Anselm von Gembloux gebrauchte Wortwahl clementior/validor. Siehe Anselm von Gembloux: Continuatio Chronicon Sigeberti, 376 u. 378.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Abb. 13: Die Grafik visualisiert für die fünf am häufigsten nachgewiesenen mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen den prozentualen Anteil der Quellen, welche in Relation zum jeweils spezifischen Überlieferungscorpus, die drei Umstände „Was“, „Wann“ und „Wo“ in vollständiger Weise erfüllen. Zusätzlich ist die Unterscheidung der Quellenlage, mit dem Erdbeben von 1117 sowie ohne dieses, dargestellt.
von terrae motus und esse. Sechs von zehn zeitgenössischen Quellen dieser Darstellung gehen gleichermaßen auf alle drei und alle vier Kriterien ein.485 Gliedert man hingegen die Überlieferung von 1117 aus, ist erkennbar, dass von fünf Zeugnissen nur noch zwei486 diese Merkmale erfüllen. In der zeitnahen Rezeptionsstufe ist sogar kein einziger historiographischer oder annalistischer Eintrag dieses Musters bekannt, der außerhalb des Veroneser Erdbebens eine vollständige Umstandsbeschreibung vornimmt. Erst im Zuge einer vergangenheitsgeschichtlichen Auseinandersetzung, die insbesondere hinsichtlich der expliziten Formulierung terrae motus fuit stark an die italienische Traditionsbildung zu 1117 gebunden ist, steigt die deskriptive Qualität
485 Vollständig wiedergegeben in: [EB 782]: Notae Wissenburgenses: 405; [EB 1117]: Ex Annalibus Anglosaxonicis: 118; Guido von Pisa: Notula, 285 f.; Annales Casinenses: 308; [EB 1223]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252. 486 Notae Wissenburgenses: 405; Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252.
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Tab. 4: Anzahl der zeitgenössischen, zeitnahen und vergangenheitsgeschichtlichen Quellen, welche die Grundlage für Abb. 13 bilden. esse (m. ; o. )
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terrae motus (m. ; o. )
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der Tatbestandsschilderung wieder an (siehe besonders Abb. 14 und Tabelle 5) und wächst bei drei erwähnten Kriterien sogar knapp über die zeitgenössische Überlieferung hinaus (siehe Abb. 13 und Tabelle 4). Generell gilt, dass Überlieferungen dieser schwerpunktmäßig hochmittelalterlichen Formulierung ihre vergleichsweise hohe deskriptive Qualität hinsichtlich der Wiedergabe der drei bzw. vier Umständekriterien über alle drei Rezeptionsstufen hinweg bewahren konnten. Ebenso findet sich ein ähnliches Muster bei einer auf accidere sowie facere beruhenden Tradition wieder. Auch hier wird eine höhere Anzahl vergangenheitsgeschichtlicher Quellen festgestellt, als es bei zeitnahen Darstellungen der Fall ist (Abb. 13 u. 14). Bezüglich der Wendung terrae motus accidit ist zusätzlich zu beobachten, dass außerhalb des Erdbebens von 1117 alle neun Einträge eine vollständige Definition des Faktums mittels der bekannten Merkmale verfehlen.487 Gemessen an
487 Die Nichterfüllung betrifft folgende Überlieferungen. [EB 867]: Annales Xantenses: 25 f.; [EB 1121]: Anselmi Gemblacensis continuatio Chronicon Sigeberti: 378; [EB 944, 1152, 1183, 1248]: Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 771, 775, 777, 790; [EB 1183]: Hermann von Niederaltaich: Annales, 384; Chronicae Augustensis (= Annales SS. Udalrici et Afrae Augustenses): 513; Annales Osterhovenses (= Chronicon Osterhoviense): 542.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Abb. 14: Die Darstellung ist analog zu Abb. 13 zu sehen, aber mit dem Unterschied, dass hier die vollständige Erwähnung aller vier Kriterien (Was, Wann, Wo, Wie) zu Grunde liegt.
der Anzahl von Überlieferungen, welche das „Was“, „Wann“, „Wo“ und „Wie“ in ihrem Bericht geschlossen erfüllen, ist die deskriptive Qualität der fortgeschrittenen Rezeption eines Erdbebens somit höher zu bewerten, als bei jenen welche zeitnah zum Ereignis verfasst wurden. Offenbar hat die Verfügbarkeit älterer tradierter Berichte maßgeblich den deskriptiven Anteil der Quellen erhöht. Währenddessen stammen die zeitnahen Überlieferungen noch maßgeblich aus der Feder einer mit dem Ereignis gealterten Zeitzeugengeneration, weshalb diese in höherem Maße von mündlicher Traditionsbildung sowie dem hiermit einhergehenden Informationsverlust betroffen gewesen sein dürften. Von einer beeindruckend konstant hohen deskriptiven Qualität zeugen hingegen Darstellungen, welche in Zusammenhang mit der Wendung terrae motus und concutere entstanden. Sowohl mit als auch ohne das Erdbeben von 1117 weist das Quellencorpus eine ausnahmslos vollständige Überlieferung auf, die mit der Nennung von drei Merkmalen der Charakterisierung des historischen Faktums dienen. Selbst bei Quellen, welche die Berichterstattung noch um ein „Wie“ ergänzen, ist die Belegdichte über alle Rezeptionsstufen hinweg vergleichsweise hoch. Allerdings weist der vergangenheitsgeschichtliche Gebrauch der Wendung eine sehr enge Bindung an die
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3 Das Streben nach Glaubwürdigkeit
Tab. 5: Anzahl der zeitgenössischen, zeitnahen und vergangenheitsgeschichtlichen Quellen, welche die Grundlage für Abb. 14 bilden. esse (m. ; o. )
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terrae motus (m. ; o. )
Σ
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concutere (m. ; o. )
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Tradierung des Erdbebens von 1117 auf (siehe Abb. 14). Sicherlich dürfte der hohe Anteil erzählender Quellen für diese auffällige Befundlage ursächlich sein.488 Generell besteht ein Zusammenhang zwischen der Quellengattung und einer aus den circumstantiae abgeleiteten narrativen Beschaffenheit des Faktums, wie sie in den zwei vorliegenden Kategorien zu Grunde gelegt wird.489 Insbesondere für die am häufigsten verwendete mittelalterliche Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est lässt sich dieser Beleg erhärten. Während noch knapp jede zweite zeitgenössische Quelle dieser Überlieferungsgruppe drei Kriterien zur Schilderung verwendet (siehe Abb. 14), sinkt dieser Anteil im Zuge weiterer Rezeptionsstufen stetig. Sie
488 [EB 859]: Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 105; [EB 870, 872]: Annales Fuldenses: 71, 76 f.; [EB 1080]: Marianus Scotus: Chronicon, 562; Mariani Scotti chronici recensio altera: 79; [EB 1117]: Annales Corbeienses maiores: 51; Annales Hildesheimenses: 64; Chronica regia Coloniensis: 57; Romuald von Salerno: Chronicon Romualdi II. episcopi Salernitani, 181. Alle diese Geschichtswerke sind entweder Chroniken oder Annalen mit einem hohen erzählenden Berichtsanspruch. 489 Der bereits erläuterte Zusammenhang von Quellengattung und spezifischen mittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen wird durch die folgende Beweisführung erneut bestätigt.
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
trifft gleichfalls für eine vollständige Wiedergabe aller Umstandsfragen zu, auch wenn sich die Anzahl nun erneut auf lediglich 15% bzw. 10% aller vergangenheitsgeschichtlichen Zeugnisse dieses Corpus verringert (Abb. 14; Tab. 5). Für die Kategorie drei erfüllter Merkmale ist diese Beobachtung in ähnlicher Weise für die auf einem alleinstehenden terrae motus aufbauende Erdbebenbeschreibung zutreffend. Beide Schreibgewohnheiten sind hauptsächlich in annalistischen Quellen zu lesen. Die besonderen Entstehungsumstände mittelalterlicher Annalen, zu denen ein limitierter Schreibraum, aber ebenso ein mitunter begrenzter Adressatenkreis490 zählen, haben somit entscheidend auf den Überlieferungscharakter eingewirkt. Am eindrücklichsten bestätigt dies der Vergleich mit den Quellen, die zur Bezeichnung des Bebens ausschließlich den Terminus terrae motus verwenden und im weiteren Berichtstext auf alle vier Umstände eingehen. Hier wird nicht nur ein halbierter Anteil an zeitgenössischen Quellen ersichtlich, welche dieses Muster wiedergeben. Es zeigt sich zudem, dass Abseits des Bebens von 1117 keine zeitnahen sowie vergangenheitsgeschichtlichen Überlieferungen dieses Typs bekannt sind.491 In den Quellen einer fortgeschrittenen Rezeptionsstufe dürfte die ausführliche Umschreibung des Faktums explizit das Ergebnis der außergewöhnlichen Erinnerungswürdigkeit des Erdbebens von 1117 sein. Die Interpretation der deskriptiven Qualität der beiden am häufigsten belegten früh- und hochmittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen terrae motus factus est sowie terrae motus wird somit durch deren maßgebliche Bindung an annalistische Quellen unmittelbar beeinflusst. Der generell geringe Anteil an Überlieferungen, welche in der Gesamtheit auf Ereignis, Datierung, Lokalisierung und Stärke in den zeitnahen sowie vergangenheitsgeschichtlichen Quellen eingehen, unterstreicht dies. Für die Forschung wird aus diesen Resultaten erneut die methodisch notwendige Unterscheidung zwischen den Niederschriftszeiten der Quellen ersichtlich. Die hohe deskriptive Qualität des Faktums ist innerhalb der Gruppe zeitgenössischer Überlieferungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets am häufigsten belegt. Durch diese Untersuchung wird bestätigt, dass die ereignisgeschichtliche Bewertung mittelalterlicher Erdbeben sowie deren Parametrisierung primär auf Grundlage zeitgenössischer Quellen zu erfolgen hat. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Formulierung terrae motus factus est nach dem Erdbeben von 1117 als maßgebliche Beschreibungsweise etablierte.492 Hinsichtlich eines vertiefenden Verständnisses der deskriptiven Aussagefähigkeit dieser Wendung ist daher eine Untersuchung notwendig, welche die deskriptive Qualität des Faktums in Zusammenhang mit der Wendung terrae motus factus est über den gesamten Zeitraum hinweg betrachtet. Der konstante Nachweis
490 Die Auswirkungen wurden am Beispiel der Lokalisierungsbezeichnungen (dem „Wo“) herausgearbeitet. Siehe Kapitel III. 3. 1. 1. a). 491 Abseits des Erdbebens von 1117 erfüllen nur die Annales Fuldenses, S. 54 mit ihrem Eintrag zum Erdbeben von 859 diese Kriterien. 492 Siehe Kapitel II. 1. 2. 2.
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dieser Formulierung befähigt dazu. Gleichwohl scheint eine Gegenüberstellung mit der zweit- sowie der dritthäufigsten Beschreibungsweise notwendig, welche jeweils einen früh- (terrae motus) sowie einen hochmittelalterlichen (esse) Belegschwerpunkt aufweisen. Die Ableitung eines allgemeinen Trends sollte somit möglich sein. In diesem Sinne sei an den Aspekt erinnert, wonach das Veroneser Erdbeben vom 3. Januar 1117 als Wendepunkt mittelalterlicher Geschichtsschreibung über Erdbeben erkannt werden konnte. Dieser Sachverhalt begründet die zeitliche Dreiteilung des Quellencorpus für die nachfolgende Untersuchung, wie sie in Abb. 15 visualisiert wird. Ausgehend von der Überlieferungslage zu 1117 sind zusätzlich alle Quellen zu stattgefundenen Erdbeben auf die beiden Zeiträume von 782 bis 1117 sowie von 1117 bis 1250 aufzuteilen.
Abb. 15: Die Grafik verdeutlicht anhand aller vor 1117 (ab 782) überlieferte Erdbeben, für das Erdbeben von 1117 sowie aller nach 1117 (bis 1250) stattgefunden Erdbeben die Ausprägung der deskriptiven Qualität im Vergleich zur jeweiligen Gesamtüberlieferung. Hierbei wird auf die drei am häufigsten belegten früh- und hochmittelalterlichen Erdbebenbeschreibungen terrae motus & facere, terrae motus & esse sowie nur terrae motus eingegangen.
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Tab. 6: Anzahl der zeitgenössischen, zeitnahen und vergangenheitsgeschichtlichen Quellen, welche die Grundlage für Abb. 15 bilden. Σ
Krit.
Krit.
vor
nach
terrae motus & esse
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Krit.
Krit.
vor
terrae motus & facere
nach
terrae motus
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Krit.
Krit.
vor
nach
Angesichts des hohen Anteils von Schriftzeugnissen, welche im Bericht des Veroneser Erdbebens auf alle vier circumstantiae eingehen, wird dessen Alleinstellung für das Gesamtquellencorpus erneut hervorgehoben. Allerdings ist zu konstatieren, dass abseits dieser historiographischen Wegmarke die mittelalterlichen Schreiber eine auf alle vier Kriterien ausgerichtete Ereignisbeschreibung nur in unterdurchschnittlicher Anzahl vornehmen. In erster Linie betrifft dies den Anteil von Formulierungen, die der verbindenden Wendung von terrae motus mit esse angehören. Für die beiden verbliebenen, am häufigsten belegten Erdbebenbeschreibungen des Untersuchungszeitraums (terrae motus & facere sowie nur terrae motus) gilt ein durchaus ähnliches Bild, auch wenn hier der Anteil deskriptiv qualitätsvollerer Beschreibungen prinzipiell deutlich höher ausfällt. Generell hat sich der Charakter der Berichtsqualität im Verlauf des Mittelalters geändert. Die gemeinschaftliche Verbindung der Kriterien Ereignis, Datum, Ort und Stärke zu einer geschlossenen historiographischen oder annalistischen Überlieferung nimmt stetig ab (siehe Abb. 15 und Tab. 6). Die Änderung dieser Schreibgewohnheiten ist besonders für das alleinstehende terrae motus offensichtlich. Während vor 1117 noch in fast jedem zweiten Fall, dass mittels eines alleinig verwendeten terrae motus beschriebene Erdbeben durch circumstantiae wie „was“, „wann“ sowie „wo“ konkretisiert wird, ist hiervon in späterer Zeit nicht mehr zu sprechen. Schon bei der additiven Wiedergabe der Stärke, sprich des „Wie“, ist für den Überlieferungszeitraum vor 1117 eine substantielle Lücke festzustellen. Dass von 41 Quellen dieses Typs nur ein Zeugnis, nämlich die bereits erwähnten Annales Fuldenses, in ihrem Eintrag für 859 diese Kriterien geschlossen erfüllen, dürfte einmal mehr auf den maßgeblich annalistischen Anwendungsbereich dieser Wendung, aber ebenso auf ein gewisses
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Maß an narrativer Formalisierung, zurückzuführen sein. Es war schlichtweg kein Platz zur ausführlichen deskriptiven Darstellung vorhanden.493 Die Niederschrift von Annalen kam in dem für diese Untersuchung relevanten Zeitraum des Mittelalters nie außer Mode. Die Schreibgewohnheit, terrae motus ohne Verb zu verwenden, allerdings schon. Offenbar ging diese in der Quantität massiv geänderte Praxis einher mit einer zurückgehenden deskriptiven Qualität. Keine der zutreffenden Quellen, die an Erdbeben nach 1117 erinnern, konkretisieren ihren Bericht mit den erwähnten vier Kriterien. Für das Frühmittelalter besitzt diese explizite Formulierung indes dann einen hohen Wert, wenn sie auf die drei circumstantiae wie „was“, „wann“ sowie „wo“ eingeht. Somit belegt die schwerpunktmäßig in karolingischen Quellen nachgewiesene Erdbebenbeschreibung erneut das aus spätantiken Zeiten bewahrte bzw. zurückerworbene Maß an Schreibkompetenz. Hierauf muss bei der ereignisgeschichtlichen Beurteilung von Erdbeben gegebenenfalls eingegangen werden. Die wohl beste Quellengrundlage für die anstehende Untersuchung bietet die Formulierung terrae motus & facere. Keine andere Erdbebenbeschreibung prägt durch eine derart konstant hohe Belegdichte den Untersuchungszeitraum. Vergleichen wir die vielen Quellen dieses Typs vom 8. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, so ist auch hier ein Rückgang der deskriptiven Qualität, wenn auch weit weniger stark, nachzuweisen. Gemeinhin beträgt der Anteil an Quellen, welche das historische factum hinsichtlich der drei bekannten Kriterien beschreiben, für die Epoche vor 1117 ein Drittel der Überlieferungen. Für die überlieferten Erdbeben nach 1117 geht deren Beleg weiter auf etwa ein Viertel zurück. Für die Definition des Faktums mittels aller vier Umstände sind gar mehr Quellen für diesen Zeitraum bekannt als vor dem Veroneser Erdbeben. Allerdings ist dieser Befund in Zusammenhang mit einer nach 1117 generell stark angestiegenen Nachweisdichte der Formulierung terrae motus factus est zu setzen. Das Auseinandergehen der Quantität an Berichten und einer aussagekräftigen Informationstradierung (Abb. 15) belegt eindringlich die zunehmend standardisiert erfolgte Nutzung von terrae motus factus est zur Beschreibung von Erdbeben im Verlauf des Hochmittelalters. Es darf jedoch hierbei nicht unbedacht bleiben, dass es sich bei den Quellen, die auf drei oder vier circumstantiae nach 1117 eingehen, fast ausnahmslos um besonders starke Beben oder aber um nachgewiesene Falschbeben handelt. Die Überlieferung der ersten Gruppe erfolgt zudem mehrheitlich durch zeitgenössische Einträge.494 Der quellenkundliche Wert von zeitgleich mit dem Erdbeben verfasster Berichte erhält somit für die Untersuchung seismischer Ereignisse eine erneute Aufwertung.
493 Siehe diesbezüglich die Erläuterungen in Kap. II 2. 2. 494 [EB 1201]: Annales Mellicenses: 506; Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 779; Annales Admontenses continuatio (Codex Novimontensis): 589 f.; Hermann von Niederaltaich: Annales, 386; [EB 1214]: Chronica regia Coloniensis: 192; [EB 1223]: Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, 1994; [EB 1237]: Annales Augustani minores: 9 sowie die drei Falschbeben von 1201, 1202 und 1205 in: Hermann Korner: Chronica Novella, 5 u. 141.
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Dennoch ist solch ein Befund, wie er für terrae motus & facere für das Hochmittelalter vorliegt, stets in die Nähe einer rhetorisch-materiellen Topostradition zu rücken. Das Streben nach einer „Erörterung lebensbedeutsamer Problemfälle“,495 wie es Lothar Bornscheuer benennt, bestand mittels dieser narrativen Form der Geschichtsvermittlung offenbar nicht in einer primär deskriptiven Motivation, wie die zeitnahe und vergangenheitsgeschichtliche Nutzung der Wendung intendiert. Die Manifestierung von terrae motus factus est als Standardbeschreibung des Mittelalters geht offensichtlich nicht von der präzisen und zweifelsfreien Übermittlung spezifischer Umstandskriterien aus. Der Aussageschwerpunkt von terrae motus factus est, dass scheint eindeutig geworden zu sein, besitzt im Gegensatz zu anderen Formulierungen seinen Wert nicht in der Deskription. Vielmehr ist dieser in der generellen Bezeichnungsfunktion von Erdbeben und somit der Symbolhaftigkeit dieser Wendung zu suchen.496 Hier ist der mittelalterliche Ansatz hinsichtlich einer „gesellschaftlich relevanten Problemerörterung“497 beheimatet, welcher der Einordnung eines Erdbebens in ein christliches Bild der Welterklärung mindestens so viel Wert beimisst wie der Überlieferung von reinem Faktenwissen. Auch wenn die Gefahr einer Klischeebildung naheliegt, welche sicherlich in dieser Weise auch vorgenommen wurde, lässt sich eine solche wertmindernde Interpretation nicht im Einzelnen nachweisen. Belegen lässt sich indes die von einem Satz wie terrae motus factus est ausgehende Botschaft. Durch die Übernahme dieses Narrativs schloss sich der mittelalterliche Autor, sei es bewusst, sei es unbewusst,498 dieser Berichtsabsicht an, wenn er ein Erdbeben überlieferte. Mit resümierendem Blick betrachtet, besteht also ein Zusammenhang zwischen der durch Aussagen hinsichtlich des Ereignisses, des Datums, des Orts und der Stärke bestimmten deskriptiven Qualität des Faktums sowie der durch den mittelalterlichen Schreiber gewählten Terminologie zur narrativen Bezeichnung eines Erdbebens. Nicht alle Erdbebenbeschreibungen sind gleich beschaffen, wenn es um die hinreichend präzise Vermittlung erinnerungswürdiger Informationen zu Erdbeben geht. Dies konnte die vorliegende Untersuchung nachweisen. Für Beschreibungen wie terrae motus & concutere oder esse ist ein hohes Maß an deskriptivem Ausdruck charakteristisch. Auch über den Übergang zu späteren Rezeptionsstufen, z. B. bei abhängigen Quellen, blieb dieser Berichtsanspruch auf einem vergleichsweise hohen Niveau bewahrt. Für Erdbeben, die mittels terrae motus & facere überliefert werden,
495 BORNSCHEUER 1976: 101, erneut 102. 496 Siehe hinsichtlich dessen besonders BORNSCHEUER 1976: 105: „Die konkrete Merkform, in der ein Topos bzw. eine Topik im gruppenspezifischen Individualbewußtsein am konzentriertesten notifiziert und am leichtesten abrufbar ist, bezeichnen wir als seine Symbolisierung. Eine präzise sprachlich-formelhafte oder auch bildhaft-schematische Symbolprägung (Stichwort, Merkvers, Sentenz, logisches Schema usw.) ist die Voraussetzung einer zuverlässigen Präsenz.“ 497 BORNSCHEUER 1976: 108. 498 BORNSCHEUER 1976: 105.
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trifft dies indes weniger zu. Gleiches gilt für das factum in Quellen, die ein terrae motus ohne angeschlossenes Verb ausschreiben. Hier nimmt die deskriptive Qualität über die einzelnen Rezeptionsstufen hinweg stetig ab und ist bei zeitgenössischen Quellen deutlich höher als bei vergangenheitsgeschichtlichen zu bewerten. Hinsichtlich einer detaillierten Wirklichkeitsvermittlung besitzt das historische factum in dieser Quellengruppe somit nur eine moderate Aussagefähigkeit. Für Beschreibungen, wie beispielsweise terrae motus & accidere trifft dieser Zusammenhang sogar in einem noch geringeren Maße zu. Abschließend ist zu konstatieren, dass die deskriptive Qualität frühmittelalterlicher Bebenberichte aus historiographischer Sicht ausführlicher umgesetzt wurde, als es in späteren Zeiten nachzuweisen ist. Generell ist dieser Darstellungsanspruch, wie er an der Wiedergabe sowohl von drei als auch von vier Merkmalen zur Umstandsbeschreibung eines Erdbebens abgelesen werden kann, bis 1117 ein ausgeprägter Teil mittelalterlicher Geschichtsschreibungspraxis. Der Überlieferungscharakter späterer Ereignisse ist indes von einem geringeren Berichtsinhalt sowie verstetigter Formalisierung geprägt.
3.2 Glaubhaft durch Anschaulichkeit? – „Wirkliche“ und „falsche“ Erdbeben im Spiegel einer Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik Der Aspekt der Anschaulichkeit ist ein mehrdimensionaler Begriff. Er ist zum einen abhängig von einer eloquenten Narration, die in ihrem Detailreichtum Handlungen und Personen in Szene zu setzen weiß. Diese mehr oder weniger ausführliche Darstellung eines historischen Sachverhalts war Gegenstand des vorangehenden Kapitels. Zum anderen knüpft die Anschaulichkeit eines Berichts stets direkt an das Vorstellungsvermögen und somit das Gedächtnis jedes Einzelnen an. Das bildlich gesprochen durch die Erzählleistung „vor die Augen Stellen“499 eines historischen Ereignisses ist primär eine aus dem Gedächtnis geschöpfte Visualisierungsleistung, die unmittelbar von der individuellen Erfahrung sowie den Endoxa, sprich den sogenannten allgemein anerkannten Meinungen, angeleitet wird. Glaubwürdigkeit wird in diesem Sinne durch spontane und bereitwillige Zustimmung erzeugt.500 Der Leser stimmt also seinem Lesestoff bereits bei der Lektüre zu, wie Boethius trefflich meint.501 Erleichtert wird dieser Akt des intellektuellen Einverständnisses zweifellos durch den Grad der Ähnlichkeit, den der dargelegte Sachverhalt mit bestehende
499 Rhetorica ad Herennium: IV, cap. LIV, 314: Demonstratio est, cum ita verbis res exprimitur, ut geri negotium et res ante oculos esse videatur. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 315. 500 MOOS 1991: 726, 740. 501 Boethius: De topicis differentiis, 1181B: Ea sunt enim probabilia, quibus sponte atque ultro consensus adjungitur, scilicet ut mox ac audita sunt approbentur. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 40.
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Wissen- und Erfahrungsständen sowie einer von diesen gesteuerten Erwartungshaltung502 aufweist. Das geistige Bild, welches sich vor den Augen des Rezipienten, sei er nun hörend oder sei er lesend, unmittelbar einstellt und von dem die Beglaubigung bzw. der Zuspruch des Berichts abhängt,503 erweist sich somit als entscheidendes Moment der Erfahrung.504 Wenn sich jedoch die angestrebte Zustimmung nicht so leicht einstellt, ist der Autor auf einen Rückgriff auf das narrative Portfolio der Rhetorik angewiesen, um seinen Inhalt erfolgreich übermitteln zu können. Zweifelhaftes ist durch gesicherte Erkenntnis herzuleiten.505 Eine weniger glaubhafte Schilderung ist mit kräftigen Beweisen zu unterfüttern, wie schon die Rhetorica ad Herennium fordert.506 Auch im Mittelalter ist dieser Grundsatz der induktiven Argumentation anerkannt und die Triebfeder einer glaubwürdigen Beweisführung.507 Bildlich gesprochen, steht ein Haus umso stabiler, je mehr Säulen es hat. Dieses Motiv bewahrte von Hrabanus Maurus bis Matthäus von Vendôme seine Gültigkeit.508 Anschaulichkeit dient somit gerade dazu, das Publikum thematisch zu ergreifen, es zu fesseln und somit modern gesprochen „abzuholen“.509 Es gilt nicht nur, die Aufmerksamkeit des Lesers zu erwecken, es gilt, diesen zu gewinnen.510 Dies gelingt leichter mit einem gewissen Maß an Amplifikation. Schon Alkuin wusste entsprechende Ratschläge an seine Zeitgenossen weiterzugeben. Bei dem Berichtsgegenstand solle es sich nicht nur um etwas Neues und Großes handeln. Vielmehr kann die Darstellung etwas kaum zu Glaubendes, sprich ein Außergewöhnliches
502 Hinsichtlich der Erwartungshaltung im Textverständnis siehe besonders GADAMER 2010: 271 u. 272. Ebenso Augustinus: Confessiones, XI, cap. XXVIII (37.), 213 f.; siehe exemplarisch Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 29, 539: Alia vera opinione, alia in similitudine: in opinione, ut ‚inferna esse sub terra‘. Dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 114. 503 Augustinus: De trinitate, XI, cap. VIII (14.), 350 f. 504 In der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Logik meint GADAMER 2010: 358: „Das Bild ist uns wichtig, weil es das entscheidende Moment am Wesen der Erfahrung illustriert.“ 505 Cicero: De inventione, I. 51, 94; Alkuin: De ratione animae, cap. IV, 49. 506 Rhetorica ad Herennium: III, cap. X, 150: Si narratio est parum probabilis, exordiemur ab aliqua firma argumentatione. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 151. 507 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 30, 540; Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, VI, V. 55–57, 142. 508 Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 28, 574; Matthäus von Vendôme: Ars versificatoria, I. 114, 127: Maioris etenim firmitatis est edificium cui columpnarum diversitas accommodat fulcimentum. Engl. Übersetzung siehe Matthew of Vendôme: Ars Versificatoria, 58. 509 Rhetorica ad Herennium: IV, cap. XXVIII, 250: Necessum est eius, qui audit, animum commoveri, cum gravitas prioris dicti renovatur interpretatione verborum. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 251. Ebenso Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. XXVI (40.), 61 f. 510 Martianus Capella: De nuptiis, V. 502, 172: Conciliantur igitur animi tum personae, tum rei dignitate. Dt. Übersetzung siehe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur, 180. Siehe auch Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 20, 534: Primo ut benivolum, attentum, docilem efficias auditorem. Dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 103.
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bzw. jeden einzelnen in seinem Alltag unmittelbar Berührendes, aufweisen.511 Dass Alkuins Ratschläge befolgt wurden, belegt beispielhaft Bertholds von Zwiefalten Bericht zum Erdbeben von 1117, den er mit der Bemerkung de hoc terraemotu multa miranda, inaudita et nimis tremenda possemus enarrare512 einleitet. In gleicher Weise begründet im 12. Jahrhundert der Schreiber der Annales Caesarienses seine Herangehensweise: Nos autem in sequentibus demonstrabimus, que nova vel facta vel audita vel visa sunt ab anno incarnacionis dominice millesimo XCI. tamquam miranda et stupenda, ob legencium qualemcunque edificacionem inserentes.513
In den Worten dieser süddeutschen Quelle findet sich eine Überleitung zu einer besonderen Form der Rhetorik, die sich in einem dualistischen Spannungsverhältnis zwischen sprachlicher „Erbauung“ und „Erschütterung“ bewegt. Es sei daran erinnert, dass im Rahmen antiker Gerichtsrede der höchste Wert den Tatsachen zugesprochen wird, die, so wörtlich, zu „erschüttern“ wissen.514 Das emotionale Bewegen des Publikums ist hierbei ein essentielles Werkzeug des Rhetors. Commoventur igitur auditores aut miseratione aut odio aut invidia aut metu aut spe aut ira ceterisque similibus,515 wusste auch schon Martianus Capella seinen Lesern mit auf den Weg zu geben. Die mittelalterliche Predigtlehre sollte sich diesem Dreiklang aus docere, movere und delectare sehr wohl annehmen.516 Das rhetorische Prinzip der Überzeugung durch emotionale Erregung517 oder gar Erschütterung besitzt durch die semantische Ähnlichkeit eine Gemeinsamkeit mit der terminologischen Bezeichnung von Erdbeben. Mittels des Prinzips des movere seien bedeutende Dinge angemessen kundzutun.518 Als wesentliches Merkmal der erhabenen Rede besitzt das movere also einen synonymen Charakter und führt dazu, das
511 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 20, 535; Alkuin steht hier eindeutig in der Rhetoriktradition von Ciceros De inventione, I. 23, 48, 50 sowie I. 107, 158. 512 Zwiefaltener Chroniken Ortliebs und Bertholds: 218. 513 Annales Caesarienses: 23. 514 Die Rhetorik zielt im klassischen Sinne darauf ab zu Belehren, zu Erfreuen und zu Erschüttern. Siehe z. B. Quintilianus: Institutio oratoria, IV, 1. 5; Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XII (27.), 135 sowie ebd.: IV, cap. XVII (34.), 141. 515 Martianus Capella: De nuptiis, V. 504, 173, dt. Übersetzung siehe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur, 180. 516 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XIII (29.), 136 f.: Oportet igitur eloquentem ecclesiasticum, quando suadet aliquid, quod agendum est, non solum docere, ut instruat, et delectare, ut teneat, verum etiam flectere, ut vincat. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 174. Siehe ebenfalls Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XII (27.), 135. 517 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 18, 533: Illum impetum et quandam commotionem animi affectionemque verbis et sententiis amplificare debebit et ostendere. Dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 102. 518 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XIX (38.), 144; Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 32, 588; ebd.: 3, cap. 34, 596.
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Publikum zu guten Taten und Handlungen zu bewegen, von denen dieses zwar insgeheim weiß, aber diese dennoch nicht befolgt.519 Auch der Weg christlicher „Erbauung“ ist gesäumt von Wegmarken der „Erschütterung“, die als Kennzeichen für die Evaluation der eigenen Rechtschaffenheit dienen. Dieser pädagogische Aspekt wird von der mittelalterlichen Geschichtsschreibung aufgegriffen. Denn es ist gerade die Heilsgeschichte, welche nach einer erhabenen Sprache verlangt, um die Wichtigkeit des göttlichen Handelns zu betonen.520 Es gilt schließlich, zum „Sieg“ hin zu erschüttern, wie ein apologetisch motivierter Augustinus schreibt.521 Innerhalb dieser Erschütterungsrhetorik erfüllt das Erdbeben, als Argument eingesetzt, eine wichtige Aufgabe. Allerdings ist gerade bei der Kommunikation mit einem ungebildeten Publikum auf ein besonderes Maß an Anschaulichkeit zu achten. Zwar kann man nicht durch das erschüttert werden, was man nicht kennt.522 Dennoch gilt es, eben der durch Unerklärliches ausgelösten Ungewissheit zwingend entgegenzuwirken523 und Lösungsvorschläge und Bewältigungsstrategien zu präsentieren. Mittels einer an Metaphern reichen und mit vielfältigen Beispielen versehenen Sprache versuchten die mittelalterlichen Autoren ihre Mitmenschen im Glauben und in Handlungen zu bestärken sowie bei Fehlverhalten zu erziehen und zu belehren.524 Gemäß dem biblischen Vorbild ist ein jeder dazu angehalten, ein Haus auf dem festen Grund des Glaubens zu errichten, so dass es nicht durch die umbrausende Flut erschüttert und zum Einsturz gebracht werden kann.525 Der Schlüssel zur Besserung liegt in der Nachahmung des
519 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XII (27.), 135; ebd.: IV, cap. XXV (55.), 160 f.; Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 33, 590. Diese rhetorische Praxis war auch ein bewährtes Mittel bei der Vermittlung mittelalterlicher Herrscherethik. Siehe exemplarisch Hinkmar von Reims: De ordine palatii, prol., 38. 520 Isidor: Etymologiae, II, cap. XVII, 2: In causis autem maioribus, ubi de Deo vel hominum salute referimus, plus magnificentiae et fulgoris est exhibendum. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie: 96. Ebenso Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 32, 588. 521 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XII (28.), 136. Rupert von Deutz lässt mit Blick auf Christus die Metapher der Posaune sprechen, die maßgeblich ein Instrument der Kriegsführung ist und ebenfalls in der Offenbarung des Johannes auftritt, um die Bedeutung des Christusereignisses zu unterstreichen. Siehe Rupert von Deutz: De divinis officiis, 6, cap. 24, 838: pro tanti regis victoria tuba intonamus. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 839. 522 Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. XXVI (58.), 163. 523 Einmal mehr drückt Martianus Capella diesen Aspekt sehr poetisch aus. Siehe De nuptiis, V. 425, 147: Interea sonuere tubae raucusque per aethram / cantus, et ignoto caelum clangore remugit. / turbati expavere dei, vulgusque minorum / caelicolum trepidat, causarum et nescia corda; dt. Übersetzung siehe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur, 157. 524 Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 28, 574, 576. 525 Dieses Beispiel aus Lk 6, 47–49 wird z. B. verarbeitet bei Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 27, 572 sowie Ambrosius von Mailand: Expositio Evangelii secundum Lucam, V, cap. 82, 162: Omnium autem fundamentum docet esse virtutum oboedientiam caelestium praeceptorum, per quam domus haec non profluvio voluptatum, non nequitiae spiritalis incursu, non imbre mundano, non haereticorum possit nebulosis disputationibus conmoveri. Dt. Übersetzung siehe Ambrosius von Mailand: Lukaskommentar: 246 f.
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„Felsens“ Christus, zum Beispiel in einer gelebten Bußbereitschaft.526 Die mittelalterliche Geschichtsschreibung weiß diese Handlungsmuster nachdrücklich zu kommunizieren. Eine Passage aus einem Brief Gregors des Großen an den angelsächsischen König Aedilfrid, die Beda Venerabilis in seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum wiedergibt, ist an dieser Stelle beispielhaft anzuführen. Sie lautet: Praeterea scire vestram gloriam volumus quia, sicut in scriptura sacra ex verbis Domini omnipotentis agnoscimus, praesentis mundi iam terminus iuxta est, et sanctorum regnum venturum est, quod nullo umquam poterit fine terminari. Adpropinquante autem eodem mundi termino, multa inminent, quae antea non fuerunt, videlicet inmutationes aeris, terroresque de caelo, et contra ordinationem temporum tempestates, bella, fames, pestilentiae, terrae motus per loca: quae tamen non omnia nostris diebus ventura sunt, sed post nostros dies omnia subsequentur. Vos itaque, siqua ex his evenire in terra vestra cognoscitis, nullo modo vestrum animum perturbetis; quia idcirco haec signa de fine saeculi praemittuntur, ut de animabus nostris debeamus esse solliciti, de mortis hora suspecti, et venturo Iudici in bonis actibus inveniamur esse praeparati. Haec nunc, gloriose fili, paucis locutus sum, ut cum Christiana fides in regno vestro excreverit, nostra quoque apud vos locutio latior excrescat, et tanto plus loqui libeat, quanto se in mente nostra gaudia de gentis vestrae perfecta conversione multiplicant.527
Durch die gezielte Argumentation entlang der synoptischen Endzeitreden strahlt die Quelle eine unzweifelhaft eschatologische Färbung aus. Diese spezifische Form der Auslegung sowie Gregors tropologische Deutung wird uns etwas später zu diesem Textausschnitt zurückführen. Zunächst gilt es festzustellen, dass in diesen Zeilen die Deutung von Erdbeben, eingegliedert in einem Kanon endzeitlicher Zeichen, nicht primär als Strafe dargestellt wird. Die Erschütterung der Erde illustriert zwar einmal mehr528 ein Vorausbild des kommenden Jüngsten Gerichts. Entgegen mancher Erwartung bestärkt Gregors Botschaft jedoch nicht dazu zu verzagen.529 Durch die rhetorische Erschütterung zugänglich gemacht, gilt es vielmehr, die Angst beim Eintreten realer Erdbeben als Motor und Chance zu begreifen, um durch persönliche Besserung auf den rechten Weg zurückzukehren.530 Selbst in der frühmittelalterlichen Enzyklopädie, die aufbauend auf Isidor von Sevilla maßgeblich antikes, naturphilosophisches Wissen tradierte, wird diese von heilsgeschichtlichen Inhalten 526 Siehe auch die Kapitel III. 1. 1. 3 und IV. 3. 2. 3. 527 Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, I, cap. XXXII, 112, 114; engl. Übersetzung siehe ebd.: 113, 115. 528 Siehe Kap. B. IV. 1. 529 Ähnlich Cassiodor: Institutiones, 1, cap. 32. 5, 280, 282: Deus intonat per convexa caeli, fulgora demonstrat in nubibus, frequenter commovet fundamenta terrarum et – pro dolor! – praesentia ipsius non timetur, qui ubique totus et omnipotens esse cognoscitur. Quapropter absentem iudicem non credamus, et rei ad ipsius tribunalia non venimus. Qui minus peccat, gratias agat, quoniam desertus non est a Domini misericordia, ut praeceps laberetur ad vitia; qui plurimum deliquit, incessanter exoret. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 281, 283. 530 DINZELBACHER weist zu Recht darauf hin, dass das Motiv der Angst in der Praxis durchaus als Mittel zur Disziplinierung der Gläubigen von Seiten der Kirche verwendet wurde. Siehe DINZELBACHER 1996: 16, 21, bes. 94.
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getragene Erbauungsrhetorik sichtbar. In De natura rerum Isidors, neben den Etymologiae ein weiteres naturkundliches Werk aus der Feder des Westgoten, ist die eschatologisch-anagogische Verweisfunktion von Erdbeben auf das Jüngste Gericht an das Ende des Kapitels gesetzt und stellt somit eine elegante Gegenüberstellung zum zuvor rezipierten antik-paganen Wissen531 dar. Die irdischen Menschen sollen, so Isidor, durch die Erschütterungen der Erde zum rechten Glauben zurückgeführt werden.532 Das Bibelzitat pedes eius steterunt, et mota est terra, utique ad credendum533 verleiht seiner belehrenden Erbauung schließlich die notwendige Autorität. Diese Denktradition blieb nicht auf Isidor, Beda bzw. Gregor beschränkt. Historisch belegte Erdbeben wurden auch in anderen Quellen eindeutig als Aufforderung zur Buße verstanden. Insbesondere in der Berichterstattung zum Erdbeben vom 3. Januar 1117 wird eine solche Botschaft tradiert.534 Für Ebo von Michelsberg ließ Gott in diesem Jahr die Erde aufgrund der menschlichen Sünden erbeben.535 Einmal mehr erscheinen in den Worten des Bamberger Mönchs Erdbeben als ein gedeuteter Indikator für die Fehlentwicklungen menschlichen Zusammenlebens, die den göttlichen Zorn heraufbeschworen. Nur Litaneien und eine glaubhaft praktizierte Bußbereitschaft, wie in der Chronik Guidos von Montecassino zu einem Beben im Jahr
531 Isidor: De natura rerum, cap. XLVI. 1–3, 76 f. 532 Isidor: De natura rerum, cap. XLVI. 3, 77: Huius autem terrae commotio pertinet ad iudicium, quando peccatores et terreni homines spiritu oris dei concussi commovebuntur. Item terrae commotio hominum terrenorum est ad fidem conversio, unde scriptum est: ‚Pedes eius steterunt. et mota est terra, utique ad credendum‘. Frz. Übersetzung siehe Isidore de Seville: Traité de la nature, 320. 533 Vgl. Hab 3, 5–6. Isidor verwendet es allerdings etwas aus dem hier überlieferten Zusammenhang. Selbiges Zitat wird auch von Gregor dem Großen verwendet, der jedoch die Septuaginta zitiert. Somit erklärt sich der von der Vulgata abweichende Wortlaut. Siehe Gregor der Große: Moralia in Iob, XI, cap. X (15.), 594. Gregors Auslegung steht hier im Einklang mit seinen tropologisch-moralischen Ausführungen an Aedilfrid. 534 Chronica monasterii Casinensis: IV, cap. 65, 527 f.; Annales Sancti Disibodi: 22 f. Ein Bezug zur Buße kann ebenfalls aus der Erwähnung des 40 Tage andauernden Erdbebens in den Annales Melrosensibus: 434 sowie in den Arbeiten von Florence von Worcester: Historia, 567 und Roger von Howden: Chronica, 171 abgeleitet werden. Die Schilderung des zusammenfallenden Mailänder Turms besitzt durchaus eine inhaltliche Verwandtschaft zu dem im Lukas-Evangelium erwähnten eingestürzten Turm von Schiloach (Lk 13, 4). Diese Anspielung auf die wegen ihrer Unbußfertigkeit erschlagenen Sünder wird durch die Erwähnung der Erdbebendauer von 40 Tagen zusätzlich bestärkt. Denn genau so lange dauerte die Zeitspanne, die Gott den Bewohnern von Ninive zur Buße einräumte, bevor er die angedrohte Strafe – nämlich die Zerstörung der Stadt – Realität werden lassen wollte (Jon 3, 3–10). Die Erwähnung eines vierzigtägigen Fastens war im Mittelalter ein beliebter und weitverbreiteter Topos. Siehe FREUND 1998: 309. 535 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42: Siquidem anno Domini millesimo centesimo decimo septimo III Nonas Ianuarii, id est in octava sancti Iohannis apostoli, peccatis hominum exigentibus, terre motus factus est magnus; Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334.
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1120 berichtet,536 beschwichtigten den christlichen Gott. Diesen Akt des Gehorsams illustriert das Mittelalter schließlich als innere Erbauung. Tremat te terra, non capiat.537 So bezeichnete der Heilige Ambrosius von Mailand diese Festigkeit im Glauben. Im Zusammenhang mit Erdbeben wurde die Aufforderung zum Fasten oder zur Buße in frühmittelalterlichen Quellen stets mit anderen Unheilszeichen, wie dem Auftreten von Seuchen, schweren Unwettern und allgemeiner Sterblichkeit, verbunden.538 Insgesamt wurde die antike Denktradition, Erdbeben als Prodigium aufzufassen, im Frühmittelalter539 lebhafter ausgeübt, als es für hochmittelalterliche Quellen der Fall540 ist. Ab dem Erdbeben von 1117 ist diese Deutung bis zum Ende der Beobachtungszeit dieser Studie für das vorliegenden Untersuchungsgebiet sogar gänzlich verschwunden. Mit der Rückbesinnung auf antikes bzw. frühmittelalterliches
536 Chronica monasterii Casinensis: IV, cap. 65, 527 f.: Quo dum venissent videntes illusionem diabolicam alio die letaniam, quam stulte dimiserant, discalciatis pedibus implere studuerunt. Igitur prima noctis vigilia magno ultra modum terre motu facto fratres e stratis suis surgentes, discalciatis pedibus flentes et eiulantes ad patrem confugiunt Benedictum atque ante eius sacratissimum corpus preces ad eum fundentes per omnia monasterii altaria letanias decantare ceperunt. Fidelis Dominus in verbis suis, qui invocantes se et de sua misericordia presumentes exaudire promisit! Nam supplicatio e letanie a fratribus explicita, ne unus quidem lapis ulterius de hoc loco motus est. Hec dum ad notitiam vicinorum circummanentium per venissent, omnes fere, qui in principatu manebant, nudis vestigiis huc ad beatum Benedictum venerunt omnipotentis Dei clementiam suppliciter postulantes, ut tanti patris interventu illis misereri dignaretur. Nec sua frustrati sunt estimatione, nam confestim tremor terre quievit. Die Darstellung ist weitestgehend aus verschiedenen Heiligenviten kompiliert. Siehe ebd.: 528. 537 Ambrosius von Mailand: Expositio Evangelii secundum Lucam, VII, cap. 5, 216. Dt. Übersetzung siehe Ambrosius von Mailand: Lukaskommentar, 331. 538 [EB 823]: Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XXXVII, 420 ff.: Eo tempore quedam prodigiosa signa apparentia animum imperatoris sollicitabant, precipue terrę motus palatii Aquensis et sonitus inauditi nocturno sub tempore, et puelle, cuiusdam ieiunia XII mensibus omni penitus cybo abstinentis, crebra et inusitata fulgura, lapidum cum grandine casus, pestilentia hominum et animalium. Propter quae singula piissimus imperator crebro fieri ieiunia, orationumque instantia atque elemosinarum largitionibus divinitatem per sacerdotium monebat offitium placandam, certissime dicens, per haec portendi magnam humano generi futuram cladem. Ebenso [EB 867]: Annales Xantenses: 25 f. 539 Für die Epoche vor dem Beginn unserer eigentlichen Untersuchungszeit ist hier besonders die Historiae Gregors von Tours anzuführen. Siehe beispielhaft Gregor von Tours: Libri Historiarum, II, cap. 34, 83: dum urbis illa multis terreretur prodigiis. Nam terrae moto frequenti quatiebatur, sed et metuens oberrabat. Dt. Übersetzung siehe Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichten I, 127. 540 Eine Deutung als Prodigium lässt sich für folgende Erdbeben nachweisen. [EB 823]: Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XXXVII, 420 ff.; Annales regni Francorum: 163; [EB 845]: Annales Xantenses: 14; [EB 867]: Annales Xantenses: 25 f.; [EB 872]: Annales Stabulenses: 42; [EB 998]: Annales Quedlinburgenses: 499; Annales Magdeburgenses: 160; [EB 1062]: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz: 194 ff.; [EB 1081]: Sigebert von Gembloux: Chronographia: 364; [EB 1117]: Zwiefaltener Chroniken Ortliebs und Bertholds: 218; Chronicon rhythmicum Leodiense: 125; Landulphus de Sancto Paulo: Historia Mediolanensis, 39; Chronica romanorum pp. et imperatorum (Cronica S. Mariae de Ferraria): 16.
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Schriftgut scheint im Verlauf der Renaissance jedoch diese spezifische Deutungstradition von Erdbeben ins Denken zurückgeholt worden zu sein. Die Anschaulichkeit einer Erdbebenbeschreibung erreichten die mittelalterlichen Schreiber jedoch nicht nur durch die Aneinanderreihung zahlreicher Kuriositäten, wie der plötzlich des Sprechens mächtiger Kleinkinder,541 der von der Erdoberfläche verschwundener Flüsse,542 der aufsteigender Drachen543 oder der brüllender Ungeheuer.544 Anschaulichkeit besteht besonders auch in der detaillierten Beschreibung der Schütterwirkung selbst. Wenn die Annales regni Francorum für 829 ein Erdbeben in Aachen beschreiben, so geschieht dies so eindrücklich, dass in der Tat eine klare Vorstellung von den vom Dach geworfenen Bleiplatten erzeugt wird.545 Auch in späterer Zeit nehmen zahlreiche Quellen in ihrem Bericht zu Erdbeben diese Tradition auf. Allerdings bleibt zu unterstreichen, dass der Grad der auf Detailreichtum gegründeten Anschaulichkeit im Verlauf des Hochmittelalters spürbar abnimmt. Lediglich neun Quellen berichten nach 1117 überhaupt noch in einer Art und Weise, welche als anschaulich charakterisiert werden kann.546 Insbesondere die Darstellungen österreichischer Quellen zum schweren Lungauer Erdbeben von 1201547 sowie Caesarius’ von Heisterbach Überlieferung für das Jahr
541 Annales Sancti Disibodi: 22 f.; Chronica monasterii Casinensis: IV, cap. 62, 525. 542 Annales Corbeienses maiores: 51; Anselmi Gemblacensis continuatio: 376; Annales Sancti Disibodi: 22. 543 Annales Xantenses: 10. 544 Annales Sangallenses maiores: 306. Als Motivvorlage ist Plinius: Naturalis historia, II, cap. 80, 202: praecedit vero comitaturque terribilis sonus, alias murmuri similis, alias mugitibus aut clamori humano armorumve pulsantium fragori wahrscheinlich. Dt. Übersetzung siehe Plinius: Naturkunde, 165. 545 Annales regni Francorum: 176 f.: DCCCXXVIIII. Post exactam hiemem in ipso sancto quadragesimali ieiunio paucis ante sanctum pascha diebus Aquisgrani terrae motus noctu factus ventusque tam vehemens coortus, ut non solum humiliores domos, verum etiam ipsam sanctae Dei genitricis basilicam, quam capellam vocant, tegulis plumbeis tectam non modica denudaret parte. 546 [EB 1179]: Chronica regia Coloniensis: 130; [EB 1201]: Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 779; Annales Admontenses continuatio (Codex Novimontensis): 589 f.; Hermann von Niederaltaich: Annales: 386; Annales Windbergenses: 752**; [falsches EB 1205]: Hermann Korner: Chronica Novella, 141; [EB 1223]: Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, 1994; [falsches EB 1225]: Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210; [EB 1237]: Annales Augustani minores: 9. 547 Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 779: 1201. Terre motus multis terrarum locis factus est magnus, ita ut multas ecclesias et urbes destrueret, et mortes hominum fierent. Duravit autem idem terre motus in pago, qui dicitur Longou, anno et dimidio, ita ut homines illius provincie domos suas relinquerent, et sub udo aeris habitarent. Cepit autem idem terre motus 4. Non. Mai. Hoc quoque anno Wernhardus prepositus Berthesgadem fratri suo domino Perhtoldo Rome defuncto Nonis Octobris successit; Annales Admontenses continuatio (Codex Novimontensis): 589: 1201. Terre motus magnus factus est, per dimidiam fere horam, 4. Nonas Magi, ac deinceps frequenter adeo fortis ut nonnullas ecclesias subverteret, ac domus muratas in quibus longe lateque magna strages hominum facta est. (Inter que in castro Wizzenstain turris corruens hospitem domus Hartrodum, ministerialem ducis Stirensis, cum 7 viris interemit; sed et castrum archiepiscopi Chaets dirutum, fere omnes habitatores suos morti dedit).
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1223 stellen eine Ausnahme dar. Dennoch, das „Bunte“ in der Sprache, das Phantasie- und Abwechslungsreiche in der historiographischen und annalistischen Berichterstattung ist gewichen. Eine belegte Formalisierung trat an deren Stelle.548 3.2.1 Die Beschreibung mittelalterlicher Falschbeben nördlich der Alpen Das Aufspüren falscher Erdbeben in historischen Überlieferungen gehört zu den zentralen Aufgabenstellungen der Historischen Seismologie.549 Die Qualität moderner historisch-kritisch bewerteter sowie parametrisierter Erdbebenkataloge ist von einer Kenntlichmachung dieser Falschbeben in den bislang genutzten historischen Datenbeständen in hohem Maße abhängig.550 Ein vertieftes Verständnis über das Wesen mittelalterlicher Beschreibungen, die bewusst oder unbewusst falsche Informationen über Erdbeben an die Nachwelt weitergeben, ist dringend erforderlich. Maßgeblich meinen wir hiermit das Bild und die Vorstellung, welche sich mittelalterliche Gesellschaften über Erdbeben machten. Von „falschen Erdbeben“ sollte diesbezüglich also nur in Bezug auf eine anzustrebende Parametrisierung sowie eine ereignisgeschichtliche Rekonstruktion gesprochen werden. Die Assoziationskraft, welche das Argument Erdbeben entfalten kann, ist nicht gebunden an die reale Existenz einer seismischen Erschütterung. Der Befund von „Falschbeben“ in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung ist, wie die nächsten Seiten zeigen werden, geeignet, um das zeitgenössische Interpretationspotential von Naturphänomenen offenzulegen. Eine Auseinandersetzung mit dieser spezifischen Form der Welterklärung ist somit durchaus als ein Prüfstein für das Spektrum mittelalterlicher Vorstellung sowie Auslegung anzusehen. Innerhalb des gewählten früh- und hochmittelalterlichen Zeitfensters sind für das Untersuchungsgebiet 19 Ereignisse als fragliche (9x) oder falsche Erdbeben erkannt worden. Bei einer Gesamtzahl von 72 bislang bekannten Ereignissen handelt es sich um ein durchaus beachtliches Ergebnis. Die Unterscheidung zwischen „fraglichen“ und im Wortsinn „falschen“ Erdbeben wurde notwendig, um all jene seismischen Ereignisse angemessen zu berücksichtigen, welche meist auf Grund unzureichend gesicherter Überlieferung für eine Parametrisierung mit zu großen Unsicherheiten versehen wären. „Fraglich“ muss also keineswegs bedeuten, dass eine Falsifizierung gerechtfertigt wäre. Vielmehr hat die Quellenlage oft nicht ausgereicht, um eine solche auch beweiskräftig belegen zu können. „Im Zweifel für den Angeklagten“ gilt somit auch für historische Erdbeben. Diese Aspekte ereignisgeschichtlicher Bewertung, die zu einer entsprechenden Klassifizierung führen, sollen an dieser Stelle nur partiell Gegenstand sein, da, wie aus den obigen Zeilen
548 TERSCH 1996: 299 u. 302 nennt diese gewandelte Mentalität „spätmittelalterlichen Realismus“. 549 Für einen Überblick siehe besonders ALBINI 2011: 111; GUIDOBONI, EBEL 2009: 247–251; originell, aber dennoch sehr zutreffend MUSSON 2005: 111. 550 GRÜNTHAL 2004: 632, 636; AMBRASEYS 2005: 337; MUSSON 2005: 113.
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ersichtlich wurde, diese Untersuchung bereits an anderer Stelle erfolgte.551 Als Ergebnis ist hier freilich auszuführen, dass ab dem Jahr 1117 für das Hochmittelalter weit weniger fragliche und falsche Erdbeben nachzuweisen sind als für den vorangehenden Zeitraum.552 Den Historiographen des Frühmittelalters sollte aus den 13 betreffenden Ereignissen553 dennoch keine besondere Vorliebe für die nach heutigen Maßstäben „falsche“ Beurteilung und Tradierung von Erdbeben unterstellt werden. Vielmehr lassen sich aus diesem Aspekt Rückschlüsse auf ein gewandeltes Berichtsinteresse sowie ein seitens der Geschichtsschreiber argumentativ bewusster ausgeschöpftes Potential aus dem Faktum Erdbeben ziehen. Somit sind gerade die narrative Ausgestaltung von „falschen“ Erdbeben durch die mittelalterliche Geschichtsschreibung sowie vermeintlich naheliegende Unterschiede in der deskriptiven Qualität der betreffenden Überlieferungen mit gesonderter Aufmerksamkeit zu würdigen. Betrachtet man die historiographischen und annalistischen Beschreibungen von Erdbeben, welche durch eine ereignisgeschichtliche Untersuchung als falsch nachgewiesen wurden, so wird durchaus eine andere argumentative Qualität der überlieferten Nachrichten deutlich. Die Darstellung des historischen Faktums aus den vier Umständen „was“, „wo“, „wann“ und „wie“ erweist sich gerade bei jenen Quellen als besonders dicht und ausgeprägt. Von insgesamt 22 Beschreibungen, welche an ein als falsch bewertetes Erdbeben erinnern, erfüllen immerhin 16 mindestens drei Bestimmungen des Umstandes.554 Fünf Quellen nutzen sogar alle vier circumstantiae für ihren Bericht.555 Der nachgewiesene Detailreichtum unterstützt schließlich die Ausbildung von zwei Wesensmerkmalen falsch beschriebener Erd-
551 Hinsichtlich der Beweisführung siehe die jeweils zutreffenden Beben in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 552 Als fragliche Erdbeben sind die Ereignisse von 1141, 1142 sowie 1189 nachgewiesen. Falsche Erdbeben für diesen Zeitraum sind Hermann Korners brandenburgische Erdbeben von 1201 bis 1205 sowie das friesische Ereignis von 1225. 553 Fraglich von 782 bis 1117 sind folgende Ereignisse aus den Jahren 895, 935, 939, 1012, 1035, 1112. Falsche Beben sind für die Jahre 799, 845, 998, 1000, 1013, 1062 sowie 1095 nachgewiesen. Ebenso wird ein vermeintlich süddeutsches Epizentrum zum Erdbeben vom 3. Januar 1117 (vgl. GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 1–20; GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 84–129) als Fake gewertet. Siehe zu allen Beben die quellenkundliche Belegführung in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 554 Folgende als falsch bewertete Erdbeben werden mit drei Umständekriterien beschrieben. [EB 845]: Annales Xantenses: 14; [EB 998]: Annales Quedlinburgenses: 499; Annales Magdeburgenses: 160; Annalista Saxo: 269; Cosmas von Prag: Chronicon Bohemorum (ÖNB Wien, Cod. 508), 56; [EB 1000]: Annales Elnonenses: 153; Annales Leodienses: 18; [EB 1013]: Annales Quedlinburgenses: 540; Thietmar von Merseburg: Chronicon (Codex 1; SLUB Dresden Mscr. Dresd. R 147), VI, 384; Annales Magdeburgenses: 165; Annalista Saxo: 330; [EB 1062]: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz: 194 ff.; [EB 1095]: Sigebert von Gembloux: Chronographia, 367; [EB 1225]: Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210. 555 [EB 1000]: Annales Blandinienses: 22; Annales Elmarenses: 87; [EB 1201, 1202, 1205]: Hermann Korner: Chronica Novella, 5, 141.
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beben. Sie dienen zum einen der Anschaulichkeit des Überlieferungsstoffes und zum anderen der sicheren Begründung einer weiterführenden Argumentation. Wenig erstaunlich ist, dass dieses Potential einer argumentativen Ausgestaltung innerhalb der historiographischen Arbeit auch tatsächlich ausgeschöpft wird.556 Das beachtliche Niveau anschaulicher Beschreibungen unterstützt deshalb die Annahme, dass mittelalterliche Schreiber durch ein gesteigertes Maß an Informationen den Grad der Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung abzusichern suchten. Zutreffend ist dies ebenso für die Wiedergabe von naturkundlichem bzw. -philosophischem Wissen. So beabsichtigt der erklärende Einschub zur aristotelischen Erdbebentheorie in den Annales Elnonenses,557 Glaubwürdigkeit durch die Äußerung eines für die Zeit überdurchschnittlich hohen Wissensstandes zu schaffen. Die Wortfolge vento in venas terrę condito, ubi concava terrarum viscera his motibus subiacent veluti venti capacia ist eingebunden in die primär eschatologische Botschaft558 des Autors und bekräftigt zusätzlich dessen vermeintliche Kompetenz, das für viele seiner Zeitgenossen unerklärliche Ereignis Erdbeben sinnvoll erklären zu können. Dass es sich um ein falsches Erdbeben559 gehandelt haben dürfte, bleibt vollkommen unerheblich. „Glaubhaft durch Anschaulichkeit“, wie als übergeordnete Kapitelüberschrift bereits zu lesen, bzw. glaubhaft durch weiterführende Argumentation, ist für den Überlieferungscharakter falscher Erdbeben somit ein durchaus typischer Befund. a) His namque et aliis signis quae pręnuntiata fuerunt opere completis – Falschbeben im Sinne einer eschatologischen Deutung Das Zitat in der Kapitelüberschrift ist erneut den Annales Elnonenses560 für das Jahr 1000 entnommen. Es veranschaulicht, dass sich die folgende Untersuchung einer im christlichen Verständnis idealtypischen Form von „Erschütterungsrhetorik“ widmen wird. Die mittelalterliche Historiographie ist fest in einer heilsgeschichtlichen Tradition verankert. Es war ein selbstverständliches christliches Anliegen, an das zurückliegende Wirken Gottes seit der Erschaffung der Welt zu erinnern sowie einen Ausblick auf die zielgerichtete Vollendung der Geschichte im Jüngsten Gericht zu geben.561 Dem Zeitpunkt des Übergangs von der irdischen
556 Fünf Quellen lassen der deskriptiven Beschreibung eine Argumentation folgen, die das Faktum Erdbeben gezielt argumentativ einbaut. Es handelt sich um: [EB 845]: Annales Xantenses: 14; [EB 998]: Annales Quedlinburgenses: 499; Annales Magdeburgenses: 160; [EB 1000]: Annales Elnonenses: 153; [EB 1225]: Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210. 557 Annales Elnonenses: 153; inhaltlich dürfte diese Passage am ehesten durch Isidors De natura rerum, cap. XLVI, 76 f. ins Mittelalter tradiert worden sein. 558 Siehe diesbezüglich die Erläuterungen in Kap. III. 3. 2. 1. a). 559 Siehe Erläuterungen zum seismischen Ereignis im Jahr 1000 in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 560 Annales Elnonenses: 153. 561 Siehe u. a.: STRUVE 2002: 201 f.; GOETZ 2007a: 437 f.
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praesentia mundi zum ewigen sanctorum regnum562 wurde stets ein großes geschichtstheologisches Interesse entgegengebracht. Es galt, die namentlich durch die Heilige Schrift übermittelten Zeichen der Wiederankunft Christi in der Gegenwart zu erkennen, um für den Gang vor den göttlichen Richterstuhl gewappnet zu sein. Vor diesem Hintergrund wurde die Auslegung realhistorischer Vorgänge im Sinne einer eschatologischen Gegenwartsanalyse bereitwillig vollzogen. Das Signum Erdbeben, welches im Mittelalter auf verschiedene Weisen gedeutet wurde, besitzt in seiner Funktion als eines der signa de fine saeculi563 einen exponierten Stellenwert innerhalb dieses historiographischen Prozesses mittelalterlichen Weltverstehens. Kriege, Hunger und Seuchen beförderten nachweislich endzeitliche Deutungsweisen.564 In Zeiten gesellschaftlicher Krisen verlangt es seit jeher nach einer Erklärung der Ursachen sowie einem Angebot an Auswegmöglichkeiten. Die Eschatologie schärft diesen „Blick für die Nöte der Gegenwart“, wie Johannes Fried meint.565 Sie präsentiert sich als Mittel, um Ängsten und Ungewissheit zu begegnen, indem sie den Sündern Gewissheit zur Strafe sowie den Rechtmäßigen die Hoffnung auf Erlösung im Himmelreich vermittelt. Eschatologie bzw. die in der Anagoge vollzogene Erhöhung zum Geistig-Himmlischen ermuntert jedoch auch stets zur Kontemplation.566 Erdbeben besitzen vor diesem Hintergrund das hermeneutische Potential, um in instabilen Zeiten eine aussagestarke Grundlage zu bilden. Auf ihre Rolle in der Exegese soll noch ausführlicher eingegangen werden.567 Innerhalb der Geschichtsschreibung des Mittelalters besitzt das eschatologisch verwendete Argument Erdbeben dann gesonderte Bedeutung, wenn ein offensichtlich mystisch-symbolisches Arrangement verschiedener biblischer Motive mit einer rhetorisch um die Gunst des Publikums ringenden Sprache verbunden ist und der Erschütterungs- sowie Erbauungsanspruch des Autors Vorzug vor der historisch verbürgten Wirklichkeit erhält. In Verbindung mit gegebenenfalls inkonsistenten quellenkundlichen Befunden erweisen sich derlei Überlieferungen in der Regel als Falschbeben. Gleichwohl zeigt dieses Vorgehen, dass eine eschatologisch gefärbte Erdbebenbeschreibung per se kein Ausschlusskriterium bedeutet, sondern erst die Quellenkritik zur Falsifizierung führt.568
562 Siehe Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, I, cap. XXXII, 112. 563 Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, I, cap. XXXII, 114. 564 STRUVE 2002: 219, 225. 565 FRIED 1989: 445. 566 GOETZ 2007a: 449 f. Siehe z. B. auch Hugo von St. Viktor: Didascalicon, V, cap. 9, 348: Quinta deinde sequitur, contemplatio, in qua, quasi quodam praecedentium fructu, in hac vita etiam quae sit bona operis merces futura praegustatur. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 349. 567 Siehe Kapitel IV. 3. 568 Diesbezüglich sei insbesondere die eschatologische Traditionslinie (Ekkehard von Aura, Ebo von Michelsberg, Annales Sancti Disibodi) innerhalb der Überlieferung zum Erdbeben von 1117 zu nennen. Das Veroneser Beben wird durch diese Quellen keineswegs in Frage gestellt.
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Ein prägnantes Beispiel für den argumentativen Stellenwert von Erdbeben bietet innerhalb einer endzeitlichen Geschichtsvermittlung ein frühmittelalterlicher Eintrag in den Annales Xantenses zum Falschbeben von 845.569 In einer überaus wortreichen Darstellung schildert ihr zeitgenössischer Autor, der Mönch Gerward, welcher die niederrheinischen Güter des Klosters Lorsch verwaltete,570 die bedrückenden Ereignisse des Jahres. Weit entfernt vom mittelrheinischen Wormsgau berichtet Gerward von gleich zwei Erdbeben bei Lorsch, die dort einmal in der Nacht zu Palmsonntag sowie erneut in der Osternacht stattgefunden hätten.571 Die vermeintlichen Erschütterungen illustrieren durch ihre symbolträchtige Datierung zeichenhaft den eschatologischen Charakter von Gerwards betrüblicher, aus Normanneneinfällen, Verschleppung und Christenverfolgung bestehenden Gegenwart.572 Beide Daten begrenzen nicht nur den Zeitraum der Karwoche. Sie stehen gleichsam zeichenhaft für Ankündigung und Vollendung des Sieges Christi.573 Diese Intention macht sich der Eintrag der Annales Xantenses zu eigen. Die zwei Erdbeben eröffnen geradezu symbolisch eine an der Passion Christi ausgerichtete Rahmenhandlung,574 die im analogen Rückgriff auf biblisch verbürgte Taten und Handlungen eine argumentative Grundlage für den buchstäblich „sagenhaften“575 Bericht des Jahres 845 bildet. Das erste Erdbeben zu Palmsonntag legt den Fokus auf das endzeitgleiche Eintreten zahlreicher historischer Ereignisse und hält mit der Aufforderung zum bußfertigen Fasten ein anschauliches Exemplum zur Besserung bereit.576 Das zweite für die Osternacht 569 Hinsichtlich der ausführlichen quellenkundlichen sowie ereignisgeschichtlichen Bewertung dieses Erdbebens siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). Da keine Parallelüberlieferung zu diesen beiden Erdbeben bekannt ist, stand das Verdachtsmoment eines Falschbebens von Anfang an im Raum. 570 LÖWE 1950: 83, 91, 98. 571 Annales Xantenses: 14: Bis in pago Wormaciense terre motus factus est. Primo sequenti nocte palmarum, secundo in nocte sancta resurrectionis Christi. 572 Annales Xantenses: 14: Eodem anno multis in locis gentiles Christianos invaserunt, sed cesi sunt ex eis a Fresionibus plus quam XII milia. Alia pars eorum Galliam petierunt, ibique ceciderunt ex eis plus quam sexcenti viri. Sed tamen propter desidiam Karoli dedit eis multa milia ponderum auri et argenti, ut irent extra Galliam, quod et fecerunt. Tamen monasteria sanctorum plurimorum diruta sunt, et multos Christianos captivos abduxerunt. Siehe auch LÖWE 1950: 70, 74. 573 Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 35, 332: In ramis enim palmarum significabatur victoria, qua erat dominus mortem moriendo superaturus et tropheao crucis de diabolo, mortis principe, triumphaturus. Dt. Übersetzung ebd.: 333; siehe ebenfalls KRATZ 1992: 564. 574 HEINZELMANN 2002: 34 nennt ein solches narratives Vorgehen eine „Parallelisierung aktueller historischer Situationen und Personen mit Situationen und Personen der Heiligen Schriften“. 575 LÖWE 1950: 71; siehe ebenso SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung) zum Beben von 845. 576 Annales Xantenses: 14: At ille, concessa pace, reversus est de Saxonia. Postea vero ingenti clade percussi sunt predones, in qua et princeps sceleratorum, qui Christianos et loca sancta predaverat, nomine Reginheri Domino percutiente interiit. Consilio enim inito miserunt sortes, a quo deorum suorum salutem consequi debuissent; sed sortes salubriter non ceciderunt. Suadente autem eos quodam captive Christiano, ut coram deo Christianorum sortem ponerent, quod et fecerunt, et
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erwähnte Erdbeben vermittelt für den mittelalterlichen Leser indes einen klar erkennbaren Ausweg. Die zeichenhafte Betonung der Auferstehung Christi besteht hier nicht allein in einem Erbeben der von Gott erschaffenen Erde.577 Geradezu exemplarisch wird diese Aussage durch die von Gerward gewählte Formulierung terrae motus factus est sprachlich komprimiert. Gleichwohl eine abschließende Eruierung der materiellen Toposhaftigkeit dieser bekannten Formel noch aussteht,578 ist die wortgleiche Vorgabe des Matthäus-Evangeliums autoritativ bindend für den Charakter dieser Beschreibung. Der feste Glaube, in gleicher Weise wie Jesus Christus von den Toten aufzuerstehen, alle Leiden hinter sich zu lassen und den Übergang zum unsterblichen Leben zu finden,579 war allgegenwärtiger Bestandteil christlich-mittelalterlicher Alltagskultur. Auch für die bildende Kunst des Mittelalters ist dies eine seit langem gesicherte Erkenntnis. Sie spiegelt sich jedoch abseits des Bildprogramms von Kirchenfenstern und -portalen580 auch in Gestalt der hauptsächlich im Mittelalter verwandten Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est wider. Diese Deutungstradition kann ebenso in Überlieferungen weiterer Erdbeben erkannt werden. Vor allem das Zitat in der Überschrift dieses Kapitels ist diesbezüglich aussagekräftig. Im Jahr 1000 hat sich nach gängiger Forschungsmeinung581 am Karfreitag ein Erdbeben in der Nähe des heutigen nordostfranzösischen Ortes SaintAmand-les-Eaux zugetragen. Dieser Auffassung konnte an anderer Stelle begründet widersprochen und der überlieferte Vorgang als Falschbeben erkannt werden.582 Der zeitgenössische Wortlaut der vermutlich zu Beginn ihrer Entstehung im französischen Kloster St. Vast583 verschriftlichten Annales Elnonenses repräsentiert, gemessen am Gesamtquellencorpus, eine besonders beachtenswerte narrative Aufwertung
salubriter sors eorum cecidit. Tunc rex eorum nomine Rorik una cum omni populo gentilium XIIII dies a carne et medone abstinuit, et cessavit plaga, et omnes Christianos captivos, quos habebant, ad patriam propriam dirigunt. 577 Hier sei noch einmal an das Kapitel III. 1. 1. 5 erinnert. Siehe ebenfalls WALDHERR 2016: 82. 578 Siehe Kapitel IV und V. 579 Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 42, 368: Nam sicut ipse dominus Iesus Christus et salvator noster tertia die resurrexit a mortuis, ita et nos resurrecturos in novissimo die speramus. Sowie ebd.: 2, cap. 39, 349: Transitus ergo de hac vita mortali in aliam vitam immortalem, hoc est de morte ad vitam, in passione et resurrectione domini commendatur. Hic transitus a nobis modi agitur per fidem, quae nobis datur in remissionem peccatorum, quando consepelimur cum Christo per baptismum, quasi a mortuis transeuntes de peioribus ad meliora, de corporalibus ad spiritalia, de conversatione huius vitae ad spem futurae resurrectionis et gloriae. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 369 und 350. 580 Beispielhaft BOERNER 2002: 301–320. 581 ALEXANDRE 1990: 137; ALEXANDRE 1991: 45–52. 582 Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Argumentation und quellenkritischen Untersuchung des Ereignisses siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 583 Annales Elnonenses: LIV, LVIIf.
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der vermeintlichen Schütterwirkung.584 Die Grundintention einer eschatologischen Deutung des Erdbebens ist seitens des Schreibers klar ersichtlich.585 Die eloquente und für die Zeit besonders wissensreiche Darstellung des Erdbebens folgt dieser Vorgabe. Der Leser soll durch eine eschatologische Geschichtsvermittlung bewegt werden, denn es heißt nicht nur, dass während der Karfreitagsmesse ein Erdbeben stattfand,586 sondern auch, dass dieses von einer besonderen Stärke587 gewesen sei. Die Wiedererinnerung an das im Moment des Kreuzestodes Christi eingetretene Erdbeben bildet in diesen Zeilen, nicht nur durch die technische Übernahme des Wortlautes terręmotus magnus factus est, eine Einheit mit der historiographischen Erinnerung. Der anonyme Autor der Annales Elnonenses illustriert mit Nachdruck das Christusereignis588 als integratives Element zwischen seiner Historiographie und der Heilsgeschichte.589 Dabei legt er ein besonderes Augenmerk auf den am Ende der Passion Christi stehenden Kreuzestod. Die Erwähnung der daraus resultierenden vollumfänglichen Erschütterung des Erdkreises – sprich der von Menschen bewohnten Landmasse terra – leitet anschließend den Schlussteil des Jahreseintrages ein. Generali et vasto tremore totius orbis magnitudo passim contremuit590 bildet eine analoge Entsprechung zur allgemeinen kosmischen Erschütterung, wie sie in der Offenbarung des Johannes berichtet wird.591 Die argumentative Zielrichtung des Schreibers mündet daher folgerichtig in der Wiederankunft Christi und der allgemeinen Auferstehung.
584 Diese rhetorische Aufwertung setzt sich bis in fortgeschrittene Rezeptionsstufen der Erdbebennachricht fort, wie die von den Annales Elnonenses abhängigen vergangenheitsgeschichtlichen Einträge der Annales Blandinienses: 22 sowie Annales Elmarenses: 87 zeigen. 585 Das Beben im Jahr 1000 wurde auch schon von Johannes Fried als Beispiel für eine eschatologische Deutung erwähnt. Siehe FRIED 1989: 389, Anm. 24. 586 Annales Elnonenses: 153: 1000. Anno dominicae incarnationis millesimo, indictione XIII, epacta XII, concurrente I, termino paschali IX kal. Aprilis, IV kal. Aprilis, feria VI, celebrantibus christicolis sacrosanctę passionis ac redemptionis illius misterium, terręmotus magnus factus est. 587 Annales Elnonenses: 153: non ita ut sepe accidere solet. 588 Hinsichtlich des eschatologischen Verständnisses des Christusereignisses siehe u. a. FEINER, LÖHRER 1965: 511. 589 Siehe die Ausführung von Adolf DARLAP in FEINER, LÖHRER 1965: 62: „Somit wird deutlich, wie das geschichtliche Verhältnis von Profangeschichte, allgemeiner Heils- und Offenbarungsgeschichte einerseits und besonderer, amtlicher Heils- und Offenbarungsgeschichte anderseits im Christusereignis zu seinem Ziel kommt. Von diesem Ziel her ist zu zeigen, wie Geschichte und Heilsgeschichte in ihrem Unterschied wie in ihrer Einheit, d. h. im geschichtlichen Prozeß ihres Auseinandertretens und Zusammenkommens, sowie im Herstellen einer letzten endgültigen Einheit sich verhalten.“ 590 Annales Elnonenses: 153. 591 Apk 16, 18.
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Seine geschichtstheologische Deutung strebt hauptsächlich die Betonung des moralisierenden Moments in der Eschatologie an. Wenn es heißt: ut cunctis fieret manifestum, quod ore veritatis fuerat ante promissum. His namque et aliis signis quae pręnuntiata fuerunt opere completis, hinc iam fit nostra spes certior omni visu, de his quę restant ordine complendis,592
geht es ihm im Wesentlichen um das durch das Signum Erdbeben verbürgte Eintreten des Jüngsten Gerichts und somit das „Ende der Geschichte”.593 Eine aus chiliastischer Weltauffassung abgeleitete Erwartungshaltung eines nahenden Weltuntergangs, wie sie die in das Jahr 1000 gelegte Datierung zu verstehen geben könnte,594 dürfte indes nicht die vorherrschende Motivation hinter diesen Zeilen gewesen sein. Gleichwohl lag für das 10. bis 12. Jahrhundert eine entsprechende Vorstellung durchaus im Bereich des Denkbaren.595 Beide Beispiele betonen anschaulich den Stellenwert eines eschatologischen Weltverständnisses für das Denken und die Geschichtsschreibung des Mittelalters. Die überlieferten Ereignisse aus den Jahren 845 sowie 1000 unterstreichen die Bedeutung der zeichenhaften Auslegung des Ereignisses Erdbeben für eine mit endzeitlicher Berichtsabsicht geführten Argumentation. Eine historisch verbürgte Anknüpfung an die Wirklichkeit ist für die Aussagekraft solcher Belegführungen als fakultativ zu verstehen. Ein real eingetretenes Erdbeben ist nicht zwingend notwendig, um durch den zeichenhaften Charakter von Erdbeben geschichtstheologische Inhalte zu vermitteln. Ausgangspunkt und Quelle der Argumentation bleibt allein die Heilige Schrift, insbesondere das Neue Testament. Aus diesem bezieht das Argument Erdbeben sowohl seine symbolische Geltung als auch die hermeneutische Zielrichtung als Mittel zum Weltverständnis. b) Prodigium – Die mittelalterliche Argumentation von Falschbeben als Unheilszeichen Ähnlich wie bei einer eschatologischen Interpretation ist die argumentative Verwendung von Erdbeben im Sinne eines Unheilszeichen, d. h. als Prodigium verstanden,
592 Annales Elnonenses: 153. 593 Hinsichtlich der zu ihrem „Ende“ gekommenen Zeit im Moment der durch Christus bereits exemplarisch für alle vollzogenen Auferstehung siehe Augustinus: Epistulae, LV, 3, 236 f.: Hoc igitur universa ecclesia, quae in peregrinatione mortalitatis inventa est, exspectat in fine saeculi quod in domini nostri Iesu Christi corpore praemonstratum est, qui est primogenitus a mortuis, quia et corpus eius cui caput est ipse, non nisi ecclesia est. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: The Confessions and Letters of Augustin, 304. 594 GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 22 ist zuzustimmen. 595 Für den Forschungsdiskurs exemplarisch GRUNDMANN 1978: 60; FRIED 1989: 389, 399, 470 f.; STRUVE 2002: 211.
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an sich kein Ausschlusskriterium für den Realitätsgehalt eines durch die mittelalterliche Geschichtsschreibung überlieferten Erdbebens. Genügend Beispiele sind für den früh- und hochmittelalterlichen Untersuchungsrahmen bekannt, bei welchen die Deutung eines quellenkritisch verifizierten Erdbebens in dieser Intention erfolgt.596 Eine gemeinsame Gegenwartsanalyse auf Grundlage einer eschatologischen Auslegung sowie von prophetisch beurteilten Vorzeichen ist für unsere Überlieferungszeit durchaus üblich. Einträge wie z. B. in den Annales Xantenses597 zum Erdbeben von 867 oder zum Erdbeben von 1117 bestätigen ein parallele Anwendung sowohl im Sinne einer endzeitlichen Lesart als auch als Vorzeichen.598 Die Differenz zwischen beiden Interpretationen liegt allerdings in der unterschiedlichen Bewältigung der menschlichen Sündhaftigkeit. Während die christliche Eschatologie die abschließende Verwirklichung des Heils in der Geschichte zum Anliegen hat und somit einen Weg der Besserung beschreitet, verbleibt das (christliche) Prodigium vielmehr bei der Sündhaftigkeit des Menschen und ist somit Ausdruck einer Unheilsgeschichte. Als Zeichen für die tatsächlichen und vermeintlichen Missstände menschlichen Zusammenlebens ist letzteres als Ausdruck göttlichen Zorns an die Menschen adressiert. Signum fecit in terra Dominus / quod humanum expavit facinus599 heißt es im anonymen Chronicon rhythmicum Leodiense zur Beginn des Jahres 1117. Das antik-pagane und gleichwohl alttestamentliche Motiv des Gotteszorns ist hier jedoch von der eschatologischen Deutung abzugrenzen, deren exegetische Aufgabe eine primär christologische, also eine auf das Mysterium Christi bezogene Auslegung darstellt.600 Für die Untersuchung der argumentativen Beschaffenheit insbesondere von sogenannten Falschbeben artikuliert diese theologische Unterscheidung für den Fall, dass die Erschütterung als Prodigium verstanden wurde, folglich eine wesentliche Erkenntnis. Während das Zeichen Erdbeben innerhalb einer eschatologischen Geschichtsschreibung stets einen christologischen Deutungshorizont besitzt, trifft dies für die innerhalb unseres Untersuchungsrahmens als Prodigium verstandenen Erdbeben nicht zu. Die inhaltlich in unterschiedliche Richtungen verweisende Funktion von Erdbeben als betonendes Zeichen innerhalb der Heils- oder eben der Unheilsgeschichte wird an der prophetisch-apokalyptischen Auslegung von Erdbeben ersichtlich, wie
596 Siehe Anm. 540. 597 Annales Xantenses: 25 f.: Anno DCCCLXIII. [. . .] Eodem tempore in Saxonia ignis in aere sagittae celeritate ferri visus est, grossitudine ligni foenarii et sicut massa ferri in conflatorio scintillas emittens, et subito coram oculis plurimorum velut in fumum picis redactus est. Deinde autumnali tempore exiit edictum a regibus, ut ieiunium triduanum generaliter observaretur, inminente terrore famis, pestilentiae, et terrae motus magnus per regna, ita ut desperatio humanae vitae plurimis accidit. 598 Z.B.: Chronica S. Petri Erfordensis moderna: 155. 599 Chronicon rhythmicum Leodiense: 125. 600 Paulus Diaconus: Homiliae de tempore, CLIV, 1350D: quia reseratis Scripturarum mysteriis, ad notitiam Christi pervenitur, hoc est, ad humilitatem fidei pietate descenditur; GADAMER 2010: 429.
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sie von der Tiburtinischen Sibylle tradiert wird.601 Der Ursprung des Werkes liegt in der Weissagungsliteratur der römischen Antike.602 Später wurde die Sibylle in mehreren Rezensionen verändert und über Generationen hinweg tradiert. Hierbei übertrug sich der Charakter ihrer paganen Prophezeiung auf das System christlicher Auslegung603. Ihr Inhalt reflektiert daher sehr bewusst eine Form von christlicher Unheilsgeschichte: Si hodie ad indicandum admittuntur, alio die inmutabuntur propter pecuniam accipiendam et non iudicabunt rectum, set falsum. Et erunt in diebus illis homines rapaces et cupidi et periuri et amantes munera falsitatis et destructur lex et veritas et fiet terre motus per loca diversa et insularum civitates demersione dimergentur et erunt per loca pestilentie hominum et pecorum et mortalitas hominum, et terra ab inimicis desolabitur et non prevalebit consolari eos vanitas deorum.604
In diesen Zeilen wird das Eintreten eines allumfassenden Erdbebens in Reaktion auf Sünde, Raub und Gesetzlosigkeit als apokalyptisches Vorzeichen inszeniert, welches vor allem in Kontext des 20. Kapitels der Johannes-Apokalypse gelesen werden muss.605 Die Lehre dieser Worte ist nicht primär eine Erlösungsbotschaft, sondern kommuniziert die zu erwartende Strafe für die Sünder. Sie besagt eine Erschütterung ohne affirmatives Ende. Blutregen, verschiedene Wetterphänomene sowie astronomische Beobachtungen wie Kometen, Sonnen- und Mondfinsternisse wiesen schon in der römischen Antike ein flexibel angewandtes, mehrheitlich negativ besetztes Auslegungspotential zur Gegenwartserklärung auf.606 Auch Erdbeben besaßen ihren Platz in diesem Vorzeichen-Kanon.607 Die unmittelbare Verknüpfung mit einer vermeintlich wenig erfolgreichen Regierung bzw. einem nicht mit dem mos maiorum konformen Agieren eines Herrschers erfolgt gelegentlich durch das Prodigium Erdbeben.608 Der Zusammenhang zwischen dem Ableben des Kaisers mit einem hierauf in zeitlicher
601 Als Beispiel für die mittelalterliche Rezeption siehe z. B. Beda: Sibyllinorum Verborum Interpretatio, 1181–1186C, bes. 1184C-1185A. 602 BECKER 2006: 308 f. 603 SACKUR 1898: 121, 125. 604 Die Edition der Tiburtinischen Sibylle findet sich bei SACKUR 1898: 177–187. Obiger Text siehe ebd.: 183 f. 605 Apk 20, 1–6. 606 Nach der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im Jahr 451 schildert Isidor zahlreiche Prodigien, die als caeli et terrae signa als Form der Gegenwartsdeutung zu verstehen sind. Isidor steht hiermit merklich in spätantiker Tradition. Siehe Isidor: Historia Gothorum, 278: Multa codem tempore caeli et terrae signa processerunt, quorum prodigiis tam crudele bellum significaretur. nam adsiduis terrae motibus factis a parte orientis luna fuscata est. Dt. Übersetzung siehe Isidor: Geschichte der Goten, 30. 607 KHARIOUZOV 2013: 32; ROHR 2007: 61, die Ausführungen auf ebd.: 106–110 verbleiben indes zu schematisch. Ebenso CONTI 2016: 62, 65; WALDHERR 2016: 77; HEINZELMANN 2002: 26. 608 RASMUSSEN 2003: 42 f.; CONTI 2016: 71.
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Nähe überlieferten Erdbeben wird oft hergestellt und hält sich als rhetorisch-materieller Topos bis in die christliche Literatur der Spätantike.609 Das Mittelalter schloss sich der antiken Deutungstradition an, in „schicksalhaft“ eingetretenen Erdbeben Hinweise für eine Abweichung von der göttlichen Ordnung zu sehen.610 Die christliche Anpassung erfolgte vor allem in Hinsicht auf Missstände im Gefüge einer universal verstandenen Ecclesia und wurde mitunter unmittelbar auf den weltlichen oder kirchlichen Stand bezogen. Entsprechend tendenziös konnte mit einem Unheil anzeigenden Erdbeben argumentiert werden.611 Ein besonders prägnantes Beispiel findet sich erneut bei der Tiburtinischen Sibylle. Im 11. Jahrhundert entstand in Italien jene Fassung, welche während der Herrschaft Heinrichs IV. den Weg nördlich der Alpen fand.612 Mit Blick auf die vergangenen Geschehnisse des Investiturstreits wurde sie im Verlauf des 12. Jahrhundert unter anderem in das Pantheon des Gottfried von Viterbo eingearbeitet.613 In einer unwesentlich abweichenden Version, dem sogenannten Vaticinium Sibyllae, welches Gottfrieds Arbeit zu Grunde lag,614 heißt es: Tunc iterum surget rex Salicus de Baiowaria, qui venit cum furore, et ipse erit inicium dolorum, quale non fuit ab inicio mundi, et erunt in suis diebus pugne et multe tribulationes, et sanguninis effusio et terre motus per civitates et regiones, et terre multe captivabuntur, et non erunt qui resistant ei, quia iratus erit Deus in terra.615
609 CONTI 2016: 62 f., 71; Ambrosius von Mailand: De obitu Theodosii, cap. 1, 371: 1. Hoc nobis motus terrarum graves, hoc iuges pluviae minabantur, et ultra solitum caligo tenebrosior denuntiabat, quod clementissimus imperator Theodosius recessurus esset e terris. Ipsa igitur excessum eius elementa maerebant: caelum tenebris obductum, aer perpeti horrens caligine, terra, quatiebatur motibus, replebatur aquarum alluvionibus. Quidni mundus ipse defleret eum principem continuo esse rapiendum, per quem dura mundi istius temperari solerent, cum criminum poenas indulgentia praeveniret? Dt. Übersetzung siehe Ambrosius von Mailand: Pflichtenlehre, 364. 610 Dies trifft auf alle Formen der Änderung zu. Siehe BOIADJIEV 2003: 29, 61, 63. 611 Siehe diesbezüglich die Beschreibung des kaiserlich gesinnten Landulphs von Mailand zum Erdbeben vom 3. Januar 1117. Dieser verstand das Beben nicht nur als Reaktion auf die Exkommunikation Heinrichs V. durch den Mailänder Erzbischof Giordano da Clivio, sondern setzte dieses auch in Bezug zum Tod Papst Paschalis’ II. im Herbst 1117. Siehe Landulphus de Sancto Paulo: Historia Mediolanensis, 39 f. 612 SACKUR 1898: 125. 613 Gottfried von Viterbo: Pantheon, 146. Eine kritische schriftbasierte Auseinandersetzung mit dem Investiturstreit fand maßgeblich erst im Verlauf des 12. Jahrhunderts und somit zeitversetzt statt. Siehe STRUVE 2002: 207, 211, 225 f. 614 SACKUR 1898: 127, 132. 615 Vaticinium Sibyllae: 376; dt. Übersetzung: „Zu diesem Zeitpunkt wird sich noch einmal ein salischer König von Bayern erheben, der mit Raserei kommen wird und unmittelbar der Anfang des Leids sein wird, welches nicht war seit der Erschaffung der Welt und in seinen Tagen wird Kampf und viel Trübsal und Blutvergießen und Erdbeben in Städten und Ländern sein und von der Erde werden viele gefangengenommen worden sein und keine werden sein, die Widerstand leisten, weil der Zorn Gottes auf der Erde sein wird.“
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Der Prophezeiung nach wird die Herrschaft eines ungenannt bleibenden salischen Königs – die Forschung schwankt zwischen Heinrich III. und seinen beiden Nachfolgern gleichen Namens616 – mit allgemeinem Sittenverfall, Kampf, Trübsal und Blutvergießen, sprich den unheilvoll auf die Apokalypse verweisenden Zeichen, einhergehen und schließlich in einem allumfassenden, den Zorn Gottes vergegenwärtigenden Erdbeben gipfeln. Die tiefe Verunsicherung, welche der Investiturstreit innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft ausgelöst hat, findet in diesen Worten seinen Ausdruck. Ebenso wird die Sinnstiftung, die von dieser prophetischen Deutung für die Geschichtsschreibung des Mittelalters ausging, geradezu exemplarisch in den Berichten zum Erdbeben von 1117 sichtbar.617 Ein anschaulicher Beleg für die argumentativ eingesetzte Zeichenhaftigkeit von Erdbeben findet sich ebenso in einem Eintrag der Annales Quedlinburgenses zum Jahr 998. Die umfangreiche Schilderung des ereignisgeschichtlich als falsch identifizierten seismischen Ereignisses618 besitzt eine unmittelbare Anbindung an die Reichsgeschichte. Mit spürbarem Willen zur Gegenwartsdeutung erfolgt in dieser bedeutenden sächsischen Quelle eine Prodigiendeutung in beinahe klassisch-römischer Tradition, indem das Schicksal des ottonischen Herrscherhauses unheilvoll durch zwei kosmologische Ereignisse vorgezeichnet wird.619 Die zeitnahe Niederschrift des anonymen Quedlinburger Schreibers kommuniziert eine in Begleitung von zwei Meteoriten620 beobachtete „schreckliche“ Erschütterung in totam Saxoniam als Ankündigung drohenden Verderbens.621 Ein „dreifacher Schlag“ werde, so der Wortlaut, in der Folgezeit die Welt bis aufs Innerste erschüttern und ihr die
616 WAITZ (Vaticinium Sibyllae: 376) sieht im sogenannten rex Salicus de Baiowaria Heinrich IV. Gottfried von Viterbo setzt diesen 1190 mit Heinrich V. oder VI. gleich (SACKUR 1898: 132). SACKUR 1898: 134 sieht in ihm Heinrich III., da er eine Kompilation des Werkes unter der Herrschaft Heinrich IV. nachgewiesen hat. KAMPERS 1894: 8 f. präferiert gleichfalls Heinrich III. Die Zuordnung, welcher Herrscher genau unter dem rex Salicus de Baiowaria verstanden werden kann, ist ein Problem der neuzeitlichen Geschichtswissenschaft und dürfte für die mittelalterlichen Zeitgenossen kaum relevant gewesen sein. Siehe ebenfalls STRUVE 2002: 221 f. 617 Zu nennen wäre hier vor allem Ekkehard von Aura sowie die Annales Sancti Disibodi. 618 Siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung) zum Ereignis von 998. 619 Hinsichtlich der antiken Traditionsbildung siehe das Beispiel Caesars bei CONTI 2016: 65, Anm. 11. 620 Aus ereignisgeschichtlicher Sicht ist die Existenz der bei Magdeburg niedergegangenen Meteoriten gleichfalls nicht gesichert. Zur Quellenkritik siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). Von einer Verwechslung mit dem in den Annales Sangallenses maiores für das Jahr 998 beschriebenen Kometen ist abzusehen, da es sich um zwei unterschiedliche Himmelsereignisse handelt. Vgl. Annales Sangallenses maiores: 301. 621 Annales Quedlinburgenses: 499: 998. [. . .] Mense Iulio terrae motus factus est horribilis per totam Saxoniam, duoque lapides igniti ex tonitru ceciderunt, unus in ipsa civitate Magdeburgensi, alter ultra Albiam fluvium. Quorum inusitata delapsio dirum omni populo exitium minando portendit, quod in sequentibus evidentissime apparere conspeximus.
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Lebenskraft rauben.622 Gemeint ist mit diesen Zeilen das Ableben der drei reichspolitisch bedeutenden Personen Mathilde von Quedlinburg,623 Adelheid von Burgund624 und Papst Gregor V.625 im Jahr 999.626 Als im Jahr 1008 die Quedlinburger Annalen entstanden627, war der Niedergang des sächsischen Herrscherhauses der Liudolfinger bereits fortgeschritten. Die Kaiserwürde war nach dem Tod Ottos III. 1002 an Heinrich II. aus der bayerischen Linie der Ottonen übergegangen. Durch diesen Verlust herrschaftlicher Nähe hatte die einst bedeutende ottonische Osterpfalz in Quedlinburg eine spürbare Rangminderung erlitten.628 Diese Schicksalsschläge verlangten nach einer historiographischen Begründung, die der retrospektiv arbeitende Schreiber in der argumentativen Aussage der Prodigien Erdbeben und Meteoriten fand. c) Falschbeben als Ergebnis fehlerhafter Vergangenheitsrezeption Die vorstellungs- sowie ereignisgeschichtliche Rekonstruktion von überlieferten seismischen Ereignissen als Falschbeben ist bei weitem nicht auf eine eschatologische Geschichtsschreibung oder eine im Sinne eines Prodigiums erfolgende Interpretation zu beschränken. Beide Aspekte definieren eine an Motiven und Einflüssen zur Fehlbewertung reichen Überlieferungslage, die besonders aus Gründen einer rhetorisch herausstechenden Geschichtsvermittlung Gegenstand dieser Abhandlung werden mussten. Quantitativ wurden die älteren, meist unkritisch kompilierten Erdbebenkataloge und -sammlungen jedoch hauptsächlich durch die Aufnahme von falschen Erdbebeninformationen kontaminiert, deren Tradierung auf rezeptionsbedingte Fehler zurückzuführen sind. Maßgeblich verfälschte Datierungen629
622 Annales Quedlinburgenses: 499: [. . .] tunc scilicet, cum mundus iste insanabilis plagae ictibus ter cerebro tentus percussus ipsa, ut ita dicam, vitalia amisit. 623 Mathilde von Quedlinburg († 7./8. Feb. 999) war die Tochter Otto des Großen und Adelheid von Burgund sowie die erste Äbtissin des Quedlinburger Stifts. Siehe die Überlieferung in Annales Quedlinburgenses: 502 f. sowie ALTHOFF 2009: 391. 624 Als Ehefrau Otto des Großen besaß Adelheid von Burgund († 16./17. Dez. 999) für das ottonische Kaiserreich eine identitätsstiftende Rolle. Siehe WEINFURTER 1999: 3, 9, 13 sowie Annales Quedlinburgenses: 508, 510. 625 Der aus dem Geschlecht der Salier stammende Papst Gregor V. († 18. Feb. 999) wurde gegen erhebliche Widerstände von Otto III. durchgesetzt. Siehe STRUVE 2009a: 1668 sowie Annales Quedlinburgenses: 497–499. 626 Annales Quedlinburgenses: 499–510. 627 ALTHOFF 1991: 142 f. 628 ALTHOFF 1991: 135 f., 142. 629 Siehe exemplarisch die falsche Jahresdatierungen in Quellen zum Erdbeben von 1117. [Datierung auf 1104]: Annales Parmenses minores: 662; [auf 1107]: Annales Marbacenses: 40; [auf 1112]: Gesta Lucanorum: 286; [auf 1113]: Annales Sancti Petri Babenbergensis: 553; [auf 1116]: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 277; Annales Halesbrunnenses: 14; Chronicon Elwacense: 36; Annales
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und Ortsangaben630 wurden durch die Kopie älteren, meist bereits selbst überformten Schriftgutes bestimmt. Während des Spätmittelalters, aber vor allem während der Frühen Neuzeit erfolgte immer wieder eine fehlgeleitete Beschreibung früh- und hochmittelalterlicher Erdbeben, die häufig mit einem bemerkenswerten rezeptionsgeschichtlichen Eigenleben verbunden war.631 Viele dieser Quellenbefunde liegen allerdings außerhalb unseres Untersuchungsrahmens und – zeit. Sie verdienen zudem eine separate Erforschung. Der eher schematische Überlieferungscharakter dieser Falschbeben lässt sie für eine an Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik ausgerichtete Fragestellungen weniger interessant erscheinen. Eine markante Ausnahme bildet die Geschichtsschreibung über einen Lüneburger Erdfall aus dem Jahr 1013. Einvernehmlich berichten zeitgenössisch die Annales Quedlinburgenses632 sowie Thietmar von Merseburg633 von einem terrae hiatus. Also kein Erdbeben, sondern ein Erdfall versetzte die Lüneburger Bürger in Angst und Schrecken.634 Dieser Beschreibung folgten auch die hochmittelalterlichen Annales Magdeburgenses sowie der Annalista Saxo.635 Erst im Spätmittelalter verschoben sich die rezeptionsgeschichtlichen Grenzen. Aus der Bezeichnung terrae hiatus wurde in der volksprachlichen Magdeburger Schöppenchronik636 sowie den Cronecken der
Mellicense: 501; Auctarium Zwetlense: 540; Annales Ferrarienses: 663; Chronicon Estense: 299; Annales Venetici breves: 71; Annales Cremonenses: 3; [Datierung auf 3. Juni 1117]: Annales S. Petri Erphesfurtenses breves et maiores: 51; [auf 1118]: Auctarium Laudunenses: 445 [auf 1216]: Notae S. Georgii Mediolanensis: 388. 630 Beispielhaft für eine falsche Ortsangabe siehe Annales Corbeienses: 59; Henricus de Heimburg: Annales, 713. 631 Siehe diesbezüglich SCHELLBACH 2014: 53–64 sowie GRÜNTHAL, RIEDEL 2007: 157–163. 632 Annales Quedlinburgenses: 540: 1013. [. . .] In monte etiam Luniburgnensi horribilis hiatus terrae patuit, ipsi templo minas ruendi praebens et incolis timore perterritis spem confugii funditus ad tempus auferens. 633 Thietmar von Merseburg: Chronicon, VI, 384 f.: 1013. (56.) [. . .] In civitate Bernhardi ducis Liunberg dicta eodem anno aeris fit mira mutacio atque motio et inmensus terrae hiatus. Hoc stupet accola et se prius numquam vidisse testatur. Die Corveyer Bearbeitung von Thietmars Chronik schließt sich bis auf marginale Unterschiede dem Wortlaut dieses Eintrages an. Siehe ebd. sowie SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung) zu 1013. 634 Annales Quedlinburgenses: 540: ipsi templo minas ruendi praebens et incolis timore perterritis spem confugii funditus ad tempus auferens. 635 Annales Magdeburgenses: 165: In civitate etiam Bernhardi ducis, Luniburch dicta, horribilis hiatus terrae apparuit, ipsi templo minas ruendi prebens, et incolis timore perterritis confugii tempus funditus auferens; Annalista Saxo: 330: In civitate Bernhardi ducis Luniburch dicta horribilis hiatus terre patuit, ipsi templo minas ruendi prebens et incolis timore perterritis spem effugii ad tempus auferens. Beide Quellen sind maßgeblich von den Annales Quedlinburgenses sowie Thietmar von Merseburg abhängig. 636 Magdeburger Schöppenchronik: 86: „Ein grot wint und ertbevinge. Des jares [1013, d. Verf.] was grot wint, de vele buwes nedder floch und bome, und was ertbevinge to Luneborch.“
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Sassen637 des Braunschweiger Goldschmieds Conrad Bote638 ein ertbevingh(e), bevor in den sogenannten Magdeburger Centurien der Begriff in terraemotus zurückübersetzt wurde.639 Somit wird deutlich. Das Falschbeben von Lüneburg im Jahr 1012640 bzw. 1013641 ist keineswegs das Ergebnis einer naturkundlich fehlerhaften Bewertung seitens der zeitgenössisch agierenden Geschichtsschreiber. Es ist vielmehr die Folge einer spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Bearbeitung, welche sich sogar so weit verselbständigen konnte, dass 1620 der Pfälzer Protestant642 Johann Wolf noch ein zusätzliches Lüneburger Erdbeben für das Jahr 1323 konstruieren konnte.643 Über das Jahr 1013 hinaus ist in den Berichten Thietmars von Merseburg sowie der Annales Quedlinburgenses ein Aspekt zu beobachten, der die gesamte Quellenlage zu diesem Ereignis zusätzlich prägen sollte. Der Erdfall wird in beiden Überlieferungen im Kontext anderer Merkwürdigkeiten,644 wie z. B. von missgebildeten Kindern, geschildert. Dieser Sachverhalt zeigt, dass die beobachtete Abweichung von einer gottgegebenen Ordnung für die mittelalterliche Geschichtsschreibung nicht nur aus einer christlich-theologischen Perspektive Anlass zur Welterklärung
637 Conrad Bote: Cronecken der Sassen, f. 175v: „MXII. [. . .] Unde ock so was to lunenborch grot ertbevingh.“ 638 Hinsichtlich der Verfasserfrage der Cronecken der Sassen besteht noch immer Diskussionsbedarf. Siehe HUCKER 2009: 482, welcher Hermen Bote favorisiert. 639 Ecclesiastica Historia (= sogenannte Magdeburger Centurien), Undecima Centuria: 660: Accidit & Luneburgi terraemotus. Chron.Saxon. 640 Die Datierung des Ereignisses auf 1012 erfolgt erstmals in den Cronecken der Sassen. 641 Siehe Rekonstruktion der Lüneburger Ereignisse in SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). Hinsichtlich der falschen Bewertungen dieser Ereignisse durch die Forschung siehe SIEBERG 1940: 23; STEINWACHS 1983: 87; LEYDECKER 2011: 55. 642 Eine kurze Biographie von Johannes Wolf befindet sich in MELCHIOR 1620: 341–347. 643 Johannes Wolf: Lectionum memorabilium et reconditarum centenarii XVI, 614: 1323 [. . .] Accidit & Lunaeburgi terraemotus. Chron. Saxoniae. ut sup. Das Beben wird bei LEYDECKER 2011: 55 noch als reales Ereignis aufgeführt. 644 Thietmar von Merseburg: Chronicon, VI, 373: Nati sunt hiis diebus duo fratres cum dentibus, in ore similes auce, quorum alter dextri brachii medium, sicut ala auce, habebat; qui tercio die nativitatis sue invicem ridentes mutua dissensione moriuntur. Ebd.: Quidam miles, dum bona sancti Clementis Budinaveldum per vim raperet et iusticiam inde facere nollet, una dierum ab innumerabilibus muribus intra cubiculum impugnatur. [. . .] ab aliis usque ad mortem intus corrosus invenitur. Ebd.: 374: In illo tempore inundante Danubio in Bawariis et stagnante Reno, ita ineffabilis populi ac pecoris, edificiorum quoque et silvarum tali inpetu erutarum multitudo periit. Ebd.: 382: In hiis diebus tempestas magna post solis occasum contigit ac omnes nos admodum turbavit. Ebenso die Annales Quedlinburgenses: 533 f.: In quadam villa Saxonicae Suevia, Cocstede nomine, nati sunt gemini fratres cum dentibus, / os habentes quasi aucae, alter vero dextrum brachium dimidium, ut ala aucae. Tertia nativitatis die dicuntur inter se risisse. Quos civili contigit consensu mori, quia eos diu vivere erat omnibus timori. Ebd.: 534: Hoc etiam anno commotio aeris cum tonitru et fulgure et inundantia pluviarum tanta facta est IIII. Id. Augusti, ut biduo perseverans perplurima damna perageret, domos multas cum suis utensilibus, nec non acervos frugum pessundaret, homines quoque periclitarentur.
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besaß. Geschichtsschreibung beabsichtigte gegebenenfalls auch zu unterhalten.645 Die Sensation war schon im Mittelalter ein beliebter literarischer Stoff, um das Publikum an den Autor zu binden und Interesse zu wecken. Der Begriff der aedificacio zielt hier exemplarisch auf die Zerstreuung und Unterhaltung der Leser- bzw. Hörerschaft ab und hat seine theologische Bedeutung weitestgehend verloren.646 Dies veranschaulichen nicht nur die bereits zitierten Einleitungszeilen tamquam miranda et stupenda, ob legencium qualemcunque edificacionem inserentes der Annales Caesarienses,647 sondern auch die zahlreichen Monstra und Mirakel im Vorfeld des Lüneburger terrae hiatus.648 d) Naturkundliche und naturphilosophische Falschinterpretationen von Erdbeben Historiographische und annalistische Erdbebenbeschreibungen, die bewusst in dem Bestreben verfasst wurden, die Gründe der Erschütterung mit Hilfe naturphilosophischer Wissensbestände herzuleiten, sind für das Früh- und Hochmittelalter eine Ausnahme. In der Regel bestimmen Verwechselungen von Erderschütterungen mit anderen Naturbeobachtungen die Traditionsbildung. Das Erschüttern des Erdbodens kann bekanntlich vielfältig ausfallen.649 Aufgrund der Unkenntnis über das moderne physikalische Modell des Erdbebenprozesses erfolgte die mittelalterliche Herleitung auf Grundlage von Beobachtungen und Analogieschlüssen. So überliefert Sigebert von Gembloux ein Erdbeben aus dem Jahre 1095 in der Weise, dass sich ein Tornado bzw. eine Windhose zusammen mit einem Erdbeben ereignete. Die zerstörerischen Folgen eines derartigen Wetterphänomens sind zweifellos mit denen von Erdbeben vergleichbar und haben Sigebert sicherlich in seiner zeitgenössischen Niederschrift zu dem Ausdruck cum valido ventorum turbine etiam terraemotus factus est media nocte, 4. Idus Septembris650 angeregt. Unwetter und schwere Stürme bilden in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung öfters eine inhaltliche Einheit651 und knüpfen somit nahtlos an die antike Deutungstradition an, die unter anderem von Vergil ins Mittelalter tradiert wurde.652 In zeitlicher Nähe zu 645 GOETZ 2008: 377. 646 Ähnliches gilt für die Überlieferung der brandenburgischen Falschbeben von 1201, 1202 und 1205 in Hermann Korners Chronica Novella. Siehe SCHELLBACH 2014: 63. 647 Annales Caesarienses: 23. Der Erbauungsbegriff, wie er hier verwendet wird, kennzeichnet markant den seit dem Spätmittelalter zu beobachtenden Verlust der heilsgeschichtlichen Deutung. Siehe hierzu TERSCH 1996: 70–73. 648 Thietmars vom ereignisgeschichtlichen Kontext losgelösten Wunderbeschreibungen sind beispielhaft für die spätmittelalterliche Traditionsbildung. Siehe hierzu TERSCH 1996: 72. 649 Dass meinte schon Plinius der Ältere festzustellen. Siehe Plinius: Naturalis historia, II, cap. 80, 201. 650 Sigebert von Gembloux: Chronographia, 367. 651 Schon die Annales regni Francorum berichten für das Jahr 829 in dieser Weise. Siehe Annales regni Francorum: 176 f. 652 Maßgeblich sind hierfür Vergils Aeneis sowie Georgica zu nennen. Siehe auch Kap. II. 1. 1.
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Sigeberts Beschreibung überliefert beispielsweise die anonym verfasste Vita des normannischen Bischofs Geoffroy de Montbray ein ähnliches Ereignis.653 Die anschaulich und detailreich dargelegten Schäden rühren aber wohl auch hier eher von einem Gewittersturm her654 und sind nicht auf ein Erdbeben zurückzuführen. Allgemeinhin ist festzustellen, dass die Verknüpfung von meteorologischen Befunden mit Erdbeben in mitteleuropäischen Quellen ein historiographisches Muster bildet, welches bis zum 12. Jahrhundert nachweisbar ist. Die gemeinsame Erwähnung von Blitz, Donner und Sturm bleibt bis auf zwei frühmittelalterliche Erdbeben655 allerdings auf Erschütterungen beschränkt, die ereignisgeschichtlich als fraglich656 bzw. falsch657 einzustufen sind. Hingegen sind wenige Beispiele bekannt, welche ihre Argumentation auf eine ausgewiesen naturphilosophische Grundlage stellen und die Ursachen für ein Erdbeben in dieser Weise zu erklären versuchen. Eine Ausnahme bilden die bereits zitierten Annales Elnonenses.658 Vor allem ist aber für unseren Untersuchungsrahmen die Überlieferung verschiedener Erdbeben durch den Chronisten des Prämonstratenserklosters Wittewierum, Emo von Huizinge, zu nennen. Gesonderte Aufmerksamkeit verdient hierbei ein für den 27. Oktober 1225 als verheerend geschildertes Beben in Friesland.659 In den anschaulich beschreibenden Worten des Chronisten wurden der
653 Obwohl das vermeintliche Epizentrum bei Coutance (vgl. ALEXANDRE 1990: 143 f., 229) außerhalb unserer Untersuchungsregion liegt, soll das für dort überlieferte Erdbeben dennoch beachtet werden. 654 Gesta Gaufridi Constantiensis episcopi: 79: Anno namque Dominicae incarnate. MXCI, indict. XV, IV nonas novembris, cùm esset idem praesul Constantiis in aula episcopali quam fecerat et plantaverat, terrae motus factus est et fulgura exstiterunt nimia, ita ut gallum deauratum qui majori ecclesiae turri [eminebat] minutatim conscinderent; . . . [sic!] de arcubus verò fenestrarum turris majoris lapides magni vi tempestatis eruti super aulam praedictam corruerunt, nimioque fragore terrorem et stuporem praesuli, multisque qui aderant, visam aestimabili coruscatione et inopinabili audito simul tonitruo, intulerunt . . . [sic!]. 655 [EB 823]: Annales regni Francorum: 163; Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XXXVII, 420 ff.; Sigebert von Gembloux: Chronographia, 338; Supplementum Annalium Xantensium: 39; [EB 829]: Annales regni Francorum: 176 f.; Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XLIII, 450. 656 [EB 1012]: Annales Quedlinburgenses: 534; Annales Magdeburgenses: 164; Annalista Saxo: 326. 657 [EB 1013]: Thietmar von Merseburg: Chronicon, VI, 384 f.; [EB 1062]: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz: 194 ff. 658 Annales Elnonenses: 153. 659 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210: Vigilia apostolorum Symonis et Iude factus est terre motus horribilis in multis locis, et circa horam VI diei ipsa quasi superficies pavimenti [Codex Frisium: rupta est] et muri quasi concussi, et laquearia videbantur ventilari, luna XXII. Postae maxima pluviarum inundantia secuta est, et impleta sunt prata aquis abissi superioris. Nam inferior abissus est occeanus. Abissus nempe profunditas dicitur aquarum. Nubilosus siquidem aer iste pertinet ad abissum inferiorem, quia hic sunt nubes, venti, tempestates, pluviae, choruscationes, tonitrua, grando, nix. Die Chronik wurde von Emo von Huizinge, dem Gründungsabt des Klosters, verfasst
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Erdboden aufgerissen und Häuser zu starken Schwankungen angeregt. Aus quellenkritischer Sicht sowie aufgrund der lesbaren inhaltlichen Vermischung von Unwetter und Erdbeben konnte das Ereignis allerdings als Falschbeben nachgewiesen werden660. Die inhaltsreiche und überaus anschaulich verfasste Beschreibung des Bebens ist maßgeblich auf die scholastische Ausbildung des Autors zurückzuführen. Es ist bekannt, dass Emo von Huizinge an den mittelalterlichen Universitäten von Paris, Orléans und Oxford studierte661 und eine große Bibliothek mit zum Teil eigenhändig verfassten Exzerpten und Abschriften antiker und mittelalterlicher Texte besaß.662 Sie bilden, kunstvoll arrangiert, die Grundlage einer Beschreibung, in der es Emo durchaus versteht, seine Leserschaft metaphernreich anzusprechen.663 Seine Augenzeugenschaft der katastrophalen Marcellus-Sturmflut im Jahr 1219,664 die auch das Kloster Bloemhof in Wittewierum heimsuchte, gilt als gewiss. Dieses einschneidende Erlebnis, das selbst erlebte von den Meeresfluten der Nordsee ausgehende Bedrohungspotential,665 sollte seine Naturwahrnehmung nachhaltig prägen. Die Beschreibung des seismischen Ereignisses von 1225, aber auch der Erdbeben von 1222666 und 1262667 zeugen davon. Die Schilderung der
und ist in zwei Fassungen überliefert (Bibliotheek Rijksuniversiteit Groningen, HS 116 und HS 117). Die erste Rezension ist z. T. ein Autograph Menkos, des dritten Abts des Klosters, und entstand zeitgenössisch. Eine narrative Verstärkung des Bebens durch den Zusatz rupta est fehlt in dieser Fassung (vgl. Bibliotheek Rijksuniversiteit Groningen, HS 116, f. 22v). Diesbezüglich handelt es sich um eine deutlich vergangenheitsgeschichtliche Ergänzung, die ausschließlich im sogenannten Codex Frisium (Bibliotheek Rijksuniversiteit Groningen, HS 117) enthalten ist, welcher im 16. Jahrhundert entstand. Siehe Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: XX; BACKMUND 1972: 172. 660 Zum vermeintlichen Friesland-Beben von 1225 siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). Im SHEEC-Katalog (STUCCHI et al. 2012) wird dieses Beben mit einer Intensität von I = 6,5 geführt. Den Verdacht, dass es sich um eine Verwechslung mit einem Sturm handelt, äußert schon SIEBERG 1940: 31; ebenso RIEKEN 2005: 127. Hinsichtlich der Intensitätsangabe im SHEEC-Katalog sei eindringlich auf die verbindlichen Regularien zur Vergabe makroseismischer Intensitäten verwiesen, wie sie in der EMS-98-Skala dargelegt werden. Die Bestimmung von makroseismischen Intensitäten auf Grundlage sekundärer natürlicher Effekte, wie sie der erwähnte Riss im Erdboden darstellt, ist zu vermeiden. Die Berücksichtigung derartiger Beobachtungen würde zum einen zu einer strukturellen Überbewertung von Intensitäten führen. Zum anderen schließen regional unterschiedliche Faktoren, wie zum Beispiel Bodenbeschaffenheit, Umgebungstemperatur und Grundwasserstand (etc.), eine generelle Vergleichbarkeit aus. Siehe GRÜNTHAL et al. 1998b: 22, 24, bes. 95–98. 661 NIP 2011; BACKMUND 1972: 169 f. 662 LABBÉ 2008: 338; BACKMUND 1972: 169 f., 180. 663 RIEKEN 2005: 159, 169. 664 SCHENK 2009: 52, 54. 665 RIEKEN 2005: 130. 666 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 158. 667 Das Beben wird von Emos Nachfolger Menko beschrieben. Siehe Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 408.
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Marcellusflut, in die er Vergils poetische Umschreibung eines Tsunamis668 einfließen lässt, bietet durchaus eine Hinführung zu seiner Beschreibung des verheerenden Brescia-Erdbebens von 1222.669 Insgesamt wird ersichtlich, dass Emo durch das gekonnte Arrangement seiner maßgeblichen Quellen Vergil, Plinius der Ältere, Beda sowie der Imago mundi des Regensburger Mönchs Honorius Augustodunensis die verherrenden Auswirkungen der Sturmfluten der Nordsee mit Interpretationsmustern zu erklären versuchte, die ihre Provenienz in seit der Antike rezipierten enzyklopädischen und naturphilosophischen Wissen zu Erdbeben besitzen. Unverkennbar wird hierbei sein regionaler Erfahrungshorizont sichtbar.670 Weit entfernt und nur auf mündliche Nachrichten gestützt,671 benutzt Emo hauptsächlich die Kapitel 41 bis 43 aus der Imago mundi,672 um seine Erdbebenbeschreibung zu 1222 zu verfassen. Honorius’ enzyklopädische Abhandlungen
668 Vergil: Georgica, II. 479–480, 163: unde tremor terris, qua ui maria alta tumescant / obicibus ruptis rursusque in se ipsa residant. Dt. Übersetzung siehe Vergil: Vom Landbau, 69. Vgl. mit Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 116. 669 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 158: Rumor fuit terre motum fuisse aput Brixiam civitatem Longobardiae. De terre motu dicunt, quod venti concavis locis inclusi, qui de spiramine aquarum concipiuntur, qui et spiritus procellarum vocantur, dum erumpere gestiunt, terram tremere faciunt. Hic fit terre hiatus in locis fragilibus continuis aquis, que facile rumpuntur. Hoc autem est in terra tremor, quod in nube tonitrus. Hic hiatus, quod ibi fulmen. 670 Die Formulierung hic fit terre hiatus in locis fragilibus continuis aquis, que facile rumpuntur. Hoc autem est in terra tremor, quod in nube tonitrus. Hic hiatus, quod ibi fulmen kann sich nicht auf die Lombardei beziehen, sondern spiegelt Emos naturphilosophischen Erklärungsversuch wieder. Siehe auch ROHR 2007: 111 sowie OESER 1992: 17. 671 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 158: Rumor fuit terre motum fuisse aput Brixiam civitatem Longobardiae. Dieser Aspekt sowie seine zwar geschickt konstruierten, jedoch zu theoretisch wirkenden Berichte lassen durchaus den Schluss zu, dass Emo während seiner Lebenszeit nie Zeuge eines tatsächlichen Erdbebens wurde. 672 Vgl. Honorius Augustodunensis: Imago Mundi, I, cap. 41, 68: De voragine. [. . .] In his, venti de spiramine aquarum concipiuntur, qui etiam spiritus procellarum dicuntur; dt. Übersetzung: „Von den Strudeln: [. . .] In diesen wird durch das Blasen des Windes das Wasser aufgenommen, die auch als Sturmwinde bezeichnet werden.“; ebd.: I, cap. 42, 69: De terrae motu. [. . .] Nam venti concavis locis inclusi dum erumpere gestiunt, terram [. . .] tremere faciunt; dt. Übersetzung: „Von den Erdbeben. [. . .] Tatsächlich sind die Winde in hohlen Stellen eingeschlossen, bis sie verlangen auszubrechen und Erdbeben geschehen.“; ebd.: I, cap. 43, 69: De hiatu. Hinc etiam fit terre hiatus, dum loca cava et continuis aquis fragilia ventis concussa rumpuntur [. . .] Hoc est autem in terra tremorem, quod in nube tonitrum. Hic hiatus quod ibi fulmen. Fiunt autem cum terrae motu inundationes maris, eodem scilicet spiritu infusi, vel residentis sinu recepti. Dt. Übersetzung: „Von der Kluft: Daher wird außerdem eine Erdöffnung geschehen, wenn die von unablässigen Wassern und zerbrechlichen Winden erschütterten hohlen Orte bersten werden [. . .]. Dies ist auch beim Beben der Erde, das wie ein Donner in der Wolke ist. Was hier eine Kluft ist, ist dort ein Blitzschlag. Erdbeben werden aber auch zusammen mit Meeresüberschwemmungen bewirkt, wenn dasselbe nämlich vom Wind darauf getrieben oder in die Tiefe der sinkenden Erde eingeflossen ist.“ Siehe hierzu auch LABBÉ 2008: 335, 343.
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über Strudel (De voragine), Erdbeben und Erdfälle (De hiatus), welche im 43. Kapitel weitestgehend Bedas De natura rerum entnommen sind,673 bilden eine geeignete Argumentationsbasis für Emos Naturvorstellung. Diese wird an der Ausführung ersichtlich, wonach der Erdboden durch das ewige gezeitenabhängige Zurückweichen und Wiederauflaufen des Meereswassers besonders empfänglich für die aus dem Erdinneren ausbrechende Winde sei.674 Emo war durchaus der Auffassung, in einer erdbebengefährdeten Region zu leben. Seneca,675 Plinius676 sowie sein scholastischer Zeitgenosse Albertus Magnus677 sollten ihn in dieser Einschätzung bestätigen. Gleichfalls spiegelt sein wortgewordenes Naturverständnis hoc autem est in terra tremor, quod in nube tonitrus. Hic hiatus, quod ibi fulmen678 die antik-mittelalterliche Deutungstradition wider, in Sturm, Gewitter und Erdbeben eine gemeinsame Ursache zu sehen.679 Diese Auffassung blieb im Kloster Wittewierum erhalten, wie die Überlieferung des Erdbebens von 1262 durch Emos Nachfolger Menko bestätigt.680 Mehr als die anderen in der Friesländer Chronik beschriebenen Erdbeben artikulieren Emos Zeilen zum Falschbeben von 1225 ein kosmologisches Weltbild, wie es für das christliche Mittelalter typisch ist. Während seine Beschreibung des Brescia-Erdbebens in der Tradition eines enzyklopädisch-naturkundlichen Wissenshorizontes steht, ist es für das friesländische Ereignis von 1225 eine maßgeblich durch die Vulgata sowie die Patristik getragene Argumentationsli-
673 Vgl. Beda: De natura rerum, cap. XLVIIII-L, 232 f.; siehe ebenfalls Plinius: Naturalis historia, II, cap. 84, 204. Ebenso Beachtung sollte Isidor: Etymologiae, XIV, cap. I, 2–3 finden. 674 Siehe Abschnitt De terre motu – rumpuntur aus Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 158. 675 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 23. 4, 265: Spiritus intrat terram per occulta foramina, quemadmodum ubique, ita et sub mari. deinde, cum obstructus ille est trames per quem descenderat, reditum autem illi a tergo resistens aqua abstulit, huc et illuc refertur, et sibi ipse occurrens terram labefactat. ideo frequentissime mari adposita vexantur. Dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 373. 676 Plinius: Naturalis historia, II, cap. 80, 202; II, cap. 84, 204. 677 Albertus Magnus: Meteora, III, tract. 2, cap. 20, 150: et tam mare quam montes operantur ad terraemotum, ut dictum est. Dt. Übersetzung siehe Albertus Magnus: Ausgewählte Texte, 69. 678 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 158. 679 Siehe diesbezüglich seine Vorlage Honorius Augustodunensis: Imago Mundi, I, cap. 43, 69 sowie besonders Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 7. 6, 243 und Plinius: Naturalis historia, II, cap. 79, 201. 680 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 408: Anno Domini M CC LXII in octava Agnetis subito circa horam tertiam, irreunte choro collaterali zefiri et subsequente circio nimis immoderate, multe domus corruerunt, et campanile in Werum cum omni suo pondere de loco motum est, et conventus occidentalis totus corruit, et pars tignorum in Campo Rosarum de lignea ecclesia corruit, et terre motus, ita ut altaria parieti non inherentia visibiliter tremerent. Et occeanus vehementer commotus aggeres infregit, et aque salse superficiem terre operuerunt.
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nie.681 Allerdings scheint in dieser Darstellung ebenso Emos Verständnis durch, einen strukturellen Zusammenhang zwischen Wasser und seismischer Aktivität zu sehen, welcher durch die bereits genannten Quellen sowie Seneca682 beeinflusst scheint. Anders als 1222 wird diese Auslegung insbesondere an der gemeinsamen Erwähnung von Erdbeben und Regenfällen deutlich, welche derart heftig waren, dass sie zu einer Überschwemmung von Wiesen führten. Trotz seiner Kenntnis antik-naturkundlicher Schriften ist für Emo eine Ursachenerklärung dieses Phänomens auf Grundlage einer christlich-mittelalterlichen Weltvorstellung selbstverständlich. Die Allmacht Gottes über seine Schöpfung ist elementar683 und spiegelt sich gerade in diesem zweiten Teil des Jahreseintrages wider.684 Wie schon bei seiner Beschreibung der Marcellusflut gelingt Emo auch bei seinem Eintrag zum Jahr 1225 eine unmittelbare Anknüpfung an die Schöpfungsgeschichte.685 Auf die Leitfunktion der Bücher Genesis für das kosmologische Weltbild des Mittelalters wurde in dieser Arbeit bereits eingegangen.686 Geradezu beispielhaft kann diese Auffassung an der Chronik aus Wittewierum abgelesen werden. Für Emo gilt als gesichert, dass die Erde
681 Siehe hierzu LABBÉ 2008: 343, 348. Anscheinend fühlte sich der Prämonstratenser Emo, der als Regularkanoniker nach der Augustinerregel lebte, besonders dem heiligen Augustinus verbunden. Hierfür sprechen die zahlreichen Augustinus-Zitate in seiner Chronik. Einen belegkräftigen Hinweis bietet zusätzlich die literarische Gattung der Soliloquia, welche Emo an vier Stellen seiner Chronik einflocht. Namentlich fand diese ihre Vorlage in Augustinus’ Soliloquia, inhaltlich folgt sie aber eher dessen Confessiones. Siehe RIEKEN 2005: 166. Für den älteren Forschungsstand siehe BACKMUND 1972: 180, welcher ein Exzerpt aus Cassiodors De anima zu erkennen glaubt. 682 Seneca: Naturales quaestiones, VI, cap. 7. 5–6, 243: Iam vero nimis oculis permittit, nec ultra illos scit producere animum, qui non credit esse in abdito terrae sinus maris vasti. [. . .] quas quid vetat illic fluctuare, et ventis, quos omne interuallum terrarum et omnis aer creat, impelli? potest ergo maior solito exorta tempestas aliquam partem terrarum impulsam vehementius commovere. nam apud nos quoque multa quae procul a mari fuerant subito eius accessu vapulaverunt, et villas in prospectu collocatas fluctus qui longe audiebatur invasit. illic quoque potest recedere ac freiceret pelagus infernum; quorum neutrum fit sine motu superstantium. Dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 343, 345. Hinsichtlich Emos Kenntnis der Schriften Senecas siehe Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: XXVII; LABBÉ 2008: 349, Anm. 62. 683 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 118: Signa igitur causam esse futurorum, crediderunt gentiles, quia, ut dicit beatus Augustinus, superiorem ceteris omnibus causam, id est voluntatem Dei, videre non potuerunt. Voluntas nanque Dei prima et summa est causa omnium specierum et motionum, que etiam propter raritatem mira videntur. Erneut sei an Augustinus’ Zeichenlehre, als hermeneutisches Werkzeug zum mittelalterlichen Weltverständnis erinnert. Siehe auch Kap. III. 1. 1. 3 sowie LABBÉ 2008: 346. 684 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210: Postae maxima pluviarum inundantia secuta est, et impleta sunt prata aquis abissi superioris. Nam inferior abissus est occeanus. Abissus nempe profunditas dicitur aquarum. Nubilosus siquidem aer iste pertinet ad abissum inferiorem, quia hic sunt nubes, venti, tempestates, pluviae, choruscationes, tonitrua, grando, nix. 685 Für die Marcellusflut hat dies beispielsweise WEGMANN 2005: 102 nachgewiesen. 686 Siehe Kap. III. 1. 1. 5.
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durch die Trennung von „oberem“ und „unterem Wasser“ gemäß der alttestamentlichen Überlieferung687 von der himmlischen Sphäre umschlossen ist und ihren Platz im Zentrum des Kosmos gefunden hat. Wenn also die „Wasser“ aus dem sogenannten „oberen Abgrund“ – dem abissus superioris – die Wiesen füllen,688 bewegt sich Emo im kosmologischen Deutungsrahmen seiner Zeit. Dass seine Vorliebe für den Terminus abyssus hierbei sowohl die scheinbar unendliche Tiefe des Himmels als auch die des Wassers meint, verweist auf den Kommentar des Augustinus zu Ps. 148.689 Fast wörtlich folgt Emo in seiner Beschreibung dem Kirchenvater.690 Der beiden Schriften zugrundeliegende Psalm ist aber nicht nur ein Loblied auf das universale göttliche Schöpfungswerk.691 In Augustinus’ Auslegung findet sich vielmehr auch die Erklärung, wonach meteorologische Ereignisse – zu denen eben auch Erdbeben gezählt wurden – auf die vergängliche Gestalt der Erde einwirken.692 Der Prämonstratenser Emo schließt sich dieser Lehrmeinung an, wie sein mehrzeiliges Augustinus-Zitat bestätigt. 3.2.2 De terribili terrae motu – Das Erdbeben als schreckliches Ereignis Die Beurteilung eines Erdbebens als „schreckliches“ Ereignis ist eines der ältesten Deutungsmuster, welches sich in lateinischen Quellen über Erdbeben finden lässt.
687 Gen 1, 7; 7, 11. 688 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210: Postae maxima pluviarum inundantia secuta est, et impleta sunt prata aquis abissi superioris. 689 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 3, Ps. CXLVIII. 9, 2171: Abyssi, profunditates aquarum sunt: maria omnia, nubilosus iste aer ad abyssum pertinet. Ubi nubes, ubi venti, ubi tempestates, ubi pluviae, coruscationes, tonitrua, grandines, nix et quidquid vult Deus fieri super terras. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 674. 690 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210: Abissus nempe profunditas dicitur aquarum. Nubilosus siquidem aer iste pertinet ad abissum inferiorem, quia hic sunt nubes, venti, tempestates, pluviae, choruscationes, tonitrua, grando, nix. Dass Beda: De natura rerum, cap. XXV, 217 eine Vorlage gebildet haben könnte, wie die Editoren der Chronik (siehe S. 211, Anm. 48) angegeben, scheint gleichfalls möglich. Aufgrund der eindeutigen Textüberschneidungen scheint Augustinus Enarrationes in Psalmos aber naheliegender. Dennoch bestätigt Honorius Augustodunensis: Imago Mundi, I, cap. 38, 68: Huius inmensa profunditas dicitur abissus, einen für alle gemeinsam zutreffenden Wissenshorizont. 691 Augustinus folgt auch hier der lateinischen Übersetzung auf Grundlage der Septuaginta (Psalter Gallicanum). Siehe Ps 148, 1–8 (Psalter Gallicanum), bes. Vers 7–8: laudate Dominum de terra dracones et omnes abyssi ignis grando nix glacies. 692 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 3, Ps. CXLVIII, Sermo ad plebem. 9, 2171: Ubi nubes, ubi venti, ubi tempestates, ubi pluviae, coruscationes, tonitrua, grandines, nix, et quidquid vult Deus fieri super terras de isto humido et caliginoso aere, totum hoc terrae nomine appellavit, quia nimis mutabile est atque mortale; nisi forte putatis quia sursum pluit stellis. Omnia ista hic fiunt prope ad terram. Et aliquando sunt homines in cacuminibus montium, et nubes sub se vident, et fiunt plerumque pluviae: et apparent bene intentis omnia ista, quae perturbato aere concitantur, hic fieri in ista mundi parte infima. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 674 f.
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Seit Cicero693 ist eine Traditionsbildung zu beobachten, die, bezogen auf den lateinischen Sprachraum, spätestens seit der Spätantike694 als gefestigt angesehen werden kann und sich im Verlauf des Mittelalters weiter etablieren sollte. Bis zum Veroneser Erdbeben vom 3. Januar 1117 illustrieren die lateinischen Termini terribilis695 und horribilis696 eine typische Deutungstradition, welche durch die frühneuzeitliche Historiographie697 bis zur Aufklärung weiter tradiert werden sollte. Das „schreckliche“ Erdbeben, wie es beispielsweise Ebo von Michelsberg bei seiner Überlieferung des Veroneser Erdbebens von 1117698 klassifiziert, eröffnet als konkreter
693 Cicero: De haruspicum 62, 117. 694 Ammianus: Res gestae, XVII, 7. 1, 114; XVII, 7. 3, 114; Orosius: Historiae, IV, cap. 4. 5, 214; VII, cap. 29. 5, 506: sequitur terrae motus horribilis. Dt. Übersetzung siehe Orosius: Die antike Weltgeschichte (V–VII), 192. 695 [EB 1080]: Mariani Scotti chronici recensio altera: 79: 1103. [. . .] Mogontia in Kal. Dec. terrae motu cum muris plus vel minus uno miliari terribiliter est concussa; [EB 1117]: Annales Corbeienses maiores: 51: 1117. In octava sancte Iohannis evangeliste late per orbem terra terribili et inaudito hactenus terre motu concutitur; Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42 f.; Annales Hildesheimenses: 64; Chronica regia Coloniensis: 57; Annales Venetici breves: 71. Ähnlich terrifico in Poeta Saxo: IV, 47 sowie terrores in Annales Floreffienses: 624 und Annalium Leodiensium continuatio: 30. 696 [EB 998]: Annales Quedlinburgenses: 499: terrae motus factus est horribilis per totam Saxoniam; Annales Magdeburgenses: 160; Annalista Saxo: 269; Cosmas von Prag: Chronicon Bohemorum (ÖNB Wien, Cod. 508), 56; [EB 1013]: Annales Quedlinburgenses: 540; Annales Magdeburgenses: 165; Annalista Saxo: 330; [EB 1021]: Annales Sangallenses maiores: 306; [EB 1117]: Otto von Freising: Chronica sive Historia, VII, cap. 15, 526; [EB 1201, 1202]: Hermann Korner: Chronica Novella, 5; [EB 1225]: Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210. 697 Exemplarisch wären zu nennen: [EB 1509, bei Konstantinopel]: Nauclerus: Chronicon, Bd. 2, 550; [EB 1578, Meißen]: Bellmann: Zeitbuch, 79b (StA Freiburg, II A 15a); [EB 1655, Tübingen]: Nuber: Eine christliche Erinnerung von den schröcklichen Erdbidemen, 31: „fast täglich / bis zu Ende desselbigen / ja noch immer bißhero (wie berichtet wird) wiewol nicht soviel und offt als zuvor / mit grossen schröcklichen Erdbidemen dasselbige heimgesuchet / dergleichen bey Menschen Gedencken in gedachtem Löblichen Hertzogthumb zuvor niemahlen geschehen und gehöret“; Wagner: Zwo ernsthaffte scharpffe Buß-Predigten, 68: „Sonderlich aber hatte dieser Erdbidem über den ersten/schröcklichen Außbruch/und die hernachfolgende wiederkommende Stöß/den 30. Mertzen/wie auch den 11. April sich schröcklich erzeigt“; Bericht des Leonberger Vogts vom 19. März 1655 (HStA Stuttgart, A 202 Bü 2822):„heut gegen Tag zwischen 2 und 3 Uhren sich zwey Erdböben, und zwar das letstere (so bloß vor 3 Uhr gewesen) allso erschröckhlich und starkh verspüren lassen“. 698 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42 f.: De terribili terre motu, qui edificia et structuras monasterii sancti Michaelis hiatu terribili destruxit, quas sanctus Otto postea a fundamentis erexit et ampliando dilatavit, et de die consecrationis ecclesie. Siquidem anno Domini millesimo centesimo decimo septimo III Nonas Ianuarii, id est in octava sancti Iohannis apostoli, peccatis hominum exigentibus, terre motus factus est magnus, quarta feria, luna vicesima sexta, hora vespertina, impleta prophetia quae dicit: Pugnabit pro eo orbis terrarum contra insensatos. Hoc siquidem terre motu ecclesie nostre fabrica, que et ante iam longa temporis vetustate ex parte scissa erat, ita concussa est, ut lapis magnus in frontispicio vel culmine sanctuarii subito lapsu proruens, totius monasterii ruinam minaretur, cunctosque ingenti pavore perculsos in fugam converteret. Et tamen, mirum
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III Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums
Ausdruck eines vorhandenen mittelalterlichen Angstpotentials eine beachtliche Bandbreite von zeitgenössischen Interpretationen. Getragen wird dieses Spektrum durch den psychologisch-anthropogenen Aspekt einer gefühlten Machtlosigkeit gegenüber der unvorhersehbar eingetretenen Erschütterung. Angst, Furcht und Schrecken unterstützen hierbei eine anschauliche Darstellung, die sich maßgeblich im Rahmen einer Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik bewegt. Die folgenden Zeilen sollen zeigen, welche Deutungsabsichten der christlich-mittelalterliche Historiograph mit der Bezeichnung terribili terrae motus verband. Wenn die Lebenswirklichkeit durch nicht Erklärbares sowie nicht Alltägliches in Unruhe gerät, ist es eine gängige menschliche Beurteilungs- und Lösungsstrategie, dem Aspekt der Unbestimmtheit mit einem Reflex der Furcht zu begegnen. Es braucht hierfür weder zu einem überraschenden Erzittern von Gebäuden noch zu einem Schwanken des Bodens zu kommen. Bereits der regelmäßige Wechsel zwischen Tag und Nacht reichte dem vormodernen Menschen aus, um aus der Ungewissheit heraus Angst (terror) und Schrecken (horror) zu empfinden. Das Motiv der schaurig-schrecklichen Nacht,699 welches schon Seneca700 anführt, ist mentalitätsgeschichtlich durchaus auf die zeittypische Vorstellung von Erdbeben übertragbar. So schildert der burgundische Mönch Radulfus Glaber eine schreckliche Nacht ganz im Duktus mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen, indem er berichtet wie seine Schlafstätte durch den Teufel selbst erschüttert wurde.701 An diesem Beispiel wird die Analogie zwischen mittelalterlichen Beschreibungen emotionaler und seismischer Erschütterungen besonders gut deutlich. Das Mittelalter ist hier Teil einer langen Traditionsbildung, welche sich bereits in antiken Quellen702 und insbesondere in den biblischen Schriften abbildet. Das Gefühl ängstlichen Zitterns wird schon bei
dictu! grandi hoc lapide, qui totum in circuitu opus sua conclusione firmabat, lapso, reliqua templi fabrica, licet hiatu terribili casum iam iamque minaretur, immobilis persistit, donec post festa paschalia iussu pii Ottonis destructa et solo adequata est. Dt. Übersetzung: Heiligenleben zur deutsch-slawischen Geschichte: 211. 699 Siehe besonders BOIADJIEV 2003: 12, 61, 65 sowie DINZELBACHER 1996: 13, 65, 83. DINZELBACH 1996: 61 f. nennt ebenso die Angst vor Gewittern. 700 Seneca: Naturales quaestiones, III, cap. 27. 10, 153: Interim permanent imbres, fit caelum gravius, adsidue malum ex malo colligit. quod olim fuerat nubilum nox est, et quidem horrida ac terribilis intercursu luminis diri. Dt. Übersetzung siehe Seneca: Naturwissenschaftliche Untersuchungen, 215. 701 Radulfus Glaber: Historiarum libri, V, cap. 2, 248, 250: nocte quadam ante matutinalem sinaxim [. . .] totum terribiliter concussit lectulum. Dt. Übersetzung: „Nachts vor der Versammlung zum Matutin [. . .] Das Bett hat ganz schrecklich geschwungen.“ Das Beispiel, ohne den Bezug zu Erdbeben, wird auch bei DINZELBACHER 1996: 83 zitiert. Insgesamt zeichnet sich das Werk Radulfus’ (bzw. Rodulfus) durch eine schwerpunktmäßige Wiedergabe von Wundern, Prodigien, Visionen und anderem Merkwürdigen aus. Siehe PRELOG 2009: 933. 702 Das Lehrbeispiel zur rhetorischen Entlehnung liefert Cicero: De oratore, III. 42 (167), 330: Africa terribili tremit horrida terra tumultu. Dt. Übersetzung siehe Cicero: Über den Redner, 551.
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Lucretius auf die Beschreibung von Erdbeben übertragen.703 Auch Publius Annius Florus lässt in seiner Darstellung des zweiten Punischen Kriegs durch den synonymen Wortgebrauch die Grenzen zwischen Erdbeben, Schlachtgetümmel und der dadurch verursachten Furcht verschwimmen.704 Insbesondere im Alten Testament wird das Motiv des angstvollen Zitterns ausgiebig angewandt. Der Vers tremor et horror invasit sensus eorum705 ist nur eines von zahlreichen Beispielen, das eine enge terminologische Nähe zur Beschreibung seismischer Ereignisse aufweist.706 Die Wortwahl bezweckt hier jedoch eine sprachliche Erschütterung. Sie leitet unmittelbar zur Gottesfurcht über, welche auch Moses vor Angst erschauern lässt707 und letztlich aus theologischer Sicht eine moralisierende Absicht verfolgt.708 Die sichtbare Änderung der göttlichen Ordnung provoziert ein Gefühl tiefer Verunsicherung. Die Unruhe im Kosmos kann gemäß mittelalterlicher Überzeugung schließlich nicht grundlos geschehen sein. Nur die eigene, menschliche Schuldhaftigkeit erscheint als Grund für den Eingriff Gottes plausibel. Angst und Schrecken vor dem terribiliter Dei ist somit insbesondere eine Furcht vor der göttlichen Strafe.709 Das „schreckliche“ Erdbeben ist demnach einerseits
703 Lucretius: De rerum natura, VI. 593, 536: dispertitur ut horror, et incutit inde tremorem. Engl. Übersetzung siehe ebd.: 537. 704 Annius Florus: Epitomae, I, cap. XXII. 14, 59: Inminentem temerario duci cladem praedixerant insidentia signis examina et aquilae prodire nolentes et commissam aciem secutus ingens terrae tremor; nisi illum horrorem soli equitum virorumque discursus et mota vehementius arma fecerunt. Dt. Übersetzung siehe Florus: Römische Geschichte, 81. Ähnlich Orosius: Historiae, IV, cap. 4. 5, 214. 705 Judith 4, 1–2. 706 Hi 4, 13–14: in horrore visionis nocturnae quando solet sopor occupare homines pavor tenuit me et tremor et omnia inhorruerunt pili carnis meae; Ps 47, 6–7 (iuxta Hebr.): conturbati sunt admirati sunt horror possedit eos ibi dolor quasi parturientis; Sap 5, 2: videntes turbabuntur timore horribili. 707 Hebr 12, 21: et ita terribile erat quod videbatur Moses dixit exterritus sum et; ebenso Ps. 87, 17 (Psalter Gallicanum): in me transierunt irae tuae et terrores tui conturbaverunt me. 708 Siehe z. B. Isaak von Stella: Sermones, LIV. 9, 850: hic homo renovatus in Ecclesia ponitur spiritualium deliciarum opulenta et omnigeno gratiarum flore decorata et virtutum fructu suavi, ut operetur ibi homo cum timore et tremore salutem suam, et custodiat semper circumspecte quod acquisivit a creante, sicut scriptum est: Qui se existimat stare, videat ne cadat. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 851. 709 Als spätantikes, hagiographisches Beispiel sei hier ein Erdbeben aus der Vita S. Severini angeführt, bei welchem ein plötzlich eingetretenes Erdbeben die römische Garnisonsstadt Comagenis (nahe d. heutigen Tulln a. d. Donau gelegen) derart erschütterte, dass es zu einer vollkommenen Verunsicherung der dort stationierten germanischen Foederaten-Einheiten kam. Siehe Eugippius: Vita Sancti Severini, cap. 2, 8: facto subito terrae motu ita sunt barbari intrinsecus habitantes exterriti, ut portas sibi Romanos cogerent aperire velociter. Exeuntes igitur conciti diffugerunt, aestimantes se vicinorum hostium obsidione vallatos, actoque terrore divinitus, noctis errore confusi, mutuis se gladiis conciderunt. Dt. Übersetzung siehe Eugippius: Das Leben des heiligen Serverin, 61. Ausführlich behandelt auch LOTTER 1976: 136, 156 f., 214 dieses Erdbeben. Hinsichtlich des mentalitätsbildenden Aspekts der „Gottesfurcht“ siehe exemplarisch zwei Belegstellen aus der Benediktsregel. Z. B.: Benedicti regula, cap. 3. 11, 30 f. und cap. 5. 9, 39.
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der historiographische Ausdruck eines psychologisch begründeten Angstgefühls. Es ist jedoch gleichzeitig in den Kontext einer Erschütterungsrhetorik zu setzen. Die Gottesfurcht soll also zur Selbstreflexion anregen und, wie Augustinus schreibt, zur Besserung und Nächstenliebe führen.710 Bildlich gesprochen muss somit erst etwas erschüttert werden, um sodann rhetorisch und theologisch erbauen zu können. Dass mit dem Schrecken im Mittelalter erbaulich argumentiert wurde, wird nicht nur an dem Zitat aus der Chronik Emos ersichtlich.711 Hierin begründet sich auch die Bedeutung für die Gattung des Strafwunders,712 welches gerade in der mittelalterlichen Predigt eine besondere Stellung inne hatte. Im Sinne einer derartigen, inhaltlich wie rhetorisch begründeten Erschütterungsabsicht versinnbildlichen Adjektive wie terribilis oder horribilis eine sprachliche Steigerung. Das Bild einer zurückliegenden Erschütterung kann sich damit hinsichtlich einer glaubhaften Ereignisgeschichte merklich verschieben.713 Auffällig ist, dass sich vor allem der Terminus horribilis vermehrt in Quellen wiederfinden lässt, welche in belegter Weise falsche oder zumindest missverstandene seismische Ereignisse überliefern.714 Angesichts dieser Beobachtungen sollte das Motiv des „schrecklichen“ Erdbebens betreffs einer konkreten Erschütterungs- und Erbauungsabsicht nicht ausschließlich in theologischen Schriften oder der Predigtliteratur gesucht werden. Das bereits kurz erwähnte Beispiel Ebos von Michelsberg unterstreicht, dass diese Intention auch für die mittelalterliche Geschichtsschreibung durchaus bestimmend war. Beinahe idealtypisch kann die rhetorische und inhaltliche Vereinigung von Erschütterung und Erbauung am sogenannten Ebo coartatus, einer von mehreren Viten Otto von Bambergs, abgelesen werden.
710 Augustinus: De doctrina christiana, II, cap. VII (9.), 36: Ante omnia igitur opus est dei timore converti ad cognoscendam eius voluntatem, quid nobis appetendum fugiendumque praecipiat; Dt. Übersetzung: Augustinus: Die christliche Bildung, 51; sowie an anderer Stelle in De doctrina christiana, II, cap. VII (10.), 37. Gleichfalls sehr passend Hinkmar von Reims: De ordine palatii, prol., 36. 711 Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 118: Hec et hiis similia in scriptum redegit sibi soli ad contemplandum iugiter magnalia et mirabilia et terribilia Dei, que fecit; sed tibi, o lector, ut admoneantur singuli, suprapetram et in alto cum sapiente domos sibi stabilire, et firma faciant domorum suarum laqueraria. Ebenso Wilhelm von Auvergne: De Moribus, cap. 2, 194: Ego sum tempestas ad liberationem, et salutem terrae motum spiritualem in corde humano faciens, et omnia diabolica aedificia in eo subvertens, et discutiens ab eodem. Dt. Übersetzung: „Ich bin der Zeitpunkt der Befreiung und das Heil bewirkende geistige Erdbeben im menschlichen Herzen und das alle teuflischen Erbauungen darauf zerstörende und von ebendort zerschlagende.“ Ebenso Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, I, cap. XXXII, 112. 712 Siehe BERLIOZ 1993: 17–19; LOTTER 1976: 105 f., 158. 713 Siehe z. B. [EB 1201, 1202, 1205]: Hermann Korner: Chronica Novella, 5, 141. 714 [EB 998]: Annales Quedlinburgenses: 499: terrae motus factus est horribilis per totam Saxoniam; ähnlich Annales Magdeburgenses: 160; Annalista Saxo: 269; Cosmas von Prag: Chronicon Bohemorum (ÖNB Wien, Cod. 508), 56; [EB 1013]: Annales Quedlinburgenses: 540; Annales Magdeburgenses: 165; Annalista Saxo: 330; [EB 1201, 1202]: Hermann Korner: Chronica Novella, 5; [EB 1225]: Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210.
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Die Analyse von Ebos Darstellung des starken Veroneser Erdbebens vom 3. Januar 1117 mit den Worte: De terribili terre motu, qui edificia et structuras monasterii sancti Michaelis hiatu terribili destruxit, quas sanctus Otto postea a fundamentis erexit et ampliando dilatavit715 sollte jedoch nicht losgelöst vom eigentlichen quellenkundlichen Kontext und hagiographischen Hintergrund des Ebo coartatus erfolgen.716 Aus ereignisgeschichtlicher Perspektive ist die mittelalterliche Vita gemeinhin eine schwierige Quellengattung. Ihre Bedeutung für die Vergangenheitsrekonstruktion ist zwar des Öfteren, gerade in besonders schriftarmen Zeiten, nachgewiesen worden.717 Dennoch ist – bedingt durch den oftmals exegetisch zu lesenden Inhalt sowie den von mystisch-symbolischen Beispielen durchdrungenen Kontext – von einer zu streng dem Wortlaut folgenden Interpretation abzuraten. Eine überwiegend in dieser Lesart erfolgende Bewertung des Erdbebens von 1117 hat schließlich zu dessen klarer Intensitätsüberschätzung für Bamberg und den süddeutschen Raum beigetragen.718 Die zeitnahe Niederschrift719 sowie insbesondere der gegebene Anlass für die Anfertigung des Ebo coartatus sind also keineswegs triviale quellenkritische Befunde. Wie bei vielen anderen Beispielen in dieser Arbeit ist festzustellen, dass auch im vorliegenden Fall die literarische Gattung den Berichtsinhalt entscheidend prägt. Als eine von zwei Schriften diente Ebos Werk als Grundlage für das Heiligsprechungsverfahren Bischof Ottos I. von Bamberg.720 Die nur in einer vergangenheitsgeschichtlichen Bearbeitung erhaltene721 Lebensbeschreibung bezweckt in erster Linie eine Stilisierung des bekannten Kirchenmannes als „Apostel der Pommern“ und „Vater der armen Christi“.722 Ebo geht auch im vorliegenden Beispiel argumentativ vor, wenn er berichtet, wie das Kloster Michelsberg aufgrund der menschlichen Sünden zur Oktav des Evangelisten Johannes mittels eines schrecklichen
715 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42. 716 Beispielsweise fehlt dieser wichtige Befund bei GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 16. 717 Siehe die Arbeiten von LOTTER 1976; KÖSTLER 1993 sowie PADBERG 1997. 718 Dies betrifft das Verona-Beben. Vgl. Tabelle mit Intensitätsdatenpunkten (IDPs) bei GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 126 sowie GUIDOBONI, COMASTRI 2005b: 9. 719 Ebos ursprünglich als Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis betiteltes Werk, entstand zwischen 1151 und 1159. Siehe PETERSOHN 1980: 9; MÄRKER 2009: 278. 720 PETERSOHN 1980: 17 f., 20. Bei der zweiten Schrift handelte es sich um Herbord von Michelsbergs Dialoges de vita S. Ottonis episcopi Babenbergensis. Dessen nur in der Fassung O enthaltener Bericht des beschädigten Klosters ist aus dem Ebo coartatus entnommen. Siehe Herbod von Michelsberg: Herbordi dialogus de vita s. Ottonis episcopi Babenbergensis, XXIX, 25 sowie SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung) im quellenkundlichen Teil des Erdbebens von 1117. 721 Die erhaltene Fassung von Ebos Vita, der Ebo coartatus, entstand Ende der 1180er Jahre. Siehe PETERSOHN 1971: 180. 722 PETERSOHN 1980: 9–11; HECKMANN 1994/1995: 40–42.
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Erdbebens erschüttert wurde.723 An sich bieten diese Worte schon ausreichend rhetorische und inhaltliche Amplifikation. Denn dieses heftige und in Italien auch zerstörerische Erdbeben fand zum Abschluss der Festwoche zu Ehren jenes biblischen Autors statt, der wohl für die Niederschrift des Offenbarungs-Textes im Neuen Testament verantwortlich zeichnet. Argumentativ passte dieses Ereignis geradezu schicksalsweisend in die Zeit des späten Investiturstreits. Es ist keineswegs gesichert, ob das ohnehin baufällige Kloster724 durch das Erdbeben725 tatsächlich so stark beschädigt wurde. Keine der übrigen Bamberger Quellen stützt diese von der Forschung vertretene These.726 Woher ein hiatus terribilis727 im Gemäuer tatsächlich herrührt, ist für Ebos eigentliche Botschaft jedoch unerheblich. Als argumentatives Fundament liefert das terribilis terrae motus von 1117 für seine Hauptfigur Otto einen gebührenden Anlass,728 um als Erneuerer des zerstörten Klosters auf dem Michelsberg auftreten zu können.729 Schließlich hat sich der rechtschaffende Bischof im Verlauf des großen Konflikts zwischen regnum und
723 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42: Siquidem anno Domini millesimo centesimo decimo septimo III Nonas Ianuarii, id est in octava sancti Iohannis apostoli, peccatis hominum exigentibus, terre motus factus est magnus, quarta feria, luna vicesima sexta, hora vespertina, impleta prophetia quae dicit: Pugnabit pro eo orbis terrarum contra insensatos. 724 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42: ecclesie nostre fabrica, que et ante iam longa temporis vetustate ex parte scissa erat; Herbod v. Michelsberg: Herbordi dialogus de vita s. Ottonis episcopi Babenbergensis: 25: Nam illa structura vetus cum in cyberii emisperio rimam haberet intrinsecus, ne forte collapsa monachos percuteret. 725 Dies kann auch Ebos Satz, zitiert in Anm. 724, nicht bestätigen. 726 Vgl. JURITSCH 1889: 176–184; GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 88; Das Necrolog des Klosters Michelsberg: 71 sowie WEISS 2007: 230. Noch heute erinnert eine Tafel am Eingangsportal des Klosters Michelsberg an die Zerstörung durch das Erdbeben von 1117. SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 54 schließen sich dieser Forschungsmeinung wohlgemerkt nicht an. 727 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42. 728 In dieser Weise sollte die vergangenheitsgeschichtlich interpolierte Fassung O von Herbords Dialogus gelesen werden. Vgl. Herbod v. Michelsberg: Herbordi dialogus de vita s. Ottonis episcopi Babenbergensis: 25: Ecclesiam quoque sancti Michahelis, cum terre motu soluta ruinam sui minari videretur, a fundamento destruxit et ingenti sumptu ac pecunia maioris et elegantis fabrice monasterium in laudem et gloriam Dei et milicie celestis erexit. Stipendia quoque. Herbord trat erst im Jahr 1145, aus Regensburg kommend, in den Michelsberger Konvent ein. Er ist daher kein Augenzeuge des Erdbebens. Siehe PETERSOHN 1980: 16. 729 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42: quas sanctus Otto postea a fundamentis erexit et ampliando dilatavit; Herbod v. Michelsberg: Herbordi dialogus de vita s. Ottonis episcopi Babenbergensis: 25: De reparacione ac melioracione monasterii ac tocius cenobii sancti Michahelis. Nostra quoque sancti Michahelis ecclesia quid illi graciarum accionum debet! [. . .] quasi de occasione gavisus, destructo veteri, sancto Michaheli maioris fabrice monasterium novum construxit, ipsamque rem. Die Prüfeninger Vita Bischof Ottos: cap. 23, 70 f.: Neque vero hoc prętereundum existimo, quod monasterium sancti Michahelis cum paradyso ac universis claustri edificiis necnon et basilicam sanctę Marię cum sacrario et capellam beati Bartholomei a fundamentis reedificavit; kapellam quoque super portam, sed et diversorium et muri ambitum cum universis officinis construxit.
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sacerdotium als standhaft im Glauben erwiesen. Als Vermittler zwischen päpstlicher und kaiserlicher Partei war er stets um die Einheit der Ecclesia bemüht.730 Diese historische Leistung Ottos versucht Ebo zu würdigen, in dem er sie in der zweiten Berichtshälfte anschaulich verarbeitet. So führt er aus, dass mit dem Herabfallen des Schlusssteins der Einsturz des gesamten Klosters gedroht habe, ohne jedoch tatsächlich einzutreten.731 Nun besitzt die Metapher des Schlusssteins eine besondere Symbolik, die Ebos eschatologischen Grundton deutlich unterstreicht. Ausgehend vom alttestamentlichen Vorbild des lapis primarium732, des Grundsteins, welcher das Fundament eines jeden Kirchenbaus legt, wurde dessen Bedeutung ebenso auf den sogenannten Eckstein, den lapis angularis, übertragen.733 Die allegorische Gleichstellung von Christus mit dem Eckstein734 verdichtete sich schließlich bei Paulus in der Rede vom Schlussstein.735 Als letztes Bauteil in einer sich selbsttragenden Konstruktion versinnbildlicht jener den beim Jüngsten Gericht wiederkehrenden Christus. Auch hier war eine analoge Vorstellung verständnisleitend. So wie der Schlussstein das Gewölbe jeder Kirche auf Erden abschließt und ihr die nötige statische Stabilität verleiht, wird der Gottessohn am Jüngsten Tag auch den Tempel Gottes vollenden.736 Diese Symbolik veranschaulicht sich exemplarisch für viele mittelalterliche Kirchen im Aachener Dom. Hier ziert das Antlitz Jesu jenen Schlussstein, welcher oberhalb der Grabstätte Karls des Großen angebracht ist.737 Die anagogische Erwartungshaltung, sprich die Hoffnung, als rechter Christ an der Auferstehung teilzuhaben, greift Ebo ebenfalls auf. Davon zeugen Ottos symbolträchtig zu Ostern angeordneter Abriss des alten Klosters Michelsberg sowie dessen umgehend initiierter Neubau.738
730 PETERSOHN 1980: 4. 731 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42 f.: ut lapis magnus in frontispicio vel culmine sanctuarii subito lapsu proruens, totius monasterii ruinam minaretur, cunctosque ingenti pavore perculsos in fugam converteret. Et tamen, mirum dictu! grandi hoc lapide, qui totum in circuitu opus sua conclusione firmabat, lapso, reliqua templi fabrica, licet hiatu terribili casum iam iamque minaretur, immobilis persistit. 732 Sach 4, 7–14, bes. Vers 7. 733 Rupert von Deutz: De sancta trinitate et operibus eius, In Danihelem Prophetam, cap. 22, 1772: Nam isti sunt parietes, quos in se uno coniungit hic lapis angularis, lapis primarius. Dt. Übersetzung: „Denn diese da sind Wände, die sich in eins vereinigt haben. Dies ist der Eckstein, der Grundstein.“ 734 Act 4, 11: hic est lapis qui reprobatus est a vobis aedificantibus qui factus est in caput anguli; siehe auch Hilarius von Poitiers: Hymnus dubius de Christo, 218. 735 Eph 2, 20–21: superaedificati super fundamentum apostolorum et prophetarum ipso summo angulari lapide Christo Iesu in quo omnis aedificatio constructa crescit in templum sanctum in Domino. 736 Eph 2, 21; Hag 2, 16: antequam poneretur lapis super lapidem in templo Domini; Sach 3, 9–10. 737 WYNANDS 2000: 43. 738 Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 43: donec post festa paschalia iussu pii Ottonis destructa et solo adequata est.
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Das Fehlen des Schlusssteins, wie es im Ebo coartatus überliefert wird, artikuliert mit der Abwesenheit eines Stabilität gebietenden Bauteils eine für den mittelalterlichen Leser analog zu verstehende Gegenwartsanalyse. In den Zeilen des Michelsberger Mönchs visualisiert sich ein spiritueller Riss. Er stand für die durch den Investiturstreit entzweite Ecclesia, welcher die wohlgeordnete göttliche Schöpfung in Unruhe brachte.739 Die ruinösen Außenmauern des Klosters symbolisieren den in seinen Prinzipien erschütterten christlichen Glauben. Beide, Gemäuer und Glaube, sind zwar noch vorhanden, doch sie bedürfen des integrativen „Erneuerers“ Otto, welcher die Kirche nicht nur metaphorisch restaurieren sollte. Mit dem Bild des Wiederaufbaus illustriert Ebo eine neue Einheit der Kirche in Christus. Für viele seiner Zeitgenossen war diese Botschaft wohl weit verständlicher, als sie für unsere säkularisierte Perspektive erscheint. Bezogen auf Otto von Bamberg und seine im ausgehenden 12. Jahrhundert angestrebte und später auch vollzogene Heiligsprechung war sie sicherlich hilfreich.
3.3 Schreib- und Darstellungskompetenz in der Überlieferung mittelalterlicher Erdbeben – Ein drittes Zwischenfazit Die historiographische und annalistische Traditionsbildung mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen konnte bislang als vielschichtiger Prozess nachgewiesen werden. Hierbei wurde zunächst ein Corpus zeitspezifischer Beschreibungsmuster rekonstruiert. In Anlehnung an das klösterliche Trivium schloss sich daraufhin eine grammatische und logische Eruierung des normierten mittelalterlichen Terminus zur Beschreibung von Erdbeben terrae motus an. Gegenstand eines weiteren Kapitels war es, auf diesen Ergebnissen aufzubauen und damit den Blick für die sprachliche Vermittlung von Erdbeben in der Geschichtsschreibung des Mittelalters zu schärfen. Die grammatische Korrektheit einer Aussage allein ist schließlich kaum ausreichend, um Inhalte zufriedenstellend zu tradieren. Es sei an die Empfehlungen des Augustinus erinnert, wonach der Kirchenlehrer eben auch verstanden werden muss, wenn er predigt.740 Die in der Arti739 Es sei nur daran erinnert, dass Bonizo von Sutri, ein der päpstlichen Partei angehörender italienischer Geschichtsschreiber, infolge der Exkommunizierung Kaiser Heinrichs IV. im Jahr 1076 die Worte wählte: universus noster Romanus orbis contremuit. Siehe Bonizo von Sutri: Liber ad Amicum, VII, 609. Seine Worte demonstrieren beispielhaft die analoge Übertragbarkeit von Erdbebentermini im Kontext einer Erschütterungsrhetorik. Allerdings ist zu beachten, dass die Vermeidung des Terminus terrae motus und die stattdessen erfolgte Verwendung von contremere auf eine bewusste Unterscheidung zwischen realen und argumentativen Erschütterungen seitens Bonizos schließen lässt. Des Weiteren bezieht er die Auswirkungen der Erschütterungen auf den Geltungsbereich des lateinischen Europas und nicht auf den orbis terrarum. 740 Augustinus gibt hierbei der inhaltlichen Vermittlung den Vorrang vor der sprachlichen Korrektheit. Siehe Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. X (24.), 133.
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kulation einseitige Kommunikationsform der Rede findet sich auch in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung wieder. Denn ebenso wenig wie bei Predigten kann der Adressatenkreis von Annalen und Chroniken keine unmittelbaren Verständnisfragen an den Autor selbst stellen,741 zumal wenn dieser nicht der Generation der Zeitgenossen angehört oder räumlich nicht greifbar ist. Der Erfolg einer möglichst fehlerfreien Geschichtsvermittlung ergab sich somit direkt aus der rhetorischen Schreibkompetenz des Historiographen. Selbstredend war darin eine mindestens ebenbürtige Befähigung des Publikums zum Verständnis inbegriffen. Die Fokussierung auf die Rhetorik schließt somit hinsichtlich der verschiedenen Aussage- und Verständnisebenen den Kreis, durch den das Mittelalter dank des Triviums befähigt war, Erdbeben in schriftlicher Form für die Nachwelt zu kommunizieren. Die besagte Schreib- bzw. Beschreibkompetenz mittelalterlicher Autoren lässt narrative und argumentative Techniken der antiken Gerichtsrede als das zeitgenössische Mittel der Wahl erscheinen, um einen historischen Sachverhalt als Faktum definieren und glaubwürdiger darstellen zu können. Das Mittelalter wusste verschiedene Aspekte der Gerichtsrede zu nutzen und so die Grenzen zwischen inventio und elocutio, sprich der Stofferhebung und der sprachlichen Ausgestaltung, verschwinden zu lassen. Somit war einerseits das Vermögen zur deskriptiven Aussage vorhanden, das gegebenenfalls geeignet war, dem Ereignis Erdbeben als Argument Geltung zu verschaffen. Anderseits bot die Gerichtsrede sprachliche Werkzeuge an, um der exegetisch-geschichtstheologischen Tradition Ausdruck zu verleihen. Bei der Untersuchung konnte erkannt werden, dass aus dem großen Fundus an Topoi, den die Gerichtsrede zur Auffindung von Argumenten bereithielt, die Topik aus den Umstände einer Tat (circumstantiae), von einer technischen Seite her betrachtet, das zielführendste Werkzeug für eine aussagekräftige Inhaltsvermittlung darstellte. Mittelalterliche Geschichtsschreiber griffen auf diese strukturierte Methode der Fragestellung nachweisbar zurück, um den Ort, die Stärke und das Datum eines Erdbebens zu überliefern, wobei regional- und zeitspezifisch variabel auftretende Schreibgewohnheiten belegt werden konnten. Maßgeblich beeinflusst wurde deren Ausbildung durch die Wahl der literarischen Gattung. Der Unterschied zwischen annalistischer und chronikalischer Geschichtsschreibung wird oftmals an der deutlich verschieden ausfallenden deskriptiven Qualität überlieferter Erdbebennachrichten erkennbar. Die Analyse des Gesamtquellencorpus gemäß einer strukturierten, auf die sogenannte Umstandstopik ausgerichteten Fragestellung konnte für das Untersuchungsgebiet zudem einen narrativen Wandel herausstellen. Nicht nur formgeschichtlich erscheint demnach das schwere Erdbeben vom 3. Januar 1117 bei Verona als Wendepunkt der mittelalterlichen Traditionsbildung. Geändert haben sich nach diesem Erdbe-
741 Hinsichtlich der Predigt siehe Augustinus: De doctrina christiana, IV, cap. X (25.), 133.
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ben ebenfalls rhetorisch-narrative Aussageabsichten bzw. – fähigkeiten. Die Berichtsqualität formalisierte sich zunehmend und überlieferte mittels der zusehends etablierten Wendung terrae motus factus est eine Botschaft, die eine vollumfängliche Erwähnung von Ort, Zeit und Stärke eines Erdbebens als nicht wesentlich erachtete. Die rhetorisch-materielle Topik dieser Erdbebenbeschreibung unterstreicht eher ein typisch christlich-mittelalterliches Weltverständnis sowie eine Einbindung in einen exegetischen Kontext. Insbesondere für diesen letzten Aspekt erwies sich der Nachweis einer spezifischen Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik als verständnisleitend. Bei der Beschreibung von Erdbeben waren Anleihen bei der römisch-antiken Gerichtsrede traditionsstiftend für die mittelalterliche Geschichtsschreibung. Erwiesenermaßen leiteten die Grundsätze der erhabenen Rede durch ihr Primat zur Überzeugung zu einem anschaulichen Stil an, welcher ebenso rhetorisch zu erschüttern vermochte. Auf diese Weise beabsichtigte der Schreiber, Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur christlich moralischen Erbauung zu generieren, ohne dabei der Glaubwürdigkeit seiner Botschaft für seine Zeitgenossen den Boden zu entziehen. In besonders elaborierter Weise konnte diese spezifische Form der Inhaltsvermittlung in Quellen nachgewiesen werden, welche eine Überlieferung ereignisgeschichtlich falsch zu bewertender seismischer Ereignisse vornehmen. Es gilt als belegt, dass sich gerade die Schilderungen falscher Erdbeben von der Überlieferung realer Erschütterungen durch ein höheres Maß an Detailreichtum und Anschaulichkeit abgrenzen. Die Tradition einer besonderen auf die historiographische Darstellung von Erdbeben fokussierten Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik ist allerdings keineswegs alleine auf Falschbeben beschränkt. Vielmehr bestätigt das Beispiel des oftmals in den Quellen zu lesenden Motivs des „schrecklichen“ Erdbebens eine analoge Anwendung für „wirklich“ geschehene Ereignisse. Als verbindendes Element konnte auch hier ein spezifisch-mittelalterliches Angstgefühl herausgestellt werden, welches erneut eine moralisierende Lesart des Arguments Erdbeben beförderte.
IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung – Die mittelalterliche Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est als Ausdrucksform christlicher Weltauslegung De hac terra et duabus aliis, idest quarto elemento et celesti patria, quidam eleganter ait: Est terras quam terimus, est terra gerimus, est terra quam querimus.
Von dieser Erde und den zwei anderen, dies ist das vierte Element und das himmlische Vaterland, spricht mancher gewählt aus: ‚Die Erde ist, welche wir betreten, die Erde ist, die wir herumtragen, und die Erde ist, welche wir suchen‘.
(Distinctiones monasticae, 332)
Getragen von einer universellen Einheitsvorstellung, die sich maßgeblich in der im Glauben verankerten allgegenwärtigen Präsenz Gottes begründet,1 gehörte im Mittelalter die mehrdimensionale Auslegung des Irdischen zu einer selbstverständlichen Form der Welterklärung.2 Die allegorische Deutung nahm hierbei einen beachtlichen Stellenwert ein. Denn per allegoriam quaedam typica investigatione perscrutamur,3 wie Gregor der Große formuliert, galt es, das Typische im mundus sensibilis zu ergründen. Anschaulich lässt sich eine solche Methodik bereits aus dem vorangestellten Zitat der Distinctiones monasticae erahnen. Gemäß der exegetischen Tradition der Kirchenväter schöpft der geistige Sinn aus dem geschriebenen Wort und erfüllt so den Buchstaben mit Leben.4 Dieser methodisch
1 Siehe stellvertretend Alkuin: De ratione animae, cap. IV, 51: Deus ubique totus est quia omnia quae sunt vel quae fuerunt vel quae futura sunt simul omnia non semel sed semper praesentia habet [. . .] Et miratur aliquis si divina mens Dei universas mundi partes simul et semper praesentes habeat. Dt. Übersetzung: Alkuins pädagogische Schriften: 157. 2 Eucherius von Lyon: Formulae spiritalis intellegentiae, 52 f. führt aus, dass eine schier unendliche Anzahl von Bedeutungen von einem Wort ausgehen. 3 Gregor der Große: Moralia in Iob (ep. ad Leandrum) 3, 4; frz. Übersetzung siehe Grégoire le Grand: Morales sur Iob (I, II), 118. 4 Hier sei an das im Mittelalter oft verwendete Beispiel des aus II Kor 3, 6 entnommenen „tötenden Buchstabens“ erinnert, womit angesprochen sei, dass eine positivistische Auslegung der christlich-spirituellen Erbauung zuwiderläuft. Siehe stellvertretend Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 4, 380. Hinsichtlich der Dialektik sei der Hinweis auf die deutlich gegebenen Parallelitäten zur Hegelschen Dialektik gestattet, welche ebenfalls die vorwärtsstrebende und zielgerichtete Realisierung ihrer im Begriff angelegten Entitäten als ihr grundlegendes Wesensmerkmal versteht. https://doi.org/10.1515/9783110620771-004
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
durchaus als dialektisch zu bezeichnende Prozess führt, ausgehend von einer im christlich-exegetischen Kontext aufgefassten historischen Wahrheit, schrittweise auf höhere Auslegungsstufen.5 Die christliche Exegese bezweckt also zum einen die hermeneutische Erschließung der Heiligen Schrift. Zum anderen war sie ein Richtmaß für das eigene Leben. Die allegorische Auslegung erfolgt demzufolge nicht losgelöst von der Historie, wie Gerhoch von Reichersberg im 12. Jahrhundert schreibt.6 Von dem dunklen, die Wahrheit verstellenden allegorischen Rätsel der Antike hatte sich das christliche Mittelalter längst emanzipiert. Ohne Geschichte ist keine Allegorie, Tropologie und Anagoge7 denkbar. In ihr, so Hugo von St. Viktor, fand der christliche Mensch des Mittelalters Möglichkeiten, das Wirken und die Taten Gottes zu bewundern, um durch die Allegorie an dessen Geheimnisse zu glauben und schließlich, angeleitet durch die Tropologie, Wege der imitatio für sich selbst zu erkennen.8 Es handelt sich somit, zumindest theoretisch, um ein Mittel zeitgenössischer Problemlösung.9 Die abschließende Untersuchung mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen erfolgt ganz im Sinne dieser zeitgenössischen Anwendung. Beispielhaft für die Gesamtüberlieferung ist die Formulierung terrae motus factus est mit der exegetischen Tradition des Mittelalters abzugleichen, um auf diese Weise zum einen die zugrundeliegenden Aussageabsichten dieser besonderen Formulierung zu verstehen sowie zum anderen die Ursachen für deren weite, standardisiert-formelhafte Verbreitung zu erfassen.
5 Hilarius: Tractatus in Psalmum, CXXXIV, cap. 1, 144; Gregor der Große: Homiliae in Hiezechihelem, I, X. 1, 145: Qui si recte in eo alta intellegerent, mandata quoque minima despectui non haberent, quia divina praecepta sic in quibusdam loquuntur magnis, ut tamen in quibusdam congruant parvulis, qui per incrementa intelligentiae quasi quibusdam passibus mentis crescant atque ad maiora intellegenda perveniant. Frz. Übersetzung siehe Grégoire le Grand: Homélies sur Ézéchiel, 383. Erneut Gregor der Große: Moralia in Iob (ep. ad Leandrum) 1, 2: ut non solum verba historiae per allegoriarum sensus excuterem, sed allegoriarum sensus protinus in exercitium moralitatis inclinarem. Frz. Übersetzung siehe Grégoire le Grand: Morales sur Iob (I, II), 116. 6 Gerhoch von Reichersberg: Tractatus in psalmos, 721B-C: sub altiori tamen intellectu assignantes ad allegoriam, quae dicta sunt secundum historiam. Dt. Übersetzung: „Doch unter einem tieferen Sinn ist der Allegorie beizumessen, was gemäß der Geschichte gesagt wird.“ 7 Siehe die entsprechenden Ausführungen bei Cassianus: Conlationes, XIIII, cap. VIII, 404–407. 8 So schreibt Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 3, 368: Habes in historia quo Dei facta mireris, in allegoria quo eius sacramenta credas, in moralitate quo perfectionem ipsius imiteris. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 369. 9 Dies unterstreicht auch SCHEIBELREITER 1992: 258 f. mit Blick auf mittelalterliche Wunderberichte in hagiographischen Quellen.
1 Allegorie und Welterklärung
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1 Allegorie und Welterklärung – Die multiple Auslegung von terra als Schlüssel zum Verständnis des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs Sed prius historiae fundamenta ponenda sunt, ut aptius allegoriae culmen priori structurae superponatur.10 Die erbaulichen Worte des Hrabanus Maurus knüpfen unmittelbar an die vorangehenden Zeilen an. In diesem Sinne wollen wir also unseren Blick zunächst auf jene Ergebnisse richten, welche im Kapitel zur logischen Konstitution des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs terrae motus erarbeitet wurden. Sie sollen für die folgenden Seiten als verständnisleitende Grundbedingungen aufgefasst werden. Es wurde herausgearbeitet, dass der Begriff terrae motus ein spezifisches Substanz-Akzidenz-Verhältnis ausdrückt, welches auf zwei Ebenen projiziert, zum einen die Bewegung der festen Landmasse terra, aber gleichwohl eine auf die Vier-Elemente-Lehre abstrahierte Form christlicher Schöpfungslehre artikuliert.11 Als logische Substanz und als grammatisches Subjekt eröffnet terra folglich ein breites Feld an Interpretationsmöglichkeiten, da die ontologisch-kosmologische Vorstellungswelt des Mittelalters mehrere Bedeutungen mit eben jenem Ausdruck assoziiert. Die Rekonstruktion des zeitgenössischen Weltverständnisses, welches sich maßgeblich in Form der für die Geschichtsschreibung nachgewiesenen Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est materialisiert, kann von diesem Umstand nur gewinnen. Die mehrdeutige Auslegung von terra erfolgt im Mittelalter prinzipiell im Kontext christlicher Welterklärung. Dieser erste Befund ergibt sich aus Hrabanus’ Maurus enzyklopädischem Werk De universo. Der ostfränkische Metropolit und Kirchenlehrer trug im zwölften Buch der auch als De rerum naturis bekannten Schrift zahlreiche Bedeutungen zusammen, die seine Zeit für terra gefunden hatte.12 In der Tat steht der Satz terra enim mystice plures significationes habet13 für eine große Anzahl verschiedener Erklärungen. Hrabanus führt aus, dass terra für die Heimstatt Gottes steht.14 Ferner repräsentiert die Erde das Evangelium,15 das Fleisch des 10 Hrabanus Maurus: Commentariorum in Genesim libri quator, 654D-655A. Dt. Übersetzung: „Aber zuerst sind die Fundamente der Geschichte zu errichten, damit das geeignete Dach der Allegorie auf ältere Mauern draufgesetzt werde.“ 11 Siehe Kap. III. 1. 1. 5. 12 Vergleichbar zu Hrabanus ist das anonym im 8. Jahrhundert entstandene Werk Clavis Scripturae (= S. Melitonis Clavis). Die unterschiedlichen Bedeutungen von terra finden sich in der Edition von PITRA auf 120–123. Siehe auch KASKE et al. 1988: 42. 13 Hrabanus Maurus: De universo, 331B. Dt. Übersetzung: „Die Erde hat nämlich viele geheimnisvolle Bedeutungen.“ 14 Hrabanus Maurus: De universo, 331B: Aliquando significat patriam coelestem, ut est illud: Credo videre bona Domini in terra viventium. Dt. Übersetzung: „Zuweilen bedeutet es die himmlische Heimat, das heißt folgendes: Ich glaube, die Güte des Herrn in der sich nährenden Erde zu sehen.“ 15 Hrabanus Maurus: De universo, 331B.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
Herrn16 und symbolisiert gleichfalls dessen Mutter, die Jungfrau Maria.17 In diesen Aspekten wird stets der grundständige Charakter der Erde betont. Wesensmerkmale, welche das Element terra ausmachen,18 dienen sodann sinnstiftend für die allegorische Gleichsetzung von terra mit Fundament und lebensspendender Basis. In dem Sinne ist nur verständlich, dass die veritas de terra gleichfalls die Vergehen der Sünder ausdrücken kann.19 Gerade diese Aussage war eine bislang immer wiederkehrende Interpretationsweise bei der historiographischen Verarbeitung von Erdbeben. Hrabanus fächert in seiner Sammlung noch mehr Lesarten von terra auf. Die Erde ist in seinen Worten gleichbedeutend mit der Ecclesia,20 woraus sich eine fast synonyme Verwendung für den Erdkreis21 ergibt. An dieser Stelle sei auf das Beispiel des Ebo coartatus zurückverwiesen, in welchem bekanntlich genau diese Argumentationsabsicht nachgewiesen werden konnte. Domini est terra bedeutet demnach, dass der Mensch selbst für die Erde steht,22 denn gemäß der biblischen Überlieferung wurde Adam aus Lehm geformt.23 Dieser explizit anthropogene Bezug von terra
16 Hrabanus Maurus: De universo, 331B-C: Aliquando carnem Domini Salvatoris significat, ut est illud: Benedixisti, Domini, terram tuam: advertisti captivitatem Jacob. Dt. Übersetzung: „Zuweilen bedeutet es das Fleisch des Herrn und Erlösers, das heißt folgendes: Du hast gesegnet Herr deine Erde. Du hast die Gefangenschaft Jacobs geahndet.“ 17 Hrabanus Maurus: De universo, 331C: Item terra significat sanctam Mariam virginem, de qua Dominus nasci dignatus est. Dt. Übersetzung: „Weiterhin bedeutet Erde die Heilige Jungfrau Maria, die für würdig gehalten wurde, den Herrn zu gebären.“ 18 Siehe ebenfalls das aus dem 12. Jahrhundert stammende allegorische Wörterbuch Distinctiones dictionum theologicalium des Alanus ab Insulis. Hier: 960A-C: Terra proprie mundana machina. Dt. Übersetzung: „Die Erde bezeichnet das Getriebe der Welt.“ 19 Hrabanus Maurus: De universo, 331C-D: Veritas de terra oritur, quando confessio peccatorum offertur; justitia de coelo prospexit, quantum fit remissio peccatorum: quod in Publicani illius oratione provenit. Veritas enim de terra orta est, quando ima respiciens, confitendo peccata sua, Dominum rogavit; justitia vero de coelo prospexit, cum descendit justificatus Publicanus, magis quam ille Pharisaeus. Dt. Übersetzung: „Das Treue auf der Erde wachsen werde, wann immer das Sündenbekenntnis dargeboten wird. Die Gerechtigkeit des Himmels hat vorausgesehen, wie sehr die Vergebung der Sünden geschehen wird, wenn jener öffentliche Sünder im Gebet hervortritt. Die Treue werde nämlich auf der Erde wachsen, wann immer der Niedrigste überdenkend den Herrn erbeten hat, seine Sünden zu beichten. Die wahrhafte Gerechtigkeit des Himmels hat vorausgesehen, sobald der gottgefällige, öffentliche Sünder hinabsinkt, ist er größer als jener Pharisäer.“ 20 Hrabanus Maurus: De universo, 331D: Item terra Ecclesiam significat, ut est illud: Domini est terra. Dt. Übersetzung: „Gleichfalls bedeutet Erde die Kirche, das heißt der Herr ist die Erde.“ In ähnlicher Weise nachzulesen bei Rupert von Deutz: De divinis officiis, 6, cap. 23, 836. 21 Hrabanus Maurus: De universo, 332A: Orbis terrarum, hoc est, universalem Ecclesiam, quae totius mundi ambitu continetur. Dt. Übersetzung: „Der Erdkreis, dies ist die Gesamtheit der Kirche, die den ganzen Bereich der Welt umfasst.“ 22 Hrabanus Maurus: De universo, 332A: Terra homo ipse. Dt. Übersetzung: „Die Erde ist auch der Mensch.“ Vgl. hierzu vermutlich Hrabanus’ Vorbild Eucherius von Lyon: Formulae spiritalis intellegentiae, 13. 23 Isidor: Etymologiae, VII, cap. VI. 4 sowie Gen 2, 7.
1 Allegorie und Welterklärung
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lässt umso mehr das spezifisch mittelalterliche Deutungsmuster verstehen, Veränderungen der Natur und der Erde unmittelbar auf fehlerhaftes menschliches Verhalten zu beziehen.24 Hrabanus war mit seinem Kompendium sinnstiftend und beispielgebend zugleich. Belegkräftig sei an dieser Stelle das allegorische Wörterbuch Allegoriae in universam sacram scripturam angeführt, welches von Migne noch irrtümlich Hrabanus selbst zugeschrieben wurde, aber tatsächlich ein Werk des 12. Jahrhunderts ist.25 Der anonyme Autor exzerpiert geschickt aus De universo und verfasst eine stringente Bündelung aller für terra lesbaren Bedeutungen.26 Der hier geschriebene Satz terra est Christus27 ist aus exegetischer Perspektive besonders bedeutsam, da in ihm die allegorische, d. h. typologisch auf Christus selbst verweisende Lesart des zweiten Schriftsinns28 explizit sichtbar wird. Weiterhin werden in den Allegoriae in universam sacram scripturam neue Aussagen ergänzt. Terra steht nun auch für die Gemeinschaft der israelitischen Schriftgelehrten und Priester29 sowie das Heilige Land30 selbst. Gemeinhin findet, wie schon in der Vorlage De universo, in dieser Schrift eine symbolische Auslegung nach Maßgabe einer christlichen Leibmetaphorik statt. Die allegorische Gleichsetzung der als körperliche Substanz31 aufgefassten terra mit dem menschlichen Körper wurde bereits erwähnt. Der Autor von Allegoriae in universam sacram scripturam ordnet diesem Aspekt zusätzlich den des irdischen Empfindens, sprich der sinnlichen Wahrnehmung, zu und möchte auf diese Weise zu 24 Hrabanus Maurus: De universo, 332B: Terra vero in malum posita est, ubi corruptionem humanae naturae, vel peccatores, vel perditos homines significat. Corruptionem autem naturae illa Domini sententia demonstrat, qua ad hominem peccantem ait. Dt. Übersetzung: „Die Erde beruht wahrhaft auf dem Übel, wo die Verderbtheit der menschlichen Natur sich teils in Sündern, teils in verkommenen Menschen zu erkennen gibt. Die Sündhaftigkeit, aber auch jene Natur, zeigt jenen Willen Gottes, der zu den sündhaften Menschen spricht.“ Siehe auch CHANIOTIS 1998: 415. 25 Siehe STOLZ 2011: 18, Anm. 2. 26 Dies betrifft die allegorische Bedeutung von terra als Evangelium, Himmelreich, Jungfrau Maria, Mensch, Ecclesia und Volk Israel. Gleichfalls eingeschlossen ist die negative Auslegung von terra als Symbol für irdische Verfehlung und sündiges Handeln. Siehe Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1065B-1066B. 27 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1065B. 28 Beda: De arte metrica et de schematibus et tropis, II, cap. II, 168: Nonnumquam in uno eodemque re vel verbo historia simul et mysticus de Cristo sive ecclesia sensus. Engl. Übersetzung siehe Bede: Libri II De Arte Metrica et De Schematibus et Tropis, 199. 29 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1065C: Terra, societas scribarum et sacerdotum Synagogae. Dt. Übersetzung: „Die Erde ist die Gemeinschaft der Gelehrten und Priester der Synagogen.“ 30 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1065C. 31 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1065D: Terra, quilibet subjectus [. . .] Terra, corpus nostrum; dt. Übersetzung: „Die Erde ist jedes beliebige Subjekt [. . .] Die Erde ist unser Körper.“ Siehe ebenfalls Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 969C: Dicitur corporea substantia. Dt. Übersetzung: „Es wird von körperlicher Substanz gesprochen.“
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einem kontemplativen Leben anleiten.32 In der Folge setzt diese spezifisch leibmetaphorische Interpretationsweise die allegorischen Bedeutungen von terra als Leib Christus, als Fleisch des Herrn sowie als sündiger, von Adam abstammender Mensch33 auf eine gemeinsame ontologische Ebene. Die vieldeutige allegorische Sinnhaftigkeit von terra erweist sich damit als klares Bekenntnis des Mittelalters zu einem christlichen Weltverständnis. Demzufolge ist terra gleichbedeutend mit der Ecclesia, weil jene eben auch den Leib Christi repräsentiert.34 Der Gottessohn selbst verkörpert wiederum sinnhaft das Haupt der Kirche.35 Gemäß diesem leibmetaphorischen Erklärungsmodell wird verständlich, warum terra auch eine symbolische Bedeutung auf den Heiligen Geist36 darstellt. Das Bild des menschlichen Leibes als Wohnung der Seele37 überträgt sich demnach analog auf die irdische Präsenz von terra im Zentrum des Kosmos. Jene Seins-spezifische Einheitsvorstellung hat sicherlich erheblich zum Gebrauch einer gemeinsamen Terminologie zur Beschreibung von Erdbeben und von emotionaler Erregung beigetragen. Das auf Analogieschlüssen basierende Denken des Mittelalters fand hier eine Anknüpfung, welche körperliches Zittern oder eine expressive Aufregung38 nicht allein durch Beobachtung mit dem Zittern der Erde verband, sondern dies aufgrund einer zusammengehörenden substantiellen und ontologischen
32 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1066A; Den Blick auf die Sündhaftigkeit des Menschen gerichtet, schreibt Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 969D-970A zur allegorischen Bedeutung von terra: Dicitur sensualitas, unde in Gen.: Terra pariet tibi spinas et tribulos, id est sensualitas peccatorum punctiones et delictorum augustias. Dt. Übersetzung: „Von der Erde wird auch als Sinnlichkeit gesprochen. Weshalb in der Genesis steht: Die Erde wird Dornen und Disteln hervorbringen. Dies meint die sündhaften Stiche und die verschuldete Pein.“ 33 Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 969D: Dicitur caro humana, unde Job: Terra data est in manus impii. Dt. Übersetzung: „Es wird auch der menschliche Leib genannt. Daher heißt es im Buch Hiob: Die Erde wurde in die Hände der Gottlosen gegeben.“ Sehr schön schreibt auch Gregor der Große: Moralia in Iob, XI, cap. X (15.), 594: terra cordis humani. Frz. Übersetzung siehe Grégoire le Grand: Morales sur Iob (XI–XIV), 65. 34 Eph 1, 22–23: Et omnia subiecit sub pedibus eius et ipsum dedit caput supra omnia ecclesiae quae est corpus ipsius plenitudo eius qui omnia in omnibus adimpletur. Ebenso Augustinus: De doctrina christiana, I, cap. XVI (15.), 15: Est enim ecclesia corpus eius, sicut apostolica doctrina commendat. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 25. GOETZ 2012: 60 f. arbeitet heraus, dass die zahlreichen Bedeutungen von terra in ihrer Auslegung ebenfalls für mundus zutreffen. 35 Augustinus: De doctrina christiana, III, cap. XXXI (44), 104: in qua scientes aliquando capitis et corporis, id est Christi et ecclesiae, unam personam nobis intimari – neque enim frustra dictum est fidelibus. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 134. Ebenso Hugo von St. Viktor: Didascalicon, V, cap. 4, 324, 326. 36 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1066A: Terra, mens sancta. 37 Alkuin: Disputatio Pippini cum Albino, 534: P: Quid est corpus? A: Domicilium animae. Dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 129. 38 Dies wird auch im gemeinsamen Wortstamm des Wortes Emotion deutlich, welches vom Verb emovere abstammt und damit die Bedeutung von movere bzw. motus in sich trägt. Siehe auch DOMBOIS 1998: 64.
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Ganzheit vornahm. Übliche Formulierungen wie iste movetur ad iram39 oder ira repentino motu nascitur40 unterstreichen diese Ähnlichkeit und zeigen die sprachliche Übertragbarkeit, mit der z. B. der Zorn Gottes die Erde – sprich den Leib Christi – erschüttern lässt.41 Die christologische Leibmetaphorik, wie sie sich aus dem anfangs zitiertem terra est Christus ableitet, blieb nicht auf das geschriebene Wort beschränkt. Der universale Charakter von terra reflektierte seine Geltung für das zeittypische Weltverständnis ebenso auf die Gattung der mittelalterlichen Kartographie. Weithin besitzt die Ebstorfer Weltkarte, trotz ihres materiellen Verlusts im Zweiten Weltkrieg,42 einen idealtypischen Status für dieses Genre. Trotz ihrer Bekanntheit sei hier noch einmal in Erinnerung gerufen, dass diese Karte in ihrer Ausfertigung terra als Leib Christi illustriert. Das nach Osten gerichtete Haupt des Gottessohnes begrenzt gemeinsam mit den im Norden und Süden sichtbaren Händen sowie den sich nach Westen erstreckenden Füßen den für den gesamten Körper stehenden orbis terrarum.43 Die allegorischen Bedeutungen von terra, wie sie weiter oben aufgeführt werden, finden hier ihre graphische Umsetzung. Jerusalem steht idealtypisch für die christliche Kartographie des lateinischen Mittelalters im Zentrum44 und symbolisiert gemäß der bekannten Auslegung des vierfachen Schriftsinns45 nicht nur den Erlösungsort Christi,46 sondern im tropologischen Sinne auch den Sitz der menschlichen Seele47 und das kommende Heilsziel der civitas Dei. Eine leibmetaphorische Anbindung ist also auch in diesem Detail gegeben. Ähnlich wie
39 Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 865B; dt. Übersetzung: „Dieser wird zum Zorn bewegt.“ 40 Beda: De orthographia, 29; dt. Übersetzung: „Der Zorn entsteht als plötzliche Erregung.“ 41 Beispielhaft Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334: commota est et contremuit terra, a ira nimirum furoris Domini; Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 975B: ira Dei est motus animae cernentis legem Dei a malo homine praeteriri, per quem motum multa vindicantur. 42 Die Karte ist als rekonstruiertes Faksimile erhalten. Hinsichtlich einer Ansicht wird die interaktive Ausgabe der Karte durch die Universität Lüneburg empfohlen. Siehe http://www.uni-luene burg.de/hyperimage/EbsKart/start.html, 5.10.2016, 18:41. Ebenfalls nahegelegt sei die von KUGLER et al. herausgegebene Neuausgabe der Karte. Siehe: Die Ebstorfer Weltkarte. 43 Siehe auch GOETZ 2012: 146; BRINCKEN 1968: 147. 44 BRINCKEN 1968: 146, 175, 185. 45 Hier sei das für die christliche Exegese beispielhafte Auslegungsbeispiel Jerusalems aus Cassianus: Conlationes, XIIII, cap. VIII. 4, 405 zitiert: igitur praedictae quattuor figurae in unum ita, si volumus, confluunt, ut una atque eadem Hierusalem quadrifarie possit intellegi: secundum historiam civitas Iudaeorum, secundam allegoriam ecclesia Christi, secundam anagogem civitas dei illa caelestis [. . .] secundum tropologiam anima hominis. Frz. Übersetzung siehe Cassien: Conférences (VIII–XVII), 190. 46 BRINCKEN 1968: 173. 47 Neuplatonisch formuliert Boethius: Philosophiae consolatio, III, cap. 9, M. IX., 52: Tu triplicis mediam naturae cuncta moventem / conectens animam per consona membra resolvis. Dt. Übersetzung siehe Boethius: Trost der Philosophie, 157.
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im Fall der mittelalterlichen Traditionsbildung terrae motus factus est erweist sich weder eine deskriptive Genauigkeit in der Darstellung der bekannten Welt noch eine anwendungsfreundliche Hilfestellung zur Orientierung als primäres Charakteristikum dieser Karte. Vielmehr ist das heilsgeschichtliche und exegetische Ausdruckspotential als gewichtiger einzuschätzen.48 Die Ebstorfer Weltkarte veranschaulicht mit den Augen des Mittelalters die Sicht auf den bewohnten Erdkreis sowie dessen selbstverständlich praktizierte Auslegung unter Federführung eines christlichen Wissens- und Erfahrungshorizontes. Der zugrundeliegende Bedeutungsgehalt von terra ist hierbei für die graphische Umsetzung in der Kartographie in gleicher Weise prägend, wie es der Terminus terrae motus für die Geschichtsschreibung des Mittelalters ist. Beide sind nur unterschiedliche Ausdrucksformen einer gemeinsamen Welt-Anschauung. Neben dem leibmetaphorischen Leitmotiv ist eine dualistische Interpretation für terra feststellbar. Das Argumentieren in Gegensätzen ist für diesen Begriff besonders an den Distinctiones dictionum theologicalium des bereits mehrfach genannten Scholastikers Alanus ab Insulis lesbar. Auch er setzt Hrabanus’ Auslegungstradition von terra unter der Maßgabe einer eigenständigen, letztlich aber noch stärker moralisierenden Interpretation fort.49 In der Gegenüberstellung von Himmel und Erde setzt Alanus die spekulative Paradieserwartung des Christentums in Opposition zur sündhaften Wirklichkeit des Irdischen. Ausgehend von der Schöpfungslehre heißt es gleich zu Beginn des Wörterbucheintrags: Terra proprie mundana machina, unde Moyses: In principio creavit Deus coelum et terram, id est empireum coelum et mundanam machinam. Dicitur corporea substantia, unde Isaias: Coelum mihi sedes, terra autem scabellum pedum meorum; quia incorporea digniora sunt corporeis. Coelum quod significat incorporea dicitur esse sedes Dei; terra vero corporalia quae indigniora sunt dicitur scabellum pedum ejus.50
Wie schon für Augustinus war das neuplatonische Konzept des mundus sensibilis und des mundus intelligibilis auch für den belesenen und hochgebildeten Alanus ab Insulis bestimmend, um die einzelnen Sinnebenen von terra ontologisch zu begrün-
48 Besonders treffend BRINCKEN 1968: 174: „Die Karte dient der Bibelauslegung. [. . .] Nicht um Weltbeobachtung geht es hier, sondern um – deutung“; ebenso GOETZ 2012: 146. 49 Gleichfalls zu nennen sind hier die sogenannten Distinctiones monasticae aus dem 13. Jahrhundert. Siehe die zahlreichen allegorischen Bedeutungen von terra auf 331 f. 50 Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 969C. Dt. Übersetzung: „Die Erde ist eigentlich das Gerüst der weltlichen Dinge. Weshalb Moses sagt: Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde, dies ist der oberste Himmel und die Weltmaschine. Es wird körperliche Substanz genannt, weshalb Isaia sagt: Der Himmel ist mein Sitz, die Erde jedoch ist der Schemel meiner Füße, weil Unkörperliches wertiger ist, als Körperliches. Der Himmel, der das Unkörperliche bedeutet, wird Sitz Gottes genannt. Von der wahrhaft körperlichen Erde wird gesagt, dass sie der Schemel der Füße derer ist, die unwürdig sind.“
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den. Die irdische und sich stetig wandelnde Gestalt der Erde51 war demnach prädestiniert, um mit bösem Denken,52 sündigem Handeln53 und einer an sich schwachen Kirche54 gleichgesetzt zu werden. Terra verkörpert somit die christlich-mittelalterliche Projektionsfläche für die Gegenüberstellung von Christ und Antichrist,55 Himmel und Hölle.56 In der Historiographie entspricht wohl am ehesten Ekkehard von Auras schon mehrfach zitierte Überlieferung des Erdbebens von 1117 dieser Deutungstradition. Die Etablierung von terrae motus als standardisiertem Erdbebenbegriff des Mittelalters erscheint besonders in diesem Punkt keineswegs zufällig, sondern vielmehr als Demonstration eines inhaltlich in sich konsistenten Weltverständnisses. Grundsätzlich besaß motus in der mittelalterlichen Auslegung eben auch einen spezifischen Schuld-Charakter, welcher sich maßgeblich aus den Eigenschaften mangelnder Standfestigkeit und stetiger Veränderung ableitete.57 Es ist diese Botschaft, in der motus als passgenauer Begriffspartner die von Sündhaftigkeit und irdischer Vergänglichkeit geprägte Bedeutungsebene von terra ergänzt. Die universale Bezeichnungsfunktion des Begriffs terra eröffnete für eine argumentative Gegenwartsanalyse variable Auslegungsoptionen. Mittels unterschiedlicher Sinnschichten wird terra zum eigentlichen „Sitz des Arguments“58 und auf diese Weise Gegenstand mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine rhetorischmaterielle Topik, welche ex nomine fit argumentum59 und damit den traditionellen,
51 Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 969C-D; Hrabanus Maurus: De universo, 332B. 52 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1066A. 53 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1066A. 54 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1066A-B. 55 Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1066B: Terra, Antichristus, ut in Isaia: Vae terrae alarum cymbalo id est, maledictus Antichristus qui superbiae volatum sonabit. Dt. Übersetzung: „Die Erde ist der Antichrist, wie im Buch Isaia steht: Wehe dem Land voll schwirrender Flügel, dies ist der verfluchte Antichrist, der den eilenden Hochmut ertönen lassen wird.“ 56 Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 970B: Dicitur vita aeterna quae propter sui stabilitatem dicitur terra, unde Psalmista: Non sic impii, etc., a facie terrae. Dicitur infernus, unde Job: Vadam ad terram tenebrosam et opertam mortis caligine, etc.; dt. Übersetzung: „Man spricht vom ewigen Leben wegen seiner Dauer. Dass sagt man auch von der Erde, weshalb der Psalmist sagt: Nicht so die Gottlosen etc. von der Gestalt der Erde. Es heißt auch die Untere, weshalb Hiob sagt: Ich gehe ins Land der Finsternis und des Dunkels.“; Ps.-Hrabanus: Allegoriae in universam sacram scripturam, 1066B. 57 Alanus ab Insulis: Distinctiones dictionum, 865A: Motus, participium; aliquis qui labitur per venialem culpam, unde in Psalmo: Si dicebam: Motus est pes meus. Dicitur labens per culpam mortalem, unde David: Turbati sunt et moti sunt. Dicitur aliquis humilians se per poenitentiam, unde Psalmista: Fundamenta montium conturbata sunt et mota sunt. Dt. Übersetzung: „Das Partizip bewegt werden, meint jemanden, der durch eine verzeihliche Schuld sündigt. Daher heißt es im Psalm: Wenn ich sprach: Mein Fuß ist gestrauchelt. Wird hingegen gesagt: gesündigt durch eine Todsünde, meint David: Sie sind aufgewühlt und bewegt worden. Es wird gesagt, dass sich einige durch Buße demütigen, weshalb der Psalmist spricht: Die Fundamente der Berge wurden erschüttert und bewegt.“ 58 Boethius: De topicis differentiis, 1173C. 59 Alkuin: Disputatio de rhetorica et virtutibus, cap. 25, 537; dt. Übersetzung siehe Alkuins pädagogische Schriften: 108.
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ähnlichkeitsbasierten Weg mittelalterlicher Etymologie beschreitet,60 ist allerdings weniger bestimmend. Das Beispiel Adams zeigt freilich, dass auch diese Argumentationslinie präsent war. Der ontologischen Universalität von terra wird hingegen jene Topik mehr gerecht, die Boethius aus der Substanz bzw. dem Wesen ableitete.61 Auf dieser Weise leuchtet ein, dass Bewegungen und Erschütterungen von terra eben auch auf das Evangelium, die Ecclesia und den Leib des Herrn übertragen wurden.
2 Erfüllung des Alten im Neuen – Lateinische Erdbebenbeschreibungen in beiden Testamenten Erwähntermaßen war das lateinische Mittelalter eine tief religiöse und von christlichen Glaubensinhalten durchdrungene Zeit. Eine Untersuchung, welche die Erforschung von „Ursprung, Verständnis und Anwendung“ spezifisch mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen als programmatische Aufgabenstellung im Titel führt, kann daher nicht ohne eine Eruierung jener zahlreichen und variantenreichen Erdbebenbeschreibungen auskommen, die in den Heiligen Schriften zu finden sind. Die bereits mehrfach nachgewiesene sprachliche Nähe, um nicht zu sagen Abhängigkeit, des mittelalterlichen Lateins vom Text der Vulgata ist angesichts des ausnahmslos kirchlichen Autoren- und Adressatenkreises der untersuchten Quellen kein Zufall. Umso mehr verlangt es daher neben einer formgeschichtlichen62 auch nach einer exegetisch-theologischen Betrachtung, um die tatsächliche Relevanz biblischer, das heißt in diesem Kontext ausdrücklich lateinisch verfasster Erdbebenbeschreibungen für den zeitgenössisch-mittelalterlichen Erfahrungs- und Wissenshorizont zu seismischen Ereignissen sowie dessen Anwendung in der Geschichtsschreibung bewerten zu können. In besonderem Maße sei gerade der standardisierte Terminus terrae
60 Methodisch beispielhaft: Cassiodor: Institutiones, 2, cap. 3. 15, 372: Argumenta quae de eo ipso de quo agitur haerent: a toto – a partibus – a nota. [. . .] A nota est argumentum, cum ex vi nominis argumentum aliquod elicitur. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 373. Wortgleich Isidor: Etymologiae, II, cap. XXX, 1–2. 61 Boethius: De topicis differentiis, 1194B-C: Sed si ab ipsis sumitur argumentum, aut ab ipsorum necesse est substantia sumatur, aut ab his quae eam consequuntur, aut ab iis quae inseparabiliter accidunt, vel his adhaerent, et ab eorum substantia separari sejungique vel non possunt, vel non solent. Quaecunque vero ab eorum substantia ducuntur, ea aut in descriptione, aut in diffinitione sunt, et praeter haec a nominis interpretatione. Engl. Übersetzung siehe Boethius’s De topicis differentiis: 60. 62 Aus methodischer Sicht sei nachdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die vorliegende Untersuchung ausschließlich auf den Text der Vulgata bezieht. Ein form- und ideengeschichtlicher Vergleich von Erdbebenbeschreibungen in Vulgata, der Septuaginta und dem hebräischen Text des Alten Testaments kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Dies würde bei weitem den inhaltlichen Rahmen dieser Arbeit als primär geschichtswissenschaftliche Untersuchung des lateinischen Erdbebenbegriffs übersteigen.
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motus sowie dessen im Mittelalter etablierte und weitverbreitete Traditionsbildung terrae motus factus est einbezogen. Es sei daran erinnert, dass die Normierung beider Beschreibungsweisen zur vorherrschenden mittelalterlichen Sprachgewohnheit mehrfach mit deren Einpassungspotential in das christliche Weltbild begründet wurde. Als eine der zentralen Thesen dieser Arbeit dienen die nachfolgenden Seiten ausdrücklich der erneuten belegkräftigen Verifizierung dieser Annahme. Papst Leo der Große schrieb im 5. Jahrhundert zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament die einheitsgebietenden Worte: astipulantur enim sibi invicem utriusque foederis paginae.63 Das Verständnis vom gegenseitigen Halt beider Teile ist für die geistige Erschließung der Bibel essentiell. Nur aus dem als Gesetz verstandenen Alten Testament gelangt man gemäß der Auslegungstradition der Kirchenväter zum Evangelium und somit zum verum bonum nuntium,64 sprich der Erlösungsbotschaft Christi.65 Leos Ausführung, in quo et propheticarum promissio impleta est figurarum et legalium ratio praeceptorum,66 unterstreicht jedoch, dass nur das Neue Testament von Christus selbst handelt. Dieser gewichtige Unterschied zwischen Prophezeiung und Erfüllung67 ist auch an der sprachlich-argumentativen Verwendung von „Erdbeben“ in den Heiligen Schriften ablesbar.68 Hinsichtlich der terminologischen Vielfalt zur Beschreibung seismischer Ereignisse ähnelt der lateinische Text69 des Alten Testaments unverkennbar den zu An-
63 Leo der Große: Sermones, 51, cap. 4, 311B; frz. Übersetzung siehe Léon le Grand: Sermons III, 29. 64 Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 53, 406; dt. Übersetzung siehe ebd.: 407. 65 Siehe diesbezüglich Isidor: De ecclesiasticis officiis, I, cap. 11. 2, 745C. Besonders anschaulich verwendet Eucherius von Lyon die Metapher der beiden Mühlsteine, zwischen denen aus dem Weizen des Alten Testaments das Mehl des Evangeliums gemahlen wird. Siehe Eucherius von Lyon: Formulae spiritalis intellegentiae, 50: Possunt et duo testamenta lapides molae significare, per quos labore disserentium triticum veteris instrumenti in farinam evangelii convertatur. Dt. Übersetzung: „Die beiden Testamente bedeuten Mühlsteine, durch deren Arbeit der ausgesähte alte Weizen der Heiligen Schrift in das Mehl der Evangelien verwandelt wird.“ 66 Leo der Große: Sermones, 51, cap. 4, 311B: et quem sub velamine mysteriorum praecedentia signa promiserant, manifestum atque perspicuum praesentis gloriae splendor ostendit: quia, sicut ait beatus Joannes, lex per Mosen data est, gratia autem et veritas per Jesum Christum facta est; in quo et propheticarum promissio impleta est figurarum et legalium ratio praeceptorum, dum et veram docet prophetiam per sui praesentiam, et possibilia facit mandata per gratiam. Frz. Übersetzung siehe Léon le Grand: Sermons III, 29. 67 Siehe ebenfalls Rupert von Deutz: De divinis officiis, 1, cap. 17, 182, welcher diesen Unterschied exemplarisch am Altardienst verdeutlicht. 68 Alfred HERMANNS schon etwas in die Jahre gekommener Lexikonartikel zur Bedeutung von Erdbeben in der Bibel ist als gelungene Stoffzusammenfassung noch immer zu empfehlen. Siehe HERMANN 1962: 1070–1113; BORNKAMM 1964: 195–199; mit Bezug auf das Neue Testament siehe BERTRAM 1964: 65–67. Mit zu stark eschatologischer Gewichtung ROHR 2007: 106–110. 69 Es kann in dieser Arbeit keine Übersetzungsgeschichte der Vulgata geleistet werden. Dies würde bei weitem den Rahmen des Werkes sowie die Möglichkeiten des Verfassers übersteigen. Für weitere Informationen sei auf den entsprechenden groß angelegten Themenkomplex im sechsten Band der Theologischen Realenzyklopädie verwiesen.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
fang dieser Arbeit rekonstruierten antik-römischen Formulierungsgewohnheiten. Eine enorme sprachliche Varianz von 23 verschiedenen Ausdrücken70 zur Darstellung von Erdbeben ist im Alten Testament belegt. Die quantitative, aber nicht qualitative Mehrzahl dieser Termini leitet sich hierbei aus dem Verb movere71 ab und bildet gemeinsam mit dem altlateinischen Präfix com72 das Substantiv commotio73 bzw. das Verb commovere.74 Allerdings finden, wie in den vorgestellten römisch-antiken Quellen, auch in den alttestamentlichen Beispielen Verben wie tremere,75 conturbare,76 subvertere,77 contremiscere78 oder concutere79 eine im Vergleich zu (com)movere ebenbürtige Anwendung.80 In der Wahl sprachlicher Begrifflichkeiten spiegelt die lateinische Übersetzung durchaus die thematische Vielfalt des Alten Testaments wider. Aus dem spezifischen alttestamentlichen Gottesbild eines entweder beschützenden bzw. erschaffenden oder eines strafenden Gottes ergeben sich diverse Motive. Die Äußerung des Zorns oder der Allmacht Gottes, sein angekündigtes bzw. vollzogenes Strafgericht, sind, wie auch die Beschreibung seiner Theophanie oder der Verweis auf eine feh70 Neben den weiter unten nachgewiesen Formulierungen sind hinsichtlich der Umschreibung seismischer Ereignisse folgende Begriffe nachweisbar: turbare (Ps 45, 3; Psalter Gallicanum); Jer 51, 29); conturbatio (Est 11, 5); tremor (Sir 16, 18); conterere (I Reg, 19, 11; Jes 24, 19; Hab 3, 6); percutere (Jes 5, 25); transferre (Ps 45, 3; Psalter Gallicanum); liquefacere (Ps 74, 4; Psalter Gallicanum); liquescere (Jdt 16, 18); conquassare (II Sam 22, 8; Ps 17, 8; iuxta Hebr.); contritio (Jes 24, 19); agitatio (Jes 24, 20); agitare (Jes 24, 20); obstupescere (Jes 41, 5); pavere (Hi 26, 11). Aufgrund dessen ist die Meinung von DOMBOIS 1998: 67, wonach Erdbeben „mit erstaunlich geringer Varianz und in stets gleichen, strengen und einfachen Sätzen präsentiert werden“, zurückzuweisen. 71 Das Verb movere findet zur Beschreibung von Erdbeben im AT an folgenden Stellen Verwendung: Jdc 5, 4; Jdt 16, 18; Ps 45, 7 (Psalter Gallicanum); Ps 67, 9 (Psalter Gallicanum); Ps 81, 5; Ps 113, 7 (Psalter Gallicanum); Jes 13, 13; Jer 4, 24; Joel 3, 16; Hag 2, 22. 72 Hinsichtlich einer grammatischen Erklärung siehe HELMS 1991: 61. 73 Commotio wird für die Beschreibung eines Erdbebens verwendet in: I Reg 19, 11–12; Jes 24, 19; Jes 29, 6; Ez 38, 19. 74 Commovere ist zu lesen in: II Sam 22, 8; I Chr 16, 30; Hi 9, 6; Ps 17, 8; Ps 45, 6; Ps 59, 4; Ps 67, 9 (iuxta Hebr.); Ps 76, 19; Ps 92, 1; Ps 95, 9–11 (Psalter Gallicanum); Ps 96, 4 (Psalter Gallicanum); Ps 98, 1 (iuxta Hebr.); Sir 16, 18; Sir 43, 17; Jes 24, 19; Jes 54, 10; Jer 8, 16; Jer 10, 10; Jer 49, 21; Jer 50, 46; Jer 51, 29; Ez 38, 19–20; Am 8, 8; Nah 1, 5; Hag 2, 7; I Makk 1, 29. 75 Ps 75, 9 (Psalter Gallicanum); Ps 103, 32. 76 I Reg 14, 15; Ps 17, 8 (Psalter Gallicanum); Ps 45, 4 (Psalter Gallicanum); Jes 5, 25; Jes 9, 19; Jes 14, 16; Jer 4, 24. 77 I Reg 19, 11; Hi 9, 5; Hi 22, 16; Ez 38, 20; Hag 2, 23. 78 II Sam 22, 8; Hi 26, 11; Ps 17, 8; Ps 76, 19 (Psalter Gallicanum); Ps 67, 9 (iuxta Hebr.); Ps 113, 7 (iuxta Hebr.); Jes 54, 10; Joel 2, 10; Nah 1, 5. 79 II Sam 22, 8; Hi 9, 6; Ps 17, 8 (iuxta Hebr.); Ps 45, 3 (iuxta Hebr.); Ps 76, 19 (iuxta Hebr.); Ps 98, 2 (iuxta Hebr.); Sir 16, 18; Jes 24, 18. 80 Hier ist Augustinus Verweis, wonach der Sinn der Heiligen Schrift durchaus in verschiedenen Wörtern ausgedrückt werden kann, zutreffend. Siehe Augustinus: Enarrationes in Psalmos 2, Ps. LXVII. 11, 875: more scripturae eumdem sensum verbis aliis repetentis subsequenter dictum est. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 288.
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lende Standfestigkeit im Glauben, besonders im Alten Testament zu finden, gleichwohl es sich um gesamtbiblische Themen handelt. Erdbeben begleiten die gerade erwähnten Handlungen und betonen, bedingt durch die Umstände einer variabel formulierten und interpretierbaren Erschütterung, zeichenhaft die inhaltliche Bedeutung dieser biblischen Ereignisse. Es dürfte somit nicht allein der stofflich deutlich größere Umfang des Alten Testaments zu einer elaborierten lateinischen Übersetzung von Erdbebenbeschreibungen im Duktus der klassisch-römischen Sprachtradition angeleitet haben. Mindestens ebenbürtig ist das aussagenlogische Gleichgewicht zwischen den einzelnen Termini anzusehen, welche, anders als im Neuen Testament, keine konkret christologische Botschaft an eine explizite Formulierungsweise bindet. So dienen z. B. die Verben commovere81 und conturbare82 in gleicher Weise zur Beschreibung jener Erdbeben, mit denen der Zorn Gottes die Erde erschüttert. Der Begriff terrae motus lässt sich hingegen im Alten Testament ebenso wenig für diesen Aspekt wie für die Darstellung eines Allmachtanspruchs Gottes finden. Ein solcher wird hauptsächlich durch contremiscere83 oder commovere,84 zuweilen aber auch durch subvertere85 oder conturbare86 ausgedrückt. Das Verbindende dieser Formulierungen ist primär die Wiedergabe der Folgen des göttlichen Handelns. Weniger bilden sie indes die Ursachen, d. h. eine auf Gott selbst bezogene Darstellung, ab. Sichtbar wird dies an jenen alttestamentlichen Beispielen, die mittels eines Erdbebens eine Theophanie des Weltenherrschers illustrieren. Hier verschiebt sich der Schwerpunkt zu Gunsten von Ausdrucksformen, die das Verb movere im Stamm führen.87 Entgegen der übrigen Formulierungen ist es erneut der Aspekt des Bewegenden und des Erschaffenden, welcher in der lateinischen Übersetzung das Wesen Gottes passender auszudrücken verstand als Verben, die in erster Linie deskriptive Beobachtungen wie Zittern und Erschüttern versinnbildlichen. Bei aller Fülle an Erdbebenbeschreibungen ist jedoch augenscheinlich, dass der Terminus terrae motus, welcher bereits antik-römischen Quellen merklich prägte, in den lateinisch übersetzten Büchern des Alten Testaments nur marginal vertreten ist.
81 II Sam 22, 8: Commota est et contremuit terra fundamenta montium concussa sunt et conquassata quoniam iratus est. Ebenso Hi 9, 6; Ps 17, 8; Ps 59, 4; Jer 10, 10; Ez 38, 20. 82 Jes 9, 19: in ira Domini exercituum conturbata est terra et erit populus quasi esca ignis vir fratri suo non parcet. Ebenso Ps 17, 8; Ps 59, 4; Jes 5, 25. 83 Hi 26, 11: columnae caeli contremescunt et pavent ad nutum eius; Jes 54, 10; Nah 1, 5. 84 Hi 9, 6: qui commovet terram de loco suo et columnae eius concutiuntur; Ps 96, 4 (Psalter Gallicanum); Sir 16, 18; Sir 43, 17; Jes 54, 10; Jer 10, 10; Jer 51, 29; Hag 2, 7. 85 Hi 22, 16: qui sublati sunt ante tempus suum et fluvius subvertit fundamentum eorum; Hi 9, 6. 86 Jes 14, 16: numquid iste est vir qui conturbavit terram qui concussit regna; Jer 4, 24. 87 Movere (Jdc 5, 4; Ps 45, 7 (Psalter Gallicanum); Ps 67, 9 (Psalter Gallicanum); Ps 113, 7 (Psalter Gallicanum)); commovere (II Sam 22, 8; Ps 67, 9 (iuxta Hebr.); Ps 76, 18; Ps 96, 4 (Psalter Gallicanum); Sir 16, 18); commotio (I Reg 19, 11–12; Jes 29, 6).
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
An lediglich drei Stellen nachweisbar,88 manifestiert sich in jener Beobachtung die inhaltliche Trennung des biblischen Erdbebenbegriffs in beiden Teilen der Vulgata. Terrae motus verweist in seinem zeichenhaften Charakter auf eine konkrete christlich-theologische, neutestamentliche Botschaft.89 Es sei exemplarisch die Beschreibung eines Erdbebens im Buch Sacharja angesprochen. Die prophetische Aussage der Passage90 kündigt als Vorausbild die Ereignisse der in den synoptischen Endzeitreden überlieferten Rede Jesu auf dem Ölberg an.91 Das Credo, in Christus eine Erneuerung im Alten zu finden, wird durch die Wahl des Begriffs terrae motus somit auch sprachlich-formal zum Ausdruck gebracht: Die inhaltliche Botschaft der neutestamentlichen Autoren wird gerade mittels der Formbildung aus den Substantiven terra und motus92 bzw. dem Verb movere93 ersichtlich. Verben wie cadere94 oder scindere95 spielen hinsichtlich einer detaillierten Umschreibung der neutestamentlichen Botschaft hingegen nur eine marginale Rolle. Die formgeschichtliche Emanzipierung96 materialisiert sich nicht allein in der Reduzierung auf den Terminus terrae motus. Erdbeben markieren im Neuen Testament die heilsgeschichtlichen Etappen der Erlösung Christi. Vor allem durch die
88 Est 11, 5; Am 1, 1; Sach 14, 5. Dies ist ein Unterschied zur verbindenden Nennung von terra und movere (vgl. Anm. 71). 89 Kurz angerissen bei BERTRAM 1964: 69. 90 Sach 14, 4–6: Et stabunt pedes eius in die illa super montem Olivarum qui est contra Hierusalem ad orientem et scindetur mons Olivarum ex media parte sui ad orientem et occidentem praerupto grandi valde et separabitur medium montis ad aquilonem et medium eius ad meridem et fugietis ad vallem montium meorum quoniam coniungetur vallis montium usque ad proximum at fugietis sicut fugistis a facie terraemotus in diebus Oziae regis Iuda et veniet Dominus meus omnesque sancti cum eo. AMBRASEYS 2005: 331 weist vollkommen zu Recht auf die Fragwürdigkeit der ereignisgeschichtlichen Realität dieses seismischen Ereignisses hin, ohne dabei jedoch auf die exegetische Relevanz dieses Bebens einzugehen. Selbiges betrifft AMBRASEYS 2005: 334 f. prinzipiell richtige Schlussfolgerungen hinsichtlich des Erdbebens zur Kreuzigung Christi, welches keinesfalls – wie von der älteren seismologischen Forschung getan (vgl. ebd.: 335) – als reales Erdbeben verstanden werden darf. 91 Exemplarisch sei hier die bekannte Beschreibung des zu erwartenden Jüngsten Gerichts erwähnt. Siehe Mt 24, 7: consurget enim gens in gentem et regnum in regnum et erunt pestilentiae et fames et terraemotus per loca; Mk 13, 8; Lk 21, 11. 92 Terrae motus wird zur Beschreibung von Erdbeben verwendet in den Stellen: Mt 24, 7; Mt 27, 54; Mt 28, 2; Mk 13, 8; Lk 21, 11; Act 16, 26; Apk 6, 12; Apk 8, 5; Apk 11, 13; Apk 11, 19; Apk 16, 18. 93 Mt 27, 51; Hebr 12, 26; Act 16, 26; Act 4, 31; Apk 6, 14. 94 Apk 16, 19. 95 Mt 27, 50. 96 Einen ähnlichen Wechsel der lateinischen Terminologie im Alten und Neuen Testament hat HEINZELMANN für das Signum herausgearbeitet. Er verbindet dies wesentlich mit der stilbildenden Übersetzungstätigkeit des Hieronymus. Siehe HEINZELMANN 2002: 31 f. Bei aller Sympathie für diese These muss die Überprüfung einer als plausibel eingeschätzten Übertragbarkeit auf den biblischen Erdbebenbegriff der Vulgata anderen Arbeiten vorbehalten bleiben.
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Sprache des Matthäus-Evangeliums wird eine spezifisch neutestamentliche Diktion inauguriert, welche zum einen eine narrativ sichtbare Abgrenzung des Christentums von seinen jüdisch-alttestamentlichen Ursprüngen abbildet.97 Zum anderen etabliert die subtile Differenzierung in der grammatischen Bildung des Erdbebenbegriffs mittels des Verbes movere oder des Substantivs motus eine Gewichtung innerhalb des Offenbarungsgeschehens Christi. Die neutestamentlichen Erdbeben weisen stets auf verschiedene Realisierungsstufen einer Theophanie hin. Hinsichtlich dessen sind sie im Kontext einer Terminologie der Erhöhung98 zu lesen, die in der Art ihrer Beschreibung eine Trennung zwischen dem irdischen Tod Christi und seiner Auferstehung als geoffenbarter Gottessohn sichtbar machen. Diese Unterscheidung wird an der Überlieferung des Kreuztodes Christi in den Worten des Matthäus-Evangeliums sichtbar. Jesus autem iterum clamans voce magna emisit spiritum. Et ecce velum templi scissum est in duas partes a summo usque deorsum. Et terra mota est et petrae scissae sunt.99 Der Ausdruck terra mota est artikuliert nachdrücklich den Zustand einer akuten Veränderung. Das Erbeben der Erde zeigt das Sterben des Gottessohnes und den Verlust der Einheit von Körper und Seele an, für die Boethius einst die poetische Sprache fand: At si distributae segregataeque partes corporis distraxerint unitatem, desinit esse quod fuerat.100 In jener Trennung vergegenständlicht sich die Opferung Christi für die Sünden der Menschen, von der, bedingt durch die universelle Gültigkeit des Ereignisses, auch die irdische Hülle der Erde eingenommen ist. Wenn also die Felsen zerspringen, dann erzittern die Elemente vor dem Pantokrator.101 Wie der im allegorischen
97 Laut BORNKAMM 1964: 198 ist hierunter vor allem eine narrative und keine inhaltliche Abgrenzung zu verstehen, da er die Erdbeben zum Kreuzestod sowie zur Auferstehung Christi nach wie vor in einer jüdischen und hellenistischen Traditionslinie sieht. 98 Leo der Große: Sermones, 57, cap. 4, 330C: Exaltatum autem Jesum ad se traxisse omnia, non solum nostrae substantiae passione, sed etiam totius mundi commotione monstratum est. Pendente enim in patibulo creatore, universa creatura congemuit, et Crucis clavos omnia simul elementa senserunt. Frz. Übersetzung siehe Léon le Grand: Sermons III, 89. 99 Mt 27, 50. 100 Boethius: Philosophiae consolatio, III, cap. 11. 11–12, 57: Ut in animalibus, inquit, cum in unum coeunt ac permanent anima corpus que id animal vocatur, cum vero haec unitas utriusque separatione dissolvitur interire nec iam esse animal liquet; [. . .] at si distributae segregataeque partes corporis distraxerint unitatem desinit esse quod fuerat. Dt. Übersetzung: Boethius: Trost der Philosophie, 175. 101 Leo der Große: Sermones, 57, cap. 4, 330C; Rupert von Deutz: De divinis officiis, 6, cap. 20, 824: Sed et hoc, quod ‚terra mota est et petrae scissae sunt et monumenta aperta sunt‘, iuxta litteram quidem magnitudo signorum est, quod crucifixum Dominum caelum et terra et omnia contremiscant, sed mystice tremorem significat credentium, quod pristinis errorum vitiis derelictis et emollita cordis duritia, qui prius erant similes tumulis mortuorum, postea cognoverint creatorem. Unde et in psalmo: ‚Commovisti, Domine, terram et conturbasti eam‘, item: ‚Commota est et contremuit terra‘. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 825. Ebenfalls: Anselm von Laon: Enarrationes in Evangelium Matthaei, 1489D; Christian von Stablo: Expositio in Matthaeum Evangelistam, 1493B-C.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
Sinne zerrissene Vorhang102 offenbaren alle diese Geschehnisse die im Moment des Kreuzestodes ersichtlich gewordene Messianität Christi.103 Für die Kirchenväter und die in deren Tradition stehenden Exegeten des Mittelalters realisiert sich hier die heilsgeschichtliche Zeitenwende.104 Angesichts des sterbenden Christus werden die irdisch Gesinnten nicht nur erschüttert. Allegorisch verweist das Erdbeben auf die Abkehr von alten Glaubensvorstellungen.105 Das Erdbeben in Mt 27, 54 unterstreicht diese Auffassung und vollbringt für den römischen Offizier den Gottesbeweis.106 Sein Ausspruch viso terraemotu et his quae fiebant timuerunt valde dicentes vere Dei Filius erat iste107 verkündet jene heilsgeschichtliche Transformation. Aus der Kraft des Ereignisses heraus vollzieht sich in seiner Person die
102 Mt 27, 51. 103 Hinsichtlich der Messianität Christi im Matthäus-Evangelium siehe z. B. KOCH 2006: 463; Das Evangelium nach Matthäus: 446–449. 104 So schreibt Haimo von Auxerre: In divi Pauli epistolas expositio, 925B-C: Facta sunt autem ista quando lex dabatur ut corda Judaeorum prona ad peccandum concuterentur, ne ipsam legem auderent transgredi. Unde et terraemotus exstitit ibi, ut ipsi ex toto terrore percussi, ad Deum coelorum confugium facerent. Dt. Übersetzung: „Es geschah, dass jedoch irgendwann dieses Gesetz gegeben wurde, wonach die Seelen der Juden, die geneigt sind, um zu sündigen, erschüttert wurden, dass sie selbst dananch verlangten zum christlichen Glauben überzutreten. Und daher zeigte sich dort ein Erdbeben, damit sie selbst von dem ganzen Schrecken erschüttert, bei Gott im Himmel Zuflucht erhielten.“ In der Edition MIGNES wird das Werk noch Haimo von Halberstadt zugeordnet. Hinsichtlich der Forschungsdiskussion siehe AFFELDT 1969: 266. 105 Cassiodor: Expositio Psalmorum, LXXXI, cap. 5, 759: Si enim cognovissent, nunquam Dominum gloriae crucifixissent. Sequitur movebuntur omnia fundamenta terrae, ut veraciter de quo dicta sint superiora possis advertere. Signum dicit quod in crucifixione Domini constat evenisse; sicut evangelii doctrina testatur: Terra mota est, petrae scissae sunt et reliqua. Hoc enim si in causas alias transferatur, sicut perfidi Iudaei volunt, nullatenus poterit convenire. Terra vero mota potest et spiritaliter accipi: quia illo tempore multi peccatores, id est terreni homines viso tanto miraculo crediderunt, ex quibus centurio exclamavit dicens: Vere Filius Dei erat iste. Dt. Übersetzung: „Denn wenn sie erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. Folgend werden die gesamten Grundfesten der Erde erschüttert, damit du imstande bist die wahrhaften Dinge, welche himmlisch genannt werden, erkennen wirst. Das eingetretene Zeichen bedeutet, dass es aus der Kreuzigung des Herrn besteht, so wie es die Lehre des Evangeliums bezeugt: Die Erde ist bewegt worden und die restlichen Steine sind gespalten worden. Daher wird es nämlich, wenn sie auf andere Ursachen übertragen werden, wie es die treulosen Juden wollen, keineswegs sich ereignen können. Die tatsächlich bewegte Erde kann geistig erfasst werden, da es in jener Zeit viele Sünder, das heißt irdische Menschen, die das große Wunder gesehen haben, überzeugt hat. Aus diesen hat der Zenturio ausgerufen und sprach: Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn.“ 106 Siehe Rupert von Deutz: De divinis officiis, 2, cap. 15, 296: confessionem exprimit cum voce centurionis, qui ‚viso terraemotu et his quae fiebant‘ clamavit voce magna: ‚Vere Filius Dei erat iste‘. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 297. 107 Der Terminus terraemotus artikuliert hier eine Theophanie.
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typologisch aufzufassende Bekehrung,108 bei der nach Anselm von Havelberg aus Juden schließlich Christen wurden.109 Bei diesem Vorgang nimmt die Wendung terra mota est110 eine Schlüsselrolle ein. Durch die wortgleiche Verwendung in Jdc 5, 4–5111 wird in Mt 27, 51 narrativ sichtbar und exegetisch begründet eine Verbindung zum alttestamentlichen SinaiErdbeben hergestellt.112 In beiden biblischen Ereignissen ist es der Pantokrator, welcher mittels dieser zwei Erdbeben neue heilsgeschichtliche Etappen einleitet.113 Es ist somit kein Zufall, dass nur an einer weiteren Stelle des Neuen Testaments, nämlich im Hebräerbrief, das besondere Erdbeben zur Kreuzigung mittels
108 Christian von Stablo: Expositio in Matthaeum Evangelistam, 1493B-C: Et terra mota est, et petrae scissae sunt. Refert Josephus, superliminare, quod infinitae magnitudinis erat, fractum esse atque divisum, etiam angelicas virtutes tunc in ipso tempore clamasse: ‚Transeamus ex his sedibus.‘ In omnibus his signis elementorum creator debet agnosci, pro cujus morte elementa commoventur. Typice commovenda corda gentilium, et aperienda in Dei confessione. Dt. Übersetzung: „Und es geschah ein Erdbeben und die Steine sind gespalten worden. Joseph berichtet, dass die Oberschwelle, die von unermesslicher Stärke war, zerbrochen und geteilt worden sei. Auch hat das Heer der Engel in diesem Augenblick zur selben Zeit laut gerufen: Lasst uns fortgehen von diesem Ort. In all diesen Zeichen der Elemente muss der Schöpfer erkannt werden, wegen dessen Tod die Elemente erbebt wurden, um die Seelen der Heiden allegorisch zu bewegen und für das Bekenntnis Gottes zugänglich zu machen.“ 109 Anselm von Havelberg: Dialogues, I, cap. V, 58: et ita de gentibus Judaeos, de Judaeis autem Christianos fecit. Dt. Übersetzung siehe Anselm von Havelberg: Anticimenon, 54. 110 Die Formulierung mota est terra ist in drei Stellen des aus der Septuaginta übersetzten Psalters (Ps 45, 7 (Psalter Gallicanum); Ps 67, 9 (Psalter Gallicanum); Ps 113, 7 (Psalter Gallicanum) und in Jdc 5, 4 zu lesen. Allen gemeinsam ist der ausdrückliche Theophaniebezug. Für den Psalter ist auffällig, dass mota est terra stets ein Zeichen oder eine Antwort auf das schützende und heilsbringende Wirken Gottes, oft nach überstandenem Mühsal, wie etwa dem Durchschreiten des Toten Meeres, ist. Das Erdbeben als Grund für die Bestätigung im Glauben ist auf Christus im NT zu übertragen. 111 Jdc 5, 4–5: Domine cum exires de Seir et transires per regiones Edom terra mota est caelique ac nubes stillaverunt aquis montes fluxerunt a facie Domini et Sinai a facie Domini Dei Israhel. 112 Zum Sinai-Erdbeben als Zeichen für eine Theophanie siehe besonders BAUCKHAM 1977: 224–226. Siehe auch Cassiodor: Expositio Psalmorum, LXVII, cap. 9, 589. Ein Bekehrungsmotiv, auf welches terra mota est hinweist, ist ebenfalls in Gottschalk von Limburg (Godescaleus Lintpurgensis): In Conversione s. Pauli, 269 (6.). 4a., 348 zu erkennen. 113 Anselm von Havelberg: Dialogues, I, cap. V, 58: Notandum est autem quod duae transpositiones factae sunt famosae vitae, et famosae religionis, quae etiam duo Testamenta vocantur, et utraque cum attestatione terrae motus propter ipsarum rerum magnitudinem. Haec quidem facta est ab idolis ad legem, ubi tonitrua et fulgura, et nubes densissima, et clangor buccinae et terribilis strebitus. Haec autem a lege ad Evangelium, ubi terraemotus factus est magnus, sol obscuratus, petrae scissae, monumenta aperta, claustra inferni confracta sunt. Tertius vero terraemotus futurus praedicatur, quando, istis finitis et consummatis, ad ea transitus erit, quae neque amplius movebuntur, neque concutientur. Dt. Übersetzung siehe Anselm von Havelberg: Anticimenon, 54. Anselm von Havelberg steht mit dieser Einschätzung keineswegs allein. Schon Hebr 12, 26–28 thematisiert den heilsgeschichtlichen Übergang mittels eines Erdbebens. Ähnlich argumentieren z. B.: Cassiodor: Expositio Psalmorum, CXIII, cap. 7, 1031. Siehe auch GOETZ 2007a: 438–441.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
der Verbindung aus terra und movere dargelegt wird.114 Die Erinnerung an das vergangene Leiden Christi, die diese Zeilen äußern, leitet dabei zu einem Glauben an das Zukünftige über.115 Denn das Geheimnis der Gnade, wie Augustinus116 schreibt, war durch das Zerreißen des Schleiers ja bereits sichtbar geworden. Der Nachweis der Göttlichkeit Jesu war hiermit vollbracht und artikulierte sich nachfolgend in einer erneuten Änderung der Terminologie.117 An die Stelle von movere tritt nun das Substantiv motus. Die Aussage der universellen Präsenz Gottes, wie sie der Terminus terrae motus tradiert, wird in der lateinischen Sprache des Matthäus-Evangeliums nun zusätzlich durch die Addition des handlungsbetonenden Verbes facere118 konkretisiert und konstituiert mit terrae motus factus est magnus die Formulierung, welche zeichenhaft auf eine aktiv gestaltete Theophanie verweist. Symbolträchtig ist sie durch die Beschreibung der Auferstehung Christi119 mit dem Christusereignis verbunden und unterstreicht, dass Jesus den Sieg über den Tod errang und den Weg der Befreiung zum ewigen Leben beschritt. Wie die Befreiung des Paulus aus dem Gefängnis in der Apostelgeschichte zeigt,120 steht die Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est magnus für die Gewissheit, sich durch den Glauben an Christus unter der schützenden Hand Gottes zu befinden. Das Motiv der Theophanie bestimmt schließlich auch das Erscheinungsbild von Erdbeben in der Johannes-Apokalypse.121 Ohne Zweifel ist die Offenbarung des Johannes von allen Teilen des Neuen Testaments jener, der am engsten mit dem Alten Testament verbunden ist.122 Es ist anerkannte Forschungsmeinung, dass eine
114 Hebr 12, 26: cuius vox movit terram tunc modo autem repromittit dicens adhuc semel ego movebo non solum terram sed et caelum. 115 Augustinus: Confessiones, X, cap. XLIII (68.), 192; Hrabanus Maurus: De institutione, 3, cap. 13, 508. 116 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 3, Ps. CXLIII. 2, 2073. 117 Für diese „Mittlerfunktion“ von Christus zwischen dem Menschen und Gott, auf welche besonders durch dieses Erdbeben hingewiesen wird, fand Augustinus in Confessiones, X, cap. XLIII (68.), 192 jene Worte: In quantum enim homo, in tantum mediator, in quantum autem verbum, non medius, quia aequalis deo et deus apud deum et simul unus deus. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Bekenntnisse, 559, 561. 118 Siehe diesbezüglich den Wortlaut in Mt 8, 24: et ecce motus magnus factus est in mari ita ut navicula operiretur fluctibus ipse vero dormiebat. Das Eintreten des Seesturms, den alle unbeschadet überstehen sollten, folgt, mit Ausnahme des fehlenden terra, wörtlich dem Duktus der Beschreibung des Erdbebens im Moment der Auferstehung Jesu (Mt 28, 2). Umso mehr sollte daher die Wendung terra motus factus est magnus als Zeichen für die Anwesenheit Gottes verstanden werden. 119 KRATZ 1992: 564 f. legt diese Erdbeben als „Theophaniemotiv“ aus. 120 Act 16, 25–26: media autem nocte Paulus et Silas adorantes laudabant Deum et audiebant eos qui in custodia erant subito vero terraemotus factus est magnus ita ut moverentur fundamenta carceris et aperta sunt statim ostia omnia et universorum vincula soluta sunt. 121 Siehe auch BAUCKHAM 1977: 224. 122 KOCH 2006: 467; Die Offenbarung des Johannes: 73; BAUCKHAM 1977: 232.
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„intensive Rezeption alttestamentlicher Sprache, Überlieferungen und Verheißungen“123 das Erscheinungsbild dieses Schlusstexts des Neuen Testaments merklich prägte. Die gegebenen Gemeinsamkeiten lassen sich indes für die narrative Darstellung von Erdbeben in der Johannes-Offenbarung nicht erhärten. Die ausschließlich an drei Stellen des Alten Testaments belegte Verwendung des Terminus terrae motus konkretisiert keineswegs die Fortführung einer alttestamentlichen Sprachtradition. Vielmehr erfolgt die Beschreibung von Erdbeben im Offenbarungstext der Vulgata im charakteristischen Duktus des Neuen Testaments. An den fünf Stellen des lateinischen Offenbarungstextes, die Erdbeben erwähnen, dienen ausschließlich der Terminus terrae motus oder die um facere zu terrae motus factus est erweiterte Formulierung sowie gelegentlich die um ein magnus ergänzte Variante der sprachlichen Darstellung. Prägend ist hierbei einerseits deren Rolle zum Anzeigen der Gegenwart Gottes124 bzw. Jesu125 als eschatologische Theophanie oder als Zeichen einer endzeitlichen Prophezeiung.126 Die Formel terrae motus factus est dient hauptsächlich der Versinnbildlichung dessen, was in den Einleitungszeilen der Johannes-Offenbarung geschrieben steht.127 Sie ist die Demonstration der Einheit von Christus, der die Menschen durch sein Blut erlöste,128 mit dem allmächtigen Schöpfergott, welche auch Augustinus mit dem Satz quia aequalis deo et deus apud deum et simul
123 KOCH 2006: 467. 124 Apk 8, 5: et accepit angelus turibulum et implevit illud de igne altaris et misit in terram et facta sunt tonitrua et voces et fulgora et terraemotus; Apk 11, 19: et apertum est templum Dei in caelo et visa est arca testamenti eius in templo eius et facta sunt fulgora et voces et terraemotus et grando magna; Apk 16, 17–21: et septimus effudit fialam suam in aerem et exivit vox magna de templo a throno dicens factum est et facta sunt fulgora et voces et tonitrua et terraemotus factus est magnus qualis numquam fuit ex quo homines fuerunt super terram talis terraemotus sic magnus et facta est civitas magna in tres partes et civitates gentium ceciderunt et Babylon magna venit in memoriam ante Deum dare ei calicem vini indignationis irae eius et omnis insula fugit et montes non sunt inventi et grando magna sicut talentum descendit de caelo in homines et blasphemaverunt homines Deum propter plagam grandinis quoniam magna facta est vehementer. Hinsichtlich des Begriffs „eschatologische Theophanie“ siehe BAUCKHAM 1977: 225; ebenfalls: Die Offenbarung des Johannes: 236, 339 f., 272. 125 Apk 6, 12–14, bes. Vers 12: et vidi cum aperuisset sigillum sectum et terraemotus factus est magnus et sol factus est niger tamquam saccus cilicinus et luna tota facta est sicut sanguis. Der Christusbezug, verkörpert durch das Lamm, welches die Siegel öffnet, wird auch im Text der Vulgata Clementina ersichtlich. Hier wird durch die Aufnahme des et ecce der Sprachgebrauch des Matthäus-Evangeliums aufgenommen: et vidi cum aperuisset sigillum sextum: et ecce terræmotus magnus factus est, et sol factus est niger tamquam saccus cilicinus: et luna tota facta est sicut sanguis. 126 Vgl. auch Apk 1, 3: beatus qui legit et qui audiunt verba prophetiae. 127 Apk 1,1–2: Apocalypsis Iesu Christi quam dedit illi Deus palam facere servis suis quae oportet fieri cito et significavit mittens per angelum suum servo suo Iohanni qui testimonium perhibuit verbo Dei et testimonium Iesu Christi quaecumque vidit. 128 Apk 1, 5: lavit nos a peccatis nostris in sanguine suo.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
unus deus129 anspricht. Der Begriff terrae motus verkörpert hierbei aufgrund seiner ontologischen und grammatischen Konstitution130 den spiegelbildlichen Ausdruck zu jenem einen bedeutenden Satz zu Beginn der Johannes-Apokalypse: ego sum Α et ω principium et finis dicit Dominus Deus qui est et qui erat et qui venturus est Omnipotens.131 In diesem Sinne sollten auch die zahlreichen Verweise auf die eschatologischen Erdbeben abseits des Offenbarungstexts, z. B. in den synoptischen Evangelien,132 gelesen werden. Wenn im apokryphen Teil des Buches Esther ein Erdbeben das Geschehen im Vorfeld des Jüngsten Gerichts unter anderem durch ein terraemotus prophetisch ankündigt, so wird die Bedeutung der kosmischen Erschütterung als Signum umso mehr verständlich.133 Die mittels Erdbeben visualisierte eschatologische Theophanie dient dem, was der Hebräerbrief als Umwandlung des Irdischen benennt. Erdbeben verweisen in diesem Sinne dialektisch auf die christliche Heilsgeschichte und markieren deren Fortschritt.134 So sollte es auch in der Offenbarung des Johannes verstanden werden. Abgesehen von Apk 11, 13,135 welche von menschlichen Opfern spricht, führen alle übrigen Erwähnungen auf das einzige, wirklich katastrophale Erdbeben in Apk 16, 17–21 hin.136 Hier wird aus dem Zornes-Zeichen Gottes Realität und in universellem Maßstab der Kosmos erschüttert. Es ist Gott, der hier in seinem Zorn Gericht gegenüber Babylon übt und es als Sinnbild der Sünde zerstören sollte. Bestimmend ist somit, dass sich der Ausdruck terrae motus factus est magnus zum einen klar auf die Sünder und Heiden bezieht,137 zum anderen aber eindeutig Gott – und nicht Jesus – als Urheber der Erschütterung benennt.138
129 Augustinus: Confessiones, X, cap. XLIII (68.), 192; dt. Übersetzung siehe Augustinus: Bekenntnisse, 561. 130 Siehe die Kap. III. 1 und III. 2. 131 Apk 1, 8. 132 Mt 24, 7; Mk 13, 8; Lk 21, 11 verwenden alle den Terminus terraemotus. 133 Est 11, 5–9; stellvertretend für die Beschreibung sei Vers 5 zitiert: et hoc eius somnium fuit apparuerunt voces et tumultus et tonitrua et terraemotus et conturbatio super terram. 134 Hebr 12, 27: quod autem adhuc semel dicit declarat mobilium translationem tamquam factorum ut maneant ea quae sunt immobilia. 135 Apk 11, 13: et in illa hora factus est terraemotus magnus et decima pars civitatis cecidit et occisi sunt in terraemotu nomina hominum septem millia et reliqui in timore sunt missi et dederunt gloriam Deo caeli. 136 Die Erdbeben in Apk 6, 12; Apk 8, 5; Apk 11, 19 kündigen letztlich nur die Folgen für die Menschen an. Siehe Die Offenbarung des Johannes: 223, 339. Die Erläuterungen in Kap. IV. 3. 2. 1 und IV. 3. 2. 2 werden zeigen, dass das Mittelalter besonders Apk 6, 12 für die Gegenwartsanalyse passend fand. 137 Zu lesen z. B. in Apk 16, 19: civitates gentium ceciderunt; Apk 18, 4: et audivi aliam vocem de caelo dicentem exite de illa populus meus ut ne participes sitis delictorum eius et de plagis eius non accipiatis. 138 Hierzu schreibt SATAKE in seinem exegetischen Kommentar zur Johannes-Offenbarung (Die Offenbarung des Johannes: 225): „Der ‚Zorn‘ wird in der Offb wie im ganzen NT sonst stets auf Gott bezogen und an keiner Stelle auf Christus“.
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Somit ist für die Erdbeben des Neuen Testaments zweierlei erkennbar. Urheber aller Erschütterungen ist und bleibt Gott als omnipräsenter Weltenschöpfer. Er allein ist es, welcher durch ein Erdbeben die Göttlichkeit seines am Kreuz verschiedenen Sohns anzeigt. Und er alleine ist es, welcher im Vorfeld des Jüngsten Gerichts die Sünder durch ein Erdbeben bestraft. Beachten wir nun die im vorangehenden Kapitel erarbeiteten Sinnebene von terrae motus als ontologischen Ausdruck des schuldhaft besetzten Irdischen, so wird die Argumentation inhaltlich konzise. Denn sinnbildlich verkörpert terrae motus im christlichen Verständnis eben jene Schuld, welche für das Wesen der Menschen seit dem Sündenfall charakteristisch war.139 Es ist jene Sündhaftigkeit, für die Jesus als Mittler zwischen Menschen und Gott140 am Kreuz starb und der sich jeder Einzelne am Jüngsten Tag zu stellen hat. Die lebenspraktische Verarbeitung dieser biblischen Botschaft ist stellvertretend für das lateinische Mittelalter bereits an einer Passage der Institutiones des spätantiken Autors Cassiodor ablesbar. Hier heißt es: Deus intonat per convexa caeli, fulgora demonstrat in nubibus, frequenter commovet fundamenta terrarum et – pro dolor! – praesentia ipsius non timetur, qui ubique totus et omnipotens esse cognoscitur. Quapropter absentem iudicem non credamus, et rei ad ipsius tribunalia non venimus. Qui minus peccat, gratias agat, quoniam desertus non est a Domini misericordia, ut praeceps laberetur ad vitia; qui plurimum deliquit, incessanter exoret.141
Die moralische Botschaft, wie sie erneut von dem Argument „Erdbeben“ ausgeht, soll uns noch in einem folgenden Kapitel beschäftigen. Cassiodors Worte deuten durch die Betonung des allmächtigen Richteramt Gottes die zweite inhaltliche Rolle von Erdbeben im Neuen Testament an. Charakteristisch für deren Auftreten in der Johannes-Apokalypse ist, dass sie nur die zweite Parusie des Gottessohnes vorbereiten. Der eigentliche Vollzug des Jüngsten Gerichts – und dies gilt es zu unterstreichen – kommt ohne die Erschütterung der Erde aus.142 Hierhin liegt auch der Grund, warum Erdbeben im Bildprogramm des Jüngsten Gerichts fehlen.
139 Diesbezüglich verfasst Rupert von Deutz: De divinis officiis, 5, cap. 7, 674: agnus Dei Christus immolatus est et in morte eius primogenitum, id est originale peccatum, deletum est. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 675. Im Frühmittelalter nimmt Petrus Chrysologus unmittelbaren Bezug auf den Sündenfall. Siehe Petrus Chrysologus: Sermones, LXXIV, cap. 4, 453: Ecce terraemotus factus est magnus. Modo terraemotus magnus. O si tunc vel levis turbo arborem mortiferam deiecisset! O si nebulae fumus illius mulieris tenebrasset aspectum! Dt. Übersetzung: „Sieh es geschah ein großes Erdbeben. Die Art des schweren Erdbebens. Oh, hätte damals auch nur ein kleiner Sturm den todbringenden Baum niedergerissen! Oh, wenn ein Nebelrauch desselben Weibs Aussehen verdunkelt hätte!“ 140 Siehe erneut Augustinus: Confessiones, X, cap. XLIII (68.), 192. 141 Cassiodor: Institutiones, 1, cap. 32. 5, 280, 282; dt. Übersetzung ebd.: 281, 283. 142 Siehe auch BAUCKHAM 1977: 226.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
Hinsichtlich der Etablierung der Wendung terrae motus factus est als standardisierte Erdbebenbeschreibung in der mittelalterlichen Historiographie und Annalistik kann somit die zu Anfangs formulierte These weiter konkretisiert werden. Es sollte augenscheinlich geworden sein, dass ein besonders geeignetes Einpassungspotential in christliche Glaubensvorstellungen die Auswahl des Terminus aus dem Fundus klassisch-lateinischer Wendungen zweifellos beförderte. Die Untersuchung der Erdbebenbeschreibungen im Alten und Neuen Testament unterstreicht jedoch nachdrücklich, dass Wendungen wie terrae motus factus est oder terra mota est keine leeren sprachlichen Hüllen darstellen. Sie besagen deutlich mehr als eine bloße Wortfolge, die als narratives Mittel den gewünschten Inhalt am besten artikulieren kann. Beide Beschreibungen stehen vielmehr für den Anfang und das Ende einer in der Bibel angelegten Kausalkette. Sie entsprechen in Wort und Sinn dem christlichen Weltbild des lateinischsprachigen Abendlands.
3 Vom exemplum zur imitatio Christi – Die mittelalterliche Auslegung der Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est gemäß den geistigen Schriftsinnen Die Relevanz des lateinisch verfassten biblischen Erdbebenbegriffs besaß für die Argumentationsfindung früh- und hochmittelalterlicher Geschichtsschreibung einen beachtlichen Stellenwert. Die neutestamentliche Wendung terrae motus factus est ist hierbei als konkreter Ausdruck einer Gegenwartsanalyse zu verstehen, welche inhaltlich aus dem vielschichtigen Fundus biblischer Argumente genährt wird. Die Symbolik der Theophanie, die von dieser Formulierung ausgeht, artikuliert in besonderem Maße die Nöte einer individuellen Gewissensprüfung, welche sich für den christlich glaubenden Mensch des Mittelalters aus der stets gegenwärtigen Präsenz Gottes ergeben haben muss. Der zeichenhafte Charakter des Ausdrucks terrae motus factus est verweist somit, je nach Intention des Geschichtsschreibers, auf eine göttliche Bestätigung oder Missbilligung der irdischen Realität. Hinzu kommt die besondere heilsgeschichtliche Dialektik des Erdbebenbegriffs terrae motus, mittels derer zeitgenössische Schreiber verschiedene Argumentationslinien herausarbeiten konnten. Eine grundlegende Anforderung an die folgenden Seiten besteht darin, eine strukturelle Gliederung dieses Denkens vorzunehmen. Der früh- und hochmittelalterliche Wissenshorizont zu Erdbeben, wie er sich in der Geschichtsschreibung niederschlug, entstammt maßgeblich einer exegetischen und weniger einer enzyklopädischen Tradition. Entsprechend sind auch die inhaltlichen Anforderungen zu verstehen, welche die historiographischen und annalistischen Erdbebenbeschreibungen des Mittelalters erfüllen mussten. Gemäß der für die mittelalterlichen Weltdeutung autoritativen biblischen Vorlage betont das Argument „Erdbeben“ eine Botschaft, welche mit dem Kreuz Christi, dessen Grab und seiner Auferstehung verbunden ist. Zeichenhaft auf
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diese Ebenbilder des christlichen Lebens verweisend,143 entfaltete die Wendung terrae motus factus est ihr Potential aus jenen heilsgeschichtlichen Etappen. Die mittelalterliche Geschichtsschreibung verstand hieraus, inhaltlich zu schöpfen und mehr oder weniger forciert eine Aufforderung zur Lebensgestaltung gemäß einer vita christiana zu kommunizieren.144 Lassen wir also Isaak von Stella sprechen145 und lernen terrae motus factus est als mittelalterlichen Ausdruck zu verstehen, welcher je nach Anspruch des jeweils intendierten Schriftsinns befähigt ist, eine Aussage über die irdische, geistige und himmlische Welt mittels vier verschiedener exegetischer Zugangsweisen zu treffen.
3.1 Ubi cupiunt aut immolari pro Christo quasi victimae – Erdbeben und Kreuzzugsbegeisterung bei Gerhoch von Reichersberg. Ein Fallbeispiel Gerhoch von Reichersberg, ein mittelalterlicher Theologe des 12. Jahrhunderts von hoher literarischer Schaffenskraft, dient nun als Fallbeispiel, um die Zielstellung der vorliegenden Untersuchung eindringlicher zu veranschaulichen. Besonders prädestiniert für diese Rolle ist Gerhoch wegen seiner ablehnende Haltung gegenüber der im Verlauf des 12. Jahrhunderts in Frankreich aufkommenden mittelalterlichen Denkschule der Scholastik.146 Gleichwohl frühscholastische Gelehrte, wie Petrus Abaelard oder auch Alanus ab Insulis, zum Teil intensiv für Belegstellen herangezogen wurden, so sei dennoch daran erinnert, dass der wesentliche Bearbeitungsraum dieser Arbeit mit der Scholastik endet. Als Vertreter einer „klassisch“ klösterlichen
143 Augustinus: Enchiridion ad Laurentium, XIV, cap. 53, 78: Quicquid igitur gestum est in cruce Christi, in sepultura, in resurrectione tertio die, in ascensione in caelum et sedere ad dexteram patris, ita gestum est ut his rebus, non mystice tantum dictis sed etiam gestis, configuraretur vita Christiana quae in his geritur. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Ausgewählte Schriften, Bd. 8, 442. 144 Der Zisterziensers Isaak von Stella schrieb in seinen Sermones, LIV. 11–12, 850, 852: Ideo quippe sursum in aere mori voluit, suspensus a terra, ut hominem terrenum ad spiritualem statum elevaret, donec ad extremum ad caelum eum sustolleret et in caelesti qualitate perficeret. Natus nimirum in terra, in aere moritur et in coelum ascendit, quia primum hominem in mundo suo terreno fecit terrenum, et secundum in suo mundo spirituali spiritualem, facturus tertium in suo mundo coelesti coelestem. Primus mundus historicus, cuius condicionem et gubernationem narrat vetus Testamentum; secundus moralis et allegoricus cuius condicionem et gubernationem narrat Evangelium; tertius anagogicus, id est sursum ductivus, cuius statum nemo novit, nisi qui accipit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 851, 853. 145 Isaak von Stella: Sermones, LIV. 10, 850: Omnia quae ibi actualiter facta narrantur in illo actuali ac sensibili mundo, hodie recapitulari incipiunt in hoc mystico ac spirituali mundo, et memoriam facere incipit Deus omnium quae fecit, renovans universa et sublevans, sicut scriptum est: Ecce nova facio omnia. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 851. 146 MEUTHEN 2009: 1320 f.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
Ausbildung147 spricht Gerhoch zwar nicht für alle, so doch für einen Großteil seiner Gelehrtengeneration. Viele seiner literarisch gebildeten Zeitgenossen wurden im tiefgreifenden Konflikt des späten Investiturstreits sozialisiert – Gerhoch wurde um 1117 Leiter der Augsburger Domschule148 – und waren eher einer symbolistischmystischen Weltsicht, wie sie z. B. Rupert von Deutz propagierte, zugeneigt als der rational-dialektischen Denkweise eines Petrus Abaelard. Die Etablierung der Scholastik als Vermittlung von dialektischer Methode und christlicher Theologie, wie sie Albertus Magnus sowie besonders Thomas von Aquin prägten, stand zu diesem Zeitpunkt noch aus. Gerhoch von Reichersberg vollzieht in seinem Psalmenkommentar Tractatus in psalmos, dem nun exemplarische Aufmerksamkeit geschenkt wird, die angesprochene Einheit von Geschichtsschreibung und Exegese. Geradezu euphorisch nutzt Gerhoch seine Auslegung des Psalms 39, um die Kreuzzugsbegeisterung zur Mitte der 1140er Jahren im lateinischen Europa zu schildern. Hier heißt es in einem langen Zitat: Post hec invalescente multimoda impietate ac multiplicatis in aecclesia vel mundo fornicatoribus, raptoribus, homicidis, periuris, incendiariis, latronibus, latrocinantibus, non solum in seculo, sed etiam in domo Dei, quam fecerunt speluncam latronum, item ego aecclesia expectans expectavi Dominum, et intendit mihi, et exaudivit preces meas, quia ecce, dum hec scribimus contra nequicias et impietates, manifestum spiritus pietatis opus in aecclesia Dei videmus, quod et supra tetigimus, et si Dominus voluerit, alias plenius exequi Domino annuente parati sumus, cum tantae commotionis finem viderimus, cuius nunc inicium videmus multis milibus ultro currentibus in expeditionem contra paganos, dominico sepulchro inimicos. Certatim curritur ad bellum sanctum cum iubilantibus tubis argenteis papa Eugenio II. [sic!, gem. ist Eugen III, d. Verf.] et eius nuntiis, quorum precipuus est Bernhardus, abbas Clarevallensis, quorum predicationibus contonantibus et miraculis nonnullis pariter coruscantibus, terraemotus factus est magnus. Multa milia Teutonicorum cum rege suo, multa milia Francigenarum cum rege suo in frontibus suis et galeis, in scutis et vexillis preferunt signum victoriosissimae crucis. Preter hos turbae magnae, quas dinumerare nemo potest, ex diversis tribubus et linguis et populis currunt in procinctum rapto signo, et vexillo dominicae crucis. Neve sit infructuosum quod agunt, exemplo Zachei multi ex eis primitus ablata seu fraudata restituunt, et quod maius est, exemplo Christi suis inimicis osculum pacis offerunt, iniurias ignoscunt et ultro ad prelium vadunt, ubi cupiunt aut immolari pro Christo quasi victime, aut non sibi, sed Christo vivere, dicente unoquoque apud se: Mihi vivere Christus est et mori lucrum. Nonne illi est mori lucrum, qui moriendo lucratur Christum? Nonne illi est Christus vivere, qui destinavit non sibi, sed Christo vivere?149
147 Gerhoch wurde in Polling, Freising, Moosburg und Hildesheim ausgebildet. Siehe MEUTHEN 2009: 1320; CLASSEN 1960: 14–17. 148 MEUTHEN 2009: 1320. 149 Gerhoch von Reichersberg: Ex commentario in psalmos, Ps. XXXIX, 435 f; dt. Übersetzung: „Nach diesem vielfältigen Erstarken der Gottlosigkeit und besonders wiederholt von Ehebrechern, Entführern, Mördern, Lügnern, Brandstiftern, Räubern und Dieben in der Kirche und auch der Welt, sind nicht nur dieses Zeitalter, sondern auch der Tempel Gottes zu Räuberhöhlen geworden. Ebenso, wie die Kirche wartete, so habe ich auf den Herrn gewartet, und er hat mir versichert und hat meine Bitten erhört. Sieh da, während wir dies gegen die Verschwendungssucht und Gottlosig-
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Der Reichersberger Abt inszeniert den Aufruf zum zweiten Kreuzzug durch Papst Eugen III. und besonders die bekanntermaßen offensive Werbung durch Bernhard von Clairvaux, dem bellum sanctum beizutreten, als Akt kollektiver Opferbereitschaft. Denn erst aus bedingungsloser Demut erwachse Gottvertrauen, so lautet, wohlgemerkt, die eigentliche Botschaft von Psalm 39. Ausgehend von der Darstellung einer eschatologisch verstandenen Wirklichkeit,150 welche realhistorisch ihre Wurzeln im späten Investiturstreit und der besonderen Biographie Gerhochs,151 narrativ jedoch Ähnlichkeiten mit der Tiburtinischen Sibylle152 aufweist, zeichnet dieser das Bild, einer im Bestreben um die Unterstützung der militärisch gefährdeten Kreuzfahrerherrschaften neu geeinten Ecclesia.153 Der Aufruf Eugens III. wirkte gleichsam silberner Posaunen,154 wie Gerhoch schreibt, um tausende deutsche und
keit schreiben, sehen wir offenkundig ein Werk des Geistes der Frömmigkeit in der Kirche Gottes, dass wir früher erwähnt haben. Und wenn Gott es verlangt hat, sind wir auch sonst entschlossen, dem vollkommen ausführenden Gott zuzustimmen. Mit großer Erregung haben wir das Ziel erblickt, dessen Anfang wir nun sehen, da viele Soldaten freiwillig auf einen Feldzug gegen die Heiden, die Feinde des Grabes des Herrn, aufbrechen. Im Wettstreit eilen mit jauchzenden, silbernen Tuben zum Heiligen Krieg Papst Eugen III. und seine Boten. Dies ist vor allem Bernhard, Abt von Clairvaux, dessen verkündete und gepredigte Wunder manche ebenfalls schnell bewegten, so dass sich ein schweres Erdbeben ereignete. Viele tausend Deutsche mit ihrem König und viele tausend Franken mit ihrem König tragen das Zeichen des siegreichesten Kreuzes auf der Vorderseite ihrer Helme, Schilde und Fahnen voran. Außer dieser großen Menschenmenge, die niemand durchzählen kann, eilten sie aus verschiedenen Bezirken, Sprachen und Völkern zum Kampf um das geraubte Zeichen und die Kreuzesfahne des Herrn. Dies geschieht, damit es nicht erfolglos sei, obwohl sie handeln und viele gemäß dem Beispiel des Zachäus ihr Geraubtes und Betrogenes zum ersten Mal wieder gutmachen, und das ist bedeutender, ihren Feinden, gemäß Christus’ Beispiel, den Friedenskuss anbieten, verzeihen sie das Unrecht und schreiten freiwillig in den Kampf, sobald sie es wünschen, sich entweder wie ein Opferlamm für Christus zu opfern, oder danach streben, nicht für sich selbst, aber für Christus zu leben. Daher sagte jeder einzelne zu sich: Denn Christus ist mein Leben, sterben ist mein Gewinn. Ist denn nicht für jeden das Sterben ein Gewinn, der stirbt, um den Messias zu gewinnen? Ist es nicht jenen gegeben, in Christus zu leben, die bestimmt haben, nicht für sich, sondern für Christus zu leben?“ 150 Vgl. hierzu erneut den Bericht Ekkehards von Aura zum Erdbeben von 1117. Siehe Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, S. 334. Ebenso STRUVE 2002: 222 f. 151 Gerhoch war in seiner Rolle als Kirchenreformer zahlreichen Konflikten ausgesetzt und sah wesentliche Probleme des Investiturstreits, wie die Verweltlichung der kirchlichen Würdenträger, auch nach dem Wormser Konkordat als nicht zufriedenstellend gelöst an. Hierzu weiterführend MEUTHEN 2009: 1320 f. 152 Vgl. Gerhoch von Reichersberg: Ex commentario in psalmos, Ps. XXXIX, 435: Post hec invalescente . . . sepulchro inimicos mit SACKUR 1898: 183 f. 153 Siehe hierzu auch MEUTHEN 1959: 138 f. 154 Die Posaunen sind sowohl als Mittel zur Artikulation des göttlichen Willens, als auch als Indiz einer Theophanie zu verstehen. Siehe Haimo von Auxerre: In divi Pauli epistolas expositio, 925C. Zum analogen Verständnis des Mittelalters von Kirchenglocken und Posaunen siehe Rupert von Deutz: De divinis officiis, 1, cap. 16, 178. Für Alanus ab Insulis versinnbildlicht die Posaune den nahenden Krieg. Siehe Anticlaudianus, III, 93.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
französische Ritter unter der Führung ihrer Könige zusammentreten zu lassen, damit diese einen Kampf zum Schutz des Erlösergrabes führen. Unter diesen Vorzeichen sollte auch das Erdbeben155 gelesen werden, welches an sich losgelöst vom eigentlichen Kontext erwähnt wird. Mittels der Wendung terrae motus factus est magnus bündelt Gerhoch, so die Forschungsmeinung,156 jene Wunder, welche die kampagnengleiche Predigttätigkeit Bernhards von Clairvaux zu Gunsten des Kreuzzuges begleiteten. Wenn man allerdings diese geschickt in den Text eingestreute sprachliche Wendung nicht nur auf das historische Wirken Bernhards, sondern auch als allegorische Anspielung auf weitere Signalwörter aus der Passionsgeschichte157 bezieht, so drückt das Erdbeben den eigentlichen Moment der Theophanie aus. Die Wendung terrae motus factus est magnus artikuliert damit Gottes Einverständnis, das Kreuz als Zeichen des Sieges gegen die Ungläubigen zu führen.158 Im exegetischen Rahmen von Psalm 39 entfaltet das argumentativ eingesetzte Erdbeben somit eine besondere Wirkung. Gerhoch signalisiert mit diesem Ereignis gegenüber den Kreuzfahrern die göttliche Aufforderung, das exemplum Christi zu imitieren. In diesem Sinne ist das beschriebene Erdbeben der Ausdruck einer zunächst typologischen, später auch eschatologischen Geschichtsdeutung.159 Der bekannte Ausspruch Leos des Großen: Pascha Domini non tam praeteritum recoli quam praesens debeat honorari160 erfährt durch Gerhochs Christologie eine praktische Relevanz für die damalige Gegenwart. Diese spiegelt sich im vielfach belegten religiösen Eifer und Fanatismus der teilnehmenden Kreuzfahrer wider. Deren Erwartungshaltung, mittels Schwert und Schild die Opfer- und Leidensbereitschaft Christi nachzuvollziehen, um den erlösenden Sündennachlass gemäß Psalm 39161 zu erlangen, zeichnet auch Gerhochs Bericht und seine argumentative Verwendung des zeichenhaft zu verstehenden Erdbebens aus.
155 Von einem realen Erdbeben im Jahr 1145 ist nichts bekannt. 156 Siehe DIERS 1991: 298, bes. Anm. 136. 157 Angesprochen sind die Beispiele osculum pacis für das Umkehrangebot an die Sünder, signum victoriosissimae crucis für den Kreuzestod oder Christum vivere für die Erlösungshoffnung, die Gerhoch nach der Erwähnung des Erdbebens anbringt. 158 Als Gerhoch im Jahr 1148 diese Zeilen schrieb, war der 2. Kreuzzug bereits desaströs an der Zerschlagung der unabhängig voneinander operierenden Kreuzfahrerheere gescheitert. Die Nachricht war jedoch noch nicht nach Reichersberg gelangt. Siehe MEUTHEN 1959: 139; DIERS 1991: 298. 159 STRUVE 2002: 222. Dies wird auch in Gerhochs Zitat aus Phil 1, 21: mihi enim vivere Christus est et mori lucrum deutlich. 160 Leo der Große: Sermones, 64, cap. 1, 358A. Dt. Übersetzung: „Die Auferstehung des Herrn soll nicht so sehr in der Vergangenheit betrachtet werden, vielmehr muss sie in der Gegenwart geehrt werden.“ 161 Ps. 39, 9 (iuxta Hebr.): ut facerem placitum tibi Deus meus volui et legem tuam in medio ventris mei.
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3.2 Terrae motus factus est magnus in der geistigen Auslegung des Mittelalters Die historiographische Aussagefähigkeit mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen nimmt einen Gutteil dieser Arbeit ein. Es wurde angestrebt, die Bandbreite von zeitgenössischen Beschreibungsmustern darzulegen sowie ihren deskriptiven Wert für eine glaubwürdige und aussagekräftige Inhaltsvermittlung im Rahmen mittelalterlicher Geschichtsschreibung zu bestimmen. Während dieser Untersuchungen deutete sich in zahlreichen Beispielen immer wieder das hermeneutische Potential an, welches von Wendungen wie terrae motus factus est magnus für das zeitgenössische Verständnis ausging. Die weitere Zielstellung muss folglich sein, die zeitgenössischen Intentionen für die Anwendung des Arguments „Erdbeben“ endgültig freizulegen, um so den Aussagewert mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen näher bestimmen zu können. Ausgehend vom bislang ausführlich erörterten Literalsinn, ist auf den sensus spiritalis früh- und hochmittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen zu schauen. Schließlich sah der mittelalterliche Mensch in den drei geistigen Auslegungsstufen der Allegorie, Tropologie und Anagoge nicht nur den Schlüssel zum Verständnis der Heiligen Schrift,162 sondern auch den Zugang zu tieferen Sinnebenen seiner irdischen Gegenwart.163 Nehmen wir also den methodischen Leitfaden auf, den uns der wallonischen Prämonstratenser Philipp von Harveng reicht, und schreiten hinsichtlich der mittelalterlichen Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est von der Grundlage der Geschichte zur Allegorie sowie von der Allegorie zur praktischen Anwendung.164 3.2.1 Die typologisch-dogmatische Auslegung – terrae motus factus est magnus als Verweis auf das exemplum Christi Bekanntlich wird in der christlichen Exegese für die historische Überlieferung des Literalsinns das Bild der Wurzel verwendet, aus welcher die Früchte der Allegorie hervorgehen. Dieses anschauliche Beispiel entstammt Gregor dem Großen165 und beschreibt letztlich jenes organologische Prinzip, welches durch seine hierarchische
162 Siehe exemplarisch Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 8, 390. Hugo von St. Viktor verweist jedoch ebenso daraufhin die Exegese gemäß dem vierfachen Schriftsinn vernünftig, d. h. nicht inflationär anzuwenden. Siehe Hugo von St. Viktor: Didascalicon, V, cap. 2, 318, 320, 322. 163 Siehe Alkuin: Commentaria in S. Joannis Evangelium, 821C; Bernhard von Clairvaux: Sermones, LXVII, 440 verfasst ähnliches. 164 Philipp von Harveng: In Cantica Canticorum moralitates, 550D: dum de historia ad allegoriam, et de allegoria transeunt ad moralitatem. 165 Gregor der Große: Moralia in Iob, VI, cap. I (2.), 285: ut spiritales fructus allegoria germinet, quos tamen ex radice historiae veritas producit. Ebenso Isidor: Mysticorum expositiones sacramentorum, 208B.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
Logik die mittelalterliche Auslegungstradition wesentlich bestimmte.166 Hiernach strukturiert die Allegorie die historische Überlieferung, indem sie verbürgte Sachverhalte aus der Heiligen Schrift auf die Gegenwart Christi bzw. die bestehende Kirche überträgt.167 Es ist in diesem Fall die Allegorie, welche den Glauben erst erbaut.168 Eine an Christus ausgerichtete Auslegung vollzieht folglich die Exegese im Ereignis.169 Hinsichtlich dessen sind maßgeblich die Erdbeben im Neuen Testament von besonderem Interesse, weil sie – wie nachgewiesen wurde – wesentlich mit den heilsgeschichtlichen Stationen des Lebens Jesu verbunden sind. Die allegorische Aussage der mittelalterlichen Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est magnus wird in der Vulgata vor allem als Hinweis auf die Auferstehung Jesu sowie als Zeichen für seine zweite Parusie verstanden. Rupert von Deutz hat dies anschaulich seinen Zeitgenossen erläutert, als er im siebten Buch seines liturgischen Werkes De divinis officiis schrieb: ‚Terraemotus‘ quoque ‚magnus‘, qui ‚factus est‘, eiusdem secundi adventus significationi cooperatur. Erit enim confusio maris et fluctuum, et non solum terra sed etiam virtutes caelorum com-
166 Hrabanus Maurus: Commentariorum in Genesim libri quator, 654D-655A. Auf die spezifische mittelalterliche Auslegungstradition, die Reihenfolge der Allegorie mit der Tropologie zu vertauschen, soll hier nicht eingegangen werden. 167 Hrabanus Maurus: Commentariorum in Exodum, III, cap. XI, 148A: Allegoria est, cum verbis sive rebus mysticis, praesentia Christi et Ecclesiae sacramenta signantur; dt. Übersetzung: „Die Allegorie ist, wenn mit Worten oder Wundern die Gegenwart Christi oder die Sakramente der Kirche angezeigt werden.“; Otloh von St. Emmeram: De doctrina spirituali, cap. XII, 271B. 168 Cassianus: Conlationes, XIIII, cap. VIII. 5, 405: Revelatio namque ad allegoriam pertinet, per qua mea quae tegit historica narratio spiritali sensu et expositione reserantur; frz. Übersetzung siehe Cassien: Conférences (VIII–XVII), 191; Gregor der Große: Homiliae in Evangelia, XL. 1: In verbis sacri eloquii, fratres carissimi, prius servanda est veritas historiae, et postmodum requirenda spiritalis intelligentia allegoriae. Tunc namque allegoriae fructus suaviter carpitur, cum prius per historiam veritatis radice solidatur. Sed quia nonnunquam allegoria fidem aedificat. Dt. Übersetzung: „In den Worten der Heiligen Schrift, liebste Brüder, ist zuerst die Wahrheit der Geschichte zu bewahren, und bald darauf ist nach dem geistigen Sinn der Allegorie zu fragen. Darauf werden freilich die süßen Früchte der Allegorie genossen, weil doch bisweilen die Allegorie den Glauben erbaut.“ 169 Ambrosius Autpertus macht diesen Ansatz zu Beginn seiner Auslegung von Apk 11, 19 deutlich. Das Ausrollen der Bundeslade offenbart nach seinen Worten die mit Christus und der Kirche verbundenen Heilszeichen, sprich das Mysterium Christi. Das exemplum Christi ist hierfür maßgebend. Siehe Ambrosius Autpertus: Expositionis in Apocalypsin, VII, cap. 15. 5, 588: Superius dixerat: Apertum est templum Domini in caelo et visa est arca testamenti eius in templo eius, ubi intelleximus sacramenta de Christo et Ecclesia opera revelata, in templo scilicet Christum natum et passum ac suscitatum, in arca vero testamenti electorum Ecclesiam. Dt. Übersetzung: “Weiter oben hat er gesagt: Der Tempel des Herrn im Himmel ist offen und seine Bundeslade wird in seinem Tempel sichtbar, in der wir die Sakramente in Christus und die Werke der Kirche wahrnehmen. Im Tempel ist nämlich Christus geboren, hat er gelitten und ist auferstanden, in der Bundeslade aber erkennen wir die Kirche der Erwählten.”
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movebuntur, et tunc videbimus Filium hominis venientem in nubibus caeli cum potestate magna et maiestate.170
Dass es sich bei dem Erdbeben am Karfreitag um kein gewöhnliches Ereignis handelt, erläutert bereits der Kirchenvater Hieronymus. Non ex more solito171 sei die Erschütterung beim Tod Jesu Christi ausgefallen. Die Stärke des kosmischen Bebens,172 angezeigt durch das Adjektiv magnus,173 erscheint der Theophanie des Weltenschöpfers als angemessen. Für den Betrachter leuchtet somit ein, dass es sich, ähnlich wie bei der Kreuzigung Christi, auch bei der Auferstehung um ein exemplum Christi handelt. Angezeigt durch die Wendung terrae motus factus est magnus, wird dem mittelalterlichen Menschen somit nicht nur die Lehre von der allgemeinen Auferstehung illustriert.174 Gleichsam wird der Gläubige in der Erwartungshaltung bestärkt, durch den Sieg über den Tod175 selbst an diesem Übergang zum ewigen Leben teilzuhaben,176 statt – wie die Sünder – zur Strafe hinabzusteigen.177
170 Rupert von Deutz: De divinis officiis, 7, cap. 17, 962; dt. Übersetzung ebd.: 963. In dieser Tradition steht auch Sichard von Cremona: Mitralis, VI, cap. 15, 542 f.: Offerenda ‚Terra tremuit‘ vel dicitur de terręmotu, qui fuit, cum Dominus resurrexit, vel de illa die, quando faciet auditum iudicium, hoc scilicet: Venite, benedicti, et ite, maledicti. Tunc enim terra tremuit, id est impii terrebuntur quia etiam virtutes coelorum movebuntur et terra quiescet, id est impii nocere desinent. Dt. Übersetzung siehe Sicard von Cremona: Mitralis, 623. 171 Hieronymus: Epistulae, CXX, cap. VI, 487; frz. Übersetzung siehe Saint Jérôme: Lettres, 137. 172 Petrus Chrysologus: Sermones, LXXIV, cap. 4, 452 f.: Ecce, inquit, terraemotus factus est magnus. Angelus descendit de caelo. Tremit terra, non quia angelus descendit de caelo, sed quia ab inferis dominator ascendit. Ecce terraemotus factus est magnus. Movetur chaos, disiliunt ima terrarum, timet terra, montium tremunt pondera, orbis fundamenta quatiuntur, corripitur tartarus. Dt. Übersetzung: „Siehe, sagte er, und es geschah ein schweres Erdbeben. Der Engel stieg vom Himmel herab. Die Erde bebt, nicht weil etwa der Engel vom Himmel herabkam, sondern weil der Herr von der Hölle hinaufgestiegen ist. Und sieh, es geschah ein großes Erdbeben: Die Unterwelt wird bewegt. Die Tiefe der Erde spaltet sich. Die Erde fürchtet sich. Die Berge erzittern in ihrer Festigkeit, die Fundamente des Erdkreises werden erschüttert. Das Totenreich wird gestraft.“ 173 Hieronymus: Epistulae, CXX, cap. VI, 487: et terrae motum factum non ex more solito, sed magnum, qui cuncta concuteret et eversionem terrae funditus minaretur. Frz. Übersetzung siehe Saint Jérôme: Lettres, 137. 174 Stellvertretend für diese Hoffnung siehe: Augustinus: De doctrina christiana, I, cap. XV (14.), 14: Iam vero credita domini a mortuis resurrectio et in caelum ascensio magna spe fulcit nostram fidem. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 25; auch: Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 42, 368. 175 Die besondere christologische Bindung der Wendung terrae motus factus est magnus wird auch an Petrus Chrysologus: Sermones, LXXIV, cap. 4, 452 f. deutlich. 176 Siehe Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 57, 428. 177 Augustinus: De doctrina christiana, I, cap. XXI (19.), 16: sed impios resurgere ad poenas inaestimabiles, pios autem ad vitam aeternam. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 27.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
Die Auferstehung garantiert somit die in den Evangelien geschilderte Erfüllung der Prophezeiung.178 Auf die mittelalterliche Geschichtsschreibung über Erdbeben ging hiervon eine erhebliche Strahlkraft aus. Schließlich vermag die Wendung terrae motus factus est magnus, im allegorischen Sinne verstanden, auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse der Heilsgeschichte zu verweisen.179 Der Reiz des Arguments „Erdbeben“ für die Gegenwartsanalyse wird durch diesen Aspekt wesentlich genährt. Wenn also einmal mehr „ganze Städte von der Erde verschlungen werden“ und „Inseln im Meer versinken“, wie schon Tertullian schrieb,180 erleichtert die hermeneutische Zeitlosigkeit des Arguments „Erdbeben“ stets eine Parallelisierung der Gegenwartshandlung mit der Heiligen Schrift. Dieser Blick auf die Vergangenheit schult die Sicht auf die Gegenwart und verklärt sich zu einer spekulativen Erlösungsvorstellung.181 Die Überlieferungen zu den Erdbeben von 845, 1000 oder 1117 zeigen, dass dieses Denken für das Mittelalter eine ungebrochene Präsenz besaß. Die allegorische Auslegung von terrae motus factus est magnus lässt sich durch ein erneutes Zitat von Rupert von Deutz untermauern. Für das Erdbeben bei der Auferstehung Christi führt dieser in De divinis officiis aus: Igitur dies haec, cuius in nocte Dominus noster cum terrae motu resurrexit, diem illum aeternitatis, diem significat futurae resurrectionis, cuius diluculo idem Dominum noster improvisus, ut dictum est, caelis ardentibus caelorumque virtutibus trementibus apparebit.182
Die Erwartung der zukünftigen Auferstehung am Jüngsten Tag war eine wirkmächtige Triebfeder des Weltverständnisses, welches nicht nur bei Rupert von Deutz, sondern auch bei Honorius Augustodunensis sichtbar wird.183
178 Remigius von Auxerre: Enarrationes in Psalmos, 226D: Resurgente Domino, per quem lex adimplenda erat et invocanda, commota est materialiter, et corda terrenorum similiter de infidelitate ad fidem, quod significabat terraemotus. Dt. Übersetzung: „Der Wiederauferstandene Herr, durch den das Testament erfüllt und angerufen werden muss, ist körperlich, und die Herzen der Irdischen sind ähnlich wie vom Unglauben zum Glauben, erbebt worden. Darauf deutet ein Erdbeben hin.“ Diesen Beweischarakter teilt die Auferstehung mit der Kreuzigung Christi. 179 Siehe Hugo von St. Viktor: De tribus maximis, 491: Allegoria est cum per factum hystoriae quod in sensu litterae invenitur aliud sive praeteriti sive praesentis sive futuri temporis factum innuitur. Dt. Übersetzung: „Eine Allegorie besteht, wenn durch das Werk der Geschichte, das im buchstäblichen Sinn aufgefunden wird, eine andere Tatsache, sei es in der Vergangenheit, sei es in der Gegenwart oder in der Zukunft, zu verstehen gegeben wird.“ 180 Tertullian: Apologeticum, cap. XX. 2, 122: terra vorant urbes, quod insulas maria fraudant. Dt. Übersetzung siehe Tertullian: Verteidigung des Christentums, 127. 181 Beispielhaft meint hierzu Tertullian: Apologeticum, cap. XX. 4, 122: Hinc igitur apud nos futurorum quoque fides tuta est, iam scilicet probatorum, quia cum illis, quae cottidie probantur, praedicebantur. Dt. Übersetzung siehe Tertullian: Verteidigung des Christentums, 127. 182 Rupert von Deutz: De divinis officiis, 7, cap. 17, 964; dt. Übersetzung ebd.: 965. 183 Honorius Augustodunensis: Gemma Animae, 695C-696A.
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Vor allem in der Auslegung des sechsten Kapitels der Johannes-Offenbarung erkannte die mittelalterliche Exegese eine Anleitung, um die Zeichen der vermeintlich nahen Endzeit erkennen zu können. Die Öffnung des sechsten Siegels durch das Lamm bewirkte jene strafenden Erscheinungen, welche als Kennzeichen der Zwischenzeit, also der Herrschaft des Antichristen, dienten184. Die Formulierung terrae motus factus est magnus artikuliert, so die Auslegung, die Schwere der Bedrückung und Erschütterung, welche in dieser Zeit über die irdisch gesinnten Menschen hereinbrechen wird.185 Gemeinsam mit dem prophetischem Inhalt der synoptischen Endzeitreden186 bildet das sechste Kapitel der Johannes-Offenbarung das von der 184 Neben Erdbeben fallen hierunter Sonnenfinsternisse, Blutmonde sowie andere Himmelszeichen, wie Kometen oder Meteoriten. Vgl. Apk 6, 12–13: et vidi cum aperuisset sigillum sextum et terraemotus factus est magnus et sol factus est niger tamquam saccus cilicinus et luna tota facta est sicut sanguis et stellae caeli ceciderunt super terram sicut ficus mittit grossos suos cum vento magno movetur. 185 Siehe Caesarius von Arles: Expositio in Apocalypsim, VI, 227: cum aperuisset sextum sigillum, terrae motus factus est magnus, id est, persecutio novissima; dt. Übersetzung: „Als er das sechste Siegel geöffnet hatte, geschah ein schweres Erdbeben. Dies ist die letzte Klage“; Anselm von Laon: Enarrationes in Apocalypsin, 1525A-B: Et vidi cum aperuisset sigillum sextu, sicut in caeteris sextis, ita in hoc sexto sigillo notat persecutionem, quae tempore Antichristi futura est, et quem habeat finem, scilicet judicium futurum, et possunt haec ad litteram, vel ad allegoriam. Et terraemotus factus est magnus, terreni sunt multum turbati persecutione Antichristi. Dt. Übersetzung: „Und als ich sah, dass er das sechste Siegel geöffnet hatte, gleichwie die anderen sechs, so meint er mit dem sechsten Siegel die Verfolgung, die in der zukünftigen Zeit des Antichristen ist, und die ein Ende hat, nämlich das zukünftige Gericht. Dies ist wörtlich oder allegorisch zu verstehen. Es geschah ein schweres Erdbeben und die Irdischen sind durch die Verfolgung des Antichristen sehr durcheinander geraten.“ Bei Haimo von Auxerre wird besonders die exegetische Bedeutung von magnus ersichtlich, welches für ihn die apokalyptische Erschütterung betont. Siehe Haimo von Auxerre: Expositionis in Apocalypsin, 1031B-C: Et vidi cum aperuisset sigillum sextum, terraemotus factus est magnus. Quid hoc loco per terraemotum debemus intelligere nisi validissimam persecutionem quae futura est temporibus Antichristi? Unde bene non simpliciter dixit, terraemotus factus est, sed cum additamento, terraemotus factus est magnus, quia sicut Dominus dicit, talis erit tunc tribulatio, qualis non fuit, neque fiet ex quo homines esse coeperunt. Dt. Übersetzung: „Und als ich sah, dass er das sechste Siegel geöffnet hatte, geschah ein starkes Erdbeben. Was müssen wir an dieser Stelle durch das Erdbeben verstehen, wenn nicht die stärkste Verfolgung, die zukünftig zur Zeit des Antichristen sein wird? Daher hat er nicht einfach gesagt, es geschah ein Erdbeben, sondern mit dem Zusatz, es ist ein schweres Erdbeben geschehen, weil der Herr schließlich sagt: Solche Nöte werden sein, wie sie noch nicht gewesen sind, seit dem Beginn der Menschen.“ Sowie ebd.: 1076D: Terraemotus itaque significat illam persecutionem validissimam, unde bene terraemotus non simpliciter sed cum additamento magnus vocatur, quia tunc tribulatio erit, ut Dominus ait, qualis non fuit, neque fiet. Dt. Übersetzung: „Das Erdbeben bedeutet deswegen jene stärkste Verfolgung, weshalb es gut ist, wenn nicht einfach von dem Erdbeben, sondern mit dem Zusatz schwer gesprochen wird, weil solche Not sein wird, wie sie noch nicht gewesen ist, und auch nicht werden wird, wie der Herr sagt.“ Alkuin bezieht das magnus auf die Stimme Gottes. Siehe Alkuin: Commentariorum in Apocalypsin, 1126D. 186 Anselm von Laon interpretiert auf Grundlage der Endzeitrede Jesu diese Zwischenzeit als Kampf des regnum diaboli gegen das regnum christi. Siehe Anselm von Laon: Enarrationes in Evangelium Matthaei, 1450D: Et terraemotus. Ecce malum a terra [. . .] Pugnabit pro eo orbis terrarum contra insensatos. Potest et hoc mystice intelligi: Surget enim gens contra gentem, id est haretici con-
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung immer wieder aufgegriffene argumentative Reservoir sogenannter apokalyptischer Zeichen. Die Überlieferung realhistorischer Erdbeben wurde seitens des mittelalterlichen Geschichtsschreibers, der in dieser Rolle prinzipiell auch Exeget war, oftmals dann in diesen Kontext gesetzt, wenn er in der Einschätzung der Gegenwart zum Schluss gelangte, in einer derart sündigen Jetztzeit zu leben. Infolge des Investiturstreits bot sich gerade im Reich der letzten beiden Salier, Heinrich IV. und Heinrich V., für die Menschen des 11. und 12. Jahrhunderts das Bild einer zerrütteten Ecclesia.187 Ein allgemein wahrgenommener Sittenverfall in Folge schwacher salischer Kaisermacht beförderte die Auffassung, dass durch das Fehlen der gesellschaftlichen Ordnung die Tage dieser Welt gezählt seien.188 Simonie189 und perfides Machtstreben, wie sie an der Erhebung Heinrichs V. gegen seinen Vater190 ablesbar waren, boten einen fruchtbaren Nährboden, um die biblisch verbürgte, argumentative Mehrdimensionalität von Begriffen wie terra und terrae motus aufzunehmen und die Schuld der irdisch Gesinnten mittels des Arguments „Erdbeben“ anzuzeigen. Überdurchschnittlich starke Erdbeben, wie jenes von 1117 bei Verona,191 verwiesen als Indikatoren auf das sechste Zeitalter der Kirche.192
tra fideles, et regnum diaboli contra regnum Christi, et pestilentiae errorum occupabunt multos, et erit fames Verbi Dei, et motus terrae, id est, separatio terrenorum a vera fide. Dt. Übersetzung: „Und das Erdbeben. Sieh da, das Schlechte von der Erde [. . .]. Es wird für ihn der Erdkreis gegen die Unvernünftigen kämpfen. Es kann auch in einem tiefern Sinn verstanden werden. Es wird sich nämlich Volk gegen Volk erheben, das heißt: erstens die Ungläubigen gegen die Gläubigen, zweitens die Herrschaft des Teufels gegen das Reich Christi, drittens die Seuche des Irrglaubens wird viele befallen, viertens es wird Verlangen nach dem Wort Gottes geben, fünftens wird ein Erdbeben sein, dies bedeutet, die Trennung der Irdischen vom wahren Glauben.“ 187 GOETZ 2007a: 452 verweist darauf, dass, bedingt durch den Investiturstreit, besonders das 12. Jahrhundert sich nach einer neuen Einheit der Ecclesia sehnte. Vgl. hierzu auch die Erläuterungen zu Gerhoch von Reichersberg im vorangehenden Kapitel. 188 STRUVE 2002: 208 f. 189 FRIED 1989: 444. 190 Im Markus-Evangelium wird die Erhebung der Kinder gegenüber ihren Eltern als Zeichen für das Weltende gewertet. Siehe Mk 13, 12. 191 Siehe einmal mehr die Überlieferung des Erdbebens von 1117 bei Ekkehard von Aura und in den Annales Sancti Disibodi. 192 Anselm von Havelberg: Dialogues, I, cap. XII, 110: Quod in sexto statu Ecclesiae, facto terraemotu magno, validissima persecutio futura est tempore Antichristi. Et cum aperuisset sigillum sextum, terraemotus factus est magnus. Iste sextus est Ecclesiae status, in quo nimirum terraemotus factus est magnus, quae est validissima persecutio, quae futura est temporibus Antichristi. Et vere magna, quia sicut dicit Dominus: Talis erit tunc tribulatio, qualis non fuit, ex quo gentes esse coeperunt. In aliis enim persecutionum temporibus, licet contra Christianum nomen multa genera tormentorum pararentur, tamen fides recta et indubitata tenebatur; hic vero et tormenta proponuntur, et fides falsa sub nomine Christi persuadetur. Dt. Übersetzung siehe Anselm von Havelberg: Anticimenon, 70. Anschaulich schematisiert bei GOETZ 2007a: 439.
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In diesem Kontext illustriert die Wendung terrae motus factus est (magnus), insbesondere durch ihre aus Apk 6, 12–13 verbürgte Provenienz, maßgeblich ein Prodigium. Gemäß dieser Lesart verweist das Argument Erdbeben auf die Herrschaft des Antichristen und das durch seine Gefolgsleute, die malos homines, bewirkte Unheil.193 Terrae motus factus est magnus gibt somit nicht alleine ein exemplum Christi zu verstehen, sondern deutet gleichzeitig auf einen typologischen Gegenpol hin. In der Praxis mittelalterlicher Gegenwartsdeutung realisierte sich hierin eine Personifizierung des Antichristen,194 welche sehr wohl ihre Bestärkung aus dem Argument Erdbeben schöpft. Führen wir das Beispiel des letzten salischen Kaisers also weiter aus. Heinrich V. galt aufgrund seines dauerhaften und energischen Streits mit dem gregorianischen Papsttum, welcher in einem Kirchenschisma endete, bei den Anhängern der päpstlichen Partei als Spalter der Ecclesia. Dies ist eine Sichtweise, die ihn zum rex tyrannus195 stilisiert und somit als einen Herrscher kennzeichnet, welcher den Anforderungen des von Gott gegebenen königlichen Amts nicht gerecht wird.196 Die weite Rezeption des Erdbebens von 1117 sollte also auch unter dem Blickwinkel verstanden werden, dass die mittelalterliche Historiographie die Erschütterung der Erde während der Regentschaft des rex tyrannus Heinrich V. als das Wirken des Antichristen zu vermitteln gedachte und dem Publikum somit den Beginn der Endzeit suggerieren wollte.197 Aus heilsgeschichtlicher Perspektive realisiert sich hier jedoch nur eine Episode. Die durch den Tyrannen bestimmte Zwischenzeit endet für die damalige Weltsicht im Sieg Christi über den Antichristen. Der Ausdruck terrae motus factus est (magnus) steht folglich für die Hoffnung, dass die göttliche Strafe künftig alle Sünder vernichte. Diese Aussicht wurde schließlich gerade auch durch die Beobachtung weiterhin eintretender Erdbeben gestärkt.198 Hier schließt sich zunächst der
193 In Auslegung von Apk 11, 13 meint Caesarius von Arles: Expositio in Apocalypsim, VIIII, 241: in illa hora factus est terrae motus grandis, in illo terrae motu persecutio intellegitur, quam diabolus per malos homines exercere consuevit. Dt. Übersetzung: „In jener Stunde geschah ein gewaltiges Erdbeben. In dem Erdbeben wird jene Verfolgung erkannt, die der Teufel durch schlechte Menschen auszuüben pflegte.“ 194 Siehe auch GOETZ 2007a: 442; STRUVE 2002: 214–216, 219–223; zur politischen Inszenierung des Antichristen siehe HEIMANN 1995: 105. 195 ZATSCHEK 1944: 60. Dies intendiert auch der Text der Tiburtinischen Sibylle. Siehe rückblickend Kap. III. 3. 2. 1. b). 196 Siehe hierzu auch die Argumentation in Kap. IV. 3. 2. 2. 197 BERNHEIM 1918: 78 f.; siehe auch die Annales Sancti Disibodi: 22. 198 Empfehlenswert sei hier Christian von Stablo: Expositio in Matthaeum Evangelistam, 1455B: Terraemotus innumeri illic, et fiebant et fiunt. Aliquando autem et fiunt Dei iussu pro aliquo signo, sicut quando apostoli oraverunt, et terraemotus factus est, ut ostenderet Dominus quia terreret incredulos, et defenderet pios. Dt. Übersetzung: „Unzählige Erdbeben wurden und werden dort geschehen. Irgendwann aber wird auf Geheiß Gottes ein Zeichen stattfinden, wie zum Beispiel, als die
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
Kreis, in dem jene prominente Wortfolge die Aussicht der rechten Christen versinnbildlicht, bei der Wiederankunft Christi für erduldetes Leid belohnt zu werden.199 Der Schlüssel zu dieser Erfüllung wird in einer Adaption der vita christiana gesehen. Aus der Wendung terrae motus factus est magnus konnten diesbezüglich durchaus Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, um aus dem exemplum Christi eine individuell geglückte imitatio zu vollziehen. Exkurs: Typologische Interpretationen von Zeitangaben in Erdbebendatierungen Eine Passage aus Rupert von Deutz’ De divinis officiis soll nun die Aufmerksamkeit auf einen bislang ausgeblendeten Aspekt mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen lenken. Die Zeilen cuius in nocte Dominus noster cum terrae motu resurrexit, diem illum aeternitatis, diem significat futurae resurrectionis, cuius diluculo idem Dominum noster improvisus200 entstammen einem bereits herangezogenen Zitat. Im Rahmen seiner Beschreibung der Auferstehung Christi charakterisiert Rupert die Morgendämmerung (diluculo) sowie die Nacht der Auferstehung (nocte Dominus noster [. . .] resurrexit) zu inhaltlich mit dem Offenbarungsgeschehen Christi verbundene Zeitangaben. Im Besonderen sind diese Terminologien mit dem Osterfest verknüpft, weshalb die zitierte Passage auch aus Ruperts Ausführungen zur Osterliturgie in De divinis officiis entstammt. Somit sind beide erwähnten Zeitangaben nicht allein im Literalsinn mit dem Erdbeben zur Auferstehung verbunden. Vielmehr verweisen sie beispielhaft auf das Alltagsleben in Klöstern und Stiften, das auf eine Nachahmung des Lebens Christi angelegt war.201 Die einzelnen Stundengebete hatten die Funktion, den Tag anhand der verfügbaren und nach Jahreszeiten unterschiedlich langen Lichtzeit202 zu strukturieren. Das Tagesoffizium zu den kanonischen Stunden Matutin, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper sowie Komplet ist Ausdruck einer sich alltäglich im Kleinen vollziehenden imitatio christi.203 Insgesamt bilden die einzelnen Stundengebete symbolisch die
Apostel gebetet haben und ein Erdbeben geschah, weil er die Ungläubigen erschreckte und die Frommen verteidigte.“ 199 Cassiodor: Institutiones, 1, cap. 28. 7, 262: pro quibus in illo iudicio fructum multiplicata possitis mercede recipere! Dt. Übersetzung siehe ebd.: 263. 200 Rupert von Deutz: De divinis officiis, 7, cap. 17, 964. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 965. 201 Hinsichtlich der Nachahmung Christi siehe z. B. Augustinus: Enchiridion ad Laurentium, XIV, cap. 53, 78; ebenfalls hilfreich DOHRN-VAN ROSSUM 1992: 35. 202 DOHRN-VAN ROSSUM 1992: 35, 41, 43; GROTEFEND 2007: 22–24. Selbstverständlich haben mehrere Faktoren Einfluss auf die Tageslichtzeit. Besonders prägend ist hierbei natürlich der geographische Breitengrad eines Ortes. 203 Sichard von Cremona: Mitralis, IV, cap. 3, 240 f.: Cuius in hoc opere auctoritatem sequimur et misterium. In septem ergo canonicas horas dividitur diurnum officium, scilicet laudes, matutinas, pri-
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Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur allgemeinen Auferstehung ab.204 Hieronymus’ Aussage: cotidie nobis Xpistus crucifigitur,205 zu lesen in seinem Kommentar zu Psalm 95, sollte daher gerade auch unter den Vorzeichen einer täglich praktizierten Liturgie gelesen werden. Die Angabe verschiedener Horen,206 vor allem der vesper,207 zur zeitlichen Präzisierung eines Erdbebens ist regelmäßig in annalistischen und chronikalischen Quellen zu finden. Gemeinsam mit anderen, etwas weicher definierten Zeit-
mam, tertiam, sextam, nonam, vesperas et completorium. Septies quippe in die laudes Domino dicimus propter septem ętates sęculi vel hominis vel septiformem gratiam Spiritus sancti vel septem misteria Iesu Christi. Quilibet enim dies totum repręsentat huius sęculi tempus, quod per septem intervalla distinguitur. Dt. Übersetzung siehe Sicard von Cremona: Mitralis, 310. 204 Sichard von Cremona: Mitralis, IV, cap. 3, 241: Dies etiam vitam uniuscuiusque hominis repręsentat, quę septem ętatibus variatur. Ergo per matutinam commemoramus infantiam, per primam pueritiam, per tertiam adolescentiam, per sextam iuventutem, per nonam senectutem, per vesperam senium, per completorium finem vitę. Ergo septies, id est semper, quia, dum septies in die laudem Domino dicimus, totum sęculi tempus et totam vitam hominis ad Deum referendam notamus. Dt. Übersetzung siehe Sicard von Cremona: Mitralis, 310 f. Analog entsprechen die sieben Stundengebete also auch den sieben Altersstufen. 205 Hieronymus: Tractatus in Librum Psalmorum, XCV, 138: Cotidie nobis Xpistus crucifigitur: nos mundo crucifigimur, et Xpistus in nobis crucifigitur. Felix est, in cuius corde cotidie Xpistus resurgit: si cotidie pro peccatis suis etiam levibus agit paenitentiatn. Felix est, qui cotidie de monte Oliveti ascendit ad regna caelorum, ubi sunt olivae Domini uberes, ubi lumen Xpisti nascitur, ubi sunt oliveta Domini. Dt. Übersetzung siehe Hieronymus: Ausgewählte Schriften, 208. Die Schreibweise Xpistus beruht auf dem Christusmonogramm. 206 Hinsichtlich der Matutin: [EB 858]: Annales Xantenses: 19; [EB 1117]: Chronicon Duchesne: Appendix I, 497; zur 10. Nachtstunde: [EB 849]: Annales Floriacenses: 218; 1. Stunde des Tages: [EB 872]: Annales Fuldenses: 77; [EB 1214]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio III: 237; [EB 1223]: Chronica regia Coloniensis, Continuatio IV: 252; [EB 1237]: Annales Seldentalenses: 527; Annales Caesarienses: 29; Annales Neresheimenses: 23; zur 6. Stunde: [EB 1225]: Kroniek van het klooster Bloemhof te Wittewierum: 210; zur Non: [EB 1117]: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 277; 10. Stunde des Tages: [EB 1021]: Annales Hildesheimenses: 32; Annales Altahenses maiores: 17; [EB 1035]: Die Corveyer Annalen: 126; [EB: 1117]: Auctarium Zwetlense: 540; letzte Stunde des Tages: [EB 1161]: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279. 207 Die Datierung zur vesper ist nicht alleine durch die Überlieferungstradition des Erdbebens von 1117 bestimmt. Siehe [EB 838]: Annales Fuldenses: 28; [EB 1117]: Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334; Zwiefaltener Chroniken Ortliebs und Bertholds: 218; Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42; Chronicon Duchesne: Appendix I, 497; Annales S. Stephani Frisingensis: 53; Cosmas von Prag: Chronik, 217; Annalista Saxo: 558 f.; Joannis Staindelius Presbyter Patavensis: Chronicon Generale, 489; Notae Halesbrunnenses: 13; Annales Sancti Dionysii Remenses: 83; Annales Remenses et Colonienses: 732; Chronicon breve Cremonese ab Anno 1096 ad Annum 1232: 634; Annales Mediolanenses brevissimi: 391; Chronica romanorum pp. et imperatorum (Cronica S. Mariae de Ferraria): 16; [EB 1152]: Annales Admuntenses, ÖNB, Cod. 340, f. 2r; Annalium Salisburgensium Additamentum: 238; [EB 1161]: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279; [EB 1163]: Annales Admuntenses a. 1140–1250 (Continuatio Admuntensis): 583.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
angaben, wie „zum Hahnenschrei“,208 „zum Sonnenaufgang“209 oder „am Tag“,210 bilden sie ein breites Spektrum an Bezeichnungen, welche maßgeblich das Sonnenlicht als Bemessungsgrundlage annehmen.211 Allerdings blieb auch die „schreckliche“ Zeit212 der Nacht zur Datierung von Erdbeben nicht unbeachtet. Insgesamt betrachtet, weiß die Anzahl von Erdbeben, die sich „in der Nacht“213
208 Mit dem Hahnenschrei (primum gallorum cantum) werden folgende Beben datiert: [EB 849]: Walahfrid Strabo: Vademecum, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 878, 305; [EB 881]: Annales Fuldenses: 97; Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi: 108; [EB 944]: Annales Sangallenses maiores: 285; [EB 1117]: Annales S. Blasii et Engelbergenses: 277; Auctarium Zwetlense: 540; [EB 1162]: Annales S. Blasii et Engelbergenses: 279. 209 Orto sole [EB 799]: Notae Wissenburgenses: 405; solis occasum [EB 1117]: Annales Pegavienses et Bosovienses: 253; Chronica S. Petri Erfordensis moderna: 162; ante ortum solis: [EB 1223]: Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, 1994. 210 [EB 858]: Annales Bertiniani: 76; [EB 1117]: Annales Sancti Disibodi: 22; Casus monasterii Petrishusensis: IV, cap. 2, 174; Annales Zwifaltenses maiores: 55; Annales Scheftlarienses maiores: 336; Ex Chronographia Heimonis presbyteri Sancti Michaelis Babenbergensis: 3; Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 774; [EB 1127]: Annales Scheftlarienses maiores: 336; Auctarium Garstenses: 569; Annales Ratisponenses (Codex Monacensis): 585; Annales Admuntenses: 578. 211 Zeitangaben, welche den Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang meinen, jedoch nicht wörtlich bezeichnen, wurden für die weitere Untersuchung einer dieser beiden Kategorien zugeordnet. Dies betrifft z. B. Angaben wie „vor“ oder „nach“ Tagesanbruch. Siehe: ante diluculum: [EB 858]: Annales Xantenses: 19; [EB 1214]: Chronica regia Coloniensis: 192; „nach Tagesanbruch und erster Messe” post diluculum ante prima missam: [EB 1237]: Annales Augustani minores: 9; „zur Abenddämmerung” crepusculo: [EB 978]: Annales Sancti Nazarii: 33; [EB 1117]: Chronicon Duchesne: Appendix I, 497; [EB 1248]: Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 790; „Nacht vor dem Tag“ nocte ante diem [EB 1117]: Annales S. Stephani Frisingensis: 53; „gegen Abend“ circa sero: [EB 1225]: Annales Marbacenses: 91. 212 BOIADJIEV 2003: 12, 61, 65; DINZELBACHER 1996: 13, 65, 83; Prudentius: Cathemerinon 1, 6: peccata, ceu nox horrida. 213 [EB 823]: Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XXXVII, 420; [EB 829]: Annales regni Francorum: 176 f.; Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XLIII, 450; Annales Fuldenses: 25; [EB 845]: Annales Xantenses: 14; [EB 849]: Annales Bertiniani: 56; Annales Floriacenses: 218; [EB 858]: Annales Bertiniani: 76; Annales Xantenses: 19; [EB 1048]: Hermann von Reichenau: Chronica de sex aetatibus mundi, 128; Annales Augustani: 126; [EB 1081]: Sigebert von Gembloux: Chronographia, 364; Annales Blandinienses: 29; Annales Elmarenses: 94; [EB 1088]: Historia de Landgraviis Thuringiae: 360; [EB 1092]: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz: 498; [EB 1117]: Annales Sancti Disibodi: 22; Casus monasterii Petrishusensis: IV, cap. 2, 174; Annales Zwifaltenses maiores: 55; Annales Scheftlarienses maiores: 336; Ex Chronographia Heimonis presbyteri Sancti Michaelis Babenbergensis: 3; Annales Sancti Rudperti Salisburgenses: 774; [EB 1127]: Annales Scheftlarienses maiores: 336; Auctarium Garstenses: 569; Annales Ratisponenses (Codex Monacensis): 585; Annales Gotwicenses: 601; Annales Admuntenses: 578; [EB 1128]: Annales S. Blasii et Engelbergenses: 278; [EB 1158]: Annales S. Blasii et Engelbergenses: 279; [EB 1175]: Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279; [EB 1179]: Annales Elmarenses: 114; Annales Aquenses: 38; [EB 1183]: Continuatio Claustroneoburgensis tertia: 633; Annales S. Stephani Frisingensis: 54; [EB 1189]: Annales Scheftlarienses maiores: 337; [EB 1248]: Hermann von Niederaltaich: Annales, 394; Annales Osterhovenses (= Chronicon Osterhoviense), 545.
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oder „zu Mitternacht“214 ereigneten, durchaus zu überraschen. Die erhöhte Wahrnehmbarkeit vor allem schwächerer seismischer Erschütterungen dürfte maßgeblich in einer ruhenden Körperhaltung und fehlendem Alltagslärm begründet liegen. Dieses Beobachtungsmuster ist zeitlos und ist ebenso für die Bestimmung makroseismischer Intensitäten von modernen Erdbeben grundlegend.215 In Gänze lässt sich an gut jeder dritten Beschreibung des untersuchten Quellencorpus eine dieser Zeitangaben ablesen. Hierbei sind durchaus regionale Schreibgewohnheiten, wie zum Beispiel in den Annalen des Klosters Engelberg,216 nachzuweisen. Allgemeinhin lässt sich ein gleichmäßig verteilter Befund für den gesamten Untersuchungszeitraum feststellen. Eine Ausnahme bilden lediglich Quellen, die verschiedene Bezeichnungen für den Sonnenuntergang zur Datierung von Erdbeben verwenden.217 Es ist zu beobachten, dass maßgeblich hochmittelalterliche Erdbeben in dieser Weise datiert wurden. Im Frühmittelalter findet sich ein gleichlautender Beleg ausschließlich für die Erdbeben von 838 und 978.218 Die bisherige Forschung hat sich dieser spezifischen Quellenlage vor allem aus ereignisgeschichtlicher Sicht genähert und die Zeitangaben überwiegend als technisches Mittel zur Strukturierung des Tages und der Nacht verstanden.219 Hierbei blieb indes unberücksichtigt, dass mit der liturgischen Funktion der einzelnen Stundengebete primär eine besondere exegetische Botschaft verbunden ist. Deren Einfluss auf die zeitgenössische Interpretation und die schriftliche Überlieferung von Erdbeben gilt es nun zu erhärten. Zweifellos stellt die spezifische Datierungsangabe, welche ein Schreiber in seinem Bericht angibt, die tatsächliche Existenz eines Erdbebens nicht in Frage. Den-
214 Diesbezüglich ist ein Berichtsschwerpunkt im 12. Jahrhundert feststellbar. [EB 1095]: Sigebert von Gembloux: Chronographia, 367; [EB 1117] Guido von Pisa: Notula, 285; [EB 1127]: Annales S. Blasii et Engelbergenses, 278; [EB 1134]: Annales S. Blasii et Engelbergenses: 278; [EB 1162]: Annales S. Blasii et Engelbergenses: 279; [EB 1167]: Chronica regia Coloniensis: 117; [EB 1170]: Annales S. Blasii et Engelbergenses: 279; [EB 1189]: Annales Sancti Disibodi: 30. 215 Siehe GRÜNTHAL et al. 1998b: 17 f., 99. 216 Die Annales S. Blasii et Engelbergenses zeichnen sich insgesamt durch eine möglichst genaue Zeitangabe der überlieferten Erdbeben aus. Ausnahmslos alle elf Einträge, in denen diese Annalen Erdbeben überliefern, erfolgen mit der Angabe einer Tages- oder Nachtzeit. 217 Dies umfasst die Bezeichnungen Abend, Non, vesper, Dämmerung, 10. Stunde des Tages und letzte Stunde des Tages. 218 In dieser Weise datiert wurden die überlieferten Erdbeben von 838, 978, 1021, 1035, 1117, 1152, beide Beben in 1161, 1163 sowie 1225 und 1248. Hinsichtlich der Belegstellen sei auf den vorangehenden Anmerkungsapparat verwiesen. 219 Siehe vor allem GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 34; GUIDOBONI, EBEL 2009: 284–294 sowie die ausführlicher Zusammenfassung verschiedener Datierungsstile in GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 39–42. Die ereignisgeschichtliche Überbewertung von Tagesangaben bei gleichzeitiger Ausblendung von deren exegetischer Aussage kann als wesentlicher Schwachpunkt der These eines süddeutschen Erdbebens am 3. Januar 1117, wie sie GUIDOBONI formuliert, angesehen werden. Vgl. GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 89; GUIDOBONI, EBEL 2009: 289–292.
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noch kann die allegorische Aussage einer einzelnen Tages- und auch Nachtzeit sehr wohl die zeitgenössische Sichtweise auf ein eingetretenes Erdbeben beeinflussen. So bestärkt etwa die Angabe einer nächtlichen Erschütterung, zumal wenn sie während der „Heiligen drei Tage“ beobachtet wurde, gewiss den Osterbezug. In der Nacht wurde im exegetischen Verständnis220 der biblischen Überlieferung Jesus Christus geboren. In dieser Zeit stieg er von den Toten auf und zur Nachtzeit wird auch seine Wiederkunft erwartet.221 Die argumentative Amplifikation durch die Angabe dieser Zeiten ist zumindest für die Erdbeben von 829 und 845 belegt. Die überlieferten Erschütterungen geschahen in der Nacht zwischen Karsamstag und Ostersonntag. Die Formulierungen ante sanctum pascha diebus222 bzw. in nocte sancta resurrectionis Christi223 verweisen dabei auf den allegorischen Übergang vom Tod zur Auferstehung, wie er die Bedeutung dieser Nacht bestimmt.224 Die genannten Beispiele stellen folglich einen unmittelbaren Bezug zu den biblisch überlieferten Ereignissen der Osternacht her. Einer weiteren narrativen Ausführung bedurfte es seitens des Schreibers nicht. Dem christlichen Menschen des Mittelalters genügte diese Angabe zur weiteren individuellen heilsgeschichtlichen Bewertung. Die Symbolik nächtlicher Erdbeben war den Zeitgenossen schließlich auch aus der Apostelgeschichte geläufig.225 Die Erinnerung an die Auferstehung Christi, wie sie in der
220 Sehr wohl bot der genaue Zeitpunkt der Auferstehung ausreichend exegetischen Diskussionsstoff. Siehe hierzu Augustinus: De consensu evangelistarum, III, cap. 24 (65.), 354–356 sowie besonders Sichard von Cremona: Mitralis, VI, cap. 15, 529: ‚Resurrectio‘ dicitur, quoniam hac die Dominus resurrexit. Sed quęritur, utrum in nocte vel qua hora Dominus resurrexerit? Respondeo: Secundum Ieronimum, Ambrosium et Gręcum sermonem, quod noctis tempus elegit. Hic est enim Samson, qui ab inimicis obsessus nocte portas tulit et in verticem montis ascendit. Samson interpretatur ‚sol eorum‘. Hic est Christus, sol iustitię, qui custodibus obsessus et armis media nocte a somno mortis exsurgens portas inferni, ius mortis auferens ad dextram Patris ascendit. Dt. Übersetzung siehe Sicard von Cremona: Mitralis, 608. 221 Hinsichtlich der Vigilien schreibt Hrabanus Maurus auf Grundlage von Mk 13, 35 in De institutione, 2, cap. 9, 260: Vigilate ergo, nescitis enim quando dominus veniat: sero, an media nocte, an galli cantu, an mane; dt. Übersetzung siehe ebd.: 261; Isidor: Etymologiae, VI, cap. XVII, 12: Cuius noctis duplex ratio est: sive quod in ea et vitam tunc recepit, cum passus est sive quod postea eadem hora, qua resurrexit, ad iudicandum venturus est. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie: 226. Bei Rupert von Deutz gewinnt indes der Zeitpunkt der Mitternacht deutlich an Gewicht. Siehe De divinis officiis, 1, cap. 8, 162: Nam Dominus noster media nocte de Virgine natus [. . .] media nocte confractis portis inferi surrexit a mortuis. Media nihilominus nocte venturus asseritur in similitudinem Aegyptii temporis. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 163. Ähnlich Sichard von Cremona: Mitralis, VI, cap. 15, 529. 222 [EB 829]: Annales regni Francorum: 176; Annales Fuldenses: 25; ähnlich Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, cap. XLIII, 450. 223 [EB 845]: Annales Xantenses: 14. 224 Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 38, 344: Hic autem dies inter mortem domini et resurrectionem medius est. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 345. 225 Act 16, 23–26; siehe besonders Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 9, 260, 262.
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Liturgie der durchwachten Osternacht226 oder dem sogenannten Offertorium terra tremuit227 greifbar wird, erfährt in der Überlieferung der beiden Erdbeben von 829 bzw. 845 eine zusätzliche Bekräftigung, indem sich die Autoren bewusst für die Wendung terrae motus factus est entscheiden. Hinsichtlich des Ereignisses von 845 führt nicht zuletzt dieser Umstand zu einer Einstufung als falsches Erdbeben.228 Die affirmative Botschaft der Auferstehung,229 auf welche die Wendung terrae motus factus est hinweist, übertrug das Mittelalter gleichsam auf die Datierung des Hahnenschreis. Dem mittelalterlichen Menschen signalisierte dessen Ruf nicht nur das nahende Ende der gefürchteten und als unbestimmt empfundenen Nacht.230 Sein Krähen ist, als Ausdruck einer gewiss bald zu erwartenden Ankunft des neuen Tageslichts, sowohl ein Indiz für den Zeitpunkt der Auferstehung231 als auch für die Rückkehr Christi.232 Dieses akustische Sinnbild der Theophanie beglaubigt somit im
226 Isidor: Etymologiae, VI, cap. XVII, 12: Cuius nox ideo pervigilia ducitur, propter adventum regis ac Dei nostri, ut tempus resurrectionis eius nos non dormientes, sed vigilantes inveniat. Dt. Übersetzung siehe Isidor von Sevilla: Enzyklopädie: 226. Ebenfalls schreibt Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 38, 344: In hac die cum omni silentio et tranquillitate oportet nos manere, et cum oratione et psalmodia sanctam resurrectionis horam exspectare; dt. Übersetzung siehe ebd.: 345; gleichfalls: ebd.: 2, cap. 38, 346; Rupert von Deutz: De divinis officiis, 1, cap. 8, 164. 227 Das Offertorium terra tremuit ist ein auf Ps 75, 9–10 basierender gregorianischer Gesang während des österlichen Gottesdienstes. Es lautet: Terra tremuit, et quievit, dum resurgeret in judicio Deus, alleluja. Für die Verwendung in der mittelalterlichen Liturgie siehe besonders Sichard von Cremona: Mitralis, VI, cap. 15, 542 f.: Offerenda ‚Terra tremuit‘ vel dicitur de terręmotu, qui fuit, cum Dominus resurrexit, vel de illa die, quando faciet auditum iudicium. Dt. Übersetzung siehe Sicard von Cremona: Mitralis, 623; ebenso Honorius Augustodunensis: Gemma Animae, 695C-696A. Für den Gebrauch in der gegenwärtigen Liturgie der Römisch-Katholischen Kirche siehe Missale Romanum: 352. Hinsichtlich einer auf Erdbeben entwickelten Liturgie in der orthodoxen Kirche siehe WALDHERR 2016: 86. 228 Siehe Kap. III. 3. 2. 1. a). 229 Wohlgemerkt zum Tagesanbruch wird deshalb gebetet, um die Auferstehung Christi zu feiern. Siehe hierzu Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 2, 252: Diluculo autem proinde oratur, ut resurrectio Christi celebretur. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 253. Siehe auch Sichard von Cremona: Mitralis, IV, cap. 6, 257: In dominicis vero diebus et pręsertim a Septuagesima usque ad Pasca novem psalmos dicimus, ut cum novem ordinibus angelorum in resurrectionis gaudio Trinitatem laudare possimus. In primis quinque ‚Deus Deus meus‘ et sequentibus de Christi passione cantatur, quia per meritum quinquepartitę passionis pervenit Christus ad gloriam resurrectionis, quod et nobis speremus, si eum imitari volumus. Dt. Übersetzung siehe Sicard von Cremona: Mitralis, 326. 230 Das Motiv des Hahnenschreis als allegorischer Verweis auf Christus findet sich auch in der christlichen Hymnendichtung wieder. Siehe z. B.: Prudentius: Cathemerinon 1, 6 sowie Ambrosius von Mailand: Ad Galli Cantum (Aeterne rerum conditor), 4. (1.), 6., 11. 231 Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 2, 252: Matutina enim luce radiante dominus et salvator noster ab inferis resurrexit, quando coepit oriri fidelibus lux, quae moriente Christus occiderat peccatoribus. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 253. Für Rupert von Deutz war die Auferstehung zum Hahnenschrei bereits geschehen. Für ihn bedeutet der neue Morgen die Freude über die vollzogene Auferstehung. Siehe Rupert von Deutz: De divinis officiis, 1, cap. 6, 160. 232 Prudentius: Cathemerinon 1, 7.
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Rahmen des christlichen Weltverständnisses durch seine alltägliche Wiederholung den symbolischen Zeitpunkt der zweiten Parusie Christi.233 Der Hahnenschrei prophezeit folglich auch die künftige Präsenz des richtenden Gottessohns,234 mit welcher die Herrschaft des Antichristen enden wird und das Jüngste Gericht mit der allgemeinen Auferstehung beginnen kann.235 In der Überlieferung eines Erdbebens durch die Annales Sangallenses maiores kann dieses spezifische Motiv einer Theophanie sogar in doppelter Weise erkannt werden. Der annalistisch kurze Eintrag zum Jahr 944 lautet: terrae motus factus est III feria paschae circa pullorum cantum, XVI. kal. Maii.236 Der komprimierte Inhalt der Quelle sollte nicht über den reichen Sinn seiner Aussage hinwegtäuschen. So genügt es dem St. Gallener Annalisten keineswegs, den Osterdienstag (III feria237 paschae) als Datierung anzugeben. Mittels der Wendung terrae motus factus est sowie der Zeitangabe des Hahnenschreis setzt der Autor die Überlieferung dieses Erdbebens in Analogie zu den durch die Heilige Schrift verbürgten Ereignissen jenes Tages. Der Ausdruck „Dienstag nach Ostern“ ist also im Kontext der Auferstehung Christi zu lesen. Wie schon bei dem vorangegangenen Abendmahl in Emmaus238 erschien an diesem Abend der auferstandene Jesus erneut den Jüngern, um seine Auferstehung und somit die Erfüllung der Prophezeiung zu bekräftigen.239 An diese biblisch überlieferte Parusie wird alljährlich in der Liturgie des Osterdienstags240 erinnert. Die Beschreibung des Erdbebens von 944 in den Annales Sangallenses maiores versucht an diese Praxis anzuknüpfen. Der Eintrag kann somit durchaus als Beispiel für die annalistische Formulierung einer mittelalterlichen Parusieerwartung verstanden werden. Die unvorbereitet zu erwartende zukünftige Erscheinung Christi, auf welche nicht nur die biblische Emmaus-Geschichte, sondern generell das überraschend willkürliche Eintreten von Erdbeben241 exemplarisch hinzuweisen versteht, war schließlich ein fester Bestandteil christlich-mittelalterlicher Weltauslegung.242 Für den Zeitgenossen artikuliert sich darin erneut die Handlungsempfehlung, den Blick auf das Himmlische zu richten und nach einem Platz
233 Prudentius: Cathemerinon 1, 7. 234 Prudentius: Cathemerinon 1, 5. 235 Rupert von Deutz: De divinis officiis, 7, cap. 17, 964. 236 Annales Sangallenses maiores: 285. 237 Hinsichtlich dieses Terminus siehe GROTEFEND 2007: 18. 238 Lk 24, 12–35; Act 13, 26–33. 239 Lk 24, 36–47. 240 Für die Liturgie zu Osterdienstag siehe Missale Romanum: 355 f. An diesem Tag wird wohlgemerkt unter anderem aus Act 13, 26–33 und Lk 24, 36–47 gelesen. Siehe auch Rupert von Deutz: De divinis officiis, 1, cap. 6, 160. 241 Zumal wenn die Überlieferung mittels terrae motus factus est geschieht. 242 Siehe erneut Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 9, 260.
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zur Rechten Gottes zu streben.243 Die typologische Sinnebene des Hahnenschreis entfaltet angesichts des monastischen Adressatenkreises der Annales Sangallenses maiores somit eine anagogische Aussage. Es ist offensichtlich, dass der in St. Gallen wirkende Schreiber das symbolträchtige Datum des Erdbebens nutzte, um subtil eine kontemplative Lebensführung in Erinnerung zu rufen. Einmal mehr würde er sich mit dieser Interpretation im Rahmen der Liturgie des Osterdienstages bewegen.244 Den bislang erläuterten mittelalterlichen Datierungszeiten von Erdbeben ist prinzipiell eine positive Botschaft gemeinsam. Mit der Angabe vesper wird hingegen eine abweichende Lesart intendiert. Mit dem Verschwinden des Tageslichts verweist diese Hore auf den Abend der Welt.245 Die vesper steht allegorisch für die Zeit als Jesus Christus zu Grabe getragen wurde.246 Sie versteht sich somit in typologischer Analogie gleichfalls als Zeichen für den menschlichen Lebensabend.247 Mit der vesper beginnt also nicht nur die Nacht, es beginnt auch die Herrschaft des Antichristen und damit die Zeit der Bestrafung.248 Diese Auslegung, wie sie Hrabanus Maurus in De universo epochenübergreifend formulierte, kann sehr wohl eine eschatologisch motivierte Geschichtsdeutung von Erdbeben verstärken. Angesichts der Quellenlage ist diese Annahme sogar zu unterstreichen. So findet sich die Tageszeitdatierung der vesper, abgesehen von einer Beschreibung für das Jahr 838, ausschließlich in Einträgen des 12. Jahrhunderts.249 Trotz eines eindeutigen Überlieferungsschwerpunkts in den Erdbebenbeschreibungen zu 1117 ist diese Datierungsweise bis 1163 noch für drei weitere seismische Erschütterungen, welche in Engelberg und Admont festgehalten wurden, bekannt. In Anbetracht der zahlreichen Beispiele einer eschatologisch aufgefassten Geschichtstheologie aus den Federn von Otto von Freising, Ekkehard von Aura bzw. Gerhoch von Reichersberg, welche alle bereits Gegenstand dieser Untersuchung waren, sollte auch die Erdbebendatierung mittels der Angabe vesper als spezifischer Ausdruck des 12. Jahrhunderts interpretiert werden.
243 Kol 3, 1–2: Igitur si consurrexistis Christo quae sursum sunt quaerite ubi Christus est in dextera Dei sedens quae sursum sunt sapite non quae supra terram. 244 Dies bezieht sich auf die Botschaft von Kol 3, 1–2. Auch dieser Vers wird in der Messe zu Osterdienstag gelesen. Siehe Missale Romanum: 356. 245 Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 7, 256: Vespertinum officium in diurnae lucis occasu est [. . .] ut tempus ipsud sacrificii vesperum ostenderet saeculi. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 257. 246 Rupert von Deutz: De divinis officiis, 1, cap. 6, 160: Item in vespera sepelitur. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 161. 247 Eucherius von Lyon: Formulae spiritalis intellegentiae, 13. 248 Hrabanus Maurus: De universo, 275A-B: Vespere vero aut finem mundi et adventum Antichristi significat, aut occubitum mortis Redemptoris nostri. Dt. Übersetzung: „Die Abendzeit bedeutet in der Tat entweder das Ende der Welt und die Ankunft des Antichristen oder den niedergesunkenen Leichnam unseres Erlösers.“ Überaus informativ ist die schematische Auflistung von allegorischen Bedeutungen der einzelnen Nachtwachen in CLASSEN 1960: 295. 249 Siehe Belegapparat in Anm. 207.
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3.2.2 Die moralisch-tropologische Auslegung – terrae motus factus est magnus als Handlungsaufforderung zur imitatio Christi Contemplando quid fecerit Deus, quid nobis faciendum sit agnoscimus.250 Die tropologische Auslegung lehrt den Weg zur imitatio Christi. Für die christliche Lebensführung definiert sich auf diese Weise eine moralische Handlungsempfehlung,251 welche sich aus der Botschaft der überlieferten biblischen Ereignisse ableitet. Christus selbst sei in seinem Tun der Spiegel für uns selbst, schrieb Alanus ab Insulis.252 Ähnlich, wie die Allegorie den Buchstaben auf Christus hin erklärt, bezweckt die tropologische Exegese, das Beispiel Christus auf das eigene Verhalten zu übertragen und eine Möglichkeit zur Besserung aufzuzeigen. Auf diese Weise stellte sie bei Bedarf Ratschläge zur Alltags- und Problembewältigung bereit.253 Für den gläubigen Menschen zeigt das aus der Selbstreflektion geborene Gefühl innerer Unruhe an, dass Gott in einem selbst arbeitet.254 Im Inneren des Menschen, welches im
250 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 5, 384; dt. Übersetzung siehe ebd.: 385. Ähnlich schreibt Hugo in De tribus maximis, 491: Tropologia est cum in eo quod factum audimus, quid nobis sit faciendum agnoscimus. Unde etiam recte tropologia, id est, sermo conversus sive locutio replicata, nomen accepit, quia nimirum alienae narrationis sermonem ad nostram tunc eruditionem convertimus, cum facta aliorum legendo ea nobis ad exemplum vivendi conformamus. Als Teil karolingischer Herrscherethik schrieb Hinkmar von Reims: De ordine palatii, cap. II, 44 mit Blick auf das Amt des Bischofs: sicut de Christo, qui sequi se, id est imitari, praecepit, scriptum est, quae coepit Jesus facere et docere. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 45. 251 Hinsichtlich dessen sei Hugo von St. Viktor: Didascalicon, V, cap. 3, 322 und VI, cap. 3, 368 nahegelegt. 252 Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, I, 64: Sit speculum nobis, ut nos speculemur in illo / Que sit nostra fides, que nostra potencia, virtus. Dt. Übersetzung siehe Alanus ab Insulis: Anticlaudian: 115. Ähnlich Gregor der Große: Moralia in Iob, II, cap. 1 (1.), 59: Scriptura sacra mentis oculis quasi quoddam speculum opponitur ut interna nostra facies in ipsa videatur. Frz. Übersetzung siehe Grégoire le Grand: Morales sur Iob (I, II), 180. 253 Besonders Cassianus: Conlationes, XIIII, cap. VIII. 3, 405: tropologia est moralis explanatio ad emundationem vitae et instructionem pertinens actualem. Sowie ebd.: VIII. 6, 406. Frz. Übersetzung siehe Cassien: Conférences (VIII–XVII), 190. 254 Augustinus: Sermones, XIII. 3, 178: Servite domino in timore et exultate ei cum tremore, apostolum audite haec ipsa verba dicentem, et sententiam cur dicta sit explanantem. Ecce apostoli verba sunt: Cum timore et tremore vestram ipsorum salutem operamini. ‚Quare ergo cum timore et tremore meam salutem operor, cum sit in potestate mea operari salutem meam?‘ Vis audire quare cum timore et tremore? Deus est enim qui operatur in vobis. Ideo cum timore et tremore. Quia quod impetrat humilis, amittit superbus. Si ergo deus est qui operatur in nobis. Frz. Übersetzung siehe Augustin: Sermons. Première série, 63 f. Gleichfalls Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 5, 520 f.: Quoniam Christus in cuiusque corde per fidem est, significatum est nobis, quia eius cor tanquam navis in huius saeculi tempestate turbatur, qui fidem suam obliviscitur, tanquam Christo dormiente turbatur; excitato autem Christo, fit tranquillitas. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 156. Augustinus argumentiert in beiden Beispielen im Sinne einer christlichen Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik. Ähnlich, aber mit Bezug auf die Kreuzigung, schreibt Christian von Stablo: Expositio in Matthaeum Evangelistam, 1493B.
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Sinne christlicher Glaubensauffassung auf Schuld und Leiden, aber auch auf Gnade, Erlösung und Hoffnung verweist,255 zeigt sich Christus.256 Der Gottessohn gibt durch seinen Tod am Kreuz ein Beispiel im Leiden und offenbart gleichzeitig einen Ausweg in der glücklichen Auferstehung. In diesem Satz des Hrabanus Maurus257 entfaltet sich die moralische Lehre, auf welche besonders die Erdbeben des Neuen Testaments verweisen. Hierin begründet sich gleichwohl der Beweischarakter einer tropologischen Argumentationsführung, wenn der Autor mittels eines Erdbebens eine Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik konstruiert,258 um die Gemüter der Menschen wachzurütteln und beispielsweise auf die christliche Tugend der Demut hinzudeuten.259 Diese Ebene des Arguments „Erdbeben“ dient somit prinzipiell auch der Ermahnung.260 Später werden wir auf das Verhältnis von admonitio und seismischer Erschütterung weiter eingehen. Erdbeben als Ausdruck der Gegenwart Gottes wurden also nicht nur als göttliche Sanktion verstanden. Im Sinne mittelalterlicher Exegese soll die durch Beben
255 Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 37, 336, 338: Ascendit enim in crucem Christus, ut nobis passionis et resurrectionis praeberet exemplum; passionis ad firmandam patientiam, ressurectionis ad excitandam spem, ut duas vitas nobis ostenderet in carne: unam laboriosam, alteram beatam; laboriosam, quam tolerare debemus, beatam, quam sperare debemus. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 337, 339. 256 Eph 3, 17: habitare Christum per fidem in cordibus vestris sowie die Erläuterungen zur sogenannten christlichen Leibmetaphorik im Kap. IV. 1. 257 Hrabanus Maurus: De institutione, 2, cap. 37, 336, 338. Auch Augustinus spricht diesen Aspekt in den Enarrationes in Psalmos 2, Ps. LXXIV. 6, 1028 f. an, wenn er meint: quia quodam terrae motu etiam ipsae columnae nutaverunt; in passione Domini omnes apostoli desperaverunt. Ergo columnae illae quae passione Domini nutaverunt, resurrectione firmatae sunt. Dt. Übersetzung: „Weil sogar durch ein gewisses Erdbeben selbst die Säulen wankten, haben im Leiden des Herrn alle Apostel die Hoffnung verloren. Deshalb sind jene Säulen, die bei der Passion des Herrn gewankt haben, mit der Auferstehung gestärkt worden.“ 258 Diesbezüglich sei an die Ausführungen in Kap. III. 3. 2 erinnert. 259 So versteht Anselm von Laon die Erdbeben zur Kreuzigung und zur Auferstehung als Aufforderung zur Buße. Siehe Enarrationes in Evangelium Matthaei, 1494A: Et ecce terraemotus factus est magnus, etc. Quod in resurrectione sicut in passione fit terrae motus, significat corda prius terrena, et coelesti spe dejecta, per fidem passionis et resurrectionis ad poenitentiam esse commovenda. Dt. Übersetzung: „Und siehe da, es geschah ein schweres Erdbeben, etc. Deshalb wird zur Auferstehung sowie zur Passion ein Erdbeben geschehen. Es zeigt die ältere weltliche Gesinnung und die geraubte himmlische Hoffnung, dass durch den Glauben an die Passion und die Auferstehung zur Buße angeregt werden soll.“ Ebenfalls sehr zutreffend Augustinus: Sermones, XIII. 3, 178. 260 In seiner Auslegung der Offenbarung des Johannes schreibt Anselm von Laon: Enarrationes in Apocalypsin, 1543A: Ecce de tertia visione fulgura, miracula, ut praedictum est per angelos, et voces, admonitiones, et terraemotus quidam sunt moti ad bonum, quidam non, et grando magna, quia praedicatio puniens et contundens visa est intolerabilis. Dt. Übersetzung: „Sieh da, die dritte Vision von Blitzen und Wundern, wie sie die Engel vorhersagten, bewegte einige sowohl durch Worte und Ermahnungen, als auch durch Erdbeben zum Guten und manche nicht.“ Ähnlich auch ebd.: 1559C. Hinsichtlich von Erdbeben infolge eines nicht vorhandenen Besserungswillens des Geistes siehe ebenso Gregor der Große: Moralia in Iob, XXXV, cap. XIV (26.), 1791.
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illustrierte Theophanie gleichsam das Gottvertrauen festigen261 und den Glauben an die Barmherzigkeit Gottes stärken.262 Die Tropologie ist in diesem pädagogischen Motiv mit den Ansprüchen mittelalterlicher Geschichtsschreibung verbunden, gilt es doch, durch einen konsolidierten Glauben zur guten Tat geführt zu werden.263 Erdbeben gelten also nicht alleine der Erschütterung der Sünder. Die Botschaft aus einer Wendung wie terrae motus factus est ist zugleich eine Prüfung im Glauben.264 Sie weist stets auf die noch ausstehende, aber für die mittelalterlichen Zeitgenossen durchaus gewisse Trennung zwischen den rechtschaffenden und den schlechten Menschen hin.265 Besonders in der Apostelgeschichte wird diese positive Auslegung von Erdbeben vermittelt. Der Grundsatz, wonach sich Gott in Wundern offenbart,266 wird hier maßgeblich auf das Eintreten von Erdbeben übertragen. Schließlich befreit ein Erdbeben Paulus aus dem Gefängnis, nachdem dieser Litaneien angestimmt hatte.267 In Analogie zum Tod Christi betont ein Erdbeben auch den Moment, als der heilige Paulus stirbt.268
261 Remigius von Auxerre: Enarrationes in Psalmos, 481B: terra mota est, id est, terreni movebuntur, cum tu, o Deus, egredieris in conspectu populi tui, id est, cum per bona opera intelligeris esse in notitia populi tui. Dt. Übersetzung: „Die Erde ist bewegt worden, das heißt die Irdischen werden bewegt worden sein, mit dir, oh Gott, als du deinem Volk voranzogst. Dies bedeutet, wenn du durch gute Taten in der Kenntnis des Volkes wahrgenommen werden wirst.“ Siehe diesbezüglich auch das Bild des schlafenden Christus bei Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLV. 5, 520 f. 262 Cassiodor: Expositio Psalmorum, XCVI, cap. 5, 872: Sed cum repetit: a facie Domini tremuit omnis terra, illos significat qui ipsius miseratione conspecti, ad satisfactionis remedia pervenerunt. Dt. Übersetzung: „Aber wenn er wiederholt: Im Angesicht des Herrn hat die ganze Erde gezittert, so zeigt dies jene an, die seine Barmherzigkeit erblicken werden und zu den Heilmitteln der Sühne gelangen.“; Anselm von Canterbury: Proslogion, cap. 9, 34: Melior est enim qui et bonis et malis bonus estquam qui bonis tantum est bonus. Et melior est qui malis et puniendo et parcendo est bonus, quam qui puniendo tantum. Ideo ergo misericors es, quia totus et summe bonus es. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 35; Augustinus: Sermones, XIII. 5, 180. 263 Remigius von Auxerre: Enarrationes in Psalmos, 481B. 264 Remigius von Auxerre: Enarrationes in Psalmos, 578D-579A: Movebuntur omnia fundamenta terrae. Omnes in omni praelati terra moti sunt vel ad fidem vel ad perturbationem. Vel movebuntur fundamenta terrae, spes videlicet terrenorum, in quibus confidebant terreni principes. Unde illud: Transit mundus et concupiscentia ejus. Vel ad litteram dicamus, movebuntur omnia fundamenta terrae, quia, Domino pendente in cruce, terraemotus factus est magnus. Dt. Übersetzung: „Die gesamten Grundfesten der Erde werden bewegt werden. Alles in allem zeigte die Erde, dass sie entweder zum Glauben oder zur Verwirrung bewegt worden ist. Selbst die Grundfesten der Erde werden bewegt werden d.h. die Hoffnung der Irdischen, auf die die irdischen Fürsten vertrauen. Deshalb heißt es: Die Welt vergeht und ihre Begierde. Zum Beispiel sagen wir im Wortsinne, alle Grundfesten der Erde werden bewegt werden, weil ein starkes Erdbeben geschah, als der Herr am Kreuz hing.“ 265 Siehe Haimo von Halberstadt: Enarratio in duodecim Prophetas minores, 271D. 266 GOETZ 2011: 132. 267 Act 16, 25–26. 268 Gregor der Große: Dialogues, III, cap. 1. 9–10, 264, 266: De cuius etiam morte apud eius ecclesiam scriptum est, quia, cum dolore esset lateris tactus, ad extrema perductus est, dumque eius omnis domus in sua soliditate persisteret, cubiculum, in quo iacebat aeger, facto terraemotu contremuit, om-
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Ähnlich wie beim Dahinscheiden des Gottessohns löst die Seele auch in diesem Fall beim Verlassen ihrer körperlichen Hülle ein Erdbeben aus. Papst Gregor der Große formuliert mit diesem „inneren Wunder“, wie er es nennt, bewusst einen beispielhaften Ansporn, um ein Leben in Nachahmung Christi zu führen. Aus diesem Motiv schöpft bereits die urchristliche Gemeinde, wenn sie sich durch ein Erdbeben in ihrem Glauben und ihrer spirituellen Standfestigkeit bekräftigt sieht.269 Beda versteht es, dieses tropologische Motiv christlicher Tugendhaftigkeit im Stile klassischer Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik weiter auszuschmücken.270 Mit terra ipsa sit pavore concussa beschreibt er die Wirkung eines Erdbebens, welches die Ankunft des Heiligen Geistes gemäß der Apostelgeschichte begleitet. Für Beda vergegenständlicht sich in diesem Beispiel nicht nur eine Reaktion auf eine Theophanie.271 Es ist gleichfalls eine zeichenhafte Aufforderung, alles Irdische abzustreifen und stattdessen mit einem laetus timor auf das Himmlische hinzustreben. Sein Satz: qui virtutem robusti pectoris contra fraudem quaerebant hostium, beschreibt somit nachdrücklich das Vermögen der Tropologie, der Gegenwart als
nesque qui illic aderant nimio terrore concussit, sicque sancta illa anima carne soluta est, factumque est, ut magnus pavor invaderet eos, qui Paulini mortem videre potuissent. Sed quia haec, quam superius dixi, Paulini virtus valde est intima, nunc, si placet, ad miracula exteriora veniamus, quae et multis iam nota sunt, et ego tam religiosorum virorum relatione didici, ut de his omnimodo ambigere non possim. Dt. Übersetzung siehe Gregor des Großen: Dialoge, 110. 269 Act 4, 30–31: in eo cum manum tuam extendas sanitates et signa et prodigia fieri per nomen sancti Filii tui Iesu et cum orassent motus est locus in quo erant congregati et repleti sunt omnes Spiritu Sancto et loquebantur verbum Dei cum fiducia. 270 Beda: Expositio Actuum Apostolorum, IV. 31, 27: Et cum orassent motus est locus in quo erant congregati. Qui virtutem robusti pectoris contra fraudem quaerebant hostium, indicium iam auditae precis terrae motu percipiunt, quatenus agnoscerent terrena sibi corda esse cessura sub quorum pedibus sancto adveniente spiritu terra ipsa sit pavore concussa; quamvis et laetus timor eorum, qui credendo apostolis fuerant subiciendi, possit intellegi, qui infima gravedine discussa conresurgere cum Christo et caelestia sapere didicerunt. Dt. Übersetzung: „Und als sie gebetet hatten, wurde der Ort, an dem sie versammelt waren, bewegt. Diese suchten die Kraft eines starken Charakters gegen den Betrug der Feinde. Nun nehmen sie als Beweis für die gehörten Gebete ein Erdbeben wahr. Dies zeugt so sehr davon, dass ihre weltlichen Herzen den ankommenden Heiligen Geist erkennen und nachgeben werden, da selbst die Erde unter den Füßen vor Angst erschüttert ward, dass ich auch diese frohe Furcht verstehen kann, mit der sich die Apostel im Glauben unterworfen haben, so dass die tiefe Beklommenheit mit der Wiederauferstehung mit Christi zerschlagen wurde und sie die himmlische Empfindung erfuhren.“ 271 Schon Augustinus meinte, dass es im Moment einer Theophanie besser sei, vor Demut zu erzittern, als auf den eigenen Hochmut zu vertrauen. Siehe Augustinus: Enarrationes in Psalmos 3, Ps. CIII. 16, 1533: Ecce respicit Dominus, et facit te tremere. Respiciat te, et faciat te tremere; melior est enim tremor humilitatis, quam confidentia superbiae. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 519. Ähnlich Hieronymus: Tractatus in Librum Psalmorum, XCV, 137: Commoveatur a facie eius universa terra. Videte quid dicat. Caelum non movetur a facie Dei: sed quicumque terrenus est, ille respicit Dominum, et commovetur, et tremescit. Dicite in gentibus quonialum Dominus regnavit. Nisi terra commota fuerit et a sua terrena opera recesserit, Dominus non regnabit in gentibus. Dt. Übersetzung siehe Hieronymus: Ausgewählte Schriften, 207.
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Spiegel zu dienen. Die Tropologie ist eine Antwort auf wahrgenommene gesellschaftliche Ungleichgewichte und artikuliert als Korrektiv ein Bemühen um das Seelenheil der Gläubigen,272 indem sie die Kraft der Seele273 stärkt. Erdbeben fungieren in diesem Kontext als Indiz einer moralischen Argumentation, besonders wenn ihre Erwähnung mit einer Aufforderung zu Bußhandlungen verbunden ist und somit auf Schuldeingeständnis und Verbesserung drängt. Es sei hier vor allem an das Beispiel Bedas aus seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum erinnert, in welchem er einen Brief Gregors des Großen an den angelsächsischen König Aedilfrid zitiert. Erdbeben und andere auf die Endzeit verweisende Geschehnisse besitzen in diesem Beispiel, neben der eschatologischen Zielrichtung, eine bewusst tropologische Aussage.274 Ihr Auftreten solle, so Beda, zu beständiger Selbstüberprüfung und Besserung anregen.275 Gerichtet an den heidnischen Adressaten Aedilfrid, wird an diesen Zeilen ersichtlich, dass eine tropologische Interpretation von Erdbeben sehr wohl in Zusammenhang mit der Vermittlung mittelalterlicher Herrscherethik stehen kann. An einer anderen Stelle seines Geschichtswerks vergleicht Beda eben jenen Aedilfrid mit dem alttestamentlichen König Saul276 und rückt somit die Idonität eines Herrschers in den Fokus. Nicht Hochmut und Sündhaftigkeit277 entscheiden demnach über die wirkliche Tauglichkeit eines Herrschers. Vielmehr zeichnet den rex christianus die Fähigkeit zum recte agendo, sprich zur tugendhaften Lenkung des Volkes, aus.278 So wie einst König David – als Gegenpart Sauls279 – als Präfiguration
272 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, V, cap. 6, 338: instructio morum, ad tropologiam magis respicit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 339. 273 Siehe Alanus ab Insulis: Anticlaudianus, III, 45; VIII, 361–364. 274 Siehe auch Kap. III. 3. 2. 275 Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, I, cap. XXXII, 114: Vos itaque, siqua ex his evenire in terra vestra cognoscitis, nullo modo vestrum animum perturbetis; quia idcirco haec signa de fine saeculi praemittuntur, ut de animabus nostris debeamus esse solliciti, de mortis hora suspecti, et venturo Iudici in bonis actibus inveniamur esse praeparati. Engl. Übersetzung siehe ebd.: 115. 276 Beda: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, I, cap. XXXIV, 116: His temporibus regno Nordanhymbrorum praefuit rex fortissimus et gloriae cupidissimus Aedilfrid, qui plus omnibus Anglorum primatibus gentem vastavit Brettonum, ita ut Sauli quondam regi Israheliticae gentis conparandus videretur, excepto dumtaxat hoc, quod divinae erat religionis ignarus. Engl. Übersetzung siehe ebd.: 117. 277 Dies sind die Saul zugewiesenen Eigenschaften. Siehe Gregor der Große: Moralia in Iob, XXVI, cap. XXVI (44.), 1300; ebenfalls ANTON 1968: 349. 278 Beispielhaft für das Frühmittelalter siehe unter anderem Jonas von Orléans: De institutione regia, cap. III, 184: Rex a recte agendo vocatur. Si enim pie et iuste et misericorditer regit, merito rex appellatur; si his caruerit, nomen regis amittit. Antiqui autem omnes reges tyrannos vocabant. Sed postea pie et iuste et misericorditer regentes regis nomen sunt adepti. Frz. Übersetzung siehe ebd.: 185. Ebenfalls zutreffend Hinkmar von Reims: De ordine palatii, cap. II, 44. 279 Die Gegenüberstellung des gottergebenen, demütigen David und des Sünders Saul wurde zum viel zitierten Mahnbeispiel frühmittelalterliche Herrscherethik. Siehe unter anderem Hinkmar von Reims: Ad Episcopos, 977B-C; Pseudo-Cyprian: De XII abusivis saeculi, 44.
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Christi280 diente, soll dieser nun als Sinnbild des Idealherrschers zur Nachahmung bereitstehen.281 Denn erst wenn der König, so die admonitio, selbst ein Leben gemäß christlichen Werten führt, ist er auch befähigt, sein Amt gerecht auszuüben.282 Diese moralische Verantwortung des Herrschers schloss im Frühmittelalter auch die Wahrung des Kirchenfriedens mit ein. Der König als Garant für die Einheit der Ecclesia und den Schutz des Apostolischen Sitzes283 spiegelt sich z. B. in einem Brief Liutberts von Mainz an Ludwig den Deutschen wider.284 In Gegenwart des Ehestreits Lothars II. bezieht Liutbert von Mainz Stellung gegen Teutgaud von Trier und Gunthar von Köln, Kanzler des Mittelreiches und dortiger Erzbischof,285 da beide die Scheidung des Kaisers von seiner ersten Frau Theutberga befürworteten.286 Trotz dieses politisch hochbrisanten Konflikts, bei dem es im Kern um die Nachfolge des offiziell erbenlosen Lothar ging,287 handelt es sich bei der Scheidung und Wiederheirat des Kaisers um einen Verstoß gegen das Sakrament der Ehe. In den Augen seiner Zeitgenossen stellte der öffentliche Ehebruch des christlichen Kaisers, zumal gestützt von hohen kirchlichen Würdenträgern des fränkischen Mittelreiches, das Wirken Christi selbst in Frage. Es handelt sich also keineswegs um eine triviale Angelegenheit Lothars, insbesondere eingedenk der Tatsache, dass gerade die Erdbeben des Neuen Testaments auf die Buße als Sakrament der Erlösung hinweisen.288 Die Sakramente bilden zwar erst seit dem 12. Jahrhundert offiziell die Grundlage des Glaubens,289 wodurch sie für alle Gläubigen die imitatio
280 Hinkmar von Reims: De ordine palatii, cap. I, 38: David rex simul et propheta praefigurans dominum nostrum Jesum Christum. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 39. 281 Der Typus des novus David war besonders in der karolingischen Herrscherethik bedeutsam. Siehe STAUBACH 1981: 8 f., 136–139. 282 Gregor der Große: Moralia in Iob, XXVI, cap. XXVI (44.), 1300; XXVI, cap. XXVI (46.), 1301 f.; XXVI, cap. XXVI (47.), 1302; XXVI, cap. XXVI (48.), 1303. Dieselbe Stelle wird auch in Hinkmar von Reims: De regis persona et regio ministerio, 837B zitiert. 283 Siehe auch HECKMANN 2014: 318, 320. 284 Epistolae variorum Karoli II (Calvi) imperatoris 18: 165 f. 285 BÖHMER 1877: 73 f. 286 HARTMANN 1989: 282 f.; SCHIEFFER 2006b: 160. 287 SCHIEFFER 2006b: 161. 288 Beispielhaft Leo der Große: Sermones, 55, cap. 1, 323; Rupert von Deutz führt dies am Beispiel der Sakramente aus. Siehe De sancta trinitate et operibus eius, De operibus spiritus sancti, III, cap. VIII: Hic tribus testibus illuc concurrentibus, tartarus intremuit, terra mota est, petrae scissae, monumenta aperta sunt, et multa corpora sanctorum qui dormierant, postmodum eo resurgente, pariter surrexerunt. Quid tantus ille terrae motus significavit, nisi terram et ipsos inferos virtutem sensisse sacramenti? Dt. Übersetzung: „Diese drei damals zusammengetroffenen Zeugen sind, als die Hölle erbebte, die Erde bewegt worden ist, die Steine gespalten worden, die Grabmäler geöffnet worden sind und die Körper vieler Heiliger, die geschlafen hatten, als dieser bald darauf wiederauferstand, in gleicher Weise auferstanden. Was hat jenes so große Erdbeben bedeutet, wenn nicht, dass die Erde und selbst die Hölle das Wunder des Mysteriums empfunden hahen?“ 289 Sehr anschaulich Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 4, 374–378 sowie DÖPMANN 2010: 201 f. und HEMPELMANN 1992: 51.
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Christi ermöglichten.290 Der Aspekt der Buße dürfte jedoch bereits Liutberts Befürchtung genährt haben, wonach aufgrund des von schwerer Sünde gezeichneten „Sauls“, gemeint ist Kaiser Lothar,291 die Elemente erschüttert werden würden.292 Wohlgemerkt sind von 860 bis 881 vier Erdbeben bekannt, welche alle in den in Mainz zur Fortsetzung gebrachten Annales Fuldenses überliefert sind.293 Der Appell des Mainzer Erzbischofs an Ludwig ist daher in der Weise zu verstehen, sich als Gegenbeispiel zu präsentieren, durch veritatis et iustitiae zu intervenieren und sich damit als christlicher Herrscher zu erweisen. Eine ähnliche Ermahnung richtete auch Hinkmar von Reims an Karl den Kahlen im Westfränkischen Reich.294 Eine tropologische Auslegung des Arguments „Erdbeben“ dient somit der Betonung der christlichen Herrschertugend der humilitas. In Abgrenzung zur superbia295 erhebt sie nicht nur die Bußbereitschaft des Königs zum zentralen Wesenszug des Herrschers.296 Sie erinnert den Regenten vielmehr auch an seine Spiegelfunktion und seiner sich aus der gratia Dei rex297 ergebenden Verantwortung.298 Denn nur durch die Fähigkeit des Herrschers zur Selbstlenkung realisiert sich ein corrigere des Volkes.299 Ein Erdbeben, sei es nun real oder lediglich als Argument verwendet, kann demnach als Indikator dafür verstanden werden, dass sich die humilitas – als Herzstück im Idealbild des rex christianus – nicht ausreichend in der Wirklichkeit wiederfindet. Diese Lesart blieb keineswegs auf das Karolingerreiches beschränkt. Gerade im 11. und 12. Jahrhundert erhielt jene Argumentationsweise durch den sogenannten 290 Hugo von St. Viktor: Didascalicon, VI, cap. 4, 376: Linea protensa rectae fidei trames est, ipsae spiritualis operis bases quaedam fidei principia sunt, quibus initiaris. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 377. Zur Teilhabe an den Sakramenten der Kirche siehe auch Otto von Freising: Chronica sive Historia, VIII, prol., 582. 291 Siehe ANTON 1968: 349. 292 Epistolae variorum Karoli II (Calvi) imperatoris 18: 165 f. 293 [EB 867]: Annales Fuldenses: 66; [EB 870, 872]: ebd.: 71, 76 f.; [EB 881]: ebd.: 97. Siehe auch Epistolae variorum Karoli II (Calvi) imperatoris 18: 165, Anm. 4. 294 STAUBACH 1981: 136–139. 295 Hinkmar von Reims: De divortio Lotharii, 251; siehe auch BUSCHMANN 1962: 92–95. 296 Siehe unter anderem STAUBACH 1992: 173–175; STAUBACH 1981: 131, 137, 216. 297 Mit Bezug auf Karl den Kahlen: Hinkmar von Reims: De regis persona et regio ministerio, 834B-C; gleichfalls Capitularia Regum Franciae Occidentalis: Nr. 267, 339 sowie KERN 1954: 95, 258. 298 Hinter allem verbirgt sich letztlich die Zwei-Gewalten-Lehre des spätantiken Papstes Gelasius. Die Trennung in ein geistliches und ein weltliches Amt verstand besonders der westfränkische Metropolit Hinkmar von Reims virtuos zu nutzen. Siehe Gelasius: Epistolae et Decreta, epist. 12, 350; zu Hinkmar siehe STAUBACH 1992: 161 sowie ANTON 1968: 330 ff., 336. 299 Augustinus: Enarrationes in Psalmos 1, Ps. XLIV. 17, 505 f.: Corrigere. Erit virga ipsius qui te regit, virga directionis. Inde et rex a regendo dicitur. Non autem regit qui non corrigit. Ad hoc est rex noster rectorum rex. Quomodo et sacerdos a sanctificando nos, ita et rex a regendo nos. Engl. Übersetzung siehe Augustinus: Expositions on the Book of Psalms, 150. Ähnlich argumentiert Hinkmar von Reims auf der Synode von Quierzy 858. Siehe Capitularia Regum Franciae Occidentalis. Additamenta: Nr. 297, 431.
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Investiturstreit erneut eine gegenwartsgezogene Relevanz, welche in Gestalt des Erdbebens vom 3. Januar 1117 einen wirkmächtigen Katalysator erhielt. Nachdem der rex tyrannus Heinrich IV.300 durch seinen Sohn abgelöst worden war, wich die Begeisterung der päpstlichen Partei rasch tiefer Enttäuschung,301 als sich der fünfte Heinrich ebenfalls als ein minister Antichristi erwies.302 Das Erdbeben von 1117 erweckte auch deshalb einen überaus breiten historiographischen Niederschlag, weil es in Reaktion auf die mangelnde humilitas des Kaisers angesehen wurde. In den Augen des 12. Jahrhunderts entlud sie sich in einer Zeit der Ungerechtigkeit. Angesichts dieser, von der päpstlichen Partei durchaus tendenziös303 beurteilten, fehlenden moralischen Tauglichkeit Heinrichs V. illustriert das Erdbeben von 1117 aus tropologischer Perspektive passgenau die Ära der falsi fratres.304 Das Ausbleiben kaiserlicher Demut305 vor dem apostolischen Stuhl wurde schließlich als eine wesentliche Ursache für das Kirchenschisma angesehen. Erst als sich der salische Kaiser im Wormser Konkordat 1122 beugte, wurde als Zeichen der Gnade für die erwiesene humilitas auch dessen Kirchenbann wieder aufgehoben.306 Die ei-
300 Siehe Tiburtinische Sibylle in: SACKUR 1898: 184; MÜNSCH 2008: 185; siehe auch das Schema in CLASSEN 1960: 295; ebenso STRUVE 2002: 216. 301 Lesbar bei Ekkehard von Aura. Siehe Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 374: Hic, ut prescriptum est, primo sub specie religionis patrem excommunicatum imperio privavit, confirmatus in honoribus mores mutavit, sed post iniurias apostolicę sedi illatas semper se ipso inferior fuit, iusticiis regni non multum invigilavit. 302 Gerhoch von Reichersberg: De investigatione Antichristi, I, cap. 23, 332; ebd.: I, cap. 28, 338; Frutholfs und Ekkehards Chroniken: III, 306: regem Heinricum, tyrannicum rei publicę vastatorem et ęcclesiarum destructorem, imperiali benedictione sublimasset, insuper privilegio sacrilego condonasset. Vgl. auch Kap. III. 3. 2. 1. b). 303 Durch die zahlreichen Rezensionen lässt sich dieses wechselhafte Meinungsbild gut anhand der Weltchronik Ekkehards von Aura darstellen. Dessen Fassungen zeichnen sich bekanntlich durch eine widersprüchliche Beurteilung Heinrichs V. aus. Siehe Frutholfs und Ekkehards Chroniken, S. 3 f. 304 GOETZ 2007a: 440, 450. 305 Dass der Kaiser sehr wohl um seine humilitas bemüht war, belegt Ekkehards Schilderung in seiner Beschreibung des Jahres 1117. Es heißt in Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 336: His et huiusmodi cladibus rex Heinricus cordetenus sauciatus non cessat legationes satisfactorias ad apostolicam sedem, licet ipse multum infestationibus Italicis insudans, destinare, quas tamen constat minime profecisse. 306 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 358: Mox tamen ab apostolicę sedis apocrisiariis in communionem receptus tam ipse imperator quam universus sibi subiectus exercitus, immo generali absolutione cunctis hoc scismate pollutis per auctoritatem apostolicam facta, qualiter ęcclesiasticas investituras cęteraque spiritualia negocia, quę tanto tempore reges Theutonici administraverant, quęque ipse, ne regni diminueretur honor, nunquam vita comite dimissurum proposuerat, humiliatus pro Christo coram multitudine maxima abnegaverit et in manus domni episcopi Ostiensis ac per ipsum domino nostro Iesu Christo suęque in perpetuum ius ęcclesię dimiserit, rursumque qualia sibi ob honorem regni conservandum auctoritas apostolica concesserit.
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gentlichen Konflikte im Verhältnis von regnum und sacerdotium blieben freilich weiterhin ungelöst. Das Erdbeben von 1117 bot für die mittelalterliche Geschichtsschreibung einen geeigneten Anlass, um ausgehend von einer tropologischen Bewertung Heinrichs die eschatologisch geprägte Gesamteinschätzung des Ereignisses vorzunehmen, die einen Teil der Überlieferung auszeichnet. Als turbator ecclesiae307 oder als ęcclesiarum destructorem308 entspricht Heinrich geradezu der personifizierten persecutio,309 wie sie in zahlreichen mittelalterlichen Kommentierungen der JohannesOffenbarung durch Erdbeben angezeigt wird.310 In ihm verkehrt sich die imitatio Christi in ihr Gegenteil. Die Gerechtigkeit der Sonne schien nicht mehr auf sein regnum teutonicum.311 Haimo von Auxerre hat mit dieser Auslegung von Apk 6, 12 bereits im 9. Jahrhundert ein passendes Motiv geliefert, welches nun in der von numerosa persecutiones.312 gezeichneten Herrschaft Heinrichs für viele Zeitgenossen seine Realisierung erfuhr.
307 Suger von St. Denis: Vita Ludovici Grossi, cap. 28, 230: Imperator ergo theutonicus [. . .] regni aut ecclesie turbatorem, cujus causa aut controversia corpora subleventur, anni fore superstitem, sed ita vel intra deperire. Frz. Übersetzung siehe ebd.: 231. Hinsichtlich einer Bewertung Heinrichs V. in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung Frankreichs siehe SCHNEIDMÜLLER 1994: bes. 195 f., 202, 219. 308 Frutholfs und Ekkehards Chroniken: III, 306. 309 Die persecutio erscheint gerade deshalb auf Heinrich zu passen, weil sie im Neuen Testament für die Verfolgung der ersten Christen steht. Interessanterweise findet sich diese Wortwahl nicht in der Vulgata-Fassung der Johannes-Offenbarung. Besonders Act 8, 1; siehe auch Mt 5, 10; Mt 5, 12; Mk 10, 30; Joh 15, 20; Röm 8, 35; I Kor 4, 12; II Kor 4, 9; II Kor 12, 10; Gal 5, 11; Gal 6, 12; II Thess 1, 4; II Tim 3, 12. 310 Angesprochen sei vor allem die Auslegung von Apk 6, 12–15 sowie Apk 11, 13. Siehe Haimo von Auxerre: Expositionis in Apocalypsin, 1031B-C; 1076D-1077B; ebenfalls Anselm von Laon: Enarrationes in Apocalypsin, 1525A-B. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts schrieb Anselm von Havelberg: Dialogues, I, cap. XII, 110: Quod in sexto statu Ecclesiae, facto terraemotu magno, validissima persecutio futura est tempore Antichristi. Et cum aperuisset sigillum sextum, terraemotus factus est magnus. Iste sextus est Ecclesiae status, in quo nimirum terraemotus factus est magnus, quae est validissima persecutio, quae futura est temporibus Antichristi. Dt. Übersetzung siehe Anselm von Havelberg: Anticimenon, 70. 311 Haimo von Auxerre: Expositionis in Apocalypsin, 1031C: Et sol justitiae non luxit nobis. In Haimos Auslegung wird durch die allegorische Bedeutung des saccus cilicinus – des Büßerhemds – erneut die humilitas angesprochen. Siehe ebd.: 1031C-D. 312 Zu Beginn seines Eintrags für das Jahr 1117 beschreibt Ekkehard den furor teutonicus, welchem sich unmittelbar die Beschreibung des Veroneser Erdbebens anschließt. Siehe Frutholfs und Ekkehards Chroniken: IV, 334: Dum cuncta per circuitum regna nationum suis limitibus rebusque contenta diu sanguine madentes gladios ceteraque vasa mortis iam in vagina concordie reconderent, universalis etiam ecclesia mater post numerosa persecutionum, heresium ac scismatum bella iam sub vera vite Iesu lassa oppido membra per multas gratiarum actiones mandatis divinis inservitura locaret, solus eheu! Teutonicus furor cervicositatem suam deponere nescius et quam multa six pax legem die diligentibus, immo qualiter per presentis prosperitatis tranquillitatem ad eterne visionem pacis pertingi possit.
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3.2.3 Et vidi caelum novum et terram novam – die anagogisch-eschatologische Auslegung von terrae motus factus est magnus als Ausdruck einer spekulativen Erlösungsvorstellung Mehr als alle anderen geistigen Sinnen wird die anagogische Auslegung der mittelalterlichen Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est von einem ausgeprägt dialektischen Motiv angetrieben. Die Gelehrten unserer Untersuchungszeit hätten dieses Prinzip, das sich sichtbar in zeitgenössisch verwendeten Begrifflichkeiten wie „Umkehr“ oder „Übergang“ materialisiert und die spirituelle „Hinaufführung“ zum Himmlischen313 zu beschreiben versteht, freilich so noch nicht bezeichnet.314 Für die mittelalterliche Exegese veranschaulicht die Anagoge die spekulative Vollendung der Heilsgeschichte. Sie beschreibt eine zukünftige Erwartung: Eine himmlische Wirklichkeit,315 welche angesichts des außerhalb aller zeitlichen Kategorien stehenden christlichen Schöpfergottes in der Heiligen Schrift als bereits geschehen dargelegt wird, tatsächlich jedoch in einer unbestimmten Zukunft liegt.316 Die Anagoge definiert folglich für den christlichen Menschen eine prophetische Erlösungsvorstellung – cuius statum nemo novit, nisi qui accipit.317 Der ontologische Monismus, welcher dieser anagogischen Hoffnung zugrunde liegt und dessen Realisierungsprinzip wir „christliche Dialektik“318 nennen, war für das Mittelalter die Bezeichnung für das Wirken Gottes und des von ihm geschaffenen Menschen in der Geschichte.319 Es ist ein Dreiklang aus Anfang, Fortgang und
313 Cassianus: Conlationes, XIIII, cap. VIII, 405: Anagoge vero de spiritalibus mysteriis ad sublimiora quaedam et sacratiora caelorum secreta conscendens; frz. Übersetzung siehe Cassien: Conférences (VIII–XVII), 190; FREYTAG 1982: 27. 314 Eine Ausnahme bildet Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, V. 360–368, 14. 315 LUBAC 1948: 353: „Il s’agit des fins dernières, des réalités célestes et divines.“ 316 Cassiodor: Institutiones, 1, cap. 16. 1, 212: Praeteria sine falsitate describunt, praesentia plus quam quod videntur ostendunt, futura quasi iam perfecta narrantur; dt. Übersetzung siehe ebd.: 213; Hugo von St. Viktor: Didascalicon, V, cap. 4, 330: Quia ea quae nobis futura sunt, apud Dei aeternitatem iam facta sunt. Quapropter quando aliquid faciendum esse pronuntiatur, secundum nos dicitur. Quando vero quae futura sunt iam facta dicuntur, secundum Dei aeternitatem accipienda sunt, apud quem iam omnia facta sunt quae futura sunt. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 331. 317 Isaak von Stella: Sermones, LIV. 12, 852; dt. Übersetzung siehe ebd.: 853; siehe auch Cassianus: Conlationes, XIIII, cap. VIII, 405. 318 Für das Hochmittelalter Isaak von Stella: Sermones, 82–84; Otto von Freising: Chronica sive Historia, LI. Generell von Relevanz ist LUBAC 1959–1964: 141 f., 145 f.; FEINER, LÖHRER 1965: 819. 319 Augustinus: De doctrina christiana, I, cap. XXXV (39.), 29: Hoc ergo ut nossemus atque possemus, facta est tota pro nostra salute per divinam providentiam dispensatio temporalis, qua debemus uti, non quasi mansoria quadam dilectione et delectatione, sed transitoria potius tamquam viae, tamquam vehiculorum vel aliorum quorumlibet instrumentorum aut si quid congruentius dici potest, ut ea quibus ferimur, propter illud, ad quod ferimur, diligamus. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Die christliche Bildung, 41 f.
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Ende,320 welcher das dialektische Wesen der mutatio rerum beherrscht. Für den Zisterzienser Alanus ab Insulis bestimmt gerade dieser methodische Grundsatz321 auch das gegenseitige Verhältnis von Geschichte, Tropologie und Allegorie.322 Im Geist eines christlichen Neuplatonismus argumentierend, weiß sein Ordensbruder Isaak von Stella diesen Leitsatz zu konkretisieren.323 Die Etappen der Heilsgeschichte gehen in seiner Sicht konform mit den vier geistigen Sinnen. Der irdischen Welt folgt eine geistige und schließlich eine himmlische Welt, in gleicher Weise wie der Literalsinn in einem moralischen und einem allegorischen sowie schließlich in einem anagogischen Verständnis aufgeht.324 Für den stark kontemplativ motivierten Isaak gilt dieses Prinzip analog für den Menschen. Auf den primum hominem in suo mundo terreno lässt er einen geistigen und schließlich einen himmlischen Men-
320 Im Übrigen charakterisiert das dialektische Prinzip des „Anfang – Fortgang – Ende“ auch die Dialektik HEGELS gut 700 Jahre später. Dies stellt gerade MERTENS 2008: 107–136, bes. 108, 134 f. heraus. Siehe auch HEGEL: Grundlinien, § 31A, 84. 321 Die Relevanz dieses Ansatzes für sein Denken zeigt Isaak von Stella in Sermones, LIV. 2, 846: A capite ergo cuncta revolvuntur. Omnia enim priora posteriorum sunt figurae, quae nunc suis incipiunt revelari temporibus; et haec ipsa involucra quaedam sunt et exemplaria futurorum [. . .] omnis homo vivens, donec ad nudam et manifestam et stabilem veritatis faciem perveniat. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 847. 322 Alanus ab Insulis: Sermones, 209C: quarum prima sit historica, secunda tropologica, tertia allegorica. Prima fundamentum, secunda paries, tertia culmen his duabus appositum. Prima planior, secunda suavior, tertia acutior: prima incipit, secunda provehit, tertia consummat et perficit. Dt. Übersetzung: „Dieser erste ist die Geschichte, der zweite die Tropologie und der dritte die Allegorie. Das erste ist das Fundament, das zweite die Wand und das dritte ist als Dach diesen zwei aufgesetzt. Das erste ist klar, das zweite süß und das dritte geistreich. Das erste beginnt, das zweite führt fort und das dritte vollendet und vervollkommnet.“ An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Alanus, wie viele seiner Zeitgenossen, zum einen von einem dreifachen Schriftsinn ausging und zum anderen die tropologische Auslegung vor die Allegorie setzte. Siehe hierzu LUBAC 1948: 348 f. 323 Isaak von Stella: Sermones, 85–87; siehe ebenfalls dessen bildhafte Darstellungen in Sermones, XX. 15–16, 428; XXIV. 2, 450, 452. Insbesondere Sermones, XXIV. 4–5, 452 beschreibt idealtypisch am Beispiel der sich aus der Eichel entwickelnden Eiche einen organologisch fundierten ontologischen Monismus, wie er in seiner dialektischen Prägnanz auch von Hegel hätte stammen können. Siehe auch Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, IV. 283–288, 12: Ac per hoc intelligitur quod ars illa, quae dividit genera in species, et species in genera resolvit, quae ΔΙΑΛΕΚΤΙΚΗ dicitur, non ab humanis machinationibus sit facta, sed in natura rerum ab auctore omnium artium, quae vere artes sunt, condita, et a sapientibus inventa, et ad utilitatem sollertis rerum indagis usitata. Dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 410 f. 324 Isaak von Stella: Sermones, LIV. 10, 850: Omnia quae ibi actualiter facta narrantur in illo actuali ac sensibili mundo, hodie recapitulari incipiunt in hoc mystico ac spirituali mundo. ebd.: LIV. 12, 852: Primus mundus historicus, cuius condicionem et gubernationem narrat vetus Testamentum; secundus moralis et allegoricus, cuius condicionem et gubernationem narrat Evangelium; tertius anagogicus, id est sursum ductivus, cuius statum nemo novit, nisi qui accipit. [. . .] Novum vero Testamentum reconcilationem annuntiat primi, quae est creatio secundi, et pollicetur, quem praesignat, statum tertii. Dt. Übersetzungen siehe ebd.: 851, 853.
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schen folgen.325 Seine in der Abgeschiedenheit der französischen Atlantikinsel Île de Ré verfassten Predigten nähren die Relevanz des dialektischen Wandels für das Geschichtsverständnis des Mittelalters. Gleichzeitig deutet sich in diesen Zeilen das hermeneutische Potential von terra an, welches im Fortschreiten über die Stufen der Heilsgeschichte zur vollen Geltung gelangt. Schauen wir mit Otto von Freising auf einen anderen Zisterzienser. Der große Gelehrte und Historiograph des 12. Jahrhunderts legt in seiner Definition des „Übergangs“ das dialektische Moment in der anagogischen Lesart von terrae motus factus est frei. Der staufische Kirchenmann ist, getragen von einer unverkennbar augustinischen Denktradition326 richtungsweisend für die weitere Untersuchung, wenn er die Ontologie seiner Geschichtstheologie explizit am Beispiel einer sich wandelnden Erde ausführt.327 In der Chronica sive Historia de duabus civitatibus heißt es im achten und letzten Buch: Hic non incongrue queri potest, quomodo iuxta hanc auctoritatem ipsiusque veritatis attestationem caelum et terra transeant vel potius pereant [. . .]. Quomodo enim principales creaturae in principio factae peribunt, cum nulla substantia perire credatur, et scriptura sacra omnibus fluxis et transitoriis prius enumeratis dicat: Terra vero in eternum stat? [. . .] Dicimus enim transire diversis modis. Est namque transitus de non esse ad esse vel de esse ad non esse vel esse ad aliter esse: id est transitus, ut ficto nomine dicam, aliationis a faciendo aliud vel alterationis a faciendo alteratum. Qui transitus alterationis in divina pagina diversis modis fieri dicitur, id est vel de bono in malum vel de malo ad bonum vel de bono in melius vel de malo in deterius. [. . .] Sic ergo caelum et terra, dum transire dicuntur, nequaquam de esse ad non esse vergere velud abolenda, quod esset transire ad aliud esse, sed de hoc statu ad aliter esse, id est ad alium pulchriorem longeque excellentiorem, commutanda et transfiguranda asseruntur.328
Die prominente Lehrmeinung Otto von Freisings stellt keinen mittelalterlichen Einzelfall dar. Auch wenn seine Geschichtstheologie äußerst wirkmächtig war, so hat er doch im Rahmen seiner Zeit argumentiert. Mit Verweis auf seine Ordensbrüder Alanus ab Insulis und Isaak von Stella können seine Ausführungen als Anzeichen einer zisterziensischen Argumentationskultur gelesen werden.329 325 Isaak von Stella: Sermones, LIV. 11, 850: Ideo quippe sursum in aere mori voluit, suspensus a terra, ut hominem terrenum ad spiritualem statum elevaret, [. . .]. Natus nimirum in terra, in aere moritur et in caelum ascendit, quia primum hominem in suo mundo terreno fecit terrenum, et secundo in suo mundo spirituali spiritualem, facturus tertium in suo mundo caelesti caelestem. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 851. 326 Otto von Freising: Chronica sive Historia, VIII, prol., 584. 327 Augustinus war auch hier ein Vermittler neuplatonischer Philosophie. Siehe Augustinus: De civitate Dei, XX, cap. 14, 724: Peracto quippe iudicio, tunc esse desinet hoc caelum et haec terra, quando incipiet esse caelum novum et terra nova. Mutatione namque rerum, non omni modo interitu transibit hic mundus. Dt. Übersetzung siehe Augustinus: Der Gottesstaat, 625. 328 Otto von Freising: Chronica sive Historia, VIII, cap. 9, 600, 602; dt. Übersetzung ebd.: 601, 603. 329 Vgl. hierzu auch die Ausführungen Bernhard von Clairvaux’ zur Erneuerung des Menschen. Siehe Bernhard von Clairvaux: Sermones, LXIX. 1–2, 444–448.
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Die Transformationen, wie sie sich hier abbilden und analog für die Wendung terrae motus factus est gelten, sind indes weit älter und reichen bis in die Exegese der Kirchenväterzeit zurück. Im Kapitel zum Substanz-Akzidenz-Verhältnis konnte nachgewiesen werden, dass terrae motus ein Abbild christlicher Schöpfungslehre ist.330 Als bestimmendes Element wurde dabei das dialektische Wesen des Terminus motus herausgearbeitet. Die Bedeutung der Bewegung, welche dieser explizite Ausdruck in einer ungeheuren philosophischen Tiefe nach innen wie nach außen artikuliert, bestimmt nicht nur das Werden der Elemente aus der formlosen Materie. Dialektisch beschreibt motus gleichfalls die exegetischen Realisierungsstufen von terra und entspricht somit dem unter anderem durch Augustinus und Otto von Freising geprägten Grundsatz der mutatio rerum.331 Ausgehend vom Ideal der paradiesischen Erde zu Anfang der Genesis, unterstreicht motus den Zustand der Veränderung innerhalb des dialektischen Fortgangs,332 welcher sich in dem von Sünde gezeichneten irdischen Abbild der paradiesischen terra realisiert. Diese Wirklichkeit nach dem Sündenfall erfährt erst durch das Christusereignis eine Umkehr. Isaak von Stella schreibt hierzu: Verspere moritur homo terrenus ac vetus in mundo veteri, videntibus filiis vetustatis; mane resurgit homo novus, et apparet in mundo novo filiis novitatis.333 Mit dem Kommen Christi als novus Adam beginnt also die Erneuerung und heilsgeschichtliche Aufwertung des Menschen.334 Die erste Parusie des Gottessohnes lässt das sechste Weltzeitalter anbrechen335 und bekräftigt durch die Auferstehung Christi das anagogische Heilsziel einer terra restaurata.336
330 Siehe Kap. III. 1. 1. 5. b). 331 Augustinus: De civitate Dei, XX, cap. 14, 724; Augustinus: Confessiones, XI, cap. IV (6.), 197; Otto von Freising: Chronica sive Historia, LIIf. 332 Siehe auch GADAMER 2010: 427 f. 333 Isaak von Stella: Sermones, LIV. 13, 852; dt. Übersetzung siehe ebd.: 853. 334 Bernhard von Clairvaux: Sermones, LXIX. 1, 444: Sicut portavimus imaginem terreni hominis, portemus et imaginem caelestis. Duo homines sunt, vetus et novus: Adam vetus, Christus novus. Ille terrenus, iste caelestis; illius imago vetustas, istius imago novitas. Dt. Übersetzung: Gleichwie haben wir das Abbild des irdischen Menschen getragen, und wir tragen das Abbild des Himmlischen. Es sind zwei Menschen, ein alter und ein neuer. Adam ist der alte und Christus der neue. Jener ist irdisch, der andere göttlich, jener ist das alte Abbild, dieser das Abbild der Neuerung.“ Ebenfalls Hieronymus: Tractatus in Librum Psalmorum, XCV, 138: Ideo venit Xpistus, et correxit genus humanum, quod ante fuerat depravatum, ut in aeternum non moveatur. Dt. Übersetzung siehe Hieronymus: Ausgewählte Schriften, 207; siehe auch Otto von Freising: Chronica sive Historia, LII. 335 Es sei daran erinnert, dass terrae motus in Verbindung mit facere die maßgebliche Beschreibungsweise über Erdbeben in der Weltchronik Hermanns von Reichenau darstellt. Die ausgesucht heilsgeschichtliche Botschaft der Wendung hat hieran sicherlich einen bedeutenden Anteil. Siehe Kap. II. 1. 2. 2. 336 Vgl. Ps 96, 1 (Psalter Gallicanum): Huic David quando terra eius restituta est. Cassiodor legt die Botschaft dieses Psalms in Bezug auf Christus aus. Siehe Cassiodor: Expositio Psalmorum, XCVI, cap. 1, 870: Potest et aliter accipi, ut terra restaurata resurrectionis eius videatur indicare mysteria. Mortuum est quippe corpus ipsius lege communi, sed restauratum est in gloriae munere singulari. Dt.
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In dieser spekulativen Wirklichkeit kommt die Heilsgeschichte in Form der terra nova337 nach dem Jüngsten Gericht zu ihrem dialektischen Ende und fällt mit der im Begriff terra angelegten göttlichen Idee in eins. Das ω entspricht wieder dem A.338 In wohl keiner patristischen Schrift wird diese durch die Johannes-Offenbarung kanonisierte anagogische Zielrichtung dem Mittelalter wirkmächtiger vermittelt als in De civitate Dei des Augustinus.339 Von Johannes Scottus Eriugena340 bis Otto von Freising und den Distinctiones monasticae341 besaß sein christlicher Neuplatonismus
Übersetzung: „Es kann auf eine andere Weise erfahren werden, dass man in der durch seine Auferstehung wiederhergestellten Erde erkennen wird, dass sich die Sakramente offenbaren. Gestorben ist nämlich nach dem allgemeinen Glauben allein der Körper. Aber er ist einzig durch die Herrlichkeit der Gnade wiederhergestellt worden.“ Ebenfalls Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, V. 5900–5927, 181 f.: Testatur siquidem Apostolus omnia quae in terra sunt et in caelo in Christo et per Christum restaurari. [. . .] Potest etiam specialiter intelligi ‚Erit caelum novum et terra nova‘ de humanae naturae innovatione et in se ipsam adunatione. [. . .] Et quod in capite totius humanae naturae (in ipso videlicet domino nostro Iesu Christo) iam peractum est, in tota natura perficietur, dum terra nova corporis nostri in caelum novum (hoc est in novitatem animae) mutabitur, ac deinde superiori ascensu corpus simul et anima, in spiritum, spiritus in ipsum deum. Et hoc totum in Christo et per Christum perficietur, qui finis est nostrae naturae et consummatio; dt. Übersetzung siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 701. Für das 12. Jahrhundert relevant Rupert von Deutz: De divinis officiis, 6, cap. 1, 774: id est sexta die, quod pro mundi refectione suscepit, totum est opus perfectum. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 775. 337 Apk 21, 1: Et vidi caelum novum et terram novam primum enim caelum et prima terra abiit et mare iam non est. In dieser Tradition argumentiert auch die Tiburtinische Sibylle. Siehe diesbezüglich SACKUR 1898: 184 sowie STRUVE 2002: 226; mit Bezug auf die alttestamentlichen Wurzeln einer terra nova siehe STECK 1997: bes. 358–362; für das Neue Testament siehe BERLEJUNG 2016: 163. DOMBOIS 2018: 66–71 verfolgt zweifellos einen richtigen Gedanken, ordnet den mittelalterlichen Erdbebenbegriff jedoch nicht in den Kontext spätantik-christlicher Exegese und Philosophie ein. Seine Ausführungen bleiben daher schemenhaft und können nicht vermitteln, dass es sich bei dem Verhältnis von terra nova und Erdbeben um eine im christlichen Verständnis angelegte dialektische Notwendigkeit handelt. 338 Apk 21, 6: ego sum Α et ω initium et finis. 339 Freilich war Augustinus nicht der einzige patristische Gelehrte, welcher sich mit der Idee einer terra nova, wie sie in der Apokalypse dargelegt wird, beschäftigte. Auch Tertullian, Ambrosius von Mailand und Hieronymus etc. kannten diese Heilsvorstellung. 340 Johannes Scottus Eriugena: Periphyseon, V. 5880–5949, 180–182: ‚Erit caelum novum et terra nova‘? Quibus verbis non solum caeli et terrae non promittitur destructio, verum etiam in novitatem quandam certa perhibetur restauratio. Quibus respondemus quod usitatissimus in divina scriptura loquendi modus est totum a parte significari vel partibus vel ex maxima divisione universae creaturae ipsam universitatem simpliciter comprehendi. [. . .] spiritus totius visibilis conditionis innovationem (hoc est in spirituales substantias transmutationem) caeli novi terraeque novae typo significavit, [. . .] Praesertim cum beatus Augustinus in ultimis De civitate dei libris non ipsa mundi corpora transitura, sed eorum qualitates in melius mutandas videatur docere; siehe auch ebd.: V. 6002–6010, 185. Dt. Übersetzung des ersten Zitats siehe Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon, 700–702. 341 Distinctiones monasticae: 332: de hac terra et duabus aliis, id est quarto elemento et celesti patria, quidam eleganter ait: Est terras quam terimus, est terra gerimus, est terra quam querimus. Nicht ohne Grund eröffnet dieses Zitat den IV. Teil dieser Arbeit.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
eine hohe geistige Strahlkraft. Mit Blick auf den Terminus terrae motus erfasst Augustinus die Veränderung des Irdischen als das Abbild einer an sich unverrückbaren Substanz. Indem sich die Substanz terra gemäß ihren Anlagen nach dem Jüngsten Gericht vollständig realisiert, wird auch das durch die Wendung terrae motus factus est artikulierte Heilsziel ersichtlich. Es ist hier nicht die Botschaft der Bewegung, sondern die der Veränderung der Erde, welche terra mittels eines kosmischen Erdbebens in den Zustand der Verbesserung und Erneuerung überführt. Nach Augustinus wird mit dem Vollzug des göttlichen Gerichts die spekulative Existenz einer terra nova geschaffen. Sie ist die Heimstätte des neuen, gerechten und sündenfreien Menschen und illustriert auf diese Weise die affirmative Vollendung der Heilsgeschichte.342 Diese Überzeugung spiegelt sich unverkennbar in Haimo von Auxerres frühmittelalterlicher Kommentierung des Hebräerbriefes wider. Die anagogische Funktion von Erdbeben trennt in seinen Worten das Unbeständige vom Beständigen. Auch seine Auslegung wird von einem affirmativen Ende bestimmt. Das kosmische Erdbeben vor dem Jüngsten Gericht ist bei Haimo gleichermaßen ein Akt der Transformation, der caelum und terra zu einer vollständigen Realisierung ihrer in der Substanz angelegten Anlagen gelangen lässt.343
342 Augustinus: De civitate Dei, XX, cap. 14, 724: Peracto quippe iudicio, tunc esse desinet hoc caelum et haec terra, quando incipiet esse caelum novum et terra nova. Mutatione namque rerum, non omni modo interitu transibit hic mundus. Unde et apostolus dicit: Praeterit enim figura huius mundi, volo vos sine sollicitudine esse. Figura ergo praeterit, non natura. Sowie ebd.: XX, cap. 16, 726 f.: Finito autem iudicio, quo praenuntiavit iudicandos malos, restat ut etiam de bonis dicat. Iam enim explicavit quos breviter a Domino dictum est: Sic ibunt isti in supplicium aeternum; sequitur ut explicet, quod etiam ibi connectitur: Iusti autem in vitam aeternam. Et vidi, inquit, caelum novum et terram novam. Nam primum caelum et terra recesserunt, et mare iam non est. [. . .] ut scilicet mundus in melius innovatus apte adcommodetur hominibus etiam carne in melius innovatis. Dt. Übersetzungen siehe Augustinus: Der Gottesstaat, 625, 629 f. 343 Haimo von Auxerre: In divi Pauli epistolas expositio, 928A: Unde bene dicit semel futurum esse hoc in die judicii, ostendens quia nunquam iterum movebuntur. Unde et sequitur: Quod autem adhuc semel dicit, ostendit mobilium translationem tanquam factorum, ut maneant ea quae sunt immobilia. Ista motio coeli et terrae ad innovationem et meliorationem illorum pertinet. Terra quidem, appropinquante die judicii, motum sustinebit, sed pariter movebuntur coelum ac terra: et mutabuntur ab hac specie in meliorem, juxta quod Apostolus dicit alibi: Praeterit figura hujus mundi. Mutata figura, remanebit substantia, eritque postea coelum novum et terra nova. Dt. Übersetzung: „Daher sagt er zu recht, dass dieses noch einmal am Tag des Gerichts sein wird, da es aufzeigt, dass sie niemals noch einmal werden bewegt werden. Weshalb folgt: Dies noch einmal aber zeigt an, dass das was erschüttert wird, weil es geschaffen ist, verwandelt werden soll, auf dass das bleibe, was nicht erschüttert wird. Dies betrifft die Bewegung des Himmels und der Erde zu jener Erneuerung und Verbesserung. Die Erde wird sicherlich, am Tag des bevorstehenden Gerichts, der Bewegung standhalten. Aber gleichzeitig werden Himmel und Erde bewegt werden und werden von dieser Gestalt zum besseren verändert werden. Entsprechend sagt der Apostel anderswo: Das Wesen dieser Welt vergeht. Es wird bei einem gewandelten Äußeren die Substanz zurückbleiben und es wird später der neue Himmel und die neue Erde sein.“
3 Vom exemplum zur imitatio Christi
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Angesichts dessen kann es nur plausibel erscheinen, dass Anselm von Havelberg im 12. Jahrhundert das Phänomen Erdbeben als prädestiniert ansah, um heilsgeschichtliche Übergänge zu kennzeichnen. Seine Betonung des sogenannten „Sinai-Erdbebens“344 im Alten Testament und des Bebens zum Kreuztod Christi im Neuen Testament als transpositiones famosae religionis345 entspricht also ebenso wenig einer für sich stehenden geschichtsphilosophischen Interpretation, wie es seine Darstellung des dritten und zukünftigen Erdbebens ist. Wenn Anselm bezüglich dieser letzten Erschütterung in seinem Werk Anticimenon (= Dialogi) schreibt: Tertius vero terraemotus futurus praedicatur, quando, istis finitis et consummatis, ad ea transitus erit, quae neque amplius movebuntur, neque concutientur,346 bewegt er sich vollkommen innerhalb der zeitgenössischen theologischen und wohlgemerkt auch dialektischen Tradition des Mittelalters.347 Die Wendung terrae motus factus est als narrativer Ausdruck einer Theophanie unterstreicht die exegetische Einheit von Erdbeben und Jesus Christus. Anselm betont in diesem Kontext nachdrücklich den erlösenden Gedanken der Auferstehung. Nur so erklärt sich, dass er den zweiten heilsgeschichtlichen Übergang zum Kreuztod Christi mit dieser Wendung umschreibt,348 obwohl das Matthäus-Evangelium hierfür bekanntlich die Wörter terra mota est wählt. Diese ausgesucht heilsgeschichtliche Bedeutungsebene von terrae motus factus est motivierte sicherlich auch Hermann von Reichenau, die zahlreichen Erdbeben in seiner Weltchronik mit explizit dieser Wendung zu beschreiben. In der christlich-mittelalterlichen Vorstellung artikuliert terrae motus factus est somit den Wandel zum Besseren in der Person Jesu Christi. Während der Gottessohn einst zum Leiden kam, wird er, wie Rupert von Deutz schreibt, beim zweiten Mal offen und sichtbar kommen und nicht schweigen349. Die terra nova als Siegespreis der Gerechten und Hoffnung der Büßenden350 beruht, so ein weiterer Aspekt der Auferstehungslehre, auf den Körpern der Heiligen.351 Doch der Weg universeller
344 Ex 19, 16–18. 345 Anselm von Havelberg: Dialogues, I, cap. V, 58. Dt. Übersetzung siehe Anselm von Havelberg: Anticimenon, 54. 346 Anselm von Havelberg: Dialogues, I, cap. V, 58. Dt. Übersetzung siehe Anselm von Havelberg: Anticimenon, 54. 347 Anselms symbolische Zuordnung von Erdbeben als heilsgeschichtliche Umbrüche entstammt Gregor von Nazianzenus’ Orationes. Siehe diesbezüglich: Anselm von Havelberg: Anticimenon, I, cap. 5, 54, Anm. 2 und LEES 1998: 197–199. Auch Haimo von Auxerre: In divi Pauli epistolas expositio, 927D formuliert ähnlich. 348 Anselm von Havelberg: Dialogues, I, cap. V, 58. 349 Rupert von Deutz: De divinis officiis, 7, cap. 17, 962: Passurus quippe venit occultus, tunc autem iudicaturus manifestus venit Deus noster et tunc non silebit. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 963. 350 Petrus Damiani: Rhytmus paenitentis monachi 13, 91. 351 Berengaudus: Expositio super septem visiones libri Apocalypsis, 936D: Terra nova efficietur, cum corpora sanctorum quae antea erant mortalia atque corruptibilia, immortalia et incorruptibilia
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
Besserung hin zu einer terra, ut in pulchriorem formam reparetur,352 geht durch das Feuer353 des göttlichen Gerichts. Indem ein kosmisches Erdbeben die Ereignisse jenes zukünftigen Tages einleitet, versinnbildlicht sich die dialektische Hinwendung zum Guten. Diesen entscheidenden Augenblick der Umkehr sahen sowohl die Kirchenväter als auch die früh- und hochmittelalterlichen Kirchenlehrer und Theologen nicht zuletzt in der Wendung terrae motus factus est magnus ausgedrückt. Die Erscheinung Gottes und die mit seinem Kommen gleichgesetzte Veränderung bzw. Bewegung der Erde ruft für die christliche Eschatologie in Erinnerung, dass die Erlösung stets an ein Moment der Prüfung gebunden ist. Jeder Mensch, so die christliche Botschaft, hat demnach die Wahlmöglichkeit, entweder auf Seiten der Gerechten oder auf Seiten der Sünder zu stehen.354. Die eigene Lebensführung gemäß der vita christiana wird somit zum Wertmaßstab, ob man als Verworfener vor Furcht vergeht oder aber heiteren Herzens und mit aufrechtem Haupt den Richterspruch erwartet, wie es vielgelesen ein Rupert von Deutz formuliert.355 Aus dem Argumentationspotential dieses Scheidepunkts bezieht die Eschatologie des Mittelalters ihre Befähigung zur Gegenwartsanalyse. Diese zeigt wiederum Rupert von Deutz, wenn er schreibt: Tunc enim exsurgente Deo in iudicium, qui nunc videtur sopitus esse vel non curare ea, quae sub sol fiunt, terra tremet quiescet, id est impii, qui terreni sunt, timebunt et quiescent, quia nocere desinent.356 Die Erneuerung der Erde ist gebunden an die Erneuerung des Menschen, zu dessen Zwecke sie schließlich geschaffen wurde.357 Für die Patristik und die Traditionsbildung des reddentur. Dt. Übersetzung: „Die neue Erde wird geschaffen werden, sobald die Körper der Heiligen, die früher sterblich und vergänglich waren, als unsterblich und unvergänglich werden wiederhergestellt werden.“ In der Patrologia Latina wird die Arbeit noch Ambrosius von Mailand zugeordnet. Autor und Entstehungszeit sind indes nicht abschließend geklärt. Das Werk dürfte vom 9. bis 12. Jahrhundert entstanden sein. Siehe VISSER 1996: 1 f., 12, 44. 352 Berengaudus: Expositio super septem visiones libri Apocalypsis, 936C. Dt. Übersetzung: „Die Erde, die nämlich in schöner Gestalt wiederhergestellt wird.“ 353 Berengaudus: Expositio super septem visiones libri Apocalypsis, 936D: Coelum et terra, et caetera elementa, quae modo videmus, ab igne consumentur, non ut penitus deleantur, sed ut in meliorem statum, sicut superius jam diximus, per ignem reparentur. Dt. Übersetzung: „Himmel und Erde, und die übrigen Elemente, die wir auf jede Weise erblicken, werden vom Feuer verzehrt werden. Sie werden aber nicht völlig zerstört werden, sondern werden nämlich durch das Feuer in einen besseren, wir sagten einen gleichsam höheren Zustand wiederhergestellt werden.“ 354 Vgl. Apk 22, 11. 355 Rupert von Deutz: De divinis officiis, 7, cap. 17, 962: Et quia tunc arescentibus reprobis prae timore iusti levebunt capita sua, id est exhilarabunt corda. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 963. Siehe auch WALDHERR 2016: 85. Besonders eindrücklich wird diese Wahlmöglichkeit anhand des Eintrages zum Jahr 1117 in den Annales Sancti Disibodi: 22 ersichtlich. Das Erdbeben, aber auch die folgenden unheilvollen Ereignisse des Jahres lassen die Menschen unberührt. In den Worten des Annalisten werden sie nicht zur Umkehr und Besserung bewegt und nehmen somit bewusst die göttliche Strafe zum Jüngsten Gericht in Kauf. 356 Rupert von Deutz: De divinis officiis, 7, cap. 17, 962, 964; dt. Übersetzung ebd.: 963, 965. 357 Ambrosius von Mailand: De Excessu Fratris, II, cap. 87, 297.
4 Terrae motus factus est magnus als Ausdruck eines Auferstehungstopos
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Mittelalters ergibt sich aus diesem Aspekt, dass sich die Erlösungsvorstellung einer terra nova und somit die anfangs erwähnten „réalités célestes et divines“358 erst ergeben werden, wenn keine Gottlosen, wie es Sichard von Cremona in der Lesart Rupert von Deutz’ verfasst, mehr vorhanden sind, um Schaden anzurichten.359 Der ermahnende oder sanktionierende Eingriff Gottes wird in dieser unvergänglichen und unsterblichen terra nova nicht mehr nötig sein. Erdbeben werden in dieser spekulativen Lesart der Vergangenheit angehören. Für die christliche Eschatologie sind sie folglich ein Phänomen der irdischen Welt.
4 Terrae motus factus est magnus als Ausdruck eines Auferstehungstopos – Ein viertes Zwischenfazit Als Ergebnis der vorangehenden Seiten kann es als belegt gelten, dass der mittelalterliche Erdbebenbegriff terrae motus sowie die Formulierungsweise terrae motus factus est magnus in Wort und Sinn dem Weltbild der lateinischen Christenheit entsprechen. Die exegetische Traditionsbildung verstand es seit der Spätantike, diese Lesart entscheidend zu festigen. Der Rückgriff auf aristotelische und platonische Philosophie war hierbei keineswegs gering. Die logische Beschaffenheit, wie sie der Terminus terrae motus als Substanz-Akzidenz-Verhältnis ausstrahlt, bot einen geeigneten Anknüpfungspunkt, um die zugrundeliegenden Mechanismen göttlichen Wirkens in der christlichen Heilsgeschichte von der Genesis bis hin zum spekulativem Erlösungszustand eines caelum nova und einer terra nova abbilden zu können. Es ist gerade diese dialektische Dynamik, welche das logische Verhältnis von terra und motus prägt und die wahrhaft ideengeschichtliche Faszination des mittelalterlichen Erdbebenbegriffs bestimmt. Diese logische Grundkonstitution vereinfachte es der Spätantike, die Plausibilität der christologischen Botschaft von terrae motus factus est anzuerkennen und als ein wichtiges Element im Weltverständnis und der Welterklärung der lateinischen Christenheit zu etablieren. Indem es sich bei der zunehmend normiert verstandenen Beschreibungsformel terrae motus factus est um einen neutestamentlichen Duktus handelt, rücken Geschichtsschreibung und christliche Exegese nicht nur auf einer sprachlichen Ebene zusammen. Beide bilden auch inhaltlich eine hermeneutische Einheit, um das Ereignis Erdbeben argumentativ zu formen. Auf diese Weise gründete die Ausdrucksweise des Neuen Testaments eine solide Basis für eine Gegenwartsanalyse, die sich maßgeblich im Rahmen von Historiographie und Annalistik entfaltete. Indem die Exegese eine Auslegung der Geschichte und somit der irdischen Wirklichkeit vornahm, war 358 LUBAC 1948: 353. 359 Sichard von Cremona: Mitralis, VI, cap. 15, 542 f.: Tunc enim terra tremuit, id est impii terrebuntur quia etiam virtutes coelorum movebuntur et terra quiescet, id est impii nocere desinent. Dt. Übersetzung siehe Sicard von Cremona: Mitralis, 623.
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IV Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung
sie zugleich Ursachenklärung als auch Bewältigungsstrategie. So lieferte sie für die mittelalterlichen Zeitgenossen überzeugende Antworten und Auswege auf existentielle Fragen und Hindernisse. Die vorangegangene Erörterung unterstreicht, dass die mittelalterliche Exegese in ihrer Erklärung des Phänomens Erdbeben keineswegs nur eine theoretische Relevanz besitzt. Sie bildet vielmehr, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt, ein getreues Abbild des mittelalterlichen Denkhorizonts. Aufgrund der zeichenhaften Instrumentalisierung von Erdbeben in der Heiligen Schrift wurde der Text der Vulgata zugleich Ausgangspunkt von literarischer Inspiration wie christlicher Weltauslegung. Die inhaltliche Verbindung von Erdbeben mit dem Tod, der Auferstehung und der zweiten Parusie Jesu Christi in Form der Wendungen terra mota est und terrae motus factus est magnus ist als rhetorisch-materieller Topos mittelalterlicher Geschichtsschreibung zu begreifen. Verwurzelt im antiken Motiv der Theophanie, gelang es den Autoren und lateinischen Übersetzern der biblischen Schriften sowie besonders der patristischen Auslegung, die Erscheinung Gottes in der Welt christologisch umzudeuten. So stellt die pagane Idee der Theophanie die substantielle Voraussetzung für eine originär christliche Argumentationsbildung, die ihren Topos in der Lehre von der allgemeinen Auferstehung der Toten besitzt. Seit der Spätantike verstand es die christliche Exegese, diesen zentralen Aspekt zu stärken. Das Narrativ terrae motus factus est magnus symbolisiert in dieser Denkart die fundamentale Einheit mit dem Pantokrator Christus. Hieraus bezieht der Auferstehungstopos seine argumentative Kraft und verweist gemäß den geistigen Schriftsinnen auf die irdischen, geistigen und himmlischen Aspekte der Auferstehung. Einstiegsvoraussetzung zu dieser hermeneutischen Abfolge bildet die mit der Beschreibung terrae motus factus est magnus verbundene Erinnerungsfunktion an das Exemplum Christi. Das Erdbeben initiiert einen Akt der Gegenwartsanalyse, welcher den Zustand der irdischen Welt mittels typologischer Motive zu klären versucht. Auf diese Weise erfolgte im Rahmen mittelalterlicher Geschichtsschreibung eine Parallelisierung von Gegenwartshandlung und Heiliger Schrift. Die nachgewiesene mehrdimensionale Auslegung von terra, aber auch die verschiedenen Tagesund Nachtzeiten wurden diesbezüglich sehr wohl als Stichwortgeber verstanden. Der im mittelalterlichen Denken stets präsente Dualismus zwischen Christ und Antichrist, aber auch der zwischen Rechtschaffenden und Sündern, konnte durch den argumentativen Einsatz von Erdbeben durchaus betont werden. Dies zeigt insbesondere die Quellenlage zum Erdbeben von 1117 bei Verona. Das Beispiel Christi bekräftigte jedoch gleichfalls die Annahme einer sich erfüllenden Prophezeiung. Erdbeben, welche tatsächlich oder vorgegeben die Lebenswirklichkeit der Menschen beeinträchtigten, hielten diese Gewissheit durchaus wach. Durch die inhaltliche Bindung an das Christusgeschehen zeigte die Erschütterung der Erde allerdings auch, dass die erlösende Auferstehung grundsätzlich für alle Menschen möglich ist. Jedoch ist sie an Bedingungen gebunden. Gerhoch von Reichersbergs argumentative Inszenierung mittelalterlicher Kreuzzugsbegeisterung legt nahe, dass ange-
4 Terrae motus factus est magnus als Ausdruck eines Auferstehungstopos
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sichts dieses Handlungsrahmens eine durch Erdbeben erfolgende Erinnerung an das Exemplum Christi maßgeblich auf eine hieraus abgeleitete Opfer- und Leidensbereitschaft abzielt. Das mittels Erdbeben in Erinnerung gerufene Vorbild Christus ist gleichfalls Antrieb für dessen Nachahmung. Die geistige Ebene des durch die Formel terrae motus factus est magnus artikulierten Auferstehungstopos zielt auf die innere Beschaffenheit des christlichen Menschen ab. Nur das individuelle Bestreben nach einer erfolgreichen imitatio Christi lässt die erlösende Auferstehung tatsächlich wahrscheinlich werden. Die tropologische Deutung des christlichen Arguments Erdbeben besitzt gerade deshalb einen beachtenswerten Stellenwert, da eine Erschütterung der Erde als Indiz für eine fehlende oder korrumpierte christliche Lebensführung verstanden wurde. Am Beispiel christlicher Herrscherethik konnte erwiesen werden, dass die Erschütterung der Erde – und somit der strafende Eingriff Gottes – als Folge für eine Vernachlässigung der Tugend der humilitas gedeutet wurde. Mangelnde Bußfertigkeit, Verfolgung der Kirche und andere im späten Investiturstreit auf Heinrich V. übertragene Eigenschaften rechtfertigten entsprechend die Erschütterung vom 3. Januar 1117 bei Verona. Im Rahmen einer imitatio Christi sollte das Erdbeben stattdessen zu Demut, Buße und Nächstenliebe anregen, um – so die mittelalterliche Auslegung – durch die eigene Besserung die Barmherzigkeit Gottes am Jüngsten Tag zu erfahren. Innerhalb des durch terrae motus factus est magnus geäußerten Auferstehungstopos nimmt die moralische Auslegung von Erdbeben eine zentrale Funktion ein. Denn nur durch die geglückte vita christiana kann das anagogische Heilsziel einer tatsächlichen himmlischen Auferstehung realisiert werden. Das Erkennen des im Terminus terrae motus zum Ausdruck gebrachten dialektischen Realisierungsprinzips eines ontologischen Monismus erlaubt einen tieferen Zugang zur spekulativen Erlösungsvorstellung einer terra nova, wie sie durch die Offenbarung des Johannes für die mittelalterliche Heilsgeschichte wirkmächtig tradiert wurde. Es ließ sich belegen, dass eschatologisch ausgerichtete Geschichtstheologien eines Augustinus, Rupert von Deutz’, Anselm von Havelbergs oder Otto von Freisings, welche explizit mit diesem zukünftigen Zustand einer neuen Erde argumentieren, das Stattfinden eines letzten Erdbebens, welches zum Jüngsten Gericht überleitet, als systemimmanent betrachten. Die Möglichkeit der positiven Auslegung von Erdbeben war bislang nur eine Randnotiz der Forschung und wurde lediglich für die christliche Spätantike im griechischen Sprachraum eingehender erörtert.360 Als ein Ergebnis dieser Arbeit kann gelten, dass die Annahme eines positiven Grundverständnisses von Erdbeben auch für das lateinische Mittelalter gilt. Angesichts dessen scheint es durchaus angebracht, die weit verbreitete negative Beurteilung
360 CHANIOTIS 1998: 404–416, bes. 406, 410 f., 415; MEIER 2007: bes. 574–577; WALDHERR 2016: 89 f.
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des eschatologischen Gehalts mittelalterlicher Erdbebendeutungen zu überdenken.361 Zugespitzt könnte sogar gefragt werden, ob es sich bei der negativen Auslegung von Erdbeben nicht um nachreformatorisches Denken handelt und dies bis heute unseren Blick auf das Mittelalter versperrt. Das hermeneutische Gewicht, welches dem Prodigium Erdbeben seit der Frühen Neuzeit eingeräumt wurde, legt diese Einschätzung durchaus nahe. Dabei gerät außer Acht, und dies prägte gerade auch die geschichtswissenschaftliche Forschung, dass eine Prodigien-Deutung sicherlich Erdbeben unheilvoll in den Kontext des Jüngsten Gerichts setzen kann. Es bleibt hierbei jedoch unbedacht, dass die Realisierung christlicher Heilsgeschichte nicht bei einem Unheilszustand stehen bleibt. Somit wäre es zu kurz gegriffen, diese ausschließlich negative Lesart auf das Denken des Mittelalters zu übertragen. Für die mittelalterliche Exegese und mit ihr die historiographische Gegenwartsdeutung war das Prodigium Erdbeben allenfalls ein Zwischenschritt. Es war unstrittige Überzeugung, dass die sündenhaft beladene Zeit des Antichristen überwunden werden wird. Die narrative Einheit des gestorbenen und auferstandenen Christus mit dem Ereignis Erdbeben in Form von terrae motus factus est magnus artikuliert diese Umkehr. Insbesondere hierin dürfte eine Ursache für die weite Verbreitung dieser Formel in annalistischen und historiographischen Quellen des frühen und hohen Mittelalters liegen. Die bejahende Hoffnung, an der Auferstehung teilzuhaben, ging also mit einer positiven Konnotation des Zeichens Erdbeben einher. Der pius Redemptor ist ein „pädagogischer Gott“. Er straft die Sünder durch Angst. Den Guten verspricht er jedoch einen gerechten Lohn.362 Cassiodor unterstreicht mit diesen Worten durchaus das Grundverständnis des Mittelalters, wonach ein rechter Christ das Jüngste Gericht nicht zu fürchten braucht.363 Die Erlösung aus dem von Gott zugelassenen irdischen Leid und einem Leben unter harten Alltagsbedingungen war stets ein starker eschatologischer Antrieb. Der hinter der Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est magnus stehende Auferstehungstopos ist somit eine Form christlich-mittelalterlicher Daseinsbewältigung. Er ist ein zeitgenössisches Postulat der Besserung und nutzt das Phänomen Erdbeben gleichsam als „Kit“ gesellschaftlichen Zusammenlebens.
361 Die positive Auslegung des Jüngsten Gerichts prägt auch Berengaudus, wie VISSER 1996: 2, 57 ausführt. 362 Cassiodor: Institutiones, 1, cap. 24. 2, 246: Deus enim si solis bonis praemia polliceretur, benignitas ipsius neglecta tepesceret; si vero malis iugitur minaretur exitium, desperatio salutis praecipitaret ad vitia. Et ideo pius Redemptor pro salute nostra utrumque moderatus est, ut et peccatores denuntiata poena terreat et bonis digna praemia compromittat. Dt. Übersetzung siehe ebd.: 247. Ähnlich Anselm von Canterbury: Proslogion, cap. 9, 34, 36. 363 Siehe auch WALDHERR 2016: 85.
V Schlussbetrachtung 1 Teil: Weltdeutung oder Klischee? – Eine strukturelle Analyse des Auferstehungstopos terrae motus factus est magnus Terrae motus factus est magnus ist ein rhetorisch-materieller Topos mittelalterlicher Geschichtsschreibung, welcher auf die verschiedenen exegetischen Auslegungsstufen der Auferstehung hinweist. Angesichts der großen Assoziationskraft der Begriffe Topos und Topik in den Geistes- und Kulturwissenschaften und deren traditionell breit geführter Interpretation1 sind die vorliegenden Ereignisse in ein bestehendes Theoriegebäude einzubetten, um die Praktikabilität des vorliegenden Ergebnisses für die Historische Seismologie zu bekräftigen. Insbesondere das seit dem 11. Jahrhundert in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung zunehmend standardisiert und formelhaft verwendete Narrativ terrae motus factus est (magnus) ist hinsichtlich einer spezifisch mittelalterlichen Deutung von Erdbeben zu untersuchen. Dazu sind Zweifel an einer Klassifizierung des Narrativs als „Allgemeinplatz“ oder als „Klischee“ im Sinne eines Auferstehungstopos auszuräumen und Merkmale zu benennen, die diese Schlussfolgerung unterstützen. Eingebettet in einen argumentativ-analytischen Stil soll dieser erste Teil der Schlussbetrachtung das rekonstruierte Wissen um die Arbeitsweise mittelalterlicher Geschichtsschreibung resümieren. Zielgerichtet werden die Kriterien für eine praxistaugliche Verifizierung oder Falsifizierung vorgestellt, welche dem Auferstehungstopos terrae motus factus est magnus eine konkrete Relevanz für die Aussage mittelalterlicher Überlieferungen von Erdbeben in Annalen und Chroniken verleihen. Den theoretischen Ansatz für diese Unterscheidung zwischen einem inhaltsleeren und einem gehaltvollen Topos lieferte Lothar BORNSCHEUER.2 Seine vier Strukturmomente eines Topos, bestehend aus Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität, werden in der Forschung viel diskutiert.3 Sie sollen auch in unserem Fall der Bewertungsmaßstab der Toposanalyse sein. Als Einstiegsvoraussetzung für die Anwendung eines Topos hat immer ein gesellschaftlich relevantes Problem vorzuliegen, welches den Anlass zur argumentativen Lösung bietet.4 Mit Blick auf den Berichtsgegenstand von mittelalterlicher Geschichtsschreibung haben solche Problemlagen üblicherweise den Status der Erinnerungswürdigkeit erfüllt. Diese Sachlage ist durch ein Erdbeben, welches zeichenhaft in die menschliche Lebenswirklichkeit einbricht, zweifellos gegeben. Die seismische Erschütterung verlangt nach Erklärung. Der Topos reflektiert gemäß
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Einen guten Überblick bietet BERNDT 2005: 31–52. BORNSCHEUER 1976: 91–108 sind für dieses Kapitel besonders relevant. Exemplarisch: SPILLNER 1981: 257 und ALLGAIER 1981: 266; OSTHEEREN 2009: 687; HUBIG 1990: 140. BORNSCHEUER 1976: 97, 101, 107.
https://doi.org/10.1515/9783110620771-005
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V Schlussbetrachtung
seiner theoretischen Konstitution von der Gesellschaft anerkannte und bewährte Antworten zur Problemlösung.5 Er ist der Spiegel eines „Horizontwissens“6 und artikuliert somit stets auch eine Form der zeittypischen Bewältigung. BORNSCHEUERS Ansatz wertet hierbei die subjektive Ebene des Autors deutlich auf. Seine Theorie wird im Wesentlichen getragen vom Prozess der „Horizontverschmelzung“ im Sinne GADAMERS.7 Die Erfüllung der Merkmale Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität verleihen dem Topos nicht nur seine argumentative Geltung.8 Sie befreien ihn zusätzlich von dem Trugschluss einer scheinbar objektiven, geradezu unpersönlichen Anwendung. Schließlich setzt eine Argumentation stets einen subjektiven Entscheidungshorizont und eine Auseinandersetzung mit bestehenden Wissensbeständen und Erfahrungen voraus,9 auch wenn sie allgemein gehalten wird. Dieser Vorgang wird mit Hilfe von BORNSCHEUERS Theorie für schriftlich überlieferte Erdbeben nachvollziehbar. In diesem Sinne kann die Relevanz des mittels der Wendung terrae motus factus est magnus artikulierten Auferstehungstopos für die ereignis- und geistesgeschichtliche Rekonstruktion mittelalterlicher Erdbeben bestimmt werden.
Habitualität Mit dem Strukturmerkmal der Habitualität benennt BORNSCHEUER den durch Wissenstraditionen, kollektive Erfahrung und ein gemeinsames Kommunikationsgefüge geformten Argumentationshintergrund.10 Dieser Wesenskern des Topos11 bündelt die verständnisleitenden Bedingungen – die Vor-Urteile12 – welche gewohnheitsmäßig dazu beitragen, in einem Erdbeben eine Theophanie zu sehen und dementsprechend weitere Schlussfolgerungen zu ziehen. Die christlichmittelalterliche Weltsicht mit der aus den biblischen Schriften abgeleiteten Erwartungshaltung, als Christ an der allgemeinen Auferstehung teilzuhaben, bildet die Basis der gesellschaftlich anerkannten Meinungen und garantiert das Prinzip des Verstehens aber auch des Verstandenwerdens. Aus der neutestamentlich verbürgten heilsgeschichtlichen Größe Erdbeben schöpft der Auferstehungstopos seine argumentative Überzeugungskraft, die an sich keiner weiteren Bekräftigung bedarf, da sie ja bereits aus allgemeiner Zustimmung erwachsen ist. Dieser Umstand wird
5 Zur Funktion der endoxa nimmt BORNSCHEUER 1976: 95 f. Stellung. 6 BORNSCHEUER 1976: 104. 7 GADAMER 2010: 311, 380. 8 BORNSCHEUER 1976: 102, 105. 9 BORNSCHEUER 1976: 208. 10 BORNSCHEUER 1976: 96. 11 BORNSCHEUER 1976: 107. 12 BORNSCHEUER 1976: 95; siehe auch GADAMER 2010: 301.
1 Teil: Weltdeutung oder Klischee?
289
selbstverständlich durch ein einheitliches Maß klösterlicher Ausbildung im Rahmen des Triviums, aber ebenso durch die kontemplative, auf die christliche Heilswahrheit ausgerichtete Lebensweise unseres mittelalterlichen Autoren- und Adressatenkreises in Klöstern und Stiften bestärkt. Eine vermeintlich reflexionslose Argumentation, wie sie aus der reinen Habitualität erwachsen kann, begründet die allseits erkannte Gefahr eines ins Klischee abgedrifteten Topos.13 Diese Kommunikationsweise kann beobachtet werden, wenn ein allgemeiner Wandel im Bewusstsein und im Weltverständnis eintritt und der in der Habitualität verankerte Wissensbestand nicht mehr die nötige gesellschaftliche Anerkennung zur Problemlösung findet.14 Die alten Argumente erscheinen plötzlich inhaltsleer und entkoppelt vom aktuellen Entscheidungshorizont. Konkret kennen wir diese Entwicklung von der Auflösung des Primats einer christlich überformten Naturphilosophie durch die an deren Stelle getretene rationalistisch-naturwissenschaftliche Weltsicht der Moderne. Ein ähnlicher Sachverhalt kann ebenso bei der Änderung des Berichtsanspruchs von Geschichtsschreibung eintreten. So verliert der durch terrae motus factus est illustrierte Auferstehungstopos seine Wertigkeit, wenn der mittelalterliche Historiograph den ursprünglich exegetisch begründeten Auftrag der aedificatio aufgibt und stattdessen unter „Erbauung“ eine Aufforderung zur Zerstreuung und Unterhaltung der Leser versteht. Die Enttheologisierung der von terrae motus factus est ausgehenden Botschaft degradiert das Erdbeben somit zur Sensation. Der Weg zum habituellen Allgemeinplatz ist nicht mehr fern.
Symbolizität Der Umstand einer sogenannten Klischeebildung eines Topos geht gleichfalls einher mit dem Grad der formelhaften Fixierung.15 BORNSCHEUER ordnet das Merkmal der prinzipiellen Wiedererkennung eines Topos dem Strukturmoment der Symbolizität zu. Das Prinzip der Merkformel, welche das Erkennen und Verstehen von bekanntem Wissen erst ermöglicht und dessen Wiederholung erlaubt,16 wird auch durch den mittelalterlichen Erdbebenbegriff terrae motus und die Beschreibungsform terrae motus factus est gewährleistet. Getragen von der lateinischsprachigen Traditionsbildung artikuliert sich in beiden Wendungen eine „sprachlich-formelhafte Symbolprägung“, wie BORN17 SCHEUER schreibt, welche die materielle Realisierung des habituellen Horizonts des
13 14 15 16 17
BORNSCHEUER 1976: 102, 107. BORNSCHEUER 1976: 101, 107. BORNSCHEUER 1976: 103. BORNSCHEUER 1976: 102 f., 105; HUBIG 1990: 140. BORNSCHEUER 1976: 105.
290
V Schlussbetrachtung
christlich-mittelalterlichen Weltverständnisses darstellt. Durch die nachgewiesener Maßen grammatische, rhetorische und logische Konstitution des Terminus terrae motus wird eben jene zentrale „Ausdrucks- und Vermittlungsfähigkeit“18 eines Topos gewährleistet. Das Trivium schulte das Mittelalter, in der Variante terrae motus factus est ein Narrativ von ausreichend präziser deskriptiver Qualität zu sehen und im Rahmen einer Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik auch entsprechend zu kommunizieren. Auf diese Weise wurde es möglich, die maßgebliche Botschaft der Wendung zu artikulieren, die in der symbolträchtigen Erinnerung an die Auferstehung Jesu sowie dessen zweiter Parusie besteht. Die Assoziationskraft des Topos wird gerade durch die christlich überformte, neuplatonische Lesart von terrae motus als interpretierte Einheit von Erdbeben und dem Pantokrator Jesus Christus zum Ausdruck gebracht. Die sprachlich normierte Bindung an die christliche Erlösungsbotschaft ist schließlich als erkenntnistheoretischer Antrieb aufzufassen. Beim Lesen oder Hören der Wendung terrae motus factus est wird so das Zeichen Erdbeben erkannt und als sprachlicher Ausdruck einer Theophanie an die vergangene Auferstehung Christi erinnert und zugleich auf die mit Gewissheit erwartete kommende eigene Prüfung hingedeutet.
Potentialität Am Aspekt der Symbolizität wird bereits die Möglichkeit einer vielschichtigen Interpretierbarkeit eines Topos ersichtlich19. Strukturell wird dieser Umstand von der Potentialität aufgegriffen und weiterentwickelt. BORNSCHEUER fasst sie als Reservoir aller praktikablen, zur Problemerörterung beitragenden Argumente auf.20 Methodisch wird der Topos somit zum Ausgangspunkt eines Alternativdenkens, das durch den Allgemeinheitsanspruch sich zum einen als universell anwendbarer Antwortgeber präsentiert, zum anderen eine rhetorische Amplifikation unterstützt.21 Die Potentialität eines Topos liefert somit einen Fundus an Gegenargumenten und ermöglicht einen konstruktiven Diskurs. Dieser für die Diskussion bereichernde Aspekt verhalf der Rhetorik zu ihrer ambivalenten Einschätzung im mittelalterlichen Denken, die sie als Überzeugungsmedium auch als „falsch“ angesehener Positionen wahrnahm.22 Das Vermögen zur komplexen Interpretation von Erdbeben ist mittels des Auferstehungstopos, wie er in Form des Narrativs terrae motus factus est magnus auf-
18 BORNSCHEUER 1976: 107. 19 BORNSCHEUER 1976: 105, 107. 20 BORNSCHEUER 1976: 99, 103. 21 BORNSCHEUER 1976: 99, 208. 22 Siehe die Erörterungen in Kap. III. 3.
1 Teil: Weltdeutung oder Klischee?
291
trifft, gegeben. Es konnte im Verlauf dieser Arbeit die Variationsbreite dargelegt werden, die durch das aristotelisch gefärbte Substanz-Akzidenz-Verhältnis der ontologischen Einheiten terra und motus bestimmt wird. Deren gegenseitige Bezugnahme formte nicht nur die Grammatik des Terminus terrae motus, sondern ist gleichsam der Spiegel einer facettenreichen christlich-mittelalterlichen Gegenwartsdeutung. Eine spezifisch neuplatonisch geprägte Einheitsvorstellung leitete den Blick des Mittelalters auf die Welt. Infolgedessen wurde terra als lateinische Bezeichnung für eines der vier Elemente verstanden und zusätzlich als Ausdruck für die feste Landmasse aufgefasst. Auch das Verständnis des Begriffs motus war gezeichnet von einer besonderen Mehrdeutigkeit, welche gleichsam dem Vorgang der Bewegung, einem Veränderungsprozess oder allgemeinhin dem Ablauf des existenziellen Werdens und Vergehens Ausdruck verleiht. Dieser grundsätzlich durch den Begriff tradierte Bedeutungsgehalt wirkte konstitutiv für die exegetische Auslegungstradition des Mittelalters über Erdbeben. Seit der Spätantike knüpften christliche Gelehrte an diese verschiedenen Aussagemöglichkeiten an und verstanden es, im Rahmen des vierfachen Schriftsinns alternative Verständnisebenen der Auferstehung zu vermitteln. Die Deutung des Zeichens Erdbeben wird demnach angeleitet durch die argumentative Potentialität, wie sie aus den irdischen, geistigen und himmlischen Aspekten der Auferstehung hervorgeht. Auf diese Weise verstandene Erdbeben eröffneten dem mittelalterlichen Geschichtsschreiber die Möglichkeit, Argumentationsstrategien zu entwickeln, welche die Erschütterung der Erde in einem dualistischen Verhältnis von Heil und Unheil, Christ und Antichrist, Erlösung und Verdammnis sowie Barmherzigkeit und Strafe einbetteten. Die Wendung terrae motus factus est magnus gewährt dadurch, dass sie bereits das vorwärtstreibende Prinzip heilsgeschichtlicher Dialektik im Namen trägt, eine Assoziation mit diesen Begriffspaaren. In der Allgemeinheit der „Veränderung der Erde“ liegt somit die Potentialität des Auferstehungstopos und seine vielschichtige Interpretierbarkeit begründet.
Intentionalität Ein Topos als universelles Mittel zur Problemlösung wird durch drei allgemeine Strukturmomente definiert. Die Habitualität liefert den Wesenskern eines Topos und bildet den eigentlichen Entscheidungshorizont ab. Die Symbolizität sichert als Ergebnis sprachlicher Traditionsbildung die Erkennbarkeit des Topos und somit dessen narrative Anwendbarkeit. Die Potentialität klassifiziert die Vielzahl an interpretatorischen Möglichkeiten, für die ein Topos zur argumentativen Problemlösung verwendet werden kann. Der eigentliche hermeneutische Akt, welcher den Topos aus einer generellen Unverbindlichkeit befreit und auf das konkrete Problem appliziert, wird allerdings erst durch die Intentionalität, der vierten Eigenschaft
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V Schlussbetrachtung
eines Topos vollzogen.23 Nur durch sie kann eine Horizonterweiterung, sprich ein Erkenntnisfortschritt, stattfinden.24 Die Intentionalität ist unmittelbar an die subjektive Akteursebene des Redners oder eben,25 wie in unserem Fall des mittelalterlichen Geschichtsschreibers, adressiert. Hierbei werden gemäß den causa scribendi des Autors26 aus dem Fundus der Potentialität die Argumente gewonnen, welche die höchste situationsbezogene Überzeugungs- und Belegkraft besitzen.27 Die subjektiven Intentionen und Aussageabsichten des Schreibers werden somit zum Schlüssel, der über den Charakter eines Topos entweder als inhaltsleere Worthülse oder als gehaltvollen Ausdruck eines Weltverständnisses entscheidet. Die Intentionalität steht für die interpretatorische Entscheidung in der Analyse des Autors. Der Auferstehungstopos als argumentatives Werkzeug zum Verständnis und zur historiographischen Vermittlung von seismischen Ereignissen findet hier seine wirklichkeitsbezogene Anbindung. Bei Erfüllung aller übrigen Strukturelemente konstituiert erst das Hinzutreten der Intentionalität den gehaltvollen Topos der Auferstehung und wirkt der klischeehaften Rezeption habituellen Wissens entgegen.28 Somit wird das Kriterium der bewussten Gegenwartsdeutung zum sichtbaren Merkmal über die Aussagefähigkeit der Beschreibungsweise terrae motus factus est magnus. In ihr offenbart sich seitens des Historiographen der Grad der Reflexion, mit dem ein wahrgenommenes Erdbeben tatsächlich als Zeichen für die Auferstehung verstanden wurde. Wenn das Argument Erdbeben in seiner exegetischen Grundlegung und historiographischen Vermittlung als exemplum oder imitatio Christi beschrieben wird, intendiert der Autor ein bewusstes Argumentationsziel, welches zum Beispiel auf Besserung, Ermahnung, Strafe oder Buße der Menschen drängt. Aus der Vielheit möglicher Aussagen, die der Auferstehungstopos in seiner Potentialität bereithält, offenbart der Schreiber somit durch die Auswahl von Argumenten seine individuelle Strategie zur Geschichtsdeutung eines Erdbebens. Ersichtlich wird diese Praxis unter anderem an der Überlieferung des Erdbebens von 1117 bei Verona in der nordalpinen Geschichtsschreibung. Die Darstellung Ebo von Michelsbergs kam in dieser Arbeit schon eingehend zur Sprache. Es sei jedoch explizit auf den Umstand verwiesen, dass seine Beschreibung: Siquidem anno Domini millesimo centesimo decimo septimo III Nonas Ianuarii, id est in octava sancti Iohannis apostoli, peccatis hominum exigentibus, terre motus factus est magnus, quarta feria, luna vicesima sexta, hora vespertina, impleta prophetia quae dicit: Pugnabit pro eo orbis terrarum contra insensatos.29
23 24 25 26 27 28 29
BORNSCHEUER 1976: 102, 107. BORNSCHEUER 1976: 102. BORNSCHEUER 1976: 99. BORNSCHEUER 1976: 208 nennt dies: „motivierende Interessen und Sinnorientierung“. BORNSCHEUER 1976: 101, 105, 107. BORNSCHEUER 1976: 107. Ebonis Vita Sancti Ottonis episcopi Babenbergensis: 42.
1 Teil: Weltdeutung oder Klischee?
293
maßgeblich aus dem Auferstehungstopos schöpft. Ebenso ist seine nachfolgende Argumentation über die mit der Person Ottos von Bamberg verknüpfte bauliche Erneuerung des Klosters Michelsberg von dieser Idee getragen.30 Die Symbolizität der Wendung terrae motus factus est magnus, wie sie im vorliegenden Zitat aus dem Ebo coartatus lesbar wird, löst, ergänzt um weitere Stichwortgeber, wie die Datierung in octava sancti Iohannis apostoli oder das Bibelzitat aus Sap 5, 21, eine bewusste Assoziation auf Grundlage des habituellen christlich-mittelalterlichen Weltverständnisses aus. Ebos Gegenwartsdeutung nutzt somit ein tropologisches Argument aus der Potentialität des Auferstehungstopos. In seiner Beurteilung ereignete sich das Erdbeben von 1117 wegen der Sünden der Menschen. Seine Intention, ein hagiographisches Werk über das Wirken des Bamberger Bischof Otto zu verfassen, lässt nun das Leben des im 12. Jahrhundert heiliggesprochenen „Apostels der Pommern“ als argumentatives Gegengewicht und Beispiel christlicher Lebensführung erscheinen. Ebos Darstellung ist ein gelungenes exemplum für einen gehaltvollen Topos. Der Glaube an die allgemeine Auferstehung ist hier der Sitz des Arguments und wird durch die inhaltlich besetzte Formel terrae motus factus est magnus angezeigt. Das Erdbeben von 1117 dient als Ermahnung zur Besserung, um das anagogische Heilsziel zu erreichen. Dass indes auch andere Argumentationsstrategien bzw. Gegenwartsdeutungen aus der Potentialität des Auferstehungstopos zur Deutung von Erdbeben interpretatorisch herangezogen wurden, belegen die Annales Sancti Disibodi. Deren mittelalterlicher Verfasser versteht das eschatologische Argument des offenkundig bevorstehenden Jüngsten Gerichts als intentionalen Schlüssel zur Problemlösung.31 Doch es gibt in der breiten Überlieferung des Bebens von 1117 auch Beispiele für eine klischeehafte Deutung des durch terrae motus factus est magnus angezeigten Auferstehungstopos. So ist der zeitnah verschriftlichte Bericht Berthold von Zwiefaltens, gleichwohl er die Symbolizität der bekannten Wendung nutzt, ausschließlich an der Sensation interessiert.32 Die hermeneutische Tiefe und argumentativ vielseitig einsetzbare Potentialität von terrae motus factus est magnus besitzt in seinem Bericht keinerlei Bedeutung. De hoc terraemotu multa miranda, inaudita et nimis tremenda possemus enarrare lautet stattdessen sein historiographischer Ansporn.
30 Siehe hierzu die Ausführungen im Kap. III. 3. 2. 2. 31 Annales Sancti Disibodi: 22: 1117. In octava sancti Iohannis ewangelista terrae motus bis inter diem et noctem tam terribilis per totum orbem terrarum factus est, ut multa aedificia corruerent et homines vix effugerunt; sed maxime in Italia, ubi tam periculosus et horribilis fuit, ut manifestum Dei iudicium super se homines exspectarent. 32 Zwiefaltener Chroniken Ortliebs und Bertholds: 218: Vigesimo tertio eiusdem abbatis anno, III Non. Ianuarii post vesperas monachis coenantibus, nobis vero in Boemia apud Claderube manentibus, nescio quid tunc agentibus, terraemotus factus est magnus. De hoc terraemotu multa miranda, inaudita et nimis tremenda possemus enarrare, nisi baculo Ieronimi innitentes propositi nostri esset, in omnibus brevitate studere.
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V Schlussbetrachtung
Ein letztes Beispiel soll diesen ersten Teil der Schlussbetrachtung abschließen. Es entstammt den Annalen des Klosters Engelberg und handelt von zwei Erdbeben am 1. April 117033 und in der darauffolgenden Nacht. Umfangreicher, als es für den Stil dieser Annalen typisch ist, heißt es: 1170. Kal. Aprilis feria 4. ante cenam Domini factus est terre motus magnus penultima diei hora. Alius circa mediam noctem contigit. Eodem anno magna mortalitas hominum facta est.34 Beide Erdbeben ereigneten sich in der Darstellung des Engelberger Schreibers kurz vor Gründonnerstag. Durch die Erwähnung des Abendmahls, welches bekanntlich an jenem Tag gefeiert wird, erkennt der Annalist den zeichenhaften Charakter der Erschütterungen und versteht es, die beiden Ereignisse mit dem Christusereignis zu verknüpfen. Die ontologische Einheit von Erdbeben und dem Pantokrator Jesus Christus, wie sie die Wendung terrae motus factus est magnus artikuliert, belegt diese Intention. Der Verweis auf das exemplum Christi, wie er hier vorliegt, erhält eine zusätzliche Bekräftigung in dem Umstand, dass beide Erdbeben im Kontext der bevorstehenden Eucharistie gelesen werden müssen. Die Erinnerung an den Tod und die Auferstehung Christi sowie der Glaube an seine unmittelbare Gegenwart während der Abendmahlsfeier dienten der Rekapitulation der Opferbereitschaft Jesu35 und ermutigten die Gläubigen zur imitatio. Es ist also auch in diesem Fall ein Auferstehungstopos, der die beiden Erdbeben auf das Sakrament der Erlösung verweisen lässt.36 Mit dem Ergebnis dieser vorliegenden Analyse sind die Kriterien für die Aussagefähigkeit des Auferstehungstopos terrae motus factus est magnus erbracht. Die erneute Bestätigung der Tiefenwirkung christlicher Weltauslegung ist abermals bekräftigt. Für die Bewertung mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen, welche maßgeblich auf eine ereignisgeschichtliche Rekonstruktion des Ereignisses abzielt, manifestiert sich somit eine zweigeteilte Vorgehensweise.37 (1) In einer ersten Betrachtung ist auf die äußeren quellenkritischen Merkmale der Beschreibung zu schauen. Die Untersuchung der nachweisbaren narrativen Wendungen, die Berücksichtigung der literarischen Gattung sowie des zeitlichen Abstands zwischen Erdbeben und dessen Niederschrift bilden für die verlässliche Einschätzung mittelalterlicher Erdbeben eine unerlässliche Grundlage. Hierfür sprechen die zahlreichen, anschaulich dargelegten Beispiele die-
33 Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Bewertung des Erdbebens siehe SCHELLBACH, GRÜNTHAL (in Vorbereitung). 34 Annales S. Blasii in Silva Nigra et Engelbergenses: 279. 35 Siehe KRATZ 2016: 77 f. Die für den Text gewählte Interpretation der Abendmahlsfeier entspricht den Auffassungen der römisch-katholischen und orthodoxen Kirche. 36 Siehe diesbezüglich auch die Ausführungen in Kap. IV. 3. 2. 2. 37 Eine ähnliche Methodik, bei gleicher Terminologie, jedoch hinsichtlich einiger Kriterien anders gewichtend, bestimmt das Wesen der historischen Quellenkritik BERNHEIMS. Von diesem lehrbuchmäßig dargestellt und bis heute maßgebend, in: BERNHEIM 1960: 324–561.
2 Teil: Resümee
295
ser Arbeit. Die Bewertung mittelalterlicher Erdbeben darf jedoch nicht bei der Erörterung dieser äußeren Kriterien verbleiben. (2) Weite Teile dieser Arbeit konnten die essentielle Rolle einer inneren Bewertung für die historische Rekonstruktion seismischer Ereignisse unterstreichen. Ein historiographisch überliefertes Erdbeben ist stets als das Resultat einer Gegenwartsanalyse aufzufassen. Eine Gesamtevaluation des Phänomens Erdbeben wird erst durch die Untersuchung von Schreibermotivationen, Quellentendenzen und spezifisch mittelalterlichen Argumentations- und Erinnerungstechniken ermöglicht. Die Interpretation hat hierbei vom nachgewiesenen christlichen Kosmos des Mittelalters auszugehen, um vorschnelle Schlussfolgerungen und Missdeutungen zu vermeiden.
2 Teil: Resümee In der thematischen Hinführung hieß es zu Beginn dieser Arbeit, dass zu wenig über die Beschreibungsweisen und den Bedeutungsgehalt mittelalterlicher Erdbeben bekannt sei. Diese Beobachtung sollte eigentlich beim Lesen der Einleitung Verwunderung ausgelöst haben. Schließlich sind schriftliche Quellen die entscheidende Bewertungsgrundlage sowohl für die ereignisgeschichtliche Rekonstruktion, als auch für die Parametrisierung aller Erdbeben der vorinstrumentellen Ära. Das Narrativ als Konservierung ganz unterschiedlicher zeitspezifischer, menschlicher Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Kommunikationsformen bleibt der Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Annäherung. Im Fortgang können diese sehr wohl durch paläo- und archäoseismologische Studien ergänzt werden, worin sich der transdisziplinäre Charakter der Historischen Seismologie erneut zeigt. Der Anspruch dieser umfangreichen Einzelstudie ist es, lateinische Wendungen, wie sie terrae motus factus est als geradezu typische mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen darstellt, nicht nur plakativ im Titel zu führen.38 Es muss wissenschaftlicher Ansporn sein, dass diese Formulierungen auch verstanden werden. Schlussfolgerungen wie die Aussage: „ausserdem erlaubt der in Quellen meist verwendete Standardsatz ‚[Datum +] iterum factum est terrae motus (magnus)‘ [. . .] keine zuverlässige inhaltliche Interpretation“,39 zu lesen im Ergänzungsband des Schweizer Erdbebenkatalogs, offenbaren die vorhandenen Schwierigkeiten im Zugang. Eine erfolgversprechende thematische Annäherung besteht somit darin, dass das Phänomen Erdbeben im Mittelalter eben nicht nur mit einem anderen Erfahrungs- und Wissenshorizont
38 Beispielhaft: GISLER et al.2007: 63–79; FERNÁNDEZ-STEEGER et al. 2011:138–148; REICHERTER et al. 2011: 149–157. 39 SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 20.
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V Schlussbetrachtung
erschlossen wurde, als es in der Moderne üblich ist, sondern auch abweichenden Argumentationsstrategien zur Inhaltsvermittlung unterlag. Daher praktiziert diese Arbeit einen Perspektivwechsel und nähert sich dem Ereignis Erdbeben erstmals in historisch-kritischer Weise über das Narrativ40 an. Die stufenweise erfolgte sprachliche Normierung des klassisch-lateinischen Terminus terrae motus zur allgemeinverständlichen Bezeichnung für Erdbeben im Mittelalter darf nicht als gegeben hingenommen werden. Die formgeschichtlich nachgewiesene Reduktion von Erdbebenbeschreibungen, in deren Folge dem mittelalterlichen Geschichtsschreiber weniger Spielraum zur literarischen Varianz geboten schien, als es in der sprachlichen Eloquenz antiker Zeiten möglich war, ist keineswegs das Produkt eines terminologischen Zufalls oder narrativer Belanglosigkeit. Die zeitgenössische Auswahl des Begriffs erfolgte nachweislich nach gezielten formallogischen, grammatischen und rhetorischen Kriterien, an deren Ende die christologische Umdeutung einer ursprünglich aus der paganen Literatur entstammenden Terminologie stand. Die vorliegende Arbeit lehrt uns, dass mit der Etablierung des Christentums die Normierung eines lateinischsprachigen Erdbebenbegriffs in West- und Mitteleuropa einherging. Die neue christliche Religion formte zur Kennzeichnung irdischer und geistiger Kategorien eine eigene Sprache, welche christliche Glaubensinhalte widerspiegelt. Deren gestaltende Kraft für die schriftliche Überlieferung mittelalterlicher Erdbeben blieb weitestgehend unerkannt, weil die Relevanz einer theologischen Hermeneutik für die intellektuelle Auseinandersetzung mit Erdbeben bisher systematisch unterbewertet blieb. Die vorliegende Arbeit thematisierte nachhaltig, dass es sich bei der Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est sowohl um eine Formulierungsgewohnheit des Neuen Testaments, als auch um Kirchenlatein handelt. Erst durch die Unterscheidung zwischen dem alt- und neutestamentlichen Erdbebenbegriff konnte der Begriff terrae motus und seine mittelalterliche Auslegung im Sinne des vierfachen Schriftsinns in einem neuen Licht erscheinen.41 Seine terminologische Etablierung erklärt sich gerade aus dem explizit gegebenen Einpas-
40 Maßgeblich SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 19 f. sind in dem begrenzten Umfang, den der Einleitungsteil eines Katalogs zulässt, auf mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen eingegangen. GUIDOBONI & EBEL, die auf vielen Seiten ihres Buches „Earthquakes and Tsunamis in the Past” vorgeben, einen „Guide to Techniques in Historical Seismology” verfasst zu haben, tragen zu wenig zur Klärung dieses grundlegenden Verständnisproblems bei. Weitestgehend alle Beispiele werden mittels englischer Übersetzungen und nicht anhand der Ursprungssprachen erläutert. Hinsichtlich des Terminus terrae motus vgl. GUIDOBONI, EBEL 2009: 233 f. 41 GUIDOBONI, EBEL 2009: 49–51 erwähnen zwar wie etliche andere Autoren (zum Beispiel: MEIER 2007: 566; BARCELÓ 1998: 102, 104; AMBRASEYS 2005: 334 f.; CONTI 2016: 66, 71 f.; WALDHERR 2016: 79–90; ROHR 2007: 106–110) die biblischen Erdbeben. Allerdings werden alt- und neutestamentliche Traditionen nicht ausreichend genug voneinander abgegrenzt.
2 Teil: Resümee
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sungspotential der Beschreibung in das christliche Weltbild des Mittelalters. Denn im Gegensatz zu anderen, gleichfalls in der römischen Antike verwendeten Beschreibungsweisen reflektiert terrae motus eine Ausdrucksform heilsgeschichtlicher Dialektik und dient ganz bewusst einer Terminologie der Erhöhung. Diese zentrale Erkenntnis illustriert eine ausdrücklich christlich-mittelalterliche Evolution. Gerade der Begriff terrae motus ist tief in neuplatonischer Ontologie und aristotelischer Logik verwurzelt und beweist eine von christlichen Weltvorstellungen getragene Abgrenzung, aber keinen Bruch42 mit antiken Vorstellungen.43 Der lateinische Erdbebenbegriff reflektiert primär eine terminologische Einheit mit dem christlichen Schöpfungsgedanken und nicht mit dem Zorn Gottes.44 Die Nutzung des Terminus erneuert, übertragen auf das Mysterium Christi, die antike Idee der Gotteserscheinung und begründet das durchaus positive45 Grundverständnis des Früh- und Hochmittelalters über das Zeichen „Erdbeben“. Das Argument des Gotteszorns ist, anders als es dessen überbordende Beachtung in der Forschungsliteratur46 nahelegt, im Quellencorpus dieser Arbeit kaum präsent. Zudem sollte durch die nachgewiesene heilsgeschichtliche Dialektik des Begriffs terrae motus die Argumentation des mittelalterlichen Historiographen über die erwähnte Strafe hinaus gedacht werden. Der Zorn Gottes gerät damit in einen Kontext der Ermahnung und Besserung. Die Darstellung von Erdbeben war also mehr mit der Kommunikation konkreter inhaltlicher Botschaften verbunden, als bislang angenommen wurde. Somit scheint hinsichtlich der Aufforderung: „in historical seismology we need to know more about an earthquake than its mere occurrence“,47 zumindest mit Blick auf das frühund hochmittelalterliche Verständnis von Erdbeben, durch die Resultate dieser Arbeit eine adäquate Antwort gefunden worden zu sein. Herauszustellen ist zum einen die formgeschichtliche Besonderheit der mittelalterlichen Traditionsbildung. Sie beruht, mehr als in römisch-antiken Quellen, grund-
42 Hinsichtlich des Fortbestehens antiker Denktraditionen ist GUIDOBONI, EBEL 2009: 152, zuzustimmen. 43 Anhand des griechischen Sprachraums deutet MEIER 2007: 566 diese Entwicklung bereits für die christliche Spätantike an. 44 Die von MEIER 2007: 576 für den griechischsprachigen Historiographen Johannes Malalas belegte synonyme Bezeichnung von Erdbeben und Gotteszorn (theomênía) ist für die lateinische Sprachtradition nicht belegt. Den Ausführungen bei SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 17, wonach es sich bei dieser Interpretation um eine Gewohnheit „christlicher Autoren des 5. Jahrhunderts“ handelt, kann sich nicht angeschlossen werden. 45 Ähnlich argumentieren CHANIOTIS 1998: 406; WALDHERR 2016: 89 f. 46 Beispielhaft für seismologische und geschichtswissenschaftliche Literatur sind LEYDECKER 2011: 9; STEINWACHS 1983: 87; MAYER-ROSA 2009: 2125–2126; GUIDOBONI, COMASTRI, TRAINA 1994: 50–52; GUIDOBONI, EBEL 2009: 49, 53, 57; JANKRIFT 2003: 10; WALDHERR 2016: 83–86. 47 GISLER et al. 2007: 77.
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V Schlussbetrachtung
legend auf der inhaltlichen Bezeichnungsfunktion einiger Verben, die, wie im Fall von facere, substantiell mit dem christlichen Heilsgeschehen verbunden sind.48 Der mittelalterliche Autor kombinierte diese spezifischen Tätigkeitswörter variabel mit dem traditionsstiftende Erdbebenbegriff terrae motus. Nachweislich etablierte sich nördlich der Alpen auf diese Weise bis zum ersten Viertel des 12. Jahrhunderts eine durchaus eloquente Geschichtsschreibung über Erdbeben. Im Ergebnis wird eine heterogene Quellenlage sichtbar. So lassen sich regionale Schreibgewohnheiten, zeitliche Kontinuitätsbrüche in der Nutzung einzelner Wendungen und ein markanter Unterschied zwischen den Rezeptionsstufen mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen detailreich differenzieren. Das Zurückweichen allgemeiner Schriftlichkeit im 10. und 11. Jahrhundert ist vielen dieser Quellen narrativ keineswegs anzumerken. Vielmehr ließ sich die Renaissance von Weltchronistik und monastischer Annalistik als Motor für die Etablierung mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen, wie zum Beispiel terrae motus factus est (magnus), nachweisen. Bislang war die Bedeutung der literarischen Gattung für die Überlieferung von Erdbeben in der Forschung nicht ausreichend präsent49. Mit dieser Studie, deren Anliegen auch auf den technischen Schreibumständen mittelalterlicher Geschichtsschreibung liegt, gilt es, sich von einer generalisierenden Lesart literarischer Gattungen zu verabschieden. Die unterschiedlichen, durch die Auswahl des Schreibmediums vorgegebenen Rahmenbedingungen prägten sehr wohl mittelalterliche Schreibgewohnheiten zu Erdbeben. Die annalistische Überlieferung eines seismischen Ereignisses in einer Ostertafel besitzt offenkundig eine andere deskriptive Qualität, als sie eine Chronik bietet. Erst nach dem Erdbeben vom 3. Januar 1117 bei Verona, das für die nordalpine Geschichtsschreibung eine quantitative und qualitative Einzelerscheinung darstellt, ist eine bislang nicht bekannte Änderung der Schreibgewohnheiten belegt. Dieses Erdbeben markiert gewissermaßen eine Zeitenwende in der mittelalterlichen Traditionsbildung. In der Folgezeit lässt sich eine narrative Festlegung auf die Wendung terrae motus factus est (magnus) beobachten, die seit dem beginnenden 12. Jahrhundert Züge einer formelhaften Fixierung angenommen hat. Nach diesem Erdbeben vollzog sich nicht nur eine Reduzierung narrativer Beschreibungen. Generell änderte sich der Grad der deskriptiven Qualität der überlieferten Erdbeben. Vor allem nahmen die Anschaulichkeit der Darstellung und die Erwähnung von Ortsangaben
48 Siehe Boethius: Contra Eutychen, cap. 1, 296: ‚facere‘ vero tantum, ut Deus ceteraque divina. Frz. Übersetzung siehe ebd.: 297. 49 Es ist eher von Verallgemeinerungen zu lesen, wie bei GUIDOBONI, EBEL 2009: 79: „chronicles are a kind of source that are very similar to annals“. Ähnlich: GUIDOBONI, COMASTRI 2005a: 6. Zutreffender sind indes GISLER et al. 2007: 69.
2 Teil: Resümee
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und Bezeichnungen, die eine seismologische Stärkebestimmung der Erschütterungen ermöglichen, ab. Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen werden von Seiten der Forschung stets mit einem Glaubwürdigkeitsproblem konfrontiert.50 Die Skepsis ist begründet und versteht sich zu Recht als Forderung zur Anwendung historischer Quellenkritik. Von daher war es wichtig, einen besonderen Fokus auf die historiographischen Überlieferungsumstände sogenannter falscher Erdbeben zu legen. Der zum Teil gerechtfertigte Zweifel am Wahrheitsgehalt entsprechender Erinnerungen liegt aber auch in einer generellen Unkenntnis über die Bedeutung von Erdbebenbeschreibungen begründet.51 Bekanntlich blieb bislang vage, welche Inhalte der mittelalterliche Historiograph überhaupt mit seinem kurzen oder auch längeren Eintrag hinsichtlich der Erschütterung überliefern wollte. Der Charakter des Faktums Erdbeben bleibt somit unergründet und erschwert alle daraus folgenden geschichtswissenschaftlichen und seismologischen Erforschungen. Diesem Sachverhalt wirkt diese Arbeit entgegen, indem sie gezielt die vorhandene Schreib- und Beschreibkompetenz mittelalterlicher Autoren ermittelt. Die Basis der Untersuchung bildet die elementare Ebene der klösterlichen Ausbildung. Verschiedenartig ließen sich die Lerninhalte des Triviums als prägend für die argumentative Gestaltung von Erdbeben nachweisen. Besonders die Gerichtsrede, die als Überrest antiker Rhetorik in mittelalterlichen Klosterschulen und Stiften gelehrt wurde, erschien als das zeitgenössische Mittel der Wahl, um einen historischen Sachverhalt als Faktum definieren und in glaubwürdiger Weise darstellen zu können. Zielführend erwies sich gerade die Anwendung einer „Topik der Umstände“, die ursprünglich als „Umschreibung einer Tat“ das Herzstück erfolgreicher Gerichtsrhetorik darstellte. Durch die strukturierte Methode der Fragestellung gelang es den mittelalterlichen Schreibern, das Erdbeben nach Kriterien wie Ort, Stärke und Datum zu klassifizieren. Dieses Vorgehen erlaubt es, den Zusammenhang zwischen einem als inhaltlich konzise ausgewiesenen Faktum und jeweils verschiedenen Terminologien zur Bezeichnung von Erdbeben herzustellen. Dementsprechend ließ sich belegen, dass hinsichtlich einer präzisen Vermittlung erinnerungswürdiger Informationen nicht alle Erdbebenbeschreibungen gleich beschaffen sind. Mitunter ist zu lesen, dass mittelalterliche Geschichtsschreiber kein besonderes Interesse an der faktischen Überlieferung besessen hätten.52 Eine solche Schlussfolgerung ist zwar nicht grundlegend falsch. Sie ist jedoch bei weitem zu allgemein gehalten. Es ließ sich nämlich sehr wohl zeigen, dass insbesondere im Frühmittelalter ein Vermögen zur aussagefähigen Beschreibung von Erdbeben vorhanden war
50 GUIDOBONI, STUCCHI 1993: 201 f. 51 Es sei an das oben genannte Zitat aus SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 20 erinnert. 52 Siehe zum Beispiel: SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 17.
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V Schlussbetrachtung
und von den zeitgenössischen Schreibern auch ausgeschöpft wurde. Dieser Befund wird unter anderem an jenen Quellen deutlich, die seismische Vorgänge mit allgemeinlautenden Ortsbezeichnungen verbinden. Es konnte gezeigt werden, dass hinter dem großen narrativen Variantenreichtum zur Lokalisierung ein topographisches Ordnungsmodell verborgen liegt. Die zeitgenössisch-mittelalterliche Einteilung des Erdkreises geschah folglich weniger unsystematisch, als es auf den ersten Blick anzunehmen ist.53 Hinsichtlich einer ereignisgeschichtlichen Rekonstruktion von Erdbeben lässt sich somit durchaus auf eine lokale oder überregionale Wahrnehmung von Erschütterungen seitens der Schreiber schließen. Die rhetorischen Mittel der Gerichtsrede boten also genügend Potential, um das Ereignis Erdbeben als Argument gelten zu lassen. Anderseits verfügte der mittelalterliche Schreiber durch den gezielten Einsatz einer Erschütterungs- und Erbauungsrhetorik über ein praktikables Werkzeug zur aussagestarken Deskription einer als gleichwertig zu betrachtenden exegetisch-geschichtstheologischen Tradition. Der Vorwurf einer ungenügenden faktischen Aussagekraft von Erdbeben ist prinzipiell eine Frage der Perspektive. Eine Beschreibung wie terraemotus magnus scheint vielen modernen Ansprüchen hinsichtlich der Darstellung seismischer Vorgänge, gerade in Bezug auf eine Parametrisierung, nicht zu genügen.54 Die wissenschaftliche Erwartungshaltung verlangt schließlich nach einem klar erkennbaren Ausmaß der Erschütterung. Die Kürze mancher Überlieferungen und der Gebrauch bestimmter Stärkeadjektive, wie zum Beispiel magnus, dürfen jedoch nicht prinzipiell zu einer quellenkritischen Abwertung der Erdbebenüberlieferung führen. Es ist richtig, dass gerade das oft zitierte magnus eine hohe exegetische Komponente besitzt. Gleichzeitig konnte aber in dieser Arbeit herausgestellt werden, dass es ebenso eine Relation mit bestehenden Erfahrungsständen ausdrücken kann. Ein inflationärer Gebrauch von magnus oder anderen Adjektiven lässt sich keineswegs aus den Quellen ableiten. Gewissheit über die Glaubwürdigkeit der Wortwahl ist auch in diesem Fall allein aus dem Überlieferungskontext und eventuellen Parallelüberlieferungen zu erhalten. Die religiöse Deutung von Erdbeben im Mittelalter darf keinen Anlass darstellen, per se eine verminderte Glaubwürdigkeit einer Überlieferung für die ereignisgeschichtliche Rekonstruktion abzuleiten.55 Vielmehr bliebe so ein wesentlicher Aspekt mittelalterlichen Weltverständnisses unberücksichtigt. Mentalitätsgeschichtlich – und
53 Es ist GISLER et al. 2007: 70. zuzustimmen, dass dennoch ein hoher Grad an Unsicherheit für die Lokalisierung von Erdbeben fortbesteht. 54 Als Beispiel dienen GISLER et al. 2007: 70. 55 Das Urteil von GUIDOBONI, EBEL 2009: 53 über den Wert hagiographischer Quellen ist zu strikt getroffen. Dass diese Quellengattung durchaus zur ereignisgeschichtlichen Rekonstruktion von Erdbeben beitragen kann, zeigt nicht nur das Beispiel Ebo von Michelsbergs, sondern auch LOTTER 1976: 136, 156 f., 214.
2 Teil: Resümee
301
dies ist zu betonen – artikuliert zum Beispiel die theologische Dimension eines magnus für den mittelalterlichen Schreiber eine plausible und dem Ausmaß des Ereignisses angemessene Bewertung eines Erdbebens. Gewissheit schöpfte der Historiograph aus der Bibel und den Auslegungswerken der Kirchenväter und – lehrer. Enzyklopädische Werke besaßen für die früh- und hochmittelalterliche Geschichtsschreibung über Erdbeben indes nur einen marginalen Stellenwert. Grundsätzlich gilt, dass das theologische Faktum im Mittelalter zugleich ein historisches ist. In diesem Licht sollte auch die Standardisierung von terrae motus factus est (magnus) gelesen werden. Die Formulierung artikuliert bekanntlich eine exegetische und eine deskriptive Aussage. Die offensichtlich höher bewertete christliche Auslegung dieser Wendung darf deren Glaubwürdigkeit für die ereignisgeschichtliche Rekonstruktion und Parametrisierung von Erdbeben nicht von vornherein schmälern. Wie in vielen Stellen dieser Arbeit wurde auch im ersten Teil dieser Schlussbetrachtung bekräftigt, dass insbesondere terrae motus factus est (magnus) die Ausdrucksform einer zeitgenössischen Gegenwartsanalyse von Erdbeben ist, die selbstverständlich für jeden historischen Einzelfall validiert werden muss. Zahlreiche Beispiele sind in dieser Arbeit erörtert wurden, die bei einem aus ereignisgeschichtlicher Perspektive vermeintlich zu rechtfertigenden Überlesen einer offensichtlich zeichenhaft-symbolisch verfassten Erdbebendarstellung den mittelalterlichen Glaubwürdigkeitsanspruch von Geschichtsschreibung prinzipiell in Frage stellen würden.56 Die Historische Seismologie muss akzeptieren, dass das Mittelalter eben andere Wertmaßstäbe gelten ließ. Demzufolge ist das Erkennen des Auferstehungstopos als Mittel zur zeitgenössischen Problemlösung ein wichtiger Fortschritt. Dessen Verständnis bietet die Form von Interpretation und Bestimmbarkeit mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen, wie sie bislang in der Historischen Seismologie fehlten. “There’s more to the picture, than meets the eye”. Dieses Zitat leitet nicht grundlos die vorliegende Arbeit ein. Die hermeneutische Aufforderung dieser Zeilen benennt trefflich den facettenreichen Charakter mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen. Die Untersuchung mittelalterlicher Erdbeben ist ein vielfältiges und wissenschaftlich wahrhaft lohnendes Unterfangen. Mit der Fertigstellung der vorliegenden Studie sind jedoch keineswegs alle Fragen erörtert. Die Geschichte mittelalterlicher Erdbeben ist nicht auserzählt. Stattdessen sollten sich neue Anknüpfungspunkte ergeben haben, um die Erforschung historischer Wissensbestände und Vorstellungen weiter voranzutreiben. There is still more to the picture.
56 Vgl. hierzu die Gegenposition von SCHWARZ-ZANETTI, FÄH 2011: 19; GUIDOBONI, EBEL 2009: 57.
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Register Sachen, Personen und lateinische Formen Abbo von Fleury 125 Abendmahl 294 Adam 228 Adelheid von Burgund 207 Adjektiv 167 admonitio 267, 271 aedificatio 289 Aedilfrid 191, 270 Ähnlichkeit 26, 98, 106, 109, 116, 187 Akzidenz 18, 101, 105, 121, 125, 138 Alanus ab Insulis 93, 109, 118, 132, 174, 232, 247, 249, 266, 276–277 Albertus Magnus 214, 248 Alkuin 15, 67, 115, 148, 153, 188, 255 Allgemeinplatz 287, 289 Altes Testament 42, 59, 75–76, 111, 235–236 Althochdeutscher Tatian 20, 140, 144 Ambrosius Autpertus 252 Ambrosius von Mailand 193, 279, 282 Ammianus Marcellinus 31 Amplifikation 86, 172, 188, 220, 222, 262, 290 Analogie 11, 26–27, 33, 106, 133, 230 Angst 191, 218 Angstpotential 218 Annalistik 45, 51, 58–59, 66–67, 69, 71, 161, 182, 185, 246, 298 Anschaulichkeit 187–188, 190, 194, 197, 226 Anselm von Canterbury 117 Anselm von Gembloux 46, 64, 170 Anselm von Havelberg 241, 281, 285 Anselm von Laon 255, 267 Antichrist 233, 255, 257, 264–265, 284, 286 Apokalypse 206 apokalyptische Vorzeichen 204 Apuleius von Madaura 18, 26 Argument 148 Argument Erdbeben 198, 245, 251, 254, 256, 267, 272, 285 Argumentation 151, 153 argumentative Geltung 288 Aristoteles 18, 26, 97, 99, 101, 106, 121–122, 124–125 Arnold von Heiligenberg 8 https://doi.org/10.1515/9783110620771-007
Art 18, 98, 101, 103 Astronomie 120 Auferstehung 259, 263, 284–288, 291–293 Auferstehungstopos 62, 284–294, 301 Augustinus 15, 17, 97, 106–114, 120, 150, 190, 215–216, 220, 224, 232, 242, 266, 269, 278–280, 285 Aulus Gellius 31 Aussagefähigkeit 145, 157, 159, 172 Barmherzigkeit 268, 285 Beda 54, 115, 145, 150, 191, 213, 269–270 Begriffsbildung 25 Belegdichte 185 Benediktsregel 219 Beobachtung 210 Berichtsanspruch 186 Berichtsqualität 177, 184, 226 Bernhard von Clairvaux 249–251, 277 BERNHEIM 12 Bernold von Konstanz 63 Bernold von St. Blasien 8 Berthold von Zwiefalten 189, 293 Beschaffenheit 121 Beschreibungsmuster 67, 224 Besserung 220, 266–267, 270 Bewältigungsstrategie 284 Bewegung 99, 122–123, 125, 129, 142, 227 bibenôt 141 Blutmond 255 Boethius 15, 18–19, 95, 101–103, 108, 119, 123–126, 129, 148, 152–153, 187, 234, 239 BORNSCHEUER 13, 47, 57, 186, 287–290 Buch Hiob 75, 77 Bundeslade 252 Bußbereitschaft 191–192, 272 Buße 193, 267, 271 Caesarius von Heisterbach 194 Calcidius 98 Cassiodor 15, 245, 286 causae scribendi 13 Christentum 87, 296
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Register
christliches Weltverständnis 264 Christologie 250 christologische Botschaft 237 Christus 55, 112, 127, 142–143, 191, 198, 200–201, 223–224, 229–231, 235, 238–242, 245–246, 250, 252–254, 257–258, 262–263, 266, 278, 281, 284, 286, 290, 294, 297 – Auferstehung 261, 265, 286–290, 293–295 – Erlösung 198, 204, 237, 240, 252, 273, 288, 296 – Kreuzigung 240, 243, 255, 269 – Kreuztod 57, 142–143, 201, 241–242, 247, 255, 283, 286, 296 – Leib 232–233 – Leiden 201, 269 – Messianität 242 – Mysterium 254, 299 – Parusie 143, 198, 201, 223, 247, 254, 260, 264–265, 280, 286, 292 Christusereignis 190, 201, 242, 278, 294 Christusgeschehen 284 Chronistik 70, 155 Cicero 15, 32, 50, 96, 146, 153, 155, 217 commovere 237 concutere 32 Conrad Bote 209 conturbare 237 Cosmas von Prag 82 CURTIUS 13 Daseinsbewältigung 286 Datierung 145, 184 Datierung, falsch 207 David 270 Demut 267, 273 deskriptive Fähigkeiten 157 deskriptive Qualität 180, 182, 185–186, 196, 298 Dialektik 14, 225, 275 Differenz 18, 101, 103, 105, 123, 128 Donat 26, 174–175 DROYSEN 12 Ebo von Michelsberg 192, 198, 217, 220–222, 224, 292–293 Ebstorfer Weltkarte 231–232 Ecclesia 154, 223–224, 228, 230, 249, 256–257, 271
Eckstein 223 Edelsteinallegorese 120 Ehe 271 Ehebruch 271 eidos 123 Einheitsgedanken 224 Einheitsvorstellung 225, 230 Ekkehard von Aura 44, 76, 79–80, 154–156, 171, 198, 233, 249, 256, 265, 273–274 Ekkehards IV. von St. Gallen 70 Elemente 119, 126–127, 129, 278 Elementelehre 42, 133, 227 elocutio 58, 149, 225 Eloquenz 9, 40, 45, 47, 52, 70 Emmaus 264 Emo von Huizinge 211, 213–216, 220 Emotion 230 emotionale Erregung 230 Endoxa 147, 187 Endzeitreden 143, 166, 238 Enttheologisierung 289 Enzyklopädik 120, 135, 301 Episteme 108 Epistemologie 115 epistemologische Unsicherheit 109, 175 Erbauung 220 Erbauungsrhetorik 192, 198 Erdbebenkatalog 4, 6, 17, 195, 207 Erdbebenstärke 168, 172 Erdbebentheorie 17, 135, 197 érdbiba 141 erdbibunga 141, 143–144 Erdbidem 141 Erde 42–43, 119, 124–126, 128, 130, 132–135, 163, 227–229, 232–233, 277, 280, 291 – Element 44, 126, 128, 130, 136, 230, 293 – Auslegungsmöglichkeiten 229, 234, 279 – Kälte 128 – Schwere 126, 128, 130, 134 – Trockenheit 126, 128 – Planet 45, 124, 126, 132–134, 136, 163, 229, 293 – Subjekt 122, 229 – Substanz 98–99, 101, 118, 121–125, 136, 138, 229, 231 – Veränderung 63, 122, 124, 131–132, 136, 235, 279–280, 282, 293 Erdfall 209
Sachen, Personen und lateinische Formen
erdgiruornessi 142–143 Erdkreis 134, 159, 161, 163–164, 201, 228, 232, 300 Ereignis 184 Ereignis Erdbeben 225, 286, 296, 300 Erfahrung 11, 73, 81, 175, 187, 148 – kollektive 148 Erfahrungswissen 114, 116 Erhabene Rede 226 Erhöhung 297 erhtbibunga 141 Erinnerung 9, 20, 72–73, 115, 161, 177 Erinnerungsfunktion 69 Erinnerungstechnik 164 Erinnerungswürdigkeit 47, 73, 182, 287 Erkennen 117 Erkenntnis 12, 41, 108–109 Erkenntnistheorie 107 Erlösung 198, 204, 250, 271, 286, 294 Erlösungsbotschaft 290 Erlösungsvorstellung 110, 254, 275, 283 Erschütterung 219–220 Erschütterungs-/Erbauungsrhetorik 24, 208, 218, 220, 226, 266–267, 269, 290, 300 Erschütterungsrhetorik 189–190, 197–198, 220 Eschatologie 76, 143, 155, 191, 197–198, 201–203, 223, 249, 257, 265, 282, 286 Etymologie 137, 234 Eucharistie 294 Eucherius von Lyon 235 Eugen III. 74, 249 Eusebius von Caesarea 75, 156 Evangelienharmonie 140 Exegese 14, 94, 107, 110, 120, 149–150, 191–192, 198, 221, 223, 225–226, 229, 231, 234, 247–248, 251–252, 254, 258, 265–267, 272, 274–276, 278, 280, 283–285, , 293 – Allegorie 120, 150, 223, 227–228, 231, 253–254, 256, 267–268 – Anagoge 192, 198, 223, 228, 253, 277, 280, 282, 287, 295 – Literalsinn 253, 260 – Tropologie 191, 228, 233, 253, 268, 270–271, 274, 276, 295 Exegetische Auslegungsstufen 226 exegetische Weltauffassung 131 Exemplum 6, 11, 199
347
exemplum Christi 250, 252–253, 258, 284–285, 292, 294 Existenz 122 Exkommunikation 205 facere 123, 298 Faktum 83, 152, 185, 196, 225, 301 Faktum Erdbeben 10, 23–24, 33, 39, 69, 135, 158, 177, 179, 196, 299 Falldarstellung 177 Falschbeben 185, 195, 198, 200, 207, 226, 263 Fasten 193 Florence von Worcester 192 Form 123, 127–128 Formalisierung 46, 64, 171 Formulierungsgewohnheit 58, 137 Fragestellung 225 fragliches Erdbeben 195 Frühscholastik 83 fünf Sinne 97 Furcht 218 furor teutonicus 274 GADAMER 2, 19, 21, 116, 139, 288 Gattung 18, 98, 101, 103 Gebäudeschäden 173 Gedächtnis 16, 72, 74, 187 Gefängnis 268 Gegenwartsanalyse 8, 57, 198, 203–204, 224, 233, 246, 254, 282–284, 286, 291, 293, 301 Gegenwartsbezug 43 Gegenwartshandlung 254 Gelasius 272 Genesis siehe Schöpfung 119 genitivus subiectivus 139 Geoffroy de Montbray 211 Gerhoch von Reichersberg 226, 247–248, 250, 256, 265, 284 Gerichtsrede 109, 146, 148, 153, 164, 225–226, 299–300 Gerward 199 Geschichtsbewusstsein 88 Geschichtsschreibung 5, 58, 70–71, 73–74, 83, 145, 154–155, 224, 298, 301 Geschichtstheologie 76, 198, 202, 277 Geschichtstheorie 156
348
Register
Geschichtsvermittlung 225 Gesichtssinn siehe Sehsinn 82 Gewitter 28, 218 Glaubwürdigkeit 23, 43, 47, 145–148, 150, 154, 172, 177, 187, 197, 225–226, 299–301 Glaubwürdigkeitsproblem 149 Gott 10, 61, 75–76, 123, 155, 192, 203, 206, 215, 219–220, 225, 231, 236–237, 244, 257, 267, 297 – Allmacht 63, 215, 238–239 – Furcht 207 – Idee 123 – Präsenz 227, 269 – Strafe 10, 77–78, 155, 191, 219, 238, 259 – Zorn 10, 77, 192, 203, 206, 233, 238–239, 246, 299 Gottesbeweis 240 Gottesbild, alttest. 236 Gottfried von Viterbo 205 Gottvertrauen 249 Grammatik 14, 93–94, 125, 139, 146, 224 Gregor der Große 79, 191, 225, 251, 269–270 Gregor V. 207 Gregor von Nazianzenus 281 Gregor von Nyssa 129 Grundstein 223 Guido von Montecassino 192 Guido von Pisa 86 Gunthar von Köln 271 Hagiographie 221 Hahnenschrei 260, 263–264 Haimo von Auxerre 255, 274, 280 HEGEL 276 HEIDEGGER 2 Heilige Schrift 15, 55, 60, 78, 87, 111, 134, 150, 174, 198, 226, 234, 252, 264, 284 Heiliger Geist 230, 269 Heiliges Land 229 Heilsgeschehen 298 Heilsgeschichte 54, 143, 156, 190, 197, 201, 238, 240, 244, 247, 252, 254, 257, 259, 275–276, 279–280, 283, 285–286 heilsgeschichtliche Dialektik 246, 291, 297 Heilszeichen 252 Heinrich II. 207 Heinrich III. 206 Heinrich IV. 205, 256, 273
Heinrich V. 74, 205, 256–257, 273–274, 285 Herbord von Michelsberg 222 Hermagoras von Temnos 151 Hermann Korner 172, 196 Hermann von Reichenau 8, 51, 53–54, 57, 278, 281 Hermeneutik 16, 21, 73, 83, 88, 101, 107, 109–110, 117, 120, 136, 226, 268, 283, 291, 296 – christliche 120, 228 Herrscherethik 190, 266, 270, 285 Herrschertugend 272 Hieronymus 17, 60, 111, 146, 150, 253, 259, 279 Hildegard von Bingen 120 Himmelszeichen 255 Hinkmar von Reims 266, 271–272 Historische Seismologie 3–4, 5, 10, 12, 17, 21, 145, 159, 195, 287, 295, 301 Hochmut 270 Honorius Augustodunensis 213, 254 Horizontverschmelzung 288 Horizontwissen 288 horribilis 217, 220 Hrabanus Maurus 15, 72, 83, 140, 144, 188, 227, 229, 232, 262, 265, 267 Hugo von St. Viktor 96, 117, 156–157, 226, 251 humilitas 272–274, 285 Hunger 198 Idealherrscher 271 Idonität 270 Imagination 67, 72 imitatio Christi 258, 266, 269, 272, 274, 292 Imitation 43 Informationsverlust 67–68, 86, 159–160, 167, 180 Inhaltsvermittlung 79 Inschriften 35 Intensitätsüberschätzung 221 inventio 58, 67, 146–147, 151–155, 167, 177, 225 Investiturstreit 76, 154, 205, 222, 224, 248–249, 256, 273, 285 irdische Welt 97 Isaak von Stella 247, 276–278 Isidor von Sevilla 15, 72, 97, 115, 126, 132, 138, 153, 163–164, 191, 204 Italienzug 74
Sachen, Personen und lateinische Formen
Johann Wolf 209 Johannes Scottus Eriugena 18, 119–121, 127–131, 279 Julius Obsequens 27–28 Jüngstes Gericht 76, 143, 155, 191, 197, 202, 223, 238, 244–245, 264, 280, 285–286 Jupiter/Zeus 28, 34 Karfreitag 200, 253 Karl der Große 7, 223 Karl der Kahle 68, 272 Karolingerreich 272 karolingische Bildungsreform 88 karolingische Renaissance 18, 52 Kartographie 231–232 Katastrophenbewältigung 37 Kategorien 100–101, 103, 106, 117, 119, 121 Kirchenfrieden 271 Kirchenglocken 249 Kirchenlatein 150, 296 Kirchenschisma 257, 273 Kirchenväter 235, 278 Klassifizierung 176–177 Klischee 14, 186, 287, 289, 292 Klischeebildung 289 klösterliche Ausbildung 94, 248 Komet 255 Komputistik 120 Konrad III. 74 Kontemplation 230 Körper 104, 119 kosmologisches Weltbild 215 Kosmos 130, 132–134, 161, 163, 216, 219, 230, 244 Kreuzfahrerstaaten 249 Kreuzzug 248–250 Kreuzzugsbegeisterung 284 Krieg 198 Lambert von St. Omer 127 Landulph von Mailand 205 Lautmalerei 26, 40 Lebenswirklichkeit 218 Leibmetaphorik 229–232, 267 Leo der Große 235, 250 literarische Gattung 14, 18, 58, 69–70, 86, 88, 221, 225, 294, 298
349
Liturgie 259, 263 Liutbert von Mainz 271–272 Livius 33, 41 locus amoenus 164 locus terribilis 164 Logik 20, 94, 96, 118, 136, 297 Lokalisierung 24, 81, 145, 159–161, 163–164, 298, 300 Lokalisierung, falsch 208 Lothar II. 271 Lucanus 28 Lucretius 135, 219 Ludwig der Deutsche 271–272 Magnitude 7 magnus 8, 49, 63, 87, 169, 174–175, 253, 255, 300 makroseismische Intensität 7–8, 24, 64, 145, 159, 167, 172–173, 176, 212, 261, 299 Marcellusflut 212, 215 Marianus Scottus 53–55, 61 Martianus Capella 15, 153, 189–190 Materie 122–123, 127–128, 278 Mathilde von Quedlinburg 207 Matthäus von Vendôme 150, 152, 188 memorabile siehe Erinnerungswürdigkeit 74 Menko von Huizinge 170, 212, 214 Mensch 104 Merkformel 289 Meteorit 206, 255 Mitternacht 262 moralische Handlungsempfehlung 266 Morgendämmerung 258 motu 40 motus 88, 122, 124–125, 131, 136–137, 139, 233, 278, 291 – Bewegung – Differenz – Veränderung movere 34, 42–43, 189, 236–237, 242 – Rhetorik 13–14, 28, 85, 146, 148, 156, 188–189, 225, 292, 301 Mühlstein 235 mundus 132 mundus intelligibilis 23, 136, 232 mundus sensibilis 23, 136, 232 mutatio rerum 278
350
Register
Nächstenliebe 220 Nacht 218, 260, 262 narratio 45, 57, 147, 151, 153, 156 Narrativität 46 Naturphilosophie 61, 119, 121, 136 Naturvorstellung 214 Naturwahrnehmung 33 Neues Testament 235, 238, 241, 245, 252, 267, 283, 296 Neuplatonismus 18, 97–98, 114, 127, 134–135, 232, 276, 279, 297 Niederschriftszeit 182 Normierung 137 Notker III. von St. Gallen 108 novus David 271 nutare 34 Offenbarung des Johannes 242–244, 255, 274, 285 Offenbarungsgeschehen 258 Ontologie 11, 42, 97–98, 101, 121–122, 130, 163, 227, 230, 297 ontologischer Monismus 275–276, 285 Opferbereitschaft 249, 294 Ordnungsmodell 164 Orosius 60, 75, 78 Ort siehe Lokalisierung 184 Osterdienstag 264 Osterliturgie 258 Ostern 223, 258, 262, 264 Osternacht 262 Ostertafel 9, 36, 64, 70, 81, 298 Otfrid von Weißenburg 141 Otloh von St. Emmeram 131 Otto der Große 207 Otto III. 207 Otto von Bamberg 220–222, 224, 293 Otto von Freising 74–76, 79, 83, 265, 277–279, 285 Ovid 32 Pantokrator 239, 241, 253, 284, 290, 294 Paradieserwartung 232 Parametrisierung 17, 145, 172, 182, 195, 295, 300 Parusieerwartung 264 Paschalis II. 205
Passionsgeschichte 250 Paulus 242, 268 per loca 166 Petrus Abaelard 119, 124–125, 247 Petrus Chrysologus 245 Pflanzenheilkunde 120 Philipp von Harveng 251 Platon 97–98, 135 – Ideenlehre 99 Platonismus 101, 106 Plinius d. Ältere 30, 32, 35, 135, 213–214 Plotin 101 Porphyrios 18, 95, 97, 101, 103, 105–106, 117, 128, 136 Posaune 190, 249 Poseidonios 34 positive Auslegung 285 Prädikabilien 103–104 Predigt 220, 225 Predigtlehre 189 Priscian 124, 151, 174 probabilistische seismische – Gefährdungsabschätzungen 3 Problemlösung 288–289, 291, 293, 301 Prodigium 10, 82, 193, 202–204, 206–207, 257, 286 Progymnasmata 151 Proprium 18, 101, 105 Ps.-Gauslenus 119 Publius Annius Florus 33, 219 Quadrivium 120 Qualitätsbezeichnung 170 Quantitätsbezeichnung 174 Quellenkritik 299 Quellenwert 172, 175 Quintilian 19, 25, 109, 139, 153, 155 Radulfus Glaber 218 Reduzierung 171 regnum christi 255 regnum diaboli 255 regnum teutonicum 274 res gestae 147, 153 rex christianus 270, 272 rex tyrannus 257, 273 Rezeptionsstufe 71, 86, 159
Sachen, Personen und lateinische Formen
Rezeptionsverlust 69 Rhetorica ad Herennium 146, 188 Rhetorik 13–14, 26, 83, 146, 148, 156, 188–189, 225, 290, 299 Roger von Howden 192 Rupert von Deutz 190, 248–249, 252, 254, 258, 262, 271, 281–283, 285 Sakramente 271 Saul 270, 272 Scheidung 271 Schlussstein 223 Scholastik 247 Schöpfung 63, 76, 97, 116, 119, 121, 132, 197, 215, 224, 227, 232, 259, 275, 297 Schöpfungslehre 120, 126, 278 Schreibermotivation 66 Schreibgewohnheit 52, 169, 171, 176–177, 182, 184, 225 Schreibgewohnheiten 298 Schreibkompetenz 145, 157, 177, 185, 225, 299 Schreibmedium 88, 298 Schriftlichkeit 14, 18, 46, 53, 58, 83, 298 Schullektüre 15 Schulrhetorik 146 Schwerkraft 125 Seele 97, 114–115, 117, 230–231, 269 Seelenheil 270 Seesturm 242 Sehsinn 82 Seismologie 3 Selbstüberprüfung 270 Seneca d. J. 27, 29, 32, 34, 45, 83, 214–215, 218 Sensation 289, 293 sensus spiritalis siehe vierfacher Schriftsinn 251 Septuaginta 60, 111, 234, 241 Seuchen 193, 198 Sichard von Cremona 86, 283 Sigebert von Gembloux 82, 210 Signum siehe Zeichen 238 similitudo siehe Ähnlichkeit 109 Simonie 256 Sinneseindruck 107, 114 Sinnesorgane 110 Sodom und Gomorrha 75–76, 79 Sonnenaufgang 260 Sonnenfinsternis 55, 73, 255 Sonnenlicht 260
351
Sonnenuntergang 260–261 Sprache 14, 16, 25, 41, 87, 109, 120, 139 Sprachgewohnheiten 235 Sprachtradition 109, 237, 243, 297 Standfestigkeit 112, 269 Stärkebeschreibung 7, 24, 63, 86, 167–168, 170–171, 300 Stärke siehe Stärkebeschreibung 184 Status-Lehre 151 Sterblichkeit 193 Strafe 191 Strafwunder 220 Stundengebet 258 Stundengebet 258–259, 262, 265 – Komplet 260 – Laudes 260 – Matutin 260 – Non 260 – Sext 260 – Terz 260 – Vesper 260–261, 267 – Vigilien 264 Sturm 77, 170 Sturmflut 170 Subjekt 122 Substantiv 138 Substantivierung 139–140 Substanz 98–99, 101, 118, 121–123 Substanz-Akzidenz-Verhältnis 100, 106–107, 136, 227, 278, 283, 291 Sueton 27, 35 Sünde 244 Sündenfall 278 Sünder 198 Sündhaftigkeit 203, 233, 245, 270 superbia 272 synoptische Endzeitreden 191, 255 Syntagma 139 Tacitus 30 Tageslicht 263 Tagesoffizium siehe Stundengebet 258 Tageszeit 262, 265 Tathandlung 151, 156 Tatian 140 Täuschung 109, 116 terra concutitur 32 terra mota est 41–42, 43, 142, 241, 246, 284 terra movit 33
352
Register
terrae motus 10, 28, 32, 34–35, 39, 42–47, 49, 52–54, 58–60, 62–64, 66–67, 69, 71, 74–78, 81–86, 88, 116, 118, 122–123, 136–139, 143, 154, 173, 178–180, 182, 184–187, 224, 227, 232–233, 235, 237–238, 242–244, 246, 278, 280, 283, 285, 289, 291, 296–298 – accidere 45, 48, 66, 179, 187 – contingere 47, 64–66 – contremere 47 – esse 45, 47–48, 85–88, 178, 184, 186 – facere 185–186 – subruere 79–80 – subvertere 76–80, 154 – videre 47, 83–84 terrae motus factus est 7, 9–10, 12, 16, 20, 46, 49–51, 54–55, 57, 59, 80, 83, 181, 186, 200, 226–227, 232, 235, 243, 246–247, 263, 268, 275, 277–278, 280–281, 289–290, 295–296, 298 terrae motus factus est magnus 244, 251–253, 257, 282–288, 290–294, 301 terrae tremor 33, 35 terrae tremore 34 terribilis 217, 220 Tertullian 59, 61, 156, 254, 279 Teutgaud von Trier 271 Teutonicus furor 76 Theodulf von Orléans 82 Theophanie 34, 42, 113, 236–237, 239–244, 246, 249–250, 253, 263–264, 268–269, 281, 284, 288, 290, 297 Theutberga 271 Thietmar von Merseburg 208–209 Thomas von Aquin 248 Tiburtinische Sibylle 204–205, 249, 257, 273, 279 Timaios 134 T-Karten 163 Topik 12–13, 19, 67, 79, 103, 137, 152–154, 164, 177, 186, 226, 233, 284, 287 Topos 13–14, 42, 49, 57, 171, 200, 287, 289–293 – gehaltvoll 289, 294–295 – Habitualität 14, 59, 289–291, 293 – Intentionalität 14, 59, 289–290, 292–295 – Potentialität 14, 59, 289–290, 292–295 – Symbolizität 14, 59, 289–293, 295 Toposanalyse 287
Tornado/Windhose 210 Traditionsbildung 21, 26, 34, 40, 44–45, 50, 57, 66, 71, 74, 80, 83, 85, 87–88, 154, 170, 180, 217, 224–225, 232, 235, 282–283, 289, 291, 298 tremere 30, 34, 41 tremor 30 tremore terrae 31 Trivium 14–15, 19, 93–94, 136, 146, 151, 224–225, 289–290, 299 Überlieferung 12 Überlieferungsort 46 Übersetzung 144 Überzeugung 148–149, 189, 290 Umstände 152, 156, 177–178, 182, 185, 196, 225 Umständebeschreibung 167 Umständetopik 152, 157, 184, 225, 299 Unbeweglichkeit 130 Unheil 257, 286 Unheilsgeschichte 203–204 Unheilszeichen 193 Universalien 97 Universalienstreit 97–98, 118–119, 136 Unwetter 193, 210 Ursachenlehre 124 Urteil 106 Veränderung 61, 122, 124, 132, 278 Verben 139 vergangenheitsgeschichtliche Quelle 38 Vergänglichkeit 131, 233 Vergessen 38 Vergil 33, 35, 42, 95, 210, 213 Vernunft 110 Victor von Capua 140 vierfacher Schriftsinn 24, 231, 276, 287, 291, 296 Vita 221 vita christiana 247, 285 Vorausbild 238 Vorstellung 72–73, 79, 114, 187, 218 Vor-Urteil 116, 288 Vorverständnis 116 Vulgata siehe Heilige Schrift 15 Vulkanausbruch 29 Vulnerabilität 75
Orte
Wahrheitsanspruch 146 Wahrnehmung 46, 73, 82, 97–98, 101, 106–107, 109–110, 115, 117, 155, 229 Walahfrid Strabo 68, 145 Walther von Speyer 94, 156 Weltauslegung 121, 155 Weltchronistik 53, 55, 58, 298 Welterklärung 83, 195, 209, 225, 227 Weltseele 127, 134 Weltsicht 19, 111 Weltverständnis 58, 63, 87, 161, 283, 300 Weltvorstellung 110 Wendepunkt 85, 183 Wilhelm von Conches 119 Wissenshorizont 20, 88 Wormser Konkordat 249, 273 Wunder 226, 268 Zeichen 108–109, 112 Zeichen Erdbeben 198, 202–203, 244, 246, 292, 297 Zeichenhaftigkeit 206 Zeichenlehre 107, 114, 117, 120, 134, 136, 215 Zeitabhängigkeit 177 zeitgenössische Quelle 38 zeitnahe Quelle 38 Zeitzeugengeneration 180 Zittern 218–219 Zwei-Gewalten-Lehre 272
Orte Aachen 7, 53, 162, 194, 223 Admont 56 Angers 119 Ardennen 46 Augsburg 248 Babylon 244 Bamberg 15, 192, 221–222 Basel 20 Belgien 4, 172 Bodensee 37, 51, 53, 57 Brandenburg 172, 196, 210 Braunschweig 209 Brescia 213–214
Burgund 39, 80 Comagenis, (nahe Tulln/Donau) 219 Coutance 211 Egmont 9 Engelberg 9 Erfurt 9 Europa 164 Frankreich 247 Freising 248 Friesland 196, 211 Heiliges Land 77 Herculaneum 29, 36, 39, 43, 84 Hildesheim 62, 248 Île de Ré 277 Italien 4, 80, 161, 222 Jerusalem 79, 231 Kampanien 29 Kärnten 20 Katalaunische Felder 204 Kloster Admont 85, 265 Kloster Allerheiligen (Schaffhausen) 8 Kloster Brauweiler 64, 69 Kloster Corvey 40, 62, 208 Kloster Egmond 65 Kloster Engelberg 168, 261, 265, 294 Kloster Floreffe 86 Kloster Fulda 61, 140, 143–144 Kloster Garsten 56 Kloster Gembloux 82 Kloster Lobbes 62 Kloster Lorsch 159, 161, 199 Kloster Michelsberg 15, 221–223, 293 Kloster Mondsee 84 Kloster Reichenau 53, 56, 68 Kloster Reichersberg 249–250 Kloster Saint-Bénigne 81 Kloster Schaffhausen 169 Kloster Siegburg 49, 157 Kloster St. Emmeram 84
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Register
Kloster St. Gallen 53, 67, 265 Kloster St. Pantaleon, Köln 77 Kloster St. Vast 200 Kloster Wittewierum 170, 211–212, 214–215 Köln 64, 162 Liège siehe Lüttich 53 Loire 68 Lombardei 36, 166, 213 Lüneburg 208–209 Lungau 57, 162, 194 Lüttich 37, 39 Lyon 84 Magdeburg 206 Mailand 166, 192 Mainz 7, 41, 52, 60, 162, 272 Michaelskloster (Lüneburg) 79 Mitteleuropa 296 Moosburg 248 Mouzon 80, 82 Nordafrika 113 Norditalien 20, 75 Nordsee 212 Ölberg 166, 238 Orléans 212 Österreich 4, 20, 55 Oxford 212 Palästina 113 Paris 212 Pesaro 27 Polling 248
Pompeij 29 Prag 39 Quedlinburg 207 Regensburg 213, 222 Rom 116 Saint-Amand-les-Eaux 200 Salerno 39 Salzburg 65, 162 Schaffhausen 8, 63 Schottland 39 Schweiz 4, 20 Sinai 241, 281 Speyer 162 Stift Quedlinburg 207 Stift St. Victor, b. Mainz 62 Süddeutschland 221 Totes Meer 241 Tridentiner Tal 74 Venetien 36, 166 Verona 9, 20, 36, 39, 43, 45, 71, 74, 76, 80, 84, 159, 168, 183, 217, 221, 225, 256, 274, 284–285, 292, 298 Vesuv 29 Weihenstephan 63 Westeuropa 296 Westfranken 162 Wissembourg 84 Wormsgau 162, 199