Epistemologische Fiktionen: Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung 9783110229165, 9783110229158

This monograph investigates the relationship between literature and science against the background of the functional dif

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German Pages 384 [385] Year 2010

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert
3. Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft an der Schwelle zum 19. Jahrhundert
4. Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans im Realismus/Naturalismus
5. Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts im frühen 20. Jahrhundert
6. Die Grenzen der Literatur
7. Literatur und moderne Physik oder die Sichtbarmachung des Unbeobachtbaren
8. Zusammenfassung
Backmatter
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Epistemologische Fiktionen: Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung
 9783110229165, 9783110229158

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Thomas Klinkert Epistemologische Fiktionen linguae & litterae

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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies

Edited by

Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Erika Greber (Erlangen) · Ekkehard König (Berlin) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Pieter Muysken (Nijmegen) Wolfgang Raible (Freiburg) Editorial Assistant Aniela Knoblich

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De Gruyter

Thomas Klinkert

Epistemologische Fiktionen Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022915-8 e-ISBN 978-3-11-022916-5 ISSN 1869-7054 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

V

Vorbemerkung

Dieses Buch verdankt seine Entstehung einer mehrjährigen, leider aufgrund zahlreicher, vor allem administrativer Verpflichtungen diskontinuierlichen Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Literatur und Wissen(schaft). Die Idee entstand im Rahmen einer Vorlesung, die ich erstmals im Wintersemester 2003/04 an der Universität Mannheim und dann in erweiterter Form im Wintersemester 2007/08 sowie im Sommersemester 2008 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg durchgeführt habe. Das Manuskript aber hätte sich wohl niemals in eine Monographie verwandelt, wenn nicht ein günstiger Zufall in Gestalt eines einjährigen Forschungsaufenthaltes am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies) eingetreten wäre und mir die Möglichkeit gewährt hätte, die vorhandenen Kapitel anzureichern, theoretisch zu fundieren und ins Reine zu schreiben. Zu danken habe ich den Mitgliedern und Freunden der Sektion für Linguistik und Literaturwissenschaft des FRIAS für viele anregende Gespräche und Diskussionen. Stellvertretend genannt seien hier Andrea Albrecht, Dorothee Birke, Claudia Brodsky, Michael Butter, Lutz Danneberg, Gesa von Essen, Tilmann Köppe, Fabian Lampart, Christine Maillard, Günter Oesterle, Monika SchmitzEmans und insbesondere Werner Frick, ohne den es das FRIAS in dieser Form nicht geben würde. Für jederzeit verfügbare administrative Unterstützung danke ich Heike Meier und Simone Zipser. Mein Dank geht außerdem an Simone Baum, Johanna Gropper, Frank Jäger, Marion Konrad und Ursula Menne, die mich im Hinblick auf die Bibliographie in vielfacher Weise unterstützt haben. Danken möchte ich sodann Gisela Weiss, die viele meiner Gedanken zu Papier gebracht hat, sowie Rotraud von Kulessa und Stephanie Boye, denen ich meinen Lehrstuhl während meines FRIAS-Aufenthaltes beruhigt anvertrauen konnte. Zu danken habe ich auch Walter Bruno Berg, Elisabeth Cheauré, Andreas Gelz, Daniel Jacob, Rolf Kailuweit, Eva Kimminich und Stefan Pfänder, ohne deren freundschaftliche Kollegialität mein FRIAS-Aufenthalt zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Wolfgang Orlich wies mich freundlicherweise in die Nutzung von Frantext ein. Den Herausgebern von »linguae & litterae« danke ich für die Aufnahme des Buches in ihre Reihe, Aniela Knoblich fürs Korrekturlesen und dem Verlag de Gruyter für die gute Zusammenarbeit. Dank schulde ich schließlich meiner Frau Weertje Willms und unseren Kindern Steen und Philine, ohne die ich nicht die Kraft gehabt hätte, dieses Buch zu schreiben. Widmen möchte ich es dem Andenken meines Vaters Konstantin Klinkert (1923–2009). Freiburg i. Br., im Frühjahr 2010

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VII

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1

1 4 7 11 14

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunst und Wissenschaft als ›zwei Kulturen‹ . . . . . . . . . . . Die funktional differenzierte Gesellschaft . . . . . . . . . . . . Plan der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation, Wissen und Wahrheit aus systemtheoretischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Wahrheit und Fiktion als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Giambattista Vico: Scienza nuova . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das System der »connoissances humaines« nach d’Alembert und Diderot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Exkurs: Das Verhältnis von Fachsprache und Literatursprache im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Jean-Jacques Rousseau: Anthropologie und Fiktion . . . . . . 2.5 Diderot: Entretien entre d’Alembert et Diderot und Jacques le fataliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Metaphorische Rede im Entretien . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Jacques le fataliste als Dekonstruktion der Grundoppositionen des »systême des connoissances humaines« . . . . . . . . . .

21 25

2.

3. 3.1 3.2

4. 4.1

. .

39 39

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49

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53 59

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76 76

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91

Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft an der Schwelle zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Entstehung ästhetischer Autonomie am Beispiel von Goethes Werther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Das Auseinandertreten von Wissen und Erzählen in Goethes Wahlverwandtschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans im Realismus/Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Balzacs Begründung des Romans als Wissenschaft . . . . . . . 131

VIII

Inhaltsverzeichnis

4.1.1 Das Verhältnis von Geschichts- und Kommentarebene am Beispiel von Splendeurs et misères des courtisanes . . . . . . . . 4.1.2 Die Infragestellung der Wissenschaft durch das Phantastische in La peau de chagrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Flauberts Balzac-Nachfolge im Zeichen der ironischen Skepsis 4.3 Roman und Historiographie bei Manzoni . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die Refunktionalisierung der Manuskriptfiktion im Zeichen der Ironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Die Diskrepanz zwischen Primärhandlung und historiographischer Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Naturalistische Wissenschaftsprogrammatik als Fortsetzung des realistischen Projekts und dessen Infragestellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Zolas naturalistisches Programm und die Brüchigkeit seiner Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Die Abkehr vom Naturalismus um 1900 . . . . . . . . . . . . a) Pirandellos Il fu Mattia Pascal . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pío Barojas El árbol de la ciencia . . . . . . . . . . . . . . . 5. 5.1 5.2 5.3 5.4

6. 6.1 6.2 6.3 6.4

Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts im frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . Freuds Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu einigen Affinitäten zwischen Freud und Pirandello . . . Das Ich zwischen Restitution und Auflösung bei Proust . . Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse in Svevos La coscienza di Zeno . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Diskursive Hybridisierung . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis zwischen histoire und discours und das Problem der Grenze . . . . . . . . . . . . . .

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142 149 156 177 179 185

192 192 205 205 214

222 225 231 240

. . 258 . . 262 . . 265

Die Grenzen der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musils Mann ohne Eigenschaften als Roman des Hypothetischen Borges oder die Subvertierung des Epistemologischen in der literarischen Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cortázars Rayuela oder die Selbstauflösung des Textes im Zeichen der Chemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Calvinos Palomar als epistemologische Fiktion im Zeichen der Erkenntnisungewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 272 . 272 . 285 . 294 . 305

IX

Inhaltsverzeichnis

7.

Literatur und moderne Physik oder die Sichtbarmachung des Unbeobachtbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Grenzen des Sehens und der Kommunikation: Del Giudices Atlante occidentale und Staccando l’ombra da terra 7.2 Literatur im Zeichen des Unbestimmtheitsprinzips . . . . 7.2.1 Houellebecq, Les particules élémentaires . . . . . . . . . . . 7.2.2 Volpi, En busca de Klingsor . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.

. . . 314 . . . .

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316 325 325 332

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.

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Einleitung

Littérature: Occupation des oisifs. (Flaubert, Dictionnaire des idées reçues)

Der Zusammenhang von Literatur und Wissenschaft wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr intensiv erforscht. Insbesondere das 19. Jahrhundert und der realistisch-naturalistische Roman standen dabei im Zentrum der Untersuchungen, aber auch das 18. und das 20. Jahrhundert wurden im Hinblick auf die Bedeutung wissenschaftlicher Denkformen und Modelle in literarischen Texten zum Gegenstand der Betrachtung.1 Die Leserin/der 1

Zum 19. Jahrhundert vgl. etwa Eckhard Höfner, Literarität und Realität. Aspekte des Realismusbegriffs in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1980; Winfried Wehle, »Littérature des images. Balzacs Poetik der wissenschaftlichen Imagination«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Honoré de Balzac, München 1980, S. 57–81; Elke Kaiser, Wissen und Erzählen bei Zola. Wirklichkeitsmodellierung in den »Rougon-Macquart«, Tübingen 1990; Frank Wanning, Gedankenexperimente. Wissenschaft und Roman im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1999; Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999; Allen Thiher, Fiction Rivals Science. The French Novel from Balzac to Proust, Columbia/London 2001; Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002 (darin insbes. Eckhard Höfner, »Wissenschaftsrezeption und Erzähler-Strategien im realistischen Roman des französischen und italienischen 19. Jahrhunderts«, S. 190–219); Marc Föcking, Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen 2002; Gabriele Brandstetter (Hg.), Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, Freiburg i. Br. 2003; Thorsten Greiner/Hermann H. Wetzel (Hg.), Die Erfindung des Unbekannten. Wissen und Imagination bei Rimbaud, Würzburg 2007. Daneben gibt es auch Untersuchungen, in denen nicht das 19. Jahrhundert im Mittelpunkt steht, vgl. etwa Helene Harth/Susanne Kleinert/Birgit Wagner (Hg.), Konflikt der Diskurse. Zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im modernen Italien, Tübingen 1991; Eva Kimminich (Hg.), Erfundene Wirklichkeiten. Literarische und wissenschaftliche Weltentwürfe – zwei Wege, ein Ziel?, Rheinfelden 1998; Paolo Quintili, La pensée critique de Diderot. Matérialisme, science et poésie à l’âge de l’Encyclopédie. 1742–1782, Paris 2001; Christine Maillard/Michael Titzmann (Hg.), Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935, Stuttgart 2002; Norbert Elsner/Werner Frick (Hg.), »Scientia poetica«. Literatur und Naturwissenschaft, Göttingen 2004; François Vannucci, Marcel Proust à la recherche des sciences, Paris 2005; Allen Thiher, Fiction Refracts Science. Modernist Writers from Proust to Borges, Columbia/London 2005; Edward Bizub, Proust et le moi divisé. La »Recherche«: creuset de la psychologie expérimentale (1874–1914), Genève 2006; Robert Crawford (Hg.), Contemporary Poetry and Contemporary Science, Oxford 2006; Massimo

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Einleitung

Leser mag sich daher fragen, mit welchem Recht hier eine weitere Untersuchung zu diesem Themenkomplex erscheint. Was das vorliegende Buch von den bisher erschienenen, insbesondere den monographischen Studien unterscheidet, ist erstens der breitere historische Rahmen: Es werden Texte analysiert, die zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und dem Ende des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Zweitens wird die Wechselbeziehung von Literatur und Wissenschaft aus einer (romanistisch-)komparatistischen Perspektive betrachtet. Untersucht werden Texte in italienischer (Vico, Manzoni, Pirandello, Svevo, Calvino, Del Giudice), französischer (Diderot, Rousseau, Balzac, Flaubert, Zola, Proust, Houellebecq), deutscher (Goethe, Freud, Musil) und spanischer Sprache (Pío Baroja, Borges, Cortázar, Jorge Volpi). Die Auswahl der Texte ist, wie jede Auswahl, bis zu einem gewissen Grade willkürlich – allerdings nicht in dem Sinne, dass die ausgewählten Texte keine Relevanz für das Thema beanspruchen dürften, im Gegenteil, sondern in dem Sinne, dass der Ausschluss von Texten nicht bedeutet, dass diese keine Relevanz für das Thema hätten (zu denken wäre etwa an Autoren wie Novalis, Giovanni Verga, Thomas Mann, Luis Martín-Santos, Primo Levi und viele andere). Die hier getroffene Auswahl ist nicht nur durch die Relevanz der Autoren und ihrer Werke zu rechtfertigen, sondern auch durch vielfach zwischen ihnen bestehende Querverbindungen und Zusammenhänge: Rousseau und Diderot kannten sich persönlich und schrieben ihre Werke vor einem gemeinsamen Wissens- und Problemhorizont; Goethe hat Diderot intensiv rezipiert und stand mit Manzoni in Briefkontakt; Balzac kannte nicht nur die französischen Enzyklopädisten, sondern auch Goethe und begründete die literarische Reihe des wirklichkeitsdarstellenden Romans, der Autoren wie Flaubert, Zola, Proust, Pirandello, Svevo, Musil, aber auch Cortázar, Calvino und Houellebecq verpflichtet sind – und sei es auch nur, dass sie gegen die Prämissen Bucciantini, Italo Calvino e la scienza, Roma 2007; Alfonso de Toro (Hg.), Jorge Luis Borges: Ciencia y Filosofía, Hildesheim 2007. Grundlegende Überlegungen zum Zusammenhang von Literatur und Wissen(schaft) finden sich etwa bei Bernhard J. Dotzler, »Explorationen. Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften«, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen, Bd. IX, Berlin 2002, S. 311–327; Renate Lachmann/Stefan Rieger (Hg.), Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte, Tübingen 2003; Monika Schmitz-Emans (Hg.), Literature and Science. Literatur und Wissenschaft, Würzburg 2008. Vgl. auch die Forschungsberichte von Nicolas Pethes, »Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht«, in: IASL 28/1 (2003), S. 181–231, und »Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers«, in: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 341–372.

Einleitung

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der Wirklichkeitsdarstellung ankämpfen; Calvino knüpft an Flaubert an und steht in enger Verbindung mit Del Giudice; Cortázar zitiert in Rayuela Musil und knüpft an dessen essayistische Schreibweise an usw. Insofern wäre hier wenn auch nicht von einer literarischen Reihe im klassischen Sinn, so doch von einem Textkorpus zu sprechen, dessen Zusammensetzung hinsichtlich einer gemeinsamen Problematik und hinsichtlich vorhandener transnationaler Rezeptionsbeziehungen gut begründbar ist. Drittens wird in der Einleitung dieses Buches unter Rückgriff auf systemtheoretische Überlegungen Niklas Luhmanns und auf die jüngere Fiktionstheorie ein theoretisches Modell zur Beschreibung der im Hauptteil des Buches analysierten Interferenzen zwischen literarischen Texten und wissenschaftlichen Denkmodellen und Diskursen entwickelt (vgl. Kap. 1.4). Entgegen der im Motto formulierten idée reçue, wonach Literatur eine Beschäftigung für Müßiggänger und damit etwas Unnützes, Wertloses oder gar Schädliches sei, welches nicht die Dignität besitze, in Verbindung mit etwas so Seriösem und Wichtigem wie Wissenschaft gebracht zu werden, gehe ich von der Prämisse aus, dass Fiktion und Wahrheit nicht essentielle Texteigenschaften sind, sondern kommunikative Operatoren, die auf Texte Anwendung finden können. Dadurch werden die literarischen und die wissenschaflichen Diskurse in ein Verhältnis der Vergleichbarkeit gebracht. Solche kommunikativen Operatoren bezeichnet Luhmann als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, deren Funktion es ist, unwahrscheinliche Kommunikation zu ermöglichen. Die Entstehung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Wahrheit verortet Luhmann in der griechischen Antike als Konsequenz der Schriftlichkeit und der mit ihr verbundenen Distanzkommunikation. In der griechischen Antike kommt es jedoch auch erstmals zu einem Fiktionsbewusstsein, wie der Altphilologe Wolfgang Rösler gezeigt hat. Wahrheit und Fiktion sind somit Konsequenzen einer bestimmten Problemlage und Operatoren innerhalb eines sich ausdifferenzierenden Kommunikationssystems. Die Komplexität jener Texte, welche wir heute als literarisch bezeichnen, beruht auf ihrer doppelten Codierung. Einerseits kommt in ihnen der Fiktionsoperator und damit die Leitdifferenz fiktiv vs. wahr zur Anwendung, andererseits sind sie nach der Leitdifferenz schön vs. hässlich codiert. Insofern sind sie von Beginn an geprägt durch den Widerstreit zwischen einer Fokussierung der Form (schön vs. hässlich) und einer Akzentuierung des Dargestellten als eines wissenswerten Gegenstandes (Fiktion vs. Wahrheit). Dieses nur schwer auflösbare Spannungsverhältnis ermöglicht es, dass zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten historischen Umständen literarische Texte ihre Form so gestalten, dass als Material dieser Gestaltung Wis-

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Einleitung

senselemente fungieren können. Der Fiktionsoperator ermöglicht nun die Integration epistemischer Elemente und relativiert damit einerseits die Fokussierung der Form, suspendiert aber andererseits den mit der Thematisierung von epistemischen Elementen verbundenen Wahrheitsanspruch, woraus ein neues Spannungsverhältnis resultiert. In diesem Sinne sollen im Folgenden die ausgewählten Texte als Teile eines nicht abschließbaren Prozesses betrachtet werden, in dem literarische Formen erzeugt werden, die gleichzeitig an Wissensdiskursen partizipieren und somit zu epistemologischen Fiktionen werden. Diese Texte haben einen prinzipiellen Doppelcharakter: Sie sind immer zugleich literarische Form und Reflexion, Darstellung, aber auch Infragestellung von Wissen. Insofern ist das, was hier auf dem Spiel steht, nichts weniger als die Entdeckung und Vermessung der Grenzen der Literatur im Zeitalter funktionaler Ausdifferenzierung.

1.1 Kunst und Wissenschaft als ›zwei Kulturen‹ Geht man von gegenwärtigen Verhältnissen aus, so stehen Kunst und Wissenschaft zueinander in deutlicher Opposition. Der Bereich der Kunst, des Schöngeistigen, des Feuilletons, des Künstlerisch-Kreativen, zu dem auch die Literatur gezählt wird, ist klar abgrenzbar vom Bereich der Wissenschaft und Forschung, der Universität, des Akademischen. Das gilt einerseits institutionell. Sofern künstlerische Disziplinen überhaupt studiert werden können (zum Beispiel Kunst und Musik, nicht aber – oder zumindest in Deutschland nur sehr eingeschränkt – Literatur und Dichtung), folgt die Ausbildung ganz anderen Gesetzen als das Studium der Physik, der Medizin oder der Geschichtswissenschaft. Um die zuletzt genannten und viele andere akademische Fächer zu studieren, benötigt man lediglich die allgemeine Hochschulreife (eventuell muss man darüber hinaus einen bestimmten Notendurchschnitt haben oder Sprachkenntnisse vorweisen), alles andere wird im Studium selbst vermittelt. Um Kunst, Musik oder kreatives Schreiben zu studieren, muss man dagegen vorher schon auf relativ hohem Niveau malen oder kreativ schreiben können oder ein Instrument beherrschen, und man muss dies auch in Form einer Eingangsprüfung unter Beweis stellen, bevor man das Studium aufnimmt. Es geht hauptsächlich um den Erwerb beziehungsweise die Vervollkommnung praktischer Fähigkeiten, weniger um die theoretische Betrachtung eines Gegenstandes. Auch die Lehrenden werden unterschiedlich rekrutiert: Wer Hochschullehrer für Archäologie oder Psychologie werden möchte, muss bestimmte formale Qualifikationen (Promotion, Habilitation) besitzen und zudem durch eine Reihe von einschlägigen Fachpublikationen ausgewiesen

Kunst und Wissenschaft als ›zwei Kulturen‹

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sein. Professor an einer Kunst- oder Musikhochschule oder einem Institut für kreatives Schreiben kann man dagegen werden, wenn man die zu vermittelnde praktische Fähigkeit besitzt, also wenn man ein anerkannter Musiker, Maler oder Schriftsteller ist. Im Extremfall braucht man dafür nicht einmal eine Hochschulzugangsberechtigung. Nicht nur institutionell gibt es eine klare Trennung zwischen Literatur und Kunst auf der einen Seite und Wissenschaft auf der anderen. Diese Trennung lässt sich auch und vor allem durch die unterschiedliche Funktion der beiden Bereiche begründen. Kunst und Literatur dienen im weitesten Sinne der Unterhaltung, man beschäftigt sich mit ihnen normalerweise in der Freizeit (Lektüre, Museumsbesuche, Fernsehen usw.) und ohne utilitaristische Zweckbindung (abgesehen vielleicht von dem Wunsch nach Bildung und sozialer Distinktion, der jedoch ein sachfremder ist), während die Beschäftigung mit Wissenschaft sich in der Regel nicht – oder doch nicht in erster Linie – als Freizeitaktivität vollzieht. Was fangen wir mit wissenschaftlichen Erkenntnissen an, wozu dienen sie uns? Entweder wir eignen sie uns an, um mit ihnen zu arbeiten, um einen konkreten Zweck zu erreichen (zum Beispiel ein Patient, der medizinische Kenntnisse erwirbt, um aktiv an seiner Genesung mitzuwirken). Oder wir nutzen sie, ohne sie zu verstehen (zum Beispiel, wenn wir als Laien einen Computer bedienen, ohne auch nur annähernd in der Lage zu sein, dessen Funktionsweise zu begreifen). Ein Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen im Sinne eines – um mit Kant zu sprechen – »interesselosen Wohlgefallens« (mit anderen Worten: ein ästhetischer Umgang) dürfte in der Praxis sehr selten sein; selbst wer keine unmittelbaren praktischen Zwecke verfolgt, beschäftigt sich normalerweise nicht um ihrer selbst willen mit Wissenschaft, sondern aus Neugierde, um gesicherte Erkenntnis über ein Sachgebiet zu gewinnen, um die Welt besser zu begreifen. Würde man dagegen versuchen, mithilfe von Kunst oder ihrem Teilbereich Literatur ernsthaft gesichertes Wissen zu erlangen, dann stieße man allenthalben auf Befremdliches, da es die Freiheit der Fiktion erlaubt, Welten zu entwerfen, die kein Korrelat in der empirischen Welt besitzen müssen (man denke nur an das Genre der Science Fiction). In der Literatur gilt im Unterschied zur Wissenschaft das Gesetz, dass man sich auf ihre Wahrhaftigkeit nicht verlassen kann, womit nicht in Abrede gestellt werden soll, dass auch in literarischen Texten die Wahrheit gesagt werden kann, etwa wenn die Handlung eines Romans oder eines Dramas in einer real existierenden Stadt und/oder vor einem realhistorischen Hintergrund situiert ist. Entscheidend ist: Während wissenschaftliche Aussagen wahr und überprüfbar sein müssen, um als Wissenschaft zu gelten, dürfen literarische Aussagen unwahr, fiktiv, erfunden sein.

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Einleitung

Der Gegensatz zwischen dem Bereich der Kunst beziehungsweise des Literarischen und dem der Wissenschaft ist somit ein ganz grundlegender. In einem berühmt gewordenen Vortrag aus dem Jahr 1959 sprach der englische Autor Charles P. Snow, der sowohl Romancier als auch Physiker war und somit genau wusste, wovon er redete, von den »zwei Kulturen«. Er verstand darunter Folgendes: Ich glaube, das geistige Leben der gesamten westlichen Gesellschaft spaltet sich immer mehr in zwei diametrale Gruppen auf. […] auf der einen Seite haben wir die literarisch Gebildeten, die ganz unversehens, als gerade niemand aufpaßte, die Gewohnheit annahmen, von sich selbst als von »den Intellektuellen« zu sprechen, als gäbe es sonst weiter keine. […] Literarisch Gebildete auf der einen Seite – auf der anderen Naturwissenschaftler, als deren repräsentativste Gruppe die Physiker gelten. Zwischen beiden eine Kluft gegenseitigen Nichtverstehens, manchmal – und zwar vor allem bei der jungen Generation – Feindseligkeit und Antipathie, in erster Linie aber mangelndes Verständnis.2

Snow diagnostizierte einen Sachverhalt, für dessen Änderung er sich vehement einsetzte, denn nur wenn die Repräsentanten der literarischen und der naturwissenschaftlichen Kultur einander verstünden, könnten sie, wie Snow es sich erhoffte, gemeinsam am Aufbau einer gerechteren Welt ohne Seuchen, Hunger und Armut mitwirken. Um dieses zweifellos wichtige ethische Problem soll es hier jedoch nicht gehen, sondern um den Versuch, die Kluft zwischen den beiden ›Kulturen‹ zu verstehen und historisch beziehungsweise soziologisch zu erklären. Betrachten wir zunächst näher, worin sich die beiden Bereiche Snow zufolge unterscheiden. Ein wichtiges Merkmal ist die unterschiedliche Selbsteinschätzung: Während ein T. S. Eliot, immerhin einer der bedeutendsten englischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, in aller Bescheidenheit seinem Versuch einer Wiederbelebung des Versdramas den Status einer Wegbereitung für Größere zuschreibe, sehe sich der Atomphysiker Rutherford ganz unbescheiden, aber, wie Snow meint, durchaus zu Recht als wissenschaftlichen Shakespeare. Literaten seien pessimistisch und skeptisch, sie hielten die Naturwissenschaftler dagegen für fortschrittsgläubig und optimistisch. (Dies ist im Übrigen ein Indikator dafür, welche der beiden ›Kulturen‹ in der Moderne die dominante Rolle spielt.) Snow, der beiden ›Kulturen‹ angehört, konstatiert vor allem ein grundlegendes beiderseitiges Nichtverstehen, eine hermetische Abgeschlossenheit beider Gruppen. Er hat in den Vierzigerjah2

C. P. Snow, »Die zwei Kulturen. Rede Lecture, 1959«, in: Helmut Kreuzer (Hg.), Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows Thesen in der Diskussion, München 1987, S. 19–58, hier S. 21.

Die funktional differenzierte Gesellschaft

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ren des letzten Jahrhunderts zusammen mit Kollegen etwa dreißig- bis vierzigtausend Naturwissenschaftler und Vertreter der angewandten Wissenschaften in Großbritannien befragt und dabei herausgefunden, dass die allerwenigsten von ihnen literarische Texte lesen und dass ihnen der englische Romancier Charles Dickens als Inbegriff eines schwierigen, unlesbaren Autors gilt. Jenseits ihrer Wissenschaft interessieren sie sich durchaus für Kultur, für Kunst, Musik, Psychologie, aber kaum für Bücher und Literatur. »Nicht, daß es ihnen an Interesse mangelte. Vielmehr scheint ihnen die Literatur der überkommenen Kultur durchweg dieses Interesse nicht befriedigen zu können. Natürlich befinden sie sich da in einem grundlegenden Irrtum. Die Folge ist, daß ihr Einfühlungsvermögen schwächer ausgebildet ist als es sein könnte. Das ist eine selbstverschuldete Verarmung.«3 Auf der anderen Seite, so Snow, sei es dagegen auch nicht besser bestellt. Die Vertreter der überkommenen literarischen ›Kultur‹ wüssten kaum etwas von moderner Naturwissenschaft. Während sie Naturwissenschaftler mitleidig ansähen, weil diese literarisch ungebildet seien, reagierten sie mit Empörung, wenn man sie auf ihre eigene Ignoranz im Hinblick auf Grundlagen der Naturwissenschaft hinweise: Ein- oder zweimal habe ich mich provozieren lassen und die Anwesenden gefragt, wie viele von ihnen mir das zweite Gesetz der Thermodynamik angeben könnten. Man reagierte kühl – man reagierte aber auch negativ. Und doch bedeutete meine Frage auf naturwissenschaftlichem Gebiet etwa dasselbe wie: »Haben Sie etwas von Shakespeare gelesen?« Ich glaube heute, daß auch bei einer einfacheren Frage – etwa: »Was verstehen Sie unter Masse«, oder »Was verstehen Sie unter Beschleunigung?«, die für den Naturwissenschaftler dasselbe bedeutet wie »Können Sie lesen?« – höchstens einer unter zehn hochgebildeten Menschen das Gefühl gehabt hätte, daß ich dieselbe Sprache spreche wie er.4

1.2 Die funktional differenzierte Gesellschaft Die Tatsache, dass Vertreter der literarischen ›Kultur‹ es für ebenso verzeihlich halten, wenn man nichts über Naturwissenschaft weiß, wie ihre Pendants auf Seiten der Naturwissenschaft, wenn man nichts von Shakespeare gelesen hat, macht deutlich, welch tiefer Graben die beiden Bereiche trennt.5 3 4 5

Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Die Snow’sche Dichotomie ist nicht unumstritten geblieben. So wurde der Autor für seine These von F. R. Leavis bekanntlich heftig attackiert. Die Kontroverse ist ausführlich dokumentiert in Kreuzer, Die zwei Kulturen, mit Beiträgen von

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Einleitung

Diese Trennung lässt sich als Folge der für die Moderne charakteristischen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche betrachten, welche insbesondere von dem Soziologen Niklas Luhmann beschrieben und theoretisiert wurde. Luhmann unterscheidet drei Formen der Differenzierung von Gesellschaftssystemen: (1) die segmentäre, (2) die stratifizierte (auch: stratifikatorische) und (3) die funktional (aus)differenzierte. Segmentäre Gesellschaften bestehen aus verschiedenen Teilbereichen wie Familien, Siedlungen oder Stämmen, die prinzipiell gleichwertig sind, deren faktische Ungleichheit aber dazu dient, die »Zuordnungen von Gütern, Menschen und Schicksalen zu ordnen«.6 Stratifizierte Gesellschaften dagegen verankern die Ungleichheit nicht auf der Ebene des Schicksals, sondern auf der Ebene der Sozialstruktur, in Form von sozialen Hierarchien. »Die Einheit der Gesellschaft liegt in der Rangdifferenz, die nicht in Frage gestellt werden kann, ohne daß die Gesellschaft in Frage gestellt werden würde; und diese Differenz ermöglicht dann eine Regulation des Verhaltens für Alltags- und Notlagen.«7 Wie sehr die Stratifizierung als allgemeines Ordnungsprinzip die symbolische Ordnung der Gesellschaft erfasst, sieht man zum Beispiel an der Literatur der frühen Neuzeit, wo nicht nur die einzelnen Gat-

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Michael Yudkin, F. R. Leavis, Lionel Trilling, Helmut Heissenbüttel und anderen. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985, vertritt die Auffassung, dass es neben den beiden ›Kulturen‹ der Naturund der Geisteswissenschaften eine dritte ›Kultur‹ gebe, nämlich die Soziologie. Trotz solcher durchaus berechtigten Relativierungen bestehen indes gute Gründe dafür, den Gegensatz zwischen (natur-)wissenschaftlicher und literarischer ›Kultur‹ auch heute noch als ein wichtiges Element gesellschaftlicher Selbstbeschreibung vorauszusetzen. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Dichotomie epistemologisch fundierbar wäre. Vgl. hierzu Thomas Hausmanninger, »Wissenschaft und Weltdeutung. Zur Frage nach dem Subjekt im Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung«, in: Bernadette Malinowski (Hg.), Im Gespräch: Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaften, München 2006, S. 81–103, hier S. 100: »Unvermeidbar deutet Wissenschaft – auch die auf apparativ vermittelte, empirische Erfahrungen rekurrierende – Wirklichkeit, indem sie diese zur Erscheinung bringt, in Theorie überführt und den Anspruch der Geltung erhebt. Vor diesem Hintergrund aber wird die schroffe Entgegensetzung der eingangs zitierten ›zwei Kulturen‹ zweifelhaft. Auch science deutet – und es erschiene geradezu unwissenschaftlich, dies nicht seinerseits zu reflektieren […].« Niklas Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/M. 1985, S. 11–33, hier S. 22. – Vgl. auch die ausführliche Darstellung der drei Typen gesellschaftlicher Differenzierung in Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde (1997), Frankfurt/M. 1999, Bd. II, S. 634–776. Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung«, S. 22f.

Die funktional differenzierte Gesellschaft

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tungen hierarchisch geordnet sind, sondern wo auch eine Korrelation von hoher Gattung (Tragödie, Epos, Kanzone), hohem Stil und hohem Personal vorliegt (Ständeklausel). Dies ist Luhmann zufolge kein Zufall, denn »[die Moral] wird exemplarisch vorgeführt an Königen, Prinzen oder sonstigen Personen höchster Herkunft, denn nur für sie kann die innere Unabhängigkeit von den Plackereien des Lebens sinnvoll behauptet werden, nur sie haben ein eigenes Schicksal. Zugleich ist, eben deshalb, ihr Schicksal voll und ganz ihr eigenes.«8 Die Tatsache, dass der Literatur ganz selbstverständlich eine exemplarische Funktion zugeschrieben wird, ist im Übrigen ein Beleg für ihre Unterordnung unter fremde Zwecke. Literatur ist – wie auch die anderen Künste – in der stratifizierten Gesellschaft tendenziell nicht autonom, sondern heteronom. Sie dient der Selbstrepräsentation und -reflexion dieser Gesellschaft. Seit dem späten Mittelalter entstand in West- und Mitteleuropa eine welthistorisch völlig neuartige Gesellschaftsform. Sie beruht weder auf Segmentierung noch auf Stratifizierung, sondern auf der Ausdifferenzierung autonomer Funktionsbereiche.9 Die Wurzeln für diese Entwicklung sind in der stratifizierten Gesellschaft des Mittelalters angelegt, insbesondere im Bereich der Wirtschaft. Diese entwickelt sehr früh schon eine die politischen und territorialen Grenzen überschreitende Eigendynamik. Geld wird zum universellen Medium, das das Gleichgewicht zwischen Wirtschaft und Politik verändert. Der Adel nimmt zu Zwecken der Machterweiterung und der Repräsentation Kredite auf und macht sich dadurch von der Wirtschaft abhängig. Umgekehrt emanzipiert sich das Geld vom Adel: Jeder kann unabhängig von seiner Schichtzugehörigkeit an wirtschaftlichen Transaktionen teilnehmen. Das Wirtschaftssystem orientiert sich zunehmend an sich selbst: Sein Antriebsfaktor ist nicht mehr ein durch externe Ursachen herbeigeführter Bedarf, sondern die selbstreferentielle Orientierung am Konsum und an dessen Steigerung. Güter (etwa Bodenschätze oder Edelmetalle) verlieren ihren tatsächlichen, materialbedingten Wert, sie werden dem Prinzip von Angebot und Nachfrage unterworfen und mit einem Preisindex versehen (Codierung durch Geld). Auch die Wertschöpfung wird selbstreferentiell; man kann Gewinne durch Zinsen und Spekulation machen; Geld entsteht durch Geld. Altbekannte Sachverhalte wie Zinsen und Arbeit werden nun nicht mehr unter moralisch-religiösem, sondern unter rein wirtschaftlichem Gesichtspunkt beurteilt, als Elemente, die das Wirtschafts-

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Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, S. 692f. Zur Ausdifferenzierung vgl. ausführlich ebd., S. 707–776.

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system für sein eigenes Funktionieren benötigt und daher selbst reproduziert (Autopoiesis).10 Neben der Wirtschaft gibt es andere ausdifferenzierte Funktionsbereiche wie Recht (Funktion: Regelung normativer Erwartungen), Politik (Regelung von Machtbeziehungen und somit der Möglichkeit, bindende Entscheidungen zu treffen), Kunst (Sichtbarmachung des Unbeobachtbaren), Wissenschaft (Gewinnung neuen, unwahrscheinlichen Wissens) und Religion (Ausschaltung von Kontingenz). Diese Systeme sind operativ geschlossen, das heißt, sie können sich gegenseitig nicht beeinflussen. Die Ausdifferenzierung von operativ geschlossenen Funktionssystemen hat zur Folge, dass die Individuen zwar an diesen abwechselnd partizipieren können, aber ihr Ort in der Gesellschaft nicht mehr durch Inklusion, sondern durch Exklusion definiert ist (Exklusionsindividualität). Die Individuen gehören nicht zu den jeweiligen Funktionssystemen, sondern zu der Umwelt der Funktionssysteme. Luhmann trifft somit die Theorieentscheidung, die moderne Gesellschaft nicht als Summe von Individuen zu betrachten, sondern als Summe von Kommunikationen, welche die einzelnen Systeme konstituieren. Diese Systeme codieren alle in ihnen verarbeiteten Informationen nach jeweils einer für sie spezifischen Leitdifferenz: Im Wissenschaftssystem heißt diese Leitdifferenz wahr vs. falsch, im Kunstsystem dagegen schön vs. hässlich (Luhmann)11 beziehungsweise interessant vs. langweilig (Plumpe/Werber).12 Daraus nun erklärt es sich, dass die Kommunikation zwischen den Systemen Wissenschaft und Kunst so schwierig ist. Das Verhältnis zwischen den beiden Systemen ist weder eines der sozialen Hierarchie noch eines der funktionalen Äquivalenz, sondern sie sind prinzipiell gleichberechtigt und autonom; in ihrer Funktion ergänzen sie sich (zusammen mit den anderen Funktionssystemen), das eine kann das andere nicht substituieren. In der funktionalen Ausdifferenzierung kann man den Hauptgrund für das von Snow diagnostizierte gegenseitige Ignorieren beider Bereiche erkennen. 10

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Im Anschluss an den Biologen Humberto Maturana definiert Luhmann den Autopoiesis-Begriff wie folgt: »Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen.« (Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, S. 65) Der Autopoiesis-Begriff wird weiter unten noch ausführlicher erläutert (vgl. Kap. 1.4.1). Vgl. Luhmann, »Ist Kunst codierbar?«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), »Schön«. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, München 1976, S. 60–95. Vgl. Gerhard Plumpe/Niels Werber, »Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen 1993, S. 9–43.

Plan der Untersuchung

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Denn die wachsende Spezialisierung der Teilbereiche und die damit verbundene Komplexitätssteigerung erhöhen die Schwelle der Teilhabe; zugleich wächst in jedem Teilsystem die Selbstreferentialität, welche die eigene Autonomie zum Vorschein bringt und dadurch den Eindruck erzeugt, es gebe außerhalb des eigenen Teilbereichs nichts Relevantes. Die Selbstreferentialität zeigt sich beispielsweise daran, dass in der Literatur die Entstehung von Literatur thematisiert wird, oder daran, dass in der Presse das Funktionieren der Presse dargestellt wird. Die vielleicht radikalste Form der Selbstreferentialität aber findet sich im Wirtschaftssystem, wo Geld einzig und allein zu dem Zweck der Gewinnung von Geld eingesetzt wird. Schließlich ist es realiter so, dass kein Teilsystem die außerhalb seiner selbst liegende Umwelt (also die anderen Teilsysteme) kontrollieren kann, sodass letztlich eine nähere Beschäftigung mit dieser Umwelt als müßig erscheint. Der Integration der Teilbereiche innerhalb einer alles umfassenden gesellschaftlichen Hierarchie steht in der funktional differenzierten Gesellschaft deren Auseinanderdriften entgegen. Ausdruck dieses Sachverhalts ist zum Beispiel die häufig gehörte Klage, wir hätten keine übergeordneten, verbindlichen (moralischen und kulturellen) Werte mehr. Werte sind normativ, und sie können nur dann eingefordert werden, wenn es ein übergeordnetes Machtdispositiv gibt, welches Werte definiert und durchsetzt. Dem aber steht die Pluralität einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft entgegen. In dieser ist die Möglichkeit, das Wissen und die Erkenntnis der Menschen, ihre Werte und ästhetischen Prinzipien – für die die Wissenschaft und die Literatur hier pars pro toto einstehen – auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen, nicht mehr gegeben.

1.3 Plan der Untersuchung Luhmann zufolge erreicht der lange schon in Gang befindliche Umbau von der stratifikatorischen zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Sichtbarkeit, die zur verstärkten Reflexion dieses Prozesses führt. Will man also, was in der vorliegenden Untersuchung geschehen soll, das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft in der Moderne einer diachronen Betrachtung unterziehen, so muss man ins 18. Jahrhundert zurückgehen. Die Untersuchung setzt ihren Anfangspunkt in der Mitte des 18. Jahrhunderts, indem sie Interferenzen von Literatur und Wissenschaft bei Vico, Rousseau und Diderot vor dem Hintergrund einer idealtypisch durch das System der »connoissances humaines« der Encyclopédie repräsentierten Einheit des Wissens untersucht. Dabei wird sich zeigen, dass

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Einleitung

diese Einheit des Wissens langsam zerbricht und dass die damit verbundenen Autonomisierungstendenzen in einem Text wie Diderots Jacques le fataliste reflektiert werden (Kap. 2). Im dritten Kapitel wird dann vor dem Hintergrund der Autonomisierung der Literatur das Auseinandertreten von Wissen und Erzählen in Goethes Wahlverwandtschaften exemplarisch untersucht. Im vierten Kapitel geht es um die ›Verwissenschaftlichung‹ des Romans im Realismus beziehungsweise Naturalismus. Diese häufig auf der poetologischen Ebene programmatisch postulierte ›Verwissenschaftlichung‹ läuft der Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche zuwider. Es soll gezeigt werden, dass sich in Texten von Balzac, Manzoni, Flaubert und Zola ein Bewusstsein für diese Widersprüchlichkeit manifestiert. Dieses Bewusstsein wird meist nicht explizit formuliert, sondern es findet seinen Niederschlag in der Struktur der Texte. Am Ende dieses Kapitels soll gezeigt werden, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Pirandello und Baroja zu einer expliziten Abkehr vom Naturalismus kommt. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen und literarischen Infragestellung des Subjekts anhand von Freud, Pirandello, Proust und Svevo. Es wird dargelegt, dass unter dem Eindruck wissenschaftlicher Theorien über die Psyche des Menschen literarische Texte sich einerseits kritisch mit wissenschaftlichen Diskursen auseinandersetzen und andererseits parallel zu diesen wissenschaftlichen Diskursen die Analyse und Infragestellung des Ichs vorantreiben. Das sechste Kapitel widmet sich anhand einiger Beispiele aus dem 20. Jahrhundert (Musil, Borges, Cortázar, Calvino) den Grenzen der Literatur, die sich, indem sie wissenschaftliche Darstellungsformen adaptiert beziehungsweise simuliert und dadurch die Darstellung herkömmlicher, aktions- und spannungszentrierter fiktionaler Handlung zurückdrängt, in ihrer traditionellen Form und Funktion zunehmend selbst infrage stellt. Diese Infragestellung allerdings bezieht sich zugleich auch auf die zitierten wissenschaftlichen und epistemologischen Diskurse. Im siebten Kapitel schließlich wird anhand dreier gegenwartsnaher Beispiele (Del Giudice, Houellebecq, Volpi) untersucht, wie literarische Texte sich mit den Erkenntnissen der modernen Physik auseinandersetzen, indem sie deren erkenntnistheoretische Prämissen nicht nur darstellen, sondern auch poetologisch auf sich selbst anwenden. Das primäre Ziel dieser Untersuchung ist die Interpretation der ausgewählten literarischen Texte. Diese ist wie jede Interpretation zwangsläufig perspektivisch eingeschränkt. Die leitende Fragestellung lautet: Inwiefern bezieht sich der jeweilige Text explizit auf wissenschaftliches Wissen beziehungsweise auf wissenschaftliche Denkmodelle, Prinzipien, Regeln, Gesetze usw.? Diese Fragestellung wird eingeschränkt, indem es nicht um eine vollständige Erfassung aller wissenschaftsbezogenen Textstellen und deren ver-

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schiedenster Funktionen im jeweiligen Text geht, sondern in erster Linie um die poetologisch lesbare Funktionalisierung wissenschaftlicher Elemente. Mit anderen Worten: Es geht auf der allgemeinsten Ebene um die Selbstbeschreibung der literarischen Texte im Rekurs auf Wissenschaft. Selbstbeschreibung kann bedeuten, dass ein Text (a) seine eigene Gestalt, seinen Inhalt, seine Funktion beobachtet und beschreibt, (b) dass er sich selbst Vorgaben macht, denen er zu genügen versucht oder an denen er gemessen werden möchte und (c) dass er sich selbst in eine literarische Tradition einordnet und seinen Status im diskursiven und gesellschaftlich-politischen Umfeld seiner Zeit zu bestimmen versucht. Wenn nun in einer Reihe von bedeutenden Texten seit dem 18. Jahrhundert solche Selbstbeschreibung in expliziter Weise programmatisch auf wissenschaftliche Modelle verweist, so zeigt dies die führende Stellung der Wissenschaften im Diskurssystem der Moderne an. Im Sinne der Voraussetzung, dass die Literatur als autonomes System fremde Elemente, die sie aus anderen Systemen importiert, einer literaturspezifischen Recodierung unterwirft, geht es in dieser Untersuchung nicht primär um die wissenschaftlichen Gegenstände als solche, sondern um die literaturspezifischen Recodierungen. Ich schreibe also keine Parallelgeschichte moderner Wissenschaft und moderner Literatur, sondern lediglich eine – sehr partiale – Geschichte moderner Literatur, in der die Wissenschaften als wichtige Bezugsgröße insoweit fungieren, als sie zur Konstitution der literarischen Texte beigetragen haben. Methodologisch stütze ich mich vor allem auf Textanalyse und -vergleich, das heißt, es werden je nach Bedarf die verschiedenen Konstitutionsebenen der literarischen Texte (Semantik, Pragmatik, diskursive Gestalt, poetologische Ebene), soweit erforderlich, analysiert, und die Ergebnisse der Analyse werden im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung ausgewertet. Hinsichtlich der Funktionsbeschreibung der literarischen Texte stütze ich mich, wie schon mehrfach deutlich geworden ist, auf die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns, das heißt, ich versuche die Selbstbeschreibung der literarischen Texte abzugleichen mit einer Funktionszuschreibung, wie sie im Rahmen der Systemtheorie vorgesehen ist. Das bedeutet nun allerdings nicht, dass ich alle Prämissen von Luhmann übernehme; es werden sich im Gegenteil auch Diskrepanzen im Hinblick auf Luhmanns Theorie erkennen lassen. Die Stellung und die Funktion der Literatur ist im Einzelnen komplexer, als es eine systemtheoretische Globalbeschreibung erwarten lässt. Letztlich geht es darum, diese Komplexität der Literatur sichtbar werden zu lassen, das heißt vor allem das in der Literatur nachweisbare Bewusstsein für diese Komplexität.

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Einleitung

1.4 Methodologische Überlegungen Die Untersuchung des Verhältnisses von Literatur und Wissenschaft ist kein beliebig gewählter Gegenstand, sondern führt in das Zentrum der Diskussion um den Stellenwert des Ästhetischen in der Moderne. So wie man in der Vormoderne nicht sinnvoll über Literatur sprechen kann ohne die Berücksichtigung des religiösen Diskurses, ist es im Hinblick auf die Bestimmung dessen, was Literatur in der Moderne13 sein soll oder kann, unverzichtbar, sie auf ihr Verhältnis zum wissenschaftlichen Denken zu befragen. Dabei ist ›Wissenschaft‹ in einem weiten Sinne zu verstehen. Der Begriff umfasst nicht nur die modernen Natur- und Erfahrungswissenschaften, sondern auch die Geisteswissenschaften ebenso wie die Philosophie.14 Die Literatur der Moderne ist, zumindest soweit sie mimetischen Charakter besitzt, ganz allgemein gesprochen ein Ort der Reflexion über Fragen, die für die Gesellschaft von grundlegender Bedeutung sind. Dabei kann es sich um soziale Beziehungen, um politische Fragen, um gesellschaftliche Ideale, um Werte und Normen, um das Verhältnis zwischen Individuum und Ge13

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Den Begriff Moderne verwende ich hier, um die Makroepoche seit etwa 1800 zu bezeichnen; vgl. Silvio Vietta/Dirk Kemper, »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998, S. 1–55. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als beginnende »Sattelzeit« ist als zur Moderne hinführende Vorgeschichte ebenfalls in die Betrachtung einzubeziehen. Zum Begriff der »Sattelzeit« vgl. Reinhart Koselleck, »Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft«, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10–28, und ders., »Einleitung«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, Stuttgart 1979, S. XIII–XXVII, hier S. XV–XIX. Koselleck zufolge hat sich in der von ihm zwischen 1750 und 1850 angesiedelten Sattelzeit eine »Denaturalisierung der alten Zeiterfahrung abgespielt« (»Über die Theoriebedürftigkeit«, S. 14). Begriffe wie »Demokratie«, »Freiheit«, »Staat« erhalten ab etwa 1770 eine neue Bedeutung, »einen neuen Zukunftshorizont, der den Begriffsgehalt anders umgrenzt« (ebd.). Besonderes Merkmal der modernen Begriffssemantik ist die Verzeitlichung; Begriffe wie »Fortschritt«, »Entwicklung«, »Geschichte« treten in den Vordergrund. Dieser Befund deckt sich im Übrigen mit Michel Foucaults These, wonach es um 1770 zu einer Ablösung der klassischen Episteme der Repräsentation durch die moderne Episteme der Geschichte kommt (vgl. Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966). Zum Begriff der »Wissenschaft« und seiner Geschichte seit der Antike vgl. die fundierten Überblicksdarstellungen von Hans Michael Baumgartner, »Wissenschaft«, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1974, Bd. VI, S. 1740–1764, und Wolfgang Detel, »Wissenschaft«, in: Ekkehard Martens/Herbert Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek 1985, S. 172–216.

Methodologische Überlegungen

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sellschaft usw. handeln. Diese für die Gesellschaft jeweils im Hinblick auf ihre Selbstbeschreibung relevanten Fragen werden nun aber in der Literatur stets auch unter Fokussierung der ästhetischen Funktion behandelt, das heißt, es geht nie nur referentiell um das Dargestellte, sondern immer auch um die Form der Darstellung. Literarische Texte reflektieren sich immer auch selbst, indem sie, wie Roman Jakobson sagt, die Aufmerksamkeit auf die Botschaft um ihrer selbst willen lenken.15 In diesem Prozess der Darstellung von Sachverhalten und der ästhetischen Selbstreflexion können literarische Texte auch an den Bereich dessen rühren, was man als die Grundlagen des Wissens einer Gesellschaft bezeichnen kann. Wissen impliziert ja stets auch die Frage nach seiner Darstellbarkeit. Wenn ein Philosoph oder ein Wissenschaftler eine Erkenntnis gewonnen hat, so muss er sie mitteilbar machen, indem er sie gemäß den Diskursregeln seiner Disziplin in eine sprachlich adäquate Form bringt. Häufig stellt sich die Frage, ob und wie das neu gewonnene Wissen sprachlich vermittelt werden kann. Ein gängiges Verfahren ist hierbei die Bildung von Metaphern. Autoren wie Ivor Armstrong Richards, Max Black, Hans Blumenberg, Paul Ricœur und Paul de Man, die die Metapherntheorie des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt haben, verdanken wir die Einsicht, dass Metaphern als Erkenntnismodelle fungieren können.16 Diesbezüglich ergibt sich eine Konvergenz von wissenschaftlichem und literarischem Schreiben. Allerdings bedeutet das nicht, dass Literatur und Wissenschaft austauschbar wären. In der Moderne hat die Wissenschaft die Funktion, valides Wissen zu generieren und über die Prinzipien der Wissensgewinnung Rechenschaft abzulegen. Dabei 15

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Roman Jakobson, »Linguistics and Poetics« (1960), in: ders., Selected Writings, hg. v. S. Rudy, Bd. III: Poetry of Grammar and Grammar of Poetry, Den Haag/Paris/New York 1981, S. 18–51. Vgl. auch meine diesbezüglichen Ausführungen in Thomas Klinkert, Einführung in die französische Literaturwissenschaft (2000), Berlin 42008, S. 210–222. Eine Zusammenstellung wichtiger Beiträge zur Metapherntheorie des 20. Jahrhunderts findet man bei Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983; vgl. hier insbesondere die Beiträge von Richards, »Die Metapher« (1936), S. 31–52, Black, »Die Metapher« (1954), S. 55–79, ders., »Mehr über die Metapher« (1977), S. 379–413, Blumenberg, »Paradigmen zu einer Metaphorologie« (1960), S. 285–315, ders., »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit« (1979), S. 438–454, Ricœur, »Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik« (1972), S. 356–375, de Man, »Epistemologie der Metapher« (1978), S. 414–437. Zur aktuellen Diskussion um den Metaphernbegriff und zu Analysebeispielen, die die Tragfähigkeit des Begriffs anhand zeitgenössischer Phänomene aus dem gesellschaftlichen, politischen und medialen Bereich ausloten, vgl. Eva Kimminich (Hg.), Metaphern der Macht – Macht der Metapher, Aachen 2008.

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Einleitung

kommt es zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung von Teilbereichen. Diese zunehmende Differenzierung einzelner Bereiche führt zu einer immer stärkeren Spezialisierung und einer immer weitergehenden Atomisierung der Wissensbereiche. Damit verbunden ist eine zunehmende Erschwerung des Verstehens. Kommunikation über die Grenzen der Fachdisziplinen hinweg findet, wenn überhaupt, so nur in sehr eingeschränktem Maße statt. Angesichts dieser Situation erhält die Literatur unter anderem die Funktion, der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissensbereiche und ihrer Diskurse entgegenzuwirken. Literatur als System beobachtet die in ihrer Umwelt stattfindenden Kommunikationsprozesse und stellt diese nach Anwendung bestimmter Selektionsprinzipien in literaturspezifischer Codierung dar. Die von der Literatur ausgewählten Diskurselemente aus dem Bereich der Wissenschaften werden einer größeren, nicht spezialisierten Leserschaft zugänglich gemacht. In diesem Sinne fungiert Literatur als Medium des Interdiskurses. So heißt es bei Jürgen Link: Auf der Basis der für die Moderne fundamentalen Dialektik der Arbeitsteilung (bzw. funktionalen Ausdifferenzierung: Luhmann) tendieren die diskursiven Formationen zum einen zu immanenter Spezialisierung, zur spezifischen und irreduktibel besonderen Konstituierung ihrer Gegenstände, zu eigenem »Lexikon« und eigener »Grammatik« – gegenläufig dazu tendieren sie jedoch gleichzeitig stets zu einem gewissen Maß an Reintegration, Kopplung mit anderen diskursiven Formationen, kultureller Verzahnung.17

Nach Links These ist »der literarische Diskurs struktural-funktional wie generativ […] als auf spezifische Weise elaborierter Interdiskurs (bzw. genauer: als Elaboration interdiskursiver Elemente)« begreifbar.18 Die Literatur als elaborierter Interdiskurs hat somit die Funktion, die Verständigung der Menschen im Zeitalter zunehmender diskursiver Spezialisierung zu ermöglichen. Jenseits dieser Funktion geht es hierbei aber noch um etwas Grundlegenderes, und zwar in zweierlei Hinsicht: (1) Die Literatur setzt sich deshalb mit der Wissenschaft auseinander, weil diese die epistemologischen Grundlagen des Welt- und Menschenbildes in der Moderne bereitstellt. Insofern die Literatur selbst über solche epistemologischen Grundlagen nachdenkt, kann es geschehen, dass sie sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen, Denkmodellen und Grundprinzipien selbst auseinandersetzt. (2) Die Funktion 17

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Jürgen Link, »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1988, S. 284–307, hier S. 285. Ebd., S. 286.

Methodologische Überlegungen

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der Literatur als eines gesellschaftlich relevanten, Orientierung stiftenden Mediums wird in der Moderne zunehmend gefährdet. Es kommt zu einer Konkurrenz zwischen wissenschaftlichem und literarischem Diskurs. Ein besonders prägnantes Beispiel für diese Konkurrenz ist das Verhältnis zwischen Literatur und Psychoanalyse. Aber auch das Objektivitäts- und Exaktheitsideal der Realisten des 19. Jahrhunderts ist ein Beispiel für eine solche Konkurrenzsituation, insofern diese Ideale aus der damaligen Naturwissenschaft übernommen wurden und sich dann zwangsläufig die Frage stellen musste, ob die Literatur überhaupt noch eine Funktion haben konnte neben der Wissenschaft. Häufig kommt es in diesem Zusammenhang zu einer Übernahme wissenschaftlicher Prinzipien als poetologischer Leitkategorien bei gleichzeitiger unterschwelliger Abgrenzung des Literarischen vom Wissenschaftlichen.19 Ein wichtiger Leitgedanke der hier vorgelegten Untersuchung ist die aus dieser Problematik abgeleitete Frage nach den Grenzen der Literatur. Wie reagiert ein literarischer Text auf die durch das offizielle Diskurssystem der modernen Gesellschaft vorgegebene Dominanz der Wissenschaften? Unterwirft er sich ihr oder unterläuft er sie? Kann er in der poetologischen Inanspruchname wissenschaftlicher Modelle eine neue Identität des Literarischen gewinnen, etwa indem er neuartige Darstellungsweisen entwickelt? Die hier vertretene These lautet, dass es in jedem Fall eine Differenz zwischen dem literarischen und dem wissenschaftlichen Diskurs gibt. Trotz mancherlei Assimilationen, Adaptationen, Simulationen wissenschaftlicher Denkweisen in literarischen Texten, die in manchen Fällen dazu führen, dass man es mit genuin wissenschaftlichen Texten zu tun zu haben scheint (Musil, Borges, Calvino), lässt sich die tatsächlich vorhandene Grenze zwischen Literatur und Wissenschaft niemals aufheben. Dies hängt einerseits mit pragmatischen Rezeptionsbedingungen zusammen: Kein ernstzunehmender Wissenschaftler würde im Normalfall einen Roman in die Hand nehmen, um neuestes Wissen aus seiner Fachdisziplin zu erwerben. Es hängt aber auch und vor allen Dingen damit zusammen, dass literarische Texte diese Grenze stets auch selbst sichtbar machen; und ich möchte hinzufügen: dass sie sie sichtbar machen müssen, weil sie anderenfalls ihrer Identität verlustig gehen würden. Insofern schreibt sich die Auseinandersetzung literarischer Texte mit Wissenschaft in eine sehr alte Tradition der Rechtfertigung von Literatur ein. 19

Vgl. hierzu in Bezug auf das 19. Jahrhundert die literatursoziologische Analyse von Joseph Jurt, »Sur la guerre des sciences et des lettres«, in: Walburga Hülk/Ursula Renner (Hg.), Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 27–41.

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Einleitung

Seit Platon lässt sich in den verschiedensten Epochen der abendländischen Literaturgeschichte nachweisen, dass Literatur nur unter speziellen Bedingungen überhaupt zulässig war, das heißt, sie stand häufig unter einem hohen Legitimationsdruck, weil sie von offizieller Seite als gefährlich, sittenverderbend, schädlich, subversiv bezeichnet wurde und häufig auch der Zensur unterlag, verboten, verbrannt wurde usw. Um dieser Bedrohung der Literatur zu entgehen, haben Verfasser literarischer Texte immer wieder raffinierte Strategien entwickelt, die darauf abzielten, die literarische Kommunikation dennoch zu ermöglichen oder zu legitimieren, sei es, dass der literarische Text, wie im Falle Dantes, dem Leser Wissen (»dottrina«) vermittelt,20 sei es, dass er, wie im Falle von Cervantes, die literarische Fiktion offiziell verdammt, sie aber insgeheim legitimiert.21 Spätestens seit Balzac kann man sagen, dass die Adaptation wissenschaftlicher Prinzipien der Literatur, speziell dem Roman, dazu dient, sich selbst eine Dignität zu verleihen, um sich unangreifbar zu machen. Diese Dignität aber ist eine usurpierte, denn trotz aller behaupteten Gemeinsamkeiten zwischen dem Schriftsteller und dem Wissenschaftler ist es nicht von der Hand zu weisen, dass der Romanautor kein Soziologe ist, dass er keine Experimente im Labor durchführt, dass er keine Psychoanalyse vornimmt, dass er keine philosophischen Erkenntnisse generiert usw. Was er tut, ist, solche Verfahrensweisen zu zitieren, zu simulieren, sie literarisch zu verarbeiten, und was er erzeugt, ist nicht Erkenntnis, zumindest nicht primär, sondern eine literarische Form. Diese kann selbstverständlich Erkenntnisse vermitteln, aber sie kann diese Erkenntnisse nicht selbst beglaubigen. Man kann die in der Literatur enthaltenen Erkenntnisse nur als solche wahrnehmen, wenn man eine außerliterarische Bezugsgröße besitzt.

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Vgl. Convivio, I, ii, wo zwei Gründe genannt werden, die eine poetische Rede über sich selbst rechtfertigen, nämlich erstens, »quando sanza ragionare di sé grande infamia o pericolo non si può cessare« [wenn man, ohne über sich selbst zu sprechen, große Schande oder Gefahr nicht abwenden kann], und zweitens, »quando, per ragionare di sé, grandissima utilitade ne segue altrui per via di dottrina« [wenn aus der Rede über sich selbst anderen großer Nutzen erwächst durch die Vermittlung von Wissen] (zit. nach: Dante Alighieri, Convivio, hg. v. Giorgio Inglese, Milano 21999, S. 48). Deutsche Übersetzungen stammen hier und im Folgenden, sofern nicht anders vermerkt, vom Verfasser des vorliegenden Buches. Zur ambivalenten Beurteilung der literarischen Fiktion bei Cervantes siehe Thomas Klinkert, »Fiktion und Autopoiesis. Überlegungen zum epistemischen Status der Literatur am Beispiel von Don Quijote«, in: Hartmut Schröder/Ursula Bock (Hg.), Semiotische Weltmodelle. Mediendiskurse in den Kulturwissenschaften. Festschrift für Eckhard Höfner, Berlin 2010, S. 303–325.

Methodologische Überlegungen

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Hier kommt ein zentrales Problem ins Spiel: das Problem der Fiktion. Ein fiktionaler Diskurs simuliert mit sprachlichen Mitteln die Existenz einer Welt beziehungsweise der in dieser Welt lebenden Personen, ihrer Gedanken, ihrer Interaktionen, ihres Wissens. Diese Simulation funktioniert semiotisch im Prinzip genauso wie im Falle von referentieller Sprache. Zwar kann es in fiktionalen Texten Signale für Fiktionalität geben,22 doch sind diese Signale nicht in jeder einzelnen Äußerung eines fiktionalen Textes enthalten. Dies hat auf der systematischen Ebene zur Folge, dass die Frage, ob man einen Text als fiktional oder als nicht-fiktional liest, vom Rezipienten grundsätzlich entschieden werden muss, weil es dafür keine zwingenden, eine Entscheidung eindeutig festlegenden Textmerkmale gibt.23 Darüber hinaus gibt es in fiktionalen Texten Äußerungen, die Teil der fiktiven Welt sind und in dieser Wahrheitscharakter besitzen und zugleich auch in der nicht-fiktiven Welt gültig sind.24 Sätze wie »In Paris steht der Eiffelturm«, »Napoleon ließ sich am 2. Dezember 1804 zum Kaiser krönen« oder »Wasser kocht bei 100 Grad« 22

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Vgl. Gérard Genette, Fiction et diction, Paris 1991, S. 65–94. Als mögliche Fiktionalitätssignale nennt Genette etwa das Vorkommen von detaillierten Szenen, von ausführlich wiedergegebener direkter Rede und von ausgedehnten Deskriptionen (S. 74) sowie das Vorhandensein von Erzählungen zweiten Grades (welche Genette metadiegetische Erzählungen nennt) (S. 79). Dass mit solchen Merkmalen Fiktionalität allerdings nicht sicher angezeigt werden kann, geht aus den vorsichtigen Formulierungen Genettes hervor, wenn er etwa schreibt: »La présence du récit métadiégétique est donc un indice assez plausible de fictionalité – même si son absence n’indique rien.« (S. 79) [Das Vorhandensein einer metadiegetischen Erzählung ist somit ein ziemlich plausibles Indiz für Fiktionalität – wenngleich ihr Nichtvorhandensein nicht als Indiz für irgendetwas gedeutet werden kann.] Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin 2007, versteht Fiktion als eine »Faltung«. »Als Faltungen sind Unterscheidungen zu verstehen, die das Unterschiedene gleichzeitig als Identisches kennzeichnen. Sie realisieren sich dadurch, daß sie zwei verschiedene Anschlußmöglichkeiten eröffnen, diese aber nicht konditionieren […].« (S. 98) Fiktion sei als eine Faltung zu betrachten, »insofern es aufgrund von Eigenschaften eines Textes keinerlei zwingende Gründe gibt, ihn als fiktionalen oder als nicht-fiktionalen Text einzuordnen.« (S. 99) Ein berühmtes literarhistorisches Beispiel, welches diese These illustriert, ist die Figur des Don Quijote, die entgegen der Mehrheit aller Leser die Handlungen der Ritterromane nicht als Fiktionen, sondern als Wahrheitsaussagen liest. Die in dieser Feststellung implizierten »Mischungsverhältnisse von Realem und Fiktivem« sind einer der Ausgangspunkte von Wolfgang Isers die binäre Opposition Fiktives vs. Reales durch Hinzufügung des Imaginären überschreitenden Fiktionstheorie; vgl. Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (1991), Frankfurt/M. 1993, hier S. 18. – Wie aus obigem Satz hervorgeht, unterscheide ich die Begriffe fiktional und fiktiv; ersteres qualifiziert einen Sprechakt, letzteres den Gegenstand, das Signifikat eines Sprechaktes.

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Einleitung

sind sowohl innerhalb als auch außerhalb fiktiver Welten gültig. Semiotisch betrachtet funktionieren sie innerhalb und außerhalb von Fiktionen auf identische Art und Weise. Worin aber besteht diese Art und Weise ihres Funktionierens? Warum halten wir außerhalb einer Fiktion »Wasser kocht bei 100 Grad« für wahr? Die Antwort könnte lauten: weil wir es selbst überprüfen können. Aber stimmt das denn wirklich? Natürlich können wir einen Topf Wasser auf den Herd stellen und mithilfe eines Thermometers die Temperatur bestimmen, bei der das Wasser zu kochen beginnt. Woher aber wissen wir, dass das nicht nur auf unserem Herd und nicht nur heute, sondern immer und überall so ist? Einmal abgesehen davon, dass es genaugenommen gar nicht überall so ist, dass zum Beispiel auf hohen Bergen das Wasser schon bei einer geringeren Temperatur zu kochen beginnt, glauben wir an die Wahrheit dieses Satzes als eines Gesetzes vor allem deshalb, weil wir überzeugt sind, dass dieses Gesetz wissenschaftlich beweisbar sei und dass wir, wenn wir es nur wollten, diesen Beweis auch mit wissenschaftlicher Hilfe führen könnten. Mit anderen Worten: Selbst im Falle naturwissenschaftlicher Gesetze ist es keineswegs so, dass Sprache anders funktioniert als in literarischen Texten oder in alltagssprachlicher Unterhaltung. Es geht um Glauben; wir glauben an die Wahrheit von Sätzen. Diese Sätze haben aber selbst keinen ihnen inhärenten Beweischarakter.25 Genau darin besteht die epistemologische Brisanz der Fiktion. Fiktionale Rede kann das sichtbar machen, was in jeder Form von Rede im Prinzip Gültigkeit besitzt. Wenn ich einer Behauptung Glauben schenke, dann nicht deshalb, weil diese Behauptung kraft sprachimmanenter Eigenschaften mich unabweisbar zwingen würde, an ihre Wahrheit zu glauben, sondern weil ich als Leser oder Adressat dieser Behauptung einen Abgleich mit meiner eigenen Erfahrung oder mit meinen Einstellungen, Überzeugungen, Vorstellungen vornehme und damit diese Behauptung in meine eigene Konstruktion von Wirklichkeit einbaue. Wirklichkeitskonstruktionen aber sind veränderbar. Sie können unter dem Einfluss neuer Informationen, neuer Erfahrungen, neuer Annah25

Der Wissenschaftshistoriker Steven Shapin hat gezeigt, dass der auf Autorität und Prestige von Wissenschaftlern beruhende Glaube an die Wahrheit von wissenschaftlichen Behauptungen eine ganz zentrale Rolle selbst in der Naturwissenschaft und in den Ingenieurwissenschaften spielt. Zugespitzt formuliert: Man glaubt in der Wissenschaft nicht an X, weil man es selbst nachprüfen könnte, sondern man glaubt daran, weil Y es gesagt hat. Vgl. Shapin, »Cordelia’s Love: Credibility and the Social Studies of Science«, in: Perspectives on Science 3/3 (1995), S. 255–275; ders., »Rarely Pure and Never Simple: Talking about Truth«, in: Configurations 7 (1999), S. 1–14; ders., The Scientific Life. A Moral History of a Late Modern Vocation, Chicago/London 2008.

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men und Hypothesen infrage gestellt und transformiert werden. Solche Prozesse werden in der literarischen Fiktion häufig mit Vorbedacht ausgelöst und inszeniert. Dadurch wird beim Leser ein Bewusstsein für die Relativität von Wahrheit und für den Konstruktcharakter von Wirklichkeitsannahmen erzeugt. Auf dieser Ebene nun erwächst der Literatur eine epistemologische Dimension, die es ihr ermöglicht, in der Tat mit der Wissenschaft zu konkurrieren. Literatur erzeugt in der Regel kein wissenschaftlich valides, neues Wissen von der Welt, doch kann sie in der Auseinandersetzung mit vorhandenem Wissen und wissenschaftlichen Prinzipien ein Metawissen erzeugen, eine Bewusstmachung der Grundlagen des Wissens ermöglichen. In diesem Sinne ist die Literatur keine Wissenschaft oder Philosophie, sondern ein Medium der Erkenntnis von Erkenntnis. Es gibt also durchaus einen Überschneidungsbereich der Disziplinen. Literatur kann teilweise das leisten, was Philosophie und Wissenschaft leisten.26 Man kann von ihr etwas lernen; man tut dies aber nur, indem man gleichzeitig zur Kenntnis nimmt, dass Literatur eine Kunstform ist und dass diese Kunstform sich im Zusammenhang der modernen Gesellschaft immer wieder neu definieren muss. Letztlich haben wir es mit einer doppelten Codierung zu tun: Literatur als Kunst gestaltet sich nach den ästhetischen Prinzipien des Kunstsystems und operiert hierbei autopoietisch; Literatur als Erkenntnismedium setzt sich mit rivalisierenden Erkenntnismedien auseinander und definiert sich in Abgrenzung von diesen. 1.4.1 Kommunikation, Wissen und Wahrheit aus systemtheoretischer Sicht In seiner systemtheoretischen Gesellschaftsanalyse geht Luhmann wie bereits erwähnt davon aus, dass die moderne Gesellschaft aus verschiedenen funktional differenzierten Teilsystemen besteht, die je spezifische Funktionen erfüllen. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Jedes 26

Carlo Bernardini, »Letteratura, scienza e filosofia della scienza«, in: Giovanni Falaschi (Hg.), Italo Calvino. Atti del convegno internazionale (Firenze, 26–28 febbraio 1987), Milano 1988, S. 229–237, sieht eine grundlegende Gemeinsamkeit von Literatur und Wissenschaft darin begründet, dass sie beide notgedrungen von der »registrazione infinitamente fedele della realtà osservata« [unendlich getreuen Registrierung der beobachteten Realität], welche er als »verbale ideale« (S. 230) bezeichnet, abweichen müssen. Sowohl die Poesie als auch die zeitgenössische Physik seien je unterschiedliche Extremfälle der Abweichung vom »verbale ideale«. Bernardini liest sodann Romane von Italo Calvino und Georges Perec im Lichte des von Benoît Mandelbrot stammenden Konzepts fraktaler Objekte und schreibt den literarischen Texten die Fähigkeit zu, Gedankenexperimente zu inszenieren.

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System ist operativ geschlossen und autonom. Dies bedeutet, dass ein System keinen direkten Zugriff auf seine Umwelt hat, sondern diese nur beobachten kann. Luhmann unterscheidet zwischen gesellschaftlichen Systemen (Politik, Wirtschaft, Kunst usw.) und psychischen Systemen. Die gesellschaftlichen Systeme können zwar nicht ohne die Existenz von Personen beziehungsweise psychischen Systemen bestehen, doch ist es keineswegs so, dass die Personen beziehungsweise psychischen Systeme sich innerhalb der gesellschaftlichen Systeme befinden würden. Die moderne Gesellschaft definiert sich im Gegenteil durch die Trennung von Gesellschaftssystemen und Individuen. Was aber ist nun das Konstituens von gesellschaftlichen Systemen? Luhmann zufolge ist es die Kommunikation. Kommunikation versteht er als Einheit einer Differenz, nämlich der Differenz von Mitteilung und Information. (Die in einer Mitteilung enthaltene Information ist nicht deckungsgleich mit dieser Mitteilung, sondern ergibt sich als Resultat einer situationsbedingten Differenzwahrnehmung.) Kommunikation ist ein prozesshafter Vorgang, dem ein zeitlicher Index eingeschrieben ist, das heißt, die Differenz von Mitteilung und Information ermöglicht und erzeugt Anschlusskommunikationen. Jeder Kommunikationsakt eröffnet mindestens zwei alternative Anschlussmöglichkeiten – zum Beispiel Annahme oder Ablehnung des Kommunikationsangebots. Jedes System kommuniziert, da es operativ geschlossen ist, nach systemeigenen Regeln: Die Kommunikation ist systemspezifisch codiert, das heißt, sie unterliegt einer Leitdifferenz (zum Beispiel wahr vs. falsch, schön vs. hässlich usw.). »Die Autopoiesis der Kommunikation produziert Kommunikation aus Kommunikation – nie aus Bewußtseinszuständen; aber diese Produktion setzt als gleichzeitig gegebenes Medium Bewußtsein voraus.«27 In diesem Satz zeigt sich das komplexe Verhältnis zwischen System und Umwelt beziehungsweise zwischen gesellschaftlichem System und psychischem System. Einerseits betrachtet Luhmann als primäre Gegebenheit die gesellschaftlichen Systeme, welche aus Kommunikationen bestehen. Diese Kommunikationen entstehen autopoietisch, das heißt, das System erzeugt die Elemente, die es zu seinem Fortbestehen benötigt, selbst. Es werden also nicht Elemente aus der Umwelt des Systems in das System unverändert hineingebracht und dort bearbeitet. Das System kann seine Umwelt ja nur beobachten und die beobachteten Informationen in seine eigene Codierung übertragen. Dennoch ist auf der anderen Seite das gesellschaftliche System nicht unabhängig von Bewusstseinssystemen zu denken. Bewusstsein und Kommunikation sind füreinander wechselseitig notwendige Umwelt.28 Zwischen Sys27 28

Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Frankfurt/M. 1992, S. 43. Ebd., S. 44.

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tem und Umwelt besteht jedoch keine kausale, sondern eine temporale Relation, das heißt, sie stehen zueinander in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit beziehungsweise der Ko-Evolution. Man sieht an dieser Skizze, mit welcher Radikalität Luhmann sich von den Prinzipien der abendländischen Philosophie und Erkenntnistheorie abwendet. War man in der Tradition entweder von einem höheren Sein (der platonischen Idee, dem christlichen Gott und seiner Schöpfung) oder aber von dem Subjekt (Descartes, Kant, Fichte) ausgegangen, so ist für Luhmann das primär Gegebene die Gesellschaft. Er trennt aber die Gesellschaft von den menschlichen Subjekten, insofern er zwischen beiden Einheiten keine Kausalrelation annimmt. Seine grundlegende Theorieentscheidung besteht in der Verlagerung des Fokus vom Menschen auf die Gesellschaft beziehungsweise vom Bewusstsein auf die Kommunikation. Dies hat Auswirkungen auf seine Definition von Wissen. Wissen ist für Luhmann nicht der Besitz oder das Potential eines Subjekts; sein Wissensbegriff beruht auf einer Entanthropologisierung.29 Wissen wird definiert als »eine Struktur, die zur Ermöglichung der Autopoiesis von Kommunikation beiträgt«.30 Autopoietische Systeme beobachten ihre Umwelt und entwickeln Erwartungen hinsichtlich dieser Umwelt. Diese Erwartungen können entweder bestätigt oder enttäuscht werden. Im Falle von enttäuschten Erwartungen spricht Luhmann von Irritationen. Systemtheoretisch gibt es zwei Möglichkeiten, mit Irritationen umzugehen (Luhmann spricht hier von »Metaregeln«). (1) Das System kann seine Struktur so verändern, »daß die Irritation als strukturkonform erscheinen kann«.31 (2) Das System kann aber auch an seiner Struktur festhalten und seine Erwartungsenttäuschung der Umwelt zurechnen. Nicht das System soll sich in diesem Falle ändern, sondern die Umwelt soll sich anders verhalten. Die erste Form des Umgangs mit Irritationen nennt Luhmann kognitive Modalisierung der Erwartung; die zweite nennt er normative Modalisierung. Aus der ersten entsteht Wissen, aus der zweiten entsteht Recht. Wissen ist mit anderen Worten kognitiv stilisierter Sinn, Recht ist normativ stilisierter Sinn.32 »Wissen ist mithin das Sediment einer Unzahl von Kommunikationen, die kognitive Erwartungen benutzt und markiert hatten und mit ihren Resultaten reaktualisierbar sind«.33 Unter dem Begriff der Stilisierung versteht Luhmann ein »Beobachten von Un29 30 31 32 33

Ebd., S. 62. Ebd., S. 134. Ebd., S. 138. Ebd. Ebd., S. 139.

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terscheidungen, die ein Beobachter benutzt«.34 Wissen ist also das Produkt einer Zuschreibung, die nur vom Standpunkt einer Beobachtung zweiter Ordnung aus möglich ist. Wenn Wissen zu begreifen ist als »eine als kognitives Erleben stilisierte Erwartungshaltung«35 und wenn Stilisierung ein Beobachtungsvorgang ist, dann hängt Wissen also ganz grundlegend mit Beobachtung und Kommunikation zusammen. Durch Markierung in der Kommunikation von Erwartungen als kognitiv (und nicht normativ) und als Resultat von Erlebnissen (statt von Handlungen) wird Beobachten dirigiert. Die Kommunikation signalisiert durch Verwendung geeigneter Symbole, wie ihre Beobachtungen beobachtet werden sollen. […] Etwas war als »Wissen« mitgeteilt – das heißt: Es soll ( ! ) so beobachtet werden, als ob die Beobachtung unter diesen Prämissen stattgefunden hätte.36

Wissen ist also nicht allein die Sedimentierung von enttäuschter Erwartung in einem System, sondern es ist zugleich das Resultat einer Kommunikation über diesen Sachverhalt. Diese Kommunikation stilisiert Erwartungshaltungen als kognitives Erleben und insinuiert, dass der Kommunikationspartner dies genau so sehen müsse. Damit situiert Wissen sich auf einer Ebene des Beobachtens von Beobachtungen (Beobachtung zweiter Ordnung). In diesem Sinne hat Wissen keinen unmittelbaren Realitätsbezug, sondern es muss sich kommunikativ gewissermaßen selbst beglaubigen. Diese Selbstbeglaubigung ist indes kein referentieller Akt, sondern ein kommunikativer Effekt, eine Art »Sprachspiel« im Sinne Wittgensteins. Das Hauptproblem jeder Kommunikation ist Luhmann zufolge die Überwindung der Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens. Um diese Unwahrscheinlichkeit zu überwinden, gibt es das, was Luhmann als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bezeichnet (zum Beispiel Geld, Macht, Liebe). Auch Wahrheit gehört zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Luhmann zufolge ist Wahrheit nicht eine Eigenschaft von Sätzen oder Kognitionen, sondern »ein Medium der Emergenz unwahrscheinlicher Kommunikation«37 beziehungsweise ein »Bereich von unwahrscheinlichen Möglichkeiten, in dem Kommunikation unter Sonderbedingungen sich autopoietisch organisieren kann«.38 Auch hier wiederum vollzieht Luhmann eine radikale Abkehr von der Tradition. Wahrheit bedeutet in der Tradition, dass eine Aussage oder eine 34 35 36 37 38

Ebd., S. 146. Ebd., S. 146. Ebd., S. 146f. Ebd., S. 173. Ebd.

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Annahme über einen Sachverhalt diesem angemessen ist, das heißt, es handelt sich um einen Bezug zwischen Sprache und nicht-sprachlicher Wirklichkeit. Wahrheit bezeichnet rekursiv, das heißt unter Rückgriff auf vorherige Operationen, ein »Geprüftsein des Wissens«.39 Luhmann dagegen verwendet den Wahrheitsbegriff nicht als Referenzbegriff, sondern als ein Symbol, das sich auf der Ebene der Kommunikation und der Beobachtung zweiter Ordnung situiert. Die Differenz wahr/unwahr ist ein binärer Code, mit dessen Hilfe Beobachten beobachtet werden kann. Wann immer dies geschieht, »ordnet die entsprechende Operation sich dem durch sie erzeugten System Wissenschaft zu«.40 Wenn Luhmann hier von einem Code spricht, so meint er nicht die Überprüfbarkeit von Aussagen in der Wirklichkeit und die endgültige Entscheidung über die Richtigkeit solcher Aussagen, sondern er meint die Binarität einer Entscheidung, die niemals zu einem Abschluss kommt. Im System der modernen Wissenschaft ist gemäß dem übergeordneten Code wahr/unwahr jede Wahrheitsfeststellung hypothetisch und vorläufig. Das System Wissenschaft ist mithin ein autopoietisches und nicht-teleologisches System, »das keinen Abschluß kennt, sondern mit jeder Operation auch die Option von Annehmen oder Ablehnen reproduziert«.41 Wahrheit ist für Luhmann somit nicht eine Frage der Gegenstandsadäquatheit von Aussagen, sondern eine Frage des Codes. »Für den Beobachter zweiter Ordnung ist mithin das Symbol ›wahr‹ ein Symbol der Selbstbestätigung des beobachteten Kommunikationsprozesses und nichts, was über unabhängige Bedingungen validiert werden könnte. Es ist ein Symbol für die im Kommunikationsprozeß selbst ermittelte Anschlußfähigkeit der Kommunikation.«42 1.4.2 Wahrheit und Fiktion als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Wahrheit, so wurde im vorigen Teilkapitel dargelegt, ist für Luhmann ein Merkmal der Kommunikation, eine »in der Kommunikation für Zwecke der Kommunikation entwickelte Bezeichnung«.43 Der historische Ursprung einer philosophischen Semantik, die mit der Unterscheidung wahr/falsch operiert, hängt mit der Entstehung der griechischen Alphabetschrift zusammen. Im Anschluss an die einschlägigen Studien von Havelock, Goody und 39 40 41 42 43

Ebd., S. 167. Ebd., S. 174. Ebd., S. 174f. Ebd., S. 175. Ebd.

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Watt44 beschreibt Luhmann das durch die Entstehung der Alphabetschrift erzeugte Problem als die Distanz, »die sich auftut zwischen Mitteilung, Verstehen und Annehmen/Ablehnen«.45 Die durch die Alphabetschrift ermöglichte schriftliche Aufzeichnung der Sprache führt zu einer Trennung von Äußerungs- und Rezeptionsakt und senkt damit die Wahrscheinlichkeit, dass das Kommunikationsangebot, welches in einem Text enthalten ist, auch angenommen wird. Um dies zu kompensieren, entstehen, so Luhmann, als neue evolutionäre Errungenschaften die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Eines dieser Medien ist Wahrheit. Die Zweiwertigkeit des Wahrheitscodes (wahr vs. unwahr) reduziert die Anzahl der Möglichkeiten des Reagierens auf einen Text, der mit diesem Code operiert, auf genau zwei. Im Bereich der Philosophie entsteht nun die zweiwertige Logik, mit der man Fragen der Ontologie (das heißt der Wahrheit des Seins) behandelt. Luhmann zufolge wird hierbei das aus den Bedingungen der Schriftkommunikation resultierende Interesse an binärer Codierung auf das Sein projiziert. Ein kommunikativer Schematismus, der die Funktion hat, die Wahrscheinlichkeit von Anschlusskommunikation zu erhöhen, wird ontologisiert, das heißt, er schafft die Grundlage für eine Semantik des Seins und der Wahrheit. Nur scheinbar ging es darum, mit der Welt, wie sie ist, zurechtzukommen. In Wirklichkeit waren, so jedenfalls beschreibt es die hier vorgestellte Theorie, neuartige Kommunikationsprobleme aufgetreten. In dem durch Schrift erweiterten Kommunikationsbereich mußten die strukturellen Grundlagen für die Autopoiesis gesellschaftlicher Kommunikation nachentwickelt werden. Die Einrichtungen, die dies schließlich leisten konnten, nennen wir symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, und Wahrheit ist einer der wichtigsten Fälle.46

Ebenfalls in Anknüpfung an die Studien von Havelock und anderen (und unabhängig von Luhmann) hat der Altphilologe Wolfgang Rösler die These entwickelt, dass die Entdeckung der Fiktionalität bei den Griechen sich als Konsequenz der Erfindung der Schrift ergeben habe. Diese Entwicklung vollzog sich in zwei Schritten. Zunächst kam es zu einer »zuvor unerreichbaren Akkumulation und Fixierung von Tradition«, sodann wurde der Rezeptionsakt durch das Vorhandensein schriftlicher Texte vom mündlichen Vortrag und damit von der Gleichzeitigkeit mit dem Äußerungsakt abgetrennt

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45 46

Vgl. insbes. Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge (Mass.) 1963, Jack Goody/ Ian Watt, »The Consequences of Literacy«, in: Jack Goody (Hg.), Literacy in Traditional Societies, Cambridge 1968, S. 27–68. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 179. Ebd., S. 180.

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und in das »Alleinsein mit dem geschriebenen Text« verlagert.47 Mit Goody und Watt beschreibt Rösler die Merkmale einer schriftlosen Gesellschaft: Diese zeichnet sich aus durch die »homöostatische Organisation kultureller Überlieferung«.48 In Ermangelung der Möglichkeit schriftlicher Aufzeichnungen kann sich eine Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht manifestieren. Im kollektiven Gedächtnis wird nämlich nur das bewahrt, was für das Hier und Jetzt dieser Gesellschaft relevant ist. Die Überlieferung wird an Bedürfnisse der Gegenwart angepasst und gegebenenfalls reformuliert; was seine Relevanz verliert, fällt dagegen dem Vergessen anheim. Da Kommunikation in einer schriftlosen Gesellschaft nur in der Kopräsenz der Gesprächspartner erfolgen kann, tendiert diese Gesellschaft zu einem hohen Konsens und einer gemeinschaftlichen Akzeptanz im Hinblick auf das in der direkten Interaktion kommunikativ auszuhandelnde Bild der Vergangenheit. Die Tradition wird nicht infrage gestellt, sie gilt per se als wahr und wird den Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart angepasst. Mit der Erfindung der Schrift kommt es zu einem grundlegenden Wandel. Die direkte kommunikative Interaktion verliert ihre Exklusivität und tritt in ein Konkurrenzverhältnis zur schriftbasierten Distanzkommunikation. Zugleich ermöglicht die Schrift eine Akkumulation von Wissen. Infolgedessen kommt es zu einer Wahrnehmung von Differenzen und damit zu einem Bewusstsein von Geschichte als einer sich von der Gegenwart grundlegend unterscheidenden Zeitdimension, ebenso zu einer Ausdifferenzierung von Wissensbereichen und zu kontroversen Diskussionen über das Wissen. Die Ausdifferenzierung von Wissensbereichen ist verbunden mit der Entstehung unterschiedlicher Darstellungsformen: »An die Seite des metrisch Strukturierten tritt nun der prosaische, d. h. schriftliche Überlieferung und in der Regel auch lesende Rezeption implizierende Text«.49 Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu einer Ausdifferenzierung von Dichtung, Geschichtsschreibung und Philosophie. Rösler kann anhand zahlreicher Beispiele zeigen, dass im Prozess der Ausdifferenzierung von Dichtung zunehmend ein Bewusstsein für die dichterische Unwahrheit entsteht. Diese wird unterschiedlich bewertet. So heißt es bei Hesiod, dass die dichterische Unwahrheit die Folge eines Wahrheitsentzuges durch die Musen sei. Bei Pindar wird die Unwahrheit mit dem Irrtum der Dichter erklärt beziehungsweise es wird gesagt, dass die Dichter aus mangelndem Verantwortungsbewusstsein lögen. 47

48 49

Wolfgang Rösler, »Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike«, in: Poetica 12 (1980), S. 283–319, hier S. 285. Ebd., S. 304. Ebd., S. 305.

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Die Historiker der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. schließlich erklären die in poetischen Werken nachweisbaren Unwahrheiten durch die inhärenten Gesetze des poetischen Textes, und es wird den Dichtern zugestanden, dass sie die wenig spektakuläre historische Wahrheit bisweilen durch effektvolle Erfindung ersetzen. Dieser Prozess führt schließlich zur Entstehung eines Bewusstseins für Fiktionalität, insbesondere bei Aristoteles. Wahrheit als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und Fiktionalitätsbewusstsein sind somit historisch parallel entstanden. Beide erklären sich aus den Konsequenzen der Schriftlichkeit, wie sie im antiken Griechenland entstanden war. Wahrheit steht für die kommunikative Ausdifferenzierung eines für Wissen zuständigen Systems (zunächst Philosophie, später Wissenschaft). Fiktionalität steht für die kommunikative Ausdifferenzierung von Poesie. Aufgrund dieses gemeinsamen und parallelen Ursprungs stehen, so meine These, die Systeme Wissen und Poesie in einer in der abendländischen Geschichte immer wieder sich manifestierenden Rivalität zueinander.50 Meist wurde der Poesie die Existenzberechtigung abgesprochen, weil sie kein Wissen, sondern nur Fiktion, also Lüge, enthalte, so schon bei Platon (vgl. die bekannten Stellen im Ion und in der Politeia). Nimmt man Luhmanns Ausführungen ernst, dann kann man das Verhältnis zwischen Poesie und Wissen völlig neu betrachten. In beiden Fällen geht es um Kommunikation. Wahrheit vs. Unwahrheit ist die Leitdifferenz, die im Falle der Wissenskommunikation die Annahmewahrscheinlichkeit erhöhen soll. Folgt man Luhmanns Theorie, dann entspräche dieser Leitdifferenz im Bereich der Poesie (als Teilbereich der Kunst) der Gegensatz zwischen schön und hässlich.51 Allerdings bedenkt Luhmann hierbei nicht, dass die Poesie mit dem Konzept der Fiktionalität ein kommunikatives Element entwickelt hat, das strukturell und funktional dem Wahrheitscode entspricht. Man könnte sogar behaupten, dass die Fiktionalität genau wie die Wahrheit ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ist. Poetische Texte sind also doppelt codiert: Zum einen arbeiten sie mit der Leitdifferenz schön/hässlich, zum anderen mit der Leitdifferenz fiktiv/wahr. Luhmann weist darauf hin, dass in der wissenschaftlichen Kommunikation selten explizit von Wahrheit die Rede sei.52 Wahrheit wird vornehmlich auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung greifbar. Sie ist ein kommunikatives Symbol, das auf der Ebene der Pragmatik der Kommunikation 50

51 52

Vgl. hierzu auch Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis (1990), Frankfurt/M. 22005. Vgl. Luhmann, »Ist Kunst codierbar?«, S. 64. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 176.

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zur Anwendung kommt. »Was immer mit der Bezeichnung ›Wahrheit‹ gemeint sein mag […]: eine Auskunft darüber erhalten wir nur durch Beobachtung des Beobachters zweiter Ordnung, soweit dieser sein Beobachten am Schema wahr/unwahr orientiert.«53 Analog hierzu lässt sich feststellen, dass auch in fiktionalen Texten sehr selten explizit gesagt wird, dass es sich um fiktionale Texte handelt. Im Gegenteil wird häufig von den Sprechinstanzen fiktionaler Texte die angebliche Wahrheit des Mitgeteilten betont. In bestimmten hochreflexiven und selbstreferentiellen Texten wie dem Artusroman Chrétien’scher Prägung, dem Don Quijote oder Jacques le fataliste wird Fiktionalität selbst zum Thema gemacht; doch auch hier wird mit dem Wahrheitscode operiert. Dass Fiktionalität nicht ein inhärentes Textmerkmal ist, sondern ein Operationsmodus, der auf der Ebene des Umgangs mit Texten zur Anwendung kommen kann, aber nicht muss, zeigt sehr deutlich die Figur des eingebildeten Ritters Don Quijote, der die Fiktionen seiner Ritterbücher nicht als solche behandelt, sondern als historische Wahrheit, und der damit ex negativo aufweist, dass die Fiktionalität solcher Texte nicht in ihnen selbst begründet liegt, sondern letztlich eine Zuschreibung ist, ein Operationsmodus, der anzuwenden ist – und auch von einer Mehrheit der Mitglieder einer Diskursgemeinschaft üblicherweise angewendet wird.54 Auf dieser Ebene sehe ich die Analogie zu Luhmanns Konzept von Wahrheit als einem Kommunikationsmedium. Fiktion ist genau wie Wahrheit im Bereich der Wissenschaft oder des Diskurses über Wissen ein Kommunikationsmedium, das den Bereich der literarischen Kommunikation maßgeblich mit bestimmt und die Annahmewahrscheinlichkeit der Kommunikation erhöht. Fiktion und Wahrheit sind also keine Gegensätze, sondern funktionale Äquivalente.55 Auf der 53 54

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Ebd. Vgl. Bunia, Faltungen, S. 100, der ausgehend von Dorrit Cohn (»Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective«, in: Poetics Today 11 (1990), S. 775–804) und Gérard Genette (Fiction et diction, Paris 1991) die auch anderswo bereits formulierte These entwickelt, dass Fiktion nicht eine Texteigenschaft, sondern ein Verarbeitungsmodus sei. Diese These radikalisiert er dann folgendermaßen: »Fiktion und Nicht-Fiktion sind durch nichts, was ihren Welten eigen ist, unterschieden. Die Trennlinie zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion scheidet zwei Bereiche, die, was ihr Prozessieren angeht, völlig identisch sind oder sein könnten. […] Wie jede Unterscheidung legt diejenige zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion dabei Wert darauf, wie an sie angeschlossen werden darf; Fiktion zeichnet sich also nicht durch das aus, was sie ist, sondern dadurch, wie mit ihr umgegangen werden kann.« Auf anderen Wegen kommt Rainer Warning zu einer ganz ähnlichen Einschätzung; vgl. »Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault«, in: ders., Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 313–345. Warning versucht, den von Foucault mit dem Begriff des »contre-discours« (Les

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Grundlage dieser Theorie (das heißt der Kombination von Luhmanns Systemtheorie mit einer Theorie der Fiktion) lässt sich im Folgenden untersuchen, wie in ausgewählten literarischen Texten von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart das System Literatur das System Wissenschaft beobachtet und durch die literaturspezifische Codierung wissenschaftlicher Elemente sich selbst beschreibt. Bevor mit den Untersuchungen begonnen werden kann, muss indes noch genauer über Fiktion nachgedacht werden. Fiktion wird häufig durch das Kriterium der fehlenden Wirklichkeitsreferenz definiert.56 Gemäß der Etymologie des Wortes Fiktion (von lat. fingere,

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mots et les choses, Paris 1966, S. 59) markierten Status der Literatur im Hinblick auf das Diskurssystem einer Gesellschaft genauer und systematischer zu fundieren. Bei der Bestimmung des diskursiven Status der Literatur gehe es, so Warning, um die Dialektik von Einbettung und Ausbettung, das heißt, literarische Texte seien einerseits den allgemeinen Diskursnormen unterworfen, andererseits entzögen sie sich diesen Diskursnormen zumindest teilweise. Foucaults Bindung an die Poetik der französischen Neo-Avantgarde der Sechzigerjahre im Umfeld der Gruppe Tel Quel ersetzt Warning durch die Bezugnahme auf das Imaginäre als das eigentliche Movens poetischer Konterdiskursivität. Das Konzept des Imaginären übernimmt Warning von Cornelius Castoriadis (L’institution imaginaire de la société, Paris 1975), der es durch das Prinzip eines originären Mangels und eines damit verbundenen nicht realisierbaren Begehrens definiert. Im Gegensatz zu Freud, der das Imaginäre als Kompromissbildung, als täuschende Repräsentation, als auf eine verborgene Urszene verweisende Sekundärszene konzipiert, situiert Castoriadis das Imaginäre auf der basalsten Ebene. Dies hat zur Folge, dass man kein Wissen und keine Episteme denken kann, die nicht schon imprägniert wären durch das Imaginäre. »Es gibt keine diskursive Praxis ohne imaginäre Besetzungen, und handle es sich dabei nur um die quasi spielerische Einführung vorangegangener Diskurse in diese Praxis. Und dasselbe gilt auf der Ebene des Wissens, der Episteme: Es gibt kein Wissen ohne imaginäre Besetzung, wie es umgekehrt keine Hervorbringung des Imaginären gibt, die nicht Teil des Wissens, die nicht ›gewußt‹ wären.« (S. 321f.). Das Wissen und das Imaginäre bilden also, so Warning, eine komplexe Einheit, deren Bestandteile man nicht semantisch unterscheiden kann, sondern nur pragmatisch oder funktional. »Man kann mit dem Wissen entweder ernsthaft und diszipliniert umgehen, oder aber mehr zwanglos-spielerisch. […] Den Wissensdiskurs und den poetischen Konterdiskurs in Opposition setzen, ist nicht eine semantische, sondern eine pragmatische Operation« (S. 322). Einen kritischen Überblick über mögliche Definitionsversuche von Fiktion gibt Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001. Zipfel verwendet folgende Klassifikationskriterien: Fiktion im Zusammenhang der Geschichte (Fiktivität), Fiktion im Zusammenhang des Erzählens (Fiktionalität), Fiktion im Zusammenhang der Textproduktion, Fiktion im Zusammenhang der Textrezeption, Fiktion im Zusammenhang der Sprachhandlungssituation. Jan Gertken/Tilmann Köppe, »Fiktionalität«, in: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York

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›bilden, erdichten, erfinden‹) wird das spezifische Merkmal der Fiktion darin gesehen, dass sie kein Korrelat in der empirischen Wirklichkeit habe. Man kann diesen Sachverhalt unterschiedlich begründen und bewerten. Eine in der neueren Diskussion häufig vorzufindende Begründung ist die linguistische, wonach die Bedingungen für das Gelingen eines Sprechaktes im Falle fiktionaler Äußerungen nicht erfüllt sind.57 Ein anderer Versuch, Fiktion zu definieren, besteht darin, dass man den fiktionalen Text vom pragmatischen unterscheidet.58 In diesen Fällen wird Fiktion jeweils als etwas von normaler Rede Abweichendes definiert, sei es, dass ihr das Merkmal der Wirklichkeitsreferenz fehlt, sei es, dass bestimmte, in normaler Sprachverwendung gültige Bedingungen nicht erfüllt sind, sei es, dass Fiktion als komplexe Form der Abweichung von pragmatischen Texten aufgefasst wird. Gegenläufig zu dieser Tendenz sind Versuche, den fiktionalen Text als einen Sprechakt sui generis zu definieren. So fasst Warning Fiktionalität als eine »Diskurskomponente, die in den Merkmalssatz einer literarischen Gattung eingehen kann, aber nicht eingehen muß«.59 Fiktionalität realisiere sich »über den illokutionären Modus eines Als-ob-Handelns«.60 Als-ob-Handeln versteht Warning als spielerisches Handeln, und eine Spielsituation zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus der sie umgebenden Handlungswelt ausgegrenzt ist. Im Blick auf diese Ausgrenzung der fiktionalen Handlung habe man häufig von der pragmatischen Leere, der Situationsabstraktheit, der Situationslosigkeit und gar von der Konsequenzlosigkeit fiktionaler Rede gesprochen und den fiktionalen Diskurs in Opposition gestellt zu allen Formen pragmatischer Rede. Dies aber, so Warning, sei unglücklich und missverständlich, denn es gehe ja auch bei der fiktionalen Rede darum, dass diese in einer Kommunikationssituation verwendet werde. Die pragmatische Komplexität der fiktionalen Rede zeige sich daran, dass zwar in ihr keine unmittelbare Determinierung durch eine Gebrauchssituation vorliege, dass aber die Gebrauchssituation nicht einfach entfalle. Vielmehr komme es zu

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2009, S. 228–266, wandeln die von Zipfel vorgeschlagenen Kriterien folgendermaßen ab: Text und Welt, Textstruktur, Textproduktion, Textrezeption. Exemplarisch vertritt diese Position John R. Searle, »Der logische Status fiktionaler Rede« (1974/75), in: Maria E. Reicher (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit, Paderborn 2007, S. 21–36. Karlheinz Stierle, »Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten?«, in: Poetica 7 (1975), S. 345–387, hier S. 348ff. »Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion«, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 183–206, hier S. 191. Ebd.

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einer »Situationsspaltung dergestalt, daß eine interne Sprechsituation in Opposition tritt zu einer externen Rezeptionssituation«. Fiktionale Rede sei somit pragmatisch bestimmt »über die Simultaneität zweier Situationen, die über ein je eigenes deiktisches System verfügen. Eine solche Befangenheit in zwei gleichzeitigen Situationen führt die Subjekte der Sprech- wie die der Rezeptionssituation in jene widersprüchlichen Handlungsanweisungen, welche die Kommunikationstheorie beschrieben hat als das pragmatische Paradox des ›double-bind‹.«61 Diese paradoxe Doppelung ist für Warning das entscheidende Fiktionalitätskriterium, welches kein textinternes, sondern ein auf der Ebene der textexternen Pragmatik situiertes Merkmal ist. Fiktionalität beruht somit in letzter Konsequenz auf einem Kontrakt zwischen Autor und Leser. Kendall L. Waltons Definition von Fiktionalität geht ebenfalls aus vom Spiel (»games of make-believe«).62 Solche Spiele sind für Walton Handlungen, in denen die Imagination zum Einsatz kommt, und zwar unter Inanspruchnahme von Auslösern (»props«). Solche Auslöser können beim Spiel der Kinder beliebige Gegenstände sein, etwa Puppen, Holzklötze oder Ähnliches. Walton unterscheidet drei Typen von »games of make-believe«, nämlich (1) das Spiel der Kinder, (2) Tagträume und (3) literarische Fiktionen, die er auch als »representations« bezeichnet. Unter »works of fiction« versteht er »works whose function is to serve as props in games of make-believe«.63 Der Unterschied zwischen »representations« und »works of fiction« liegt für Walton allein darin, dass »representations« nicht notwendigerweise Artefaktcharakter haben müssen, also rein mental existieren können. Wie bei Warning wird auch bei Walton Fiktion nicht als Abweichung, als defizitärer Sprechmodus definiert, sondern durch positive Merkmale begründet. Außerdem ist es Waltons Anspruch, mit seinem Fiktionsbegriff nicht nur verbale, sondern auch nonverbale Fiktionen (Bilder, Skulpturen, Filme usw.) zu erfassen. Trotz seines innovativen Ansatzes aber beruht auch Waltons Fiktionsbegriff insgeheim immer noch auf dem bei Searle und anderen zugrunde liegenden Referenzbegriff. Man sieht dies an Waltons Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage, in welcher Weise »works of nonfiction« sich von »works of fiction« unterscheiden: »It is not the function of biographies, textbooks, and newspaper articles, as such, to serve as props in games of makebelieve. They are used to claim truth for certain propositions rather than 61 62

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Beide Zitate ebd., S. 193. Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge (Mass.)/London 1990. Ebd., S. 72.

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to make propositions fictional. Instead of establishing fictional worlds, they purport to describe the real world.«64 Es geht also auch hier, wie man sieht, um den Gegensatz von fiktiver und wirklicher Welt. Walton scheint anzunehmen, dass der semiotisch vermittelte Zugriff auf die wirkliche Welt grundsätzlich anders funktioniere als die Erzeugung von fiktiven Vorstellungswelten. Zwar räumt er ein, dass auch ein Wissenschaftler wie Charles Darwin in seinem Buch The Origin of Species den Leser dazu bringen möchte, mithilfe seiner Vorstellungskraft bestimmte Überzeugungen zu übernehmen. Doch sei es keineswegs so, dass der Leser diese Überzeugungen nur aus dem Grund annehmen solle, weil sie in Darwins Buch auf eine bestimmte Art und Weise dargestellt worden seien. »If we are to believe the theory of evolution, it is because that theory is true, or because there is good evidence for it, not because it is expressed in The Origin of Species.«65 Nun hat der bereits erwähnte Steven Shapin gezeigt, dass die Produktion wissenschaftlicher Wahrheit, selbst in den vermeintlich exakten Wissenschaften, die auf Messbarkeit und Überprüfbarkeit beruhen, ein sozial vermittelter Vorgang ist, der auf Glauben und Autorität beruht. Eine wissenschaftliche These oder Theorie setzt sich nicht deshalb durch, weil sie wahr ist, sondern weil sie von Personen vertreten wird, die andere Personen von der Wahrheit ihrer Anschauungen zu überzeugen verstehen (damit kein Missverständnis aufkommt: hiermit soll nicht gesagt sein, dass die sich durchsetzenden wissenschaftlichen Anschauungen nicht gegenstandsadäquat, das heißt ›wahr‹ sein können; es geht hier einzig um die sozialen und psychischen Mechanismen, welche zur Verbreitung wissenschaftlicher Anschauungen führen). Luhmann verweist ebenfalls darauf, dass die Tatsache, dass bestimmte Überzeugungen als wissenschaftliche Wahrheit geglaubt werden, nicht schon dadurch erklärt werden könne, dass sie wahr seien.66 Es geht also um den Prozess der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit und Wahrheit. Insofern wäre Waltons Fiktionstheorie an dieser Stelle zu modifizieren. Das innovative Element seines Ansatzes möchte ich übernehmen, das heißt, ich gehe wie er davon aus, dass ein fiktionaler Text Auslöser für Imaginationsvorgänge ist. Diese Auffassung möchte ich im Gegensatz zu Walton indes auch auf nicht-fiktionale Texte ausdehnen. Um Waltons Beispiel aufzugreifen: Wenn ich die New York Times lese, löst die Lektüre in meinem Gehirn bestimmte Vorgänge aus, die im Prinzip denen völlig analog sind, welche durch die Lektüre eines Romans hervorgerufen werden. Die 64 65 66

Ebd., S. 70. Ebd. Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 175.

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Tatsache, dass ich bei der Lektüre der New York Times auch, wie Walton sagt, herausfinden möchte, was in der wirklichen Welt passiert ist, ist Folge einer pragmatischen Konvention beziehungsweise Zusatzspezifikation. Diese Konvention lernt man durch Sozialisation. Wenn man einem Kind das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein vorliest, dann löst dieser Rezeptionsvorgang im Kind Imaginationen aus, die das Kind in der Regel zunächst einmal für wahr hält. Kinder, die in Mitteleuropa leben, haben in ihrem Leben normalerweise noch nie einen Wolf gesehen. Dennoch glauben sie an die Existenz von Wölfen und auch daran, dass Wölfe gefährlich für den Menschen sein können. Dieser Glaube wird ganz wesentlich durch die Kenntnis von Märchen und Bilderbüchern genährt, das heißt, in einem frühen Stadium der kindlichen Entwicklung wird das Welt- und Wirklichkeitsbild in entscheidender Weise durch Fiktionen erzeugt beziehungsweise beeinflusst. Erst allmählich lernt das Kind dann zu unterscheiden zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Meine These lautet nun, dass die fiktionale Kommunikation die ursprünglichere ist und dass die nicht-fiktionale Kommunikation nach dem Modell der fiktionalen Kommunikation zu beschreiben ist, das heißt als eine Kommunikation, die im Rezipienten Imaginationen auslöst, wobei als kommunikative Zusatzbedingung hinzukommt, dass die von dem nicht-fiktionalen Text ausgelöste Imagination ein Korrelat in der Wirklichkeit besitzt. Der Sonderfall der Kommunikation ist also die referentielle, auf Wahrheitsbedingungen beruhende Kommunikation. Doch auch diese Kommunikation beruht im Sinne von Walton auf »make-believe«. Eugenio Coseriu67 beschreibt die poetische Sprachverwendung nicht als Abweichung, sondern als vollständige Realisierung aller in der Sprache gegebenen Möglichkeiten. In ähnlicher Weise möchte ich die fiktionale Rede nicht als Abweichung, sondern als Grundlage der Kommunikation beziehungsweise als vollständige Realisierung ihrer Möglichkeiten verstehen. Selbstverständlich ist zu bedenken, dass es in komplexen Gesellschaften, die das Schriftmedium besitzen, zu einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Kommunikationsmodi kommt. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass Luhmann in Anknüpfung an die entsprechenden Forschungen zu den Konsequenzen der Schriftlichkeit in Griechenland zu der These gekommen ist, dass Wahrheit ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium sei, welches dazu diene, die Annahmewahrscheinlichkeit bei schriftbasierter Kommunikation zu erhöhen. Darauf aufbauend kann man sagen, dass auch 67

Eugenio Coseriu, Textlinguistik. Eine Einführung, hg. v. Jörn Albrecht, Tübingen 31994, S. 147.

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Fiktion einen analogen Status besitzt. Der Begriff der Fiktion in diesem Sinne ist jedoch ein anderer als der im Vorigen im Zusammenhang mit Walton erläuterte. Die beiden Begriffe von Fiktion (Walton versteht Fiktion als Auslöser für Imaginationen; mein eigener Vorschlag in Anknüpfung an Luhmann konzipiert Fiktion als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium) sind zwar unterschiedlich, aber sie hängen auch miteinander zusammen. Was sie gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass Fiktion nicht vom Wirklichkeitsbezug her gedacht wird, sondern von der Seite der kommunikativen Pragmatik. Es wird also nicht gefragt, wie sich Fiktion in Abgrenzung von der (Rede über) Wirklichkeit definieren lässt, sondern was man mit Fiktion in Kommunikationszusammenhängen macht, welche Vorgänge sie auslöst, welche Anschlusskommunikationen sie ermöglicht usw. Es geht nicht um Ontologie, sondern um Kommunikation, nicht um das Sein, sondern um Handlung. Der Vorteil eines so verstandenen Fiktionsbegriffs liegt nun darin, dass er erstens die letztlich niemals befriedigend zu lösenden Fragen der Wirklichkeitsadäquation ausklammert, und zweitens, dass er das hier im Mittelpunkt stehende Wechselverhältnis von Fiktion und Wissenschaft beschreibbar macht. Was das bedeutet, soll hier kurz skizziert werden. Wenn man wie Searle davon ausgeht, dass eine in einem fiktionalen Text enthaltene Äußerung nicht den für behauptende Äußerungsakte zu erfüllenden Wahrheitsbedingungen unterliegt, dann lassen sich in fiktionalen Texten im streng logischen Sinn überhaupt keine Wahrheitsaussagen machen, und dann wäre es auch sinnlos, die Frage zu stellen, inwiefern wissenschaftliches Denken in literarischen Texten vorkommen und reflektiert werden kann. Denn dieses Denken könnte ja in literarischen Texten per se nicht mehr den Anspruch haben, wissenschaftlich zu sein, und würde also für die Wissenschaft schlechthin irrelevant sein. Wählt man einen anderen Beschreibungsansatz, so kommt man im Prinzip zu derselben Schlussfolgerung: Kunst und Wissenschaft sind gemäß der Theorie der funktional differenzierten Gesellschaft zwei getrennte, nach unterschiedlichen Codierungen operierende Bereiche mit unterschiedlichen Funktionen. Die Wissenschaft hat die Funktion, neues und unwahrscheinliches Wissen zu gewinnen, die Kunst hat die Funktion, das Unbeobachtbare sichtbar zu machen. Unter diesen Prämissen hat es wenig Sinn, die Frage zu stellen, inwieweit literarische Texte wissenschaftliche Modelle importieren und nach den ihnen eigenen Prinzipien verarbeiten. Denn was sie im Zuge solcher Operationen erzeugen, kann per definitionem niemals Wissen sein, sondern ist immer Kunst. Selbst wenn sich das Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft systemtheoretisch durchaus beschreiben lässt, macht es doch vom funktionalen Gesichtspunkt aus be-

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trachtet keinen Unterschied, ob sich das Kunstsystem qua struktureller Kopplung nun mit dem Wissenschaftssystem oder mit einem beliebigen anderen System verbindet und dessen Elemente recodiert. Gemäß der hier zu verfolgenden Hypothese aber sind die in der Literatur zu beobachtenden Bezugnahmen auf Wissenschaft keineswegs beliebig, sondern sie sind Ausdruck eines Konkurrenzverhältnisses zwischen den beiden Systemen Kunst und Wissenschaft. Dieses Konkurrenzverhältnis lässt sich nun, so meine These, mit dem von Walton und in Weiterentwicklung eines Luhmann’schen Gedankens gewonnenen doppelten Fiktionsbegriff adäquat beschreiben. ›Fiktion‹ und ›Wahrheit‹ werden hier als kommunikative Operatoren betrachtet, mit denen Kommunikationsteilnehmer an Texte herangehen und nach denen sie Texte kategorisieren und prozessieren. Dies ist ein konstruktivistischer Ansatz, demzufolge Kommunikationsteilnehmer Wirklichkeiten konstruieren, indem sie die Unterscheidung fiktiv vs. wahr einführen und bestimmte Texte der einen oder der anderen Seite dieser Opposition zuordnen. Aus historischer Sicht kann man erkennen, dass solche Zuschreibungen keineswegs stabil sind. Galten die Bücher des Alten und des Neuen Testaments bis zum 18. Jahrhundert den meisten Lesern als göttlich garantierte Wahrheitsaussagen, so liest man sie in der Moderne tendenziell als Allegorien oder gar als literarische Fiktionen.68 Die Lehre von den Körpersäften und Temperamenten (Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker und Phlegmatiker) galt lange Zeit als bewiesene wissenschaftliche Wahrheit; aus der Sicht der heutigen Medizin gehört diese Lehre hingegen dem Bereich der Fiktion an. Umgekehrt kann es passieren, dass fiktionale Darstellungen von Krankheiten, wie beispielsweise der Schizophrenie in Büchners Lenz, aus der Perspektive später entstandener psychiatrischer Beschreibungskategorien als Vorwegnahme psychiatrischer Erkenntnisse interpretiert werden.69 In all diesen Fällen hat sich an den jeweiligen Texten semantisch-lexikalisch nichts geändert. Was sich dagegen geändert hat, ist der pragmatische Umgang mit den Texten, das heißt die Art und Weise, wie man sie behandelt, ob man sie als Fiktion oder als Wahrheitsaussagen liest. 68

69

Vgl. Hans-Peter Schmidt, Schicksal Gott Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk, Paderborn 2005, dessen Anliegen darin besteht, die Bibel »als ein Buch zu lesen, als ein Stück Weltliteratur, in dem das Wesen des Menschen in seiner Suche nach sich selbst zum Ausdruck kommt« (S. 17). Vgl. hierzu Weertje Willms, »Wissen um Wahn und Schizophrenie bei Nikolaj Gogol’ und Georg Büchner. Vergleichende Textanalyse von Zapiski sumasˇsedˇsego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) und Lenz«, in: Thomas Klinkert/Monika Neuhofer (Hg.), Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, Berlin/New York 2008, S. 89–109.

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Die zweite Dimension des hier verwendeten Fiktionsbegriffs situiert sich auf der Ebene der psychischen Verarbeitung von Informationen, die in Texten enthalten sind. Im Sinne einer Verallgemeinerung von Waltons Fiktionsbegriff soll Fiktion verstanden werden als Auslöser von Imaginationen. Da solche Imaginationen sowohl von Texten mit Wirklichkeitsbezug als auch von solchen ohne Wirklichkeitsbezug ausgelöst werden, lassen diese Texte sich nicht durch das Fiktionskriterium voneinander unterscheiden. Die Unterscheidung erfolgt erst auf der Ebene der kommunikativen Pragmatik, nicht schon auf der Ebene der mentalen Prozessierung der Information. Der hier vorgeschlagenen Fiktionstheorie zufolge gibt es somit ein tertium comparationis zwischen literarisch-fiktionalen und wissenschaftlichen Texten: Beide setzen die Tätigkeit der Imagination voraus, um lesbar zu werden. Beide setzen außerdem voraus, dass ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium (Wahrheit beziehungsweise Fiktion) zur Anwendung kommt. Weil sie dies tun, können sie prinzipiell miteinander verglichen werden, und zwar dergestalt, dass einerseits die literarische Fiktion Erkenntnisfragen behandeln oder Erkenntnis generieren kann und dass andererseits umgekehrt die wissenschaftliche Textproduktion literarische Darstellungsformen (Metapher, Vergleich, Metonymie usw.) anwendet. Damit soll nicht die Differenz zwischen den beiden Darstellungsmodi beziehungsweise den beiden ihnen zugehörenden Funktionsbereichen Kunst und Wissenschaft negiert werden. Um es metaphorisch auszudrücken: Wenn ich auf der Basis eines tertium comparationis einen starken Kämpfer mit einem Löwen vergleiche oder ihn gar mit dem Löwen gleichsetze, dann negiere ich nicht die Differenz zwischen Mensch und Tier; sehr wohl aber postuliere ich eine partielle Gemeinsamkeit von Merkmalen, wie Stärke, Tapferkeit, Schnelligkeit usw. Die vorliegende Untersuchung zielt darauf ab, das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft aus der Sicht der Literatur nachzuzeichnen, und zwar von der Mitte des 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, in jenem Zeitraum also, in dem die alteuropäischen Gesellschaftsstrukturen sukzessive aufgelöst werden und es zur Umstellung von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung kommt. Die Entwicklung innerhalb des gewählten Zeitausschnitts wird nicht als teleologischer Prozess betrachtet, sondern als kontingente Abfolge von Wechselverhältnissen zwischen Literatur und Wissenschaft. Die ausgewählten Texte aus verschiedenen Literaturen haben exemplarischen Charakter für im jeweiligen Teil-Zeitraum mögliche Ausformungen des genannten Verhältnisses. Die Auswahl erhebt nicht den Anspruch, alle diesbezüglich relevanten Texte zu erfassen, und es geht auch nicht darum, alle Arten der Wechselwirkung exhaustiv darzustellen.

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Literarische Texte haben prinzipiell einen Doppelcharakter: Sie sind einerseits individuelle und einzigartige Kunstwerke; andererseits partizipieren sie aber auch an der allgemeinen Diskursgeschichte. In jedem literarischen Text lassen sich somit unbeschadet seiner künstlerischen Einzigartigkeit Elemente der allgemeinen Diskursgeschichte wiederfinden, sodass man ihn als exemplarisch im Hinblick auf diese allgemeine Diskursgeschichte lesen kann. Mit anderen Worten: Jeder der hier näher betrachteten Texte ist einerseits singulär und als Kunstwerk kontingent (da er vom jeweiligen Autor unter je einmaligen Bedingungen geschaffen wurde), und er ist gleichzeitig notwendig und exemplarisch (da er mit gesellschaftlichen und diskursgeschichtlichen Bedingungen korreliert). In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Textauswahl nicht als die einzig mögliche oder die einzig richtige. Es geht vielmehr darum, anhand der ausgewählten Texte Möglichkeiten des jeweiligen Verhältnisses zwischen Literatur und Wissenschaft unter den für das jeweilige Werk geltenden historischen Bedingungen auszuloten. Obwohl, wie bereits erwähnt, die Entwicklung, die hier betrachtet wird, keineswegs als zielgerichtet erscheint, lässt sich doch ein gemeinsamer Nenner der hier untersuchten Texte finden. Dieser Nenner lässt sich – im Zusammenhang mit dem Konzept der literarischen Selbstbeschreibung – auf den Begriff der Grenze bringen. Die Literatur beobachtet als System das in ihrer Umwelt befindliche System Wissenschaft. Durch strukturelle Kopplung importiert sie selektiv Elemente des ihr fremden Systems und unterwirft diese Elemente einer literaturspezifischen Codierung. In diesem Prozess beschreibt die Literatur sich immer auch selbst, das heißt, sie lotet ihre eigenen Grenzen aus beziehungsweise verschiebt diese Grenzen. Das hängt damit zusammen, dass der Import wissenschaftlicher Modelle nicht ohne Auswirkungen auf die literarischen Darstellungsformen bleibt, dass also die Literatur ihre Formen und Strukturen verändert und sich dadurch die Frage nach der ästhetischen Legitimierbarkeit der jeweils neu geschaffenen Formen stellt. Wie diese Erkundung der eigenen Grenzen in der Konfrontation mit der Wissenschaft jeweils aussieht, welche unterschiedlichen Formen und Modi sie annimmt, dies zu zeigen wird Angelegenheit der nun folgenden Untersuchungen sein.

Giambattista Vico: Scienza nuova

2.

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2.1 Giambattista Vico: Scienza nuova Für den Zusammenhang von Literatur und Wissenschaft (beziehungsweise Philosophie/Theologie) in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist das Werk von Giambattista Vico ein sehr wichtiges und aufschlussreiches Beispiel. Vico (1668–1744) war Professor für Rhetorik an der Universität Neapel. Sein wichtigstes Werk heißt Principj di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni. Dieses Werk wurde 1725 erstmals aufgelegt und vom Autor mehrfach überarbeitet (2. Auflage 1730, 3. Auflage 1744). Ziel dieser Schrift ist es, die Geschichte der Menschheit nach philosophisch-wissenschaftlichen Prinzipien zu rekonstruieren. Das Problem der Geschichtsschreibung ist ja, dass sie sich auf kontingente Sachverhalte, Fakten und Entwicklungen beziehen muss. Diese Kontingenz zu überwinden und die der geschichtlichen Entwicklung zugrundeliegenden Prinzipien freizulegen, ist das Anliegen Vicos. Er versucht, dieses Anliegen zu erreichen, indem er die Philologie und die Philosophie miteinander verbindet: La filosofia contempla la ragione, onde viene la scienza del vero; la filologia osserva l’autorità dell’umano arbitrio, onde viene la coscienza del certo. Questa degnità per la seconda parte diffinisce i filologi essere tutti i gramatici, istorici, critici, che son occupati d’intorno alla cognizione delle lingue e de’ fatti de’ popoli, così in casa, come sono i costumi e le leggi, come fuori, quali sono le guerre, le paci, l’alleanze, i viaggi, i commerzi. Questa medesima degnità dimostra aver mancato per metà così i filosofi che non accertarono le loro ragioni con l’autorità de’ filologi, come i filologi che non curarono d’avverare le loro autorità con la ragion de’ filosofi; la che se avessero fatto, sarebbero stati più utili alle repubbliche e ci avrebbero prevenuto nel meditar questa Scienza.1 Die Philosophie betrachtet die Vernunft, woraus sich die Erkenntnis der Wahrheit ergibt; die Philologie beobachtet die Autorität des menschlichen Urteilsvermögens, woraus sich das Bewusstsein des Wirklichen ergibt. Dieses Axiom definiert in seinem zweiten Teil die Philologen als Grammatiker, Historiker, Kritiker, die sich mit der Kenntnis der Sprachen und der Angelegenheiten der Völker beschäftigen, die sich sowohl auf das Innere, im Sinne von Ge-

1

Giambattista Vico, Principj di scienza nuova, hg. v. Fausto Nicolini, Torino 1976, S. 74f., Nr. 138–140.

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert bräuchen und Gesetzen, als auch auf das Äußere, im Sinne von Kriegen, Friedensschlüssen, Bündnissen, Reisen, Handel, beziehen. Dasselbe Axiom beweist, dass diejenigen Philosophen halb im Irrtum verharrt sind, die ihre Vernunftgründe nicht auf die Autorität der Philologen gestützt haben, und ebenso die Philologen, die sich nicht darum gekümmert haben, ihre Autoritäten mit den Vernunftgründen der Philosophen abzusichern; wenn sie das getan hätten, dann wären sie den Staaten von größerem Nutzen gewesen und wären uns bei der Entwicklung dieser Wissenschaft zuvorgekommen.

Vico schreibt also der Philosophie und der Philologie unterschiedliche Aufgaben zu. Die Philosophie bezieht sich auf die Vernunft (»ragione«) und gewinnt die Erkenntnis der Wahrheit (»scienza del vero«). Die Philologie dagegen bezieht sich auf die Autorität des menschlichen Urteilsvermögens (»autorità dell’umano arbitrio«) und gewinnt ein Bewusstsein des Wirklichen (»coscienza del certo«). Hier wird also ein Paradigma von Gegensätzen aufgestellt, nämlich »filosofia« vs. »filologia«, »ragione« vs. »autorità dell’umano arbitrio«, »scienza del vero« vs. »coscienza del certo«. In einer parallelen Satzkonstruktion werden die oppositiven Begriffe einander gegenübergestellt, und besonders auffällig ist der Gegensatz von »scienza« und »coscienza«, dem eine figura etymologica zugrundeliegt. Diese Satzkonstruktion zeigt schon sehr deutlich, mit welcher stilistischen Prägnanz der Rhetorikprofessor Vico argumentiert. Ihm geht es nicht nur um die sachgerechte Darstellung von Methoden und Erkenntnis, sondern es geht ihm immer auch um die literarische Qualität des Schreibens.2 Seine Sensibilität für die rhetorische Seite der Sprache, für die Textualität des Geschriebenen, prädestiniert ihn für die Erkenntnis, dass die Philosophie allein zu abstrakt ist, um die Wahrheit vollständig zu erfassen. Diese ergibt sich erst aus der Kombination von »vero« und »certo«, also von abstrakter Wahrheit im Sinne der Theologie oder der Philosophie und von konkreter historischer Wirklichkeit im Sinne der Fak2

Winfried Wehle, »Auf der Höhe einer abgründigen Vernunft. Giambattista Vicos Epos einer ›Neuen Wissenschaft‹«, in: Roland Galle/Helmut Pfeiffer (Hg.), Aufklärung, München 2007, S. 149–170, hier S. 150, weist auf den Doppelcharakter von Vicos Unternehmen hin. Einerseits handle es sich bei der Scienza nuova um ein »wissenschaftliches Werk mit monosemierendem Anspruch«, der darin bestehe, Prinzipien freizulegen; andererseits sei die Zielsetzung des Werks eine für seine Epoche unerhörte, handle es sich doch um eine »radikale Aufklärungskritik«, die zu vermitteln es eines besonderen rhetorischen Aufwandes bedürfe. Angesprochen werde von Vicos Darstellung nicht nur der Verstand, sondern auch der Erkenntnismodus der »fantasia« (S. 151). Mit anderen Worten: Der Text ist zugleich ›wissenschaftlich‹ und ›literarisch‹; Wehle spricht von einem »hybriden Text«, dem das »Projekt einer Philosophie mit poetischen Mitteln« zugrunde liege (S. 159).

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tizität des vom Menschen Geschaffenen. Die Kombination aus beiden Elementen setzt die Zusammenarbeit von Philosophie und Philologie voraus, wobei Vico einen weiten Begriff der Philologie zugrunde legt: Philologen sind für ihn Grammatiker, Historiker, Kritiker, die Gegenstände ihrer Betrachtung sind die Sprachen und die historischen Tatsachen, wie zum Beispiel Sitten, Gesetze, Kriege, Bündnisse, Reisen und Handel. Um aber diese letztgenannten Sachverhalte erkennen zu können, muss man sich der schriftlichen Überlieferungen bedienen, und um die Texte zum Sprechen zu bringen, bedarf es einer philologisch geschulten Auslegekunst. Diese Auslegekunst wendet Vico nun insbesondere auf solche Texte an, die wir aus heutiger Sicht als literarisch bezeichnen würden, nämlich die homerischen Epen und andere Texte, welche auf einem mythologischen Substrat beruhen; ein weiterer wichtiger Bezugstext ist die Bibel, die man zwar ihrer Intention nach nicht als literarisch/poetisch im eigentlichen Sinne bezeichnen kann, in der jedoch durchaus literarische und mythologische Elemente vorhanden sind. Einige wichtige Aspekte sind folgende: Vico liest die mythologischen Texte als »istorie civili de’ primi popoli«3 und fügt hinzu, dass die »primi popoli« auf natürliche Weise Poeten gewesen seien, das heißt, er macht sich die Tatsache zunutze, dass Poesie und Wissen (im Sinne von Geschichtsschreibung) in der Antike noch nicht gegeneinander ausdifferenziert waren,4 und versucht den Wirklichkeitsanteil der überlieferten Texte interpretatorisch herauszufiltern. Wichtig ist in diesem Kontext Vicos Sensibilität für Etymologien, das heißt für den Zusammenhang von Wort- und Sachgeschichte. Die Sprache erweist sich für Vico als Quelle der Kulturgeschichte. Eine weitere Quelle des Wissens über die Vergangenheit ist die Betrachtung der »volgari tradizioni«, und zwar über die Grenzen eines Einzelvolkes hinaus, ebenso wie die Betrachtung der Ruinen und Überreste der Vergangenheit, die in ihren ursprünglichen Kontext zu stellen sind. Vicos Anliegen ist es also mit anderen Worten, mithilfe philologischer Methoden (Rhetorik, Archäologie, Sprachgeschichte, vergleichende Volkskunde und Ähnliches, um es bewusst anachronistisch zu formulieren, denn die genannten Disziplinen gab es ja zum Teil in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch gar nicht) ein möglichst umfassendes Wissen von der Vergangenheit der Völker zu gewinnen. Er wäre demnach im modernen Sinne ein Kulturwissenschaftler, der sich unterschiedlichster ›philologischer‹ Methoden bedient, um über die Vergangenheit ein Wissen zu gewinnen, welches nicht 3 4

Scienza nuova, S. 127, Nr. 352. Vgl. hierzu ausführlich Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis (1990), Frankfurt/M. 22005.

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manifest ist, welches also jenseits der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Faktizität der Annalen angesiedelt ist.5 Wie schon bemerkt, geht es Vico aber nicht nur um die Geschichte in ihrer diesseitigen Kontingenz, sondern er verbindet Philologie und Philosophie, mit anderen Worten: Er ist eine Art Geschichtsphilosoph. Er strebt an, eine »storia ideal eterna«6 zu schreiben. Diese »storia ideal eterna« beruht auf der Annahme, dass es drei Zeitalter gab: das Zeitalter der Götter, das der Heroen und das der Menschen. Jedem dieser Zeitalter entsprach eine bestimmte Sprache: die hieroglyphische, die sich heiliger Schriftzeichen bedient, die symbolische, die heroische Schriftzeichen verwendet, und schließlich die »epistoläre«, welche konventionelle Zeichen benützt.7 Das grundlegende Problem, welches Vico zu lösen versucht, ist die Frage nach dem Verhältnis von »storia sacra« (Heilsgeschichte) und »storia profana« (weltlicher Geschichte). Es gab bestimmte Autoren, wie Witsius (Aegyptiaca, 1683), John Marsham (Canon chronicus, 1671) oder John Spenser (Dissertatio, 1670), die die These aufstellten, dass die Geschichte des Volkes Israel abhängig sei von der vorgängigen Geschichte der Ägypter. Gegen diese den Geschichtskonstruktionen der Bibel widersprechende Nivellierung wendete Vico sich ganz entschieden. Es war für ihn undenkbar, dass das Volk Israel in einem religionsgeschichtlichen Abhängigkeitsverhältnis zur Kultur der Ägypter stehen könnte, dass also die biblische Heilsgeschichte nur eine Variante der profanen Geschichte wäre. Im Gegenteil postuliert er die Singularität des hebräischen Volkes. Es gibt für ihn somit zwei Parallelgeschichten: einerseits die Geschichte des von Gott auserwählten Volkes Israel, welches das älteste aller Völker sein musste, und andererseits die Geschichte aller sonstigen Völker, die in ihrer Summe die »storia profana« ergibt. Mit dieser Position gerät Vico allerdings in argumentative Schwierigkeiten, denn er geht ja zugleich davon aus, dass die Geschichte etwas vom Men5

6 7

Vgl. hierzu Vittorio Hösle, »Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. Genese, Themen und Wirkungsgeschichte der Scienza nuova«, in: Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. v. Vittorio Hösle/Christoph Jermann, Hamburg 1990, Bd. I, S. XXXI–CCXCIII, insbes. S. XCVIII ff., wo die Scienza nuova als »philosophisch-theologisch begründete Theorie menschlicher Kultur« (S. IC) bezeichnet wird, sowie Friedrich A. Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, S. 19–43, der Vico einen »Gründerhelden« der Kulturwissenschaft nennt. Kittler zufolge vollzieht sich mit Vicos Werk die Ausdifferenzierung von Naturwissenschaft (verkörpert durch Descartes, gegen den Vico polemisiert und dem er doch, wie Kittler nachweist, zugleich nacheifert) und Kulturwissenschaft. Scienza nuova, S. 125, Nr. 349. Ebd., S. 39, Nr. 52.

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schen Gemachtes sei. Insofern muss er einerseits das Wirken der göttlichen Providenz postulieren und muss andererseits versuchen, dieses zu historisieren.8 Durch die Entdeckung Amerikas hatte man ja in der frühen Neuzeit feststellen können, dass es Völker gab, die sehr alt waren und keine Kenntnis des biblischen Gottes besaßen. Dies führte zu der Annahme von den »origini ferine« (den »wilden Ursprüngen«), welche Vico teilte. Damit schloss er sich Annahmen von Autoren wie Bacon und Hobbes an, die sich aber auch schon bei Lukrez finden. Die These der »origini ferine« verträgt sich nun allerdings überhaupt nicht mit der biblischen Schöpfungsgeschichte. Daher muss Vico die erstere mit zwei Einschränkungen versehen. Zum einen gilt sie nicht für die Hebräer, von denen er annimmt, dass sie in Isolation lebten, sodass sie von den anderen Völkern nicht zur Kenntnis genommen wurden. Die zweite Einschränkung der These besteht darin, dass die »origini ferine« nicht der tatsächliche Ursprung des Menschen waren, sondern erst nach der Sintflut anzusetzen seien. Wenn Vico also von den »origini ferine« spricht, dann meint er nicht den eigentlichen Ursprung, sondern eine Art sekundären, postdiluvianischen Ursprung. Ähnlich wie später Rousseau konstruiert Vico hier also so etwas wie einen nicht ursprünglichen und damit paradoxen Ursprung.9 Der Ursprung liegt immer schon jenseits dessen, was man innerhalb der Ordnung der binären Logik denken kann. Die ›Wilden‹ werden nun im Verlauf der Geschichte allmählich rezivilisiert. In ihrem Innersten besitzen sie noch einen Funken der ursprünglichen Perfektion. So können sie nach den Prinzipien der Vernunft und der Menschlichkeit handeln, wenngleich diese Fähigkeit nur latent vorhanden ist. Durch die Furcht vor Blitz und Donner wird eine religiöse Ehrfurcht geweckt, und es entstehen nach und nach Institutionen der Zivilisation wie zum Beispiel die Ehe, Begräbnisriten, Gesellschaftsordnungen, Städte usw. Dieser Übergang von der Barbarei zur Zivilisation erfolgt nach den Gesetzen des menschlichen Geistes und vollzieht sich in drei Phasen: (1) der Phase der Sinneswahrnehmung, (2) der Phase der Phantasie und (3) der Phase der Vernunft. Diesen drei den menschlichen Vermögen entsprechenden Phasen korrespondieren die bereits erwähnten drei Zeitalter der Geschichte, nämlich (1) das Zeitalter der Götter, (2) das der Heroen, (3) das der Menschen.

8

9

Zu den Aporien von Vicos Denken vgl. auch Wehle, »Auf der Höhe einer abgründigen Vernunft«, insbes. S. 164ff. Vgl. hierzu ausführlich Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, der – vor allem in Auseinandersetzung mit Rousseau – diesen paradoxen Ursprung mit Begriffen wie »trace« und »supplément« zu umschreiben versucht (vgl. insbes. S. 344–350).

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert E ciascuna di queste età si presenta come una totalità organica nella quale le varie manifestazioni delle civiltà e della vita sono l’un l’altra connesse da legami profondi: a certe istituzioni civili e politiche, ad una certa vita sociale ed economica corrisponde un certo linguaggio, un certo tipo di mitologia e di fisica e di astronomia e di cronologia e di geografia.10 Und jedes dieser Zeitalter erweist sich als eine organische Totalität, in der die verschiedenen Ausprägungen der Zivilisation und des Lebens miteinander eng und tiefgreifend verknüpft sind: Bestimmten zivilen und politischen Institutionen, einem bestimmten sozialen und ökonomischen Leben entspricht eine bestimmte Sprache, ein bestimmter Typus von Mythologie, von Physik, von Astronomie, von Chronologie und von Geographie.

Diese Auffassung hat eine grundlegende Konsequenz im Hinblick auf die Interpretation der antiken Mythologie. Hatte man bislang die homerischen Mythen allegorisch ausgelegt, so muss man nun mit Vico versuchen, sie historisch zu lesen, und zwar als Ausdruck einer archaischen, magischen Welt, die sich von unserer modernen, rationalistischen Welt grundlegend unterscheidet und in der andere Weltdeutungsmuster und Gefühle vorherrschend waren. Infolgedessen sind die Mythen nicht mehr, wie es in der christlichen Deutungstradition üblich war, zu verstehen als poetische Erfindungen, die das Wahre verbergen oder einkleiden, sondern sie sind spontaner und natürlicher Ausdruck der mythisch-phantastischen Natur des primitiven Menschen – ein Niederschlag der kollektiven Einbildungskraft der frühen Menschheit: [I filosofi] diedero alle favole interpretazioni o fisiche o morali o metafisiche o di altre scienze, come loro o l’ingegno o ’l capriccio ne riscaldasse le fantasie: sicché essi più tosto con le loro allegorie erudite le finsero favole. I quali sensi dotti i primi autori di quelle non intesero né, per la loro rozza ed ignorante natura, potevano intendere: anzi, per questa istessa loro natura, concepirono le favole per narrazioni vere … delle loro divine ed umane cose …11 [Die Philosophen] interpretierten die Fabeln physisch oder moralisch oder metaphysisch oder mithilfe anderer Wissenschaften, so wie es ihr Ingenium oder ihr Wille ihrer Phantasie gerade eingab, sodass man eher sagen kann, dass sie sie mit ihren gelehrten Allegorien fiktiv zu Fabeln erklärten. An solche gelehrten Bedeutungen haben ihre ersten Autoren nicht gedacht, und daran konnten sie aufgrund ihrer rohen und ungebildeten Natur auch gar nicht denken: Im Gegenteil fassten sie aufgrund dieser ihrer Natur die Fabeln als Erzählungen auf, die die Wahrheit … über ihre göttlichen und menschlichen Angelegenheiten … berichteten. 10

11

Paolo Rossi, »Giambattista Vico«, in: Emilio Cecchi/Natalino Sapegno (Hg.), Il Settecento, Milano 1988, S. 7–58, hier S. 39. Scienza nuova prima, Nr. 298, zit. nach Rossi, »Giambattista Vico«, S. 39.

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Adunque la sapienza poetica, che fu la prima sapienza della gentilità, dovette incominciare da una metafisica, non ragionata ed astratta qual è questa or degli addottrinati, ma sentita ed immaginata quale dovett’essere di tai primi uomini, siccome quelli ch’erano di niuno raziocinio e tutti robusti sensi e vigorosissime fantasie, com’è stato nelle Degnità stabilito.12 Also musste das poetische Wissen, welches das erste Wissen des Heidentums war, von einer Metaphysik ausgehen, die nicht wie die der heutigen Gelehrten rational und abstrakt war, sondern auf den Sinneseindrücken und der Imagination beruhte, so wie es für diese ersten Menschen angemessen war, die nicht mit Ratio ausgestattet waren, sondern mit starken Sinnesorganen und üppiger Phantasie, wie es in den Maximen definiert worden ist.

Es geht Vico also um eine historisierende Deutung der Mythen. Diese werden als Zeugnisse einer früheren Kulturstufe des Menschen gelesen. Dabei setzt Vico die Begriffe »mito« und »poesia« gleich. »Poetico« bedeutet für ihn dasselbe wie »mitico« und auch »primitivo«. Es gibt somit auf dieser früheren Kulturstufe eine »sapienza poetica«, ein Wissen, das alle Formen des Wissens umfasst, nämlich: Metaphysik, Logik, Politik, Physik, Astronomie, Geographie usw.13 Das Wissen der archaischen Zeiten war ein poetisches Wissen; die überlieferten Mythen können folglich als Quellen, als Wissensspeicher für die Vergangenheit des Menschengeschlechts verwendet werden. Das Wissen der Poesie hat für Vico indes nicht nur eine ›archäologische‹ Bedeutung, sondern er verwendet es auch in seiner eigenen Schreibweise, vor allem zu Beginn seines Textes. Dort gibt es eine Illustration, welche sich allegorisch auf den Text der Scienza nuova bezieht. In seiner »Spiegazione della dipintura proposta al frontispizio, che serve per l’introduzione dell’opera« erläutert Vico die Allegorie (vgl. Abbildung 1): Die Frau mit dem geflügelten Kopf, die auf der Weltkugel steht, ist die Metaphysik; das Dreieck, welches sie ekstatisch betrachtet, ist Gott. Während die Philosophen Gott immer nur im Hinblick auf die Ordnung der Natur (»l’ordine delle cose naturali«)14 betrachtet haben, geht die Metaphysik über sie hinaus und betrachtet Gott im Hinblick auf sein providentielles Wirken für die Menschen und ihre Gesellschaft (»’l mondo civile, o sia il mondo delle nazioni«).15 Der »mondo civile« besteht aus Elementen, die ebenfalls allegorisch auf dem Bild repräsentiert 12 13

14 15

Vico, Scienza nuova, S. 138, Nr. 375. Vgl. hierzu Manfred Lentzen, »Das Konzept der ›sapientia poetica‹ in den Schriften Giambattista Vicos«, in: Klaus-Dieter Ertler/Siegbert Himmelsbach (Hg.), Pensées – Pensieri – Pensamientos. Dargestellte Gedankenwelten in den Literaturen der Romania. Festschrift für Werner Helmich, Münster 2006, S. 411–423. Scienza nuova, S. 3, Nr. 2. Ebd.

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Abbildung 1

Abbildung 1: Vico, Scienza nuova (»dipintura proposta al frontispizio«)

Giambattista Vico: Scienza nuova

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sind (als »geroglifici«): Der Globus (das heißt die Natur beziehungsweise der »mondo fisico«) ruht auf einem Altar, aber nur zum Teil, weil nämlich die Philosophen bisher die göttliche Providenz nur in Bezug auf den »ordine naturale« betrachtet und damit nur partiell erklärt haben. Daher huldigen die Menschen Gott als dem Herrn der natürlichen Welt, nicht aber als demjenigen, dessen Vorsehung besonders auf die menschliche Geselligkeit (»propietà: d’essere socievoli«) einwirkt. Diese Vorsehung hat dahingehend gewirkt, dass die Menschen nach dem Sündenfall aus ihrer selbstverschuldeten Einsamkeit befreit und dem ihrer Natur entsprechenden Leben in Geselligkeit zugeführt wurden. Genau dieses Wirken der göttlichen Providenz soll der Hauptgegenstand der Scienza nuova sein.16 Die Scienza nuova versteht sich somit als eine »teologia civile ragionata della provvedenza divina«17 [zivile, vernünftige Theologie der göttlichen Providenz]. Ein weiteres, auf dem allegorischen Frontispiz vorhandenes Element ist das Sternkreiszeichen auf dem Globus. Hier sind zwei Zeichen sichtbar, nämlich der Löwe und die Jungfrau. Der Löwe verweist auf Herkules. Herkules hat den Nemeischen Löwen besiegt, steht also in metonymischem Zusammenhang mit dem Sternzeichen des Löwen, und er steht für den Ursprung der Zivilisation. Der Globus ruht auf einem Altar. Dieser steht für die Gottesverehrung und für die Tatsache, dass der Gottesglaube beziehungsweise der Jenseitsglaube sich im Laufe der Zeit verändert haben. Der Altar wurde von einem irdischen zu einem Himmelszeichen. Der Strahl der göttlichen Providenz richtet sich auf die Brust der Metaphysik und wird von dort zu dem links unten auf dem Bild stehenden Homer hin abgelenkt. Homer ist der älteste Dichter, dessen Werke überliefert worden sind, und er erzählt uns in seinen Epen die Ursprünge der historischen Zeit. Vico vertritt ja, wie schon erwähnt, die Auffassung, dass die Mythen und Fabeln eine historische Wahrheit enthalten. Diese Wahrheit zu entschlüsseln, bedarf es einer »nuova arte critica«,18 die durch das Zusammenwirken von Philosophie und Philologie entsteht. Ein weiteres Element ist die Rute, die auf dem Altar liegt. Sie steht für die »divinazione«, die Weissagung oder Wahrsagung, und das Wort »divinazione« steht etymologisch im Zusammenhang mit »divinità«, mit dem Göttlichen, der Gottheit, weil Gott derjenige ist, der die Zukunft kennt.19 Wasser und Feuer befinden sich ebenfalls auf dem Altar: das Feuer als die brennende Fa16 17 18 19

Alle Zitate ebd. Ebd., S. 4, Nr. 2. Ebd., S. 6f., Nr. 7. Ebd., S. 9, Nr. 9.

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ckel und das Wasser in der Vase. Die menschlichen Institutionen, die aus den göttlichen Elementen entspringen, sind die Ehe (sie wird symbolisiert von der brennenden Flamme der Fackel) sowie der Begräbnisritus. Auf ihn verweist eine Urne rechts neben dem Altar. Die Urne beziehungsweise das Begräbnis wird etymologisch mit den Wörtern »humando« und »humanitas« in Verbindung gebracht;20 das heißt, der Ursprung der menschlichen Zivilisation, der Humanitas, ist das ehrende Andenken an die Toten.21 Die Erde wird eingeteilt: Es werden Städte gegründet, Völker und Nationen bilden sich. Die Menschen definieren das Eigentum durch die Einteilung der Erde und müssen entsprechend auch rechtliche Prinzipien postulieren. Die Rede ist vom »diritto natural delle genti«, vom Naturrecht der Völker.22 Drei Prinzipien erkennt Vico, welche die Geschichte der Menschheit prägen, nämlich (1) die göttliche Providenz, (2) die Ehe und (3) den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, der im Zusammenhang mit dem Begräbnisritus steht. Diese drei Prinzipien werden von der Scienza nuova erörtert. Der Blick auf den Stich zeigt uns darüber hinaus weitere allegorische Elemente. Der Pflug ist zu nennen als Metonymie für den Ackerbau und damit auch für den Beginn der menschlichen Kultur. »Coltura« ist ja einerseits der Ackerbau, andererseits steckt in ihr das Prinzip der »Kultur«. Damit hängen die Ökonomie und auch der religiöse Glaube zusammen, denn »le terre arate furono i primi altari della gentilità«23 [die gepflügten Äcker waren die ersten Altäre der Heiden]. Das Steuer, das ebenfalls am Altar lehnt, ist Zeichen für die Mobilität, die »trasmigrazione de’ popoli fatta per mezzo della navigazione«24 [Wanderschaft der Völker mittels der Schifffahrt]. Man sieht, ohne dass man hier bis ins letzte Detail gehen muss, wie die Allegorie konstruiert ist. Jedes Element ist Träger eines komplexen Signifikats und wirkt als solcher an einer Ausfaltung metonymisch miteinander verbundener Bedeutungen mit; insofern verdichtet sich in diesem Stich der ganze Inhalt der Scienza nuova. Das Bild wird zum Emblem des Textes. Allerdings ist es nicht selbsterklärend, sondern es bedarf einer ausführlichen Erläuterung; es muss der Code definiert werden, den der Leser kennen muss, um die Allegorie zu entschlüsseln. Insofern zeigt sich hier erneut die Hybridität von Vicos Scienza nuova, welche, um ihren theoretischen Anspruch in die Tat umzusetzen, zugleich philosophischer Traktat und poetischer Text sein muss. 20 21

22 23 24

Ebd., S. 10, Nr. 12. Vgl. hierzu die Hinweise bei Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 40. Scienza nuova, S. 11, Nr. 13. Ebd., S. 12, Nr. 15. Ebd., S. 13, Nr. 17.

Das System der »connoissances humaines« nach d’Alembert und Diderot

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2.2 Das System der »connoissances humaines« nach d’Alembert und Diderot In der ab 1751 von d’Alembert und Diderot herausgegebenen Encyclopédie, deren Alternativtitel lautet: Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, wird die damals gültige, von der gegenwärtigen Situation der Ausdifferenzierung abweichende Relationierung von Wissenschaft und Poesie epistemologisch fundiert (der Begriff Literatur wurde damals noch nicht im heutigen Sinne verwendet, er bedeutete soviel wie ›Gelehrsamkeit‹, der Begriff Poesie entspricht dagegen in etwa dem, was wir heute als Literatur bezeichnen). Diesem Monument des Wissens der damaligen Zeit liegt eine bestimmte (auf Francis Bacon und letztlich auf Aristoteles zurückgehende) systematische Einteilung der »connoissances humaines« zugrunde: Les Etres physiques agissent sur les sens. Les impressions de ces Etres en excitent les perceptions dans l’Entendement. L’Entendement ne s’occupe de ses perceptions que de trois façons, selon ses trois facultés principales, la Mémoire, la Raison, l’Imagination. Ou l’Entendement fait un dénombrement pur & simple de ses perceptions par la Mémoire; ou il les examine, les compare, & les digere par la Raison; où [sic] il se plaît à les imiter & à les contrefaire par l’Imagination. D’où résulte une distribution générale de la Connoissance humaine, qui paroît assez bien fondée, en Histoire, qui se rapporte à la Mémoire; en Philosophie, qui émane de la Raison; & en Poësie, qui n’ait [sic] de l’Imagination.25 Körper wirken auf die Sinne. Die Eindrücke, die diese Körper hinterlassen, bewirken, dass sie im Verstand wahrgenommen werden. Der Verstand beschäftigt sich nur auf dreierlei Art und Weise mit seinen Wahrnehmungen, gemäß seinen drei Hauptvermögen: Gedächtnis, Vernunft, Einbildungskraft. Entweder nimmt der Verstand eine bloße Bestandsaufnahme seiner Wahrnehmungen mittels des Gedächtnisses vor; oder er untersucht sie, vergleicht und verdaut sie mittels der Vernunft; oder er gefällt sich darin, sie mittels der Einbildungskraft nachzuahmen und zu imitieren. Daraus ergibt sich eine ziemlich gut begründet erscheinende allgemeine Einteilung des menschlichen Wissens in die Geschichtsschreibung, die sich auf das Gedächtnis bezieht, die Philosophie, die aus der Vernunft hervorgeht, und die Poesie, die aus der Einbildungskraft entsteht.

Man sieht an diesem Zitat von Diderot sehr deutlich, dass alle menschlichen Kenntnisse (»connoissances«) auf ein einheitliches Prinzip zurückgeführt werden, nämlich das Prinzip der Sinneswahrnehmung. Sinneseindrücke erregen die Wahrnehmungstätigkeit (»perceptions«) des Verstandes (»entendement«). 25

Diderot, »Explication détaillée du systême des connoissances humaines«, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Nouvelle impression en facsimilé de la première édition de 1751–1780, Stuttgart/Bad Cannstatt 1966, Bd. I, S. xlvij (Kursivierungen im Text).

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Dieser verarbeitet die Wahrnehmungen mittels dreier Vermögen (»facultés«): Gedächtnis/Erinnerung (»Mémoire«), Vernunft (»Raison«) und Einbildungskraft (»Imagination«). Aus diesen drei Vermögen lassen sich die drei Haupttätigkeiten des »systême des connoissances humaines« ableiten: Geschichtsschreibung, Philosophie und Poesie. Die drei Hauptbereiche des Wissens sind ihrerseits wiederum in drei Unterbereiche eingeteilt: Die Geschichte kann von Gott, vom Menschen und von der Natur handeln; entsprechend unterscheidet man »Histoire Sacrée«, »Histoire Civile« und »Histoire Naturelle«. Analog erfolgt die Unterteilung im Bereich der Philosophie, welche auch als »Science« bezeichnet wird: »Science de Dieu«, »Science de l’Homme« und »Science de la Nature« sind hier zu unterscheiden. Im Bereich der Poesie schließlich wird die Einteilung wie folgt vorgenommen: »Ou le sujet d’un Poëme est sacré, ou il est prophane: ou le Poëte raconte des choses passées, ou il les rend présentes, en les mettant en action; ou il donne du corps à des Etres abstraits & intellectuels. La premiere de ces Poësies sera Narrative: la seconde, Dramatique: la troisieme, Parabolique.«26 [Entweder ist der Gegenstand einer Dichtung heilig, oder er ist profan; entweder berichtet der Dichter von vergangenen Ereignissen, oder er vergegenwärtigt sie, indem er sie in Handlung übersetzt; oder er verleiht abstrakt-intellektuellen Wesen körperliche Gestalt. Die erste dieser Formen der Dichtung ist narrativ, die zweite dramatisch, die dritte parabolisch.] Der Dreischritt Gott – Mensch – Natur wird hier einerseits auf das Binom »sacré«/»prophane« reduziert, andererseits durch den Dreischritt »Narrative« – »Dramatique« – »Parabolique« ergänzt (der übrigens nicht mit der uns geläufigen, erst in der Goethezeit üblich gewordenen Dreiteilung narrativ – dramatisch – lyrisch identisch ist; ein deutlicher Beleg für die Historizität von Gattungseinteilungen). In dieser Gesamteinteilung obwalten zwei einander widersprechende Prinzipien: eines der logisch-systematischen Gleichberechtigung und eines der Hierarchie. Sosehr einerseits die systematisch-symmetrische Ableitung der drei Hauptbereiche des Wissens deren prinzipielle Gleichberechtigung suggeriert, so ungleich sind sie faktisch, was man schon daran erkennt, dass der Begriff »Philosophie« synonym mit dem Begriff »Science« verwendet und dadurch besonders ausgezeichnet wird. Dieser zentrale Bereich der »Philosophie«/»Science« ist nicht nur der umfangreichste – in ihm sind alle damals gängigen Wissenschaften wie Rhetorik, Grammatik, Mathematik, Geometrie, Optik usw. enthalten –, sondern auch der hochwertigste, insofern die ihm zugeordnete »Raison« im 18. Jahrhundert den höchsten Stellenwert besitzt, wie man zum Beispiel im Discours préliminaire nachlesen kann: 26

Ebd., S. l (Kursivierungen im Text).

Das System der »connoissances humaines« nach d’Alembert und Diderot

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Si nous plaçons la raison avant l’imagination, cet ordre nous paroît bien fondé, & conforme au progrès naturel des opérations de l’esprit: l’imagination est une faculté créatrice; & l’esprit, avant de songer à créer, commence par raisonner sur ce qu’il voit, & ce qu’il connoît. Un autre motif qui doit déterminer à placer la raison avant l’imagination, c’est que dans cette derniere faculté de l’âme, les deux autres se trouvent réunies jusqu’à un certain point, & que la raison s’y joint à la mémoire.27 Wenn wir die Vernunft der Einbildungskraft voranstellen, so erscheint uns diese Reihenfolge wohlbegründet und dem natürlichen Fortschritt der Operationen des Geistes entsprechend: Die Einbildungskraft ist ein schöpferisches Vermögen; und der Geist beginnt, noch bevor er daran denkt, etwas zu schöpfen, das, was er sieht und was er kennt, mit der Vernunft zu betrachten. Eine andere Begründung dafür, dass man die Vernunft der Einbildungskraft voranstellen muss, liegt darin, dass sich im letzteren Seelenvermögen die beiden anderen bis zu einem gewissen Grade vereinigt finden, dass sich nämlich die Vernunft mit dem Gedächtnis darin verbindet.

Trotz der epochentypischen Privilegierung der »Raison« ist es aber auf der anderen Seite doch bemerkenswert, dass in der Ableitungssystematik die Poesie auf einer Stufe mit der Geschichtsschreibung und der Philosophie steht. Die Poesie ist somit ein eigener Erkenntnismodus, der den beiden anderen prinzipiell gleichberechtigt gegenübersteht und diese sinnvoll ergänzen kann. Die Herausgeber werfen den Vertretern der drei Teilbereiche, den »érudits«, den »philosophes« und den »beaux esprits« beziehungsweise »poètes«, zwar vor, dass sie einander wechselseitig verachteten, entwerfen dann aber ein Idealbild der gegenseitigen Verbundenheit: Le Poëte & le Philosophe se traitent mutuellement d’insensés, qui se repaissent de chimeres: l’un & l’autre regardent l’Erudit comme une espece d’avare, qui ne pense qu’à amasser sans jouir, & qui entasse sans choix les métaux les plus vils avec les plus précieux; & l’Erudit, qui ne voit que des mots par-tout où il ne lit point des faits, méprise le Poëte & le Philosophe, comme des gens qui se croyent riches, parce que leur dépense excede leurs fonds. / C’est ainsi qu’on se venge des avantages qu’on n’a pas. Les Gens de Lettres entendroient mieux leurs intérêts, si au lieu de chercher à s’isoler, ils reconnoissaient le besoin réciproque qu’ils ont de leurs travaux, & les secours qu’ils en tirent. La société doit sans doute aux BeauxEsprits ses principaux agrémens, & ses lumieres aux Philosophes: mais ni les uns ni les autres ne sentent combien ils sont redevables à la mémoire; elle renferme la matiere premiere de toutes nos connoissances; & les travaux de l’Erudit ont souvent fourni au Philosophe & au Poëte les sujets sur lesquels ils s’exercent. Lorsque les Anciens ont appellé les Muses filles de Mémoire, a dit un Auteur moderne, ils sentoient peut-être combien cette faculté de notre ame est nécessaire à toutes les autres; & les Romains lui élevoient des temples, comme à la Fortune.28 27

28

»Discours Préliminaire des Editeurs«, ebd., S. i–xlv, hier S. xvj. Vgl. hierzu auch Jean Starobinski, »L’empire de l’imaginaire«, in: L’œil vivant II: La relation critique, Paris 1970, S. 171–254, insbes. S. 184. Encyclopédie, »Discours Préliminaire«, S. xviij.

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert Der Dichter und der Philosoph werfen sich gegenseitig vor, es fehle ihnen an Vernunft und sie beschäftigten sich mit Chimären; der eine wie der andere betrachtet den Gelehrten als eine Art Geizkragen, der nur daran denke, Besitztümer anzuhäufen, ohne sie zu genießen, und der wahllos die wertlosesten und die wertvollsten Metalle sammle; und der Gelehrte, der dort, wo er keine Fakten erkennen kann, nur Worte zu sehen glaubt, verachtet den Dichter und den Philosophen als Leute, die sich für reich halten, weil sie mehr ausgeben, als sie besitzen. / Auf diese Weise rächt man sich für Vorzüge, die man selbst nicht besitzt. Die gens de lettres verstünden ihre Interessen besser, wenn sie, anstatt sich isolieren zu wollen, den Bedarf anerkennen würden, den sie an den Arbeiten der jeweils anderen haben, und den Nutzen, den sie daraus ziehen. Die Gesellschaft schuldet sicherlich den Schöngeistern ihre hauptsächlichen Annehmlichkeiten, ihre Bildung den Philosophen; aber weder die einen noch die anderen spüren, wie sehr sie in der Schuld der Erinnerung stehen; sie trägt den Rohstoff aller unserer Kenntnisse in sich; und die Arbeiten des Gelehrten haben oftmals dem Philosophen und dem Dichter die Gegenstände geliefert, mit denen diese sich auseinandersetzen. Als die Alten die Musen die Töchter der Erinnerung nannten, – so hat ein moderner Autor gesagt – spürten sie vielleicht, wie sehr dieses Vermögen unserer Seele für alle anderen Vermögen notwendig ist; und die Römer errichteten ihr Tempel, wie der Fortuna.

Die Vertreter der drei Wissensbereiche, global bezeichnet als »Gens de Lettres«, sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Die Gelehrten oder Historiker sorgen dafür, dass der Rohstoff des Wissens (»la matiere premiere de toutes nos connoissances«) zur Verfügung steht, den dann die Philosophen mithilfe der »raison« zum Zweck der Aufklärung (»lumieres«) und die Dichter mithilfe der Imagination zum Zweck der Verschönerung und Unterhaltung (»agrément«) bearbeiten. Das Verhältnis von Geschichtsschreibung, Philosophie/Wissenschaft und Poesie wird im 18. Jahrhundert nicht überall explizit so bewertet wie in der Encyclopédie, doch findet man allenthalben Spuren ihrer Zusammengehörigkeit beziehungsweise ihrer Interferenz. Man kann also sagen, dass das »systême des connoissances humaines« der Encyclopédie diesbezüglich exemplarisch für das 18. Jahrhundert ist. Es genügt schon ein kurzer Blick auf die Produktion der bekanntesten Autoren, um sich einen Eindruck von den Interferenzen zwischen Poesie und Wissenschaft zu verschaffen. Montesquieu veröffentlichte naturwissenschaftliche Abhandlungen (über die Ursachen des Echos, die Funktion der Nieren, die Schwerkraft usw.), literarische Texte (insbesondere seine Lettres persanes, einen satirischen Briefroman, aber auch die galante Erzählung Le temple de Gnide) und schließlich historischjuristische Abhandlungen (Considérations sur les causes de la grandeur des romains et de leur décadence und vor allem sein Hauptwerk De l’esprit des lois). Voltaire war Verfasser von historiographischen Schriften (Le siècle de Louis XIV), von Erzählungen und Romanen (Zadig, Candide, L’ingénu), von Tragödien (Mérope,

Exkurs: Das Verhältnis von Fachsprache und Literatursprache

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Mahomet), von kulturvergleichenden Texten (Lettres philosophiques, Essai sur les mœurs), aber auch von Polemiken, mit denen er in der öffentlichen Auseinandersetzung Position bezog (L’affaire Calas). Diderot war Mitherausgeber der das Wissen der damaligen Zeit systematisch erfassenden Encyclopédie, zu der er auch hunderte von Artikeln beisteuerte, er schrieb Dramen und dramentheoretische Texte (Le fils naturel, Le père de famille, Entretiens sur le fils naturel), Romane oder romanartige Texte (Les bijoux indiscrets, La religieuse, Le neveu de Rameau, Jacques le fataliste et son maître), philosophische und kulturvergleichende Texte (Lettre sur les aveugles, Supplément au voyage de Bougainville) und vieles mehr. Rousseau trat unter anderem hervor als Verfasser der beiden berühmten kulturkritischen Discours, eines romanartigen Erziehungstraktats (Émile), von musiktheoretischen Schriften und von Encyclopédie-Artikeln, einer staatstheoretischen Schrift (Du contrat social), eines empfindsamen Briefromans (Julie, ou La Nouvelle Héloïse) und autobiographischer Texte (Les confessions, Rousseau juge de Jean-Jacques, Les rêveries du promeneur solitaire). In vielen dieser Texte kommt es zu Begegnungen und Verbindungen von Poesie und Philosophie beziehungsweise Wissenschaft.

2.3 Exkurs: Das Verhältnis von Fachsprache und Literatursprache im 17. und 18. Jahrhundert Generell lässt sich also festhalten, dass Wissenschaft und Literatur im 18. Jahrhundert keine prinzipiell getrennten, autonomen Bereiche sind, sondern dass sie im Gegenteil von einzelnen Autoren gleichzeitig betrieben werden können; die Spezialisierung des Wissens war – trotz der Trennung zwischen den Disziplinen – offensichtlich noch nicht so weit fortgeschritten, dass eine auch personelle Trennung unbedingt erforderlich gewesen wäre. Die mit den jeweiligen Disziplinen verbundenen Diskurstypen sind ebenfalls nicht hermetisch voneinander getrennt, sondern es kommt zu Interferenzen. Ein Beispiel hierfür ist der Musenanruf zu Beginn des XX. Buches von Montesquieus De l’esprit des lois, wo der Verfasser dieses Traktats, welcher zweifellos dem Diskurstyp Wissenschaft (im Sinne des 18. Jahrhunderts) angehört, nach dem Vorbild literarischer, insbesondere epischer Texte (Homer, Vergil, Dante) die Musen um Hilfe und Inspiration bittet. Das XX. Buch trägt den Titel »Des lois, dans le rapport qu’elles ont avec le commerce, considéré dans sa nature et ses distinctions«. Unmittelbar darauf folgt die »Invocation aux Muses«:

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert Vierges du mont Piérie, entendez-vous le nom que je vous donne? Inspirez-moi. Je cours une longue carrière; je suis accablé de tristesse et d’ennui. Mettez dans mon esprit ce charme et cette douceur que je sentois autrefois et qui fuit loin de moi. Vous n’êtes jamais si divines que quand vous menez à la sagesse et à la vérité par le plaisir. / Mais, si vous ne voulez point adoucir la rigueur de mes travaux, cachez le travail même; faites qu’on soit instruit, et que je n’enseigne pas; que je réfléchisse, et que je paroisse sentir; et lorsque j’annoncerai des choses nouvelles, faites qu’on croie que je ne savois rien, et que vous m’avez tout dit. […] Divines Muses, je sens que vous m’inspirez, non pas ce qu’on chante à Tempé sur les chalumeaux, ou ce qu’on répète à Délos sur la lyre; vous voulez que je parle à la raison; elle est le plus parfait, le plus noble et le plus exquis de nos sens.29 Jungfrauen des Pierischen Berges, vernehmt ihr den Namen, den ich euch gebe? Verleiht mir Inspiration! Ich befinde mich auf einem langen Weg; Traurigkeit und Qualen drücken mich nieder. Gebt meinem Geist jenen Zauber und jene Sanftheit, die ich früher in mir verspürte und die sich weit von mir entfernt haben. Ihr seid niemals göttlicher als dann, wenn ihr zur Weisheit und zur Wahrheit durch das Vergnügen hinführt. / Wenn ihr aber die Härte meiner Anstrengungen nicht mildern wollt, dann verbergt wenigstens die Anstrengung selbst; sorgt dafür, dass man belehrt werde, ohne dass ich lehre; dass ich nachdenke und dass es aber so scheint, als würde ich fühlen; und dass man, wenn ich Neuartiges mitzuteilen habe, glaube, dass ich nichts wusste und dass ihr mir alles gesagt habt. […] Göttliche Musen, ich fühle, dass ihr mir nicht das einhaucht, was man in Tempe auf den Schalmeien spielt oder was man in Delos mit der Leier begleitet; Ihr wollt, dass ich mit der Vernunft spreche; sie ist der vollkommenste, der edelste und der vorzüglichste unserer Sinne.

Frank-Rutger Hausmann hat diesen Musenanruf zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung des Verhältnisses zwischen »sciences« und »belles lettres« bei Montesquieu gemacht und gezeigt, dass der Autor zwar prinzipiell zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Hauptwerkes der Wissenschaft den Vorrang gegenüber der Literatur zusprach, weil jene die Völker von ihren destruktiven Vorurteilen befreie und somit aufklärerische Wirkung habe, während dieser lediglich eine allgemeine Nützlichkeit zukomme. Doch sei, so Hausmann, nachweisbar, dass die Schrift De l’esprit des lois von ihrem Verfasser sowohl als wissenschaftliches wie auch als literarisches Werk konzipiert worden sei, allerdings nicht zu gleichen Teilen.30 Im Verhältnis zur Wissenschaft hat die Literatur mehr dienende Funktion, der literarische Stil soll dem wis29

30

Montesquieu, De l’esprit des lois, in: Œuvres complètes, hg. v. Roger Caillois, Bd. II, Paris 1951, S. 225–1117, hier S. 584f. Der Musenanruf, den Montesquieu – im vollen Bewusstsein seines singulären Charakters – geschrieben hatte, wurde in der Erstausgabe auf Anraten von Jacob Vernet nicht mit abgedruckt (vgl. S. 1514). Frank-Rutger Hausmann, »Montesquieu und die Musen. Zum Verhältnis von ›sciences‹ und ›belles lettres‹ im 18. Jahrhundert«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 26 (1976), S. 427–439.

Exkurs: Das Verhältnis von Fachsprache und Literatursprache

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senschaftlichen Werk jene Annehmlichkeit verleihen, die es dem aus wissenschaftlichen Laien bestehenden Publikum zugänglich macht: »[…] les sciences gagnent beaucoup à être traitées d’une manière ingénieuse et délicate; c’est par là qu’on en ôte la sécheresse, qu’on prévient la lassitude, et qu’on les met à la portée de tous les esprits.«31 [(…) es kommt den Wissenschaften sehr zugute, wenn man sie auf ingeniöse und feinsinnige Art und Weise behandelt; dadurch nimmt man ihnen die Trockenheit, beugt der Müdigkeit vor und macht sie für jedermann erreichbar.] Wurde auf der einen Seite die Literatur in den Dienst der Wissenschaft genommen, mit dem Ziel, das Nützliche auf angenehme Art und Weise zu vermitteln, so stellt man auf der anderen Seite ein Eindringen wissenschaftlicher Fachtermini in die Sprache literarischer Texte fest.32 Dieses Phänomen ist für unsere Fragestellung besonders interessant. Im 17. Jahrhundert hatten die französischen Autoren in einer gemeinsamen Anstrengung im Umfeld des absolutistischen Hofes eine abstrakte, von Alltagsschlacken gereinigte, normierte Sprache geschaffen. Fritz Schalk demonstriert diesen Prozess beispielhaft anhand der Entwicklung des Redestils von Bossuet, in dessen frühen Reden (1649–52) man durchaus zahlreiche ›unliterarische‹, vom bon usage nicht geduldete Wörter, darunter auch Fachtermini, finden kann, während er in seiner ›klassischen‹ Phase (insbesondere nach 1659) darauf weitgehend verzichtet. Was der bon usage nicht duldet, ist unter anderem Folgendes: Tiernamen, alltägliche Wörter (wie »étable«, »boutique«, welche auch aus den Bereichen des Handwerks, der Stände und Berufe und der Wissenschaften stammen können). So heißt es zum Beispiel in einer frühen Lobrede auf Franz von Assisi: »Ces pauvres que vous méprisez tant, Dieu les établit ses trésoriers et ses receveurs généraux, il veut que l’on consigne en leur main tout l’argent qui doit entrer dans ses coffres – il leur permet de lever sur tous ceux qu’il a enrichis un impôt volontaire, non par contrainte, mais par charité.«33 [Diese Armen, die Ihr so sehr verachtet, werden von Gott zu seinen Schatzmeistern und Steuereintreibern ernannt, er will, dass man ihnen all das Geld, das in seine Speicher fließen soll, in die Hand gebe – er erlaubt ihnen, all jenen, die er reich gemacht hat, eine freiwillige Steuer aufzuerlegen, nicht durch Zwang, sondern aus Mitleid.] Der Passus rekurriert auf den Wort-

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Montesquieu, Encouragement, zit. nach Hausmann, »Montesquieu und die Musen«, S. 430. Das Folgende nach: Fritz Schalk, »Wissenschaft der Sprache und Sprache der Wissenschaft im Ancien régime«, in: Studien zur französischen Aufklärung, Frankfurt/M. 21977, S. 115–142. Zit. nach Schalk, »Wissenschaft der Sprache«, S. 129.

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert

schatz der Ökonomie (»trésoriers«, »receveurs généraux«, »argent«, »coffres«, »impôt«) und macht diesen zur Basis einer Allegorie. Im Stil von Bossuets ›klassischer‹ Phase dagegen bemerkt man den strikten Ausschluss der gelehrten, der ›niederen‹ und der technischen Wörter. Merkmale sind Abstraktheit und Vermeidung von konkreten Alltagselementen, wie man an folgendem Beispiel erkennt: »Figurez-vous maintenant le jeune Bernard [de Clairvaux], nourri en homme de condition, qui avait la civilité comme naturelle, l’esprit poli par les bonnes lettres, la rencontre belle et aimable, l’humeur accomodante, les mœurs douces et agréables.«34 [Stellt Euch nun den jungen Bernhard vor, aufgewachsen als Mann von Stand, mit geradezu natürlicher Höflichkeit, einem literarisch gebildeten Geist, schönen und liebenswerten Umgangsformen, freundlicher Stimmung, sanften und angenehmen Sitten.] Diese Sprache entspricht dem bon usage, worunter Vaugelas, einer der wichtigsten Sprachpfleger und -gesetzgeber des 17. Jahrhunderts, Folgendes verstand: »C’est la façon de parler de la plus saine partie de la Cour, conformément à la façon d’escrire de la plus saine partie des Auteurs du temps.«35 [Es ist die Sprechweise des vernünftigsten Teiles der Hofgesellschaft und entspricht der Ausdrucksweise des vernünftigsten Teiles der Autoren unserer Zeit.] Diese Sprache folgt, wie schon erwähnt, der Norm der ›Reinheit‹, der Allgemeinheit, der Zeitenthobenheit und eliminiert daher »alles, was an den Alltag, an die Berufs- und Fachsprache auch nur entfernt erinnert«.36 So verwendet etwa Racine zur Beschreibung von Orten immer nur ganz wenige, allgemeine Termini wie »campagne«, »palais«, »tour«, »temple«, »autel« oder »eaux«, »vaisseaux«, »mer«, »port«. Die starke Tendenz zur Normierung lässt im 17. Jahrhundert nur einen geringen Austausch zwischen Fachsprache und Literatursprache zu, etwa im Fall des medizinischen Diskurses, der einerseits bestimmte Termini in den usage exportiert, andererseits und vor allem jedoch sich dessen Allgemeinheitsnormen unterwirft. So heißt es im Vorwort zu dem Buch Science de la transpiration en médecine statique (Lyon 1695), dass dieses »ne contient rien de dégoûtant à la manière des autres livres de médecine qui étant remplis de termes de l’art rebutent ceux qui n’étant pas médecins en ignorent le sens«37 [nichts Geschmackloses enthält so wie die anderen Medizinbücher, welche, überladen mit Fachbegriffen, jene abschrecken, die, da sie keine Mediziner sind, deren Bedeutung nicht kennen]. 34 35 36 37

Ebd., S. 130. Remarques sur la langue française, zit. nach ebd., S. 117. Ebd., S. 126. Ebd., S. 131.

Exkurs: Das Verhältnis von Fachsprache und Literatursprache

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Während also im 17. Jahrhundert selbst die Autoren medizinischer Fachbücher dem bon usage (und das heißt: der Sprache der Literatur) huldigen und somit dessen Dominanz sichtbar machen, ändert sich die Lage im 18. Jahrhundert. Es dringen nun zunehmend Termini und Ausdrucksweisen aus dem Bereich der Wissenschaft in den allgemeinen Gebrauch und in die Literatur ein. Dies lässt sich als Indiz für eine beginnende Veränderung der Hierarchie zwischen Literatursprache und wissenschaftlichen Fachsprachen deuten. Der Wandel erfasst auch den Bereich der Reflexion über Sprache: »[…] man strebt danach, die ästhetischen Gesichtspunkte, unter denen man bisher im Anschluß an Vaugelas und an den Hof die Sprache betrachtet hatte, durch logische zu ersetzen. […] Die Sprache wird fortan auf ein logisches Ideal bezogen, d. h. auf eine universale, allen Sprachen gemeinsame Logik.«38 Diese ›Verwissenschaftlichung‹ der Sprachbetrachtung – »Grammatik ist die Erklärung von Regeln, die der Widerschein logischer Kategorien sein sollen«39 – hat eine Vereinheitlichung zur Folge: Es gibt nur eine Logik, also kann es auch nur eine richtige Form der Sprache geben, ein normiertes, logisches, sich durch die Kategorie der »clarté« auszeichnendes Französisch. Dem steht jedoch eine andere, ebenfalls mit Wissenschaft zusammenhängende Tendenz entgegen: Im 18. Jahrhundert finden die Fachsprachen in der Literatur eine neue Aufmerksamkeit, zum Beispiel in Diderots Lettre sur les sourds et muets. Die jetzt sich bildende »Rhetorik« trägt das unverkennbare Gepräge eines Versuchs, verschiedene Individualitäten in sich aufzunehmen, Ton und Klang des Stils erscheinen nun unverwechselbar, unübertragbar, eine »Hieroglyph« nach Diderot. Das Schema der traditionellen logischen Analyse wird durch eine solche Reduktion auf die raison affective bald gelockert, bald modifiziert und schließlich bei Diderot und Rousseau gesprengt.40

Grammatik und Rhetorik stehen sich also gewissermaßen arbeitsteilig gegenüber. Während die eine nach allgemeinen logischen Prinzipien in der Sprache forscht, widmet sich die andere als sensualistisch begründete »raison affective« den Besonderheiten der Einzelsprachen und auch der Stile und Fachsprachen. Sowohl auf der Ebene der methodologischen Fundierung der Grammatik als auch auf der Ebene der sensualistischen Sprachbetrachtung also rücken wissenschaftliche Prinzipien beziehungsweise Erscheinungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und fördern dabei unterschiedliche Tendenzen. 38 39 40

Ebd. Ebd., S. 132. Ebd.

58

Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert

Hinzu kommt, dass die seit dem 17. Jahrhundert so hermetisch geschlossenen Grenzen zwischen der Sprache der »belles lettres« und der Sprache der Wissenschaften durchlässig werden, dass also Fachtermini und Neologismen zunehmend in die Literatursprache eindringen. So verwendet etwa Buffon, der als einer der größten Stilisten seiner Zeit galt und als solcher – und nicht etwa als Naturforscher – in die Académie Française aufgenommen wurde, in seiner Histoire naturelle, die in einem glänzenden literarischen Stil verfasst wurde (und deshalb am Ende des Jahrhunderts dem Verdikt mangelnder Wissenschaftlichkeit anheimfiel),41 jeweils den konkreten, fachlich adäquaten und nicht den unbestimmt-allgemeinen Begriff. Generell lässt sich konstatieren: »[…] je weiter die Epoche fortschreitet, desto größere Siege erficht das naturwissenschaftliche Denken und die Sprache neuer Fachwissenschaften wie der Ökonomie, Astronomie, Geologie und Chemie«.42 Wenn im 18. Jahrhundert ein allgemeines Eindringen wissenschaftlichen Denkens und wissenschaftlicher Termini in die Sprache der Öffentlichkeit zu konstatieren ist, so kommt dies nicht von ungefähr. Die Aufklärung steht nämlich dezidiert und programmatisch im Zeichen der Verbreitung des Wissens. Das 17. und das 18. Jahrhundert stehen zueinander in einem Verhältnis der Kontinuität und der Diskontinuität zugleich. Kontinuierlich verhalten sie sich im Hinblick auf die dominante Funktion der »raison«, weshalb man auch vom Zeitalter des Rationalismus spricht. Die Diskontinuität manifestiert sich dagegen im Umgang mit dem durch rationale Betrachtung erworbenen Wissen. Während die großen Autoren des 17. Jahrhunderts (etwa Descartes oder Leibniz) ihr Wissen vornehmlich unter ihresgleichen publik machten und daher teilweise noch auf Lateinisch schrieben, wollen ihre Nachfolger im 18. Jahrhundert (Montesquieu, Voltaire, Diderot, Rousseau) das Wissen allgemein verfügbar machen. Dieser Unterschied ist auch am Bedeutungswandel des Wortes »philosophe« ablesbar. Bezeichnete man als Philosophen im 17. Jahrhundert vor allem »le savant et le créateur de systèmes«, »le sage retiré du monde« und auch »le libertin détaché des préjugés religieux et sociaux«, so bezeichnet der Begriff im 18. Jahrhundert jemanden, der sein Wissen zum allgemeinen Nutzen publik macht, also das genaue Gegenteil von »le sage retiré du monde«.43 Dementsprechend häufig ist auch die Verwendung des Begriffes in Buchtiteln (Lettres philosophiques, Dictionnaire philo41

42 43

Vgl. Wolf Lepenies, »Der Krieg der Wissenschaften und der Literatur«, in: Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1989, S. 61–79. Schalk, »Wissenschaft der Sprache«, S. 134. Jean-Pierre de Beaumarchais/Daniel Couty/Alain Rey (Hg.), Dictionnaire des littératures de langue française, 4 Bde, Paris 1994, s. v. »Philosophes«.

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sophique, Pensées philosophiques, La philosophie dans le boudoir) und sogar als Gattungsbegriff (conte beziehungsweise roman philosophique). Nicht allein die zunehmende Spezialisierung des Wissens und die Ausdifferenzierung von Spezialdisziplinen ist also verantwortlich für das Eindringen von fachwissenschaftlichen Diskurselementen in die Sprache der Öffentlichkeit (im Sinne einer expansiven Diskurshegemonie), sondern auch die erklärte Bereitschaft der Aufklärer, solche Diskurselemente in ihre Sprache aufzunehmen, um das Spezialwissen zu verbreiten und es zum Allgemeinwissen zu machen. Es handelt sich also um eine Interferenz beziehungsweise Wechselwirkung. Im Folgenden soll die aus dieser Wechselwirkung resultierende Begegnung von Literatur und Wissenschaft (beziehungsweise Philosophie) anhand zweier zentraler Autoren des französischen 18. Jahrhunderts beispielhaft etwas genauer untersucht werden: Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot.

2.4 Jean-Jacques Rousseau: Anthropologie und Fiktion Rousseau (1712–1778) erregte 1751 Aufsehen durch seinen Discours sur les sciences et les arts, mit dem er ein Jahr zuvor den ersten Preis eines von der Académie de Dijon ausgeschriebenen Wettbewerbs gewonnen hatte. Die Preisfrage lautete: »Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs« [Ob die Wiedereinrichtung der Wissenschaften und der Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu reinigen]. In seiner Autobiographie erinnert Rousseau sich an die Situation, in der die Idee zu diesem Werk entstand (Confessions, VIII. Buch). Sein Freund Diderot verbüßte 1749 wegen religionskritischer Äußerungen in seiner Lettre sur les aveugles eine Haftstrafe in Vincennes. Rousseau besucht ihn regelmäßig, indem er die zwei Meilen von Paris nach Vincennes zu Fuß zurücklegt. Um sich in der glühenden Sonnenhitze nicht zu überanstrengen, nimmt er sich Bücher mit, die ihn zwingen, langsamer zu gehen. Eines Tages liest er im Mercure de France die von der Académie de Dijon gestellte Preisfrage. »A l’instant de cette lecture je vis un autre univers et je devins un autre homme.«44 [In dem Augenblick, in dem ich das las, erblickte ich ein anderes Universum und wurde zu einem anderen Menschen.] Als er bei Diderot ankommt, befindet er sich »dans une agitation qui tenoit du délire«45 [in einer Erregung, die etwas von einem Delirium 44

45

Jean-Jacques Rousseau, Les confessions, in: Œuvres complètes, hg. v. Bernard Gagnebin/Marcel Raymond, 5 Bde, Paris 1959–1995, Bd. I, S. 1–656, hier S. 351. Ebd.

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hatte]. Diderot ermuntert ihn, am Wettbewerb teilzunehmen. »Je le fis, et dès cet instant je fus perdu. Tout le reste de ma vie et de mes malheurs fut l’effet inévitable de cet instant d’égarement.«46 [Ich tat es und war von dem Moment an verloren. Der gesamte Rest meines Lebens und meines Unglücks war die unvermeidliche Folge dieser momentanen Verwirrung.] Die Bedeutung dieses Augenblicks für Rousseaus eigenes Leben wird im Rückblick sicherlich in einer für die Confessions typischen Art und Weise überhöht. Dennoch liegt in der Darstellung aus ideengeschichtlicher Sicht etwas Wahres. Denn Rousseaus negative Antwort auf die Preisfrage wirkt wie ein Paukenschlag in der république des lettres. Damit nimmt der aus Genf stammende Außenseiter ganz bewusst eine Gegenposition zur herrschenden Meinung des Jahrhunderts der Aufklärung und des Glaubens an den Fortschritt ein. Er stellt eine »dépravation réelle« der gegenwärtigen Gesellschaft fest und behauptet eine Korrelation zwischen moralischem Niedergang und Aufstieg von Künsten und Wissenschaften: »[…] nos ames se sont corrompuës a mesure que nos Sciences et nos Arts se sont avancés à la perfection.«47 [(…) unsere Seelen sind in dem Maße verdorben worden, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste sich zur Perfektion hin entwickelt haben.] Ursprünglich seien die Menschen unwissend und glücklich gewesen. Ihre Verhaltensweisen seien transparente Zeichen ihres Inneren gewesen. Im Zuge des zivilisatorischen Fortschritts aber habe die Kunst der Verstellung die Menschen allenthalben ergriffen: »[…] sans cesse la politesse exige, la bienséance ordonne: sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie. On n’ose plus paroître ce qu’on est […]«48 [(…) ständig stellt die Höflichkeit ihre Forderungen, gibt die Schicklichkeit ihre Befehle: ständig folgt man den Gepflogenheiten, niemals seinem eigenen Wesen. Man wagt nicht mehr als das zu erscheinen, was man ist (…)]. Die Menschheitsgeschichte ist für Rousseau eine Geschichte des Niedergangs. Eigentlich sei der Mensch nicht für das Wissen gemacht: Peuples, sachez donc une fois que la nature a voulu vous préserver de la science, comme une mere arrache une arme dangereuse des mains de son enfant; que tous les secrets qu’elle vous cache sont autant de maux dont elle vous garantit, et que la peine que vous trouvez à vous instruire n’est pas le moindre de ses bienfaits. Les hommes sont pervers; ils seroient pires encore, s’ils avoient eu le malheur de naître savans.49 46 47

48 49

Ebd. Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, in: Œuvres complètes, Bd. III, S. 1–107, hier S. 9. Ebd., S. 8. Ebd., S. 15.

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Wisset doch, ihr Völker, dass die Natur euch vor der Wissenschaft beschützen wollte, so wie eine Mutter ihrem Kind eine gefährliche Waffe aus der Hand reißt; dass all die Geheimnisse, die sie vor euch verborgen hält, lauter Übel sind, vor denen sie euch beschützt, und dass die Schwierigkeit, die es euch bereitet, euch zu bilden, nicht die geringste ihrer Wohltaten ist. Die Menschen sind pervertiert; es stünde noch schlimmer um sie, wenn sie das Unglück gehabt hätten, gelehrt auf die Welt zu kommen.

Die menschliche Neugier aber habe fatalerweise den Schleier der Unwissenheit zerrissen, was nichts als Unglück über den Menschen gebracht habe. Als Allegorie dieses perniziösen Vorgangs dient Rousseau der Mythos von Prometheus: Er, der Erfinder der Wissenschaften, der den Göttern das Feuer geraubt habe, sei ein der Ruhe des Menschengeschlechts feindlich gesonnener Gott gewesen. Alle Wissenschaften hätten ihren Ursprung in menschlichen Lastern: die Astronomie im Aberglauben, die Beredsamkeit im Ehrgeiz, die Geometrie im Geiz, die Physik in eitler Neugier, ja selbst die Morallehre verdanke sich dem menschlichen Stolz. Was aber dem Laster entspringe, könne nichts zur Veredelung des Menschengeschlechts beitragen, im Gegenteil. Diese pessimistische Sicht auf die Gegenwart, ja auf die gesamte Menschheitsgeschichte, steht – zumindest dem ersten Anschein nach – quer zum Optimismus der Aufklärer, zum Glauben an die Perfektibilität des Menschen durch Künste und Wissenschaften. Die Rousseau’sche Verfallsgeschichte, die der aus der Bibel vertrauten Logik des Sündenfalls folgt, wird freilich im ersten Discours nur skizziert, sie verdankt sich einer Intuition, für die Rousseau aus Platzmangel nicht ausreichend Belege erbringen kann. In dem 1755 veröffentlichten zweiten Discours bringt Rousseau seine Intuition in eine systematischere Form. Der Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes – der ebenfalls auf eine Preisfrage der Académie de Dijon antwortet, ohne allerdings dann ausgezeichnet zu werden – lässt sich als Programmschrift des Rousseau’schen Denksystems lesen. Gewidmet ist der Discours des Genfer Bürgers seiner Vaterstadt, die er in der Widmungsschrift als Idealform des Staatswesens preist. Auffällig an dieser Widmung ist ihre hypothetische Struktur. Wenn ich den Ort meiner Geburt selbst hätte auswählen dürfen, so sagt Rousseau, dann hätte ich ihn so gewählt, dass er folgende Merkmale aufwiese – und es folgt eine Reihe von positiven Eigenschaften, die alle auf Genf zutreffen: überschaubare Größe, demokratische Strukturen, für alle gültiges Rechtssystem, Altehrwürdigkeit der Institutionen, politisch sichere Lage, Partizipation des gesamten Volkes an der Gesetzgebung, väterlich-umsichtige Lenkung durch den Magistrat, geographisch und klimatisch bevorzugte Lage, fruchtbare Äcker. Dann aber heißt es

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ebenso hypothetisch, dass Rousseau sich, hätte er diese ideale Heimat verloren, ein Leben lang nach ihr zurückgesehnt und sich mit einer Rede an seine brüderlich geliebten Mitbürger gerichtet hätte. Im zweiten Teil der Widmung wird diese hypothetische Rede an die Genfer Mitbürger abgedruckt, die das Lob des ersten Teils wiederholt, aber auch gewissen als gute Wünsche verkleideten Warnungen Ausdruck verleiht. Der hypothetische Sprechmodus und die scheinbar spielerische Verdoppelung der Lobrede sind Zeichen der Selbstreflexivität und der Abgründigkeit von Rousseaus Argumentation.50 Diese Abgründigkeit wird deutlich in der Aussage, dass niemand mehr als er den Wert der Genfer politischen Institutionen zu erkennen imstande sei, denn er habe sie ja verloren, weil er im Exil lebe. Sein Blick auf Genf ist der des Außenseiters und Nostalgikers, des aus dem Paradies Vertriebenen. Es mag in den Ohren der angesprochenen Genfer »MAGNIFIQUES, TRÈS HONORÉS, ET SOUVERAINS SEIGNEURS « wie eine Verspottung oder doch zumindest wie eine Anmaßung geklungen haben, mit welcher beinahe demütigen Lobhudelei der im Ausland lebende Sohn eines einfachen Handwerkers sich da in aller Öffentlichkeit an sie zu wenden getraut, und das, ganz gegen alle Gepflogenheiten, ohne vorher nachgefragt zu haben, ob die Widmung überhaupt genehm sei. Zudem wird die unerbetene Lobrede durch die hypothetische Struktur sozusagen doppelt in Anführungsstriche gesetzt und damit auf Distanz geschoben, vielleicht sogar ironisch relativiert. Das Ideal jedenfalls existiert für Rousseau nur als verlorenes. Hypothese und Verlust: Dies gibt der weiteren Argumentation die Richtung vor. Denn Rousseau unternimmt es in ingeniöser Weise in seinem zweiten Discours, den verlorenen menschlichen Urzustand hypothetisch zu rekonstruieren. Dies erscheint ihm erforderlich, um die gestellte Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit und ihrer Vereinbarkeit mit dem Naturrecht zu beantworten: »Quelle est l’origine de l’inégalité parmi les hommes, et si elle est autorisée par la Loy naturelle«.51 [Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist diese mit dem Naturgesetz vereinbar?] Es gilt, in der gegenwärtigen Natur des Menschen das Ursprüngliche vom Künstlichen zu unterscheiden (»démêler ce qu’il y a d’originaire et d’artificiel dans 50

51

Diese Abgründigkeit und Widersprüchlichkeit wurde insbesondere von Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle (1957), erweiterte Neuausgabe: Paris 1971, von Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, und von Paul de Man, Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven 1979, untersucht. Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, in: Œuvres complètes, Bd. III, S. 109–236, hier S. 129.

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la Nature actuelle de l’homme«)52 und dadurch die ursprüngliche Natur des Menschen zu erschließen. Diese ist ein gedankliches Konstrukt, das als Maßstab zur Beurteilung des gegenwärtigen Zustandes dient. Rousseau erhebt nicht den Anspruch, eine historische Realität zu beschreiben (der Urzustand sei ein »Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais« [Zustand, der nicht mehr existiert, der vielleicht niemals existiert hat, der wahrscheinlich auch niemals existieren wird]).53 Dennoch scheint ihm so etwas wie eine ideelle Realität zuzukommen, die Realität eines gedanklichen Entwurfs, der unter dem Zeichen des Verlustes steht. Wenn Rousseau sich also daran macht, eine »histoire hypothétique«54 des Menschen zu schreiben, dann muss er das gesicherte Wissen über den Menschen hinter sich lassen, welches die »livres scientifiques«55 enthalten. Er muss sich vom Bereich des faktisch Gesicherten (Wissenschaft, Geschichtsschreibung) in den Bereich dessen begeben, was möglich erscheint. Anders gesagt: Er verbindet hier wissenschaftlich-systematische Rede und narrativfiktionale Rede dergestalt, dass letztere die Argumentationslücken der ersteren zu füllen vermag.56 Wie sieht nun Rousseaus hypothetische Geschichte des Menschengeschlechts aus? Es gibt zwei verschiedene Naturen des Menschen: die ursprüngliche und die historisch gewordene. Die Natur des Menschen ist der Zeitlichkeit, der Veränderung unterworfen. An die Frage nach der ursprünglichen menschlichen Natur ist die Frage nach dem Recht, insbesondere dem Naturrecht geknüpft. Rousseau folgt hier dem Genfer Rechtsgelehrten und Philosophen Jean-Jacques Burlamaqui (1694–1748). Was ist das der ursprünglichen menschlichen Natur entsprechende Naturrecht? Darüber besteht Dissens in der philosophischen Literatur von der Antike bis zur 52 53 54 55 56

Ebd., S. 123. Ebd. Ebd., S. 127. Ebd., S. 125. Karlheinz Stierle, »Ursprung und Supplement in Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes«, in: Roland Galle/Helmut Pfeiffer (Hg.), Aufklärung, München 2007, S. 171–198, erklärt den Übergang »vom systematischen zum narrativen Diskurs« (S. 175) aus der Notwendigkeit, die axiologische Opposition zwischen »état naturel« und »état civil« auf die Zeitachse zu projizieren und die »unendliche qualitative Differenz« zwischen den beiden Oppositionstermen durch eine »unendliche zeitliche Differenz« abzubilden. »Gerade weil die beiden Terme der konzeptuellen Opposition logisch nicht zu vermitteln sind, bedarf es des Diskurswechsels vom systematischen zum narrativen Diskurs, um das Unmögliche in die Reichweite des Denkbaren zu rücken und die metaphysische Differenz zu überbrücken.« (Ebd.)

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Gegenwart. Um der Sache auf den Grund zu gehen, muss der Urzustand des Menschen erkannt werden: »Mais tant que nous ne connoîtrons point l’homme naturel, c’est en vain que nous voudrons déterminer la Loi qu’il a reçue ou celle qui convient le mieux à sa constitution.«57 [Aber solange wir nicht den Naturmenschen kennen, werden wir vergeblich versuchen, das Gesetz zu bestimmen, das ihm gegeben wurde, oder dasjenige, welches seiner Beschaffenheit am meisten entspricht.] Die Rousseau’sche Argumentation hat mithin ein doppeltes Ziel: Zum einen will sie den gegenwärtigen Zustand des Menschen in seiner Differenz zum Urzustand beschreiben und herleiten (historiographisches Ziel). Dabei muss sie sich einer hypothetischen (und somit imaginativ-poetischen) Rekonstruktion bedienen. Zum anderen will Rousseau die Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen Zustandes durch der Natur des Menschen angemessene Gesetze so gut wie möglich reparieren (moralisch-normatives Ziel). Obwohl Rousseau gegenüber den Philosophen, insbesondere gegenüber Voltaire, die Rolle des »champion de Dieu« spielte (zum ersten Mal in der Lettre à Voltaire), obwohl er also gläubig war, versucht er doch, im zweiten Discours eine theologische Argumentation zu vermeiden. Der sich selbst überlassene Mensch im Schoße der Natur hat zwei grundlegende Eigenschaften: Selbsterhaltung und Mitleid. Rousseau spricht von »deux principes antérieurs à la raison, dont l’un nous intéresse ardemment à notre bien-être et à la conservation de nous mêmes, et l’autre nous inspire une répugnance naturelle à voir perir ou souffrir tout être sensible et principalement nos semblables«58 [zwei der Vernunft vorausliegenden Prinzipien, deren eines dafür verantwortlich ist, dass wir mit brennender Sorge auf unser Wohlergehen und auf unsere Selbsterhaltung achten, und deren zweites uns eine natürliche Abscheu vor dem Untergang oder dem Leiden jedes empfindungsfähigen Wesens und insbesondere von unseresgleichen eingibt]. Von diesen beiden Grundprinzipien menschlichen Verhaltens glaubt Rousseau alle Regeln des Naturrechts ableiten zu können, »régles que la raison est ensuite forcée de rétablir sur d’autres fondemens, quand par ses développemens successifs elle est venue à bout d’étouffer la Nature«59 [Regeln, welche die Vernunft sodann gezwungen ist, auf andere Grundlagen zu stellen, wenn sie im Zuge ihrer Entwicklung soweit gekommen ist, die Natur zu ersticken]. Wie stellt Rousseau sich den Menschen im Naturzustand vor? Er ist physisch robust, benützt keine Geräte oder Waffen, kann seine natürlichen 57 58 59

Bd. III, S. 125. Ebd., S. 126. Ebd.

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Bedürfnisse mithilfe natürlicher Ressourcen befriedigen, sein Handeln ist instinktgesteuert, das heißt genauer: Durch Beobachtung eignet er, der Instinktlose, sich alle für ihn nützlichen Instinkte der Tiere an und sichert sich dadurch sein Überleben leichter als alle anderen Tiere, obwohl er ihnen häufig physisch unterlegen ist. Der Mensch lebt im vorgesellschaftlichen Zustand allein, nicht in Gruppen. Er hat keine passions, also keine Bedürfnisse, die nicht durch ihre Befriedigung sofort abklingen würden – auch der Sexualtrieb ist ein rein physisches Bedürfnis, das nach seiner Befriedigung erlischt. Er bedient sich nicht der schädlichen Reflexion, die über die unmittelbare Gegenwart hinausführt, das heißt, er kennt weder Vergangenheit noch Zukunft und ist sich daher stets selbst voll präsent. Der Mensch im Urzustand ist autonom, sein Wesensmerkmal ist – im Unterschied zu den Tieren – die Freiheit. Da dies für alle Menschen gilt, die ja getrennt voneinander leben, sind sie auch alle gleich. Da der Mensch sich der Reflexion und der Imagination nicht bedient, ja da er, der allein lebt, nicht einmal über Sprache verfügt, kann er sich nichts Negatives vorstellen, sodass er nur Angst vor Hunger oder physischem Schmerz, nicht aber vor dem Tod oder sonstigen nicht unmittelbar gegenwärtigen Phänomenen hat. Das bedeutet, dass, wenn seine physischen Bedürfnisse gestillt sind, der Mensch sich im Zustand vollkommenen Glücks befindet. Neben der Freiheit gibt es aber noch ein zweites Merkmal, das den Menschen von den Tieren unterscheidet: seine Perfektibilität. Diese Eigenschaft ist, wie Rousseau noch vor der weiteren Beweisführung in Form einer Hypothese andeutet, der Keim des menschlichen Übels: Il seroit triste pour nous d’être forcés de convenir, que cette faculté distinctive, et presque illimitée, est la source de tous les malheurs de l’homme; que c’est elle qui le tire, à force de tems, de cette condition originaire, dans laquelle il coulerait des jours tranquilles, et innocens; que c’est elle, qui faisant éclore avec les siécles ses lumiéres et ses erreurs, ses vices et ses vertus, le rend à la longue le tiran de luimême, et de la Nature.60 Es wäre betrüblich für uns, wenn wir gezwungen wären zuzugeben, dass diese ihn auszeichnende Fähigkeit, die beinahe grenzenlos ist, die Quelle aller Übel des Menschen ist; dass sie es ist, welche ihn im Laufe der Zeit aus seinem ursprünglichen Zustand, in dem er ruhig und unschuldig seine Tage verbringen würde, heraustreten lässt; dass sie es ist, welche, indem sie im Laufe der Jahrhunderte sein Wissen und seine Irrtümer, seine Laster und seine Tugenden aufblühen lässt, ihn auf lange Sicht zum Tyrannen seiner selbst und der Natur werden lässt.

Da der Urmensch frei von Bedürfnissen ist, die über ihre unmittelbare und jederzeit mögliche Befriedigung hinausweisen, also keine Neugierde und kei60

Ebd., S. 142.

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nen Wunsch nach Veränderung besitzt, ist der Urzustand frei von Wandel und könnte bis heute fortdauern, wenn nicht gewisse den Naturzustand zerstörende Veränderungen eingetreten wären.61 Diese Veränderungen, über die im Folgenden zu sprechen sein wird, betreffen die Entstehung der menschlichen Gesellschaft, deren Mitglieder voneinander abhängig sind und dadurch ungleich werden: es gibt Herren und Sklaven. Wesentliches, die Ungleichheit zementierendes Merkmal der Gesellschaft ist das Eigentum: Ackerbau und Landbesitz, mithin also das, was wir als die Grundlage unserer Kultur betrachten können. Die Mitglieder der Gesellschaft bedienen sich der Sprache und der Reflexion, das heißt, sie entwickeln positive, vor allem aber negative Eigenschaften. Während der Urmensch moralisch indifferent handelte, da er Gut und Böse nicht kannte,62 entwickelt der in Gesellschaft lebende Mensch durch Sprache und Reflexion ein Wissen um Gut und Böse. Die beiden grundlegenden Eigenschaften des ursprünglichen Menschen, Selbsterhaltung und Mitleid, waren moralisch indifferent und hielten sich die Waage. Die erste Eigenschaft degeneriert im Zustand der Vergesellschaftung zu dem schädlichen, schon von den Moralisten des 17. Jahrhunderts als universeller Handlungsantrieb gebrandmarkten amour-propre. Dieser kann nun nur durch das zu einer positiven Kardinaltugend weiterentwickelte natürliche Mitleid in Schach gehalten werden: En effet, qu’est-ce que la générosité, la Clemence, l’Humanité, sinon la Pitié appliquée aux foibles, aux coupables, ou à l’espéce humaine en général? La Bienveillance et l’amitié même sont, à le bien prendre, des productions d’une pitié constante, fixée sur un objet particulier: car désirer que quelqu’un ne souffre point, qu’est-ce autre chose, que désirer qu’il soit heureux?63 Denn was sind Großzügigkeit, Milde, Menschlichkeit anderes als Mitleid, das man auf die Schwachen, die Schuldigen oder das Menschengeschlecht im Allgemeinen richtet? Das Wohlwollen und die Freundschaft selbst sind, genau genommen, Produkte eines konstanten Mitleids, das auf einen besonderen Gegenstand gerichtet wird: Denn wenn man wünscht, dass jemand nicht leide, was ist das anderes, als dass man wünscht, er möge glücklich sein?

Die dialektische Basisopposition Selbsterhaltungstrieb vs. Mitleid bleibt auch im Zustand nach dem Sündenfall erhalten. Was im Naturzustand moralisch indifferent war, ist nun dissoziiert in Gut und Böse. Zwar überwiegt insgesamt im Zustand der Ungleichheit das Böse, was aber nicht bedeutet, dass der Mensch nun ein für allemal moralisch erledigt wäre. Selbst im gegenwär61 62 63

Vgl. die diesbezügliche Zusammenfassung ebd., S. 159f. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155.

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tigen Zustand der Verderbtheit empfinden Menschen noch die Regung von Mitleid, insbesondere wenn das Leid auf dem Theater dargestellt wird. Das angeborene Mitleid ist jenes Element, welches entscheidend zur Arterhaltung beiträgt. Aus ihm resultiert die Verhaltensmaxime: »Fais ton bien avec le moindre mal d’autrui qu’il est possible.«64 [Strebe nach eigenem Wohlergehen und verursache dabei anderen so wenig Schaden wie möglich], die dafür sorgt, dass die Menschen sich – im Gegensatz zu der bekannten These von Thomas Hobbes – nicht im bellum omnium contra omnes gegenseitig zerstören. (Dass Rousseau, der an anderer Stelle das Theater streng verurteilt, hier dessen positive Qualität hervorhebt, ist übrigens typisch für sein die Aporien keineswegs scheuendes Denken.)65 Aus dem ursprünglichen Zustand der Gleichheit werden die Menschen durch Zufälle gerissen.66 Solche Zufälle sind historisch nicht belegt, sodass Rousseau auch hier auf Hypothesen angewiesen ist, wie zum Beispiel das Auftreten von Hindernissen und Schwierigkeiten der natürlichen Umgebung, bei der Nahrungsmittelbeschaffung usw. Die Menschen müssen sich spezialisieren, die einen werden Fischer, die anderen Jäger und Krieger. Sie müssen sich verbünden und sich zusammenschließen. Dadurch nehmen sie Verhältnisse und Unterschiede wahr, sie erkennen die eigene Überlegenheit gegenüber den Tieren, entwickeln Gefühle von Stolz und beginnen sich als Individuen wahrzunehmen. Der Umgang mit ihresgleichen gehorcht dem Kalkül. Die Gesellschaft entsteht allmählich aus dem Bewusstsein wechselseitiger Verpflichtungen, der Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache zu sprechen, und durch die Herausbildung von Familie und Eigentum. Die Erfindung des Eigentums markiert, wie schon oben erwähnt, den Ursprung der Zivilisation und zugleich der damit verbundenen Übel: Le premier qui ayant enclos un terrain, s’avisa de dire, ceci est à moi, et trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de miséres et d’horreurs, n’eût point épargnés au Genre-humain celui qui arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses semblables. Gardez-vous d’écouter cet imposteur; Vous êtes perdus, si vous oubliez que les fruits sont à tous, et que la Terre n’est à personne […]67

64 65

66 67

Ebd., S. 156. Zur Kritik am Theater vgl. insbesondere die Lettre à d’Alembert sur les spectacles (1758), Bd. V, S. 1–125. Die grundsätzliche Widersprüchlichkeit seiner eigenen Position als Kritiker von Literatur und Theater und als Autor von Theaterstücken reflektiert Rousseau in der Préface de Narcisse (1753), Bd. II, S. 959–974. Bd. III, S. 162. Ebd., S. 164.

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert Der erste, der, nachdem er ein Grundstück umzäunt hatte, darauf kam zu sagen, dies hier ist mein, und Leute fand, die naiv genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der Gesellschaft. Welche Verbrechen, Kriege, Morde, welches Elend und welche Schrecklichkeiten hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pflöcke wieder herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen hätte: Hört nicht auf diesen Hochstapler; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem […]

Zivilisatorischer Fortschritt bedeutet Erleichterung des Lebens (»commodités«),68 die aber bald in Notwendigkeit umschlägt und den Menschen in zunehmende Abhängigkeit treibt. Trotz dieser ersten Verfallserscheinungen aber tritt die Menschheit nun paradoxerweise in ihre »époque la plus heureuse, et la plus durable«69 [glücklichste und dauerhafteste Phase] ein. In einem für Rousseau typischen Denkgestus überbietet er das zuvor Gesagte und behauptet, dass nun, nach dem ersten Sündenfall, die eigentliche Jugend des Menschengeschlechts beginne, die nur durch »quelque funeste hazard«70 habe beendet werden können.71 Auch in der Gesellschaft habe der Mensch eigentlich noch glücklich, weil autonom leben können, erst als die Abhängigkeit von den anderen und das Hortungs- und Gewinnstreben, der Wunsch nach Eigentumsanhäufung, entstanden seien, war es mit dem Glück vorbei. Arbeit (Schmiedekunst und Ackerbau), Versklavung, Elend waren nun an der Tagesordnung. Aus Arbeit entstehen Besitzansprüche, diese machen Recht und Gesetz erforderlich. Das aus Arbeit und Besitz abgeleitete Recht aber ist kein Naturrecht. In diesem neuen Zustand verstärken sich angeborene und gesellschaftliche Ungleichheit gegenseitig. Jetzt, da amour-propre und Vernunft herrschen, ist der Schein wichtiger als das Sein: »Etre et paroître devinrent deux choses tout à fait différentes, et de cette distinction sortirent le faste important, la ruse trompeuse, et tous les vices qui en sont le cortége.«72 [Sein und Schein wurden zwei völlig verschiedene Dinge, und aus dieser Unterscheidung entstanden die pompöse Prunkentfaltung, die täuschende List und all die anderen Laster, die damit einhergehen.] Die zerstörte Gleichheit führt zu Unordnung: Die Reichen bereichern sich, die 68 69 70 71

72

Ebd., S. 168. Ebd., S. 171. Ebd. Der Setzung eines nicht-ursprünglichen Ursprungs sind wir bereits bei Vico begegnet. Zur komplexen und umstrittenen Frage nach dem Zusammenhang von Rousseaus Sprachtheorie mit derjenigen Vicos vgl. Raymund Wilhelm, Die Sprache der Affekte. Jean-Jacques Rousseau und das Sprachdenken des »siècle des Lumières«, Tübingen 2001, S. 163–220. Bd. III, S. 174.

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Armen werden zu Verbrechern, das natürliche Mitleid wird durch die »passions effrénées«73 zum Schweigen gebracht. Es herrscht permanenter Bürgerkrieg. Dieser wird schließlich durch die Erkenntnis eines in seinem Wohlstand gefährdeten Reichen beendet: […] seul contre tous, et ne pouvant à cause des jalousies mutuelles s’unir avec ses égaux contre des ennemis unis par l’espoir commun du pillage, le riche pressé par la nécessité, conçut enfin le projet le plus réfléchi qui soit jamais entré dans l’esprit humain; ce fut d’employer en sa faveur les forces même de ceux qui l’attaquoient, de faire ses défenseurs de ses adversaires, de leur inspirer d’autres maximes, et de leur donner d’autres institutions qui lui fussent aussi favorables que le Droit naturel lui étoit contraire.74 […] allein gegen alle stehend und in der durch die gegenseitige Eifersucht bedingten Unmöglichkeit, sich mit seinesgleichen gegen die durch die gemeinsame Hoffnung auf Plünderungen verbundenen Feinde zusammenzutun, entwickelte der Reiche unter dem Druck der Notwendigkeit schließlich den raffiniertesten Plan, den sich jemals ein menschlicher Geist ausgedacht hat, nämlich den, dass er zu seinen Gunsten die Kräfte derjenigen ausnützte, die ihn angriffen, dass er aus seinen Gegnern seine Verteidiger machte, dass er ihnen andere Grundsätze nahelegte, dass er ihnen andere Institutionen gab, die ihm ebensosehr zugute kamen, wie das Naturrecht für ihn ungünstig war.

Die hiermit beschlossene Einrichtung politischer Institutionen und Gesetze aber schreibt Rousseau zufolge dauerhaft den Zustand der Ungleichheit fest, legalisiert im Nachhinein die widerrechtliche Anhäufung von Privateigentum und unterwirft das Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend. Abschließend diskutiert Rousseau Probleme des Vertragscharakters, den die Gesellschaft besitzt. Dieser Teil des Discours weist auf den zugleich mit der Nouvelle Héloïse und dem Émile entstandenen Contrat social voraus. Was hier nur angedeutet wird, führt Rousseau in dem späteren Text systematisch aus. Die Quintessenz seiner Argumentation am Ende des zweiten Discours lautet, dass die Menschen sich keineswegs freiwillig in die bedingungslose Abhängigkeit von einem mit absoluter Macht ausgestatteten Herrscher begeben haben: »Il est donc incontestable, et c’est la maxime fondamentale de tout le Droit Politique, que les Peuples se sont donné des Chefs pour défendre leur liberté et non pour les asservir.«75 [Es kann also nicht bezweifelt werden, und dabei handelt es sich um die Grundmaxime des gesamten politischen Rechts, dass die Völker sich Herrscher gegeben haben, auf dass diese 73 74 75

Ebd., S. 176. Ebd., S. 177. Ebd., S. 181.

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ihre Freiheit verteidigen sollten, anstatt sie zu versklaven.] Auch die Entwicklung der Staats- und Regierungsformen gehorcht dem Gesetz des Verfalls und vollzieht sich in drei Etappen: (1) Gesetz und Eigentumsrecht, (2) Regierung, (3) Ersetzung der legitimen durch eine Willkürherrschaft; diesen Etappen korrespondieren die Gegensätze reich vs. arm, mächtig vs. ohnmächtig und schließlich Herr vs. Knecht. Die Gesellschaft zeichnet sich aus durch eine fatale »fureur de se distinguer«,76 die die Menschen der vollständigen Heteronomie preisgibt. Der bis dahin völlig unbekannte Rousseau wurde durch die Publikation seines ersten Discours 1751 schlagartig berühmt. Sein Freund Diderot, der für die Veröffentlichung des preisgekrönten Werks gesorgt hatte, schrieb an Rousseau: »[…] il n’y a pas d’exemple d’un succés pareil«.77 [(…) ein solcher Erfolg ist beispiellos.] Die aufsehenerregenden kulturpessimistischen Thesen des Außenseiters, die er dann, wie dargestellt wurde, im zweiten Discours weiter entfaltete und begründete, führten zu lebhaften, zum Teil polemischen Diskussionen, an denen Rousseau sich zu seiner Verteidigung selbst mehrfach beteiligte. In diesen Paratexten zeigt sich die fundamentale, letztlich nicht auflösbare Widersprüchlichkeit seines Denkens. So stellt er in seiner Antwort auf die vom polnischen König Stanislaus geübte Kritik die Frage: Mais comment se peut-il faire, que les Sciences dont la source est si pure et la fin si loüable, engendrent tant d’impiétés, tant d’hérésies, tant d’erreurs, tant de systêmes absurdes, tant de contrariétés, tant d’inepties, tant de Satyres ameres, tant de misérables Romans, tant de Vers licentieux, tant de Livres obscènes; et dans ceux qui les cultivent, tant d’orgueil, tant d’avarice, tant de malignité, tant de cabales, tant de jalousies, tant de mensonges, tant de noirceurs, tant de calomnies, tant de lâches et honteuses flatteries?78 Aber wie ist es möglich, dass die Wissenschaften, deren Quelle so rein und deren Zweck so lobenswert ist, so viele Ruchlosigkeiten hervorbringen, so viele Gotteslästerungen, so viele Irrtümer, so viele absurde Systeme, so viel Ärger, so viel Unsinn, so viele bittere Satiren, so viele elende Romane, so viele freizügige Verse, so viele obszöne Bücher; und in denjenigen, die sich ihnen widmen, so viel Stolz, so viel Geiz, so viel Bösartigkeit, so viele Intrigen, so viele Eifersüchteleien, so viele Lügen, so viele Schäbigkeiten, so viele Verleumdungen, so viele feige und schändliche Schmeicheleien?

Im Kern dieser Frage steckt klar erkennbar eine Aporie: Eine Sache, in diesem Fall die Wissenschaften, ist einerseits rein, edel und gut, andererseits 76 77 78

Ebd., S. 189. Bd. I, S. 363. Bd. III, S. 36.

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aber zieht sie die negativsten Wirkungen nach sich. Wie kann man sich also angesichts dieser Widersprüchlichkeit verhalten? Kann man hierzu überhaupt eine kohärente Position einnehmen? Rousseau gibt im Grunde zwei verschiedene Antworten. Einmal sagt er, dass die Wissenschaften (und im weiteren Sinne die Kultur) zwar an sich gut seien, weil der Erwerb von Wissen den Menschen am Göttlichen partizipieren lasse, dass aber der Mensch aufgrund seiner schädlichen Passionen nicht in der Lage sei, sich der Wissenschaften angemessen und zum allgemeinen Wohl zu bedienen. Daher wäre es besser gewesen, wenn die Menschen sich insgesamt weniger auf die Pflege der Wissenschaften verlegt hätten (»il eut été à désirer que les hommes s’y fussent livrés avec moins d’ardeur«).79 Im Klartext: Der Verbleib im Naturzustand wäre besser gewesen. Die berühmte Formel vom »retour à la nature«, die man landläufig mit Rousseau bis heute verbindet, hat in solchen Äußerungen ihren Ursprung. Und in der Tat führt der Autor Argumente an, die für eine partielle Umkehr sprechen, für eine Rückkehr zu einem dem gedachten Urzustand ähnlicheren Zustand, für einen Verzicht auf bestimmte kulturelle Errungenschaften: »Quoi! faut-il donc supprimer toutes les choses dont on abuse? Oüi sans doute, répondrai-je sans balancer: toutes celles qui sont inutiles; toutes celles dont l’abus fait plus de mal que leur usage ne fait de bien.«80 [Wie? Sollte man also all die Dinge abschaffen, mit denen Missbrauch betrieben wird? Ja, sicher, so möchte ich antworten, ohne zu schwanken: all die Dinge, welche nutzlos sind; all jene, deren Missbrauch mehr Schaden anrichtet, als ihr Gebrauch Nutzen bewirkt.] Die Vagheit dieser Aussage zeigt allerdings schon an, dass die Entscheidung, worauf verzichtet werden kann, wohl nicht leicht zu fällen sein dürfte. Rousseau selbst hat in seiner Lebensführung auf manches verzichtet, was ihn von anderen abhängig gemacht hätte. Er lebte vom Notenkopieren und führte nach seiner sogenannten »réforme« das Leben eines Außenseiters und Nonkonformisten, der seine Andersartigkeit zum Beispiel durch seine ungewöhnliche Kleidung sichtbar zur Schau trug. Er versuchte also, soweit ihm dies möglich war, seinen Ansichten gemäß zu leben. Man hat ihm allerdings immer wieder vorgeworfen, dass er, der so grundsätzliche Kritik an Kultur und Gesellschaft geübt habe, sich seinerseits der fortgeschrittensten und mit dem Roman auch der populärsten Techniken dieser Kultur bedient habe. Gegen diese Vorwürfe hat Rousseau sich von Anfang an zur Wehr gesetzt, und in dieser Argumentationslinie findet sich die zweite, konträre Antwort auf die oben gestellte Frage: Man solle sich davor hüten, die Bibliotheken 79 80

Ebd., S. 37. Ebd., S. 55.

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zu verbrennen und die Universitäten und Akademien zu zerstören, weil dadurch Europa in den Zustand der Barbarei versetzt werde, nicht aber der verlorene Naturzustand wiederhergestellt werden könne: […] on n’a jamais vû de peuple une fois corrompu, revenir à la vertu. En vain vous prétendriez détruire les sources du mal; en vain vous ôteriez les alimens de la vanité, de l’oisiveté et du luxe; en vain même vous raméneriez les hommes à cette premiére égalité, conservatrice de l’innocence et source de toute vertu: leurs cœurs une fois gâtés le seront toûjours; il n’y a plus de reméde, à moins de quelque grande révolution presque aussi à craindre que le mal qu’elle pourroit guérir, et qu’il est blamable de désirer et impossible de prévoir.81 […] noch niemals ist es vorgekommen, dass ein Volk, wenn es einmal verdorben war, zur Tugend zurückgefunden hätte. Vergeblich wäre der Anspruch, die Quellen des Übels zu zerstören; vergeblich der Versuch, die Eitelkeit, die Faulheit und den Luxus ihrer Nahrung zu berauben; vergeblich der Wunsch, die Menschen zu ihrer ursprünglichen Gleichheit zurückzuführen, die die Unschuld bewahrt und die Quelle aller Tugend ist: Wenn die Herzen erst einmal verdorben sind, dann bleiben sie es für immer; es gibt kein Heilmittel mehr, abgesehen von einer großen Umwälzung, vor der man aber beinahe genauso große Angst haben muss wie vor dem Übel, das sie heilen könnte, und die zu wünschen schändlich ist und vorherzusehen unmöglich.

Damit widerspricht Rousseau sich selbst. Der Urzustand kann nicht restituiert werden, ein Verzicht auf einmal erworbene Kulturtechniken ist nicht nur sinnlos, sondern sogar schädlich, sodass letztlich nichts anderes übrig bleibt, als die Künste und die Wissenschaften als Heilmittel (als »palliatif«)82 zu verwenden. Ein später bei Rousseau immer wiederkehrender Gedanke taucht hier auf: Man soll das Übel durch das Übel heilen: »Laissons donc les Sciences et les Arts adoucir en quelque sorte la férocité des hommes qu’ils ont corrompus […].«83 [Lassen wir also die Wissenschaften und die Künste gewissermaßen die Bestialität der durch sie verdorbenen Menschen abmildern (…).] Wenn Rousseaus Gegner ihm vorgeworfen haben, er wolle das Rad der Geschichte zurückdrehen und den Menschen gewissermaßen in die Steinzeit zurückversetzen (Voltaire schreibt ihm spöttisch, dass man Lust bekomme, auf allen Vieren zu laufen, wenn man seine Schriften lese),84 so haben sie eine der beiden Antworten, die sich in seinem Werk finden, polemisch zugespitzt, 81 82 83 84

Ebd., S. 56. Ebd. Ebd. »On n’a jamais tant employé d’esprit a vouloir nous rendre Bêtes. Il prend envie de marcher a quatre pattes quand on lit votre ouvrage.« – Voltaire, Brief an Rousseau, 30. August 1755, in: Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau, hg. R. A. Leigh, Bd. III (1754–1756), Genève 1966, S. 157.

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dabei aber die gegenläufige Antwort völlig ausgeblendet. Das heißt, sie haben nach den Kriterien einer binären Logik reagiert: Entweder der gegenwärtige Kulturzustand ist gut, oder er ist schlecht. Wenn er schlecht ist, dann muss man hinter ihn zurückkehren. Da dies aber lächerlich oder unmöglich ist, muss man den gegenwärtigen Zustand trotz aller Mängel bejahen. Eine dritte Position gibt es nicht (tertium non datur). Genau diese dritte Position aber hat Rousseau gesucht. Er erkennt die prinzipiellen Vorteile der kulturellen Errungenschaften ebenso wie die Mängel des gegenwärtigen Zustandes der Menschen, die sich der Künste und der Wissenschaften nicht angemessen zu bedienen wissen. Dem gegenwärtigen Zustand stellt er einen von ihm hypothetisch rekonstruierten Urzustand gegenüber, der sich allerdings nicht restituieren lässt. Daher ist es sein Ziel, das Übel durch den Verursacher des Übels zu heilen und mithilfe der Künste und Wissenschaften den gegenwärtigen Zustand des Menschen zu verbessern, also gewissermaßen den utopischen Urzustand durch dessen Integration ins Hier und Jetzt zu realisieren. Wenn Rousseaus Denken die Grenzen der binären Logik überschreitet, so korreliert dies mit dem Status seiner Texte, in denen sich philosophisch-wissenschaftliche mit literarisch-fiktionalen Darstellungsmodi verschränken. Wie gezeigt wurde, hat der zweite Discours einerseits den Anspruch, der gegenwärtigen Gesellschaft eine kulturkritische Diagnose zu stellen; er stützt sich dabei auf Erkenntnisse der Wissenschaften, unter anderem der Rechtsphilosophie. Andererseits verbindet Rousseau den argumentativen Teil seines Textes mit auf keinerlei Quellen basierenden hypothetischen Elementen, die nach den Prinzipien literarischer Imagination generiert werden. Begründet wird diese Verfahrensweise mit der Behauptung, dass die »livres scientifiques«85 die Natur des Menschen ausgehend von seinem aktuellen Zustand gedacht und sie dadurch verfehlt hätten: »[…] tous, parlant sans cesse de besoin, d’avidité, d’oppression, de désirs, et d’orgueil, ont transporté à l’état de Nature, des idées qu’ils avoient prises dans la société […]«86 [(…) alle haben Vorstellungen, die sie aus dem Gesellschaftszustand gewonnen haben, auf den Naturzustand übertragen und ständig von Bedürfnis, von Gier, von Unterdrückung, von Verlangen und von Stolz gesprochen (…)]. Deshalb, so Rousseau, müsse man »écarter tous les faits«87 [alle Tatsachen beiseite schieben] und den menschlichen Urzustand hypothetisch rekonstruieren. Mit anderen Worten: Die Fiktion muss dort einspringen, wo die Wissenschaft nicht mehr weiter weiß. 85 86 87

Bd. III, S. 125. Ebd., S. 132. Ebd.

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Auch im Émile (1762) verbindet Rousseau didaktische Argumentation und literarische Fiktion. Im Vorwort verweist der Autor darauf, dass all die Bücher, deren Ziel der öffentliche Nutzen sei, den Bereich der Erziehung und der Kindheit bisher ausgeblendet hätten. Er selbst habe diesen Gegenstand entdeckt und wolle weniger einen Traktat als vielmehr »les rêveries d’un visionnaire sur l’éducation«88 [die Träumereien eines Visionärs über die Erziehung] zum Besten geben. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist erneut der Gegensatz Natur vs. Kultur/Gesellschaft: »Tout est bien, sortant des mains de l’auteur des choses: tout dégénére entre les mains de l’homme. […] Il ne veut rien tel que l’a fait la nature, pas même l’homme […]«89 [Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles verdirbt in den Händen des Menschen. (…) Er will nichts so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen selbst (…)]. Erneut betont Rousseau jedoch auch, dass man nicht hinter den gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung zurück könne: »Sans cela tout iroit plus mal encore, et nôtre espéce ne veut pas être façonnée à demi.«90 [Ohne dies wäre alles noch viel schlechter; unsere Spezies will nicht nur zur Hälfte geformt werden.] Ein von Geburt an sich selbst überlassener Mensch wäre der verdorbenste von allen. Daher benötige man eine ganz besonders gute Form der Erziehung. Rousseau setzt sich nun zum Ziel, den Menschen möglichst so zu formen, wie es seinem Naturzustand entspreche. »Vivre est le métier que je lui veux apprendre.«91 [Der Beruf, den ich ihm beibringen möchte, ist das Leben.] Dann werde der Mensch auch in der Lage sein, in der modernen, arbeitsteiligen, fragmentierten Gesellschaft seinen Platz einzunehmen: »En sortant de mes mains il ne sera, j’en conviens, ni magistrat, ni soldat, ni prêtre: il sera prémiérement homme […]«.92 [Wenn ich ihn aus meiner Obhut entlasse, dann wird er, wie ich zugebe, weder Magistrat noch Soldat noch Priester sein: Er wird zuallererst ein Mensch sein (…)] Offensichtlich versucht Rousseau, die Folgeschäden der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft einzudämmen. Deutlich wird im Émile auch Rousseaus Versuch, die Dichotomie zwischen »état naturel« und »état civil« in einer Synthese zu überwinden. Der ideale Staat wäre nämlich jener, der alle Vorteile des Naturzustandes mit de88 89 90 91 92

Émile ou de l’éducation, in: Œuvres complètes, Bd. IV, S. 239–877, hier S. 242. Ebd., S. 245. Ebd. Ebd., S. 252. Ebd.

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nen des Gesellschaftszustandes verbände und zu der Freiheit des Naturmenschen die gesellschaftliche Moral hinzutreten ließe, die ihn tugendhaft werden lässt.93 Dabei aber verwickelt der Text sich in unvermeidliche argumentative Widersprüche. Besonders eklatant erscheinen solche Widersprüche im Hinblick auf die Erziehungsmethode. Denn das höchste Ziel von Rousseau ist es, stets die Wahrheit zu sagen und aufrichtig und transparent zu sein. Um aber seine Erziehungsvorstellungen dem Zögling zu vermitteln, muss der Erzieher diesen permanent hintergehen und manipulieren. So verhält es sich auch im Hinblick auf die Liebe, an der die Widersprüche des Erziehungsbuches offen aufbrechen. Mit welchen Tricks der Erzieher arbeiten muss, resultiert etwa aus folgender Stelle: Il faut que je sois le plus maladroit des hommes si je ne le rends d’avance passionné sans savoir de qui. Il n’importe que l’objet que je lui peindrai soit imaginaire, il suffit qu’il le dégoute de ceux qui pourraient le tenter; il suffit qu’il trouve par tout des comparaisons qui lui fassent préférer sa chimére aux objets réels qui le fraperont, et qu’est-ce que le véritable amour lui-même, si ce n’est chimére, mensonge, illusion? On aime bien plus l’image qu’on se fait que l’objet auquel on l’applique. Si l’on voyoit ce qu’on aime exactement tel qu’il est il n’y auroit plus d’amour sur la terre. […] Or en fournissant l’objet imaginaire, je suis le maitre des comparaisons, et j’empêche aisément l’illusion des objets réels.94 Ich müsste der ungeschickteste aller Menschen sein, wenn es mir nicht gelingen sollte, von vornherein seine Leidenschaft für jemanden zu wecken, den er noch gar nicht kennt. Es macht nichts, wenn der Gegenstand, den ich ihm ausmale, imaginär ist, es genügt, dass er ihm diejenigen verleidet, die ihn verlocken könnten; es genügt, dass er überall Vergleiche findet, die ihn seine Chimäre den realen Gegenständen, die ihm auffallen werden, vorziehen lässt, und was ist denn wahre Liebe anderes als Chimäre, Lüge, Illusion? Man liebt mehr das Bild, das man sich macht, als den Gegenstand, auf den man es projiziert. Wenn man das, was man liebt, genau so sähe, wie es ist, dann gäbe es auf Erden keine Liebe mehr. […] Indem ich also das imaginäre Objekt zur Verfügung stelle, bin ich der Herr der Vergleiche und verhindere mit Leichtigkeit die von den realen Objekten ausgehenden Illusionen.

Wenn die Liebe nur eine Illusion ist und wenn der Erzieher seinem Zögling diese Illusion auch noch mutwillig einpflanzt, um sein Begehren zu steuern, wie vertragen sich diese Einsicht und diese Praxis mit der angestrebten Aufrichtigkeit? Offenbar ist in dieser Prämisse ein so grundsätzlicher Widerspruch enthalten, dass das Erziehungsprojekt letztlich scheitern muss. Der ganze Aufwand, den Rousseau im V. Buch des Émile betreibt, zielt darauf, die Einheit von Liebe und Passion in einer die Unbeständigkeit der Passion 93 94

Ebd., S. 311. Ebd., S. 656.

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überdauernden Ehe zu stiften.95 Interessanterweise verwandelt sich das Erziehungsbuch in diesem Zusammenhang mehr und mehr in einen Roman. Es geht nicht mehr abstrakt um Erzieher und ihre Schüler, sondern konkret um einen individuellen Erzieher und seinen Schüler Émile, der sich aus einem theoretischen Konstrukt in eine diegetische Figur verwandelt. Konsequenterweise findet dieser Teil des Émile eine romaneske Fortsetzung, den unvollendeten Briefroman Émile et Sophie, ou les Solitaires,96 in dem sich zeigt, dass das Gesetz der Passion, nicht dauerhaft zu sein, unhintergehbar ist. Émiles Liebe zu Sophie weicht dem Überdruss und der Suche nach Vergnügungen, worauf Sophie schließlich mit Ehebruch reagiert. Die geforderte Koinzidenz von Liebe und Ehe führt demnach nicht ans Ziel. Dies zu zeigen, ist der Fiktion vorbehalten, womit sich erneut zeigt, dass Fiktion und wissenschaftlicher Traktat bei Rousseau aufs engste miteinander verbunden sind.

2.5 Diderot: Entretien entre d’Alembert et Diderot und Jacques le fataliste 2.5.1 Metaphorische Rede im Entretien Diderots (1713–1784) Entretien entre d’Alembert et Diderot entstand vermutlich im Jahr 1769, wurde aber – nach einer anonymen Teilveröffentlichung in der Correspondance littéraire (1782) – vollständig erstmals 1830 veröffentlicht. Es handelt sich um einen der gedanklich kühnsten und brisantesten Texte des Autors, in dem atheistische Argumente diskutiert werden – dies war vermutlich auch der Grund dafür, dass der Text zu Lebzeiten des Autors nicht unter seinem Namen veröffentlicht wurde. Am Entretien lässt sich exemplarisch die Interferenz von philosophisch-naturwissenschaftlicher und literarischer Rede im 18. Jahrhundert aufweisen, im Sinne einer vor ihrem endgültigen Auseinandertreten letztmalig erreichten Synthese der beiden Bereiche.97 95

96 97

Dies ist auch das zentrale Thema von Rousseaus Roman Julie, ou la Nouvelle Héloïse (1761). Vgl. hierzu meine Untersuchung Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Hölderlin, Foscolo, Madame de Staël und Leopardi), Freiburg i. Br. 2002, S. 59–106. Bd. IV, S. 879–924. Vgl. hierzu einführend Roland Galle, »Diderot – oder die Dialogisierung der Aufklärung«, in: Jürgen von Stackelberg (Hg.), Europäische Aufklärung III, Wiesbaden 1980, S. 209–247, hier S. 214–218, und grundlegend Rudolf Behrens, »Naturwissen und sprachliche Artikulation. Diderots Rêve de d’Alembert als Experimentierraum für eine Theorie transpersonaler Imagination«, in: Roland Galle/Helmut Pfeiffer

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Der Text besteht aus drei Teilen. Der erste Teil ist ein Dialog zwischen Diderot und d’Alembert über die »sensibilité« als allgemeines Prinzip der Schöpfung; Diderot versucht d’Alembert davon zu überzeugen, dass man damit auf die paradoxe Hilfskonstruktion Gott verzichten könne. (Es ist zu bedenken, dass ›Diderot‹ und ›d’Alembert‹ nicht die realen Personen, sondern fiktive Dialogfiguren sind.) Im zweiten und längsten Teil des Textes (mit dem Titel Rêve de d’Alembert) wird berichtet, wie d’Alembert im Anschluss an das Gespräch mit Diderot die Inhalte dieser Unterredung im Traum rekapituliert und weiterverarbeitet. Zeugin seiner Traumrede ist seine Lebensgefährtin Mlle de l’Espinasse, die aus Sorge um den Zustand ihres (Hg.), Aufklärung, München 2007, S. 405–440, der darauf hinweist, dass Diderots Text »das zu seiner Zeit avancierteste naturtheoretische Wissen mit einer höchst komplexen sprachlichen Artikulation engführt.« (S. 405) Dieser Umstand, so Behrens, bezeuge, dass »naturgeschichtliches Denken und literarischer Diskurs um die Jahrhundertmitte im Zeichen enzyklopädischer Euphorie in diesem Text noch einmal eine Synthese bilden können, bevor dann ›sciences‹ und ›belles lettres‹ endgültig getrennte Wege gehen werden.« (Ebd.) Behrens situiert sein eigenes Unternehmen jenseits eines forschungsgeschichtlichen Wendepunkts. Hatte man in der älteren Forschung (vgl. etwa Herbert Dieckmann, »Théophile Bordeu und Diderots Rêve de d’Alembert«, in: Romanische Forschungen 52 (1938), S. 55–122, hier S. 65, der ausdrücklich davor warnt, die Bedeutung des in Gestalt der dialogischen Sprechsituation inszenierten »Spiels« gegenüber der »wissenschaftlichen Fragestellung« überzubewerten; Jacques Roger, Les sciences de la vie dans la pensée française du XVIIIe siècle. La génération des animaux de Descartes à l’Encyclopédie, Paris 1963, S. 585–682, hier S. 654, der immerhin zugesteht, »qu’il s’agit d’une œuvre d’art autant que d’une œuvre scientifique et philosophique«, ohne dann allerdings der literarischen Modellierung eine andere Funktion zuzugestehen als die, dass sie es ermögliche, Diderots Gedanken lebendig zu gestalten, S. 655) vor allem die in Diderots Text enthaltenen naturwissenschaftlichen Referenzen aufzuhellen versucht, so rückte in jüngerer Zeit die Bedeutung der Vertextungsverfahren in den Vordergrund (vgl. insbes. Wilda Anderson, Diderot’s Dream, Baltimore/London 1990). Vor diesem Hintergrund stellt Behrens die Frage nach dem Verhältnis von »Ordnung der Rede« und »Ordnung der Natur« (S. 410). Seiner These zufolge sind »die mehrfach gebrochene literarische Präsentation und vor allem der Modus der onirischen Artikulation« keine nachgeordneten Merkmale des Textes, sondern sie bilden »ein dem hier verhandelten naturwissenschaftlichen Wissen affines und koextensives Artikulationssystem« (S. 413). Am Beispiel der »Denkbilder« (ebd.) der Metamorphose und der Resonanzen zeigt Behrens, dass der von Diderot gewählte Modus der Versprachlichung einerseits Affinitäten zur zentralen Thematik des Traums aufweist, dass er aber andererseits gegenüber den durch die Dialogpartner aufgerufenen Wissensbeständen einen Sinnüberschuss erzeugt, der die Funktion hat, eine auf Transpersonalität beruhende Theorie der Imagination zu entwerfen, welche über die Prämissen der klassischen Episteme im Sinne Foucaults hinausgeht. An Behrens möchte ich im Folgenden anknüpfen.

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unruhig schlafenden Gefährten den Arzt Bordeu98 kommen lässt und ihm die von ihr aufgezeichneten Äußerungen des Träumenden vorliest. Da Mlle de l’Espinasse nicht versteht, was d’Alembert gesagt hat, bittet sie den Arzt um Aufklärung, woraus sich ein längeres Gespräch zwischen den beiden entspinnt, welches die von Diderot stammenden und von d’Alembert vermittelten Ideen vertieft und weiterführt. In dieses Gespräch mischt sich bisweilen d’Alembert ein, teils indem er seine Traumrede fortsetzt, teils indem er kurz aufwacht und die Anwesenden anspricht. Am nächsten Morgen muss der Arzt einen anderen Patienten besuchen, wodurch es zu einer Unterbrechung des Gesprächs kommt. Dieses wird im kurzen dritten Teil des Textes (Suite de l’Entretien) zu Ende geführt; es geht nun um die Kreuzung verschiedener Gattungen, zum Beispiel Mensch und Tier. An dieser kurzen Strukturbeschreibung erkennt man schon, dass der Text wissenschaftlich-philosophische Inhalte99 in unterhaltsam-belehrender Form vermittelt, wobei Mlle de l’Espinasse als textinterne Stellvertreterin des fragenden und zu belehrenden Lesers fungiert. Der Inhalt wird – was für Diderot typisch ist – nicht in traktathaft-geschlossener Form vermittelt, sondern in dialogisch-offener und somit undogmatisch-hypothetischer Form. Hierbei vermischen sich, wie wir noch sehen werden, literarische und wissenschaftliche Darstellungsmodi. Der Dialog beginnt in medias res, indem d’Alembert, das zuvor Gesagte resümierend, zugesteht, dass es schwerfalle, die Existenz eines so widersprüchlich definierten Wesens wie Gott anzunehmen: »un Être d’une nature aussi contradictoire est difficile à admettre«.100 Man sagt nämlich von ihm, er existiere, ohne einen festen Ort im Raum einzunehmen, er sei ohne Ausdehnung und zugleich ausgedehnt, er unterscheide sich essentiell von der Materie und sei doch mit ihr verbunden, er bewege sie, ohne sich selbst zu bewegen, er nehme auf sie Einfluss und unterliege doch selbst ihren Gesetzen. Wenn man jedoch an seine Stelle das universelle Prinzip der »sensibilité« setze, wie Diderot dies tue, dann handle man sich andere Schwierigkeiten ein, weil man dann annehmen müsse, dass auch Steine eine Empfindung hätten. Dies versucht Diderot zu erklären, indem er die Unterscheidung zwi98

99

100

Zu Bordeus Bedeutung für Diderot vgl. Dieckmann, »Théophile Bordeu und Diderots Rêve de d’Alembert«. Behrens zufolge handelt es sich dabei um »die Theorie einer sensitiven Materie, die Theorie unterschiedlich dichter molekularer Organisationsformen sowie die Theorie vielfältigster evolutionshistorischer Hybridisierungen und Formenwechsel« (»Naturwissen und sprachliche Artikulation«, S. 410). Denis Diderot, Entretien entre d’Alembert et Diderot, in: Œuvres, hg. v. André Billy, Paris 1951, S. 873–942, hier S. 873.

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schen »force vive« und »force morte« beziehungsweise zwischen »sensibilité active« und »sensibilité inerte« einführt. D’Alembert zieht daraus die Schlussfolgerung: »Ainsi la statue n’a qu’une sensibilité inerte; et l’homme, l’animal, la plante même peut-être, sont doués d’une sensibilité active.«101 [So hat also die Statue nur eine träge Empfindsamkeit; und der Mensch, das Tier, vielleicht sogar die Pflanze verfügen über eine aktive Empfindsamkeit.] Wie aber kann man die träge in die aktive »sensibilité« überführen? Diderot sagt, dies geschehe immer dann, wenn man esse: »Oui; car en mangeant, que faites-vous? Vous levez les obstacles qui s’opposaient à la sensibilité active de l’aliment. Vous l’assimilez avec vous-même; vous en faites de la chair; vous l’animalisez; vous le rendez sensible […].«102 [Ja; denn was tun Sie denn, wenn Sie essen? Sie entfernen die Hindernisse, die sich der aktiven Empfindsamkeit des Nahrungsmittels entgegenstellten. Sie verleiben es sich ein; Sie verwandeln es in Fleisch; Sie animalisieren es; Sie machen es empfindsam (…)]. Was man mit der Nahrung tagtäglich tue, das aber sei prinzipiell ebenso mit dem Marmor einer Statue möglich; man müsse nur den Marmor pulverisieren und das Pulver mit Humus vermengen, das Ganze gut gießen, einige Jahre vergehen lassen, schließlich Erbsen, Bohnen oder Kohl anpflanzen, und schon könne man den einstigen Marmor in die Nahrungskette einspeisen. D’Alembert lässt sich überzeugen: »Vrai ou faux, j’aime ce passage du marbre à l’humus, de l’humus au règne végétal, et du règne végétal au règne animal, à la chair.«103 [Ob wahr oder falsch – mir gefällt dieser Übergang vom Marmor zum Humus, vom Humus zum Pflanzenreich und vom Pflanzenreich zum Tierreich, zum Fleisch.] Wenn nun dergestalt die große Lücke zwischen dem toten Marmor und der lebendigen Materie geschlossen sei, dann, so Diderot, komme man der Lösung eines zweiten Problems ganz nahe, nämlich der sehr viel kleineren Lücke zwischen Empfinden und Denken. Bevor er dieses Problem löst, postuliert Diderot zunächst eine »formule générale« des Lebens: Mangez, digérez, distillez in vasi licito, et fiat homo secundum artem. Et celui qui exposerait à l’Académie le progrès de la formation d’un homme ou d’un animal n’emploierait que des agents matériels dont les effets successifs seraient un être inerte, un être sentant, un être pensant, un être résolvant le problème de la précession des équinoxes, un être sublime, un être merveilleux, un être vieillissant, dépérissant, mourant, dissous et rendu à la terre végétale.104 101 102 103 104

Ebd., S. 874. Ebd., S. 874f. Ebd., S. 875. Ebd., S. 876.

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert Essen Sie, verdauen Sie, destillieren Sie in vasi licito, et fiat homo secundum artem [in das zulässige Gefäß, und es entstehe ein Mensch nach den Regeln der Kunst]. Und wer in der Académie den Prozess der Entstehung eines Menschen oder eines Tieres darlegen wollte, würde nur materielle Ursachen ins Spiel bringen, deren Wirkungen nacheinander ein träges Wesen, ein empfindsames Wesen, ein denkendes Wesen wären, ein das Problem der Präzession der Äquinoktien lösendes Wesen, ein erhabenes Wesen, ein wunderbares Wesen, ein alterndes, hinfällig werdendes, sterbendes Wesen, das sich schließlich auflöst und zur pflanzlichen Erde zurückkehrt.

Die zentralen Etappen dieses Kreislaufs von der unbelebten über die belebte zurück zur unbelebten Natur kennen wir bereits aus der bisherigen Diskussion: »inerte«, »sentant«, »pensant« und »dissous et rendu à la terre végétale«. Diderot veranschaulicht diesen Kreislauf, indem er von dem damals bekannten Wissen über die Genese eines Menschen im Mutterleib ausgeht und die einzelnen Etappen am Beispiel »d’un des plus grands géomètres de l’Europe«105 illustriert: gemeint ist d’Alembert selbst. Ausgangspunkt der Argumentation ist also die Erfahrung. Und diese lehrt, dass es einen irgendwie gearteten Übergang von der unbelebten zur belebten und empfindsamen und von hier zur denkenden Materie geben muss. Wie aber lässt sich solcher Übergang erklären? Diderot versucht die Frage zu beantworten, indem er nach dem reflexiven Selbstbewusstsein fragt, nach der »existence d’un être sentant, par rapport à lui-même«106 [Existenz eines fühlenden Wesens in Bezug auf sich selbst]. Die Antwort gibt d’Alembert: »C’est la conscience d’avoir été lui, depuis le premier instant de sa réflexion jusqu’au moment présent.«107 [Es ist das Bewusstsein, es selbst gewesen zu sein, vom ersten Moment seines Denkens an bis zur Gegenwart.] Mit anderen Worten: Es handelt sich um das Bewusstsein, über den Wandel der Zeit hinweg derselbe und mithin mit sich selbst identisch zu sein. Solches Identitätsgefühl aber beruht auf der Voraussetzung des Gedächtnisses (»mémoire«), denn ohne Gedächtnis wäre das Leben »une suite interrompue de sensations que rien ne lierait«108 [eine unterbrochene Folge von Empfindungen, welche durch nichts miteinander verbunden wären]. Um ein »être sentant« mit Identitätsbewusstsein zu sein, muss man also ein Gedächtnis haben. Daraus schlussfolgert Diderot: »Si donc un être qui sent et qui a cette organisation propre à la mémoire, lie les impressions qu’il reçoit, forme par cette liaison une histoire qui est celle de 105 106 107 108

Ebd. Ebd., S. 878. Ebd. Ebd.

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sa vie, et acquiert la conscience de lui, il nie, il affirme, il conclut, il pense.«109 [Wenn also ein Wesen, das empfindsam ist und das jene für das Gedächtnis charakteristische Organisation besitzt, die Eindrücke, die es erhält, miteinander verbindet, durch diese Verbindung eine Geschichte erzeugt, die die Geschichte seines Lebens ist, und dadurch ein Ich-Bewusstsein erhält, dann leugnet es, behauptet es, zieht es Schlussfolgerungen, denkt es.] Somit ist also das Erinnern ein das Denken implizierender Vorgang. Wer sich erinnert und sich eine die eigene Identität fundierende Geschichte zuschreibt, der denkt, mithin jeder, der ein Bewusstsein von Ich-Identität besitzt. D’Alembert akzeptiert diese Gleichsetzung, fragt dann aber, wie es denn möglich sei, dass man mehr als nur ein Objekt des Denkens gleichzeitig präsent haben könne – zum Beispiel einen Gegenstand und eine Qualität desselben. Dies beantwortet Diderot wie folgt: Je le pense; ce qui m’a fait quelquefois comparer les fibres de nos organes à des cordes vibrantes sensibles. La corde vibrante sensible oscille, résonne longtemps encore après qu’on l’a pincée. C’est cette oscillation, cette espèce de résonance nécessaire qui tient l’objet présent, tandis que l’entendement s’occupe de la qualité qui lui convient.110 Ich halte es für möglich; und das hat mich manchmal dazu geführt, die Fasern unserer Organe mit empfindsamen schwingenden Saiten zu vergleichen. Die empfindsame schwingende Saite oszilliert und schwingt noch lange, nachdem man sie gezupft hat, nach. Diese Oszillation, diese Art notwendiger Resonanz ist es, die das Objekt präsent hält, während sich der Verstand mit der ihm entsprechenden Qualität beschäftigt.

Man sieht, dass Diderot hier auf die Ebene des Vergleichs, des Metaphorischen ausweicht, um eine Lücke seines Systems zu schließen. Er bedient sich also eines Verfahrens, das seine Heimstatt im Bereich der Dichtung hat. Genau hier liegt eine der zentralen Schnittstellen von Wissenschaft und Poesie. Es empfiehlt sich hier zunächst eine kurze Erläuterung zum Begriff der Metapher.111 Sie gehört zu den Ersetzungsfiguren (Tropen), ja sie ist der vielleicht komplexeste Tropus. Vielen gilt sie als das poetische Verfahren par excellence. Das Signifikat des ersetzenden Begriffs steht zu dem des ersetzten nicht (wie bei der Periphrase, der Antonomasie, der Synekdoche oder der 109 110

111

Ebd. Ebd., S. 879. Zur Geschichte der von Diderot hier verwendeten Metaphorik (»cordes vibrantes«, später »araignée«) vgl. die Ausführungen bei Jean Starobinski, »L’empire de l’imaginaire«, in: L’œil vivant II: La relation critique, Paris 1970, S. 171–254, hier S. 196ff. Die Formulierungen zur Metapher übernehme ich aus meiner Einführung in die französische Literaturwissenschaft, Berlin 2000, 42008, S. 206.

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Metonymie) in einer wie auch immer gearteten Realbeziehung, sondern in einer Beziehung der Ähnlichkeit (similitudo), das heißt, die Metapher erfordert vom Produzenten wie vom Rezipienten eine mehr oder weniger hohe gedankliche Abstraktionsleistung, da der eine die Ähnlichkeit finden und sprachlich ausdrücken, der andere sie nachvollziehen muss. Verglichen wird ein Erstes (primum) mit einem Zweiten (secundum) im Hinblick auf ein Drittes, welches die beiden gemeinsam haben (tertium comparationis). Bezeichnet man die Sonne als »astre géant«, so liegt eine synekdochische Periphrase vor, denn die Sonne ist tatsächlich ein Himmelskörper; der Tropus entfernt sich also nicht aus dem Realbereich. Bezeichnet man die Sonne hingegen als Himmelsball, so liegt eine Metapher vor: Die Sonne ist ein Himmelskörper und kein Ball. Die Ersetzungsbeziehung beruht auf einer Ähnlichkeit zwischen dem ersetzenden und dem ersetzten Begriff. Einem Ball und der Sonne ist das semantische Merkmal [+kugelförmig] gemeinsam. Eine Metapher wird um so einfacher zu verstehen sein, je konsensfähiger die von ihr postulierte Ähnlichkeit ist; je ungewöhnlicher oder verborgener die Ähnlichkeit, desto dunkler und kühner die Metapher. Den ersetzenden, uneigentlich verwendeten Begriff nennt man auch Bildspender oder Vehikel; den ersetzten, eigentlich gemeinten Begriff nennt man Bildempfänger oder Tenor.112 Tenor und Vehikel haben eine mehr oder weniger große Schnittmenge gemeinsamer semantischer Merkmale, ihre Signifikate sind einander mehr oder weniger ähnlich. Zugleich aber haben Tenor und Vehikel auch semantische Merkmale, die sie miteinander nicht gemeinsam haben (zum Beispiel haben die Sonne und der Ball das Kugelförmige gemeinsam, nicht aber Eigenschaften wie Temperatur, Masse, Volumen usw.). Infolge der Substitution des Tenors durch das Vehikel kommt es zu einer Interaktion der beiden Bedeutungsfelder.113 Die stets nur partielle Ähnlichkeit bewirkt je nach Kontext eine mehr oder weniger weitgehende Verschmelzung der differenten semantischen Merkmale. Die Metapher hat daher, wie Heinrich Lausberg114 sagt, etwas Magisches. Wenn man, um das topische Beispiel von Quintilian zu zitieren, von einem Kämpfer sagt, er sei ein Löwe, so setzt man ihn magisch mit dem Löwen gleich. »Die Metapher ist ein urtümliches Relikt der magischen Identifizierungsmöglichkeit, die nunmehr ihres religiös-magischen Charakters 112

113

114

Die Begriffe »Tenor« und »Vehikel« wurden geprägt von Ivor Armstrong Richards, »Die Metapher« (1936), in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, S. 31–52, hier S. 36. Zur Interaktionstheorie der Metapher vgl. Max Black, »Die Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, S. 55–79, hier S. 68ff. Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft (1960), Stuttgart 31990, § 558.

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entkleidet ist und zum poetischen Spiel geworden ist. Freilich birgt auch dieses poetische Spiel noch evozierend-magische Wirkungen, die ein Dichter aktualisieren kann.«115 (Ein Vergleich ist übrigens nichts anderes als die durch eine Vergleichspartikel explizierte Variante der Metapher.) Die ›magische‹ Kraft der Metapher wird sehr schön in ihrer Verwendung bei Diderot erkennbar. In der zitierten Passage steht am Anfang der explizite Vergleich: »[…] ce qui m’a fait quelquefois comparer les fibres de nos organes à des cordes vibrantes sensibles«. Tenor sind die Fasern unserer Organe (»les fibres de nos organes«); diese werden verglichen mit dem Vehikel der empfindlichen, schwingenden Saiten (»cordes vibrantes sensibles«). Die diesen Vergleich motivierende Ähnlichkeit, das heißt die den Fasern und den Saiten gemeinsame Schnittmenge von Merkmalen, ist das lange Nachschwingen (»La corde vibrante sensible oscille, résonne longtemps encore après qu’on l’a pincée.«), welches hier nur dem Vehikel explizit zugeschrieben, aber implizit natürlich auch für den Tenor in Anspruch genommen wird. Und genau dieses Nachschwingen soll nun durch metaphorische Übertragung erklären, wie es dem Verstand gelingt, mehr als ein Element gleichzeitig zu fixieren. Die Sache kann offenbar nicht direkt wissenschaftlich, durch logische Abstraktion erklärt werden, sondern nur auf dem Umweg über eine metaphorische Gleichsetzung. Man erkennt im Text sehr schön die ›magische‹ Gleichsetzung der zunächst distinkten Elemente, wenn es im folgenden Satz heißt: »C’est cette oscillation, cette espèce de résonance nécessaire qui tient l’objet présent, tandis que l’entendement s’occupe de la qualité qui lui convient.« Anaphorisch verweist »cette oscillation« auf die »cordes vibrantes«, also auf das Vehikel, doch durch die mise en relief wird dieselbe »oscillation« kataphorisch an den Tenor (hier vertreten durch »l’entendement«) gebunden. Hier ist der Vergleich zur Metapher geworden, welche genau besehen nicht eine Figur der bloßen Ersetzung, sondern eine der Verschmelzung der dem Tenor und dem Vehikel gemeinsamen (oder als gemeinsam postulierten) Merkmale ist. Was für das eine gilt, gilt auch für das andere, sodass man nach Belieben vom einen zum anderen wechseln darf und somit Aussagen scheinbar plausibilisieren kann, die streng logisch nicht fundiert sind. Denn es ist im vorliegenden Beispiel die metaphorische Verwendungsweise, welche eine Gemeinsamkeit postuliert, die eigentlich erst empirisch oder auch durch logische Abstraktion nachgewiesen werden müsste. Sehr deutlich merkt man dieses suggestive (durch pseudo-logische Konnektoren legitimierte) Hin- und Herschalten, dieses Oszillieren zwischen Vehikel und Tenor auch im weiteren Fortgang der Argumentation: 115

Ebd.

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert Mais les cordes vibrantes [Vehikel] ont encore une autre propriété, c’est d’en faire frémir d’autres et c’est ainsi [Konnektor] qu’une première idée [Tenor] en rappelle une seconde, ces deux-là une troisième, toutes les trois une quatrième, et ainsi de suite, sans qu’on puisse fixer la limite des idées réveillées, enchaînées, du philosophe [Tenor] qui médite ou qui s’écoute dans le silence et l’obscurité. Cet instrument [Vehikel] a des sauts étonnants, et [Konnektor] une idée [Tenor] réveillée va faire quelquefois frémir une harmonique [Vehikel] qui en est à un intervalle incompréhensible. Si [Konnektor] le phénomène s’observe entre les cordes sonores, inertes et séparées [Vehikel], comment [Konnektor] n’aurait-il pas lieu entre les points vivants et liés, entre les fibres continues et sensibles [Tenor]?116 Aber die schwingenden Saiten [Vehikel] haben noch eine andere Eigenschaft, nämlich sie versetzen andere Saiten in Schwingung, und so kommt es, dass [Konnektor] eine erste Idee [Tenor] eine zweite hervorruft, diese beiden eine dritte, alle drei zusammen eine vierte und so weiter, ohne dass man die Grenze der geweckten und miteinander verketteten Ideen des Philosophen [Tenor], der nachdenkt oder in der Stille und der Dunkelheit in sich hineinhorcht, bestimmen könnte. Dieses Instrument [Vehikel] macht erstaunliche Sprünge, und eine geweckte Idee [Tenor] wird manchmal einen Oberton [Vehikel] zum Erklingen bringen, der ein unverständliches Intervall dazu bildet. Wenn [Konnektor] das Phänomen sich bei trägen und voneinander getrennten schwingenden Saiten [Vehikel] beobachten lässt, wie [Konnektor] sollte es dann nicht bei lebendigen und miteinander verbundenen, bei zusammenhängenden und empfindsamen Fasern [Tenor] statthaben?

Wenn man diese Sprachverwendung als poetisch bezeichnen darf, so lässt sich festhalten, dass sie ihren Redegegenstand durch suggestive metaphorische Unschärfe (Vermischung der Bereiche Tenor und Vehikel) selbst erzeugt (poiein bedeutet wörtlich bekanntlich so viel wie ›machen, herstellen‹). Diese Unschärfe führt dazu, dass in dem Satz, der mit der Nominalgruppe »Cet instrument« beginnt, Tenor und Vehikel vollends miteinander identifiziert werden, insofern eine Idee (Tenor) einen mitschwingenden Ton (Vehikel) auslösen kann. Die poetische Sprache ist, wie man hieran erkennt, nicht die Abbildung oder Reproduktion außersprachlicher Verhältnisse, sondern sie postuliert und plausibilisiert deren Existenz. Dies gilt für Sprache insgesamt, wird aber von der poetischen Sprache besonders deutlich gemacht. Zugleich ist die poetische Sprachverwendung äußerst fruchtbar, was die Bereitstellung von sinnlich konkreten Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere Kommunikationsakte betrifft. D’Alembert formuliert seinen nächsten Zweifel nämlich, indem er das von Diderot eingeführte Vehikel wieder aufnimmt und variiert. Er hält Diderot entgegen, dass er mit seiner ingeniösen (metaphorischen) Erklärung, die ja darauf abziele, den Dualismus von Geist und Materie zu negieren (alles ist eins, es gibt nicht Geist und Materie als ge116

Diderot, Entretien entre d’Alembert et Diderot, S. 879.

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trennte Entitäten, sondern einen kontinuierlichen, zyklischen Übergang von der unbelebten Materie zum fühlenden und denkenden Menschen), im Gegenteil gerade die Trennung von Geist und Materie zu affirmieren scheine: »[…] vous faites de l’entendement du philosophe un être distinct de l’instrument, une espèce de musicien qui prête l’oreille aux cordes vibrantes, et qui prononce sur leur consonance ou leur dissonance.«117 [(…) Sie machen aus dem Verstand des Philosophen ein vom Instrument unterschiedenes Wesen, eine Art Musiker, der den schwingenden Saiten lauscht und der ihre Konsonanz oder Dissonanz beurteilt.] Und in der Tat hatte Diderot gesagt: »C’est cette oscillation, cette espèce de résonance nécessaire qui tient l’objet présent, tandis que l’entendement s’occupe de la qualité qui lui convient.« Der Verstand (»l’entendement«) ist somit nicht identisch mit der »résonance« der »fibres«, er ist auch nicht das Produkt dieser Resonanz, sondern er ist von ihr getrennt. Insofern ist d’Alemberts Einwand korrekt. Darauf reagiert Diderot mit folgenden Worten: Il se peut que j’aie donné lieu à cette objection, que peut-être vous ne m’eussiez pas faite si vous eussiez considéré la différence de l’instrument philosophe et de l’instrument clavecin. L’instrument philosophe est sensible; il est en même temps le musicien et l’instrument. Comme sensible, il a la conscience momentanée du son qu’il rend; comme animal, il en a la mémoire. Cette faculté organique, en liant les sons en lui-même, y produit et conserve la mélodie. Supposez au clavecin de la sensibilité et de la mémoire, et dites-moi s’il ne se répétera pas de lui-même les airs que vous aurez exécutés sur ses touches. Nous sommes des instruments doués de sensibilité et de mémoire.118 Möglicherweise habe ich diesen Einwand selbst hervorgerufen, den Sie vielleicht nicht erhoben hätten, wenn Sie den Unterschied zwischen dem Instrument Philosoph und dem Instrument Cembalo bedacht hätten. Das Instrument Philosoph ist empfindsam; es ist zugleich Musiker und Instrument. Als empfindsames Wesen hat es das momentane Bewusstsein des Tons, den es hervorbringt; als Tier behält es ihn im Gedächtnis. Diese organische Fähigkeit erzeugt und bewahrt die Melodie, indem sie die Töne in sich selbst verbindet. Unterstellen Sie, das Cembalo sei empfindsam und habe ein Gedächtnis, und sagen Sie mir, ob es dann nicht etwa von selbst die Melodien wiederholen wird, welche Sie auf seinen Tasten gespielt haben. Wir sind Instrumente, die mit Empfindsamkeit und Gedächtnis ausgestattet sind.

Nachdem im Vorigen die Gleichsetzung von Tenor (»entendement«, »philosophe«) und Vehikel (»cordes vibrantes«) so weit ging, dass man umstandslos vom einen zum anderen wechseln und dass dieser permanente, Identität suggerierende Wechsel das Gesagte in Ermangelung logischer oder empirischer 117 118

Ebd., S. 879f. Ebd., S. 880.

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Evidenz plausibilisieren konnte, wird hier nun im Gegenteil die Differenz von Tenor und Vehikel hervorgehoben (»si vous eussiez considéré la différence de l’instrument philosophe et de l’instrument clavecin«), indem der Tenor (»l’instrument philosophe«) als eine Kombination zweier aus dem Vehikelbereich stammender Elemente ausgewiesen wird (»L’instrument philosophe est sensible; il est en même temps le musicien et l’instrument.«). Nun fragt sich allerdings, inwieweit dann die zuvor auf der Grundlage einer Identitätsbehauptung beruhenden Äußerungen überhaupt noch stimmen können. Wenn sich Tenor und Vehikel nicht eins zu eins aufeinander abbilden lassen, wenn es irreduzible Strukturdifferenzen zwischen beiden gibt, was ist dann der Wert der bisherigen Argumentation? So würde der Logiker fragen, nicht aber der Dichter. Er macht sich die durch Metaphern ermöglichten semantischen Unschärfen zunutze. Die Basis der Metapher bleibt bestehen, die konkrete Füllung ändert sich und erlaubt dadurch nicht nur eine flexible Anpassung der Argumentation an strategische Bedürfnisse, sondern überhaupt erst die sprachliche Vermittlung von Ideen, denen offenbar die logische Kohärenz fehlt. Man könnte hierin eine der Funktionen der Poesie in Bezug auf die Wissenschaft erblicken: Sie schafft Kohärenzen, wo solche bisher noch fehlen, und bedient sich dabei der Metapher. Die Differenz zwischen Poesie und Philosophie/Wissenschaft wird in dem Dialog an späterer Stelle explizit diskutiert. D’Alembert fragt Diderot nach dem Status logischer Operationen (Syllogismus, Schlussfolgerung). Diderot sagt zunächst im Sinne seines monistischen Systems, es gebe gar keine vom Menschen gezogenen Schlüsse, sondern alle stammten aus der Natur (»C’est que nous n’en tirons point: elles sont toutes tirées par la nature. Nous ne faisons qu’énoncer des phénomènes conjoints, dont la liaison est ou nécessaire ou contingente […]«)119 [Es ist so, dass wir gar keine ziehen: sie werden alle von der Natur gezogen. Wir benennen nur miteinander verbundene Sachverhalte, deren Verbindung entweder notwendig oder kontingent ist (…)]. Dann aber, als es um den Status des Analogieschlusses geht, ändert sich die Argumentation; übrigens greift Diderot bei seiner Antwort wie auch zuvor schon in seiner Rede wieder auf den Bildbereich des Instruments zurück: L’analogie, dans les cas les plus composés, n’est qu’une règle de trois qui s’exécute dans l’instrument sensible. Si tel phénomène connu en nature est suivi de tel autre phénomène connu en nature, quel sera le quatrième phénomène conséquent à un troisième, ou donné par la nature, ou imaginé à l’imitation de la nature? Si la lance d’un guerrier ordinaire a dix pieds de long, quelle sera la lance d’Ajax? […] C’est une quatrième corde harmonique et proportionnelle à trois autres dont l’animal 119

Ebd., S. 883.

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attend la résonance qui se fait toujours en lui-même, mais qui ne se fait pas toujours en nature. Peu importe au poète, il n’en est pas moins vrai. C’est autre chose pour le philosophe; il faut qu’il interroge ensuite la nature qui, lui donnant souvent un phénomène tout à fait différent de celui qu’il avait présumé, alors il s’aperçoit que l’analogie l’a séduit.120 Die Analogie ist in den komplexesten Fällen nur ein Dreisatz, den man auf dem empfindsamen Instrument anwendet. Wenn auf ein bestimmtes in der Natur bekanntes Phänomen ein bestimmtes anderes Phänomen folgt, welches wird dann das vierte auf ein drittes folgende Phänomen sein, welches entweder von der Natur vorgegeben ist oder in Nachahmung der Natur imaginiert wurde? Wenn die Lanze eines gewöhnlichen Kriegers 10 Fuß lang ist, welche Lanze wird dann Ajax haben? […] Es ist eine vierte, mit den drei anderen in harmonischem Einklang schwingende Saite, deren Resonanz das Tier als eine in ihm selbst stattfindende erwartet, die aber nicht immer in der Natur stattfindet. Das kümmert den Dichter wenig, er sagt dennoch die Wahrheit. Anders ist es für den Philosophen; er muss sodann die Natur befragen, die ihm oftmals ein Phänomen darbietet, das sich von dem erwarteten völlig unterscheidet, sodass er gewahr wird, dass er sich von der Analogie hat verführen lassen.

Wurde zunächst behauptet, man könne gar keine eigenen Schlüsse ziehen, weil die Natur einem durch notwendige oder kontingente Zusammenhänge alles vorgebe und man das Wahrgenommene dann nur noch in Sprache übersetzen müsse, heißt es nun, dass es sehr wohl einen Unterschied zwischen psychischem System und Natur gebe, insofern die im psychischen System durch das ›Schwingen der vierten Saite‹ nahegelegte Analogiebeziehung nicht unbedingt ihr Korrelat in der Außenwelt haben muss. Menschlicher Geist und Natur stehen einander jetzt dualistisch gegenüber. Nun kann eine Analogie etwas radikal Subjektives sein und für den Dichter doch wahr bleiben, im Sinne von »imaginé à l’imitation de la nature«. Der Philosoph dagegen ist der Wahrheit verpflichtet und muss daher nach externer Bestätigung seiner mithilfe von Analogieschlüssen konstruierten Hypothesen suchen. Hier zeichnet sich auf ideologischer Ebene eine deutliche Funktionstrennung von Poesie und Wissenschaft ab. Das aber steht im Gegensatz zu der auf Textebene nachweisbaren Kongruenz und Hybridisierung der beiden Diskurstypen.121 An einer späteren Stelle wird eine weitere 120 121

Ebd., S. 884. Paolo Quintili, La pensée critique de Diderot. Matérialisme, science et poésie à l’âge de l’»Encyclopédie«. 1742–1782, Paris 2001, S. 347f., spricht zu Recht vom produktiven, neues Wissen stiftenden Zusammenwirken von poetischer und philosophischer Rede bei Diderot: »La nouveauté du Rêve de d’Alembert, dans ce champ, consiste dans cette découverte: les moyens heuristiques de l’analogie, de la métaphore, de la poésie même, servent au philosophe pour arriver à concevoir le cerveau de l’homme […] comme une machine à penser, productrice de représenta-

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mögliche Relation zwischen Poesie und Philosophie angesprochen, wenn nämlich Mlle de l’Espinasse gegenüber dem Arzt Bordeu den Autor Fontenelle für eine gelungene Metapher lobt und sagt: »Pourquoi vos philosophes ne s’expriment-ils pas avec la grâce de celui-ci? nous les entendrions.«122 [Warum drücken sich Ihre Philosophen nicht mit dessen Anmut aus? Dann würden wir sie verstehen.] Dieses Modell ist uns bereits von Montesquieu bekannt, bei dem, wie wir sahen, ebenfalls die Poesie helfen soll, philosophische Gehalte zu transportieren und verstehbar zu machen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Gespräch an einem Punkt abbricht, welcher von Diderot als durchaus problematische Sackgasse gekennzeichnet wird: Er legt d’Alembert nahe, das Gespräch im Traum durchzuarbeiten und sich dabei das von ihm entworfene System zu eigen zu machen, anderenfalls nämlich müsse er »embrasser des hypothèses bien autrement ridicules«123 [Hypothesen annehmen, die auf ganz andere Weise lächerlich sind], womit immerhin impliziert ist, dass die eigenen Hypothesen selbst nicht frei von Widersprüchen sind. Im weiteren Verlauf des Textes (Rêve de d’Alembert) steht d’Alemberts Traum im Mittelpunkt. Mlle de l’Espinasse kann in der Rede des Träumenden keinen Sinn erkennen: »Non; cela avait tout l’air du délire. C’était, en commençant, un galimatias de cordes vibrantes et de fibres sensibles.«124 [Nein, das hatte alle Merkmale eines Deliriums. Am Anfang war es ein leeres Gerede von schwingenden Saiten und von empfindsamen Fasern.] Man sieht: Die beiden konstitutiven Elemente der Basismetapher werden hier wieder aufgegriffen. Der schlafende und träumende d’Alembert versucht Diderots Grundidee einer monistischen, alles Seiende verbindenden Kontinuität nachzuvollziehen. Dabei verwendet er eine weitere Metapher, nämlich die des Bienenschwarms, der aus lauter diskontinuierlichen Elementen besteht (den einzelnen Bienen) und der sich in seiner Gesamtheit doch als kontinuierliches Ganzes verhält. Diese Metapher überträgt dann der Arzt Bor-

122 123 124

tions, images, connaissances, qui sont le propre de ce que la métaphysique appelait ›âme raisonnable‹, ou bien ›esprit‹ humain.« [Das Neuartige des Rêve de d’Alembert in diesem Bereich besteht in folgender Entdeckung: Die heuristischen Mittel der Analogie, der Metapher, ja sogar der Poesie dienen dem Philosophen dazu, dass er das menschliche Gehirn (…) als eine Denkmaschine auffassen kann, welche Repräsentationen, Bilder, Erkenntnisse erzeugen kann, die die eigentliche Domäne dessen sind, was man in der Metaphysik als ›vernünftige Seele‹ oder als menschlichen ›Geist‹ bezeichnete.] (Kursivierungen im Text.) Entretien entre d’Alembert et Diderot, S. 896. Ebd., S. 884. Ebd., S. 887.

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deu auf die Organe des menschlichen Körpers, von denen er sagt: »[Tous nos organes ne] sont que des animaux distincts que la loi de continuité tient dans une sympathie, une unité, une identité générales.«125 [(All unsere Organe) sind bloß distinkte Tiere, die das Gesetz der Kontinuität in einer Sympathie, einer Einheit, einer allgemeinen Identität zueinander verknüpft hält.] Erneut sehen wir hier, wie Metaphern zu textkonstitutiven Elementen werden, die als Anknüpfungspunkte für Anschlusskommunikationen dienen. Auch Mlle de l’Espinasse, die von Bordeu in sokratischer Manier belehrt wird, verwendet im Folgenden eine textkonstitutive Metapher (sie selbst spricht von Vergleich): »Non, tenez, docteur, je vais m’expliquer par une comparaison, les comparaisons sont presque toute la raison des femmes et des poètes.«126 [Nein, hören Sie, Doktor, ich werde mich mittels eines Vergleichs erklären, die Vergleiche sind beinahe die gesamte Vernunft der Frauen und der Dichter.]127 Die Metapher, die Mlle de l’Espinasse wählt, um das Zusammenwirken von Körper und Psyche anschaulich zu machen, ist die des Spinnennetzes: »Imaginez une araignée au centre de sa toile. Ébranlez un fil, et vous verrez l’animal alerté accourir. Eh bien! si les fils que l’insecte tire de ses intestins, et y rappelle quand il lui plaît, faisaient partie sensible de luimême? …«128 [Stellen Sie sich eine Spinne inmitten ihres Netzes vor. Berühren Sie einen Faden des Netzes, und Sie werden feststellen, wie das alarmierte Tier herbeieilt. Ja, und wenn die Fäden, die das Tier aus seinen Eingeweiden hervorholt und auch wieder nach Belieben dorthin zurückziehen kann, ein empfindsamer Teil von ihm wären? …] Bordeu versteht sofort, was seine Gesprächspartnerin sagen will: »Je vous entends. Vous imaginez en vous, quelque part, dans un recoin de votre tête, celui, par exemple, qu’on appelle les méninges, un ou plusieurs points où se rapportent toutes les sensations excitées sur la longueur des fils.«129 [Ich verstehe. Sie stellen sich vor, dass irgendwo in Ihrem Inneren, in einem Winkel Ihres Kopfes, zum Beispiel in der sogenannten Gehirnhaut, einer oder mehrere Punkte sich befinden, wo alle auf der gesamten Länge der Fäden ausgelösten Empfindungen zusammenlaufen.] Das Ich entspräche also der Spinne, die Nerven dem 125 126 127

128 129

Ebd., S. 890. Ebd., S. 897f. Interessant ist hier übrigens die postulierte Äquivalenz von Frauen und Dichtern. Der ›männlichen‹ Sphäre der Wissenschaft wird dergestalt die ›weibliche‹ Sphäre der Poesie gegenübergestellt. Vgl. zu diesem Thema Christine Garbe, Die ›weibliche‹ List im ›männlichen‹ Text. Jean-Jacques Rousseau in der feministischen Kritik, Stuttgart 1992. Diderot, Entretien entre d’Alembert et Diderot, S. 900. Ebd., S. 900f.

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Spinnennetz. Das Ganze ist eine Metapher für den Organismus. Im Folgenden werden dementsprechend immer wieder die Termini Netz (»réseau«), Bündel (»faisceau«, »écheveau«) und Faden (»fil«, »brin«) verwendet.130 Auch ohne eine detaillierte Analyse der Argumentation erkennt man in dieser Art von Metaphernverwendung das textkonstitutive Prinzip. Der Text reflektiert seinen eigenen Status, etwa wenn Bordeu die Oberflächlichkeit des Gesprächs beklagt (»on effleure tout, et l’on n’approfondit rien«)131 und Mlle de l’Espinasse ihm antwortet: »Qu’importe? nous ne composons pas, nous causons.«132 [Was tut es zur Sache? Wir schreiben ja nicht, wir unterhalten uns.] Damit ist der Unterschied zwischen einer streng wissenschaftlichen Diskursform (»composer«) und der von Diderot gewählten (»causer«) beim Namen genannt. Der Gesprächscharakter wird auch durch die kurz darauf hervorgehobene Lust am Erzählen markiert. Schließlich sprechen die Beteiligten (unter ihnen nun auch der aus seinem Traum erwachte d’Alembert) über die Imagination, welche Bordeu als »mémoire des formes et des couleurs« (also als konkret-sinnliche Form der Erinnerung) bezeichnet, worauf d’Alembert moniert, dass die Imagination die Wirklichkeit entstelle. Bordeu ordnet sie daraufhin dem Bereich der Poesie zu (vgl. hierzu auch die aus der Encyclopédie bekannte Zuordnung von »imagination« und »poésie«). Nun stellt d’Alembert die Frage, wie es denn dazu komme, dass Dichtung oder Lüge sich in die Erzählung einschlichen. Bordeus Antwort lautet: »Par les idées qui se réveillent les unes les autres, et elles se réveillent parce qu’elles ont toujours été liées. Si vous avez pris la liberté de comparer l’animal à un clavecin, vous me permettrez bien de comparer le récit du poète au chant.«133 [Durch die Ideen, die sich wechselseitig aufrufen, und sie rufen sich auf, weil sie immer schon miteinander verbunden waren. Wenn Sie sich die Freiheit genommen haben, das Tier mit einem Cembalo zu vergleichen, dann werden Sie mir wohl gestatten, die Erzählung des Dichters mit dem Gesang zu vergleichen.] So wie die Musik nach den ihr eigenen Harmoniegesetzen funktioniere, verhalte es sich auch bei der Dichtung. Diese kann also gar nicht die Wirklichkeit getreu wiedergeben, weil sie einer kunstspezifischen Eigenlogik gehorcht. Diese Art von Eigenlogik aber konnten wir die ganze Zeit über in Diderots Dialog selbst beobachten; ihr sichtbarstes Zeichen war die spezifische Metaphernverwendung (mit dem doppelten Effekt der Verschmelzung von poetischem und wissenschaftlichem Diskurs 130 131 132 133

Zum Beispiel ebd. S. 906, 910, 919, 925, 926, 930f. Ebd., S. 921. Ebd. Ebd., S. 931.

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und der Autopoiesis des Textes).134 Wenn nun am Ende gar gesagt wird, dass das Verstehen stets unvollkommen sei (»[…] nous n’entendons jamais précisément, nous ne sommes jamais précisément entendus; il y a du plus ou du moins en tout: notre discours est toujours en deçà ou au delà de la sensation.«)135 [(…) wir verstehen niemals genau, wird werden niemals genau verstanden; in allem ist ein Zuviel oder ein Zuwenig: unsere Rede ist immer diesseits oder jenseits der Empfindung.], wenn also die Möglichkeit des vollkommenen Verstehens negiert wird, dann entzieht der Text der philosophisch-wissenschaftlichen Kommunikation die Grundlage. Dann bleibt als Diskursalternative konsequenterweise nur die Poesie übrig, eben jene Form, die auch Diderot gewählt hat. Allerdings handelt es sich nicht um die ›reine‹ Poesie, sondern um eine hybride Vermischung von Poesie und Philosophie beziehungsweise Wissenschaft. 2.5.2 Jacques le fataliste als Dekonstruktion der Grundoppositionen des »systême des connoissances humaines« Nicht nur in seinen Dialogen inszeniert Diderot eine Begegnung von wissenschaftlich-philosophischer mit poetischer Rede, sondern auch in seinem Roman Jacques le fataliste, der nun zu betrachten ist.136 Der Roman war zwar im 18. Jahrhundert, einer Zeit des expandierenden Buchdrucks und der zunehmenden Alphabetisierung, bereits eine weitverbreitete und beliebte Gattung, doch stand er offiziell in schlechtem Ansehen. So sagt Diderot in seiner Schrift Éloge de Richardson (1761): »Par un roman, on a entendu jusqu’à ce jour 134

135 136

Zu diesem aus der Biologie stammenden Begriff vgl. Humberto Maturana, »Autopoiesis«, in: Milan Zeleny (Hg.), Autopoiesis. A Theory of Living Organization, New York/Oxford 1981, S. 21–33. Maturana definiert autopoietische Systeme als »networks of productions of components that (1) recursively, through their interactions, generate and realize the network that produces them; and (2) constitute, in the space in which they exist, the boundaries of this network as components that participate in the realization of the network« (S. 21). Zur Übertragung des Autopoiesisbegriffs auf die Beschreibung sozialer Systeme siehe Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, hg. v. Dirk Baecker, Darmstadt 2003, S. 100–118. Siehe auch die diesbezüglichen Ausführungen oben in Kap. 1.4.1. Diderot, Entretien entre d’Alembert et Diderot, S. 933. Ich knüpfe im Folgenden an Überlegungen an, die ich in einem anderen Zusammenhang publiziert habe, und erweitere beziehungsweise perspektiviere sie auf das Thema dieser Untersuchung; vgl. Thomas Klinkert, »Codification et déconstruction. Jacques le Fataliste de Diderot«, in: Gernot Kamecke/Jacques Le Rider (Hg.), La Codification: perspectives transdisciplinaires, Paris/Genève 2007, S. 147–159.

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un tissu d’événements chimériques et frivoles, dont la lecture était dangereuse pour le goût et pour les mœurs.«137 [Unter einem Roman verstand man bisher ein Geflecht aus chimärenhaften und frivolen Ereignissen, welches zu lesen für den Geschmack und die Sitten gefährlich war.] Diese offizielle Abwertung des Romans äußert sich auch darin, dass die »philosophes« ihre Romane oder Erzählungen häufig anonym publizierten (zum Beispiel Montesquieu, Lettres persanes, Voltaire, Candide). Einer der Gründe, weshalb der Roman keine offiziell anerkannte Gattung war, ist die Tatsache, dass er in der Poetik des Aristoteles nicht vorkommt. Da die auch im 18. Jahrhundert noch sehr mächtige Imitationspoetik, die ihren Höhepunkt in der französischen Klassik erreicht hatte, im Wesentlichen auf Aristoteles fußt, ist es folgerichtig, dass sich für den Roman ein Problem ergibt. Für ihn ist kein Platz im offiziell kanonisierten System der Gattungen. Die fehlende Berücksichtigung des Romans im offiziellen Gattungssystem ist auch der Grund dafür, weshalb es anders als für die Tragödie oder das Epos keine formalen Regeln zur Gestaltung eines Romans gibt.138 Daraus resultiert die Strukturlosigkeit der Gattung, welche zum Beispiel in folgendem Zitat aus Diderots Jacques le fataliste angesprochen wird: »Et votre Jacques n’est qu’une insipide rapsodie de faits les uns réels, les autres imaginés, écrits sans grâce et distribués sans ordre.«139 [Und Ihr Jacques ist nichts als eine fade Rhapsodie von teils realen, teils ausgedachten Ereignissen, welche ohne Anmut niedergeschrieben und ohne Ordnung zusammengefügt wurden.]

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Diderot, Œuvres, S. 1059–1074, hier S. 1059. In seinem Traité de l’origine des romans (1671) definiert Huet den Roman folgendermaßen: »[…] ce que l’on appelle proprement Romans, sont des histoires feintes d’aventures amoureuses, écrites en prose avec art, pour le plaisir et l’instruction des lecteurs.« [(…) was man eigentlich als Romane bezeichnet, das sind erfundene Geschichten, die von Liebesabenteuern handeln, kunstvoll in Prosa geschrieben zum Zweck der Unterhaltung und der Belehrung der Leser.] (Zitiert nach: Yvon Belaval, »Préface«, in: Denis Diderot, Jacques le Fataliste et son maître, hg. v. Yvon Belaval, Paris 2002, S. 11.) Diese Definition könnte insofern Verwirrung stiften, als in ihr von »art« die Rede ist und damit implizit von Regeln. Doch Huet präzisiert seinen Gedanken: »Il faut qu’elles soient écrites avec art, et sous de certaines règles; autrement ce sera un amas confus, sans ordre et sans beauté.« [Sie müssen kunstvoll geschrieben sein unter Befolgung bestimmter Regeln; sonst handelt es sich um eine unförmige Masse, ohne Ordnung und ohne Schönheit.] Die Forderung, »certaines règles« zu verwenden, um einen Text zu verfassen, der sich durch »ordre« und »beauté« auszeichnet, lässt keinesfalls die Schlussfolgerung zu, dass der Roman einer ähnlich rigiden Kodifizierung unterworfen war wie etwa die Tragödie. Diderot, Jacques le fataliste et son maître, in: Œuvres, S. 475–711, hier S. 656.

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Nun waren zwar die philosophes keineswegs ›orthodoxe‹ Verfechter der doctrine classique – selbst wenn etwa Voltaire klassizistische Tragödien und Epen schrieb. Sie hatten aber mit dem Roman ein anderes Problem: Romanlektüre ist ein privates, häufig eskapistisches Vergnügen, der Leser sucht nach Zerstreuung; »[…] man wandelt in einer in sich geschlossenen, sinnkonsistenten Welt, die unabhängig von der eigenen funktioniert und die man beliebig und konsequenzlos – mit dem Aufschlagen des Buches – betreten und auch wieder verlassen darf […]«.140 Beliebigkeit, Konsequenzlosigkeit und Unverbindlichkeit aber stehen im Konflikt mit den Zielen der Aufklärer, die ihre Leser belehren und erziehen wollen. Daher gehört der Roman im Prinzip zu ihren Feindbildern. Belehrung und Erziehung kann sich nun allerdings der Möglichkeiten des Romans durchaus bedienen, wie Diderot am Beispiel des von ihm bewunderten englischen Romanciers Richardson zeigt. Dessen Werke beruhen Diderot zufolge nicht auf einem »tissu d’événements chimériques et frivoles«, sondern sie »élèvent l’esprit, […] touchent l’âme, […] respirent partout l’amour du bien«141 [erheben den Geist, (…) berühren die Seele, (…) verströmen überall die Liebe zum Guten]. Sie erziehen also zur Tugend, indem sie vorbildhaftes Handeln und sein Gegenteil so lebhaft und eindringlich darstellen, dass der Leser sich mit den moralisch positiven Figuren identifiziert und durch die Lektüre an Erfahrung gewinnt. Die identifikatorische Wirkung dieser Romane beruht vor allem, so Diderot, darauf, dass sie nicht in einer Märchenwelt angesiedelt sind, sondern in einer uns vertrauten Wirklichkeit: Cet auteur ne fait point couler le sang le long des lambris; il ne vous transporte point dans des contrées éloignées; il ne vous expose point à être dévoré par des sauvages; il ne se renferme point dans des lieux clandestins de débauche; il ne se perd jamais dans les régions de la féerie. Le monde où nous vivons est le lieu de la scène; le fond de son drame est vrai; ses personnages ont toute la réalité possible; ses caractères sont pris du milieu de la société; ses incidents sont dans les mœurs de toutes les nations policées; les passions qu’il peint sont telles que je les éprouve en moi; ce sont les mêmes objets qui les émeuvent, elles ont l’énergie que je leur connais; les traverses et les afflictions de ses personnages sont de la nature de celles qui me menacent sans cesse; il me montre le cours général des choses qui m’environnent. Sans cet art, mon âme se pliant avec peine à des biais chimériques, l’illusion ne serait que momentanée et l’impression faible et passagère.142

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Klaus Dirscherl, Der Roman der Philosophen. Diderot – Rousseau – Voltaire, Tübingen 1985, S. 4. Diderot, Éloge de Richardson, S. 1059. Ebd., S. 1060f.

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert Dieser Autor lässt kein Blut an den Wänden herabfließen; er entführt einen nicht in entlegene Weltgegenden; er bringt einen nicht in die Gefahr, von Wilden verspeist zu werden; er schließt sich nicht in geheime Gemächer der Ausschweifung ein; er verliert sich niemals im Märchenland. Die Welt, in der wir leben, ist seine Bühne; seine Handlung ist im Grunde wahr; seine Personen besitzen die größtmögliche Wirklichkeit; seine Charaktere kommen aus der Mitte der Gesellschaft; die von ihm erzählten Vorfälle entsprechen den Sitten der zivilisierten Nationen; die von ihm dargestellten Leidenschaften sind so wie diejenigen, die ich in mir selbst verspüre; sie werden durch die gleichen Gegenstände hervorgerufen und haben die Stärke, die auch mir bekannt ist; was seine Personen behindert und bedrückt, ist genau so beschaffen wie das, was mich andauernd bedroht; er zeigt mir den allgemeinen Lauf der Dinge, von denen ich umgeben bin. Ohne diese Kunst würde meine Seele sich nur mit Mühe den chimärenhaften Umwegen der Handlung fügen, und die Illusion wäre nur momenthaft, so wie der Eindruck schwach und vorübergehend wäre.

Das eskapistische Moment vieler Romane wird hier gebrandmarkt (sensationslüsterne Handlung, exotischer Schauplatz, Märchenhaftigkeit), und ihm wird die Wirklichkeitsnähe von Richardson entgegengestellt (Schlüsselbegriffe sind hier unter anderem: »vrai«, »toute la réalité possible«, »mœurs de toutes les nations policées«). Dies klingt wie eine Vorwegnahme der Balzac’schen Romanästhetik, mit der wir uns später noch ausführlich beschäftigen werden. Doch der Schein trügt. Während Balzac tatsächlich die zeitgenössische Wirklichkeit in all ihren Facetten darstellen möchte und sich dabei von der Vermittlung moralischer Prinzipien zunehmend entfernt, geht es Diderot in erster Linie um die Vermittlung ebensolcher Prinzipien, wobei die Wirklichkeitsnähe nur eine unterstützende Funktion hat. Bei Balzac, so kann man sagen, dominiert also die referentielle Funktion, bei Diderot dagegen die appellative. Man sieht, dass Diderots Einstellung zum Roman ambivalent ist. Im Prinzip lehnt er ihn ab. Doch zugleich bewundert er die ihm gegebene Möglichkeit, seine Leser durch emotionale Identifikationsangebote zu gewinnen. Dieses Potential will Diderot – und mit ihm die anderen Aufklärer – nicht ungenutzt lassen. Ausdruck dieses Versuchs, sich die Romangattung zu pädagogischen Zwecken nutzbar zu machen, ist der sogenannte roman (beziehungsweise conte) philosophique. In Texten wie den Lettres persanes, Zadig, Candide, La Nouvelle Héloïse, Jacques le fataliste werden philosophisch-wissenschaftliche Inhalte auf unterhaltsame Art und Weise, transponiert ins Medium der romanesken Fiktion, vermittelt. Dies geschieht naturgemäß nicht ohne Verschiebungen auf beiden Seiten. Am Beispiel von Jacques le fataliste möchte ich im Folgenden die Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Intention aufzeigen. Es geht um das Spannungsverhältnis zwischen philosophisch-wissenschaftlichem, historiographischem und literarischem

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Diskurs, welches in Diderots Roman nicht nur auf der Handlungs- und der Diskursebene manifest, sondern zudem auf der Kommentarebene reflektiert wird.143 Jacques le fataliste et son maître entstand sehr wahrscheinlich hauptsächlich in den Jahren 1773–75; eine erste, kürzere Fassung des Textes muss bereits im Jahr 1771 vorgelegen haben. Der Text wurde erstmals zwischen 1778 und 1780 in der Correspondance littéraire publiziert, einer von Melchior Grimm herausgegebenen, handschriftlich verbreiteten Zeitschrift, deren Hauptzielpublikum europäische und speziell deutsche Fürsten und Adlige waren, die Neuigkeiten aus Paris erfahren wollten. Zwischen November 1778 und Juni 1780 erschien Diderots Text in fünfzehn Lieferungen. Der verantwortliche Herausgeber Jacques-Henri Meister (Grimms Stellvertreter) nahm zahlreiche, zum Teil sinnentstellende Kürzungen vor, die erst später wieder restituiert wurden. In Buchform erschien der Roman erstmals 1796. Die Rezeption in Frankreich war sehr verhalten, man diskutierte die philosophische Dimension des Fatalismus, ohne die narrativen Innovationen in ihrem Wert zu erkennen. In Deutschland dagegen fiel der Text auf fruchtbareren Boden. Goethe äußerte sich 1780 sehr zustimmend, Friedrich Schlegel bezeichnet den Text als (romantische) Arabeske, Hegel entwickelt in der Auseinandersetzung mit Diderot seine Dialektik von Herr und Knecht.144 Die äußeren Daten der Publikations- und Rezeptionsgeschichte lassen schon vermuten, dass es sich um einen ungewöhnlichen Text handeln muss, der in mehrfacher Hinsicht mit den Konventionen des Romans im 18. Jahrhundert bricht. Diese Vermutung bestätigt sich sogleich, wenn man den Beginn des Textes betrachtet:

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Siegfried Jüttner, »Heuristisches Erzählen. Zur Analyse des Jacques le Fataliste et son Maître von Diderot« (1978), in: Jochen Schlobach (Hg.), Denis Diderot, Darmstadt 1992, S. 274–306, vertritt die Auffassung, dass Jacques le fataliste ein Fall exploratorischen Erzählens sei. »Jacques le Fataliste et son Maître trägt Grundzüge eines exploratorischen Experimentes. Dieses Erzählwerk ist in der Tiefe geprägt durch ein wissenschaftlich hypothetisches Fragen im Spielraum romanesker Fiktion. In der methodischen Analogie zur Naturphilosophie Diderots liegt der strukturierende Quellgrund des Jacques le Fataliste.« (S. 275) Zur Rezeptionsgeschichte des Romans vgl. den Überblick in Denis Diderot, Jacques le fataliste, hg. v. Pierre Chartier, Paris 2000, S. 376–383. – Zu dem höchst komplexen Verhältnis zwischen Goethe und Diderot am Beispiel von Le neveu de Rameau vgl. Günter Oesterle, »Goethe und Diderot: Camouflage und Zynismus. Rameaus Neffe als deutsch-französischer Schlüsseltext«, in: Alexander von Bormann (Hg.), Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, Würzburg 1998, S. 117–135.

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert Comment s’étaient-ils rencontrés? Par hasard, comme tout le monde. Comment s’appelaient-ils? Que vous importe? D’où venaient-ils? Du lieu le plus prochain. Où allaient-ils? Est-ce que l’on sait où l’on va? Que disaient-ils? Le maître ne disait rien; et Jacques disait que son capitaine disait que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici-bas était écrit là-haut. Le Maître. – C’est un grand mot que cela. Jacques. – Mon capitaine ajoutait que chaque balle qui partait d’un fusil avait son billet. Le Maître. – Et il avait raison …145 Wie waren sie einander begegnet? Durch Zufall, wie alle Menschen. Wie hießen sie? Was geht Sie das an? Von woher kamen sie? Vom nächstgelegenen Ort. Was war ihr Ziel? Weiß man denn, wohin die Reise geht? Was sagten sie? Der Herr sagte nichts; und Jacques sagte, sein Hauptmann habe immer gesagt, dass alles, was uns hienieden an Gutem und Bösem widerfahre, dort oben geschrieben stehe. Der Herr. – Das ist ein großes Wort. Jacques. – Mein Hauptmann pflegte hinzuzufügen, dass jeder Kugel, die von einem Gewehr abgefeuert werde, eine Adresse beigefügt sei. Der Herr. – Und er hatte recht damit …

An diesem Beginn wird der Konventionsbruch geradezu programmatisch inszeniert. Der Erzähler führt einen Dialog mit einem fiktionsinternen Leser, der all jene Fragen stellt, auf die der reale Leser eines Romans billigerweise eine Antwort erwarten darf: Es geht um die Identität der handelnden Figuren (»Comment s’appelaient-ils?«), ihre Vorgeschichte (»Comment s’étaient-ils rencontrés?«, »D’où venaient-ils?«), das Ziel ihrer Handlung (»Où allaient-ils?«). Auf all diese berechtigten Fragen verweigert der Erzähler aber die Antwort, indem er sich in allgemeine Floskeln flüchtet (»Par hasard, comme tout le monde«, »Est-ce que l’on sait où l’on va?«), Binsenweisheiten verkündet (»Du lieu le plus prochain«) oder den fiktiven Leser direkt provoziert, indem er ihm das Recht abspricht, solche Fragen überhaupt zu stellen (»Que vous importe?«). Damit signalisiert der Text, dass er die üblichen Fragen keinesfalls zu beantworten gedenkt. Die einzige Antwort, die gegeben wird, eröffnet ein weiteres Feld von Fragen: »Le maître ne disait rien; et Jacques disait que son capitaine disait que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici-bas était écrit là-haut.« Zwar erhält hier erstmals im Text das bisher kataphorisch verwendete Personalpronomen »ils« eine Referenz, die auf die beiden im Titel des Werks genannten Figuren zurückweist. Doch sogleich ergeben sich wieder Anomalien und Asymmetrien, denn nur der Diener Jacques besitzt einen Namen, sein Herr dagegen nicht – was sich auch bis zum Ende des Textes nicht ändern wird und was die gesellschaftlichen Hierarchieverhältnisse umkehrt. Dazu passt, dass Jacques redet, der Herr da145

Diderot, Jacques le fataliste, S. 475.

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gegen hauptsächlich zuhört. Schließlich wird noch eine dritte, abwesende Figur eingeführt, nämlich Jacques’ Hauptmann. Und ausgerechnet dieser mysteriöse Hauptmann scheint die Quelle und der Garant des im Titel Jacques zugeschriebenen Fatalismus zu sein (»que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici-bas était écrit là-haut«). Der danach wiedergegebene Dialog zwischen Jacques und seinem Herrn sieht aus, als entstammte er einem dramatischen Text, es findet also scheinbar ein Gattungswechsel statt: Mitten im narrativen Text taucht plötzlich ein Stück dramatischer Text auf. Aus dem Folgenden geht hervor, dass Jacques gegenüber seinem Herrn die Rolle des Erzählers spielt, während der Herr die des Zuhörers übernimmt. Die beiden Partner der narrativen Kommunikation werden also im Text gedoppelt: Zum einen haben wir (auf extradiegetischer Ebene) den Erzähler und den fiktiven Leser, zum anderen haben wir (auf intradiegetischer Ebene) Jacques und seinen Herrn. Indem der Text zum einen die Instanzen der narrativen Kommunikation so deutlich markiert und indem er zum anderen die Prämissen der Informationsvergabe (Neugierde des Lesers, auf die der Erzähler in irgendeiner Form reagiert) sichtbar macht, indem er schließlich das übliche Funktionieren solcher Kommunikation behindert, legt der Text die von Erzähltexten üblicherweise verwendeten Verfahren bloß und führt sie zugleich ad absurdum. Er deautomatisiert die narrative Kommunikation und lenkt damit die Aufmerksamkeit von der histoire-Ebene auf die Ebene der narrativen Vermittlung. Damit wird der Text zum Metaroman, dessen primärer Gegenstand weniger die erzählte Geschichte als vielmehr das Erzählen von Geschichten ist.146 Solche Deautomatisierung wird im Folgenden auch durch die zahllosen Unterbrechungen und Wechsel der Erzählebenen bewirkt. Die Unterbrechungen signalisieren deutlich: Es geht nicht primär um die Geschichten, sondern vielmehr um eine Reflexion auf den Vermittlungsvorgang. Allerdings geht es auf einer sekundären Ebene dann auch wieder um die Inhalte der erzählten Geschichten, wie wir noch sehen werden. Ein solcher Text erfordert eine hohe Frustrationstoleranz auf Seiten des realen Lesers. Dieser muss bereit sein, sich irritieren zu lassen, er muss die Volten und Kehrtwendungen des Textes mitmachen, und er muss sich kognitiv-intellektuell mit den im Text (indirekt und in gebrochener Form) gestellten philosophischen Fragen auseinandersetzen. 146

Vgl. hierzu Rainer Warning, »Opposition und Kasus. Zur Leserrolle in Diderots Jacques le fataliste et son maître«, in: ders. (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis (1975), München 21979, S. 467–493, hier S. 472: »Diderots Beitrag zum Roman der Aufklärung ist Aufklärung des Lesers über den Umgang mit Fiktionen.«

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Wir haben gesehen, dass Diderots Kritik am herkömmlichen Roman auf dessen Entfernung von der Alltagswirklichkeit, auf seiner Märchenhaftigkeit und Unwahrscheinlichkeit beruht. Auch in Jacques le fataliste wird eine solche Kritik geübt. Schon auf der zweiten Seite des Textes kommt es zu einem unvorhergesehenen Zwischenfall: Jacques beginnt mit der Erzählung seiner Liebesgeschichte (dabei ist auch zu bedenken, dass die Liebesgeschichte ein geradezu gattungskonstitutives Element ist, welches hier durch die ständigen Unterbrechungen und durch Jacques’ umständliche Erzählweise auf ironische Distanz gebracht wird).147 Während Jacques erzählt, schläft sein Herr ein und wacht erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder auf. Voller Zorn stürzt der Herr sich auf seinen Diener und schlägt ihn mit der Peitsche. An dieser Stelle schaltet sich der Erzähler ein und wendet sich in einer Apostrophe an seinen fiktiven Leser: Vous voyez, lecteur, que je suis en beau chemin, et qu’il ne tiendrait qu’à moi de vous faire attendre un an, deux ans, trois ans, le récit des amours de Jacques, en le séparant de son maître et en leur faisant courir à chacun tous les hasards qu’il me plairait. Qu’est-ce qui m’empêcherait de marier le maître et de le faire cocu? d’embarquer Jacques pour les îles? d’y conduire son maître? de les ramener tous les deux en France sur le même vaisseau? Qu’il est facile de faire des contes!148 Sie sehen, mein Leser, dass ich auf gutem Wege bin und dass es nur an mir läge, Sie ein, zwei, drei Jahre auf die Erzählung von Jacques’ Liebesgeschichten warten zu lassen, indem ich ihn von seinem Herrn trennte und indem ich beide nach meinem 147

148

Dies wird im Text selbst auch ironisch reflektiert: »Et puis, lecteur, toujours des contes d’amour; un, deux, trois, quatre contes d’amour que je vous ai faits; trois ou quatre autres contes d’amour qui vous reviennent encore: ce sont beaucoup de contes d’amour. Il est vrai d’un autre côté que, puisqu’on écrit pour vous, il faut ou se passer de votre applaudissement, ou vous servir à votre goût, et que vous l’avez bien décidé pour les contes d’amour. […] Vous êtes aux contes d’amour pour toute nourriture depuis que vous existez, et vous ne vous en lassez point. L’on vous tient à ce régime et l’on vous y tiendra longtemps encore, hommes et femmes, grands et petits enfants, sans que vous vous en lassiez. En vérité, cela est merveilleux.« (Diderot, Œuvres, S. 622) [Und dann, mein Leser, immer diese Liebesgeschichten; eine, zwei, drei, vier Liebesgeschichten, die ich Ihnen schon erzählt habe; drei oder vier weitere Liebesgeschichten, die Ihnen noch bevorstehen: das macht am Ende viele Liebesgeschichten. Auf der anderen Seite ist es so, dass man, da man nun einmal für Sie schreibt, entweder auf Ihren Applaus verzichten oder Sie gemäß Ihrem Geschmack bedienen muss; und Ihr Geschmack ist nun einmal dezidiert auf Liebesgeschichten ausgerichtet. (…) Seitdem Sie leben, dienen Ihnen die Liebesgeschichten als einzige Nahrung, und niemals werden Sie ihrer überdrüssig. Man setzt Sie auf diese Diät, und das wird noch lange so dauern, Männer und Frauen, große und kleine Kinder, ohne dass es Ihnen zu viel wird. Dies ist wahrhaft wundersam.] Ebd., S. 476.

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Gutdünken allen möglichen Zufällen aussetzte. Was könnte mich daran hindern, den Herrn heiraten zu lassen und ihn zum Gehörnten zu machen? Jacques auf die Inseln zu schicken? Auch seinen Herrn dorthin zu führen? Alle beide auf demselben Schiff nach Frankreich zurückzubringen? Wie leicht ist es doch, sich Geschichten auszudenken!

Gegenstand dieser Apostrophe ist die dem Erzähler prinzipiell gegebene Möglichkeit, sich eine Geschichte nach eigener Willkür auszudenken, seine absolute Verfügungsgewalt über die erzählte Geschichte (Fiktionskriterium). Solche Willkür der Erfindung soll, wie hier mitgeteilt wird, den Leser auf die Folter spannen, indem das von ihm gewünschte Ziel (»le récit des amours de Jacques«) möglichst lange (»un an, deux ans, trois ans«) hinausgezögert wird. Die Willkür wird kritisiert, weil sie mit bestimmten haarsträubenden Zufällen (»tous les hasards qu’il me plairait«) arbeitet; genannt werden typische Handlungselemente des im Unterhaltungsbereich dominanten hellenistischen Liebes- und Abenteuerromans,149 allerdings mit der charakteristischen Verschiebung, dass in dem virtuellen Szenario nicht die Liebenden getrennt werden, sondern diejenigen, die sich Liebesgeschichten erzählen; erneut zeigt sich hier der metaliterarische Charakter des Textes, seine gesteigerte Komplexität, die aus der reflexiven Doppelung von Erzähltem und Erzählakt resultiert. Solches der Willkür der Erfindung folgende und somit unwahrscheinliche, wirklichkeitsferne, abenteuerhafte Erzählen wird mit dem Terminus »conte« belegt und explizit abgewertet: »Qu’il est facile de faire des contes!« Wenn der Erzähler solches Erzählen fiktiver Geschichten hier kritisiert, so bedeutet das, dass er offenbar für sich eine andere Art des Erzählens reklamiert. Der Gegenbegriff zu »conte« fällt an einer späteren Stelle, er lautet: »la vérité de l’histoire«.150 Zum wiederholten Male hat der Erzähler ein virtuelles Szenario abenteuerlich-romanesker Handlung entworfen. Diesmal geht es um die Möglichkeit, dass jene Räuber, die von Jacques am Abend zuvor in einer Herberge entwaffnet und eingesperrt wurden, jetzt mit Stangen und Mistgabeln bewaffnet Jacques und seinen Herrn verfolgen könnten. Der Erzähler macht dem Leser gewissermaßen den Mund wässrig, um ihn dann aber zu enttäuschen: »Vous allez croire que cette petite armée tombera sur Jacques et son maître, qu’il y aura une action sanglante, des coups de bâton donnés, des coups de pistolet tirés; et il ne tiendrait qu’à moi que tout cela n’arrivât; mais adieu la vérité de l’histoire, adieu le récit des amours de 149

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Zur Bedeutung des hellenistischen Romanmodells als Negativfolie für Jacques le fataliste vgl. Rainer Warning, Illusion und Wirklichkeit in Tristram Shandy und Jacques le Fataliste, München 1965, S. 80. Jacques le fataliste, S. 484.

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Jacques.«151 [Sie werden vermuten, dass diese kleine Armee Jacques und seinen Herrn überfallen wird, dass es zu einer blutigen Auseinandersetzung kommt, zu Stockschlägen, zu einer Schießerei; und es läge nur an mir, das alles eintreffen zu lassen; aber wo bliebe dann die Wahrheit der Geschichte, wo bliebe Jacques’ Liebesgeschichte?] Mit anderen Worten: Wollte der Erzähler die Erwartungen des auf Abenteuerromane eingestellten Lesers erfüllen, müsste er die Wahrheit der Geschichte opfern und Handlungselemente erfinden, die sich so nicht zugetragen haben oder aber nicht belegt sind beziehungsweise von denen ihm die Kenntnis fehlt: »Nos deux voyageurs n’étaient point suivis: j’ignore ce qui se passa dans l’auberge après leur départ.«152 [Unsere beiden Reisenden wurden nicht verfolgt: ich weiß nicht, was in der Herberge nach ihrem Aufbruch passierte.] Der Erzähler gibt somit vor, eine Geschichte zu erzählen, die sich tatsächlich zugetragen hat, die faktisch wahr ist; im Folgenden beruft er sich auch immer wieder auf eine Quelle, ein Manuskript, dem er angeblich getreu folgt. Die zugrundeliegende Opposition lautet also »conte« vs. »histoire« beziehungsweise Dichtung vs. Geschichtsschreibung. Dies ist ein uralter Gegensatz, der schon in der Poetik des Aristoteles thematisiert wird. Dort heißt es: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.153

Während bei Aristoteles die Dichtung als der Bereich des Allgemeinen gegenüber der Geschichtsschreibung als dem Bereich des Besonderen höher bewertet wird, ist es nun aber in Jacques le fataliste genau umgekehrt. Hier wird der Bereich des Fiktiven (und somit der Dichtung) aufgrund der ihm angeblich innewohnenden Willkür geringer bewertet als der Bereich der der belegbaren Wahrheit folgenden Geschichtsschreibung. Allerdings muss man bedenken, dass Aristoteles von der Prämisse ausgeht, dass Dichtung bestimmten Geset151 152 153

Ebd., S. 484. Ebd. 1451a/1451b; Kap. 9, zit. nach: Aristoteles, Poetik. Griechisch/deutsch, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 29.

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zen und Regeln folgt – eben jenen »Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit«, die Aristoteles zufolge vor allem in der Tragödie zur Anwendung kommen. Wenn Diderots Erzähler von den der Willkür gehorchenden »hasards« seiner Erfindung spricht, so meint er offenbar eine ganz andere Form von Dichtung als Aristoteles, nämlich eine Dichtung, die aufgrund des Fehlens von allgemeinen Gesetzen geringer bewertet werden muss als die Wahrheit der Geschichtsschreibung. Indes soll es in unserer Betrachtung weniger um den Vergleich zwischen Aristoteles und Diderot gehen – dieser ist zwar wichtig, allerdings mehr im Hinblick auf eine erste Annäherung an das Problem und auf dessen Einreihung in eine alte Tradition –, als vielmehr um eine Verortung von Jacques le fataliste im Wissenssystem des 18. Jahrhunderts. Wir erinnern uns, dass im System der »connaissances humaines« der Encyclopédie von den drei »facultés« des Menschen (»mémoire«, »raison«, »imagination«) drei Disziplinen abgeleitet wurden: die Geschichtsschreibung, die Philosophie beziehungsweise Wissenschaft und die Dichtung. Zwei dieser drei Disziplinen, nämlich die Geschichtsschreibung und die Dichtung, werden, wie wir gesehen haben, in Jacques le fataliste von Beginn an in eine explizite Opposition zueinander gestellt. Der Erzähler betont immer wieder, dass er keinen Roman schreibe, er distanziert sich von den willkürlichen und haarsträubenden Erfindungen der Romanciers und nimmt für sich selbst in Anspruch, wie ein Historiograph allein der durch Quellen belegten Wahrheit einer Geschichte, die sich tatsächlich zugetragen hat, verpflichtet zu sein. Um den Eindruck von Authentizität hervorzurufen, zitiert er immer wieder den Erwartungshorizont des typischen Romanlesers, den er dann systematisch unterläuft.154 Indem er das Gegenteil dessen erzählt, was der Leser fiktiver Geschichten erwartet, entsteht das, was man mit einem Begriff von Roland Barthes als »effet de réel« bezeichnen kann.155

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Zum Konzept des Erwartungshorizonts vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970, S. 144–207, hier S. 173f. Roland Barthes, »L’effet de réel« (1968), in: Œuvres complètes, hg. v. Éric Marty, Bd. II (1966–1973), Paris 1994, S. 479–484. Barthes stellt den realistischen »effet de réel« dem herkömmlichen »vraisemblable« gegenüber. Das »détail concret«, welches sich in realistischen Texten von Flaubert oder Michelet finden lasse (etwa ein Barometer oder eine Tür, die für die eigentliche Handlung keinerlei Bedeutung haben), habe keine erzählstrukturelle Funktion, sondern bezeichne konnotativ nichts anderes als die Dimension des Realen. Etwas anders verwende ich den Begriff »effet de réel« im vorliegenden Zusammenhang, denn hier entsteht die »illusion référentielle« (Barthes, S. 484) nicht durch das »détail concret«, sondern durch die Durchbrechung des Erwartungshorizontes.

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Gerade dadurch aber bleibt der Text insgesamt konstitutiv bezogen auf den Horizont der Dichtung beziehungsweise der Literatur. Entsprechend ambivalent erweist sich bei näherem Hinsehen das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung. Man betrachte etwa folgende Stelle: »Il est bien évident que je ne fais pas un roman, puisque je néglige ce qu’un romancier ne manquerait pas d’employer. Celui qui prendrait ce que j’écris pour la vérité, serait peut-être moins dans l’erreur que celui qui le prendrait pour une fable.«156 [Es ist offenkundig, dass ich keinen Roman schreibe, nachdem ich ja das, was ein Romanautor nicht umhin könnte auszuschlachten, nicht weiter beachte. Wer das, was ich schreibe, für die Wahrheit hielte, würde vielleicht weniger irren als der, welcher es für eine Fabel hielte.] Im ersten Satz findet sich die ganz kategorische Distanzierung vom Roman und somit von der Fiktion, der zweite Satz, der als argumentative Unterfütterung dienen sollte, überführt die Opposition Wahrheit (»vérité«) vs. Dichtung (»fable«) jedoch in Ambivalenz. Anstatt dass nämlich, wie zu erwarten wäre, der Irrtum eindeutig denjenigen zugeschrieben würde, die die Geschichte von Jacques und seinem Herrn für eine Fabel halten, wird er auf beide Gruppen – zu ungleichen Teilen – verteilt. Außerdem wird der Wahrheitsgehalt der Aussage noch durch den Einschub von »peut-être« modalisiert. Mit anderen Worten: Wer Jacques le fataliste für eine Erfindung hält, ist vielleicht im Irrtum, wer es für die Wahrheit hält, ist vielleicht auch im Irrtum, wenngleich in geringerem Maße. Was soll man mit einer solchen Behauptung anfangen? Welche Schlussfolgerungen lässt sie zu? Offenbar scheint es weniger um die Bestätigung der immer wieder aufgerufenen Opposition Wahrheit vs. Erfindung zu gehen als um ihre Infragestellung, man könnte auch sagen: ihre Dekonstruktion.157 Dem entspräche auch die deutlich zutage tretende Unzuverlässigkeit des Erzählers, die er ja schon in dem oben zitierten Eingangsdialog mit seinem Leser programma156 157

Diderot, Jacques le fataliste, S. 484f. Zum Konzept der Dekonstruktion vgl. Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967. Derrida versteht darunter eine grundlegende Infragestellung kulturspezifischer Basisoppositionen (wie Ursprung vs. Abgeleitetes, Stimme vs. Schrift, Urbild vs. Kopie usw.), die es erlaubt, aus dem Bereich der durch solche Basisoppositionen fundierten Metaphysik auszubrechen. In der Literaturwissenschaft wird der Dekonstruktionsbegriff häufig in dem Sinne verwendet, dass man annimmt, literarische Texte seien ein besonders privilegierter Ort der Dekonstruktion. Diese These vertritt insbesondere Rainer Warning, vgl. etwa seinen Aufsatz »Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca, Baudelaire«, in: Willi Oelmüller (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie. Bd. II: Ästhetischer Schein, Paderborn u. a. 1982, S. 168–207, hier S. 171.

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tisch zur Schau stellt. Vor dem Hintergrund eines traditionellen Erwartungshorizontes, so signalisiert der Erzähler dem Leser hier ganz deutlich, bin ich ein unzuverlässiger Informant, weil ich keine Antworten auf die üblichen Fragen gebe. Dieses Spiel wird zum Beispiel an der Stelle fortgesetzt, wo die beiden Reisenden von einem Gewitter überrascht werden und Zuflucht nehmen müssen: […] ils furent accueillis par un orage qui les contraignit de s’acheminer … – Où? – Où? lecteur, vous êtes d’une curiosité bien incommode! Et que diable cela vous fait-il? Quand je vous aurai dit que c’est à Pontoise ou à Saint-Germain, à NotreDame de Lorette ou à Saint-Jacques de Compostelle, en serez-vous plus avancé? Si vous insistez, je vous dirai qu’ils s’acheminèrent vers … oui; pourquoi pas? … vers un château immense, au frontispice duquel on lisait: »Je n’appartiens à personne et j’appartiens à tout le monde. Vous y étiez avant que d’y entrer, et vous y serez encore quand vous en sortirez.«158 […] ein Gewitter nahm sie in Empfang und zwang sie in Richtung … – Wohin? – Wohin? Leser, Ihre Neugierde ist recht unangenehm! Was zum Teufel geht Sie das an? Wenn ich Ihnen sage, dass es Pontoise oder Saint-Germain, Notre-Dame de Lorette oder Santiago de Compostela war, hilft Ihnen das wirklich weiter? Wenn Sie insistieren, dann werde ich Ihnen sagen, dass sie in Richtung … ja; warum nicht? … in Richtung eines gewaltigen Schlosses ritten, auf dessen Frontseite zu lesen war: »Ich gehöre niemandem und gehöre allen. Sie waren schon hier, bevor Sie mich betraten, und Sie werden noch hier sein, wenn Sie mich wieder verlassen haben.«

Eigentlich möchte der Erzähler dem Leser über den Zufluchtsort von Jacques und seinem Herrn nichts Genaues mitteilen, da der Leser aber seine Neugierde bekundet, gibt er ihm schließlich doch eine Antwort, die sich eindeutig als ad-hoc-Erfindung zu erkennen gibt und die zugleich in sich paradox ist: Das Schloss gehört niemandem und jedem, man befindet sich in ihm, bevor man es betreten und nachdem man es wieder verlassen hat, das heißt, herkömmliche logische, temporale und spatiale Verhältnisse werden explizit außer Kraft gesetzt. Die Einkehr ins Schloss entpuppt sich als Allegorie und wird sogleich zurückgenommen, stattdessen bietet der Erzähler dem Leser eine ganze Serie von alternativen Aufenthaltsmöglichkeiten an, ohne eine als wahr zu kennzeichnen. Wenn man dann aber einige Seiten später erfährt, dass Jacques und sein Herr in Wahrheit in der Stadt Conches Zuflucht gefunden haben, ist endgültig klar, dass der Erzähler ein unzuverlässiger ist.159 158 159

Diderot, Jacques le fataliste, S. 492. Zum Konzept des unzuverlässigen Erzählers (welches auf Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961, zurückgeht) siehe die Zusammenfassung und kritische Diskussion des (vor allem anglistischen) Forschungsstandes bei Monika Fludernik, »Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literatur-

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Er entschuldigt sein Versäumnis lapidar damit, dass ihm dieses Detail vorübergehend entfallen sei. Die Unzuverlässigkeit des Erzählers steht nun aber in deutlichem Widerspruch zu seinem Anspruch, nichts als die historische Wahrheit mitzuteilen. Auf diese Weise wird die deutliche Selbstabgrenzung des Textes vom Bereich der dichterischen Fiktion fragwürdig. Es lässt sich zeigen, dass die Opposition Fiktion vs. Wahrheit in vielfacher Weise im Text infrage gestellt wird, etwa wenn sich die Stimme des Erzählers mit der des Autors Diderot vermischt und dieser Anekdoten aus seinem Leben erzählt, zum Beispiel die Geschichte des »poète de Pondichéry«, oder wenn das Ende des Romans mit einer Ansammlung jener haarsträubenden Zufälle aufwartet, die charakteristisch sind für den Bereich der Abenteuerromane, oder aber wenn sich die Handlung von Jacques le fataliste als Zitatmontage erweist – man denke insbesondere an die zahlreichen intertextuellen Bezugnahmen auf Cervantes’ Don Quijote und auf Sternes Tristram Shandy. Überhaupt weist der metaliterarische Charakter des Textes diesen als unhintergehbar literarischen Text aus. Signalhaft erscheint in dieser Hinsicht der dreifache Schluss. Am Ende scheint es so, als hätte die kategorisch gezogene Grenze zwischen romanesker Fiktion und historiographischer Wahrheit wenig Sinn. Der Text ist weder eine Fiktion noch ein historiographischer Text. Daraus lässt sich – im Sinne der in der Einleitung entwickelten Theorie – der Schluss ziehen, dass ›Fiktion‹ und ›Wahrheit‹ keine essentiellen Merkmale, sondern kommunikative Operatoren (symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien) sind, welche der Leser auf den Text anwenden kann, um ihn zu kategorisieren und damit lesbar zu machen. Jacques le fataliste ist also ein Text, der die beim Umgang mit Texten wirksam werdenden kommunikativen Konventionen auf die Ebene des Bewusstseins hebt. Wie kann man die aufgezeigte Dekonstruktion der Opposition Fiktion/ Dichtung vs. Wahrheit/Geschichtsschreibung nun noch weiter interpretieren? Eine mögliche Antwort auf diese Frage findet man, wenn man die Rolle der Philosophie/Wissenschaft, also der dritten Wissensdisziplin des 18. Jahrhunderts, mit in Betracht zieht. Mit dem Begriff »fataliste« findet sich schon im Titel ein gewichtiger Hinweis auf die philosophisch-wissenschaftliche Diwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit«, in: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 39–59. Der Erzähler von Jacques le fataliste ist ein Beispiel für einen unzuverlässigen (beziehungsweise, um den von Dorrit Cohn geprägten Terminus zu verwenden: einen diskordanten) Er-Erzähler, von denen die Forschung bisher vor allem Beispiele aus der Zeit von 1850 bis 1930 gefunden hat (Fludernik, »Unreliability vs. Discordance«, S. 52). Vgl. hierzu auch Warning, »Opposition und Kasus«, S. 467–475 (»Der unzuverlässige Erzähler«).

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mension des Textes.160 Seit den Stoikern gibt es in der abendländischen Philosophie den Fatalismus als den Glauben an die Vorherbestimmtheit des Lebens durch ein Schicksal (»fatum«). Diese Glaubensrichtung existiert auch innerhalb des Christentums als Glaube an das »fatum christianum« beziehungsweise die göttliche Vorsehung (»providentia«). Ein strenger Schicksalsglaube indes steht im Konflikt mit der christlichen Doktrin von der Willensfreiheit des Menschen, welche erforderlich ist, um das Böse nicht Gott zuschreiben zu müssen. Der latent immer schon vorhandene Konflikt verschärft sich im Zeitalter des Rationalismus, insofern die Fortschritte der Naturwissenschaft das Walten von allgemeinen Gesetzen erkennbar machen, welchen die Natur unterworfen ist; man denke insbesondere an die von Newton entdeckten Gesetze der Gravitation. Damit erscheint die Doktrin der Willensfreiheit stärker gefährdet als je zuvor. In dem Moment, da man aus theologischer Sicht versucht, das eigene Weltbild zu modernisieren, indem man die Erkenntnisse der Naturwissenschaft mit einbaut, gerät man als Gläubiger oder gar als Theologe in die Nähe jener, die wie Diderot selbst Anhänger des atheistischen (oder fatalistischen) Materialismus sind.161 Wenn als oberstes Prinzip nicht mehr die göttliche Allmacht betrachtet wird, sondern die Naturgesetze und die aus ihnen lückenlos erklärbaren Kausalrelationen, welche jeden Sachverhalt auf seine materiellen Ursachen rückführbar machen, dann kann man auf die Hypothese Gott im Grunde verzichten (vgl. den oben untersuchten Entretien entre d’Alembert et Diderot, wo genau dies versucht wird). Daher kommt es im 18. Jahrhundert zu großen Diskussionen über den Fatalismus und die Willensfreiheit beziehungsweise auch über die Existenz des Bösen in der Welt (Theodizee-Problem). Diese Diskussionen finden auch ihren Niederschlag in den Romanen und Erzählungen der Zeit (vgl. Zadig ou la destinée, Candide ou l’optimisme oder eben Jacques le fataliste).162 160

161

162

Vgl. hierzu Denis Diderot, Jacques le fataliste, hg. v. Pierre Chartier, Paris 2000, S. 384–390. Vgl. hierzu Paolo Quintili, La pensée critique de Diderot. Matérialisme, science et poésie à l’âge de l’»Encyclopédie«. 1742–1782, Paris 2001. Vgl. hierzu Rudolf Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeutung und der französische Roman (1670–1770), Tübingen 1994. Behrens vertritt die doppelte These, »daß die teleologische, vor allem die providentielle Weltdeutung schon vor Beginn des Jahrhunderts der Aufklärung in eine Krise gerät, die sich durch das gesamte 18. Jahrhundert hindurchziehen wird« (S. 1), und dass »gerade diese Krise eine herausragende historische Chance für den Roman bedeutet, da er als neu entworfene, amorphe und vielgestaltige Gattung Funktionen der Sinnbildung zur Kontingenzreduktion übernehmen kann, die in bezug auf die gängigen Sinnsysteme stabilisierend oder destabilisierend, aufgreifend oder widerlegend, auf jeden Fall aber modellierend wirken«

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Jacques wird schon im Titel als Fatalist bezeichnet. Was das bedeutet, geht aus der von ihm leitmotivisch wiederholten Ansicht hervor, dass alles, was den Menschen ›hier unten‹ widerfahre, ›dort oben‹ in der großen Schriftrolle des Schicksals schon festgehalten und somit vorherbestimmt sei. Mit anderen Worten: Der Mensch könne durch sein Handeln nichts beeinflussen, weil ohnehin immer das geschehe, was von einer höheren Macht vorgesehen sei. An einer Stelle wird dieser Fatalismus, den Jacques von seinem früheren Herrn, einem Hauptmann, übernommen hat, philosophisch begründet und auf Spinoza zurückgeführt: Jacques ne connaissait ni le nom de vice, ni le nom de vertu; il prétendait qu’on était heureusement ou malheureusement né. Quand il entendait prononcer les mots récompenses ou châtiments, il haussait les épaules. Selon lui la récompense était l’encouragement des bons; le châtiment, l’effroi des méchants. »Qu’est-ce autre chose, disait-il, s’il n’y a point de liberté, et que notre destinée soit écrite là-haut?« Il croyait qu’un homme s’acheminait aussi nécessairement à la gloire ou à l’ignominie, qu’une boule qui aurait la conscience d’elle-même suit la pente d’une montagne; et que, si l’enchaînement des causes et des effets qui forment la vie d’un homme depuis le premier instant de sa naissance jusqu’à son dernier soupir nous était connu, nous resterions convaincus qu’il n’a fait que ce qu’il était nécessaire de faire.163 Jacques kannte weder den Begriff des Lasters noch den der Tugend; er behauptete, man sei im Zeichen des Glücks oder des Unglücks geboren. Wenn er die Wörter Belohnung oder Strafe vernahm, zuckte er mit den Schultern. Ihm zufolge

163

(ebd.). Die Anwendung dieser Grundthese auf Jacques le fataliste führt zu folgender Deutung: »[Jacques le fataliste] erkundet in mehrfach dialogischer Haltung die Erzählbarkeit von Erfahrung mit angeblicher lebensweltlicher Kontingenz und führt umgekehrt vor Augen, daß gewonnene Erfahrung als einzig sicherer Prüfstein für das Wissen nur durch Erzählen gesichert werden kann. Der Roman, die lügnerische ›kleine‹ Theodizeekonstruktion mit ihren erzählerischen Derivaten, erweist sich dabei als untauglich zur Erschließung von Wirklichkeit und erweist sich dennoch, in einer sozusagen zersetzten und ständig unterlaufenen Form, als notwendiges und unersetzbares Mittel, um die Aporien des systematischen Wissens aufzubrechen.« (S. 345) Vgl. zur Kontingenzproblematik auch die komparatistische Studie von Werner Frick, Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, 2 Bde, Tübingen 1988. Einige Jahre vor Behrens fragt schon Frick nach »dem Zusammenhang und der Wechselwirkung zwischen der Erosion eines traditionellen, theologisch-metaphysisch fundierten Weltbildes im Gefolge aufklärerischer Säkularisierungstendenzen« und »strukturellen und semantischen Krisen- und Innovationsprozessen der Gattung ›Roman‹« (Bd. I, S. 1). Von den zahlreichen Romananalysen ist ein Kapitel dem Erzählwerk Voltaires gewidmet (»Kritik der Metaphysik und kulturelle Praxis in Voltaires Erzählwerk«, Bd. II, S. 281–341). Diderot, Jacques le fataliste, S. 620f.

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war die Belohnung die Ermunterung für die Guten; die Strafe war der Schrecken für die Bösen. »Wie soll es anders sein, sagte er, wenn es keine Freiheit gibt und wenn unser Schicksal dort oben geschrieben steht?« Er glaubte, dass ein Mensch sich genau so unausweichlich in Richtung Ruhm oder Schande bewege, wie eine Kugel mit Selbstbewusstsein den Abhang eines Berges hinunterrolle; und dass, wenn uns die Verkettung der Ursachen und der Wirkungen, die – vom ersten Augenblick seiner Geburt bis zu seinem letzten Seufzer – das Leben eines Menschen bilden, bekannt wäre, wir davon überzeugt wären, dass er nur das getan habe, was zu tun notwendig gewesen sei.

Die von Jacques vertretene philosophische Auffassung negiert die menschliche Willensfreiheit auf der Grundlage der Annahme, dass alle Ereignisse und Sachverhalte lückenlos durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen erklärt werden können. Dabei wird kein Unterschied zwischen physischer und moralischer Welt gemacht (»La distinction d’un monde physique et d’un monde moral lui semblait vide de sens.«),164 da hier wie dort dieselben Kausalgesetze gelten. Konsequenterweise wird der Mensch mit einer Kugel verglichen, die einen Berg hinunterrollt und dabei nichts anderes tut, als den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen. Da alles menschliche Handeln durch analoge Gesetze erklärt werden könne, sei auch die Unterscheidung von Gut und Böse sinnlos. Über sich selbst sagt Jacques: »Quelle que soit la somme des éléments dont je suis composé, je suis un; or, une cause n’a qu’un effet; j’ai toujours été une cause une; je n’ai donc jamais eu qu’un effet à produire; ma durée n’est donc qu’une suite d’effets nécessaires.«165 [Was auch immer die Summe der Elemente sei, aus denen ich bestehe, so bin ich doch ein Ganzes; nun hat aber eine Ursache nur eine Wirkung; ich bin immer eine ungeteilte Ursache gewesen; daher habe ich immer nur eine Wirkung hervorbringen können; meine Lebensdauer ist somit nichts anderes als eine Folge von notwendigen Wirkungen.] In dieser Vorstellung von der Welt ist alles notwendig, da es ja durch Gesetzmäßigkeiten und Kausalrelationen lückenlos erklärt werden kann. Die Möglichkeit des Zufalls und der Kontingenz ist hier nicht vorgesehen. Kontingenz bedeutet: Es kann so sein, wie es ist, es könnte – bei denselben Eingabebedingungen – aber auch ganz anders sein.166 Diese streng deterministische Position wird nun aber vom Roman nicht bestätigt, sondern in vielfacher Weise diskutiert und infrage gestellt. Schon 164 165 166

Ebd., S. 621. Ebd. Niklas Luhmann, Funktion der Religion (1977), Frankfurt/M. 1982, S. 187, definiert Kontingenz als »etwas Wirkliches (einschließlich wirklich Möglichem), sofern es auch anders möglich ist. Formal definiert wird Kontingenz durch Negation der Unmöglichkeit und Negation der Notwendigkeit. Kontingent ist demnach alles, was zwar möglich, aber nicht notwendig ist.«

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in der zitierten Stelle ist es so, dass der Erzähler, der behauptet, Jacques persönlich zu kennen und mit ihm über seine philosophischen Anschauungen gesprochen zu haben, ganz anderer Meinung ist als Jacques: »Je l’ai plusieurs fois contredit, mais sans avantage et sans fruit.«167 [Ich habe ihm mehrmals widersprochen, allerdings ohne Wirkung zu erzielen.] Dieser Dissens zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten deutet darauf hin, dass der Determinismus keineswegs die offizielle philosophische Doktrin des Romans ist. In einer der zahlreichen eingeschobenen Geschichten wird Jacques’ Doktrin implizit sogar ad absurdum geführt. Es handelt sich um die (von Jacques selbst erzählte) Geschichte seines Bruders Jean, der als Karmelitermönch große Ambitionen hat und die Nachfolge des Klosterverwalters antreten möchte. Um an sein Ziel zu gelangen, fälscht er Urkunden und Dokumente, wird aber dabei erwischt und muss zur Strafe nun als Köhler arbeiten. »Frère Jean avait du cœur, il ne put supporter ce déchet d’importance et de splendeur, et n’attendit qu’une occasion de se soustraire à cette humiliation.«168 [Bruder Jean hatte ein empfindsames Herz, er konnte diesen Bedeutungsund Glanzverlust nicht ertragen und wartete nur auf eine Gelegenheit, sich dieser Demütigung zu entziehen.] Diese Gelegenheit bietet sich ihm in Gestalt eines anderen Mönches, dessen Geschichte kontrastiv und komplementär zu seiner verläuft. Während Jean betrogen hat und dafür bestraft wurde, sind es bei dem unbescholtenen, aber sehr begabten und als Prediger und Beichtvater erfolgreichen Père Ange dessen Neider, die ihn diffamieren und für verrückt erklären. Im Ergebnis schließen sich die beiden Außenseiter zusammen und fliehen gemeinsam nach Lissabon, wo sie jedoch beide bei dem Erdbeben des Jahres 1755 ums Leben kommen. Auf die Frage seines Herrn: »Et qu’allaient-ils faire à Lisbonne?« antwortet Jacques: »Chercher un tremblement de terre, qui ne pouvait se faire sans eux; être écrasés, engloutis, brûlés; comme il était écrit là-haut.«169 [Ein Erdbeben suchen, welches ohne sie nicht stattfinden konnte; zerquetscht, verschüttet, verbrannt werden; wie es dort oben geschrieben stand.]170 Wenn Jacques diese Erzählung mit seinem Leitmotiv-Satz »comme il était écrit là-haut« beendet, so wird deutlich signalisiert, dass man als Interpretament der Bedeutung dieser Geschichte den oben skizzierten Determinismus ansetzen darf. Dessen Kern besteht, wie wir sehen konnten, darin, dass aus 167 168 169 170

Jacques le fataliste, S. 621. Ebd., S. 508. Ebd., S. 511. Dieses Erdbeben stand bekanntlich im Mittelpunkt einer zwischen Voltaire und Rousseau geführten Auseinandersetzung um die Frage, woher das Übel in der Welt komme. Vgl. hierzu Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 126–133.

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identischen Ursachen identische Wirkungen resultieren, aus unterschiedlichen Ursachen dagegen entsprechend unterschiedliche Wirkungen. In der Geschichte von Frère Jean und Père Ange führen nun höchst unterschiedliche Ursachen (Jeans amoralisches Verhalten und Anges Unbescholtenheit) zu einer identischen Wirkung. Mit anderen Worten: Was die Geschichte zeigt, ist die Kontingenz des Lebens, nicht seine streng kausal determinierte Notwendigkeit. Somit aber ist der Determinismus in seinem Kern infrage gestellt. Was sich also an Jacques le fataliste zeigen lässt, ist eine Gegenstrebigkeit von Literatur und Philosophie. Der literarische Text problematisiert das Wissensmodell seiner Zeit. Er zeigt die Grenzen philosophischer Diskurse auf und entwickelt alternative Wissensmodelle, die nicht die Gewissheit, sondern die Ungewissheit beziehungsweise die Skepsis dominant setzen. Solche Problematisierung einer herrschenden Wissensordnung ist ein Indiz für die laut Luhmann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend sichtbar werdende Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft, insofern nun die Literatur sich von anderen Systemen der Gesellschaft deutlicher abgrenzt und diesen Sachverhalt auch reflektiert. Es kommt also zu einer Selbstaffirmation der Literatur mittels Selbstreflexivität. Dass sie sich bei dieser Selbstreflexivität fremder Diskurse bedient, ist doppeldeutig: Einerseits ist sie im Sinne der aufklärerischen Ästhetik noch fremden (didaktisch moralischen) Zwecken verhaftet, indem sie Fragen nach dem richtigen beziehungsweise falschen Verhalten oder Handeln stellt, nach moralischer Bewertung, nach der Angemessenheit sozialer Ordnungen usw. Andererseits entwickelt sich die Literatur zu einem zunehmend autonomen Bereich, in dem andere Gesetze als die der Philosophie, der Wissenschaft oder der Gesellschaft gelten. Daher müssen moralische oder epistemologische Fragen in der Literatur auch nicht mehr eindeutig beantwortet werden; es kann zu Ambivalenzen, ungelösten Problemen, Aporien usw. kommen. Der Autonomie des literarischen Textes auf semantischer Ebene entspricht seine Autonomie auf der diskursiven Ebene, die darin zum Ausdruck kommt, dass der Text den Vorgang des Erzählens selbst zu seinem Gegenstand macht. Auf der Makroebene handelt der Text ja, wie gezeigt wurde, davon, dass die Protagonisten sich gegenseitig Geschichten zu erzählen versuchen, wobei sie jedoch immer wieder unterbrochen werden. Dieses immer wieder neu anhebende und immer wieder scheiternde Erzählen wird zum Anlass für eine Kommentierung des Erzählens durch den übergeordneten Erzähler wie auch durch die Figuren des Romans. Durch die komplexe Überlagerung verschiedener Erzählsituationen, die zum permanenten Bruch der diskursiven Kontinuität führen, rückt das Erzählen als solches in den Mittelpunkt. Dieses Erzählen des Erzählens um seiner selbst willen ist ebenso ein Signal für die Autono-

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Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert

misierung des literarischen Textes wie die zuvor genannten Abweichungen von nichtliterarischen Wissensordnungen. Die pragmatische und die semantische Dimension des Textes konvergieren somit in ihrer Funktion, den literarischen Text in seiner Autonomie gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen zu markieren.

Die Entstehung ästhetischer Autonomie am Beispiel von Goethes Werther

3.

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Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft an der Schwelle zum 19. Jahrhundert

3.1 Die Entstehung ästhetischer Autonomie am Beispiel von Goethes Werther Die Zeit um 1800 wurde von vielen Zeitgenossen als Epochenschwelle empfunden. Dies erklärt sich historisch aus den Erschütterungen, die das Staatensystem des europäischen Kontinents im Gefolge der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege erlebte. Alte Ordnungen brachen in sich zusammen, Herrschaftssysteme wurden abgelöst, Verfassungen wurden entworfen und wieder zurückgenommen, kurz: Die Jahre zwischen 1789 und 1815 wurden als allgemeine Krise, als Verlust aller Sicherheiten und Stabilitäten erfahren. In Deutschland, von wo aus man die Ereignisse in Frankreich interessiert, aber auch zunehmend erschüttert betrachtete,1 wurde der politischen eine geistige Revolution in Form von kühnen Spekulationen entgegengestellt. Dies war die Geburtsstunde der deutschen Romantik, welche in Jena um 1795 als programmatische Bewegung einsetzte. Einer ihrer bedeutendsten Theoretiker, Friedrich Schlegel, schreibt 1798, im 216. Fragment der von ihm und seinem Bruder August Wilhelm herausgegebenen Zeitschrift Athenaeum: »Die Französische Revoluzion, Fichte’s Wissenschaftslehre, und Goethe’s Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.«2 Dieses Zitat belegt, wie die Romantiker den Bereich des Geistigen (Philosophie und Literatur) als ebenbürtig neben den Bereich des Politischen stellten. Das wiederum ist ein klares Indiz für die zunehmende Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionsbereiche, welche in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ein qualitativ neues Stadium erreichte.

1

2

Vgl. hierzu Reiner Wild, »Naivität und Terror. Die Französische Revolution im Urteil des klassischen Weimar«, in: Harro Zimmermann (Hg.), Schreckensbilder – Hoffnungsbilder. Die Französische Revolution in der deutschen Literatur, Frankfurt/M. 1989, S. 47–80. Athenaeum. Eine Zeitschrift, hg. v. August Wilhelm Schlegel/Friedrich Schlegel, 3 Bde, Reprographischer Nachdruck: Darmstadt 1992, Bd. I, S. 232. Den Zusammenhang von Schlegels Konzeption einer »kritischen Transzendentalpoesie« und der Selbstreflexivität des Wilhelm Meister untersucht Mathias Mayer, Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung im »Wilhelm Meister«, Heidelberg 1989.

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Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft

Der Umbau des Gesellschaftssystems von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung bringt ein erhöhtes Kontingenzbewusstsein auf der Seite der betroffenen Individuen mit sich. Man wird nicht mehr in einen lebenslang unveränderlichen sozialen Zusammenhang hineingeboren, sondern erhält die Aufgabe, sich seinen Ort in der Gesellschaft durch eigene Leistung zu erobern. Die einstmals feste Ordnung des Gesellschaftssystems erscheint nun als veränderlich, die Wirklichkeit als kontingent – dies ist im Übrigen eine ganz wesentliche Voraussetzung für eine so radikale Veränderung der politischen Ordnung, wie sie die Akteure der Revolution in Frankreich schließlich ins Werk setzen würden. Dadurch wird das Individuum als problematische Größe überhaupt erst sichtbar. Das Individuum erkennt sich selbst als Differenzgröße zur Gesellschaft, da es nicht mehr in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Ordnungsmustern einfach aufgeht. Es entsteht eine auf das Individuum zugeschnittene Semantik – das heißt eine Manifestation von Selbstreflexion und Selbstbeschreibung mit dem Ziel, Sinnverarbeitungsregeln bereitzustellen beziehungsweise Sinn zu typisieren; solche Semantik ist vor allem, aber nicht ausschließlich in der Literatur beheimatet –,3 in der diese neuentdeckte Größe emphatisch und überhöhend sich selbst bespiegelt. Der früheste Ausdruck dieses Individualitätsbewusstseins war in der deutschen Literatur der »Sturm und Drang«, eine Bewegung junger Autoren, die in den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts auf den Plan traten mit dem Anspruch einer generationsspezifischen Revolte gegen das Alte und Überkommene (Goethe, Gerstenberg, Lenz, später auch Schiller). Als berühmtestes Werk dieser Bewegung gilt Goethes (1749–1832) Erstlingsroman Die Leiden des jungen Werthers (so lautet der Titel der 1774 erschienenen Erstauflage; in der zweiten Auflage 1787 entfällt dann das archaische Genitiv-s am Namen des Titelhelden). Am Werther lässt sich einerseits veranschaulichen, was es mit emphatischer Individualitätssemantik auf sich hat. Andererseits zeigen sich an diesem Roman auch in exemplarischer Weise die Probleme dessen, was sich als Autonomie der Literatur bezeichnen lässt. Diese beiden Aspekte möchte ich hier kurz darstellen.4

3

4

Vgl. Niklas Luhmann, »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft (1980), Frankfurt/M. 1993, S. 9–71, hier S. 19, wo er unter Semantik »einen höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn« versteht. Der »semantische Apparat« einer Gesellschaft ist der »Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln«. Zur Gesamtproblematik vgl. Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie, Frankfurt/M. 1995.

Die Entstehung ästhetischer Autonomie am Beispiel von Goethes Werther

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Werther ist ein monologischer Briefroman, das heißt, es kommt nur ein Briefschreiber zu Wort, nicht aber dessen Briefpartner. Ein anonymer Herausgeber hat, wie er in der Vorbemerkung sagt, die Briefe und Lebenszeugnisse des »armen Werther« gesammelt und sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, mit dem Ziel, die »Bewunderung« und »Liebe« der Leser für seinen »Charakter« zu gewinnen ebenso wie ihre »Tränen« für sein »Schicksal«; umgekehrt sollen die Leser »Trost aus seinem Leiden« schöpfen.5 Zwischen Text und Leser ist somit von Beginn an ein sehr intimes Verhältnis etabliert: »laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst«.6 Durch die monologische Aneinanderreihung von Werthers Briefen an seinen Freund Wilhelm wird der Leser über weite Strecken ausschließlich mit Werthers Innensicht konfrontiert; im zweiten Teil des Romans meldet sich dann öfter auch der Herausgeber zu Wort. Der Text übernimmt sozusagen unkommentiert und ohne Korrektiv Werthers Perspektive. Dies weicht von der im 18. Jahrhundert üblichen Praxis des polyperspektivischen Briefromans ab, wenngleich es keine absolute Innovation ist; man denke etwa an die Lettres portugaises von Guilleragues (1669). Im Rahmen dieser Innensicht wird dem Leser ein leidenschaftlicher Charakter präsentiert, der mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht einverstanden ist. Er zieht sich in die ländliche Einsamkeit zurück und versucht die ihn umgebende Schönheit der Natur zu genießen. Obwohl er Maler ist, ist er angesichts der Erhabenheit der Natur unfähig, seine Empfindungen zum Ausdruck zu bringen. Seine Ablehnung der Außenwelt und der Gesellschaft kommt an folgender Stelle deutlich zum Ausdruck: Wenn ich die Einschränkung ansehe, in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern, und dann, daß alle Beruhigung über gewisse Punkte des Nachforschens nur eine träumende Resignation ist, da man sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten bemalt – Das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft. Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.7

Die äußere Existenz ist für Werther gekennzeichnet durch »Einschränkung«; die »tätigen und forschenden Kräfte des Menschen« werden behindert, das 5

6 7

Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther, in: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. VI, Nachdruck: München 1982, S. 7–124, hier S. 7. Ebd. Ebd., S. 13, Brief vom 22. Mai.

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Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft

Leben ist eine Kette von Bedürfnisbefriedigungen ohne höheren Zweck; wenn man glaube, man habe Antworten auf bestimmte existentielle Fragen gefunden, so sei das eine Illusion, so wie die Höhlenbewohner in Platons anzitiertem Höhlengleichnis8 sich über die von ihnen nur schattenhaft wahrgenommene Wirklichkeit täuschten. Angesichts dieser Negativbefunde hinsichtlich der äußeren Wirklichkeit findet Werther Trost einzig in seinem Inneren: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!« Diese Stelle ist ein deutlicher Beleg für die emphatische Aufwertung des Individuums, welches sich in seinem Leiden an der als Beschränkung empfundenen Außenwelt in sich selbst zurückzieht. Allerdings sieht man schon an dieser Stelle auch, wie sehr der Rückzug in die Innenwelt proklamatorischen Charakter hat, wie wenig von seiner Substanz vermittelt werden kann, falls er überhaupt Substanz besitzen sollte: Nicht umsonst spricht Werther einschränkend von »Ahnung und dunkler Begier«, und er verweist auf das Traumartige seines Zustandes. Letztlich handelt es sich hier um eine narzisstische Selbstbespiegelung,9 um die hermetische Verriegelung des Subjekts, welches in seiner unglücklichen und unerfüllbaren Liebe zu der bereits vergebenen Lotte (die Werther erst nach diesem Brief kennenlernen wird) nur einen passenden äußeren Anlass findet, sich seine eigene Differenz zur Umwelt, seine Inkommensurabilität zu bestätigen. Als einzigen Ausweg aus diesem Dilemma, welches nicht aus äußeren Umständen, sondern aus der Differenz zwischen diesen Umständen und der inneren Beschaffenheit des Subjekts resultiert, gibt es für das Ich den freiwilligen Tod, und genau dies reflektiert Werther bisweilen auch selbst: Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? Betriegst du dich nicht selbst? Was soll diese tobende, endlose Leidenschaft? Ich habe kein Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das macht mir denn so manche glückliche Stunde – bis ich mich wieder von ihr losreißen muß! Ach Wilhelm! wozu mich mein Herz oft drängt! […] Adieu! Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das Grab.10

Nun ist es kein Geheimnis, dass Werther tatsächlich Selbstmord begeht. Dieser Selbstmord, welcher aus christlicher Sicht in höchstem Maße sündhaft ist, wird durch zahlreiche Andeutungen und Antizipationen vorbereitet und 8 9

10

Vgl. Platon, Politeia, 514–517. Vgl. hierzu Reinhart Meyer-Kalkus, »Werthers Krankheit zum Tode. Pathologie und Familie in der Empfindsamkeit«, in: Friedrich A. Kittler/Horst Turk (Hg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt/M. 1977, S. 76–138. Goethe, Werther, S. 55, Brief vom 30. August.

Die Entstehung ästhetischer Autonomie am Beispiel von Goethes Werther

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am Ende ausführlich dargestellt und gewissermaßen ästhetisch gerechtfertigt. Es fehlt weitgehend das Korrektiv einer distanzierenden moralischen Bewertung. Darin musste ein auf Erbauung und didaktische Belehrung erpichtes Publikum natürlich ein Skandalon erblicken. Wir erinnern uns an die moralischen und didaktischen Anforderungen, welche noch Diderot in seinem Éloge de Richardson an den Roman gestellt hatte. Ähnlich sagt nun Lessing über den Werther, es bestehe die Gefahr, dass die Leser »die poetische Schönheit […] für eine moralische nehmen und glauben, daß Der gut gewesen sein müsse, der unsere Theilnehmung so stark beschäftiget«. Daher meint er, es sei gut gewesen, Goethe hätte durch ein »Paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abentheuerlichen Charakter gekommen«, den Unterschied zwischen ästhetischer und moralischer Bewertung deutlich gemacht.11 Die zentrale ästhetische Innovation des Werther liegt also offenbar darin, dass er die bis dahin fraglos gültige Parallelität von moralischer und ästhetischer Schönheit in aufsehenerregender Weise zerstört. Bei Richardson, Rousseau oder Lessing darf der moralisch Böse nicht ästhetisch interessant sein, beziehungsweise wenn er es ist, dann muss ein moralisch-didaktisches Korrektiv vorhanden sein, denn es gilt die Regel, dass der Leser durch identifikatorische Einfühlung die moralisch positiven Werte, die in der Handlung des Romans oder des Theaterstücks verarbeitet sind, für sich übernehmen können soll. Das geht nur, wenn der ästhetische Reiz des Bösen den des Guten nicht überwiegt. Eine solche Kopplung des Ästhetischen an das Moralische und somit an gesellschaftliche Werte und Normen lässt sich als Indiz für ästhetische Heteronomie deuten.12 In dem Moment aber, da das moralisch Fragwürdige oder Anstößige ästhetische Faszination bewirkt (und auch Lessing gesteht durchaus, dass ihm die Lektüre des Werther Vergnügen bereitet habe), wird die Nicht-Kongruenz von Ästhetik und Moral sichtbar, so wie sie dann später Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) auch theoretisch untermauern wird. Am Beispiel eines Palastes unterscheidet Kant im § 2 exemplarisch das ästhetische als ein nicht interessegeleitetes Urteil von anderen, interessegeleiteten Urteilen (mir liegt nichts an der Existenz der Sache, ich halte sie für unmoralisch, ich benötige sie nicht zum Überleben). 11 12

Lessing: An Eschenburg, 26. 10. 1774, zit. nach Eibl, Die Entstehung der Poesie, S. 134. Vgl. hierzu grundlegend Niels Werber, Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen 1992. Die Umstellung von Heteronomie zu Autonomie lässt sich auch in Rousseaus Spätwerk nachweisen, vgl. Thomas Klinkert, »Einsamkeit und ästhetische Autonomie bei Jean-Jacques Rousseau«, in: Susanne Schmid (Hg.), Einsamkeit und Geselligkeit um 1800, Heidelberg 2008, S. 111–123.

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Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft

Beim ästhetischen Urteil geht es einzig um die Frage, ob man etwas schön findet, nicht darum, ob man es für moralisch gut oder angenehm hält. Das ist der Zeitpunkt, da das Kunstsystem von Heteronomie auf Autonomie umstellt und dadurch den eigenen Status im Rahmen einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft reflektiert. Das moderne Literatursystem ist generell von erhöhter Selbstreflexivität gekennzeichnet. Mit der Gewinnung ästhetischer Autonomie ändert sich außerdem die Funktion der Kunst/Literatur innerhalb der Gesellschaft. Hatte sie bislang subsidiäre Funktion, so übernimmt sie nunmehr komplementäre Funktion, wodurch jetzt auch die Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst als grundlegende, unüberschreitbare Schwelle mitreflektiert werden muss: »Der Werther bezeichnet genau die Übergangsstelle, einen säkularen Schnitt in der Funktionsgeschichte der Dichtung, die Entstehung der Poesie, die sich vom Funktionsprimat der Unterstützung von Problemlösungen ablöst und zum Funktionsprimat der Reflexion ungelöster Probleme wechselt.«13 Wenn man nun also die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht beachtet, dann gerät man in Gefahr, die im Rahmen der Reflexion ungelöster Probleme dargestellten Aporien auf sich selbst anzuwenden und dann etwa in einer falsch verstandenen Werthernachfolge Selbstmord zu begehen.

3.2 Das Auseinandertreten von Wissen und Erzählen in Goethes Wahlverwandtschaften Vor diesem Hintergrund gilt es nun, Goethes 1809 erschienenen Roman Die Wahlverwandtschaften zu analysieren, welcher nicht nur in geradezu idealtypischer Weise ein Medium der »Reflexion ungelöster Probleme« ist,14 son13 14

Eibl, Die Entstehung der Poesie, S. 134. Vgl. diesbezüglich etwa Jochen Hörisch, »›Die Himmelfahrt der bösen Lust‹ in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Versuch über Ottiliens Anorexie«, in: Norbert W. Bolz (Hg.), Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Hildesheim 1981, S. 308–322, und David E. Wellbery, »Die Wahlverwandtschaften (1809)«, in: Paul Michael Lützeler/James E. McLeod (Hg.), Goethes Erzählwerk. Interpretationen, Stuttgart 1985, S. 291–318. Hörisch vertritt die These, dass sich die Wahlverwandtschaften der Hermeneutik entziehen und dass dieser Entzug in Ottiliens Sterben als »Subversion von Signifikanz« (S. 313) allegorisch gespiegelt werde. Wellbery zufolge inszenieren die Wahlverwandtschaften einen geschichtlich-kulturellen Vorgang, der sich »als Zusammenbruch des Symbolischen, als dessen Desorganisation« (S. 292) verstehen lasse.

Das Auseinandertreten von Wissen und Erzählen

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dern außerdem das Verhältnis der Literatur zur Naturwissenschaft als das Verhältnis zweier getrennter, ausdifferenzierter Sphären problematisiert. Zwar kommt es – insbesondere in Gestalt der berühmten »chemischen Gleichnisrede«, auf welche schon der Romantitel verweist – zu diskursiven Interferenzen zwischen Chemie und Roman, doch laufen diese als Erklärungsmuster letztlich ins Leere. Der Riss zwischen Erzählen und Wissen scheint unheilbar geworden zu sein, wie die Goetheforschung gezeigt hat.15 Im Morgenblatt für gebildete Stände erschien am 4. September 1809 eine von Goethe selbst verfasste Ankündigung seines Romans. Dort heißt es: Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen, und so hat er auch wohl in einem sittlichen Falle eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand und vielleicht auch nicht in diesem Leben völlig auszulöschen sind.16 15

16

Vgl. die Beiträge in Gabriele Brandstetter (Hg.), Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, Freiburg i. Br. 2003, insbes. Gerhard Neumann, »Wunderliche Nachbarskinder. Zur Instanzierung von Wissen und Erzählen in Goethes Wahlverwandtschaften«, S. 15–40, wo von der »Sprengung des Übergangsgeschehens zwischen Wissen und Erzählen« (S. 17) beziehungsweise von dem »sich immer wieder entziehenden Transfer zwischen Wissen und Erzählen« (S. 18) die Rede ist; Christine Lubkoll, »Wahlverwandtschaft. Naturwissenschaft und Liebe in Goethes Eheroman«, S. 261–278, wo es heißt: »In Goethes Wahlverwandtschaften finden sich strukturelle Korrespondenzen zwischen der naturwissenschaftlichen Diskussion und der Erprobung von Liebesverhältnissen. In beiden Fällen werden Typologien als Ordnungsmuster entworfen, die sich jedoch letztlich nicht als stabil erweisen, sondern in eine Dynamik der radikalen Verunsicherung überführt werden.« (S. 263) Vgl. auch schon Jochen Hörisch, »›Die Begierde zu retten‹. Zeit und Bedeutung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹«, in: ders./Georg Christoph Tholen (Hg.), Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München 1985, S. 78–90, hier S. 84: »Die transzendentalphilosophischen Bemühungen, ein Wissen des Wissens, ein Bewußtsein des Bewußtseins oder einen Sinn des Sinns subjektzentrisch zu statuieren, sind der eigentliche Adressat von Goethes poetischer Kritik.« Goethes Selbstanzeige der Wahlverwandtschaften im Morgenblatt für gebildete Stände vom 4. September 1809, zit. nach: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. VI, Nachdruck: München 1982, S. 639 (Hervorhebung im Text). Die Bedeutung der Chemie für Goethe wurde in der Forschung vielfach untersucht. Vgl. allgemein zum Thema Georg Schwedt, Goethe als Chemiker, Berlin u. a. 1998; Armin Scheffler, »Goethe und die Chemie«, in: Peter Heusser (Hg.), Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften, Bern u. a. 2000, S. 359–377; Helmut Gebelein, »Alchemy and Chemistry in

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Dieser Text geht aus von der Opposition zwischen Naturlehre (Naturwissenschaft) und Ethik (menschliches Verhalten), welche durch Distanz bestimmt ist (ein Indiz für die wachsende Spezialisierung und Ausdifferenzierung), und setzt die beiden Sphären in ein Verhältnis, welches durch Gleichnisrede, also durch Metaphorizität und somit durch ein rhetorischliterarisches Verfahren, konstituiert wird. Dabei benennt er eine wichtige Funktion solcher Gleichnisrede, welche dazu dient, das Fremde verständlich zu machen. Das Fremde im vorliegenden Fall ist der Bereich der Naturlehre (»etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes«). Um diesen Bereich »näher heranzubringen«, bedient man sich »ethischer Gleichnisse«. Damit wird insinuiert, dass der Bereich zwischenmenschlicher Interaktion dem Menschen vertrauter und daher besser veständlich sei als der Bereich der Naturlehre. Die Besonderheit des im Roman Die Wahlverwandtschaften verwendeten Verfahrens ist es nun, dass hier »eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge« zurückgeführt wird. Der aus dem sozialen Bereich entlehnte Begriff der »Wahlverwandtschaft« dient in der Naturlehre dazu, einen bestimmten Typus chemischer Reaktionen zu bezeichnen. Obwohl er ein terminus technicus ist, bleibt seine metaphorische Herkunft transparent und hilft somit, die Fremdheit der chemischen Vorgänge verständlicher zu machen. Dieser seiner Herkunft nach metaphorische und zugleich fachsprachlich lexikalisierte Begriff wird nun in Goethes Roman aus dem Bereich der Naturlehre in den der menschlichen Gesellschaft zurückübersetzt. Der hier vorliegende doppelte metaphorische Transfer bringt, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, einen erheblichen Zuwachs an Komplexität mit sich. Durch die Einbettung des Verfahrens in naturwissenschaftliche und semiotische Zusammenhänge steht zu erwarten, dass sowohl naturwissenschaftliche als auch zeichentheoretische Fragen und Probleme behandelt werden. Die Berechtigung für das Verfahren der Rückübersetzung wird dadurch begründet, dass »doch überall nur eine Natur« sei, dass also überall dieselben Gesetze herrschten, sodass letztlich die Opposition von Freiheit und Notwendigkeit aufgehoben scheint (vgl. die oben im Kap. 2.5.2 am Beispiel von Diderot diskutierte Problematik von Materialismus, Determinismus und Willensfreiheit). the Work of Goethe. Lecture with Experiments«, in: Alexandra Lembert/Elmar Schenkel (Hg.), The Golden Egg. Alchemy in Art and Literature, Glienicke/Cambridge (Mass.) 2002, S. 9–29; Dietrich von Engelhardt, »Der chemie- und medizinhistorische Hintergrund von Goethes Wahlverwandtschaften (1809)«, in: Gabriele Brandstetter (Hg.), Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, Freiburg i. Br. 2003, S. 279–306.

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Betrachten wir nun die Situierung der chemischen Gleichnisrede in der Syntagmatik der Handlung selbst. Im 4. Kapitel des ersten Teils wird die chemische Gleichnisrede eingeführt und ausführlich thematisiert. Zuvor stellt uns der Text das adelige Ehepaar Eduard und Charlotte vor. Sie leben zurückgezogen auf dem Lande und widmen sich der Verschönerung und baulichen Umgestaltung ihrer Besitztümer. Die Handlung setzt ein, als eine von Charlotte geplante Mooshütte gerade fertig geworden ist. Charlotte lässt Eduard bei seinem ersten Besuch in der Mooshütte »dergestalt niedersitzen, daß er durch Tür und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte.«17 Primärer Sinn und Zweck von Charlottes Umgestaltungsarbeiten scheint demnach ein ästhetischer zu sein: die Betrachtung der Landschaft, als handle es sich um ein gerahmtes Bild. Diese ästhetische, von primären lebensweltlichen Zwecken abgehobene Einstellung korreliert mit der zurückgezogenen Lebensweise eines Paares, welches, aller materiellen Sorgen ledig, sich selbst genug ist. Aus der Vorgeschichte des Paares erfährt man, dass die beiden »einander als junge Leute recht herzlich«18 geliebt hatten, dann aber aufgrund materieller Interessen anderweitig verheiratet worden waren. Die Liebe wurde also den materiellen Interessen geopfert, ganz im Sinne dessen, was Michel Foucault als »dispositif d’alliance« bezeichnet.19 Doch sind beide aus ihren Verbindungen freigekommen und haben schließlich eine Liebesheirat geschlossen, welche allerdings von Charlotte aufgrund ihres fortgeschrittenen Lebensalters als nicht unproblematisch angesehen wurde: Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich ein, denn da wir ungefähr von denselben Jahren sind, so bin ich als Frau wohl älter geworden, du nicht als Mann. Zuletzt wollte ich dir nicht versagen, was du für dein einziges Glück zu halten schienst. Du wolltest von allen Unruhen, die du bei Hof, im Militär, auf Reisen erlebt hattest, dich an meiner Seite erholen, zur Besinnung kommen, des Lebens genießen; aber auch nur mit mir allein. Meine einzige Tochter tat ich in Pension, wo sie sich freilich mannigfaltiger ausbildet, als bei einem ländlichen Aufenthalte geschehen könnte; und nicht sie allein, auch Ottilien, meine liebe Nichte, tat ich dorthin, die vielleicht zur häuslichen Gehülfin unter meiner Anleitung am besten herangewachsen wäre. Das alles geschah mit deiner Einstimmung, bloß damit wir 17

18 19

Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. VI, Nachdruck: München 1982, S. 242–490, hier S. 243; Teil I, Kap. 1. Ebd., S. 246; I, 1. Histoire de la sexualité. Bd. I: La volonté de savoir, Paris 1976, S. 140–143. Das alteuropäische Allianzdispositiv regelt die Mechanismen von Heirat, Verwandtschaftsbeziehungen und der Weitergabe von Namen und Gütern. Ehen kommen nicht aufgrund persönlicher, freier Wahl zustande, sondern werden von den Eltern gemäß dynastischen und ökonomischen Interessen gestiftet.

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uns selbst leben, bloß damit wir das früh so sehnlich gewünschte, endlich spät erlangte Glück ungestört genießen möchten. So haben wir unsern ländlichen Aufenthalt angetreten. Ich übernahm das Innere, du das Äußere und was ins Ganze geht. Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur für dich allein zu leben; laß uns wenigstens eine Zeitlang versuchen, inwiefern wir auf diese Weise miteinander ausreichen.20

Der Preis für die Exklusivität der auf Liebe gegründeten Ehe von Eduard und Charlotte ist der Ausschluss aller potentiell störenden Dritten – genannt werden Charlottes Tochter und ihre Nichte Ottilie. So sagt Charlotte etwas später: »Nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines Dritten.«21 Genau daran entzündet sich nun der Ausgangskonflikt zwischen Charlotte und Eduard. Denn dieser möchte gern seinen Freund, den Hauptmann, einen Mann von großen Verdiensten und Talenten, der »ohne sein Verschulden«22 beschäftigungslos geworden ist, in die ländliche Gemeinschaft mit aufnehmen. Diesen Wunsch eröffnet er seiner Frau just in dem Moment, da er zum ersten Mal die Mooshütte betreten hat und sich an dem ästhetischen Blick auf die Landschaft erfreuen konnte. Bezeichnend ist, dass damit die aufs Ästhetische fixierte Selbstgenügsamkeit des Paares gesprengt zu werden droht. Ganz deutlich stellt Eduard sie infrage, wenn er sagt: Ich hätte längst eine Ausmessung des Gutes und der Gegend gewünscht; er [der Hauptmann] wird sie besorgen und leiten. Deine Absicht ist, selbst die Güter künftig zu verwalten, sobald die Jahre der gegenwärtigen Pächter verflossen sind. Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen! Zu wie manchen Vorkenntnissen kann er uns nicht verhelfen! Ich fühle nur zu sehr, daß mir ein Mann dieser Art abgeht.23

Offenbar will Eduard die Geschlossenheit der Zweierbeziehung sprengen und die Selbstgenügsamkeit einer spätfeudalen Existenz ohne materielle Not in etwas anderes, Größeres, Moderneres überführen. Joseph Vogl spricht in seiner Deutung der Wahlverwandtschaften davon, dass hier eine alte, auf Selbstgenügsamkeit gegründete ökonomische Ordnung durch eine neue Lehre abgelöst werde, welche schon Aristoteles unter dem Begriff »Chrematistik« kannte: »Eine Lehre vom Erwerb, vom beweglichen Reichtum und vom Geld, das den Kreis der Selbstgenügsamkeit und der Bedürfnisse aufbricht und mit Entgrenzung, Übermaß und nicht-natürlichem Wachstum den Mangel und eine stets offene Zukunft zum Maß für die Selbstreproduktion des 20 21 22 23

Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 246; I, 1. Ebd., S. 248; I, 1. Ebd., S. 243; I, 1. Ebd., S. 245; I, 1.

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ökonomischen Prozesses macht.«24 Was in den Wahlverwandtschaften dargestellt wird, ist die Transformation einer statischen, selbstgenügsamen Ökonomie der Güter und der Leidenschaften in eine dynamische Mangelwirtschaft, welche Güterverkehr und Leidenschaften bildlich gesprochen durch Kreditaufnahme reguliert. Diese Mangelwirtschaft wäre interpretierbar als die modellhafte Verdichtung der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, welche die im 18. Jahrhundert noch bestehende spätfeudale Ordnung realgeschichtlich ablöst. Gegenläufig dazu wird zugleich ein Prozess erzählt, in dessen Vollzug die ästhetische Selbstbezüglichkeit einer auf Liebe gegründeten Zweierbeziehung (welche als Idee überhaupt erst im späten 18. Jahrhundert, also in der Zeit der Autonomisierung des Kunstsystems, entstanden ist, wodurch gleichzeitig die Parallelität dieser beiden Phänomene – autonome Liebe und autonome Kunst – sichtbar gemacht wird)25 überführt wird in die dynamische Offenheit einer doppelten Paarbeziehung mit imaginiertem Partnertausch. Keines der dargestellten Liebesmodelle wird sich am Ende als tragfähig erweisen. Scheinbar plausibilisiert wird diese Dynamisierung der Beziehungskonstellation durch den Rekurs auf eine chemische Gleichnisrede. Um die von Eduard angestrebte ökonomische Transformation zu ermöglichen, bedarf es des Hinzutretens eines Dritten, des von Eduard gewünschten Hauptmanns. Nach längeren Diskussionen willigt Charlotte schließlich ein, ihn in die Schlossgemeinschaft aufzunehmen, allerdings nur unter der Bedingung, dass der Aufenthalt des Hauptmanns zeitlich begrenzt sein soll. Sehr schnell zeigt sich, dass durch die Anwesenheit des Hauptmanns das Beziehungsgleichgewicht zwischen Eduard und Charlotte gestört wird. Die beiden Männer verbringen ihre Tage damit, die Schlossanlagen zu vermessen und eine »topographische Karte«26 zu erstellen. Der Hauptmann übt zudem Kritik an der Lage der Mooshütte, stellt also Charlottens aufs Ästhetische zielendes Wirken infrage. Diese fühlt sich »täglich einsamer«,27 kurz: Das gestörte Gleichgewicht bedarf zu seiner Wiederherstellung des Hinzutretens einer weiteren Person. An dieser Stelle der Handlung kommt es nun

24

25

26 27

Joseph Vogl, »Mittler und Lenker. Goethes Wahlverwandtschaften«, in: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 145–161, hier S. 153. Vgl. hierzu – im Anschluss an Luhmanns Liebe als Passion (1982), Frankfurt/M. 1995 – Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Hölderlin, Foscolo, Madame de Staël und Leopardi), Freiburg i. Br. 2002. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 266; I, 4. Ebd., S. 263; I, 3.

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zu der berühmten chemischen Gleichnisrede, die dem Roman seinen Titel verleiht.28 Eines Abends sitzen Eduard, Charlotte und der Hauptmann beisammen. Eduard liest aus einem Chemiebuch vor, in dem der Begriff »Verwandtschaft« öfter vorkommt. Charlotte bittet um Aufklärung über die genaue Bedeutung dieses Begriffs im chemischen Zusammenhang. Der Hauptmann will die gewünschte Aufklärung geben, macht allerdings den Vorbehalt, dass sein diesbezügliches Wissen in der Fachwelt schon veraltet sein könnte.29 Darauf sagt Eduard: »Es ist schlimm genug, […] daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Un28

29

Die Forschung kommt zu unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich des Stellenwerts der Chemie in den Wahlverwandtschaften: Jeremy Adler, »Goethe’s Use of Chemical Theory in His Elective Affinities«, in: Andrew Cunningham/Nicholas Jardine (Hg.), Romanticism and the Sciences, Cambridge u. a. 1990, S. 263–279, vertritt die Auffassung, dass der Roman, indem er die Gültigkeit einer etablierten chemischen Theorie auf den sozialen Bereich ausdehne, die Grundlage für eine universelle Theorie der Affinität (»the basis for a universal theory of affinity«, S. 263) schaffe. Das chemische Modell fungiere dabei allerdings mehr als Idee (im neoplatonistischen Sinne) denn als direkt zu übertragende Formel, analog der Idee der Urpflanze (S. 274f.). In Anknüpfung an Adler (insbesondere an dessen Dissertation »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes »Wahlverwandtschaften« und die Chemie seiner Zeit, München 1987, die Adler in dem oben erwähnten Beitrag zusammenfasst) postuliert Christoph Hoffmann, »›Zeitalter der Revolutionen‹. Goethes Wahlverwandtschaften im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 67 (1993), S. 417–450, dass Goethes Kenntnis der neuesten Entwicklungen im Bereich der chemischen Theorie (insbesondere der von Berthollet stammenden, das Kriterium der Masse einführenden Erweiterung der Affinitätstheorie) »unmittelbar in die Konzeption des Romans« (S. 419) eingeflossen sei. »Während im ›chemischen Gespräch‹ noch das klassische Konzept der Affinität vertreten wird – wenn auch mit einer gewichtigen Einschränkung, wie sich zeigen wird – artikuliert das Romangeschehen die neuen Grundsätze Berthollets.« (Ebd.) Eine Gegenposition zu Adler und Hoffmann, die in den Wahlverwandtschaften die Realisierung eines chemischen Programms zu erkennen glauben, findet sich bei Tim Mehigan, »Zur Frage der Selbstorganisation des Lebendigen in Goethes literarischem Experiment der ›Wahlverwandtschaften‹«, in: ders./Gerhard Sauder (Hg.), Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert. Festschrift für Christian Grawe zum 65. Geburtstag, St. Ingbert 2001, S. 13–31, der Goethes Roman als ein Experiment deutet, welches die in Goethes Selbstanzeige genannte (auf Spinoza zurückgehende) »eine Natur«-These durchkreuze und eine klare Trennlinie zwischen Natur und Kultur markiere (S. 30f.). In diese Richtung weist auch die hier vorgeschlagene Lektüre der Wahlverwandtschaften. Die Wahlverwandtschaften, S. 270; I, 4: »[…] wie ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es gelesen habe. Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so darüber denkt, ob es zu den neuern Lehren paßt, wüßte ich nicht zu sagen.«

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terricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.«30 Hiermit wird nicht nur die epochentypische Erfahrung der Beschleunigung und der zunehmenden Spezialisierung des Wissens beim Namen genannt, sondern es wird auch deutlich signalisiert, dass die nun folgende Gleichnisrede als Interpretationsmuster für den Roman möglicherweise gar nicht gültig sein mag, weil es sich um veraltetes Wissen handelt. Der Kern der chemischen Theorie lässt sich mit den Worten des Hauptmanns wie folgt umreißen: Diejenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt. An den Alkalien und Säuren, die, obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen neuen Körper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend genug.31

Diese Form der Verwandtschaft unterscheidet sich von der zwischen gleichartigen Elementen, die sich natürlicherweise vereinen, wie etwa Wassertropfen. Charlotte stellt die beiden Formen mit den Begriffen »Blutsverwandtschaft« und »Geistes-« beziehungsweise »Seelenverwandtschaft« einander gegenüber und schlägt den Bogen zurück zum Bereich der menschlichen Gesellschaft: »Auf eben diese Weise können unter Menschen wahrhaft bedeutende Freundschaften entstehen; denn entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung möglich.«32 Im nächsten Schritt ist von jenen Verwandtschaften die Rede, welche zugleich Scheidungen bewirken (die Chemiker nannte man im 18. Jahrhundert bekanntlich auch Scheidekünstler). Der Hauptmann erläutert dies am Beispiel des Kalksteins, der aus einer Verbindung von Kalkerde und einer »zarten Säure« resultiere, »die uns in Luftform bekannt geworden ist«: Bringt man ein Stück solchen Steines in verdünnte Schwefelsäure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte, luftige Säure hingegen entflieht. Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde.33

Es ergibt sich also folgende Abstufung: (1) Der Bezug eines Elementes zu sich selbst (zum Beispiel Wassertropfen, die sich zu Wasser vereinigen). Die30 31 32 33

Ebd. Ebd., S. 272f.; I, 4. Ebd., S. 273; I, 4. Ebd., S. 274; I, 4.

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ser Selbstbezug wird mit Blutsverwandtschaft verglichen. (2) Die Verwandtschaft unterschiedlicher beziehungsweise gegensätzlicher Elemente (zum Beispiel Säuren und Basen, die sich »suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen neuen Körper bilden«); diese Verwandtschaft wird mit der Seelenverwandtschaft verglichen. (3) Die Wahlverwandtschaft, welche zugleich zu einer Trennung verbundener Elemente und zu einer neuen Zusammensetzung führt (zum Beispiel Kalkstein, der im Kontakt mit Schwefelsäure dergestalt aufgelöst wird, dass sich der Kalk mit der Schwefelsäure zu Gips verbindet, während die zuvor mit dem Kalk verbundene »zarte Säure« entflieht). Wie wird nun diese dritte Form der Verwandtschaft beurteilt? Charlotte kritisiert den Terminus der Wahlverwandtschaft als ungeeignet: […] ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt. Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott! In dem gegenwärtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsäure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben muß.34

Zunächst stellt Charlotte das anthropomorphische Konzept der freien Wahl dem nicht-anthropomorphischen Konzept der Naturnotwendigkeit entgegen. Insofern wäre die Metapher der Wahlverwandtschaft für den Naturbereich irreführend. Dann aber führt Charlotte das Konzept der Gelegenheit ein und nimmt damit ihre Kritik zurück beziehungsweise lenkt sie in eine andere Bahn. Denn Gelegenheit hat wiederum eine anthropomorphische Konnotation, wie die zitierte Redewendung »Gelegenheit macht Diebe« zeigt. Eine tatsächliche Wahl findet dagegen nicht auf der Ebene der Naturphänomene statt, sondern auf der des naturwissenschaftlichen Experiments. Damit wird nun der anthropomorphische Aspekt der gesamten Naturwissenschaft bloßgelegt, denn unsere Erkenntnis von Naturgesetzen beruht auf dem experimentellen Eingriff in die Natur und kann somit nicht eine absolute sein, sondern sie ist letztlich abhängig von der menschlichen Beobachterposition.35 Hier also, im Experiment, begegnen sich die in Goethes Selbstanzeige genannten Bereiche der Naturlehre und der Ethik. Naturlehre ist immer schon durch menschliches Verhalten vermittelt. Dies rechtfertigt denn auch die Kurzschließung der beiden Bereiche durch Metaphern. 34 35

Ebd. Vgl. hierzu grundlegend Thomas Hausmanninger, »Wissenschaft und Weltdeutung. Zur Frage nach dem Subjekt im Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung«, in: Bernadette Malinowski (Hg.), Im Gespräch: Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaften, München 2006, S. 81–103.

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Genau in diesem Sinne scheint es verstehbar zu sein, wenn Charlotte am Ende ihrer Einlassung Mitleid mit der freigewordenen Luftsäure bekundet, wenn sie also eine menschliche Kategorie auf nicht-menschliche chemische Abläufe anwendet. Dies wiederum interpretiert Eduard im Folgenden dahingehend, dass er Charlotte unterstellt, sie wolle die chemische Gleichnisrede auf ihre eigene Situation anwenden: »Gesteh nur deine Schalkheit! Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann, als einer Schwefelsäure, ergriffen, deiner anmutigen Gesellschaft entzogen und in einen refraktären Gips verwandelt wird.«36 Hier wird zum ersten Mal also eine analogische Korrelation zwischen chemischen Abläufen und der der Romanhandlung zugrundeliegenden Beziehungskonstellation postuliert: (1) Ausgangssituation (a) Kalkerde (= Eduard) + Luftsäure (= Charlotte) = Kalkstein (b) Schwefelsäure (= Hauptmann) (2) Transformation nach dem Muster der Wahlverwandtschaft (a) Kalkerde (= Eduard) + Schwefelsäure (= Hauptmann) = Gips (b) Luftsäure (= Charlotte) wird freigesetzt

Charlotte entgegnet indes, dass man doch den Unterschied zwischen dem Menschen und den chemischen Elementen nicht aus dem Auge verlieren solle: »Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht, und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlaß recht zu bedenken.«37 Sie insistiert also im Gegensatz zu Eduard gerade auf den Grenzen der metaphorischen Ineinssetzung. Diese ihre Warnung wird argumentativ gestützt durch eine Befürchtung: »Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige, unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentliche Zugesellung eines dritten aufgehoben und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward.«38 Ihre Argumentation ist also letztlich moralisch fundiert. Sie bedauert (»Mir sind leider Fälle genug bekannt«), dass bestehende Verbindungen in vielen Fällen aufgelöst wurden, indem sich die oben schon erwähnte Gelegenheit der Verbindung eines der beiden Partner mit einem dritten ergab. Gemeint ist ganz offensichtlich die klassische amouröse Dreiecksbeziehung. Man soll Charlotte zufolge einen solchen, zumindest aus der Sicht des Geschädigten moralisch negativ zu beurteilenden Vorgang nicht mit positiv konnotierten Begriffen wie »Wahl« 36 37 38

Die Wahlverwandtschaften, S. 274; I, 4. Ebd., S. 275; I, 4. Ebd.

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Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft

und »Wahlverwandtschaft« nobilitieren. Doch scheint sich hierin zugleich die Richtigkeit der Analogie zwischen Chemie und menschlicher Gesellschaft zu zeigen, denn offenbar funktionieren menschliche Trennungen und Vereinigungen nach dem chemischen Muster. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird nun noch eine vierte Variante der chemischen Verwandtschaft, nämlich die doppelte Wahlverwandtschaft, vorgestellt. So sagt der Hauptmann: […] diese Fälle sind allerdings die bedeutendsten und merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen kann, wo vier bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu und hält das Kunstwort »Wahlverwandtschaften« für vollkommen gerechtfertigt.39

Charlotte bittet um ein illustrierendes Beispiel, was der Hauptmann zunächst verweigert, weil man den Vorgang am besten nicht durch Worte, sondern durch ein Experiment veranschaulichen könne. Immerhin übersetzt er sodann den Vorgang in »Zeichensprache«: »Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe.«40 War oben implizit von der Dreiecksbeziehung die Rede, bei der eine bestehende Verbindung durch einen Dritten aufgebrochen wird und eine neue Beziehung entsteht, sodass einer der beiden ehemaligen Partner als Geschädigter allein zurückbleibt, so wird hier nun implizit das Modell eines doppelten und reziproken Partnerwechsels aufgerufen: aus zwei vorhandenen Paaren bilden sich zwei neue (und niemand scheint geschädigt zu werden; im Roman wird sich dagegen zeigen, dass alle Beteiligten geschädigt werden). An dieser Stelle aber zeigt sich die Ambivalenz des Romans sehr deutlich. Eduard nämlich schlägt den Bogen zurück zur Beziehungskonstellation der Handlungsebene, indem er sagt: Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B; denn eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem A das B. Das C ist ganz deutlich der Kapitän, der mich für diesmal dir einigermaßen entzieht. Nun ist es billig, daß, wenn du nicht

39 40

Ebd. Ebd., S. 276; I, 4.

Das Auseinandertreten von Wissen und Erzählen

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ins Unbestimmte entweichen sollst, dir für ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswürdige Dämchen Ottilie, gegen deren Annäherung du dich nicht länger verteidigen darfst.41

Statt an den naheliegenden Partnertausch denkt Eduard hier lediglich an das Verhältnis zwischen den Männern auf der einen und den Frauen auf der anderen Seite. Seine Lesart der Gleichnisrede ist unverfänglich und harmlos. Doch zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass die Analogie so nicht aufgeht. Denn der chemischen Formel zufolge müsste es nicht nur eine vorgängige Verbindung zwischen A und B (übertragen: zwischen Charlotte und Eduard), sondern auch eine solche zwischen C und D (übertragen: zwischen dem Hauptmann und Ottilie) geben, damit es zu einer Überkreuzverbindung B/C und A/D kommen kann. Doch besteht zwischen dem Hauptmann und Ottilie keine solche Verbindung. Stattdessen aber gab es eine in der Vorgeschichte zumindest potentielle Verbindung zwischen Eduard und Ottilie, denn vor ihrer Ehe mit Eduard hatte Charlotte just Ottilie als potentielle Partnerin für Eduard in Erwägung gezogen (also: A/B – B/D, wiederum eine Dreieckskonstellation). Diese Verbindungskonstellation passt somit ebenso wenig zur chemischen Gleichnisrede wie die zuerst genannte. Wie auch immer man es dreht und wendet, die chemische Formel lässt sich nicht in restlose Homologie zur tatsächlichen Beziehungskonstellation des Romans bringen. Das signalisiert übrigens auch Charlotte, wenn sie sagt, dass das von Eduard gewählte Beispiel nicht ganz auf den chemischen Fall passe.42 Wenn man nun den weiteren Verlauf der Handlung betrachtet, so erkennt man, dass das Modell der Wahlverwandtschaften, so suggestiv und scheinbar selbstevident es auch erscheinen mag, in einer deutlichen Diskrepanz zur tatsächlichen Handlung steht. Ottilie wird im Anschluss an das Gespräch über die Wahlverwandtschaften in die Schlossgemeinschaft aufgenommen, und sehr bald stellt sich heraus, dass Eduard von Ottilie geradezu magisch angezogen wird und umgekehrt, während auf der anderen Seite eine Zuneigung zwischen Charlotte und dem Hauptmann entsteht. Das wäre also die Konstellation B/D – A/C, welche man im Sinne der chemischen »Zeichensprache« als doppelten Ehebruch qua Wahlverwandtschaft interpretieren kann, wenn man einmal davon absieht, dass erstens, wie schon gesagt, zwischen dem Hauptmann und Ottilie zuvor keine Verbindung bestanden hat und dass es zweitens nicht zu der im Modell vorgesehenen Überkreuzstellung A/D – B/C kommt. Das Modell wird also nicht erfüllt, sondern abgewandelt. 41 42

Ebd. Ebd.

128

Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft

In der Folge kommt es dann zu einer nächtlichen Liebesbegegnung zwischen Eduard und Charlotte, bei der jeder an den jeweils abwesenden Geliebten denkt: »In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.«43 Der reale Liebesakt zwischen den Eheleuten vollzieht sich auf der imaginären Ebene als doppelter Ehebruch. Dass es nicht zu einem tatsächlichen Ehebruch kommt, passt wiederum auch nicht zum chemischen Modell; es liegt hier eine Diskrepanz zwischen Realität und Imagination vor. Auf der Ebene des Realen scheint es indessen eine indirekte Beglaubigung des Modells der Wahlverwandtschaften zu geben, insofern Charlotte infolge des Liebesaktes schwanger wird und einen Sohn namens Otto gebiert, der die Augen von Ottilie und das Gesicht des Hauptmanns hat. Das Kind hat zwar als leibliche Eltern das Ehepaar Eduard und Charlotte, sieht aber aus wie die beim Liebesakt jeweils tatsächlich begehrten, jedoch abwesenden Geliebten.44 Es vereinigt also in sich alle vier Elemente A, B, C und D. Man könnte in diesem Kind eine Art verschobene Bestätigung des Modells erblicken. Nun ist allerdings diesem Kinde kein langes Leben beschieden. Es stirbt unter tragischen Umständen, kurz nachdem Eduard, der, um Ottilie nicht unwiderruflich zu verlieren, lange abwesend war, und Ottilie sich zum ersten Mal wiederbegegnen. Ottilie widersteht bei dieser Begegnung dem Liebeswerben Eduards, obwohl auch sie ihn immer noch liebt, und legt ihr Schicksal in Charlottes Hände. Sie soll entscheiden, ob es zu einer dauerhaften Bindung zwischen Eduard und Ottilie kommen darf. Da Ottilie, die das Kind hütet, sich durch die Szene mit Eduard verspätet hat, will sie schneller zu Charlotte zurückkehren und nimmt die Abkürzung über den See. Auf dem Kahn kommt es zu einem Unfall, bei dem das Kind ins Wasser stürzt und ertrinkt. Indem also gerade die reale Nähe von Eduard und Ottilie letztlich zum Tod jenes Kindes führt, welches das Modell der Wahlverwandt43 44

Ebd., S. 321; I, 11. Vgl. hierzu Franz K. Stanzel, Telegonie – Fernzeugung: Macht und Magie der Imagination, Wien u. a. 2008, insbes. S. 134–143. Stanzel situiert die Liebesszene zwischen Charlotte und Eduard in der Motivtradition der »Telegonie« (welche er definiert als »die imaginative Präsenz einer dritten Person im Zeugungsakt eines Paares«, S. 12) und vertritt die These, dass Eduards Rede vom »doppelten Ehebruch« den Tatbestand verschleiere, dass Charlottes Bewertung des Liebesakts weniger eindeutig ausfalle als die Eduards. Der Text erzeuge gezielt Unsicherheiten der Bewertung.

Das Auseinandertreten von Wissen und Erzählen

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schaften hätte beglaubigen können, wird dieses Modell erneut widerlegt. Es ist kein tragfähiges Modell zur Erklärung der Handlung des Romans und der darin enthaltenen Beziehungskonstellationen. Erzählen und Wissenschaft laufen nur scheinbar konform (der Romantitel scheint das zu suggerieren), in Wirklichkeit sind beide durch einen Hiat voneinander getrennt.45 Die von Goethe in seiner Selbstanzeige angekündigte Rückführung einer »chemische[n] Gleichnisrede« »zu ihrem geistigen Ursprunge« erweist sich als unmöglich, weil im Roman nicht die Analogien zwischen Chemie und menschlichem Verhalten, sondern im Gegenteil ihre Differenzen sichtbar gemacht werden.

45

Vgl. hierzu auch Lubkoll, »Wahlverwandtschaft«, S. 268: »Im weiteren Verlauf des Romans wird dann das Strukturmodell der ›doppelten Wahlverwandtschaft‹ radikal unterlaufen und zu Fall gebracht: erstens durch den lediglich phantasmatischen, nicht real vollzogenen Akt des doppelten Ehebruchs im elften Kapitel; zweitens durch den Tod des Kindes Otto, das mit seinen Gesichtszügen dem Augenblick der Wahlverwandtschaft eigentlich Garantie und Dauer verleihen sollte; drittens schließlich durch die schwerwiegende Tatsache, daß die menschlichen Beziehungen im Roman sich gerade nicht – wie das chemische Vorbild – als haltbar und endgültig erweisen, sondern in eine unwiderrufliche Krise geraten. Am Ende hat keine der erprobten Beziehungen Bestand.«

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4.

Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans im Realismus/Naturalismus

Im 18. Jahrhundert hat, wie wir bereits gesehen haben, die Ausgrenzung einer Gattung, die bei Autoren nicht weniger als bei Lesern sehr beliebt war und – etwa bei Rousseau – bisweilen zu regelrechter Lesewut Anlass gab,1 primär poetologische Ursachen. Das auf die Poetik des Aristoteles zurückgehende Gattungssystem sah nämlich den Roman ganz einfach nicht vor. Dieser war nicht in den von der Antike übernommenen Regelkanon einzupassen: Es handelte sich um eine aus der Perspektive der offiziellen Poetik regellose, nicht-kodifizierte, monströse Gattung. Dass der Roman trotz dieser offiziellen Ächtung sogar bedeutende philosophes wie Voltaire, Diderot und Rousseau in seinen Bann schlagen konnte, ist nicht nur ein Indiz für die allgemein von Liebesgeschichten und von Fiktionen ausgehende Faszination, sondern auch speziell für die Umbruchssituation, in der sich das Literatursystem im 18. Jahrhundert befand.2 Dieser Umbruch war charakterisiert durch die allmähliche, zunächst unterschwellige Auflösung der doctrine classique, und er kulminierte in der in Frankreich um 1800/10 mit Mme de Staëls poetologischen Schriften einsetzenden Romantik, einem epochalen Bruch mit der Tradition. Die literarhistorisch vielleicht bedeutsamste Folgeerscheinung der romantischen Literaturrevolution war der Aufstieg des Romans zur quantitativ wie qualitativ dominanten Gattung im 19. Jahrhundert. Dieser Aufstieg manifestiert sich erstmals prägnant in Gestalt von Honoré de Balzacs (1799–1850) monumentalem Projekt einer die zeitgenössische Gesellschaft in allen ihren Aspekten zu erfassen versuchenden »histoire des mœurs«, genannt La comédie humaine. Winfried Wehle sagt, Balzac habe »in seiner Zeit nichts weniger als eine Revolution des Romans ins Werk gesetzt«.3 Diese Revolution hängt 1 2

3

Les confessions, I. Buch, Œuvres complètes, Bd. I, S. 39. Erinnert sei hier noch einmal an die Studien von Frick, Providenz und Kontingenz, und Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, deren übereinstimmende These lautet, dass der Roman, gerade weil er eine nicht-kodifizierte und somit inferiore Gattung war, in die auf der Ebene der Sinngebungs- und Weltdeutungsmodelle durch den Wegfall des Providenzglaubens entstandene Lücke eindringen und Probleme zur Darstellung bringen konnte, die auf der philosophisch-theologischen Ebene zu Aporien führen mussten. Winfried Wehle, »Littérature des images. Balzacs Poetik der wissenschaftlichen Imagination«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Honoré de Balzac, München 1980, S. 57–81, hier S. 58.

Balzacs Begründung des Romans als Wissenschaft

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mit einer »Revision des überkommenen Nachahmungsbegriffs der Natur« zusammen und ruht auf zwei Pfeilern: Zum einen begründet Balzac den Roman als Wissenschaft, zum anderen schafft er einen neuen literarischen Diskurstyp. Beide Komponenten sind für die Geschichte des Romans im 19. und 20. Jahrhundert von maßgeblicher Bedeutung.4 Ausgangspunkt der folgenden Darstellung des realistischen Romans und seiner Verwissenschaftlichung ist eine Skizzierung der wichtigsten Prinzipien des Balzac’schen Romanprojekts, wie sie im »Avant-propos« zur Comédie humaine vom Autor entwickelt werden. Dabei wird vor allem auf die Funktion wissenschaftlicher Modelle einzugehen sein. Außerdem soll exemplarisch gezeigt werden, wie sich bei Balzac Theorie und Praxis zueinander verhalten (Kap. 4.1). Anschließend möchte ich die kritische Balzac-Rezeption bei Flaubert darstellen und das ambivalente Wissenschaftsbild des Autors darlegen (Kap. 4.2). Danach soll ein Blick auf Manzonis Roman I promessi sposi geworfen werden, der in etwa zeitgleich mit Balzac ebenfalls wissenschaftliche (historiographische) Methoden zur Anwendung bringt und sich zugleich ironisch von ihnen distanziert (Kap. 4.3). Schließlich möchte ich auf die wissenschaftliche Poetik des Naturalismus als Fortsetzung des realistischen Projekts eingehen und zeigen, dass diese Poetik nicht nur in sich brüchig ist, sondern auch auf welche Weise sich Autoren wie Pirandello und Pío Baroja zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisch mit ihr auseinandersetzen (Kap. 4.4).

4.1 Balzacs Begründung des Romans als Wissenschaft In dem poetologisch aufschlussreichen »Avant-propos«5 von 1842 erläutert Balzac den Plan seines seit dreizehn Jahren im Entstehen begriffenen Pro-

4

5

Vgl. Joachim Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet. Ausgewählte Probleme zum Verhältnis von Poetologie und literarischer Praxis, Stuttgart 1987. Küpper deutet Balzacs Romanzyklus im Sinne Jurij M. Lotmans als »Ausgangstyp« (Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München 1972, S. 151) der die Geschichte des Romans im 19. und 20. Jahrhundert prägenden »Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung«. »Die Comédie humaine ist eine Art orientierungsgebender Fixpunkt und zugleich das stets ›bekämpfte‹ (Tynjanov) Muster […]« (S. 83). Vgl. hierzu grundlegend die Bemerkungen bei Eckhard Höfner, Literarität und Realität. Aspekte des Realismusbegriffs in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1980, S. 90–97, Françoise Gaillard, »La science: modèle ou vérité. Réflexions sur l’avant-propos à La comédie humaine«, in: Claude Duchet (Hg.), Balzac. L’invention du roman, Paris 1982, S. 57–83, und Andreas Kablitz, »Erklärungs-

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Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

jekts und berichtet von dessen Ursprung. Ausgangspunkt sei die Idee der grundsätzlichen Analogie von Tierreich und Menschenwelt gewesen. Dieser Gedanke wurde in der Naturwissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts und von Balzacs prominentem Zeitgenossen, dem Zoologen Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844), unter dem Stichwort der »unité de composition« verhandelt: »Il n’y a qu’un animal. Le créateur ne s’est servi que d’un seul et même patron pour tous les êtres organisés.«6 [Es gibt nur ein Tier. Der Schöpfer hat für alle Lebewesen nur ein einziges Modell verwendet.] Damit greift Balzac die für das 19. Jahrhundert epistemologisch basale Opposition Oberfläche vs. Tiefe7 auf: Der sichtbaren Vielfalt der Arten, die sich auf Umweltunterschiede zurückführen lasse (Oberfläche), stehe die grundsätzliche Einheit der Schöpfung gegenüber, deren verborgene Prinzipien der Forscher freilegen müsse (Tiefe). Diese Transformationsrelation zwischen Oberfläche und Tiefe habe systemischen, regelhaften Charakter, wie Geoffroy Saint-Hilaire gezeigt habe. Allein deshalb kann sie ja Gegenstand einer Wissenschaft werden. Unter diesem Aspekt, so Balzac, seien nun ebenso die gesellschaftlichen Unterschiede in der Menschenwelt zu erklären: »La Société ne fait-elle pas de l’homme, suivant les milieux où son action se déploie, autant d’hommes différents qu’il y a de variétés en zoologie?«8 [Macht nicht die Gesellschaft aus dem Menschen, entsprechend den Milieus, in denen er seine Aktivitäten entfaltet, ebenso viele verschiedene Menschen, wie es zoologische Arten gibt?] Die Unterschiede zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem Verwaltungsbeamten, einem Advokaten usw. seien denen zwischen einem Wolf, einem Löwen, einem Esel, einem Raben usw. analog und daher auch ebenso beschreibungs- und erklärungsbedürftig wie diese: »Si Buffon a fait un magnifique ouvrage en essayant de représenter dans un livre l’ensemble de la zoologie, n’y avait-il pas une œuvre de ce genre à faire pour la Société?«9 [Wenn Buffon ein großartiges Werk geschaffen hat, indem er versuchte, in einem Buch die Gesamtheit der Zoologie darzustellen, musste man dann nicht ein Werk ebendieser Art für die Gesellschaft herstellen?] Besonders

6

7

8 9

anspruch und Erklärungsdefizit im Avant-Propos von Balzacs Comédie Humaine«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 261–286. »Avant-propos«, in: La comédie humaine, Bd. I: Études de mœurs. Scènes de la vie privée, hg. v. Pierre-Georges Castex et al., Paris 1976, S. 7–20, hier S. 8. Gemäß Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, S. 258, ist für die Episteme des 19. Jahrhunderts der Gegensatz zwischen Oberfläche (Sichtbarkeit) und Tiefe (Unsichtbarkeit) von grundlegender Bedeutung. »Avant-propos«, S. 8. Ebd.

Balzacs Begründung des Romans als Wissenschaft

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deutlich wird hier ein Totalitätsanspruch erhoben, dessen Vorbild Balzac in der Naturwissenschaft findet (»l’ensemble de la zoologie«). Der Rekurs auf die zeitgenössische Naturwissenschaft zur Begründung eines Romanprojekts ist ein bedeutsames Indiz für den grundlegenden Wandel des literarischen Systems im Vergleich zum 18. Jahrhundert. Blieb die Literatur im Jahrhundert der Aufklärung zumindest offiziell noch dem Konzept der imitatio von anerkannten Vorbildern verhaftet, wobei als ästhetischer Leitgedanke das Ideal-Schöne fungierte,10 so ist sie mittlerweile gezwungen, sich völlig neu zu definieren, und sie tut dies offenbar, indem sie sich ihre Legitimation bei einem fremden Diskurstyp, dem wissenschaftlichen, sucht. Diese Hinwendung zur Wissenschaft war, so Wehle, doppelt determiniert: Zum einen hatte der romantische Traditionsbruch einer Konzeption von der Literatur als Ausdruck einer jeweiligen Gesellschaft (»expression de la société«) das Wort geredet (Mme de Staël, Victor Hugo) und somit die Notwendigkeit einer Mimesis des Zeitgenössischen geschaffen, die sich dann zwangsläufig an neuen Vorbildern zu orientieren hatte. Zum anderen hatte der vergleichende Anatom und Begründer der wissenschaftlichen Paläontologie Cuvier (1769–1832) im Jahre 1810 einen Rapport historique sur les progrès des sciences naturelles vorgelegt, wo es heißt, dass die Wissenschaften »ne sont que l’expression des rapports réels des êtres«11 [nur der Ausdruck der realen Verhältnisse zwischen den Lebewesen sind]. Wissenschaft und Literatur konvergierten also in dem Ziel, ein Ausdruck des Wirklichen zu sein. Außerdem befindet sich im System der Wissenschaften, die Cuvier in »sciences mathématiques«, »sciences naturelles« und »sciences morales« unterteilt, im zuletzt genannten Bereich eine Leerstelle. Die »sciences morales« waren nämlich noch kaum entwickelt, und dies hatte einen in der Natur der Sache liegenden Grund. War doch Gegenstand dieser Wissenschaften der Mensch, genauer seine »affections morales«. Diese aber entziehen sich scheinbar jeglicher Regelhaftigkeit, weshalb, so Cuvier, allein das Genie es vermöge, die verborgenen Regeln zu erkennen und zu formulieren. An dieses Postulat kann Balzac nun in kühner Selbsteinschätzung als Genie mit seinem Projekt unmittelbar anschließen, ja er kann sich als den Begründer einer systematischen Wissenschaft mit dem totalisierenden Anspruch einer enzyklopädischen Erfassung der zeitgenössischen Gesellschaft betrachten.

10

11

Ein später Reflex darauf findet sich noch im »Avant-propos«, S. 15: »L’histoire n’a pas pour loi, comme le roman, de tendre vers le beau idéal.« [Die Geschichte steht nicht wie der Roman unter dem Gesetz, nach dem Ideal-Schönen zu streben.] Wehle, »Littérature des images«, S. 59.

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Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

Die Orientierung am Paradigma der Naturwissenschaften ist indes nicht hinreichend, um Balzacs literarisches Projekt zu fundieren. Zwischen den »Espèces Zoologiques« und den »Espèces Sociales« besteht nämlich eine Reihe von Unterschieden. So sorgen in der menschlichen Gesellschaft die Kategorien Geschlecht, Intelligenz, Sitten und Gebräuche dafür, dass die Verhältnisse wesentlich komplizierter als im Tierreich erscheinen. Es ergeben sich Antagonismen, Intrigen, Auf- und Abstiege, kurz, die Gesellschaft steht unter dem Zeichen einer von der Triebfeder menschlicher »passion« gesteuerten Dynamik: »La passion est toute l’humanité. Sans elle, la religion, l’histoire, le roman, l’art seraient inutiles.«12 [Die Leidenschaft ist das wesentliche Merkmal des Menschen. Ohne sie wären die Religion, die Geschichte, der Roman, die Kunst nutzlos.] Die von Balzac zu bewältigende Aufgabe ist aufgrund der Dynamik gesellschaftlicher Verhältnisse also nicht nur eine deskriptiv-taxonomische wie die des Naturforschers, sondern ebenso eine narrativ-historiographische. Dabei aber kann er sich nicht die Arbeiten der Historiker zum Vorbild nehmen, weil diese es bislang versäumt haben, die Sitten und Gebräuche vergangener Epochen zu überliefern, sondern er bedient sich eines »genre de composition injustement appelé secondaire«13 [einer zu Unrecht als sekundär bezeichneten Darstellungsform], welches von Walter Scott erst vor kurzem aus seinem Schattendasein gerissen und durch Verfahren wie Gattungsmischung und philosophische Reflexion geadelt worden sei: des Romans. Indem Balzac das Genre des von Scott geprägten historischen Romans, dessen fiktive Figuren durch ihren exemplarischen Charakter, so Balzac, ein authentischeres Bild einer Epoche zeichneten, als die offizielle Geschichtsschreibung dies je tun könnte, aufgreift und es in den Dienst eines systematischen Projekts zur Darstellung der gegenwärtigen Gesellschaft stellt, öffnet er sich den Weg der literarischen Umsetzung seines Projekts. Dieses besteht mithin aus zwei wesentlichen Komponenten: einer systematisch-enzyklopädischen und einer historiographisch-narrativen, die sich aus dem Rückgriff auf naturwissenschaftliche Theorien (Biologie, Paläontologie) beziehungsweise auf das Modell des historischen Romans (Walter Scott) speisen. Es geht dabei sowohl um die Darstellung der sichtbaren Oberfläche der Erscheinungen in ihrer Vielgestaltigkeit als auch um die Freilegung der in der Tiefe verborgenen Prinzipien und Gesetze (»ne devais-je pas étudier les raisons ou la raison de ces effets sociaux, surprendre le sens caché dans cet immense assemblage de figures, de passions et d’événements« [musste ich nicht die Gründe oder den Grund für diese gesellschaftlichen 12 13

Balzac, »Avant-propos«, S. 16. Ebd., S. 10.

Balzacs Begründung des Romans als Wissenschaft

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Auswirkungen studieren, den verborgenen Sinn in dieser gewaltigen Zusammenfügung von Figuren, Leidenschaften und Ereignissen freilegen]).14 Die beiden Komponenten nun waren nicht nur für die Genese der Comédie humaine bedeutsam, sondern sie finden ihren Niederschlag auch in der Struktur der Balzac’schen Romane, allerdings in komplexer Verschränkung. Das chaotisch Vielgestaltige der zu reproduzierenden Wirklichkeit, die Intrigen und Passionen der handelnden Figuren schlagen auf der syntagmatischen Ebene der histoire, der erzählten Geschichte, zu Buche. Hier gestattet sich der Autor, die von ihm beobachtete und erlebte Wirklichkeit nicht etwa, wie er selbst missverständlich sagt, abzubilden, sondern zu modellieren, indem er ihm wesentlich erscheinende Elemente herausgreift und sie zu exemplarischen Charakteren und Handlungen verdichtet (»en composant des types par la réunion des traits de plusieurs caractères homogènes«).15 Die auf der Geschichtsebene angesiedelte narrative Komponente des Balzac’schen Projekts wird ergänzt durch die auf der Ebene des Erzählerkommentars paradigmatisch zum Ausdruck kommende systematischenzyklopädische Komponente. Hier gilt es, die geheimen Ursachen, den »sens caché«, die »principes naturels« der dargestellten Handlungen freizulegen.16 Der Erzähler übernimmt mithin die Rolle des analysierenden Wissenschaftlers, er erklärt, interpretiert, kommentiert und legt so die verborgene Tiefendimension der erzählten Geschichten frei.17 Auf dieser 14 15

16 17

Ebd., S. 11. Ebd. Zur Typenbildung vgl. Winfried Engler, »Zur Typisierung bei Balzac«, in: Lendemains (1975), S. 41–47. Balzac, »Avant-propos«, S. 11. Vgl. hierzu Boris Lyon-Caen, »Balzac, une épistémologie en devenir«, in: Poétique 135 (2003), S. 289–305, der Balzacs Aufdeckungsstrategie mit Carlo Ginzburgs »Indizienparadigma« (vgl. ders., Spurensicherungen, übers. v. G. Bonz, Berlin 1983, S. 61–96) in Verbindung bringt und folgende von Balzac verwendete Verfahren benennt: »une structuration narrative fondée sur l’énigme« [eine narrative Struktur, die auf dem Rätsel beruht], »une dominante descriptive justifiant l’apparition et la caractérisation concrètes du sens« [eine deskriptive Dominante, die die konkrete Erscheinung und Charakterisierung des Sinns rechtfertigt] und »une thématique de l’observation […] actualisant des compétences et un outillage herméneutiques bien particuliers« [eine Thematik der Beobachtung (…), die besondere hermeneutische Kompetenzen und Werkzeuge aktualisiert]. Dies führt zu folgender Gesamtcharakterisierung: »Idélament, donc, chez Balzac, pas un phénomène qui n’appelle l’induction, pas une surface qui ne soit transparente au décryptage, pas un matériau que le régime de sens herméneutique ne transcende.« [Idealerweise gibt es somit bei Balzac kein Phänomen, welches nicht die Induktion erforderte, keine Oberfläche, welche nicht der Entzifferung zugänglich wäre, keinen Stoff, der nicht durch die hermeneutische Sinnordnung transzendierbar wäre.] (S. 290)

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Ebene artikuliert sich die Balzac’sche doxa, die er ebenfalls im »Avant-propos« skizziert: L’homme n’est ni bon ni méchant, il naît avec des instincts et des aptitudes; la Société, loin de le dépraver, comme l’a prétendu Rousseau, le perfectionne, le rend meilleur; mais l’intérêt développe alors énormément ses penchants mauvais. Le christianisme, et surtout le catholicisme, étant, comme je l’ai dit dans Le Médecin de campagne, un système complet de répression des tendances dépravées de l’homme, est le plus grand élément d’Ordre Social.18 Der Mensch ist weder gut noch böse, er hat angeborene Instinkte und Fähigkeiten; weit davon entfernt, ihn, wie es Rousseau behauptet hat, zu verderben, vervollkommnet ihn die Gesellschaft, macht ihn besser; aber das Interesse entwickelt dann gehörig seine schlechten Neigungen. Das Christentum und vor allem der Katholizismus sind, da sie, wie ich es in Le Médecin de campagne dargelegt habe, ein vollständiges System der Unterdrückung lasterhafter Tendenzen des Menschen sind, das allergrößte Element der sozialen Ordnung.

Oberstes Prinzip dieser doxa ist die soziale Ordnung, deren Notwendigkeit in ihrer den Charakter des Menschen bessernden Wirkung begründet liegt. Sie wird in idealer Weise durch das Christentum aufrechterhalten, das heißt durch den Katholizismus und die Monarchie, die beiden Säulen der Restaurationsgesellschaft zwischen 1815 und 1830. Mit diesem Bekenntnis zur Restauration versucht Balzac unter anderem dem Vorwurf des Immoralismus zu begegnen, denn er habe sein Projekt der enzyklopädischen Wirklichkeitsdarstellung mit dem Ziel unternommen, gegenwärtige Missstände anzuprangern und die Rückkehr zu alten, immergültigen Prinzipien einzuklagen. Offenbar hatte man bemerkt, dass die von ihm dargestellten Handlungen eher ein Überwiegen des im traditionellen Sinne moralisch Bösen über das Gute sichtbar machten. Für dieses Ungleichgewicht macht Balzac indes den IstZustand der Gesellschaft verantwortlich, die er ja nur getreu abgebildet habe. Doch dabei habe er es nicht bewenden lassen: »Les actions blâmables, les fautes, les crimes, depuis les plus légers jusqu’aux plus graves, y trouvent toujours leur punition humaine ou divine, éclatante ou secrète.«19 [Die schändlichen Handlungen, die Fehler, die Verbrechen finden – von den geringfügigsten bis hin zu den schwerwiegendsten – dort immer ihre menschliche oder göttliche Strafe, nach außen sichtbar oder im Geheimen.] Dieses Bekenntnis zu einer angeblich obwaltenden göttlichen Gerechtigkeit ist ein Relikt aus dem 18. Jahrhundert, in dem die Literatur – zumindest in der offiziellen Poetik – noch primär moralisch zu sein hatte (vgl. zum Beispiel Diderots Éloge de Richardson). Von diesem harmonistischen Weltbild weicht Balzac aber in der 18 19

»Avant-propos«, S. 12. Ebd., S. 15.

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Struktur der modellierten Handlungen radikal ab. Über den Stellenwert seines Bekenntnisses zur göttlichen Gerechtigkeit wird noch zu sprechen sein, doch möchte ich hier schon die Hypothese formulieren, dass es sich dabei um eine die Radikalität und Innovativität seines Unternehmens auffangende Schutzbehauptung handeln dürfte. Festzuhalten ist jedenfalls an dieser Stelle die Gegenstrebigkeit von Geschichts- und Kommentarebene. Eine ähnliche Gegenstrebigkeit ist im Verhältnis zwischen Künstler und Wissenschaftler, wie Balzac es definiert, zu konstatieren. Es stellt sich nämlich in seiner Argumentation eine aufschlussreiche Vermischung der semantischen Bereiche ein. Die künstlerische Modellierung der Wirklichkeit, ihr Arrangement in Form von exemplarischen Handlungen, welche in der Summe jene »histoire oubliée par tant d’historiens, celle des mœurs«20 [von so vielen Historikern vergessene Geschichte, die der Sitten] ergeben sollen, diese Arbeit wird mit Begriffen charakterisiert, die zum Teil zwar aus dem künstlerischen, zum größeren Teil aber aus dem wissenschaftlichen Bereich stammen (»En dressant l’inventaire des vices et des vertus, en rassemblant les principaux faits des passions […]« [Durch das Erstellen des Inventars der Laster und der Tugenden, durch das Sammeln der wichtigsten Fakten hinsichtlich der Tugenden (…)], »reproduction rigoureuse« [strenge Reproduktion], »l’archéologue du mobilier social, le nomenclateur des professions, l’enregistreur du bien ou du mal« [der Archäologe des sozialen Mobiliars, der Nomenklator der Berufe, der Registrator des Guten wie des Bösen]).21 Demgegenüber bestehe, so Balzac, die eigentlich künstlerische Arbeit in der erwähnten Freilegung des verborgenen Sinns, der geheimen Ursachen, in der Formulierung der Prinzipien und Gesetze, die das Handeln leiten (»pour mériter les éloges que doit ambitionner tout artiste, ne devais-je pas étudier les raisons ou la raison de ces effets sociaux […]« [um mir das Lob, welches jeder Künstler anstreben muss, zu verdienen, musste ich da nicht die Gründe oder den Grund für diese gesellschaftlichen Auswirkungen studieren (…)] – »La loi de l’écrivain, ce qui le fait tel, ce qui, je ne crains pas de le dire, le rend égal et peut-être supérieur à l’homme d’État, est une décision quelconque sur les choses humaines, un dévouement absolu à des principes.«22 [Das Gesetz des Schriftstellers, das, was ihn dazu macht, was ihn – ich schrecke nicht davor zurück, es auszusprechen – dem Staatsmann gleichstellt oder ihn sogar über ihn erhebt, ist eine wie auch immer geartete Entscheidungsgewalt über die menschlichen Angelegenheiten, eine absolute Hingabe an Prinzipien.] 20 21 22

Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 11f.

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Diese Vermischung der Bereiche scheint mir ein sehr deutliches Indiz für die von Balzac zur Nobilitierung des Romans vorgenommene wechselseitige Infizierung von Literatur und Wissenschaft zu sein. Die ursprünglich wissenschaftliche Aufgabe, nämlich das Aufstellen von Prinzipien, sei in Wahrheit eine künstlerische, während die ursprüngliche Aufgabe des Künstlers, nämlich die Wirklichkeit zu fiktiver Handlung zu verdichten, in Wahrheit ein wissenschaftliches Unterfangen sei. Man sieht hieran, dass der Versuch, den Roman durch die Fundierung auf Wissenschaft aufzuwerten, zu einer Ambiguisierung und Vermischung beider Bereiche führt, einer Ambiguisierung, die einer in der Textwirklichkeit zu beobachtenden Sachlage entspricht: Der Balzac’sche Roman ist ein hybrides diskursives Gebilde, das sich aus fiktiver Handlung mit illusionierender Funktion und aus dem kommentierenden Diskurs des allwissenden Erzählers zusammensetzt. Der Erzählerdiskurs speist sich aus zeitgenössischem Wissen unterschiedlicher Provenienz (Physiognomik, Mesmerismus etc.) und steht zur histoire-Ebene in einem epistemologisch nicht unproblematischen Verhältnis. Rainer Warning spricht hier unter Rückgriff auf den Wissenssoziologen Alfred Schütz von »Rezeptwissen«.23 Marc Föcking weist solchem Rezeptwissen einen textstrukturellen Ort neben dem ebenfalls vorhandenen medizinischen Spezialwissen zu: »Konzentriert sich das Detailwissen auf der histoire-Ebene der Figuren, wird es auf discours-Ebene durch den Erzähler ›durchschaut‹, der Erklärungen jenseits der Fachdiskurse bietet.«24 Dabei greift der Erzähler zumindest teilweise auf vom zeitgenössischen Fachwissen bereits überholte Theorien wie etwa den Mesmerismus zurück. Der ›wissenschaftliche‹ Anspruch wird somit, wenn man Balzacs programmatische Äußerungen aus dem »Avant-propos« in ihrer hybridisierenden Metaphorik ernstnimmt, sowohl durch die spezifische Modellierung der Handlung als auch durch die vom Einzelfall abstrahierenden Erklärungen des Erzählers einzulösen versucht. Da aber, wie oben bereits angedeutet wurde und im folgenden Kapitel noch näher gezeigt werden soll, das Verhältnis zwischen Handlung und Kommentar keineswegs ein konsistentes, sondern ein widersprüchliches ist, lässt sich hier schon vermuten, dass die ›Wissenschaftlichkeit‹ der Balzac’schen Romane ebenfalls keine Konsistenz im Sinne des zeitgenössischen Diskurstyps Wissenschaft besitzt. Dafür gibt 23

24

Rainer Warning, »Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comédie Humaine«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Honoré de Balzac, München 1980, S. 9–55, hier S. 40 (wiederabgedruckt in: Rainer Warning, Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 35–76, hier S. 65). Marc Föcking, Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 130.

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es, wie Marc Föcking gezeigt hat, eine sehr deutliche Bestätigung, wenn man die im »Avant-propos« zur Legitimation herangezogenen wissenschaftlichen Theorien von Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire genauer betrachtet.25 Die beiden Naturwissenschaftler vertraten nämlich konträre Positionen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Organismus, Funktion und Umwelt und abgeleitet davon auch hinsichtlich historischer Prozessualität. Dieser Gegensatz führte 1830 zu einem öffentlichen, vor der Académie des sciences in Paris ausgefochtenen (und von Goethe ausgiebig kommentierten)26 Streit um den Kiemendeckel der Fische. Geoffroy nahm an, dass dieser Kiemendeckel strukturell dem Gehörknöchelchen der Vögel entspreche, dass es also einen den Vögeln und den Fischen gemeinsamen Bauplan gebe – gemäß seiner Auffassung von der »unité de composition«, welche Balzac an prominenter Stelle im »Avant-propos« zitiert –, trotz der zweifellos unterschiedlichen Funktion, den das strukturell analoge Element dann in der jeweiligen Umwelt durch Anpassung übernehme. Cuvier dagegen glaubte, dass die beiden Organe des Fisches und des Vogels völlig getrennte, einer je unterschiedlichen Funktion angepasste Organe seien. Für ihn ist also jeder Organismus streng funktional an sein Milieu angepasst. Außerdem sind Cuvier zufolge nach dem Korrelationsprinzip alle Organe eines Organismus aufeinander abgestimmt, und die Veränderung eines bestimmten Organs müsste die Veränderung aller anderen nach sich ziehen. Das hat zur Folge, dass bei einer tiefgreifenden Änderung des Milieus eine biologische Art nicht durch Organwandel reagieren kann und folglich aussterben muss. Eine evolutionäre Veränderung von Arten im Sinne einer »chaîne des êtres« kann es somit nicht geben. Cuvier denkt also – im Gegensatz zu der bei Geoffroy möglichen Prozessualität und evolutionären Transformation – in Kategorien von Diskontinuität und Diskretheit, für ihn besteht die Naturgeschichte aus einer Abfolge synchroner Systeme, die durch Katastrophen untergehen und über deren Grenzen hinweg keine Transformation von Arten möglich ist (ArtenFixismus). Zwar kann er Prozessualität nicht denken, aber er kann ›natürliche‹ Klassifikationen des Tierreichs vornehmen, wobei ihm das signifikante Detail zur Synekdoche des Ganzen wird, das heißt, er kann – die Kenntnis des Bauplans vorausgesetzt – ausgehend von einem Knochen die jeweilige Art bestimmen. 25

26

Das Folgende nach Föcking, Pathologia litteralis, S. 38ff. und S. 94–111. Zu den Unterschieden zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire vgl. auch Gaillard, »La science: modèle ou vérité«. Vgl. Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. XIII, Nachdruck: München 1982, S. 219–250.

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Balzac beruft sich nicht nur im »Avant-propos« emphatisch auf Cuvier. Dessen taxonomische Vorgehensweise entspricht seinem Plan, die Welt der menschlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit so zu erfassen, wie sie ist. Andererseits gewinnt er der Fähigkeit des Paläontologen, die tote Vergangenheit aus winzigsten Details zu rekonstruieren, geradezu poetische Reize ab. So heißt es im 1. Kapitel des frühen, 1831 – und somit lange vor dem »Avant-propos« – publizierten Romans La peau de chagrin: Cuvier n’est-il pas le plus grand poète de notre siècle? Lord Byron a bien reproduit par des mots quelques agitations morales; mais notre immortel naturaliste a reconstruit des mondes avec des os blanchis, a rebâti comme Cadmus des cités avec des dents, a repeuplé mille forêts de tous les mystères de la zoologie avec quelques fragments de houille, a retrouvé des populations de géants dans le pied d’un mammouth. Ces figures se dressent, grandissent et meublent des régions en harmonie avec leurs statures colossales. Il est poète avec des chiffres, il est sublime en posant un zéro près d’un sept. Il réveille le néant sans prononcer des paroles artificiellement magiques, il fouille une parcelle de gypse, y aperçoit une empreinte et vous crie: «Voyez!» Soudain les marbres s’animalisent, la mort se vivifie, le monde se déroule!27 Ist Cuvier nicht der größte Dichter unseres Jahrhunderts? Lord Byron hat zwar mit Worten einige moralische Aufwallungen dargestellt; aber unser unsterblicher Naturforscher hat aus ausgebleichten Knochen ganze Welten rekonstruiert, hat wie Kadmus Städte mit Zähnen wiederaufgebaut, hat ausgehend von einigen Stücken Steinkohle tausend Wälder mit allen Rätseln der Zoologie bevölkert, hat in einem Mammutfuß Populationen von Riesen entdeckt. Diese Figuren stehen da, wachsen und bewohnen ganze Regionen, die im Einklang mit ihrer gewaltigen Statur stehen. Er ist Dichter mit seinen Ziffern; indem er eine Null neben eine Sieben setzt, erzeugt er Erhabenheit. Er erweckt das Nichts zum Leben, ohne dass er künstlich magische Worte ausspricht, er gräbt in einem Selenitblock, nimmt dort eine Spur wahr und ruft: »Sehen Sie!« Plötzlich animalisiert sich der Marmor, das Tote verlebendigt sich, die Welt setzt sich in Bewegung!

Trotz dieser, wie man sieht, dominant poetisch begründeten (und vielfach durch metaphorische Übertragung auf die Tätigkeit des Dichters nutzbar gemachten) Affinitäten zu Cuvier hat Balzac ein Gesellschaftsbild, welches mit einer der Grundannahmen von Cuvier in Konflikt steht und somit die epistemologische Kompatibilität gefährdet.28 Während für Cuvier jede Epoche und die in ihr lebenden Tiere a priori abgeschlossen sind (Arten-Fixismus), ist für Balzac die Gesellschaft in dynamischer Bewegung begriffen, also auch auf synchroner Stufe gerade nicht abgeschlossen. In der Synchronie steckt immer schon die Diachronie. Somit eignet sich die Cuvier’sche Taxonomie 27

28

La peau de chagrin, in: La comédie humaine, Bd. X: Études philosophiques, hg. v. PierreGeorges Castex et al., Paris 1979, S. 3–294, hier S. 75. Föcking, Pathologia litteralis, S. 100–104.

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nicht zur Beschreibung der Gesellschaft im Sinne Balzacs. Außerdem wird bei Balzac der Mensch nicht, wie es der Sichtweise Cuviers entsprechen würde, im biologischen Sinne als eine Art betrachtet, sondern unter dem Blickwinkel sich differenzierender sozialer Milieus. Damit ist die Homologie zwischen Mensch und Tier aus biologischer Sicht zerstört. Um den somit entstandenen Verlust zu kompensieren, rekurriert Balzac auf die Theorie von der »unité de composition«, die von Cuviers Antipoden Geoffroy SaintHilaire vertreten wurde: Indem hier Geoffroys Kampfbegriff gegen Cuviers Arten-Fixismus aufgerufen und zum tragenden tertium comparationis zwischen »Animalité« und »Humanité« erhoben wird, hat Balzac mehreres erreicht: Zum einen hat er die Konsequenzen seiner Übertragung des paradigmatisierenden biologischen Analogiemodells auf eine sozial ausdifferenzierte Gesellschaft getilgt und die »Einheit« der »Humanité« wieder hergestellt. Allerdings nicht als biologisch verstandene »variétés« innerhalb einer Art (denn er setzt »variété« und »espèce« gleich), sondern als Verlaufsmodell stetiger sozialer Ausdifferenzierung zu unterschiedlichen »espèces sociales«: »La société ne fait-elle pas de l’homme, suivant les milieux où son action se déploie, autant d’hommes différents qu’il y a de variétés en zoologie?« Damit hat er seinem biologischen Analogiemodell eine Dynamik eingeschrieben, die die Gültigkeit des für die Darstellung der »société« unabdingbaren klassifizierenden Instrumentariums dementiert: »unité de composition« implizierte im Akademiestreit der Biologen nicht die Überflüssigkeit oder Unmöglichkeit einer natürlichen Taxonomie, aber doch das Bemühen, über diese hinaus zu einer essentiellen Einheit des organischen Bauplans der Lebewesen zu gelangen. Diese gegenstrebigen Bewegungen importiert Balzac in sein synkretistisches Analogiemodell, wenn er paradigmatische Schnitte nach »types« und »différences« ansetzt, unter diesen »différences« aber die essentielle Einheit der Phänomene feststellt.29

Man sieht also sehr deutlich, dass Balzac gegensätzliche wissenschaftliche Modelle synkretistisch miteinander verbindet und damit ein äußerst komplexes Modell seines Gegenstandsbereiches, der menschlichen Gesellschaft, bildet. Diese ist einerseits in ihrer typenhaften Differenzierung der Tierwelt analog, andererseits unterscheidet sie sich grundlegend von ihr, insofern die menschliche »passion« und der Zufall die entscheidende Rolle spielen (»Le hasard est le plus grand romancier du monde: pour être fécond, il n’y a qu’à l’étudier«30 [Der Zufall ist der größte Romanautor der Welt: Um künstlerisch fruchtbar zu sein, genügt es, ihn zu studieren]). Letzteres steht im Zusammenhang mit der literarischen Darstellungsproblematik. Denn Balzac stellt die Frage: »Mais comment rendre intéressant le drame à trois ou quatre mille

29 30

Ebd., S. 102f. Balzac, »Avant-propos«, S. 11.

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personnages que présente une Société?«31 [Wie aber kann man das Drama mit drei- oder viertausend Personen, welches eine Gesellschaft aufführt, interessant gestalten?] Der Zufall und somit die individuelle Abweichung vom Typ beziehungsweise von der Norm machen eine Geschichte erst interessant und erzählbar. Zur Taxonomie eines Cuvier steht das Erzählen in denkbar schärfstem Gegensatz, während die Dynamik des Ereignishaften einer vom Zufall geprägten Gesellschaft gewisse Affinitäten zum historisch-dynamischen Modell Geoffroys aufweist. Dies ist ein erneuter Beweis für Balzacs Synkretismus. Wissenschaftliche Theorie und die Anforderungen literarischer Modellierung lassen sich also nur bedingt miteinander vereinen. Wie schon bei Goethe, nur unter geänderten Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen wie des literarischen Systems, lässt sich – trotz des Versuchs, den Roman auf wissenschaftliche Grundlagen zumindest in der Theorie zu stellen – eine Kluft zwischen Wissen und Erzählen konstatieren. Diese Kluft soll nun im folgenden Kapitel anhand des Verhältnisses zwischen Geschichts- und Kommentarebene am Beispiel des Romans Splendeurs et misères des courtisanes exemplarisch veranschaulicht werden. 4.1.1 Das Verhältnis von Geschichts- und Kommentarebene am Beispiel von Splendeurs et misères des courtisanes Bevor das widersprüchliche Verhältnis zwischen den beiden im Titel genannten Ebenen untersucht werden kann, muss zunächst gezeigt werden, wie die Geschichtsebene überhaupt strukturiert ist. Das für narrative Texte basale Konzept der Sujethaftigkeit wird hier grundlegend infrage gestellt. Sujethaft ist ein Text Lotman zufolge dann, wenn der Held die Grenze zwischen zwei oppositiven Teilräumen überschreiten kann.32 Als für Balzac typisches Beispiel wäre der Übergang in ein sozial höhergestelltes Milieu zu nennen, welcher mit einem ereignishaften Raumwechsel des Helden verbunden ist, mit seinem Zugang zu den Salons der höheren Gesellschaft, welche ihm aufgrund seiner Herkunft eigentlich verschlossen sind. Solche Sujethaftigkeit existiert zwar bei Balzac, doch wird sie durch die Struktur der Handlungen häufig infrage gestellt, wie nun zu zeigen ist. Die im Roman darzustellende Dynamik gesellschaftlicher Verhältnisse führt Balzac auf die Tatsache zurück, dass die Menschen im Gegensatz zu den Tieren unter dem Diktat ihrer Leidenschaften (»passions«) stehen. Diese 31 32

Ebd., S. 10. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 329–340, insbes. S. 336ff.

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sind Auslöser für die zahllosen Handlungspläne und Intrigen, denen sich die komplizierten, miteinander verwobenen Handlungsstränge der Balzac’schen Romane verdanken. Handlungsreichtum bedeutet indes nicht schon Ereignishaftigkeit im Lotman’schen Sinne einer definitiven Grenzüberschreitung, und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen ist der typische syntagmatische Verlauf einer Balzac’schen Handlung gedoppelt: Der soziale Aufstieg des Helden verläuft parallel zu seinem moralischen Abstieg, wodurch sich die Ereignishaftigkeit der Grenzüberschreitung relativiert.33 Zum anderen haben die Helden, insbesondere die starken, energetischen Charaktere wie Eugène de Rastignac (Le père Goriot), der junge Lucien de Rubempré (Illusions perdues) und vor allem der ehemalige Strafgefangene Jacques Collin alias Vautrin (Le père Goriot und Splendeurs et misères), zwar zahlreiche ambitionierte Handlungsziele, setzen auch mancherlei Intrigen ins Werk, doch ergibt sich bei genauerer Betrachtung, dass sie so gut wie niemals das ursprünglich ins Auge gefasste Ziel erreichen.34 Diese für Balzac charakteristische NichtKoinzidenz von Handlungsintention und Handlungsresultat möchte ich anhand des Romans Splendeurs et misères des courtisanes exemplarisch darstellen, nicht zuletzt deshalb, weil sich am Schicksal der Figur Vautrins zeigen lässt, in welche Widersprüche sich der Erzähler hinsichtlich seiner Einstellung zum »ordre social« verwickelt. Dies wiederum tangiert den Status des vom Erzähler reklamierten, wissenschaftlich fundierten Wissens. Der von 1838 bis 1847 entstandene vierteilige Roman bildet die Fortsetzung der etwa zeitgleich entstandenen Illusions perdues (1837–1843). Hauptfigur dieses Romans ist Lucien Chardon, ein junger Dichter aus Angoulême mit großen Ambitionen, der sich nach dem Geburtsnamen seiner Mutter de Rubempré nennt. Dieser usurpierte Adelstitel ist ein Zeichen für Luciens Ziel, den ihm durch Geburt zugewiesenen sozialen Bereich zu verlassen und aufzusteigen, das heißt eine ereignishafte Grenzüberschreitung vorzuneh33

34

Vgl. dazu Warning, »Chaos und Kosmos«, S. 16–23, insbes. S. 17 (Die Phantasie der Realisten, S. 41–48, insbes. S. 42f.). Hierin sieht Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung, S. 96, eine Konsequenz, die sich aus der Dynamisierung der Handlung ergibt: »Strukturell gesehen unterminiert das Prinzip dynamischer Modellierung den Status von Ereignissen als besonders hochgradig markierten Ereignissen, als Grenzüberschreitungen. […] Balzacs Helden ›handeln‹ nicht eigentlich im Sinne des klassischen Konzepts der Handlung als eines bewußten, auf eine bestimmte Finalität gerichteten Akts, bzw. genauer, die Resultate der Handlungen decken sich nicht mit den Absichten. Seine Helden sind eher Objekte denn Subjekte der Handlungswelt der Texte. […] Die Dynamik der passion bzw. die historische Dynamik (die indes nichts anderes ist als die auf dem Niveau der Nation und der Nationen abgebildete widersprüchliche Einheit der Einzel-Begehren) ziehen sich über die Grenzen hinweg […].«

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men. Damit steht Lucien in einer Reihe mit Protagonisten wie Julien Sorel aus Stendhals Le Rouge et le noir oder Rastignac aus Balzacs Le père Goriot. Das von Balzac gewählte Sujet (welches Flaubert in der Éducation sentimentale erneut aufgreifen wird) basiert auf der Opposition zweier sozialer Sphären, die durch eine normalerweise unüberwindliche Grenze voneinander getrennt sind. Die Sujethaftigkeit besteht in der vom Helden vollzogenen Grenzüberschreitung, die indes prekär bleibt und wieder rückgängig gemacht wird. Dies wiederum hängt mit dem Zunichtemachen der Handlungsintentionen zusammen. Einige Beispiele aus Splendeurs et misères sollen verdeutlichen, mit welcher Konsequenz Balzac alle Pläne, Intrigen und Handlungsentwürfe, die auf die Realisierung des gegebenen Sujets zielen, scheitern lässt: (1) Lucien liebt die schöne und hingebungsvoll-sinnliche Esther, nicht jedoch die zwar geistreiche, doch unansehnliche Clotilde. Dennoch entscheidet er sich für Clotilde, weil er mit ihrer Hilfe Karriere zu machen hofft. Dabei weiß er, dass er Clotilde nur gegen den Willen ihrer Eltern heiraten könnte, weil diese ihn als aus ihrer Sicht dubiosen Emporkömmling ablehnen. Noch als er Esther zum letzten Mal sieht, gerät er ins Schwanken und fragt sich, ob es nicht besser wäre, auf alle mondänen Ambitionen zu verzichten und stattdessen mit Esther auf dem Lande ein glückliches Leben zu führen. Dennoch verlässt er sie in Richtung Fontainebleau, wo er sich heimlich mit Clotilde treffen will. Hätte er anders entschieden, wäre Esther am Leben geblieben, und sie hätten beide von ihrer Erbschaft glücklich leben können. (2) Esther beschließt zwar, sich zu töten, doch möchte sie noch im Tode ihrem Lucien nützlich sein. Deshalb hinterlässt sie ihm die von Nucingen stammenden 750 000 Francs. Diese aber werden von ihren Dienern Prudence und Paccard entwendet, was sich für Lucien als verhängnisvoll erweist. Denn die Polizei, die schon seit geraumer Zeit das von Vautrin inszenierte Versteckspiel mit Esther und Nucingen beobachtet hat, verdächtigt Lucien, dessen Geldnot bekannt ist, nun zu Unrecht – und völlig gegen Esthers Intentionen – des Raubmordes an Esther. Lucien wird, noch bevor er sich mit Clotilde treffen kann, verhaftet und in die Conciergerie gebracht. Esthers 750 000 Francs bringen Lucien also ins Gefängnis, anstatt ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen nützlich zu sein. (3) Auch Vautrin, dem es immer wieder gelungen ist, seine Verfolger von der Geheimpolizei abzuschütteln, und der selbst im Gefängnis, in das er unter Mordverdacht gleichzeitig mit Lucien gebracht wird, dank der Hilfe seiner Tante Jacqueline Collin noch mühelos die Lage kontrolliert und seine Fäden zieht, scheitert schließlich. Denn zwar gelingt es ihm durch Verstellung, schlaues Taktieren und psychologischen Scharfsinn, die Vertreter der Justiz zu überlisten und ihnen ihre Machtlosigkeit vor Augen zu führen.

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Aber zugleich erlebt er in der Conciergerie seine größte Niederlage: In falscher Einschätzung der Lage nämlich verliert Lucien beim Verhör durch den Untersuchungsrichter die Nerven und gibt Vautrins wahre Identität preis. Als er schließlich seinen Fehler erkannt hat, erhängt er sich voller Scham und Verzweiflung in seiner Zelle. Damit aber zerstört er endgültig Vautrins sorgfältig vorbereitete Pläne, die vorsahen, sich mit Luciens Hilfe an der Gesellschaft zu rächen. Vautrin bleibt nun nur noch, seine eigene Haut zu retten, was ihm mit Bravour gelingt. Die Belegbeispiele ließen sich vermehren, doch sollte dies genügen, um die These zu illustrieren, dass sich Balzacs Romane zwar durch eine hohe Handlungsdichte auszeichnen, dass die ins Werk gesetzten Intrigen sich aber letztlich im Kreise drehen, weil die Protagonisten so gut wie nie das erreichen, was sie sich vorgenommen haben. Die ineinander verschachtelten und einander konterkarierenden Intrigen bieten dem Autor die Gelegenheit zu virtuoser Entfaltung seines erzählerischen Könnens, sie dienen mehr als Vorwand für spannende Handlungsführung, als dass sie den Handlungszielen der Figuren nützten. Das Narrative gewinnt eine im Zeichen des »hasard« stehende Eigendynamik, die jeden didaktischen oder gar wissenschaftlichen Anspruch hinter sich lässt. (Dabei wäre auch zu bedenken, welche Funktion die dadurch erzeugte Spannung hat: Balzacs Roman erschien zuerst als Fortsetzungsroman in einer Tageszeitung und sollte die Leser bei der Stange halten.)35 Wie der Titel jenes Romans, Illusions perdues, der mit Splendeurs et misères unmittelbar zusammenhängt, weil er Luciens Vorgeschichte erzählt, programmatisch zum Ausdruck bringt, hat Balzac – neben Stendhal mit Le Rouge et le noir – den Typus des Desillusionsromans entwickelt, an den Flaubert später anknüpfen wird. Das Auseinanderklaffen von Plan und Erfüllung, von Intention und Resultat ist ein Muster, welches nun auch im Verhältnis zwischen Erzählerkommentar und erzählter Geschichte zu beobachten ist. Ein charakteristisches Merkmal des Balzac’schen Erzählduktus ist bekanntlich die wiederholte Unterbrechung der Handlung durch seitenlange kommentierende Einschübe (Deskriptionen, historische Exkurse, wissenschaftliche Belehrungen, moralisierende Kommentare usw.). Hier manifestiert sich der (synkretistische) wissenschaftliche Anspruch des Erzählers. Die kommentierenden Einschübe häufen sich auffällig zu Beginn des dritten Teils von Splendeurs et misères, wo Balzac in rascher Folge mehrere Kapitel darauf verwendet, den Leser in die Welt der Gefängnisse und des Strafrechts einzuführen. Die 35

Vgl. hierzu René Guise, »Balzac et le roman-feuilleton«, in: L’Année balzacienne 1964, S. 285–338.

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Kapitelüberschriften36 heißen etwa: »Le panier à salade« [Der Gefangenentransporter], »Du droit criminel mis à la portée des gens du monde« [Das Strafrecht, für die Oberen Zehntausend erklärt], »Histoire historique, archéologique, biographique, anecdotique et physiologique du Palais de Justice« [Historische, archäologische, biographische, anekdotische und physiologische Geschichte des Justizpalastes], »Ce qu’est un juge d’instruction à l’usage de ceux qui n’en ont pas« [Erklärung dessen, was ein Untersuchungsrichter ist, für diejenigen, die keinen haben]. Der Tenor dieser in die unbekannte Handlungswelt Gefängnis einführenden Kommentare ist das Lob der Pariser Strafjustiz, die aufgrund zahlreicher Untersuchungsprozeduren und Sicherheitsvorkehrungen, deren bedeutsamste, so Balzacs Erzähler, die ausbruchssichere Conciergerie selbst ist, zu den fortschrittlichsten ihrer Zeit zählte. So werden die Gefangenen in einem speziellen Sicherheitswagen transportiert, genannt »panier à salade«, welchen der Erzähler eigens zu dem Zweck genauer beschreibt, dass ausländische Leser ihn sich für ihre Strafjustiz zum Vorbild nehmen können. Die einem Gerichtsprozess vorausgehende Untersuchungsprozedur vollzieht sich in drei Phasen (»inculpation«, »prévention« und »accusation«),37 in deren Verlauf das den Untersuchungshäftling be- und entlastende Beweismaterial so sorgfältig geprüft werde, dass es in Paris so gut wie ausgeschlossen sei, »qu’un innocent s’asseye jamais sur les bancs de la cour d’assises« [dass jemals ein Unschuldiger auf der Anklagebank des Schwurgerichts Platz nähme].38 Das Strafrecht (»droit criminel«) sei so differenziert, dass jedes Vergehen angemessen bestraft werde, weshalb der Erzähler vor Bestrebungen warnt, es durch ein neueres, weniger differenziertes, genannt »système pénitentiaire«, zu ersetzen. Der Strafvollzug sei durch den unter Napoleon in Kraft getretenen »Code criminel« humanisiert worden. Der Untersuchungsrichter schließlich, der im Zentrum der Prozeduren steht, die einer möglichen Anklageerhebung vorausgehen, sei ein »souverain soumis uniquement à sa conscience et à la loi« [Souverän, der allein seinem Gewissen und dem Gesetz unterstellt ist].39 Seine Funktion sei die Stabilisierung der sozialen Ordnung:

36

37

38 39

Diese Überschriften fehlen in der Pléiade-Ausgabe des Romans. Ich zitiere sie nach folgender Ausgabe: Honoré de Balzac, Splendeurs et misères des courtisanes, hg. v. Pierre Citron, Paris 1968, S. 341ff. Splendeurs et misères des courtisanes, in: La Comédie humaine, Band VI: Études de mœurs: Scènes de la vie parisienne, hg. v. Pierre-Georges Castex et al., Paris 1977, S. 393–935, hier S. 701. Ebd. Ebd., S. 718.

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En ce moment où philosophes, philanthropes et publicistes sont incessamment occupés à diminuer tous les pouvoirs sociaux, le droit conféré par nos lois aux juges d’instruction est devenu l’objet d’attaques d’autant plus terribles qu’elles sont presque justifiées par ce droit, qui, disons-le, est exorbitant. Néanmoins, pour tout homme sensé, ce pouvoir doit rester sans atteinte; on peut, dans certains cas, en adoucir l’exercice par un large emploi de la caution; mais la société, déjà bien ébranlée par l’inintelligence et par la faiblesse du jury […], serait menacée de ruine si l’on brisait cette colonne qui soutient tout notre droit criminel. L’arrestation préventive est une de ces facultés terribles, nécessaires, dont le danger social est contrebalancé par sa grandeur même. D’ailleurs, se défier de la magistrature est un commencement de dissolution sociale.40 Nun, da Philosophen, Philanthropen und Publizisten unablässig damit beschäftigt sind, alle sozialen Kräfte zu schwächen, ist das den Untersuchungsrichtern von Gesetzes wegen verliehene Recht zur Zielscheibe von Angriffen geworden, welche umso furchtbarer sind, als sie durch dieses Recht beinahe gerechtfertigt werden, denn wir müssen zugeben, dass dieses Recht maßlos ist. Dennoch stimmen alle vernünftigen Menschen darin überein, dass dieses Recht unberührt bleiben muss; man kann in einigen Fällen seine Anwendung durch einen großzügigen Umgang mit der Freilassung auf Kaution abmildern; aber die Gesellschaft, die bereits durch die Dummheit und die Schwäche der Geschworenen stark erschüttert ist […], wäre vom Untergang bedroht, wollte man diese unser ganzes Strafrecht abstützende Säule zerstören. Die vorbeugende Inhaftierung ist eine jener furchtbaren und zugleich notwendigen Kompetenzen, deren soziale Gefährlichkeit durch ihre Größe selbst ausgeglichen wird. Im Übrigen ist das Misstrauen gegenüber der Justiz der Beginn gesellschaftlicher Auflösung.

Die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung ist, wie man dem Zitat entnehmen kann, nicht nur für den Verfasser des »Avant-propos«, sondern auch für Balzacs Erzähler, der sich somit zum Sprachrohr des Autors macht, ein vorrangiges Anliegen. Diese Ordnung aber ist von innen her gefährdet, denn wie der Erzähler selbst eingesteht, ist die dem Untersuchungsrichter verliehene Macht exorbitant, kann also sehr leicht missbraucht werden und außer Kontrolle geraten. Dies umso mehr, als die ökonomische Stellung des Untersuchungsrichters nicht mehr im Einklang mit der Würde seines Amtes steht. Daher ist er Anfechtungen von außen schutzlos ausgeliefert. Dennoch beharrt der Erzähler darauf, dass das Gesetz an sich gut, nur seine Ausführung mangelhaft sei. Wie nun aber die Erzählung von Vautrins und Luciens Erlebnissen im Untersuchungsgefängnis nahelegt, ist die soziale Ordnungsfunktion der Justiz entgegen den Intentionen des Gesetzgebers den Intrigen der Pariser Machtelite ausgesetzt und kann sich der von außen an sie herangetragenen Zumutungen kaum erwehren, weil die Interessenverflechtung zwischen Be40

Ebd.

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amtenschaft, mondäner Gesellschaft und Politik zu groß ist, als dass ein unterbezahlter Justizbeamter, ohne seine Karriere zu gefährden, die Wünsche einflussreicher Personen ignorieren dürfte. Gesellschaft (»mœurs«, das heißt Oberfläche) und Justiz (»loi«, das heißt Tiefe)41 sind unlösbar aneinander gekoppelt, eine tatsächliche Unabhängigkeit der Justiz gibt es nicht, wodurch die Ordnungsfunktion der Justiz im Sinne der Gewaltenteilung stark beeinträchtigt wird. Die Kontingenz der Oberfläche, das heißt der gesellschaftlichen Wirklichkeit, gefährdet den Systemcharakter des Ordnungsfaktors Justiz. Diese Einsicht ergibt sich bereits aus dem zitierten Kapitel innerhalb des Kommentars selbst. Sie wird makrostrukturell in noch eindrücklicherer Weise illustriert, und zwar anhand des vom Erzähler nicht ohne Sympathie und Bewunderung berichteten Schicksals von Vautrin nach Luciens Selbstmord. Vautrin nämlich, der »Machiavel du bagne«, wandelt sich vom Saulus zum Paulus, indem er am Ende aus seinem Duell mit der Justiz gestärkt hervorgeht und die Position des Chefs der Geheimpolizei übernimmt. Die Brüchigkeit und moralische Abgründigkeit einer sozialen Ordnung, die es zulassen muss, dass ihr größter Feind zum Garanten der öffentlichen Sicherheit wird, ist damit offenkundig gemacht. Es bestätigt sich an Vautrins eigenem Schicksal die uneingeschränkte Gültigkeit seiner illusionslosen Anschauungen zur Kategorie Moral am Ende der Illusions perdues. Diese Ansichten sind das genaue Gegenstück zu den von Balzac im »Avant-propos« formulierten harmonistischen, auf die göttliche Gerechtigkeit rekurrierenden Äußerungen. Vautrin erklärt, dass die Moral im Frankreich des 19. Jahrhunderts nicht metaphysisch verankert sei, sondern sich einzig durch die Anwendung der Gesetze definiere, also bloße Alibifunktion habe, nach dem Motto: Wo kein Kläger, da kein Richter. Jede metaphysische Norm sei durch die Geschehnisse der Revolution und den Machtzynismus Napoleons außer Kraft gesetzt worden: »En France donc, la loi politique aussi bien que la loi morale, tous et chacun ont démenti le début au point d’arrivée, leurs opinions par la conduite, ou la conduite par les opinions. Il n’y a pas eu de logique, ni dans le gouvernement, ni chez les particuliers. Aussi n’avez-vous plus de morale.«42 [In Frankreich hat also das politische ebenso wie das moralische Gesetz, hat jedermann bei der Ankunft seine eigenen Anfänge Lügen gestraft, seine Meinungen durch sein Verhalten, oder sein Verhalten durch seine Meinungen. Es hat keine Logik gegeben, weder in 41 42

Ebd., S. 719. Illusions perdues, in: La comédie humaine, Bd. V: Études de mœurs: Scènes de la vie de province. Scènes de la vie parisienne, hg. v. Pierre-Georges Castex et al., Paris 1977, S. 1–732, hier S. 700.

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der Regierung noch bei den Privatleuten. Somit gibt es keine Moral mehr.] Daraus schließt Vautrin – ähnlich wie schon Tartuffe, der dafür allerdings in Molières Komödie noch als Heuchler gebrandmarkt wurde –, dass »Le fait n’est donc plus rien en lui-même, il est tout entier dans l’idée que les autres s’en forment.«43 [Die Tatsache als solche bedeutet somit gar nichts mehr, sie geht ganz in der Vorstellung auf, welche die anderen sich von ihr machen.] Sein und Schein sind deckungsgleich geworden, da es kein metaphysisches Gesetz, keine göttliche Strafe, keine übergeordnete Instanz mehr gibt. Balzac dekonstruiert hiermit die Opposition Oberfläche vs. Tiefe, Erscheinung vs. Wahrheit, welche er seinem poetologischen Entwurf zugrunde legt. Die Wahrheit ist in der vom Roman dargestellten Welt nicht mehr in Form abstrakter moralischer Prinzipien formulierbar, sie ist Teil der chaotischen, vielgestaltigen, gesetzlosen Wirklichkeit und damit selbst dem dynamisierenden Prinzip des Zufalls unterworfen. Daher fallen alle Gesetze und Prinzipien, die der Erzähler glaubt formulieren und abstrahieren zu können, stets hinter die Komplexität der durch die Revolution und die Napoleonische Zeit sowie den Frühkapitalismus dynamisierten Wirklichkeit zurück, können dieser nicht gerecht werden. Der enzyklopädisch-systematische und damit ›wissenschaftliche‹ Anspruch des Erzählers wird von den Texten also dementiert.44 4.1.2 Die Infragestellung der Wissenschaft durch das Phantastische in La peau de chagrin Balzacs Roman La peau de chagrin (1831) gehört zu den Études philosophiques und ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse.45 Er43 44

45

Ebd. Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung, S. 100, spricht von Balzacs »Verfahren der a-systematischen Modellierung«, welches er als Überkreuzung von drei Verfahren beschreibt, die zueinander in keinem hierarchischen Verhältnis stehen: (1) der tiefendimensionalen Modellierung im Zeichen »spezifisch historischer profondeur im Sinne einer Darstellung der ›envers de l’histoire contemporaine‹« (S. 97), (2) der tiefendimensionalen Modellierung im Zeichen der »pathologisch-biologistischen Tiefendimension […], die in den bedeutenden Romanen des Zyklus das Handeln der Figuren nicht aus einer prästabilierten Taxonomik, sondern aus dem seinerseits dynamisierten und sprunghaft evoluierenden Moment eines biologischen Prozesses ableitet« (S. 98f.), (3) der zyklischen Struktur der Comédie humaine. André Vanoncini, Figures de la modernité. Essai d’épistémologie sur l’invention du discours balzacien, Paris 1984, S. 18, bezeichnet La peau de chagrin als Schwellentext im Werk von Balzac: »La Peau de chagrin, à partir du système proliférant des stratégies discursives dans lesquelles elle est prise, remonte l’histoire des restructurations du savoir depuis la fin du XVIIIe siècle et annonce l’aventure du texte narratif au

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zählt wird die Geschichte von Raphaël de Valentin, einem jungen Mann, der unglücklich verliebt ist, sein ganzes Vermögen beim Spiel verloren hat und daher Selbstmord begehen will. Zufällig betritt er einen Antiquitätenladen, in dem er eine Eselshaut findet, die angeblich übernatürliche Kräfte besitzt. Laut Auskunft des Antiquitätenhändlers kann sie jeden Wunsch erfüllen, doch wird sie dabei immer kleiner und verkürzt das Leben ihres Besitzers. Raphaël, der nichts mehr zu verlieren hat, geht den Teufelspakt ein und macht fortan die Erfahrung, dass seine Wünsche sich tatsächlich erfüllen. Ihm wird eine reiche Erbschaft zuteil, und er findet sein Glück mit der schönen Pauline. Allerdings merkt er auch, dass er zunehmend krank wird und dass gleichzeitig die Eselshaut immer stärker schrumpft. Es scheint also tatsächlich so zu sein, dass die Eselshaut über magische Kräfte verfügt und sich durch ihre Wirkung der Tausch von Glück und Reichtum gegen Lebenszeit vollzieht. Nun wird allerdings vom Erzähler selbst keine Bestätigung dafür gegeben, dass die Korrelation zwischen schrumpfender Eselshaut und schrumpfender Lebenszeit Ausdruck einer Kausalbeziehung ist. Vielmehr bleibt die Frage nach der Natur des Talismans unbeantwortet. Im dritten Teil des Romans mit dem Titel »L’Agonie« versucht der dahinsiechende Raphaël die Eselshaut loszuwerden, indem er sie in einen Brunnen wirft; doch der Gärtner findet die Haut wieder und bringt sie ihm zurück. Da beschließt Raphaël, die Natur der Haut durch Wissenschaftler überprüfen zu lassen. Diesen Beschluss begründet er damit, dass man ja schließlich in einem rationalistischen Zeitalter lebe, in dem man alles wissenschaftlich erklären könne und man nicht mehr an Wunder glauben müsse. Er geht zunächst zu dem Zoologen Lavrille. Dieser erklärt ihm weitschweifig, um welche Art von Eselshaut es sich handelt, und verweist auf biblische Erzählungen über den Esel und die (sexuellen) Praktiken, denen er angeblich unterzogen worden ist. Auf Raphaëls Frage, weshalb die Eselshaut innerhalb kurzer Zeit zusammengeschrumpft sei, antwortet der Zoologe: »La science est vaste, la vie humaine est bien courte. Aussi n’avons-nous pas la prétention de connaître tous les phénomènes de la nature.«46 [Die Wissenschaft ist

46

XIXe siècle. Proclamant la mort du poète, victime de la mercantilisation de sa parole, elle assume pourtant pleinement sa propre existence d’écriture-marchandise.« [Ausgehend von dem üppig wuchernden System der diskursiven Strategien, in denen der Text wurzelt, rekapituliert La Peau de chagrin die Geschichte der Neustrukturierung des Wissens seit dem späten 18. Jahrhundert und kündigt das Abenteuer des narrativen Textes im 19. Jahrhundert an. Indem er den Tod des Dichters, der der Vermarktung seines Wortes zum Opfer fällt, proklamiert, bekennt sich der Text doch zugleich zu seinem eigenen Status als Text-Ware.] Balzac, La peau de chagrin, S. 241.

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ein weites Feld, das menschliche Leben dagegen sehr kurz. Daher maßen wir uns nicht an, alle Erscheinungen der Natur zu kennen.] Da es Lavrille nicht gelingt, die Haut zu dehnen, schickt er Raphaël zu einem Professor für Mechanik namens Planchette: Raphaël salua le savant naturaliste, et courut chez Planchette, en laissant le bon Lavrille au milieu de son cabinet rempli de bocaux et de plantes séchées. Il remportait de cette visite, sans le savoir, toute la science humaine: une nomenclature! Ce bonhomme ressemblait à Sancho Pança racontant à Don Quichotte l’histoire des chèvres, il s’amusait à compter des animaux et à les numéroter. Arrivé sur le bord de la tombe, il connaissait à peine une petite fraction des incommensurables nombres du grand troupeau jeté par Dieu à travers l’océan des mondes, dans un but ignoré.47 Raphaël verabschiedete sich von dem gelehrten Naturkundler, ließ den guten Lavrille inmitten seines mit Glasbehältern und getrockneten Pflanzen bestückten Kabinetts allein und eilte zu Planchette. Ohne es zu wissen, brachte er von diesem Besuch die gesamte menschliche Wissenschaft mit: eine Nomenklatur! Der gute Mann ähnelte Sancho Panza, wie er Don Quijote die Geschichte von den Ziegen erzählt, er vertrieb sich die Zeit damit, Tiere zu zählen und zu numerieren. An der Schwelle des Grabes angekommen, kannte er kaum einen Bruchteil von der unermesslichen Zahl der der großen Herde angehörenden Tiere, welche von Gott mit einem unbekannten Ziel über den Ozean der Welten verstreut worden waren.

Der Erzähler übt hier Kritik an der wissenschaftlichen Vorgehensweise des Zoologen, der sich damit begnügt, die Gegenstände seiner Disziplin klassifikatorisch-deskriptiv zu erfassen. Die klassifikatorische Grundhaltung von Lavrille war bereits zu Beginn der Szene deutlich geworden, als er gegenüber seinem Gast ausführlich über die verschiedensten Arten von Enten gesprochen und dabei deutlich gemacht hatte, dass sein Ehrgeiz vor allem darin bestehe, den vorhandenen Entenarten eine weitere hinzuzufügen, indem er zwei vorhandene Arten miteinander kreuze. Indem der Erzähler die taxonomische Vorgehensweise mit Sancho Panza in Bezug setzt, der komischen Dienerfigur aus Don Quijote, gibt er diese Art, Wissenschaft zu betreiben, der Lächerlichkeit preis.48

47 48

Ebd., S. 242. Im 20. Kapitel des Ersten Teils von Don Quijote erzählt Sancho Panza seinem Herrn die Geschichte eines Hirten, der seine 300 Ziegen von einem Fischer, in dessen Boot nur jeweils eine Ziege Platz findet, über einen Fluss setzen lässt. Anstatt sich einer iterativen Raffung zu bedienen, unternimmt Sancho Panza den Versuch, jede einzelne Flussüberquerung des Fischers zu erzählen, weil es ihm aus unerfindlichen Gründen auf die genaue Anzahl der Ziegen ankommt, wobei er in dem Augenblick scheitert, als Don Quijote zu ihm – gelinde übertreibend – sagt, bei diesem Rhythmus werde er in einem Jahr noch nicht mit dem Erzählen fertig sein.

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Nun wäre zu erwarten, dass der Besuch bei dem Professor für Mechanik zu besseren Ergebnissen führt. Doch zeigt sich auch hier sehr schnell, dass die vermeintlich gesicherten Wahrheiten der modernen Wissenschaft auf unsicherem Grund errichtet sind. Planchette erklärt, dass die Mechanik darin bestehe, die Gesetze der Bewegung anzuwenden oder sie zu neutralisieren. »Quant au mouvement en lui-même, je vous le déclare avec humilité, nous sommes impuissants à le définir.«49 [Was die Bewegung als solche betrifft, so erkläre ich Ihnen in aller Demut, dass wir es nicht vermögen, sie zu definieren.] Die Mechanik könne auf der Grundlage von Beobachtungen durch Anwendung bestimmter Prinzipien bestimmte Effekte hervorbringen, könne aber die zugrunde liegenden Prinzipien wie Kraft und Geschwindigkeit nicht erklären. Letztlich gehe es also auch nur um eine Nomenklatur, die im Prinzip austauschbar sei: »De quel nom appellerons-nous cet acte si physiquement naturel et si moralement extraordinaire? Mouvement, locomotion, changement de lieu? Quelle immense vanité cachée sous les mots! Un nom, est-ce donc une solution? Voilà pourtant toute la science.«50 [Wie sollen wir diesen physisch so natürlichen und moralisch so außergewöhnlichen Akt bezeichnen? Bewegung, Lokomotion, Ortswechsel? Welch immense Leere, die sich hinter den Wörtern verbirgt! Ist ein Name denn eine Lösung? Und doch besteht darin die ganze Wissenschaft.] Planchette beruft sich auf die Trennung von Benennen und Begreifen, von Erklären und Handeln, von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Technik. Trotz dieser Einschränkung beansprucht der Professor allerdings, dass es möglich sei, jeden Stoff mittels einer Maschine solchem Druck auszusetzen, dass er sich zwangsläufig ausdehnen müsse. Genau dies ist der Wunsch von Raphaël, der ja verhindern möchte, dass die Eselshaut immer weiter schrumpft, weil er befürchtet, ansonsten sein Leben vorzeitig zu verlieren. Die mit Wasserkraft arbeitende Maschine, mit der Planchette die Eselshaut dehnen möchte, beruht, wie er ausführlich erklärt, auf einer Erfindung des Mathematikers Blaise Pascal. Planchette hat die Maschine von einem Mechaniker namens Spieghalter erbauen lassen. In dessen Werkstatt versucht man nun, die Eselshaut zu dehnen, doch widersteht sie dem gewaltigen Druck, den die Maschine auszuüben imstande ist, und bleibt völlig unverändert. Auch der wütende Schlag mit einem Schmiedehammer vermag nichts auszurichten. Angesichts der Erfolglosigkeit des Unternehmens rekurriert man schließlich auf übernatürliche Erklärungen. Zweimal wird der Teufel bemüht. Der Ingenieur sagt: »Monsieur peut remporter son outil, le diable est 49 50

La peau de chagrin, S. 243. Ebd.

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logé dedans.«51 [Mein Herr, Sie können Ihren Gegenstand wieder mitnehmen, da steckt der Teufel drin.] Auch Raphaël selbst scheint diese Erklärung die einzig angemessene: »Il y a décidément quelque chose de diabolique làdedans, s’écria Raphaël au désespoir.«52 [Da steckt wahrlich der Teufel drin, rief Raphaël verzweifelt.] Ein letzter Versuch wird mithilfe der Chemie unternommen. Raphaël begibt sich zusammen mit Planchette zu dem Chemiker Japhet. Erneut wird hier zunächst das Problem der Nomenklatur diskutiert. Der Chemiker erklärt seinen Besuchern, dass bestimmte Substanzen, die man bereits benennen könne, noch nicht entdeckt worden seien. Worauf Raphaël sagt: »Faute de pouvoir inventer des choses […], il paraît que vous en êtes réduits à inventer des noms.«53 [Nachdem es Ihnen unmöglich ist, Dinge zu erfinden (…), müssen Sie sich, wie es scheint, damit begnügen, Begriffe zu erfinden.] Nachdem der Chemiker dieser Aussage resigniert zugestimmt hat, macht er sich daran, die rätselhafte Eselshaut mit verschiedenen Chemikalien zu behandeln, ohne jedoch irgendein erkennbares Resultat zu erzielen; ebenso wenig gelingt es ihm, einen Teil der Eselshaut abzutrennen. Die beiden Wissenschaftler Planchette und Japhet sind mit ihrer Weisheit am Ende, während Raphaël in Verzweiflung ausbricht, da er nun endgültig an die übernatürliche Kraft der Eselshaut glaubt und überzeugt ist, er müsse bald sterben. Les deux savants étaient comme des chrétiens sortant de leurs tombes sans trouver un Dieu dans le ciel. La science? impuissante! Les acides? eau claire! La potasse rouge? déshonorée! La pile voltaïque et la foudre? deux bilboquets!54 Die beiden Gelehrten kamen sich vor wie zwei aus ihren Gräbern auferstandene Christen, die im Himmel keinen Gott finden können. Die Wissenschaft? Ohnmächtig! Die Säuren? Klares Wasser! Die rote Pottasche? Entehrt! Die voltaische Säule und der Blitz? Zwei Spielzeuge!

Die Konfrontation der Eselshaut mit der modernen Wissenschaft und Technik hat zwei Funktionen. Zum einen ermöglicht sie die Inszenierung der Idiosynkrasien berühmter Wissenschaftler, die – teilweise karikaturhaft – dargestellt werden als Männer, die ganz in ihrer Wissenschaft aufgehen und alltagspraktischen Zusammenhängen fernstehen. Trotz der satirischen Überzeichnung aber werden wichtige Merkmale moderner Wissenschaft hervorgehoben, etwa die Bedeutung des Experiments, die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Technik, der Zusammenhang von Phänomenen und ihrer 51 52 53 54

Ebd., S. 249. Ebd., S. 250. Ebd. Ebd., S. 251.

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adäquaten Benennung. Dabei werden auch die Grenzen der Wissenschaft deutlich gemacht. Ihre Vertreter besitzen ein Bewusstsein für die begrenzte Reichweite ihres Wissens. Zum anderen wird durch das Scheitern der Wissenschaft angesichts des Talismans die Inkommensurabilität dieses magischen Gegenstands hervorgehoben. Was zuvor für Raphaël nur dunkle Ahnung war, scheint nun wissenschaftlich beglaubigt zu sein. Die Eselshaut scheint tatsächlich magische Fähigkeiten zu besitzen, da sie außerhalb aller Wissensund Erkenntniskategorien des Menschen liegt. Es handelt sich um einen »fait impossible«.55 Da der Text eine rationale Erklärung des Talismans verweigert und dadurch einen Zweifel auf Seiten des Lesers erzeugt, ob es eine rationale oder eine übernatürliche Erklärung für Raphaëls Sterben gibt, kann man ihn dem Genre des Phantastischen im Sinne von Tzvetan Todorov zurechnen.56 Durch das ihm strukturell eingeschriebene Schwanken in Bezug auf unter55 56

Ebd., S. 252. In seiner Introduction à la littérature fantastique, Paris 1970, S. 37f., gibt Todorov folgende Definition des Phantastischen: »Nous sommes maintenant en état de préciser et de compléter notre définition du fantastique. Celui-ci exige que trois conditions soient remplies. D’abord, il faut que le texte oblige le lecteur à considérer le monde des personnages comme un monde de personnes vivantes et à hésiter entre une explication naturelle et une explication surnaturelle des événements évoqués. Ensuite, cette hésitation peut être ressentie également par un personnage; ainsi le rôle de lecteur est pour ainsi dire confié à un personnage et dans le même temps l’hésitation se trouve représentée, elle devient un des thèmes de l’œuvre; dans le cas d’une lecture naïve, le lecteur réel s’identifie avec le personnage. Enfin il importe que le lecteur adopte une certaine attitude à l’égard du texte: il refusera aussi bien l’interprétation allégorique que l’interprétation ›poétique‹. Ces trois exigences n’ont pas une valeur égale. La première et la troisième constituent véritablement le genre; la seconde peut ne pas être satisfaite. Toutefois, la plupart des exemples remplissent les trois conditions.« [Wir sind nunmehr in der Lage, unsere Definition des Phantastischen zu präzisieren und zu vervollständigen. Drei Bedingungen müssen dafür erfüllt sein. Zunächst muss der Text den Leser zwingen, dass er die Welt der Figuren als eine Welt lebendiger Personen betrachtet und dass er zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Erklärung der dargestellten Ereignisse schwankt. Sodann ist es möglich, dass auch eine der Figuren dieses Schwanken empfindet; somit wird die Leserrolle gewissermaßen auf eine Figur übertragen, und gleichzeitig wird das Schwanken dargestellt, es wird eines der Themen des Werks; bei einer naiven Lektüre identifiziert sich der reale Leser mit der Figur. Schließlich ist es erforderlich, dass der Leser dem Text gegenüber eine bestimmte Einstellung hat: Er muss sowohl eine allegorische als auch eine ›poetische‹ Interpretation ablehnen. Diese drei Erfordernisse sind nicht von gleicher Wertigkeit. Das erste und das dritte sind tatsächlich gattungskonstitutiv; das zweite muss nicht unbedingt verwirklicht sein. Allerdings sind in den meisten Beispielen alle drei Bedingungen erfüllt.]

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schiedliche, ja widersprüchliche Erklärungsmodi ist das Phantastische ein epistemologisch besonders interessantes Genre.57 Balzac nutzt es, um an der universellen Gültigkeit der modernen Wissenschaft als Erklärungshorizont für alle beobachtbaren Phänomene einen grundsätzlichen Zweifel anzumelden. Dieser Zweifel steht quer zu der epistemologischen Bedeutung der Wissenschaft als fundierender Kategorie für Balzacs Romanprojekt.58 Insofern ist dieses Projekt von Beginn an brüchig. In der Brüchigkeit von Balzacs 57

58

Vgl. hierzu grundlegend Christian Wehr, Imaginierte Wirklichkeiten. Untersuchungen zum »récit fantastique« von Nodier bis Maupassant, Tübingen 1997. Vgl. hierzu auch die interessante Deutung von Allen Thiher, Fiction Rivals Science. The French Novel from Balzac to Proust, Columbia/London 2001. Gemäß einem von Mach, Duhem und Poincaré formulierten Prinzip ist die Wirklichkeit so unterdeterminiert, dass ein und dasselbe Phänomen durch verschiedene Hypothesen erklärt werden kann. Dieses Prinzip steht im Gegensatz zum wissenschaftlichen Realismus, demzufolge es genau eine Welt gibt, die genau eine Struktur besitzt, welche von den Naturwissenschaften immer stärker sichtbar gemacht wird. Das Prinzip der Unterdeterminiertheit der Welt wird Thiher zufolge avant la lettre im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts umgesetzt. Ein Beispiel für diese Vielfalt der Hypothesen sieht Thiher in Balzacs Roman La peau de chagrin. »In his critique, Balzac makes a heavy-handed demonstration of the scientists’ impotence to explain the shrinking of the skin, for it can be explained differently by every science, and thus seemingly by none. However, Balzac’s demonstration seems less emphatic if we recall that, immediately before the novel was published, all of Europe had witnessed the edifying spectacle of two of the leading natural scientists of the time trying to destroy each other in their public debate of 1830: Geoffroy Saint-Hilaire and Cuvier had equally plausible theories about life and its variegated manifestations. With his shrinking skin, Balzac seems to imply that life, like any other magical phenomena, allows multiple and relative theories to explain it.« (S. 50) Balzacs Verhältnis zur Wissenschaft sei komplex. Seine Auffassung von Wissenschaft sei insofern eine utopische, als sie auf eine Einheit aller epistemischen Diskurse und des literarischen Diskurses ziele. Dies aber impliziere, dass der real vorhandene wissenschaftliche Diskurs abgewertet werde, da er den utopischen Einheitsvorstellungen nicht genügen könne, und dass er durch den totalisierenden Anspruch der Literatur ersetzt werden müsse. Auf der anderen Seite jedoch besitze Balzac ein selbstkritisches Bewusstsein für die Unmöglichkeit, seinen eigenen totalisierenden Anspruch zu erfüllen, wofür emblematisch die Figur des Wissenschaftlers Louis Lambert aus dem gleichnamigen Roman stehe: »Balzac’s totalizing scientist, in his desire to encompass all of knowledge, goes insane, at least in the eyes of the world.« (S. 56). Mit seinen metawissenschaftlichen frühen Romanen schaffe Balzac die Grundlage für den neuen Typus des realistischen Romans. Sein totalisierender Anspruch zwinge ihn, auch die wissenschaftlichen Grundlagen in sein Romanmodell einzubauen; indem er also Wissenschaft verwende, um die Wirklichkeit zu definieren, bemühe er sich zu zeigen, dass der Roman als Gattung auch Wissen enthalten und vermitteln könne (S. 67).

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Projekt liegt sein Matrix-Charakter für die nachfolgende Entwicklung des Romans begründet, wie nun am Beispiel Flauberts gezeigt werden soll.

4.2 Flauberts Balzac-Nachfolge im Zeichen der ironischen Skepsis Wenn das Romanwerk von Gustave Flaubert (1821–1880) als Wendepunkt in der Geschichte des Romans betrachtet werden könne, so Peter Brooks, dann deshalb, weil »his relation to traditional uses of plot can only be described as perverse«.59 Die Pervertierung des traditionellen plots oder Handlungsschemas demonstriert Brooks nicht zufällig anhand von Flauberts Rekurs auf Balzac in der Éducation sentimentale. Balzacs Romanmodell ist als Ausgangstyp der literarischen Reihe des wirklichkeitsdarstellenden Romans der unhintergehbare Bezugspunkt für Flaubert.60 Plot hat im Englischen verschiedene Bedeutungen. Ursprünglich bezeichnet es ein abgegrenztes Stück Land, ein Grundstück, kann aber auch im übertragenen Sinn ›Grundriss, Skizze, Plan‹ bedeuten. In der angelsächsischen 59

60

Peter Brooks, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative, Oxford 1984, S. 171. Schon Marcel Proust erblickte in Flaubert den eigentlichen Begründer des modernen Romans; vgl. »À propos du ›style‹ de Flaubert«, in: Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve précédé de Pastiches et mélanges et suivi de Essais et articles, hg. v. Pierre Clarac/Yves Sandre, Paris 1971, S. 586–600, hier S. 586, wo er Flaubert bezeichnet als »un homme qui […] a renouvelé presque autant notre vision des choses que Kant, avec ses Catégories, les théories de la Connaissance et de la Réalité du monde extérieur« [einen Mann, der (…) unsere Weltsicht beinahe ebenso grundlegend erneuert hat wie Kant mit seinen Kategorien die Theorien der Erkenntnis und der Wirklichkeit der Außenwelt]. Für Jonathan Culler, Flaubert. The Uses of Uncertainty, Ithaca (New York) 1974, besteht Flauberts Modernität darin, dass er den literarischen Text seiner kommunikativen Dimension beraube: »Flaubert […] called into question the notion that made literature a communication between author and reader and made the work a set of sentences referring to a shared experience they did not express.« (S. 13) Für Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992, ist Flaubert zusammen mit Baudelaire derjenige Akteur des literarischen Feldes um 1850, welcher zu dessen Autonomisierung am meisten beigetragen hat. Entgegen der allgemeinen Tendenz, den modernen Roman mit Flaubert beginnen zu lassen (s. die Hinweise in der vorigen Anmerkung), situiert Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung, sein Werk in der mit Balzac beginnenden literarischen Reihe und konstatiert eine Kontinuität auf der Ebene des von Flaubert allerdings abgewerteten Sujets bei gleichzeitiger Aufwertung der Ebene der Darstellungsverfahren. Flauberts Projekt sei mithin »eine Art Fortführung der romantischen Revolution nunmehr auf der Ebene der Verfahren« (S. 101).

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Erzähltheorie spielt der Begriff eine zentrale Rolle, obwohl seine Bedeutung schillernd ist: Zum einen meint plot »the series of events consisting of an outline of the action of a narrative or drama«, zum anderen »a secret plan to accomplish a hostile or illegal purpose« (dt. ›Verschwörung‹).61 Es entspricht in seiner semantischen Mehrdeutigkeit somit in etwa dem französischen Wort intrigue, welches ebenfalls sowohl auf der Ebene der Handlungswelt als auch auf der der narrativen Organisation und Vermittlung verwendet werden kann. Für Brooks bedeutet plot so viel wie »design and intention of narrative, what shapes a story and gives it a certain direction or intent of meaning«.62 Er versteht darunter »the logic or perhaps the syntax of a certain kind of discourse, one that develops its propositions only through temporal sequence and progression«.63 Plot ist mithin ein multifunktionales Instrument, mit dessen Hilfe Weltwahrnehmung und Sinngebung im Medium des narrativen Diskurses geleistet und gesteuert werden. Für Balzac muss dieses Instrument deshalb von besonderer Bedeutung sein, weil er in seiner Comédie humaine ja offiziell die hinter dem Chaos der Wirklichkeit verborgene Ordnung sichtbar machen will. Daher sind seine Romane im doppelten Sinne plot-zentriert: Zum einen verfolgen, wie wir sahen, seine Protagonisten unentwegt Pläne mit bestimmten Handlungszielen; zum anderen sind die Romane so strukturiert, dass die Erwartung geweckt wird, als könnte durch die erzählten Handlungen die Geordnetheit der menschlichen Gesellschaft unter Beweis gestellt werden. Der plot steht mithin scheinbar im Dienst des ›wissenschaftlichen‹ Projekts. Der offizielle poetologische Anspruch wird indes, wie wir sahen, nicht eingelöst: Handlungsziele und -ergebnisse klaffen auseinander, die vom Erzähler behauptete Ordnung entpuppt sich als Chaos. Daher ist Brooks nur teilweise zuzustimmen, wenn er Flaubert und Balzac in Bezug auf ihren Umgang mit plot einander strikt entgegenstellt, denn er übersieht die bei Balzac entgegen aller Handlungszentriertheit schon einsetzende Dekonstruktion des plots. Balzac entwirft ein Romanmodell und stellt zugleich schon seine Tragfähigkeit infrage. Flaubert geht den von Balzac eingeschlagenen Weg weiter; er tut dies aber mit erzähltechnisch anderen Mitteln. So reduziert er die Ereignishaftigkeit und entdramatisiert die Handlung.64 Den Erzähler lässt er scheinbar hinter 61 62 63 64

Brooks, Reading for the Plot, S. 11f. Ebd., S. XI. Ebd. Vgl. hierzu Ulrich Schulz-Buschhaus, »Der historische Ort von Flauberts Spätwerk. Interpretationsvorschläge zu Bouvard et Pécuchet«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 87 (1977), S. 193–211. Im Unterschied zu Stendhal und Bal-

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den Figuren verschwinden, indem er den Erzählmodus der internen Fokalisierung anwendet.65 Das Pathos, durch welches die Balzac’sche Erzählerrede nicht selten charakterisiert ist, wird bei Flaubert durch Lakonismus und elliptische Darstellung ersetzt.66 Eine allgemeine Verunsicherung des Lesers resultiert aus der ironischen Redeweise, welche sich insbesondere auf das Verfahren der erlebten Rede stützt.67 Trotz dieser nicht zu vernachlässigenden Unterschiede aber ziehen Flaubert und Balzac prinzipiell an einem Strang: Beide beschreiben eine zeitgenössische Wirklichkeit, die unter dem Vorzeichen der Deidealisierung und der Desillusionierung steht, und sie tun dies, indem sie sich (a) auf die Wissenschaft als Bezugsgröße berufen (wenngleich, wie wir noch genauer sehen werden, Flauberts Haltung diesbezüglich vor allem im Spätwerk sehr ambivalent ist) und (b) die Nicht-Koinzidenz von Handlungsziel und -ergebnis sichtbar werden lassen (paradigmatisch ist hierfür die Éducation sentimentale, vgl. unten). Flaubert steht zu Balzac also in einem Verhältnis der Kontinuität und der Diskontinuität zugleich. Wodurch Flaubert sich – neben den oben aufgeführten Darstellungsmerkmalen – ebenfalls deutlich von Balzac unterscheidet, das ist die Tatsache, dass er den romanesken Diskurs zunehmend in einen meta-romanesken Diskurs verwandelt. Diese Tendenz offenbart sich bereits in Madame Bovary, wo die Protagonistin daran scheitert, dass sie auf die Erfüllung ihrer auf Lektüre beruhenden Träume in der Wirklichkeit hofft.68 Die Nicht-Koinzidenz von Intention und Resultat, von Wunsch und Wirklichkeit, wird hier durch die Verkennung der kategorialen Differenz von

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zac, deren Romane durch eine »überschaubare und zumeist leicht resümierbare Reihe von Szenen bzw. Höhepunkten« (S. 196) gekennzeichnet seien, komme es bei Flaubert zu einer Erhöhung der Zahl von Einzelepisoden und damit zu einer »Entdramatisierung der Handlung« (ebd.). Gérard Genette, »Silences de Flaubert«, in: ders., Figures I, Paris 1966, S. 223–243, spricht von Flauberts »projet de ne rien dire, ce refus de l’expression qui inaugure l’expérience littéraire moderne« [Projekt, nichts zu sagen, jener Ausdrucksverweigerung, welche die literarische Erfahrung der Moderne einleitet] (S. 242; kursiv im Text). Vgl. hierzu Jean Rousset, »Madame Bovary ou le livre sur rien«, in: ders., Forme et signification, Paris 1962, S. 109–133. Zu den berühmten »blancs« in Flauberts Romanen hat sich bereits Proust, »À propos du ›style‹ de Flaubert«, S. 595, geäußert. Zur Ironie bei Flaubert vgl. Rainer Warning, »Der ironische Schein: Flaubert und die ›Ordnung der Diskurse‹«, in: Eberhard Lämmert (Hg.), Erzählforschung, Stuttgart 1982, S. 290–318 (wiederabgedruckt in: Rainer Warning, Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 150–184). Vgl. hierzu Volker Roloff, »Zur Thematik der Lektüre bei G. Flaubert, Madame Bovary. Mœurs de province«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 25 (1975), S. 322–337.

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Fiktion und Wirklichkeit erklärt. Damit wird Literatur zum Gegenstand des literarischen Textes und lässt diesen selbstreflexiv werden. Nun ist die Verwechslung von Wirklichkeit und Fiktion keine Erfindung von Flaubert. Es gibt sie bekanntlich bereits im Don Quijote von Cervantes, wo der Held sein vermeintliches Wissen über die von fahrenden Rittern bevölkerte Welt aus Ritterromanen bezieht, was dazu führt, dass er selbst auszieht, um ritterliche Taten zu vollbringen, und in wahnhafter Projektion seine Umwelt als Welt der Ritter, Fräulein, Unholde und Zauberer interpretiert. Selbst schmerzhafteste Begegnungen mit der Wirklichkeit, bei denen er sich etwa den Verlust mehrerer Zähne einhandelt, können ihn von seinem Wahn nicht abbringen. Erst ganz am Schluss des Buches kommt es zu einer – handlungslogisch kaum motivierten – Bekehrung des sterbenden Quijote. Die von Flaubert erneut zur handlungsleitenden Basisopposition gemachte Differenz von Fiktion und Wirklichkeit ist also allein noch nicht das historisch innovative Element von Madame Bovary. Eine ganz wichtige, den historischen Ort des Romans markierende Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der ›Wahn‹ von Emma Bovary unter Rückgriff auf den zeitgenössischen medizinischen Diskurs als Hysterie modelliert wird; zwar fällt niemals dieser Begriff zur Bezeichnung von Emmas Krankheit, doch liegen alle relevanten Symptome vor: proteische Natur von Emmas »insaisissable malaise«, »étourdissements«, »agacements nerveux«, Hypersensibilität, Zornesanfälle, Erstickungsanfälle usw.69 Die histoire wird also durch eine im zeitgenössischen medizinischen Diskurs präsente Krankheit geprägt; diese dient als wichtiges Erklärungsmuster für die Handlung und die Erlebniswelt der Protagonistin. Damit knüpft Flaubert grundlegend an das von Balzac erstmals programmatisch fundierte Projekt einer Verwissenschaftlichung des Romans an. Die Annäherung von Kunst und Wissenschaft wird von Flaubert auch in seiner Korrespondenz formuliert. So heißt es etwa in Briefen an Louise Colet: »Plus l’art sera scientifique, de même que la science deviendra artistique« (24. 4. 1852) beziehungsweise »La littérature prendra de plus en plus les allures de la science; elle sera surtout exposante« (6. 4. 1853).70 Während Balzac sich in seiner Theorie an den Naturwissenschaftlern Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire orientierte, in der Praxis jedoch die Form des historischen Romans mit (mehr oder weniger) allwissendem, jedenfalls durch Kommentare allgegenwärtigem Erzähler seinen Zwecken anpasste, folgt Flaubert in Madame Bovary einem anderen narrativen Modell: der in der Medizin der Jahr69 70

Vgl. die ausführliche Argumentation bei Föcking, Pathologia litteralis, S. 235f. Beide Briefe zit. nach ebd., S. 209.

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hundertmitte üblichen klinisch-anatomischen Fallgeschichte. Wie Föcking gezeigt hat, beruht Madame Bovary ebenso wie die Fallgeschichte auf dem Modell der Biographie, genauer der »biographie pathologique«, wobei Flaubert selbst auf die Affinität seines Romans mit der ›unliterarischen‹ Biographie hingewiesen hat.71 Die Biographie wirkt, da sie von kontingenten lebensgeschichtlichen Ereignissen ebenso wie von der Abwesenheit literarischer Konstruktionsprinzipien auf Handlungsebene geprägt ist, ›wirklichkeitsnäher‹ als der Roman. Sie zeichnet sich gegenüber letzterem durch Reduktion des Personals und der Handlungsdichte und -komplexität aus. Im Unterschied zur traditionellen Biographie erzählt die »biographie pathologique« nicht das Leben einer exzeptionellen Persönlichkeit, sondern dasjenige eines Durchschnittsmenschen. All diese Merkmale lassen sich an Madame Bovary nachweisen. Selbst das gattungstypische Ende einer »biographie pathologique« – die Autopsie des Leichnams mit dem Ziel, die wahre Natur der Krankheit mit wissenschaftlicher Gewissheit zu bestimmen – findet sich (zumindest in metaphorischer Form) in Flauberts Roman, wenn nämlich vom Erzähler die Tätigkeit der Gerichtsvollzieher, die kurz vor Emmas Selbstmord ihre auf Kredit gekauften Kleider untersuchen, mit der Öffnung eines Leichnams verglichen wird.72 Der Blick des Mediziners, der »coup d’œil médical«, ist den Lesern von Flauberts Roman von Beginn an als Merkmal aufgefallen, wie man etwa an Sainte-Beuves Äußerung erkennt, wonach Flaubert die Feder so handhabe wie ein Arzt das Seziermesser.73 Man denke auch an die berühmte Karikatur von Achille Lemot, welche Flaubert als Anatomen zeigt, der mit dem Seziermesser das Herz von Madame Bovary aus ihrem Leichnam herausgeschnitten hat und dieses mit gleichgültiger Miene, aber mit triumphierender Geste dem Betrachter entgegenhält (Abbildung 2). Jenseits solcher plakativen Metaphern und Analogien lässt sich, so Föckings These, zeigen, dass Flaubert von der Textsorte der klinisch-anatomischen Fallgeschichte auch diskursive Verfahren übernommen hat. So hat Jonathan Culler schon in den Siebziger71 72

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Ebd., S. 251. Ebd., S. 255. Bei Flaubert heißt es wörtlich: »Ils examinèrent ses robes, le linge, le cabinet de toilette; et son existence, jusque dans ses recoins les plus intimes, fut, comme un cadavre que l’on autopsie, étalée tout du long aux regards de ces trois hommes.« [Sie untersuchten ihre Kleider, die Wäsche, den Waschraum; und ihre gesamte Existenz wurde bis in ihre geheimsten Winkel den Blicken dieser drei Männer ausgesetzt, wie ein Leichnam, dessen Autopsie man vornimmt.] (Madame Bovary, in: Œuvres, Bd. I, hg. v. Albert Thibaudet/René Dumesnil, Paris 1951, S. 269–683, hier S. 560.) Föcking, Pathologia litteralis, S. 265.

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Abbildung 2

Abbildung 2: »Gustave Flaubert« von Achille Lemot

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jahren nachgewiesen, dass das Charakteristische des Flaubert’schen Romandiskurses darin besteht, dass gezielt Unsicherheiten der Zuschreibung erzeugt werden.74 Es ist häufig unklar, wer genau der Perspektivträger auf der Ebene der erzählten Welt ist, und somit, wem man welche Beobachtung beziehungsweise Wahrnehmung zuschreiben kann. Diese Unsicherheit wird durch das unbestimmte Pronomen »on« erzeugt. Dieses wird von Flaubert so eingesetzt, dass der Leser oft nicht entscheiden kann, ob es sich auf eine intra- oder eine extradiegetische Wahrnehmungsinstanz bezieht.75 Liest man Fallgeschichten wie die des Mediziners Laënnec, so erkennt man eine wichtige Parallele zu Flauberts Verunklarung des Subjektbezugs: Hier wie dort rechtfertigen sich die Daten nicht durch ein apriorisches Wissen, sondern durch hochdifferenzierte Beobachtung unter Beanspruchung aller Sinne; doch Laënnec wie Flaubert bemühen sich, diese Beobachtung von der Subjektivität eines sich konkretisierenden Individuums freizuhalten, indem sie deren Zuordnung zu einer und nur einer Perspektive verunklaren. So erwecken beide den Eindruck einer »übersubjektiven«, objektiven Beobachtung, deren stilistisches Wasserzeichen das perspektivverschleiernde und damit entpersönlichende »on« ist.76

Ein wichtiges Merkmal der für Flaubert typischen diskursiven Präsentation, die impersonnalité, hat somit in der Struktur der klinisch-anatomischen Fallgeschichte ihr Gegenstück. Es ist unverkennbar, dass Flaubert von der »biographie pathologique« nicht nur eine bestimmte Art von Geschichte übernommen hat, sondern auch eine bestimmte Art zu erzählen. Natürlich – und darauf weist auch Föcking mehrmals hin – erschöpft sich ein Roman wie Madame Bovary nicht in solchen Parallelen zum klinisch-anatomischen Diskurs. Letzterer kann auch nicht alle Erscheinungen des Flaubert’schen Romandiskurses erklären. Wichtig ist, dass die aus dem klinischen Diskurs übernommenen Erzählmittel im literarischen System deautomatisierende Funktion haben, dass sie den Leser befremden und dadurch seinen Blick auf die künstlerische Gemachtheit des Textes lenken. Somit fungiert die Adaptation medizinischer Darstellungstechniken und Inhalte nicht nur als Mittel der Wirklichkeitsdarstellung, sondern auch als Mittel literarischer Autoreflexivität,77 indem die Differenz des Textes zu seinen Vorläufern sichtbar ge74 75 76

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Culler, Flaubert. The Uses of Uncertainty, passim. Föcking, Pathologia litteralis, S. 267. Ebd., S. 268. Hinsichtlich der »systematischen Verunklarung des Subjektbezugs« verweist Föcking auf Warning, »Der ironische Schein«, S. 302ff. (S. 164ff.). Vgl. hierzu jetzt Rudolf Behrens, »La représentation de l’agonie d’Emma et les désillusions du discours médical«, in: Barbara Vinken/Peter Fröhlicher (Hg.), Le Flaubert réel, Tübingen 2009, S. 31–46. Behrens geht aus von einer Zusammen-

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macht wird. Dadurch wird der Flaubert’sche Roman synchron und zugleich diachron situiert: synchron in Bezug auf zeitgenössische nicht-literarische Diskurse, diachron in Bezug auf vorgängige literarische Modelle (literarische Reihe). Dies führt uns zur Éducation sentimentale, deren Sujet stärker als das aller anderen Romane Flauberts auf Balzac zurückgreift. Erzählt wird die Geschichte von Frédéric Moreau, dessen Fall exemplarisch einsteht für das desillusionierende Scheitern des von Stendhal und Balzac übernommenen Handlungsmusters ›Aufstieg eines aus der Provinz kommenden talentierten jungen Mannes in die feine Pariser Gesellschaft‹. Gleich zu Beginn der Éducation wird dieses Schema mehrfach anzitiert: Frédérics Mutter erhofft sich für ihren Sohn eine Karriere als Beamter, Diplomat oder Politiker; sein Freund Deslauriers legt ihm nahe, die Gesellschaft des reichen Bankiers Dambreuse zu suchen und der Liebhaber von dessen Frau zu werden – wie Rastignac aus der Comédie humaine, so fügt er hinzu.78 Durch den expliziten Verweis auf das berühmte romaneske Vorbild erwächst dem Text schon an dieser frühen Stelle jene metaliterarische Dimension, die bei Balzac zwar nicht fehlt, aber doch deutlich weniger stark ausgeprägt ist. Das Erzählte gerät somit bei Flaubert allgemein in den Verdacht, dass es sich um Zitiertes handelt. Bereits zuvor haben wir Frédéric an der Reling der Ville-de-Montereau stehend und sich seine glückliche Zukunft ausmalend erlebt: »Il trouvait que le bonheur mérité par l’excellence de son âme tardait à venir.«79 [Er fand, dass das Glück, welches ihm aufgrund der Vorzüglichkeit seiner Seele zustand, zu lange auf sich warten ließ.] Dieses Glück scheint sich ihm nun plötzlich in Gestalt von Mme Arnoux anzubieten. Doch während Balzacs junge Männer einerseits talentiert und gutaussehend, andererseits erfolgshungrig sind,

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schau der verschiedenen Diskurse in Madame Bovary, welche von der Forschung herausgearbeitet wurden (Liebe, Nahrung, Schrift und Lektüre, Medizin), und postuliert, dass diese Diskurse insgeheim von einem theologischen Diskurs überwölbt werden (S. 33). Vor diesem Hintergrund untersucht er sodann die unauflösbare Spannung zwischen der Darstellung von Emmas Tod in seiner Kreatürlichkeit und der poetologischen Funktion dieser Beschreibung. Der zunächst referentiell lesbare medizinische Diskurs erscheint in dieser Lesart als »incapable de saisir la vérité de la mort d’Emma nonobstant le haut degré de la mise en œuvre scientifique« [unfähig, die Wahrheit von Emmas Tod zu begreifen, trotz des hohen Grades an wissenschaftlichem Aufwand] (S. 34) und wird von Behrens gedeutet als autoreferentiell-poetologische Selbstdarstellung des Textes. Gustave Flaubert, L’éducation sentimentale. Histoire d’un jeune homme, in: Œuvres, Bd. II, hg. v. Albert Thibaudet/René Dumesnil, Paris 1952, S. 9–571, hier S. 49. Ebd., S. 34.

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erscheint Frédéric von Beginn an eher als ein Träumer, der sich mehr vom Leben treiben lässt, als dass er sein Schicksal selbst in die Hand nähme. An überragenden Fähigkeiten scheint es ihm ebenso zu gebrechen wie an notwendigem Ehrgeiz. Stattdessen aber ist er – nicht anders als Emma Bovary – ein eifriger Literaturkonsument, der die ihm engelsgleich erscheinende Mme Arnoux sofort mit den Frauen aus seinen romantischen Büchern identifiziert: Elle ressemblait aux femmes des livres romantiques. Il n’aurait voulu rien ajouter, rien retrancher à sa personne. L’univers venait tout à coup de s’élargir. Elle était le point lumineux où l’ensemble des choses convergeait; – et, bercé par le mouvement de la voiture, les paupières à demi closes, le regard dans les nuages, il s’abandonnait à une joie rêveuse et infinie.80 Sie ähnelte den Frauen aus den romantischen Büchern. Er hätte ihrer Person nichts hinzufügen und auch nichts von ihr wegnehmen wollen. Das Universum hatte sich plötzlich erweitert. Sie war der lichte Punkt, an dem die Gesamtheit der Dinge zusammenlief; – und getragen von der Bewegung des Wagens, mit halb geschlossenen Augenlidern und zu den Wolken erhobenem Blick gab er sich einer träumerischen und unendlichen Freude hin.

Durch zahlreiche Hinweise auf Frédérics Lektüren, auf romantisierende Träumereien und Selbstinszenierungen wird deutlich gemacht, dass Frédéric in der Gesellschaft, die anders als bei Balzac nicht mehr eine der Restauration, sondern eine der politischen, sozialen und industriellen Revolutionen ist, niemals reüssieren kann, weil er die Ebenen Realität und Fiktion nicht trennt. Die Literatur erscheint dadurch in einem ambivalenten Licht: Einerseits wird sie als zur Bewältigung der Realität untaugliches Mittel bloßgestellt; andererseits aber scheint in der Faszination, die sie auf Frédéric ausübt, jene Macht auf, die die Literatur besitzt, gerade weil sie ein autonomes, der Sphäre der Wirklichkeit immer weiter entrückendes Medium ist.81 Dies wird bei Frédérics letzter Begegnung mit Mme Arnoux noch einmal deutlich gemacht: Die beiden erinnern sich bei ihrer Wiederbegegnung zwei Jahrzehnte nach dem Abschluss der Haupthandlung voller Nostalgie der gemeinsam erlebten Zeit. Dabei macht sie sein gutes Gedächtnis staunen, und sie sagt zu ihm: – Quelquefois, vos paroles me reviennent comme un écho lointain, comme le son d’une cloche apporté par le vent; et il me semble que vous êtes là, quand je lis des passages d’amour dans les livres. – Tout ce qu’on y blâme d’exagéré, vous me l’avez fait ressentir, dit Frédéric. Je comprends les Werther que ne dégoûtent pas les tartines de Charlotte.82 80 81 82

Ebd., S. 41. Vgl. hierzu Warning, »Der ironische Schein«, in: Die Phantasie der Realisten, S. 169ff. L’éducation sentimentale, S. 450f.

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– Manchmal höre ich Ihre Worte wieder wie ein aus der Ferne ertönendes Echo, wie den Klang einer Glocke, den der Wind herbeiweht; und es will mir scheinen, dass Sie da sind, wenn ich in meinen Büchern von Liebe lese. – All das, von dem man sagt, es sei in ihnen übertrieben, habe ich durch Sie gefühlt, sagte Frédéric. Ich verstehe die Werther dieser Welt, die von den Butterbroten ihrer Lotte nicht angewidert sind.

Frédéric stilisiert seine Liebe auch am Ende noch als imitatio livresker Vorbilder, obwohl die Realität eine solche Täuschung eigentlich nicht mehr zulässt – Mme Arnoux hat, wie ihm unmittelbar darauf schockartig bewusst wird, mittlerweile weißes Haar, und sie küsst ihn zum Abschied wie eine Mutter auf die Stirn. Wenn er sie auch trotz ihres Alters immer noch begehrt, so schreckt er doch zugleich vor ihr zurück, als fürchte er einen Inzest.83 Wenn Frédéric ihr noch im Nachhinein ewige und unverbrüchliche Liebe schwört, nachdem er zuvor bereits ihr gegenüber seine wahre Geliebte, die Kurtisane Rosanette, verleugnet hat, so bedeutet dies, dass sich auf Handlungsebene die romantisierende Selbstberauschung als stärker erweist als die Realität: »Frédéric, se grisant par ses paroles, arrivait à croire ce qu’il disait.«84 [Frédéric, der sich an seinen eigenen Worten berauschte, gelang es, an das zu glauben, was er sagte.] Zugespitzt lässt sich daher sagen, dass die Éducation einen innerliterarischen Dialog zwischen romantischer Literatur und Balzac’scher desillusionierender Wirklichkeitsdarstellung inszeniert, wobei die Romantik auf Handlungs-, wenn auch nicht auf Darstellungsebene das letzte Wort behält. Entscheidend ist dabei, dass Flaubert damit den schon bei Balzac vorhandenen Konflikt zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Intention und Resultat, auf eine andere Ebene verlagert, indem er diesen Konflikt durch das Anzitieren literarischer Muster reflexiv bricht. Diese Reflexivität ist es, welche den Flaubert’schen Romanen metaliterarischen Charakter verleiht. Flaubert schreibt Literatur über Literatur. Wenn er gleichwohl Substantielles über die zeitgenössische Wirklichkeit aussagt, so über den Umweg der Thematisierung von Lektüre und Literatur und mittels der Bloßlegung literarischer Verfahren. Dies geschieht in der Éducation sentimentale durch die permanente Nicht-Erfüllung der mit dem gewählten Sujet 83

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»Frédéric soupçonna Mme Arnoux d’être venue pour s’offrir; et il était repris par une convoitise plus forte que jamais, furieuse, enragée. Cependant, il sentait quelque chose d’inexprimable, une répulsion, et comme l’effroi d’un inceste.« (Ebd., S. 452) [Frédéric vermutete, Mme Arnoux sei gekommen, um sich ihm hinzugeben; und stärker als je zuvor wurde er von einem wütenden, wilden Begehren erfasst. Doch spürte er etwas Unaussprechliches, eine Abneigung, etwas wie die Abscheu vor einem Inzest.] Ebd., S. 451.

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aufgerufenen Erwartungshaltungen. Frédéric ist eben kein ehrgeiziger Rastignac, der seinen Weg nach oben auch um den Preis moralischen Verfalls geht. Er wird kein Künstler, er hat keinen ökonomischen oder gesellschaftlichen Erfolg, ja es gelingt ihm nicht einmal, der Liebhaber von Mme Arnoux zu werden. Ähnliches gilt für seine Freunde, deren hochgesteckte politische und sozialutopische Erwartungen durch die politischen Ereignisse der Jahre 1848 bis 1851 zerschmettert werden. Durch die unablässige Wiederholung des Schemas Erwartung/Nicht-Erfüllung entsteht ein Effekt metaliterarischer Bloßlegung der Verfahren. Dieser Bloßlegungseffekt wird in Flauberts letztem, unvollendet gebliebenem Roman Bouvard et Pécuchet in systematischer und umfassender Weise auf das von Balzac initiierte Projekt der wissenschaftlich-enzyklopädischen Welterfassung gerichtet. Die Handlung des Romans ist rasch skizziert: Bouvard und Pécuchet, zwei 47-jährige, alleinlebende Männer, von Beruf Schreiber, lernen sich durch Zufall kennen und empfinden spontane Sympathie füreinander, weil sie über die meisten Dinge des Lebens, insbesondere die Nützlichkeit der Wissenschaften, einer Meinung sind. Als Bouvard eine Erbschaft macht, geben sie ihren Beruf auf, erwerben ein Haus mit Garten und Ländereien in Chavignolles in der Nähe von Caen und lassen sich dort nieder, um ein beschauliches Leben als Gärtner und Bauern zu führen. Nach ersten Misserfolgen in der Landwirtschaft und bei der Obstzucht und in dem Bewusstsein, dass die Handbücher und Ratgeber einander ebenso widersprechen, wie die Natur den Handbüchern widerspricht, beschließen sie, das ihnen fehlende Wissen durch systematisches Selbststudium zu erwerben. Dies ist der Beginn einer sich verselbständigenden enzyklopädischen Rundreise durch alle Gebiete der Natur- und Geisteswissenschaften und zum Teil auch der Künste des 19. Jahrhunderts: Chemie, Anatomie, Physiologie (Medizin), Hygiene (Ernährungswissenschaft), Naturkunde, Geologie, Archäologie, Kunstgeschichte, Heimatgeschichte, Nationalgeschichte, Geschichtsphilosophie, Literatur (historischer Roman, Liebesroman, Abenteuerroman, komischer Roman, Theater), Grammatik, Ästhetik, Politik, Staatstheorie, Gymnastik, Spiritismus, Magnetismus, Philosophie und Metaphysik, Religion, Phrenologie (Schädelkunde) und schließlich Pädagogik – in alle genannten Gebiete vertiefen sich die beiden mittels Lektüre einschlägiger Fachliteratur. Theorie und Praxis bedingen einander wechselseitig: So versuchen sie sich in Tierexperimenten, Krankenheilungen, halten strenge Diät, begeben sich auf die Suche nach prähistorischen Fossilien, werden zu leidenschaftlichen Sammlern und richten sich im eigenen Haus ein Museum ein, sie planen, die Biographie des Duc d’Angoulême zu verfassen, denken an die Niederschrift eines

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Theaterstücks, möchten 1848 für die Nationalversammlung kandidieren, betätigen sich als Sportler, machen Totenbeschwörungen und versuchen Menschen durch Hypnose zu heilen, führen philosophische Streitgespräche, in denen sie unterschiedliche Systeme verteidigen (Idealismus vs. Materialismus), werden fromm und gehen auf Wallfahrt, bis sie schließlich zwei Kinder zu sich nehmen, um diese nach dem Lehrbuch zu erziehen.85 Alle Etappen ihres enzyklopädischen tour d’horizon folgen in etwa dem gleichen Schema: Der unerschöpfliche Wissensdurst treibt sie in ein neues Gebiet, sie vertiefen sich in die Fachliteratur, identifizieren sich so stark mit dem neuen System, dass sie es voller Begeisterung in die Tat umzusetzen versuchen, erkennen nach einiger Zeit systeminterne Widersprüche, um sich schließlich enttäuscht einem neuen Gebiet zuzuwenden. Wir erkennen das aus der Éducation sentimentale vertraute Schema Erwartung/Enttäuschung wieder, hier in enzyklopädischer Ausweitung episodenhaft serialisiert. Die narrative Kohärenz des Textes ist extrem gelockert, einige leitmotivisch durchlaufende Nebenhandlungen stellen Restbestände eines herkömmlichen plots dar und sichern eine minimale narrative Progression (Rivalität mit Arzt, Pfarrer und Gutsbesitzer, angedeutete Liebesgeschichte mit Witwe Bordin, Gorgu-Handlung), doch das eigentlich Zentrale ist das scheiternde Bemü85

Wie in der Forschung gezeigt wurde, erfolgt die Aneinanderreihung der Disziplinen nicht wahllos. So heißt es bei Anne Herschberg-Pierrot/Jacques Neefs, »Bouvard et Pécuchet. La crise des savoirs«, in: Alain Corbin et al. (Hg.), L’invention du XIXe siècle. Le XIXe siècle par lui-même (littérature, histoire, société), Paris 1999, S. 339–352, hier S. 341: »Le projet encyclopédique dispose en récit continu, par chapitres relativement homogènes, un paradigme qui va des sciences que l’on appellerait ›dures‹ (technologies de l’agriculture, chimie, médecine, géologie) aux disciplines ›morales‹, l’archéologie, l’histoire, la littérature, la philosophie, la religion, la pédagogie, qui associe ›vraies‹ et ›fausses‹ sciences (l’épisode du magnétisme est particulièrement important en ce sens), et inclut en son centre des épisodes qui ne sont pas strictement des disciplines […]: la politique (ch. VI), l’amour (ch. VII).« [Das enzyklopädische Projekt präsentiert in Form einer kontinuierlichen Erzählung ein Paradigma, welches von den Wissenschaften, die man als die ›harten‹ bezeichnen könnte (Agrotechnik, Chemie, Medizin, Geologie), hin zu den ›moralischen‹ Disziplinen reicht, Archäologie, Geschichtsschreibung, Literatur, Philosophie, Religion, Pädagogik, welches ›echte‹ und ›falsche‹ Wissenschaften verbindet (die Magnetismusepisode ist in dieser Hinsicht besonders wichtig), und in dessen Zentrum Episoden stehen, die im strengen Sinn keine Disziplinen verkörpern (…): Politik (Kap. VI), Liebe (Kap. VII).] Außerdem ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich der Parcours in der Erziehungsepisode en abyme wiederholt, indem die beiden Pädagogen ihren Zögling ebenso wie zuvor sich selbst auf die enzyklopädische Reise durch die Disziplinen schicken. Eine weitere mise en abyme stellt dann die von Flaubert geplante Kopiertätigkeit im unvollendeten zweiten Teil des Romans dar (ebd.).

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hen der beiden Eigenbrötler, sich die Welt durch Wissenschaft und systematische Bildung anzueignen. Dieses Scheitern wird nicht tragisch, sondern komisch modelliert (ähnlich wie am Schluss der Éducation sentimentale, wenn Frédéric und Deslauriers sich ihres gescheiterten Bordellbesuchs von 1837 erinnern und diesen als das Beste bezeichnen, was ihnen in ihrem Leben zuteil geworden sei). Der Erzähler zeichnet die »Dummheit«, welche er zur Zielscheibe seiner Kritik macht, nicht mit Hass, sondern mit Nachsicht.86 Am Ende, so kann man den nachgelassenen Szenarien und Handlungsplänen Flauberts entnehmen, sollten die beiden – wie die Protagonisten der Flaubert als Vorlage dienenden Novelle Les deux greffiers (1841) von Barthélemy Maurice – wieder zu Schreibern werden, und die gesammelten »sottises«, Exzerpte aus allen gelesenen Büchern und sonstige Materialien, insbesondere der weitgehend fertiggestellte Dictionnaire des idées reçues, sollten in einer Art Anhang dem Buch beigegeben werden.87 Das Ende schließt somit den Kreis; der Versuch, aus der Ereignislosigkeit des Kopistenlebens herauszutreten und die Welt mithilfe der Wissenschaften ereignishaft zu begreifen, ist gescheitert und mündet in die erneute Tätigkeit des Abschreibens, welches schließlich in der vom Zufall des Alphabets bestimmten Juxtaposition des Wörterbuchs – als Parodie der Encyclopédie – endet. Der Text gleicht sich somit in seiner Struktur immer mehr dem Muster der Enzyklopädie an, deren Inhalt aus (Wissens-)Zitaten besteht und deren Organisationsform einer kontingenten Ordnung gehorcht. Der Inhalt, das heißt Bouvards und Pécuchets Weltaneignungsversuche, lässt sich als narrativierte Enzyklopädie auffassen und wird in der Struktur des geplanten zweiten Teils ironisch gespiegelt.88 86

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Gerade weil die satirische Schärfe fehlt, vermag der von Andreas Mahler unternommene Versuch, den späten Flaubert als Satiriker zu vereinnahmen, trotz zahlreicher trefflicher Einzelbeobachtungen insgesamt nicht recht zu überzeugen: »Der Satiriker Flaubert – Beobachtungen zum Dictionnaire des idées reçues und zu Bouvard et Pécuchet«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 105 (1995), S. 26–53. Eine satirische Lesart weist schon Schulz-Buschhaus, »Der historische Ort von Flauberts Spätwerk«, S. 209f., Fußnote 51, zurück. Ein wichtiger Teil der Materialien, aus welchen sich eine Vorstellung von der möglichen Textgestalt ergibt, findet sich abgedruckt in der Taschenbuch-Ausgabe von Bouvard et Pécuchet, hg. v. Claudine Gothot-Mersch, Paris 1979. Zur Textgenese vgl. die »Introduction« der Herausgeberin, ebd., S. 7–43. Das Buch enthält auch die Novelle Les deux greffiers von Barthélemy Maurice, S. 558–565. Zur Bedeutung des Enzyklopädischen in Bouvard et Pécuchet vgl. inbes. Dietrich Scholler, Umzug nach Enyclopaedia. Zur narrativen Inszenierung des Wissens in Flauberts »Bouvard et Pécuchet«, Berlin 2002, und Rainer Warning, »Enzyklopädie und Idiotie: Flauberts Bouvard et Pécuchet«, in: Waltraud Wiethölter/Frauke Berndt/Stephan

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Bouvard et Pécuchet verschärft den in Flauberts früheren Werken schon angelegten Bruch mit der realistischen Romanform, der indes ambivalent ist, insofern diese Romanform nicht endgültig verabschiedet, sondern im Hegel’schen Sinne aufgehoben wird.89 Dieser Bruch ist auf allen Textebenen deutlich markiert:

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Kammer (Hg.), Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen, Heidelberg 2005, S. 165–192. Um die epistemologische Dimension von Flauberts Roman deutlich herauszuarbeiten, rekonstruiert Scholler zunächst ausführlich den Diskurs der Enzyklopädie. Schollers These lautet wie folgt: »In bezug auf Bouvard et Pécuchet wird postuliert, daß der enzyklopädische Diskurs […] und die verarbeiteten Hypotexte Deutungsvoraussetzungen für das Verständnis des Romans bilden. Auf makrofunktionaler Ebene läßt der Roman mehr oder weniger invariante, diskurstypische, kognitive Organisationsmuster erkennen. Auf eine abstrakte Kurzformel gebracht, lassen sich diese wie folgt zusammenfassen: Bouvard et Pécuchet handelt von der Affektion, Rezeption und Applikation des Wissens. Die Protagonisten lernen einander kennen und werden zeitgleich vom Logos affiziert (Affektion = 2. Kapitel), sie versuchen, das Wissen ihrer Zeit zu erwerben (Rezeption = 3. Kapitel), was hinter dem Rücken der Enzyklopädisten nach einem gewissen System abläuft und dazu führt, daß sie selbst zu Wissensvermittlern werden und schließlich eine Form enzyklopädischer Repräsentation in Gestalt diverser enzyklopädischer Texte hervorbringen (Applikation = 4. Kapitel).« (S. 63f.) Warning dagegen deutet den Handlungsraum Chavignolles als Bühne, auf der »eine Enzyklopädie des zeitgenössischen Wissens« (S. 168) inszeniert werde. Das wiederholte Scheitern der Protagonisten, welches sich stets nach dem Muster »enthusiastische Planung« – »Durchführung« – »Mißerfolg« (S. 170) vollziehe, habe nur vordergründig eine satirische Funktion, in Wirklichkeit gehe es um die Zerstörung der diskursiven Ordnung (S. 172). Der Roman zeichne sich durch eine grundsätzliche Gegenstrebigkeit aus: »Wir haben zum einen die zitathaft eingebrachte diskursive Ordnung, und wir haben zum andern deren proliferierende Subversion, die auf zwei Ebenen statthat: der der Protagonistenaktivitäten einerseits und der Konterdiskursivität des Flaubertschen Textes andererseits.« (S. 176) Zugespitzt kann man also sagen, dass Scholler die Enzyklopädie dominant setzt, während Warning zwischen Enzyklopädie und literarischer Darstellung eine konterdiskursive Spannung diagnostiziert. Dies hat Schulz-Buschhaus, »Der historische Ort von Flauberts Spätwerk«, grundlegend herausgearbeitet. Er liest Bouvard et Pécuchet unter einer »strukturgeschichtlichen Perspektive« (S. 195), das heißt »im Blick auf die gebrochene Relation zu seinen historischen Reihen« (ebd.). Die bereits in Madame Bovary und L’éducation sentimentale angelegte Tendenz zur Entdramatisierung der Handlung werde in Bouvard et Pécuchet »bis zum groteskennahen Exzeß getrieben« (S. 197). Hinzu komme die Parodierung bekannter Handlungsschemata (zum Beispiel Odyssee, Don Quijote, Candide oder Goethes Faust). »Es entsteht auf diese Weise das Buch eines Metaromans, der sich als Parodie und als Summe der Romane konstituiert […]« (S. 199). Auf stilistischer Ebene zeichneten sich Flauberts Romane durch die zitathafte Verwendung vorgeformter Sprache aus, was zur Folge habe, dass die Ro-

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(1) Auf der Ebene der erzählten Geschichte haben wir es mit einem komischen Doppelgängerpaar zu tun, das in einem anachronistischen Verhältnis zu seiner Umwelt steht. Das von den beiden Protagonisten verfolgte Ideal der enzyklopädischen Gelehrsamkeit stammt aus einer früheren Zeit und bricht sich an der Realität des ausdifferenzierten Wissenschaftssystems im 19. Jahrhundert.90 Die enzyklopädische Rundreise der beiden Figuren durch alle Be-

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manfiguren ihre personale Identität einbüßten. »Statt als Personen werden sie über weite Strecken des Buches als Spielbälle sprachlicher und gedanklicher Bewegungen gezeigt, welche – ständig wechselnd – von außen auf sie einwirken.« (S. 200) Der Entdramatisierung der Handlung entspreche auf der Figurenebene die Entpersönlichung, die sich auf stilistischer Ebene darin manifestiere, dass, wie Schulz-Buschhaus nachweist, die Figuren auffallend häufig grammatisches Objekt (und nicht Subjekt) von Sätzen sind (S. 202). Die genannten Veränderungen der überlieferten Romanstruktur deutet Schulz-Buschhaus als Konsequenz der Wissenschaftlichkeit, welche sowohl für Flaubert als Autor als auch für seine Figuren unhintergehbar sei. »Statt um erzählerische Impotenz handelt es sich um die radikalste Konsequenz einer analytischen Sicht, welche die Oberfläche des scheinbar Spontanen und Individuellen durchschaut, um darunter das Gesetzliche, Regelmäßige, und für das humanistische Bewußtsein zunächst grotesk Monotone wahrzunehmen.« (S. 203) Auf der Grundlage der konstatierten formalen Merkmale des Romans versucht Schulz-Buschhaus schließlich seine ideologiegeschichtliche Verortung vorzunehmen, indem er darauf hinweist, dass durch deutliche intertextuelle Verweise auf Voltaires Candide ein Bildungs- und Entwicklungsschema aufgerufen werde, welches die beiden Protagonisten auch tatsächlich zumindest partiell erfüllten, indem sie zu Beginn als kleinbürgerliche Angestellte in Erscheinung träten, sich dann dank der Erbschaft Bouvards in die Sphäre großbürgerlicher Rentiers begäben und dabei sogar unternehmerische Ambitionen entwickelten, nach deren Scheitern sie die Rollen der Naturwissenschaftler, der Geisteswissenschaftler, der Dichter und der Erzieher ausprobierten, bevor sie schließlich nach einer spiralförmigen Entwicklung scheinbar zum Ausgangspunkt zurückkehrten, in Wirklichkeit aber als »karikaturale Stellvertreter des Autors selbst« (S. 207) zu den Verfassern des Sottisier, des Dictionnaire des idées reçues und des Catalogue des idées chic würden. Insgesamt deutet Schulz-Buschhaus den Roman als Ausdruck einer »Verzweiflung an der bürgerlichen Wissenschaft und am bürgerlichen Fortschritt« (ebd.), insofern das semantische Zentrum dieses Textes der Verlust von Ordnung und Sinnhaftigkeit sei, welcher sich auf der Ebene der Episodenverknüpfung manifestiere. – Die Widersprüchlichkeit dieses Romans zeigt sich also unter anderem daran, dass er von demselben Autor einerseits als Ausdruck der »Verzweiflung an der bürgerlichen Wissenschaft« gedeutet werden kann und andererseits als radikalste Konsequenz der mit dieser Wissenschaft verbundenen analytischen Sicht. Vgl. hierzu Eckhard Höfner, »Bouvard et Pécuchet et la science livresque. Remarques épistémologiques et poétologiques sur la dernière œuvre de Flaubert«, in: Alfonso de Toro (Hg.), Gustave Flaubert. Procédés narratifs et fondements épistémologiques, Tübingen 1987, S. 149–171. Höfner situiert Bouvard et Pécuchet in zwei einander wider-

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reiche des damaligen Wissens impliziert in doppelter Weise Zitathaftigkeit. Einerseits wird das bereits genannte Gelehrtenideal des 18. Jahrhunderts zitiert, zum anderen wird das von Bouvard und Pécuchet rezipierte Wissen in Form von Handbüchern, Lexika, fachwissenschaftlichen Publikationen zitiert, allerdings in extremer Verdichtung und Verkürzung. (2) Das von Flaubert dabei neu entwickelte Darstellungsverfahren wurde in der Forschung als discours direct libre bezeichnet.91 Gemeint ist die zitathafte und fragmentarische Vergegenwärtigung von Figurenwissen bei gleichzeitiger Verwischung der Grenze zwischen Erzähler, Figuren und den Autoren der gelesenen Bücher. Mit anderen Worten: Es handelt sich um zitathaft aufgerufene fremde Rede mit unklarem Subjektbezug. Der discours direct libre löst die bei Flaubert früher dominante Form der Redewiedergabe, den discours indirect libre, ab, und markiert dadurch eine Diskontinuiät bei gleichzeitiger Kontinuität, denn in beiden Fällen liegt eine Verunklarung des Subjekt-

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sprechenden Traditionslinien, deren eine das Bücherwissen kritisiere, während die andere diesem Wissen vertraue. Die erste, bücherkritische Tradition werde in der Literatur des 19. Jahrhunderts unter anderem von Stendhal und von Flaubert selbst vertreten, der in Madame Bovary und in der Éducation sentimentale Geschichten erzähle, deren Protagonisten sich im Umgang mit der Wirklichkeit auf ein aus Büchern bezogenes Wissen stützten, welches dieser Wirklichkeit nicht mehr gerecht werde. Daneben gebe es im 19. Jahrhundert auch, so Höfner, eine insbesondere von den Enzyklopädisten, aber auch von den Positivisten, den Ästhetikern und Literaturkritikern (Taine, Brunetière u. a.) repräsentierte, die Bücher positiv einschätzende Tradition. In Bouvard et Pécuchet kreuzten sich nun diese beiden Traditionen. Ihre Überlagerung ergebe sich daraus, dass die beiden Protagonisten einem anachronistischen Ideal des Universalgelehrten verhaftet seien, welches in dem durch die Zersplitterung in Einzelwissenschaften gekennzeichneten 19. Jahrhundert keinen Platz mehr habe. Die anachronistische Haltung der Protagonisten sei jedoch nicht allein Ausdruck der ihnen von Flaubert in den Paratexten zugeschriebenen »bêtise«, sondern es handle sich um die Illustration eines grundlegenden epistemologischen Problems. Das serialisierte Scheitern von Bouvard und Pécuchet sei nicht nur Folge ihres individuellen Unvermögens, sondern grundlegender Ausdruck der Fragmentierung des Wissens und der daraus resultierenden Widersprüche und Inkompatibilitäten. Auf der epistemologischen Ebene sei Bouvard et Pécuchet Ausdruck von Flauberts tiefgreifender Skepsis gegenüber der Wissenschaftseuphorie seines Jahrhunderts. Auf der ästhetischen Ebene sei der so wissensgesättigte Roman paradoxerweise die perfekte Umsetzung von Flauberts Konzept eines »livre sur rien«. Es handle sich um die letztlich auch gegen sich selbst gerichtete Kritik der realistischen Ästhetik, die ja auf Wissenschaftlichkeit und Genauigkeit der dokumentierbaren Fakten allergrößten Wert lege. Vgl. Jean-Pierre Moussaron, »Une étrange greffe«, in: Société des études romantiques (Hg.), Flaubert et le comble de l’art. Nouvelles recherches sur »Bouvard et Pécuchet«, Paris 1981, S. 89–109, hier S. 97.

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bezugs der Rede vor. Die Diskontinuität entsteht durch die Potenzierung der Redeinstanzen, als welche – neben dem Erzähler und den handelnden Figuren – nun auch die Autoren der zitierten Bücher fungieren. (3) Zugleich knüpft Flaubert in Bouvard et Pécuchet an die schon in seinen früheren Romanen zu beobachtende Brechung der dargestellten Welt durch Bücher an. Indem seine Helden sich Bücher zum Vorbild nehmen, um in der Wirklichkeit Handlungsziele zu erreichen, wird der Realitätsbezug gebrochen und erscheint als klischeehaft, als Mimesis des Gelesenen. Das bereits in den früheren Romanen thematisierte Verhältnis Protagonist–Buch–Welt wird in Bouvard et Pécuchet erneut aufgegriffen, und es wird übersteigert durch die enzyklopädische Ausweitung des Buchmaterials, welches den Protagonisten zur Verfügung steht. Dadurch indiziert der Roman den ihm, genauso wie vielen anderen realistischen Romanen, inhärenten epistemologischen Anspruch.92 Wirklichkeit ist nicht einfach vorhanden und kann umstandslos abgebildet oder dargestellt werden, sondern sie ist Funktion einer bestimmten Auffassung von Wirklichkeit, einer Konstruktion, die abhängig ist von den jeweils dominanten Diskursen einer Gesellschaft. Die Gesamtheit aller Diskurse, welche im 19. Jahrhundert zu jenem Konstrukt von Wirklichkeit maßgeblich beigetragen haben, wird in Bouvard et Pécuchet zitathaft aufgerufen und ermöglicht somit eine deautomatisierende Wahrnehmung des für jede literarische Darstellung geltenden Grundproblems. Zugleich hat die zitierende Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Diskursen eine poetologische Funktion, insofern sich daraus eine neue Darstellungstechnik ergibt.93 92 93

Vgl. hierzu grundlegend Höfner, Literarität und Realität. Vgl. hierzu Ulrike Sprenger, »Die Früchte des Wissens – Agronomie und Imagination in Bouvard et Pécuchet«, in: Romanistisches Jahrbuch 48 (1997 [=1998]), S. 84–119, und Gisèle Séginger, »Forme romanesque et savoir. Bouvard et Pécuchet et les sciences naturelles«, in: Revue Flaubert 4 (2004), http://flaubert.univ-rouen.fr/revue/ revue4/02seginger.pdf (16. 4. 2009). Sprenger rekurriert auf das von Moussaron, »Une étrange greffe«, erstmals beschriebene Montageverfahren des discours direct libre und deutet es im Sinne von Michel Foucaults fantastique de bibliothèque (»La bibliothèque fantastique« (1964/1970), in: Gérard Genette/Tzvetan Todorov (Hg.), Travail de Flaubert, Paris 1983, S. 103–122, wiederabgedruckt in: Michel Foucault, Dits et écrits, 4 Bde, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Bd. I, Paris 1994, S. 293–325): Die Einfügung pragmatisch nicht verankerter Wissenszitate führe, so Sprenger, zu einer »perspektivischen Zertrümmerung des Textes« (S. 100), setze aber im Gegenzug eine »Lust am Signifikanten frei, die sich vor allem in einer immer wiederkehrenden Häufung von Eigennamen« ausdrücke (S. 100). Im Roman stünden sich zwei Textmodelle gegenüber: »Die offene Dynamik eines Textes, der sich sowohl auf der Ebene der Handlung als auch auf der Ebene des Erzählens nur über eine permanente Dialektik von Ordnung und Zerstörung, von Diskurszitat und Diskurszertrümmerung fortsetzt«, stehe gegen »die Geschlossenheit eines

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Flaubert reflektiert diese seiner Romankonstruktion zugrunde liegende Darstellungsproblematik in mehrfacher Weise, nämlich im Zusammeneher konventionellen narrativen Modells, das in der ironischen Verschränkung sowohl den zitierten Diskurs als auch die narrative Struktur noch weitgehend intakt läßt, aber immer wieder Gefahr läuft, in die toposhafte Reproduktion zu verfallen.« (S. 110). Während für Sprenger die spezifische, neuartige Darstellungsform des Romans aus einer diskursdestruktiven Bewegung resultiert, vertritt Séginger die These, dass die implizite Poetik des Romans auf der Anverwandlung eines – allerdings anachronistischen – »modèle d’intelligibilité emprunté aux sciences naturelles« (S. 2) beruhe. Paradoxerweise resultiere die Modernität der Flaubert’schen Schreibweise aus dem Rekurs auf die dem 18. Jahrhundert zugehörende Klassifikation im Sinne von Linné. Der Zusammenhang von Epistemologie und Schreibweise werde in Form einer mise en abyme von Flaubert selbst dargestellt. Es handle sich um den scheiternden Versuch der beiden Protagonisten, die Geschichte des Duc d’Angoulême zu schreiben. Was sie bezweckten, sei: »[…] prendre un sujet, épuiser les sources, en faire bien l’analyse, puis le condenser dans une narration, qui serait comme un raccourci des choses, reflétant la vérité tout entière.« [ein Thema zu wählen, alle Quellen auszuschöpfen, es gut zu analysieren, es sodann in die verdichtete Form einer Erzählung umzusetzen, welche so etwas wie ein verkürzter Ausdruck der Dinge sein sollte, der die gesamte Wahrheit widerspiegelt.] (Gustave Flaubert, Bouvard et Pécuchet, in: Œuvres, Bd. II, hg. v. Albert Thibaudet/ René Dumesnil, Paris 1952, S. 693–1028, hier S. 820.) Die Umsetzung dieses Ziels führe zu einer zusammenhanglosen Auflistung von Episoden, einer Art »degré zéro de la causalité«, wie Séginger es nennt. Mit dieser Episode formuliere Flaubert genau die Frage, die seiner eigenen Arbeit zugrunde liege: »Comment concevoir une forme nouvelle de roman, une représentation indépendante de tout jugement lorsqu’on a reconnu que tout récit est déjà une forme de jugement?« [Wie kann man eine neuartige Romanform entwerfen, eine Darstellung, die unabhängig von jeder Form von Urteil wäre, wenn man erkannt hat, dass jede Erzählung schon eine Form des Urteils bildet?] (S. 4). Indem Flaubert durch seine Kritik der Wissenschaften aufzeige, dass auch ihnen noch Restbestände von narrativer Sinngebung, von Ideologie, von Weltbildkonstruktionen innewohnten, entwickle er zugleich eine neue Darstellungsform, die nicht mehr auf Sukzession und Erklärung beruhe, sondern auf einer »pensée restructurée par un imaginaire spatial« (S. 5). Dieses »imaginaire spatial« beziehe Flaubert aus der Organisation des Wissens in Form von Tableaus, Tabellen und Klassifikationen, wie sie für das 18. Jahrhundert charakteristisch war. »[…] la logique qui fait avancer le roman n’est pas transformationelle mais à la fois tabulaire et paradigmatique. Récit paradoxal, ce roman opère non des transformations mais des déplacements d’un secteur à l’autre du savoir. Et dans chaque chapitre prévaut une logique paradigmatique: énumération d’expériences, énumération de recherches d’un même type.« [die Logik, auf der der Roman beruht, ist keine transformatorische, sondern sie ist zugleich tabellarisch und paradigmatisch. Als paradoxe Erzählung bewirkt dieser Roman keine Transformationen, sondern Bewegungen von einem Bereich des Wissens zum anderen. Und in jedem Kapitel obwaltet eine Logik des Paradigmatischen: Aufzählung von Experimenten, Aufzählung von Forschungen ein und desselben Typs.] (S. 6)

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hang mit der Historiographie (1), mit der Mnemotechnik (2) und mit der Literatur (3). (1) Als die beiden Protagonisten beginnen, sich mit der Geschichte Frankreichs auseinanderzusetzen, markiert der Text die Zeitspanne zwischen der Jetztzeit (1845) und der Französischen Revolution (1793). Nun weiß man als Leser, dass Bouvard und Pécuchet bei ihrer ersten Begegnung im Jahr 1838 siebenundvierzig Jahre alt sind; das heißt, ihr Geburtsjahr ist 1791. Sie sind also selbst Kinder der Revolution, und damit jenes historischen Makroereignisses, welches aus der Sicht des 19. Jahrhunderts als die Geburt der Gegenwart erscheinen musste. Es kommt also in dieser Episode zu einer Interferenz zwischen erlebter Geschichte und offizieller Geschichtsschreibung. Als die beiden Protagonisten in den Geschichtsbüchern des Historikers Thiers lesen, erinnern sie sich an die Erzählungen aus ihrer Kindheit über die Zeit der Revolution. Dabei kommt es zur Wahrnehmung von Diskrepanzen. Die »souvenirs presque personnels« [beinahe persönlichen Erinnerungen] der beiden Protagonisten werden den »plates descriptions de l’auteur« [banalen Beschreibungen des Autors] gegenübergestellt.94 Da die beiden politisch unterschiedliche Einstellungen haben, beginnen sie, sich zu ereifern. Bouvard neigt der Partei der Girondisten zu, Pécuchet erklärt sich zum Anhänger von Robespierre. Um ihre unterschiedlichen Einschätzungen auf eine solidere Grundlage zu stellen, lesen sie in den Werken verschiedener Historiker und merken, dass jede Geschichtsschreibung parteiisch ist, so wie auch die Leser sich parteiisch diejenigen Elemente aus den Büchern herausholen, die ihre eigene politische Einstellung stützen. Da jede Darstellung vergangener Ereignisse auf einer bestimmten Auswahl und auf einer Zielsetzung beruht, da mit anderen Worten Totalität und Neutralität der Darstellung unmöglich sind, ist das nicht nur von Historikern, sondern auch von realistischen Romanautoren wie Balzac verfolgte Ideal der Totalität und Objektivität unerreichbar.95 (2) Dass jede Methode ihre Grenzen, ihre blinden Flecken hat, zeigt sich am Beispiel der Mnemotechnik. Zu ihr flüchten sich die beiden Protagonisten, weil sie den Überblick über die Fülle der historischen Ereignisse verloren haben. Sie versuchen, die schon in der Antike bekannte loci-Technik auf ihr eigenes Haus anzuwenden:

94 95

Bouvard et Pécuchet, S. 815. Zu Flauberts Verhältnis zur Geschichtsschreibung vgl. ausführlich und grundlegend Gisèle Séginger, Flaubert. Une poétique de l’histoire, Strasbourg 2000.

Flauberts Balzac-Nachfolge im Zeichen der ironischen Skepsis

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Pour plus de clarté, ils prirent comme base mnémotechnique leur propre maison, leur domicile, attachant à chacune de ses parties un fait distinct, et la cour, le jardin, les environs, tout le pays n’avaient plus d’autre sens que de faciliter la mémoire. Les bornages dans la campagne limitaient certaines époques, les pommiers étaient des arbres généalogiques, les buissons des batailles, le monde devenait symbole. Ils cherchaient sur les murs des quantités de choses absentes, finissaient par les voir, mais ne savaient plus les dates qu’elles représentaient.96 Um der größeren Klarheit willen nahmen sie als mnemotechnische Grundlage ihr eigenes Haus, ihr Domizil, und hefteten an jedes seiner Teile einen distinkten Sachverhalt, und der Hof, der Garten, die Umgebung, die gesamte Landschaft hatten fortan nur noch den Sinn, das Gedächtnis zu unterstützen. Die Markierungen auf den Feldern begrenzten bestimmte Epochen, die Apfelbäume waren Stammbäume, die Büsche waren Schlachten, die ganze Welt nahm Symbolcharakter an. Auf den Mauern suchten sie zahlreiche abwesende Dinge, erblickten sie schließlich, wussten dann aber nicht mehr, wofür sie standen.

Der Passus scheint nahezulegen, dass eine bestimmte Methode zwar durchaus erfolgreich angewendet werden kann, dass ihre Verabsolutierung aber zum Scheitern führt. Eine Verabsolutierung liegt hier insofern vor, als die Grenze zwischen dem Haus des Gedächtnisses und seiner Umgebung verloren geht. Es kommt zu einer Art Entropiezustand: Alles wird Symbol für etwas anderes, und damit ist keine Unterscheidung mehr zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten möglich. Diese Stelle zeigt emblematisch, was epistemologisch auf dem Spiel steht: Wenn alle Wissenschaften in einer Art unendlichen Semiose aufeinander verweisen, weil sie selbst nur noch Partialwissen produzieren, dann gibt es keinen festen Grund des Wissens mehr. (3) Dass sich Bouvard et Pécuchet schließlich auch als ironischer, ambivalenter Abgesang auf Balzac lesen lässt, als Abgesang, der indes zugleich eine konsequente Umsetzung der Balzac’schen Poetologie ist und somit eine heimliche Hommage, möchte ich nun abschließend anhand einer Textstelle zeigen. Im V. Kapitel entdecken die beiden Protagonisten die Literatur, nachdem ihnen die im IV. Kapitel studierte Geschichtswissenschaft als untauglich erschienen ist, die historische Wahrheit objektiv zu erfassen und sie vollständig zu rekonstruieren. Sie entdecken den historischen Roman Walter Scotts und den Abenteuerroman Alexandre Dumas’. Zunächst sind sie begeistert, lassen sich von der mimetischen Illusion dieser Texte fesseln. Doch ihr im Umgang mit den exakten und den historischen Wissenschaften geschärftes Kritikvermögen lässt sie bald schon historische Ungenauigkeiten bei beiden Autoren entdecken. Zudem durchschauen sie rasch die immer gleichen Mechanismen des Abenteuerromans. Danach lesen sie wahllos 96

Bouvard et Pécuchet, S. 818.

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Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

Theaterstücke mit historischem Sujet, Liebesromane, komische Romane und landen schließlich bei Balzac: L’œuvre de Balzac les émerveilla, tout à la fois comme une Babylone et comme des grains de poussière sous le microscope. Dans les choses les plus banales, des aspects nouveaux surgirent. Ils n’avaient pas soupçonné la vie moderne aussi profonde. – Quel observateur! s’écriait Bouvard. – Moi je le trouve chimérique, finit par dire Pécuchet. Il croit aux sciences occultes, à la monarchie, à la noblesse, est ébloui par les coquins, vous remue des millions comme des centimes, et ses bourgeois ne sont pas des bourgeois, mais des colosses. Pourquoi gonfler ce qui est plat, et décrire tant de sottises! Il a fait un roman sur la chimie, un autre sur la Banque, un autre sur les machines à imprimer, comme un certain Ricard avait fait »le cocher de fiacre«, »le porteur d’eau«, »le marchand de coco«. Nous en aurions sur tous les métiers et sur toutes les provinces, puis sur toutes les villes et les étages de chaque maison et chaque individu, ce qui ne sera plus de la littérature, mais de la statistique ou de l’ethnographie.97 Balzacs Werk erweckte ihre Bewunderung, zugleich wie ein Babylon und wie Staubkörner unter einem Mikroskop. In den allerbanalsten Dingen entdeckten sie neue Aspekte. Sie hatten nicht vermutet, dass das moderne Leben so tiefgründig sei. – Was für ein Beobachter! rief Bouvard. – Ich finde, er ist ein Traumtänzer, sagte schließlich Pécuchet. Er glaubt an die okkulten Wissenschaften, an die Monarchie, an den Adel, lässt sich blenden von Spitzbuben, bewegt die Millionen wie Centimes, und seine Bürger sind keine Bürger, sondern Kolosse. Warum soll man aufblähen, was platt ist, und so viele Dummheiten beschreiben! Er hat einen Roman über die Chemie geschrieben, einen über das Bankwesen, einen weiteren über die Druckindustrie, so wie ein gewisser Ricard »den Kutscher«, »den Wasserträger«, »den Kokosnussverkäufer« gemacht hat. Am Ende bekommen wir noch Romane über alle Berufe und alle Provinzen, dann über alle Städte und alle Etagen in allen Häusern und über jedes Individuum, und das ist dann keine Literatur mehr, sondern Statistik oder Ethnographie.

97

Ebd., S. 829. In gewisser Weise antizipiert Flaubert hier jenes Projekt, an welchem knapp 70 Jahre später Carlos Argentino Daneri in Borges’ Erzählung El Aleph scheitern wird: »Éste se proponía versificar toda la redondez del planeta; en 1941 ya había despachado unas hectáres del Estado de Queensland, más de un kilómetro del curso del Ob, un gasómetro al norte de Veracruz, […] y un establecimiento de baños turcos no lejos del acreditado acuario de Brighton.« [Dieser hatte sich vorgenommen, die gesamte Ausdehnung des Planeten in Verse zu fassen; 1941 hatte er bereits einige Hektar des Staates Queensland geschafft, mehr als einen Kilometer des Laufes des Ob, einen Gasometer nördlich von Veracruz (…) und ein Türkisches Bad in der Nähe des berühmten Aquariums von Brighton.] (Jorge Luis Borges, El Aleph, in: Obras completas, Bd. I, Barcelona 1996, S. 617–627, hier S. 620.)

Roman und Historiographie bei Manzoni

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Die Begegnung mit dem Kosmos der Comédie humaine erweist sich zunächst als Erleuchtung. Bouvard und Pécuchet bewundern Balzacs Fähigkeit, dem Alltäglichen Interessantes abzugewinnen. Es ist kein Zufall, wenn zur Charakterisierung des ersten Eindrucks ein naturwissenschaftlicher Vergleich gewählt wird: Balzacs Werk ist wie ein Mikroskop, welches Unsichtbares sichtbar macht, die Tiefe freilegt. Damit wird unmittelbar auf Balzacs (und auch Flauberts) Selbstverständnis als Wissenschaftler angespielt. Die im Folgenden von Pécuchet formulierte Kritik ist doppelbödig. Im ersten Teil seiner Replik wird – unter Gleichsetzung von Autor und Erzähler – die ideologische Befrachtung des Kommentars abgelehnt. Dies ist sicherlich in Übereinstimmung mit Flauberts Überzeugung, der Erzähler dürfe sich nicht einmischen.98 Doch die sich anschließende Kritik an Balzacs Darstellung des Banalen und Dummen sowie an seiner auf Vollständigkeit zielenden Erfassung aller Bereiche zeitgenössischer Wirklichkeit ist ironisch auch auf Flauberts eigenes Werk gemünzt. Was Pécuchet hier an Balzac verurteilt, gilt in noch stärkerem Maße für Flaubert. Denn in der Tat zielen sowohl Balzac als auch Flaubert auf eine Überwindung der Literatur durch Hybridisierung von literarischem und wissenschaftlichem Diskurs. Der beste Beweis dafür ist der Roman Bouvard et Pécuchet, der sich sicherlich durch sein Sujet und seine Darstellungsweise an der Grenze dessen bewegt, was im 19. Jahrhundert noch als Literatur gelten konnte. Dass Flaubert sich letztlich auch davon ironisch distanziert, ist wiederum ein Indiz für die unhintergehbare Differenz der Diskurse.

4.3 Roman und Historiographie bei Manzoni Mit Balzac und Flaubert haben wir zwei der wichtigsten Vertreter des französischen Realismus betrachtet. Während Balzac als erster Autor den Roman programmatisch auf wissenschaftlichen Prinzipien zu begründen versucht, führt Flaubert das wissenschaftliche Projekt weiter, indem er einerseits mit Mitteln der Reduktion (Zurücktreten des Erzählers, dadurch entstehende Unsicherheit: erlebte Rede, polyvalentes »on«) und andererseits mit solchen der Übersteigerung (Objektivität, Präzision, Anlehnung an klinisch-anato98

Vgl. Raymond Queneau, »Bouvard et Pécuchet de Gustave Flaubert« (1950), in: ders., Bâtons, chiffres et lettres, Paris 21965, S. 97–124, hier S. 105: »Lorsque, avec Pécuchet, il fait des réserves sur l’œuvre de Walter Scott, de George Sand ou de Balzac, c’est encore du Flaubert – ou presque.« [Wenn er durch den Mund von Pécuchet Vorbehalte hinsichtlich des Werkes von Walter Scott, George Sand oder Balzac äußert, dann ist auch das mehr oder weniger Flaubert selbst.]

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mische Fallgeschichten) arbeitet. Bei beiden Autoren konnten wir beobachten, dass die diskursiven Interferenzen zwischen Literatur und Wissenschaft niemals zu einer Deckungsgleichheit beider Diskurstypen führen konnten. Dies wäre unter den Bedingungen zunehmender Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionsbereiche auch kaum zu erwarten. Denn Ausdifferenzierung impliziert ja die Spezialisierung auf genau eine Funktion, die von keinem anderen Funktionsbereich übernommen werden kann. Wenn daher im Kunstsystem mit diskursiven Verfahren des Wissenschaftssystems operiert wird, so werden diese Verfahren – vielleicht gegen den erklärten Willen der Autoren – umfunktioniert, sie werden den im Kunstsystem herrschenden Codierungen unterworfen. Ein Verfahren wissenschaftlicher Beobachtung macht aus einem Roman noch lange keinen wissenschaftlichen Text, sondern erhält eine ästhetische Funktion (Deautomatisierung der Wahrnehmung, dadurch bedingte Steigerung der Aufmerksamkeit auf die ästhetische Gestalt der Texte). Die Codierung unterliegt im Kunstsystem der Leitdifferenz schön vs. hässlich beziehungsweise interessant vs. langweilig, während im Wissenschaftssystem die Leitdifferenz lautet: wahr vs. falsch (beziehungsweise auch neu vs. bekannt, womit zumindest ein Überlappungsbereich zum Kunstsystem gegeben wäre, wie umgekehrt ja auch in diesem die Differenz wahr vs. falsch lauten kann, allerdings jeweils überlagert von der anderen, dominanten Differenz). Wenn in der Literatur wissenschaftliche Diskurse adaptiert werden, so lässt sich das auch als Symptom für andere Phänomene deuten (Umstrukturierung des Literatursystems, Wissenschaft als hegemonialer Diskurs etc.). Schließlich kann man annehmen, dass die Leser solcher Texte mit den darin verarbeiteten wissenschaftlichen Konzepten vertraut gemacht werden, dass also die Literatur eine interdiskursive Vermittlungs- und Integrationsleistung erbringt. Wir vertiefen die bisherigen Erkenntnisse, indem wir unsere Untersuchung mit einem italienischen Autor fortsetzen, der durch sein außergewöhnlich langes Leben zu einem Zeitgenossen sowohl von Balzac als auch von Flaubert wurde: Er hieß Alessandro Manzoni und lebte von 1785 bis 1873 (zur Erinnerung noch einmal die Lebensdaten von Balzac: 1799 bis 1850, und von Flaubert: 1821 bis 1880). Manzonis bedeutendstes Werk war der Roman I promessi sposi. Dieser erschien in einer ersten Fassung bereits im Jahr 1827. In dieser Fassung hat Goethe ihn gelesen und bewundert. Schon die erste Fassung erregte also (grenzüberschreitendes) Aufsehen. Manzoni überarbeitete den Roman stilistisch, indem er Lombardismen tilgte und sich stärker als in der Frühfassung am Toskanischen orientierte, und veröffentlichte die endgültige Fassung in den Jahren 1840 und 1842. Annähernd zeitgleich entstanden in Frankreich die großen wirklichkeitsdarstellenden Romane von

Roman und Historiographie bei Manzoni

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Stendhal (Le rouge et le noir, 1830, La chartreuse de Parme, 1839) und Balzac (die Comédie humaine entsteht im Wesentlichen zwischen 1830 und 1850). Nicht zuletzt aufgrund dieser zeitlichen Parallelität bietet sich eine nähere Betrachtung der Promessi sposi an. Wir werden dabei Ähnlichkeiten und Unterschiede erkennen. Der Roman hatte in Italien einen (zum Teil patriotisch motivierten) ungeheuren Erfolg und gilt vielen heute noch als der größte italienische Roman des 19. Jahrhunderts, wenn nicht als der größte überhaupt. Allerdings liegt seine Bedeutung, wie zu zeigen sein wird, vielleicht weniger in dem, was vordergründig im Mittelpunkt steht und was die meisten seiner Interpreten in ihm hauptsächlich gesehen haben: eine die göttliche Providenz feiernde, erbauliche Abenteuer- und Liebesgeschichte, die zugleich Kritik an der in Italien bestehenden Fremdherrschaft übt.99 Manzonis Roman hat gewisse Ähnlichkeiten mit den Romanen des französischen Realismus, auf den ersten Blick aber überwiegen die Unterschiede. Lässt sich der französische Realismus von Stendhal, Balzac und Flaubert als Darstellung einer konkreten zeitgenössischen Wirklichkeit in all ihren Facetten begreifen (Hugo Friedrich verwendete hierfür den trefflichen Begriff »Aktualismus«),100 so schreibt Manzoni einen historischen Roman. Ebenso wie Balzac knüpft er somit an das von Walter Scott geschaffene Paradigma an, allerdings indem er selbst einen historischen Roman schreibt – und nicht wie Balzac dessen Prinzipien auf die Darstellung der Gegenwart überträgt.101 4.3.1 Die Refunktionalisierung der Manuskriptfiktion im Zeichen der Ironie Der vollständige Titel des Romans lautet: I promessi sposi. Storia milanese del secolo XVII, scoperta e rifatta da A. Manzoni. Erzählt wird somit zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Geschichte, die sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts 99

100

101

Zur Rezeptionsgeschichte der Promessi sposi vgl. die konzise Darstellung bei Klaus Heitmann, »Die Promessi Sposi in politischer Hinsicht. Manzoni – ein politischer Autor?«, in: Italienisch 13 (1985), S. 7–32. Ausführlich wird die Rezeption dargestellt bei Giancarlo Vigorelli, Manzoni – pro e contro, 3 Bde, Milano 1975/76. Hugo Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans. Stendhal, Balzac, Flaubert (1939), Frankfurt/M. 81980, S. 23. Zu Manzonis Verhältnis zum historischen Roman vgl. Fabian Lampart, »Alessandro Manzonis I promessi sposi: Die narrative Problematisierung der Heilsgeschichte«, in: ders., Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni, Würzburg 2002, S. 295–381.

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abspielte, zur Zeit des Mantuanischen Erbfolgekrieges, der wiederum mit dem Dreißigjährigen Krieg in Verbindung stand. Indem der Erzähler vorgibt, als Quelle ein authentisches historisches Dokument zu benutzen,102 welches zu Beginn des Romans auszugsweise auch wörtlich – und das heißt: in archaischer Orthographie, Syntax und Lexik – zitiert wird, markiert er deutlich die zeitliche und sprachliche Distanz zwischen dem Schreibzeitpunkt und der dargestellten Handlung. Er nimmt von Beginn an die Perspektive des Historikers ein und kommentiert diese zugleich von einer metahistoriographischen Ebene aus. Die sprachliche Distanz erscheint dem Erzähler als kommunikatives Hauptproblem seines Manuskripts, welches er sich ursprünglich vorgenommen hatte, abzuschreiben und somit dem modernen Publikum zugänglich zu machen. So sagt er: »Ma, quando io avrò durata l’eroica fatica di trascriver questa storia da questo dilavato e graffiato autografo, e l’avrò data, come si suol dire, alla luce, si troverà poi chi duri la fatica di leggerla?«103 [Aber wenn ich die heroische Anstrengung überstanden haben werde, diese Geschichte aus diesem verblassten und zerkratzten Manuskript abzuschreiben, und wenn ich sie, wie man zu sagen pflegt, ans Licht der Welt gebracht haben werde, wird sich dann auch jemand finden, der sich der Anstrengung unterzieht, sie zu lesen?] Der Erzähler übt im Folgenden eine radikale Kritik an der stilistischen Beschaffenheit des Manuskripts, welches zu Beginn zum zeittypischen Nachweis der Virtuosität des Verfassers mit rhetorischem Ornat überfrachtet (»grandine di concettini e di figure« [Hagel von concetti und Figuren]),104 danach über weite Strecken zwar besser lesbar, aber doch trivial, vulgär und fehlerhaft sei – der Verfasser moniert unter anderem Lombardismen, unkorrekte Verwendung des Italienischen und seiner Grammatik, zusammenhanglose Perioden, Hispanismen, rhetorische Überfrachtung bei Höhepunkten. Kurz, das Manuskript verbinde in sich widersprüchliche Qualitäten (»trova la maniera di riuscir rozzo insieme e affettato« [gelingt es ihm, zugleich ungebildet und affektiert zu erscheinen]).105 Daher sei es keinem modernen Leser zuzumuten:

102

103

104 105

Johannes Hösle, Alessandro Manzoni, »Die Verlobten«, München 1975, S. 12, bezeichnet die Quelle des »Anonimo« als »Pseudoquelle« und verweist auf die literarische Genealogie des Verfahrens, insbesondere auf Cervantes. Alessandro Manzoni, I promessi sposi. Storia milanese del secolo XVII scoperta e rifatta (edizione riveduta del 1840), in: Tutte le opere, hg. v. Alberto Chiari/Fausto Ghisalberti, Bd. II, 1, Milano 31963, S. 3–673, hier S. 4. Ebd. Ebd., S. 4f.

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Ecco qui: declamazioni ampollose, composte a forza di solecismi pedestri, e da per tutto quella goffaggine ambiziosa, ch’è il proprio carattere degli scritti di quel secolo, in questo paese. In vero, non è cosa da presentare a lettori d’oggigiorno: son troppo ammaliziati, troppo disgustati di questo genere di stravaganze.106 Sehen Sie: Schwülstige Deklamationen, die sich aus lauter gewöhnlichen Solözismen zusammensetzen, und überall jene ehrgeizige Unbeholfenheit, welche die Schriften aus jenem Jahrhundert in unserem Lande wahrhaft kennzeichnet. Das ist wirklich nichts, was man heutigen Lesern vorsetzen dürfte: Sie sind zu gewitzt, und diese Art Überspanntheiten widert sie zu sehr an.

Diese Stilkritik konfrontiert den Leser in massiver Form mit der Alterität des Manuskripts und seiner Epoche und gibt dabei bereits punktuelle Hinweise auf die historische Situation zur Zeit der Entstehung des Manuskripts, etwa wenn von »qualche eleganza spagnola seminata qua e là«107 [mancher hie und da aufscheinenden spanischen Eleganz] die Rede ist – ein Indiz für die spanische Fremdherrschaft, welche im Roman auf Handlungsebene dann eine wichtige Rolle spielen wird. Wenn die sprachliche Beschaffenheit des Manuskripts seiner Kommunikativität im Wege steht, es aber aufgrund seines Inhaltes durchaus mitteilenswert ist (»una storia così bella«),108 dann bietet sich als Ausweg seine sprachlich-stilistische Überarbeitung an: »Perchè non si potrebbe, pensai, prender la serie de’ fatti da questo manoscritto, e rifarne la dicitura?«109 [Warum, dachte ich, sollte es nicht möglich sein, die in diesem Manuskript enthaltene Reihe von Tatsachen herauszunehmen und sie sprachlich neu zu gestalten?] Der Erzähler unterscheidet also – nicht anders als die moderne Literaturwissenschaft – zwischen Sprache und Inhalt, zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen Vermittlungsebene (discours) und Geschichtsebene (histoire). Indem er die Geschichte mitteilt, aber die Vermittlungsebene für obsolet erklärt und sie deshalb durch eine moderne ersetzt, reduziert er die historische Fremdheit des Manuskripts und der von ihm berichteten Handlung. Dies ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit des Historikers, der die Vergangenheit narrativ zu vergegenwärtigen versucht, um sie in ihrer Fremdheit verstehbar und zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck muss er häufig alte Dokumente in eine moderne Sprache übersetzen beziehungsweise übertragen. Neben dem Abbau der historischen Distanz hat der Historiker eine zweite Aufgabe zu erfüllen. Er muss die überlieferte Geschichte auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen, er muss Quellenkritik üben. Auch dies tut der Erzähler: 106 107 108 109

Ebd., S. 5. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd.

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Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

Taluni però di que’ fatti, certi costumi descritti dal nostro autore, c’eran sembrati così nuovi, così strani, per non dir peggio, che, prima di prestargli fede, abbiam voluto interrogare altri testimoni; e ci siam messi a frugar nelle memorie di quel tempo, per chiarirci se veramente il mondo camminasse allora a quel modo.110 Doch einige dieser Vorkommnisse, gewisse von unserem Autor beschriebene Gebräuche waren uns, um es vorsichtig auszudrücken, so neuartig, so seltsam vorgekommen, dass wir, bevor wir ihnen Glauben schenkten, andere Zeugnisse befragen wollten, und wir haben uns daran gemacht, in den Quellen aus jener Zeit zu stöbern, um uns Klarheit darüber zu verschaffen, ob die Dinge damals wirklich so abzulaufen pflegten.

Während bei der traditionellen Fiktion des gefundenen Manuskripts, welche im Roman des 18. Jahrhunderts gang und gäbe ist (und bekanntlich schon im Don Quijote vorkommt), der Aspekt der Bearbeitung (Übersetzung, Kürzung, Glättung etc.) durchaus eine wichtige Rolle spielen kann (wenngleich in aller Regel dann nicht die Originalfassung ebenfalls sichtbar gemacht wird), betritt Manzoni mit der Einführung eines quellenkritischen Erzählers in diesem Rahmen Neuland. Das heißt, er verbindet ein typisch literarisches Verfahren (die Manuskriptfiktion) mit einem typisch historiographischen (der Quellenkritik), wobei die übergeordnete Motivierung und Herangehensweise historiographisch fundiert ist. Das Literarische ist in diesen historiographischen Zusammenhang eingebettet. So verweist die Bemerkung, dass das Manuskript von unerhörten und somit unwahrscheinlichen (»nuovi, […] strani, per non dir peggio«) Begebenheiten berichte, dieses in den Bereich literarischer Fiktion, und zwar eher solcher aus dem Bereich des Trivialen. Allerdings erklärt der Erzähler, dass seine Nachforschungen alle Unwahrscheinlichkeiten des Manuskripts vorbehaltlos bestätigt hätten: Una tale indagine dissipò tutti i nostri dubbi: a ogni passo ci abbattevamo in cose consimili, e in cose più forti: e, quello che ci parve più decisivo, abbiam perfino ritrovati alcuni personaggi, de’ quali non avendo mai avuto notizia fuor che dal nostro manoscritto, eravamo in dubbio se fossero realmente esistiti. E, all’occorrenza, citeremo alcuna di quelle testimonianze, per procacciar fede alle cose, alle quali, per la loro stranezza, il lettore sarebbe più tentato di negarla.111 Eine solche Untersuchung zerstreute alle unsere Zweifel: Auf Schritt und Tritt begegneten wir ähnlichen, ja sogar noch schlimmeren Dingen; und, was uns noch entscheidender erschien, wir sind sogar einigen Personen wiederbegegnet, deren Existenz wir bezweifelten, da wir von ihnen außer in unserem Manuskript bisher niemals gehört hatten. Und bei Gelegenheit werden wir einige dieser Zeugnisse zitieren, auf dass der Leser jenen Dingen Glauben schenke, an die nicht zu glauben er aufgrund ihrer Seltsamkeit größte Neigung verspüren dürfte. 110 111

Ebd. Ebd.

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Das Unerhörte und Unglaubliche der literarischen Fiktion wird somit durch die historiographische Recherche angeblich vorbehaltlos bestätigt. Es zeigt sich hier von Beginn an ein ungewöhnliches Verhältnis zwischen Fiktion und Historiographie. Erwartbar wäre nämlich eine zumindest partielle Falsifizierung der im Manuskript berichteten Geschichte. Diente im Roman des 18. Jahrhunderts die Berufung auf ein gefundenes Manuskript, die sogenannte Manuskriptfiktion, als Instrument der Beglaubigung und somit der Nobilitierung des damals als minderwertig geltenden Romans, indem sie diesem eine Verankerung im Faktischen zuschrieb und seine Fiktionalität zu negieren versuchte, so hat das Verfahren bei Manzoni offenbar eine andere Funktion. Denn der Erzähler distanziert sich mit allem Nachdruck von dem fremden Manuskript, weil dieses die zeittypischen sprachlich-stilistischen Defizite aufweise und somit einem modernen Leser gar nicht zumutbar sei. Eine weitere Distanzierung liegt in dem Misstrauen gegenüber dem Wahrheitsgehalt des Manuskripts, welches den quellenkritischen Umgang mit demselben motiviert. Das Manuskript wird also einer wissenschaftlichen Behandlung unterzogen, bevor es in den literarischen Text Eingang finden kann. Dieser doppelten Distanzierung steht auf der Habenseite lediglich der nicht weiter erläuterte Hinweis auf die Schönheit der mitgeteilten Geschichte gegenüber. Schönheit ist ein ästhetisches Kriterium, kein wissenschaftliches. Indem der Text sich allein durch Schönheit legitimiert, gehorcht er scheinbar den Prinzipien ästhetischer Autonomie. Dies steht allerdings in einem Kontext, in dem das Ästhetische dem Historiographischen untergeordnet ist. Außerdem wird auch dieser Pluspunkt sogleich relativiert: Nell’atto però di chiudere lo scartafaccio, per riporlo, mi sapeva male che una storia così bella dovesse rimanersi tuttavia sconosciuta; perchè, in quanto storia, può essere che al lettore ne paia altrimenti, ma a me era parsa bella, come dico; molto bella.112 Als ich indes dabei war, die Kladde zu schließen, um sie zurückzustellen, wollte es mir nicht gefallen, dass eine so schöne Geschichte nun doch ganz unbekannt bleiben sollte; denn als Geschichte, und es mag dem Leser durchaus anders erscheinen, kam sie mir schön vor, wie ich schon sagte; sehr schön.

Wenn der Erzähler dem Leser zugesteht, hinsichtlich der Schönheit der erzählten Geschichte anderer Meinung zu sein als er, so begründet sich sein Vorhaben in letzter Konsequenz lediglich auf eine subjektive, nicht unbedingt generalisierbare ästhetische Privatmeinung. Sollte der Leser nun aber die Geschichte nicht für schön halten, so entfiele die Legitimation des gan112

Ebd.

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zen Unterfangens, denn einen anderen Grund als die Vermittlung dieser Schönheit gibt der Erzähler nicht an. Daher muss man vermuten, dass das Verhältnis zwischen Fiktion und Historiographie ein anderes als das vordergründig markierte ist. Die ›schwache‹ und exklusive ästhetische Fundierung steht in einer Diskrepanz zu dem mit dem Ernst des Historikers unternommenen Vorhaben und stellt den gesamten Text unter grundsätzlichen Ironieverdacht. Ironie gibt es in der Rhetorik sowohl als Wortfigur wie als Gedankenfigur. »Die Ironie ist der Ausdruck einer Sache durch ein deren Gegenteil bezeichnendes Wort.«113 Wenn man etwa sagt: Das ist ja eine schöne Bescherung!, und durch die Betonung des Satzes ebenso wie durch den situativen Kontext klar ist, dass man das genaue Gegenteil des Gesagten meint, dann liegt ein ironischer Sprechakt vor. Die Wort-Ironie kann durch »kontinuierliche Fortsetzung im Gesamtgedanken zur Gedankenironie (schema, figura)«114 expandiert werden – ein analoges Verhältnis besteht zwischen der Metapher als Wortfigur und der Allegorie als Gedankenfigur. Dabei übernimmt (simuliert) der Sprecher scheinbar eine Position, deren Gegenteil er in Wirklichkeit vertritt, und macht durch bestimmte Signale offenkundig, dass er das Gegenteil dessen meint, was er sagt. Oder aber er verbirgt seine wahre Position (dissimulatio). Übertragen auf Manzonis Text würde dies bedeuten, dass die als Ironiesignal fungierende, oben analysierte Diskrepanz zwischen Legitimierung der Fiktion und historiographischem Zugriff anzeigt, dass der Erzähler entweder die Geschichte keineswegs deshalb erzählt, weil er sie so schön findet, oder dass er sie gar nicht schön findet und dass auch die ihre Wahrheit vorbehaltlos bestätigende Quellenkritik nicht ernst gemeint ist. In jedem Fall ist die wörtliche Position nicht die in Wahrheit vom Erzähler eingenommene. Es wird am Text selbst zu überprüfen sein, wie genau das Verhältnis zwischen dem Gesagten und dem eigentlich Gemeinten ausgestaltet ist. Ein weiteres Ironiesignal liegt vor, wenn der Erzähler gegen Ende seiner Einleitung pathetisch sagt: »Chiunque, senza esser pregato, s’intromette a rifar l’opera altrui, s’espone a rendere uno stretto conto della sua, e ne contrae in certo modo l’obbligazione: è questa una regola di fatto e di diritto, alla quale non pretendiam punto di sottrarci.«115 [Wer immer es, ohne darum gebeten worden zu sein, unternimmt, ein fremdes Werk zu bearbeiten, hat die Aufgabe, von seinem Werk genaueste Rechenschaft abzulegen, ja er übernimmt gewissermaßen die Verpflichtung, dies zu tun: Dies ist de facto und de 113 114 115

Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, § 582. Ebd., § 902. I promessi sposi, S. 6.

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iure eine Regel, der wir uns keinesfalls entziehen wollen.] Gemeint ist, dass die vom Erzähler gewählte sprachliche Form (die »dicitura«) von ihm gegen alle nur erdenklichen Einwände zu rechtfertigen sei. Wenn er jedoch alle seine Rechtfertigungsgründe ordentlich aufgelistet hätte, so der Erzähler, dann hätte er ein zweites Buch schreiben müssen. »Veduta la qual cosa, abbiam messo da parte il pensiero, per due ragioni che il lettore troverà certamente buone: la prima, che un libro impiegato a giustificarne un altro, anzi lo stile d’un altro, potrebbe parer cosa ridicola: la seconda, che di libri basta uno per volta, quando non è d’avanzo.«116 [Angesichts dessen haben wir diesen Gedanken wieder verworfen, und zwar aus zwei Gründen, die dem Leser sicherlich als stichhaltig erscheinen werden: Erstens, weil es lächerlich wirken könnte, wenn man ein ganzes Buch schriebe, um ein anderes beziehungsweise den Stil eines anderen zu rechtfertigen; zweitens, weil ein Buch pro Gelegenheit schon genug, wenn nicht sogar zu viel ist.] Die wortreiche Ankündigung von Rechtfertigungen, welche dann jedoch nicht gegeben werden, kann ebenso wie die Begründung für diese Aussparung (Lächerlichkeit eines zweiten, den Stil des ersten rechtfertigenden Buches, hypothetisch zugestandene Möglichkeit, dass das eigene Buch gar überflüssig sein könnte) kaum anders denn als Ironiesignal gedeutet werden. 4.3.2 Die Diskrepanz zwischen Primärhandlung und historiographischer Analyse Betrachten wir nun die Handlung des Romans, so fällt auf, dass die Geschichte der Verlobten Renzo und Lucia einem aus der Geschichte des Romans wohlvertrauten Schema folgt: dem Märchenschema des hellenistischen Reiseund Liebesromans.117 Die Gattung des hellenistischen Romans entstand in den letzten drei Jahrhunderten vor Christus. Ein rezeptionsgeschichtlich besonders relevantes Beispiel sind die Aithiopika des Heliodor (um 250 v. Chr.). 116 117

Ebd. Vgl. hierzu Joachim Küpper, »Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie. Manzonis Antwort auf den historischen Roman (I Promessi Sposi)«, in: Poetica 26 (1994), S. 121–152, hier S. 128ff. (wiederabgedruckt in: ders., Zum italienischen Roman des 19. Jahrhunderts. Foscolo, Manzoni, Verga, D’Annunzio, Stuttgart 2002, S. 52–84). Küpper hat den bereits vor ihm bekannten Befund (vgl. z. B. Frank-Rutger Hausmann, »Alessandro Manzonis Die Verlobten (1840), ein ›christlicher Roman‹ des 19. Jahrhunderts«, in: Helmut Siepmann/Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Von Augustinus bis Heinrich Mann. Meisterwerke der Weltliteratur, Bd. III, Bonn 1989, S. 39–56, hier S. 54–55, wo unter Rekurs auf Vladimir Propp auf die Märchenstruktur der Promessi sposi hingewiesen wird) als erster systematisch für seine Interpretation des Romans ausgewertet.

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Die Sposi und die Aithiopika haben, wie Küpper detailliert gezeigt hat, eine analoge Figuren- und Konfliktkonstellation.118 Die Protagonisten sind jeweils ein junges Liebespaar, dessen Liebe von einem mächtigen Rivalen, der es auf die Frau abgesehen hat, bedroht wird. Aus der Ausgangskonstellation entwickelt sich eine Handlung, die sich aus den sich wiederholenden Elementen Flucht, Bedrohung und Rettung zusammensetzt. Die Handlung ist serialisiert und nach dem Muster der Steigerung des Bedrohungsgrades aufgebaut. Die Rettung erfolgt jeweils in höchster Not, das Personal besteht aus klar konturierten Guten (Helferfiguren) und Bösen (Helfern des Gegenspielers). Am Ende siegt das Gute, die Hindernisse, die der Verbindung im Wege standen, entfallen (Tod des Widersachers beziehungsweise des Verfolgers), und gepriesen wird die göttliche Providenz. Das Handlungsmuster hat große Ähnlichkeiten mit dem Schema des Märchens.119 Wenn eine narrative Großform strukturell auf dem Märchenschema beruht, dann liegt es nahe anzunehmen, dass ihr auch das märchentypische heile Weltbild zugrunde liegt. Die Konflikte werden ja am Ende immer zugunsten des oder der Helden gelöst, während die Widersacher scheitern. Ein solches heiles, harmonisches Weltbild beruht auf einer metaphysischen Absicherung und ist Anfang des 19. Jahrhunderts anachronistisch, wie wir schon bei Balzac gesehen haben, wo die desillusionierenden Handlungen die vom Erzähler behauptete Ordnung und ausgleichende Gerechtigkeit negieren.120 Daher ist das Märchenschema im 19. Jahrhundert vom Bereich der Höhenkammliteratur (Balzac, 118 119

120

Vgl. Küpper, »Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie«, S. 129ff. Vgl. hierzu Ilse Nolting-Hauff, »Märchen- und Märchenroman. Zur Beziehung zwischen einfacher Form und narrativer Großform in der Literatur«, in: Poetica 6 (1974), S. 129–178, und »Märchenromane mit leidendem Helden. Zur Beziehung zwischen einfacher Form und narrativer Großform in der Literatur [zweite Untersuchung]«, ebd., S. 417–455. Nolting-Hauff rekurriert auf das von Vladimir Propp beschriebene Märchenschema (vgl. Morphologie des Märchens (1928), aus dem Russischen von Christel Wendt, hg. v. Karl Eimermacher, München 1972). Wie Frick, Providenz und Kontingenz, sowie Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, herausgearbeitet haben, ist das Providenzschema bereits seit dem späten 17. Jahrhundert in der Krise. Salvatore S. Nigro, »I promessi sposi di Alessandro Manzoni«, in: Alberto Asor Rosa (Hg.), Letteratura italiana. Le opere, Bd. III: Dall’Ottocento al Novecento, Torino 1995, S. 429–496, hier S. 485, unterscheidet zwei Arten von Providenzglauben: den von Bossuet und den von Bourdaloue. »Ma la Provvidenza, nella quale crede Manzoni, non è quella di Bossuet: è l’antidillica eteronomia dei fini, la ›puissance et […] sagesse supérieure à celle des hommes, qui se joue de leurs desseins‹, di cui aveva parlato Bourdaloue.« [Aber die Vorsehung, an die Manzoni glaubt, ist nicht die von Bossuet; es ist die anti-idyllische Heteronomie der Zwecke, die ›den Menschen überlegene Macht und (…) Weisheit, die sich über ihre Pläne hinwegsetzt‹, von welcher Bourdaloue gesprochen hatte.]

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Flaubert etc.) in den Bereich der Unterhaltungsliteratur (Eugène Sue, Alexandre Dumas etc.) abgewandert. Wenn Manzoni, der keinen Unterhaltungsroman schreibt, das hellenistische Handlungsschema so deutlich zitiert, dann kann auch dieses nicht wörtlich, das heißt affirmativ gemeint sein. Es handelt sich auch hier um ein ironisches Strukturzitat.121 Der Roman zerfällt strukturell in zwei Teile. Zum einen haben wir die Geschichte der Verlobten, die sich nach dem Muster des hellenistischen Liebesromans über zahlreiche Gefährdungen einem guten Ende entgegenbewegt und somit die göttliche Providenz zu bestätigen scheint. Providentiell ist beispielsweise die Konversion des Innominato just in jenem Moment, da er Lucia in seine Gewalt gebracht hat. Providentiell ist ebenfalls die Tatsache, 121

Lampart, »Alessandro Manzonis I promessi sposi: Die narrative Problematisierung der Heilsgeschichte«, weist nach, dass Manzoni in seiner Poetik (die Lampart aus den Schriften Osservazioni sulla morale cattolica, Lettre à M. Chauvet sur l’unité de temps et de lieu dans la tragédie, Sul romanticismo und Del romanzo storico rekonstruiert) einerseits einem traditionellen katholischen Providenzglauben anhängt: »Die katholische Moral war ein Wegweiser, der [Manzoni] half, die intellektuellen und geschichtlichen Stürme der Revolution zu überstehen und an dem er sein ganzes Leben konsequent festhielt.« (S. 305) Andererseits aber würden die »katholischdogmatischen Elemente« als »Versuche, Ethik und Ästhetik zu harmonisieren«, überlagert durch eine »genaue Darstellung der ästhetischen Probleme und Widersprüche, mit denen sich Manzoni als Schriftsteller auseinanderzusetzen hatte« (S. 306f.). Problematisch sei für Manzoni vor allem die »Verschmelzung fiktiver und historischer Elemente« (S. 319), welche für den historischen Roman Scott’scher Prägung charakteristisch sei. In den Promessi sposi optiere Manzoni daher bewusst dafür, den Bruch zwischen Fiktion und Historie sichtbar zu machen. Diese brüchige Struktur bringe den Autor in einen Gegensatz zum Erzähler des Romans: »Der Autor Manzoni mag von der Präsenz einer über allem stehenden göttlichen Gewalt überzeugt sein. Innerhalb der narrativen Logik seines Romans wird dieses Konzept mit skeptischen Gegenentwürfen konfrontiert. Schon in der Eröffnungsszene zeigt sich, daß die ganz im Diesseits angesiedelte Geschichte Renzos und Lucias nicht nur in der Optik eines providentiellen Weltbilds zu sehen ist. Schon in der Landschaftsbeschreibung scheint Manzoni die Erkennbarkeit dieser göttlichen Macht zu problematisieren.« (S. 334) Die Pest-Episode habe die Funktion, »die Irrationalität der Geschichte« (S. 342) zu präsentieren, und stehe damit ebenfalls in einem klaren Gegensatz zur providentiellen Struktur von Renzos und Lucias Geschichte. »Die Uminterpretationen der Pest als Instrument der göttlichen Vorsehung […] wirken vor dem Hintergrund des in Krieg und Seuche entfesselten Chaos fast schon zynisch.« (Ebd.) Zu Manzonis Romantheorie vgl. auch Gisela Schlüter, »Historiographie und Fiktion: Manzoni und die ›moralische‹ Krise des Romans«, in: Friedrich Wolfzettel/Peter Ihring (Hg.), Erzählte Nationalgeschichte. Der historische Roman im italienischen Risorgimento, Tübingen 1993, S. 103–127. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die Analyse von Manzonis in der Forschung häufig übersehener Schrift Del romanzo storico (1850).

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dass Lucia die Pest überlebt, an der eine Million Menschen sterben müssen (Kap. XXXII). Dies gilt zumindest aus der Sicht der beiden Überlebenden, die sich im letzten Kapitel des Romans darüber Gedanken machen, welche Lehren sie aus ihrer Erfahrung ziehen können, und sich trotz der Erkenntnis, dass es offenbar keine eindeutigen Lehren gibt, auf das Vertrauen in Gott zurückziehen: Dopo un lungo dibattere e cercare insieme, conclusero che i guai vengono bensì spesso, perchè ci si è dato cagione; ma che la condotta più cauta e più innocente non basta a tenerli lontani; e che quando vengono, o per colpa o senza colpa, la fiducia in Dio li raddolcisce, e li rende utili per una vita migliore. Questa conclusione, benchè trovata da povera gente, c’è parsa così giusta, che abbiam pensato di metterla qui, come il sugo di tutta la storia.122 Nach langem Hin und Her kamen sie zu dem Schluss, dass die Übel zwar häufig deshalb auftreten, weil man selbst dazu Anlass gegeben hat; dass auf der anderen Seite aber das vorsichtigste und unschuldigste Verhalten nicht hinreicht, um die Übel fernzuhalten; und dass sie, wenn sie kommen, sei es aus eigenem Verschulden, sei es ohne, durch Gottvertrauen verträglicher und nützlich im Hinblick auf ein besseres Leben gemacht werden. Diese Konklusion erschien uns, obwohl von armen Leuten stammend, so trefflich, dass wir es für richtig halten, sie hierherzusetzen als die Quintessenz der ganzen Geschichte.

Selbst den schrecklichsten Katastrophen wird somit durch die »fiducia in Dio« ein Sinn abgewonnen. Die Katastrophen erweisen sich letztlich als Prüfungen der menschlichen Glaubensfestigkeit. Diese Geschichte entnimmt der Erzähler dem Manuskript aus dem 17. Jahrhundert; und sie ist es, welche er als »una storia così bella« bezeichnet, deren providenzgläubige Konklusion er von den beiden Hauptfiguren in einem Akt ironischer Solidarisierung übernimmt. Auf der anderen Seite gibt es im Roman einige Kapitel, die man als historiographisch-analytisch bezeichnen könnte, weil in ihnen unter Absehung von der Geschichte der beiden Protagonisten die Hintergründe der Pest und ihrer Vorgeschichte genau beleuchtet werden (insbes. Kap. XXVIII, XXXI, XXXII). Diese Kapitel werden als deutlich distinkt von der Erzählung der Haupthandlung markiert. So sagt der Erzähler: Però, lasciando scritto quel che è scritto, per non perder la nostra fatica, ometteremo il rimanente, per rimetterci in istrada: tanto più che ne abbiamo un bel pezzo da percorrere, senza incontrare alcun de’ nostri personaggi, e uno più lungo ancora, prima di trovar quelli ai fatti de’ quali certamente il lettore s’interessa di più, se a qualche cosa s’interessa in tutto questo.123 122 123

I promessi sposi, S. 673. Ebd., S. 474.

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Nun aber wollen wir, indem wir Geschriebenes geschrieben sein lassen, um uns nicht vergeblich abzumühen, den Rest übergehen und uns wieder auf den Weg machen: umso mehr, als uns noch ein gutes Stück desselben bevorsteht, während dessen wir unseren Personen gar nicht begegnen werden, und danach noch ein längeres Stück, bevor wir diejenigen wiederfinden, für deren Belange sich der Leser sicherlich am meisten interessiert, wenn er sich überhaupt für irgendetwas an diesem Text interessiert.

Diese deutliche Trennung zwischen historiographischer Analyse und Handlungsebene hat dazu geführt, dass man die historiographischen Kapitel als Fremdkörper im Roman empfand und Manzoni vorhielt, er hätte diese Kapitel doch am besten weglassen sollen, so zum Beispiel Goethe.124 Damit aber tappte man genau in die Falle, die der Text im letzten Zitat sichtbar macht: Man gesellte sich jenen Lesern zu, die nur die private Geschichte der beiden Liebenden interessiert. Dabei sagt der Erzähler zu Beginn des XXXI. Kapitels, sein Ziel sei nicht nur die Darstellung der Geschichte der Hauptfiguren, sondern auch »di far conoscere insieme, per quanto si può in ristretto, e per quanto si può da noi, un tratto di storia patria più famoso che conosciuto«125 [zugleich damit, soweit dies in Kürze möglich ist und soweit wir dazu in der Lage sind, einen Ausschnitt der vaterländischen Geschichte bekannt zu machen, der eher berühmt als bekannt ist]. Es kommt also gerade auf die Verbindung beider Ebenen an (»insieme«), die zwar erzähltechnisch deutlich getrennt sind, einander aber wechselseitig perspektivieren. Eine Abtrennung der einen Ebene von der anderen ist somit illegitim. Wenn man nun die beiden Ebenen genauer betrachtet, so erkennt man, dass ihnen inkompatible Weltmodelle zugrunde liegen.126 Die Ebene der 124

125 126

Am 23. 7. 1827 sagt Goethe zu Eckermann: »Im dritten Bande, finde ich, daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Historiker dasteht« (zit. nach Küpper, »Ironisierung der Fiktion«, S. 123). Für die Übersetzung der Sposi ins Deutsche empfiehlt Goethe konsequenterweise die Streichung der Pestdarstellung. I promessi sposi, S. 525. Vgl. hierzu Küpper, »Ironisierung der Fiktion«, S. 138: »Die entscheidende Markierung der Haupthandlung als eines schönen Märchens, aus dem sich schwerlich Rückschlüsse auf das Funktionieren der Welt ableiten lassen, […] ergibt sich durch dasjenige Moment, das die Sposi von dem hellenistischen Referenzschema wesentlich unterscheidet, durch die Präsenz einer eigenständigen, etwa ein Drittel des Romans ausmachenden Entfaltung des historischen Szenarios, vor dessen Hintergrund sich die Ereignisse abspielen. Diese historische Ebene […] stellt auf der Ebene des Weltmodells einen Gegenentwurf zu der Renzo-Lucia-Handlung dar. Es ist im übrigen allein dieses Stratum des Texts, mit dem sich der Erzähler vorbehaltlos identifiziert […].«

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Handlung um Renzo und Lucia rekurriert auf das Deutungsmuster der »fiducia in Dio«, wobei das betreffende Erklärungsmuster den Figuren in den Mund gelegt wird. Die Ebene der historiographischen Exkurse, für die der Erzähler im Unterschied zur anderen Ebene die volle Verantwortung übernimmt, zeigt dagegen, wie sich die Pest als Konsequenz menschlicher Fehlhandlungen entwickelt hat und somit keineswegs als göttliche Prüfung gedeutet werden kann. Die durch Quellenvergleich vom Erzähler vorgenommene ausführliche Rekonstruktion der Kausalkette, die zu der verheerenden Pestepidemie in Mailand und Norditalien führte, zeigt auf, in welch großem Maße menschliche Akteure daran schuld waren, dass sich ein Nährboden für die Pest überhaupt erst entwickeln und dass diese sich dann verbreiten konnte. Immer wieder wird klar, welche Fehleinschätzungen, welche kollektive Realitätsblindheit, welche Verdrängungsmechanismen am Werk waren, mit welch unzureichenden Mitteln die Obrigkeit die viel zu spät als solche erkannte Seuche einzudämmen versuchte: An einer Stelle ist etwa die Rede von der »imperfezion degli editti« [Unvollkommenheit der Erlässe] und der »trascuranza nell’eseguirli« [Nachlässigkeit bei ihrer Umsetzung] ebenso wie von der »destrezza nell’eluderli«127 [Geschicklichkeit darin, sie zu umgehen]. Während aber die Menschen die Seuche verleugnen beziehungsweise unzureichend bekämpfen, sucht diese sich bereits ihre ersten Opfer: Di quando in quando, ora in questo, ora in quel quartiere, a qualcheduno s’attaccava, qualcheduno ne moriva: e la radezza stessa de’ casi allontanava il sospetto della verità, confermava sempre più il pubblico in quella stupida e micidiale fiducia che non ci fosse peste, nè ci fosse stata neppure un momento. Molti medici ancora, facendo eco alla voce del popolo (era, anche in questo caso, voce di Dio?), deridevan gli augùri sinistri, gli avvertimenti minacciosi de’ pochi; e avevan pronti nomi di malattie comuni, per qualificare ogni caso di peste che fossero chiamati a curare; con qualunque sintomo, con qualunque segno fosse comparso.128 Dann und wann, mal in diesem, mal in jenem Stadtviertel befiel sie jemanden, und es starb jemand an ihr; und gerade die Seltenheit der Fälle verhinderte es, dass man die Wahrheit erkannte, sie bestärkte die Öffentlichkeit immer mehr in ihrem dummen und tödlichen Vertrauen, es handle sich gar nicht um die Pest, und es habe sich auch niemals darum gehandelt. Viele Ärzte machten sich damals noch lustig über die üblen Vorhersagen, die bedrohlichen Warnungen der wenigen und verliehen damit der Stimme des Volkes (war es auch diesmal die Stimme Gottes?) ein Echo; und sie waren schnell zur Stelle mit den Bezeichnungen für gewöhnliche Krankheiten, um damit jeden Pestfall zu benennen, zu dessen Behandlung sie gerufen wurden; gleichgültig, welche Symptome und Merkmale er aufwies.

127 128

I promessi sposi, S. 532. Ebd.

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Wir erinnern uns, dass auf der Ebene der Fiktion die Konklusion lautet, man müsse nur sein Vertrauen in Gott setzen, dann würden alle Schicksalsschläge abgemildert, und man könne ihnen einen metaphysischen Sinn abgewinnen (»quando vengono [i guai], o per colpa o senza colpa, la fiducia in Dio li raddolcisce, e li rende utili per una vita migliore«).129 Hier dagegen, auf der Ebene der historiographischen Analyse, erfahren wir, wie tödlich sich die »stupida e micidiale fiducia che non ci fosse peste« auswirkte. Außerdem wird vom Erzähler sarkastisch die »voce del popolo« mit ihrer Dissoziierung von der »voce di Dio« in ihrer Dummheit bloßgestellt. Man muss diese Äußerung nicht gleich als Fundamentalkritik am Glauben interpretieren, doch zeigt sich an dieser Stelle sehr deutlich die Distanzierung von jenem naivgottesgläubigen Optimismus, der die Grundlage der fiktiven Handlung um Renzo und Lucia bildet. Ich möchte die durch die formale Zweiteilung des Textes markierte Opposition zweier Weltmodelle (eines christlich-vormodernen und eines rationalistisch-modernen) dahingehend interpretieren, dass der Text die formal dominante Ebene der Liebeshandlung und das sie fundierende providentielle Weltbild ironisch infrage stellt.130 Dadurch wird dem Text eine Grundspannung eingeschrieben: Das strukturell vorgegebene und rekurrente Schema der Gefährdung und Rettung wird insofern seiner ideellen Grundlage beraubt, als es angesichts des pestbedingten Massensterbens als absolute, höchst unwahrscheinliche Ausnahme erscheint. Erst durch diese Grundspannung und die damit einhergehende Dissonanz wird der Text ästhetisch interessant. Das Märchenschema allein wäre im 19. Jahrhundert ästhetisch und ideologisch obsolet. Das heißt aber, man darf nicht die eine Ebene von der anderen abtrennen und zu deren Lasten allein valorisieren, sondern muss ihre Bezogenheit aufeinander, ihre unlösbare Spannung zur Grundlage der ästhetischen Bewertung des Textes machen. Der Text macht gewissermaßen die Grundspannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Glauben und Rationalismus, zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip sichtbar, welche eine der prägenden Erfahrungen der (ästhetischen) 129 130

Ebd., S. 673. Vgl. auch Reinhold R. Grimm, »Historischer Roman und Idylle. Krisenerfahrung in Manzonis Promessi sposi«, in: Italienisch 14 (1985), S. 32–41, der die Sposi als eine Sonderform der Gattung historischer Roman deutet, insofern hier das Handlungsschema des historischen Romans durch das Idyllenschema überlagert werde. Durch die Krisensituation der politischen Unruhen und der Mailänder Pest werde das Idyllenschema aufgelöst, um dann am Ende durch die glückliche Wiedervereinigung der Verlobten wiederhergestellt zu werden, »wenn auch in humoristischer Distanzierung« (S. 40).

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Moderne ist. Dies tut er, indem er die Darstellungsmittel der literarischen Fiktion und der wissenschaftlichen Analyse zu einer widersprüchlichen Einheit verknüpft.

4.4 Naturalistische Wissenschaftsprogrammatik als Fortsetzung des realistischen Projekts und dessen Infragestellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts 4.4.1 Zolas naturalistisches Programm und die Brüchigkeit seiner Umsetzung An den bisher betrachteten – für eine wichtige, nämlich die wirklichkeitsdarstellende Entwicklungslinie des Romans im 19. Jahrhundert repräsentativen – Autoren Balzac, Flaubert und Manzoni konnten wir feststellen, dass sowohl auf der Ebene der Poetologie als auch auf der formalen und inhaltlichen Ebene der Texte wissenschaftliche Modelle aus Biologie, Medizin und Historiographie eine fundierende Rolle spielten. Zugleich zeigte sich, dass es zwischen Wissenschaft und literarischer Fiktion zwar zu Interferenzen, niemals aber zu einer Deckungsgleichheit kommen konnte. Das hängt mit der Eigengesetzlichkeit beider Diskurstypen und diese wiederum mit der funktionalen Ausdifferenzierung von Kunst und Wissenschaft zusammen. Am Beispiel des Naturalismus soll nun gezeigt werden, wie sich der Konnex Literatur und Wissenschaft im späten 19. Jahrhundert weiterentwickelt und wie er zu epistemologisch wie künstlerisch zum Teil als problematisch betrachtbaren Erscheinungen führt, die von den Autoren der nachfolgenden Generation (Pirandello, Svevo, Proust) polemisch kritisiert und somit zum negativen Ausgangspunkt neuer Entwicklungen des Romans im 20. Jahrhundert werden. Der Begriff »Naturalisme« stammt ursprünglich aus der Philosophie und bezeichnet den philosophischen Materialismus, wie er zum Beispiel in Diderots Entretien entre d’Alembert et Diderot diskutiert wird. Die Grundauffassung des Naturalismus besteht darin, dass er außerhalb des Materiellen nichts gelten lässt. Propagiert werden diese materialistischen und deterministischen Grundsätze im 19. Jahrhundert durch Auguste Comte und Hippolyte Taine, von welchen Émile Zola (1840–1902) stark geprägt wurde. Im Vorwort zur 1868 erschienenen zweiten Auflage seines frühen Romans Thérèse Raquin schreibt Zola: »J’ai choisi des personnages souverainement dominés par leurs nerfs et leur sang, dépourvus de libre arbitre, entraînés à chaque acte de leur vie par les fatalités de leur chair. […] L’âme est parfaitement absente, j’en

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conviens aisément, puisque je l’ai voulu ainsi.«131 [Ich habe Figuren ausgewählt, die von ihren Nerven und ihrem Blut mächtig dominiert werden, keinen freien Willen haben und bei jeder ihrer Handlungen dem Schicksal ihres Fleisches unterworfen sind. (…) Die Seele ist völlig abwesend, wie ich gerne zugebe, da ich es ja so gewollt habe.] Im Jahr 1880 veröffentlichte Zola seine wichtige Programmschrift Le roman expérimental.132 Dieser Text beginnt mit folgenden Worten: »Dans mes études littéraires, j’ai souvent parlé de la méthode expérimentale appliquée au roman et au drame. Le retour à la nature, l’évolution naturaliste qui emporte le siècle, pousse peu à peu toutes les manifestations de l’intelligence humaine dans une même voie scientifique.«133 [In meinen Studien zur Literatur habe ich oftmals von der experimentellen Methode gesprochen, die man auf den Roman und das Drama anwendet. Die Rückkehr zur Natur, die naturalistische Evolution, die das Jahrhundert erfasst, bringt nach und nach alle Ausdrucksformen der menschlichen Intelligenz auf ein und denselben wissenschaftlichen Weg.] Aus diesen Sätzen spricht eine Überzeugung, derzufolge es im Grunde überhaupt keinen Unterschied mehr zwischen Literatur und 131

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Émile Zola, Thérèse Raquin, in: Œuvres complètes, hg. v. Henri Mitterand, Bd. I, Paris 1966, S. 511–682, hier S. 519f. Vgl. hierzu neuerdings Eckhard Höfner, »Zola – und kein Ende? Überlegungen zur Relation von Wissenschaft und Literatur. Der Roman expérimental und der Hypothesen-Streit im 19. Jahrhundert«, in: Thomas Klinkert/Monika Neuhofer (Hg.), Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, Berlin/New York 2008, S. 127–166. Zola, so Höfner, situiere sich mit seiner Programmschrift innerhalb des sogenannten Hypothesenstreits und versuche die von Charles Darwin und Claude Bernard verwendeten Methoden auf die Literatur zu übertragen. Das epochemachende und von vielen Wissenschaftlern heftig kritisierte Werk von Charles Darwin führe mit seiner induktiv-hypothetischen Vorgehensweise in die Wissenschaft Momente wie Probabilistik, Verzicht auf Metaphysik, Theorieübertragung in interdisziplinären Feldern und Evolutionismus ein. Auch bei Claude Bernard, auf den Zola sich in seiner programmatischen Schrift Le roman expérimental bezieht, finde das von Darwin eingeführte induktiv-hypothetische Vorgehen seinen deutlichen Niederschlag. Damit reagiere Zola auf spezifische innerliterarische Probleme. Es gehe ihm nämlich darum, sich einerseits den kunstidealistischen und moralisierenden Anforderungen an die Literatur zu entziehen, andererseits dem Vorwurf zu entgehen, die Literatur sei platte Darstellung von Wirklichkeit. Die Hypothese nämlich erfordere eine kreative Leistung von Seiten des Autors und gestatte so die Verbindung von wissenschaftlicher Objektivität und schöpferischer Subjektivität. Die Literatur findet Zola zufolge ihre neue Rolle, indem sie Hypothesen über bislang unerforschte Bereiche generiert und diese dann der Falsifikation durch die Wissenschaften unterwirft. Zola, Le roman expérimental, Paris 1880, S. 1.

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Wissenschaft gibt, was der These von der funktionalen Ausdifferenzierung diametral entgegengesetzt ist. Begründet wird diese Überzeugung damit, dass die allgemeine, naturwissenschaftlich geprägte Entwicklung des 19. Jahrhunderts (»l’évolution naturaliste qui emporte le siècle«) die zwischen den Ausdrucksformen der menschlichen Intelligenz bestehenden Unterschiede nivelliere und überall die Prinzipien wissenschaftlichen Denkens dominant setze. Dementsprechend versucht Zola diese Prinzipien auf die Literatur zu übertragen und anzuwenden, es geht ihm um »la méthode expérimentale appliquée au roman et au drame«.134 Zolas wissenschaftlicher Gewährsmann ist der Mediziner Claude Bernard, auf dessen Introduction à l’étude de la médecine expérimentale er sich bezieht: »[…] je compte, sur tous les points, me retrancher derrière Claude Bernard. Le plus souvent, il me suffira de remplacer le mot ›médecin‹ par le mot ›romancier‹ pour rendre ma pensée claire et lui apporter la rigueur d’une vérité scientifique.«135 [(…) ich möchte mich in allen Punkten hinter Claude Bernard verschanzen. Sehr häufig wird es ausreichen, wenn ich das Wort ›Arzt‹ durch das Wort ›Romanautor‹ ersetze, um mein Denken verständlich zu machen und ihm die Strenge einer naturwissenschaftlichen Wahrheit zu verleihen.] Zwischen Medizin und Literatur besteht Zola zufolge eine so weitgehende Analogie, dass man durch einen einfachen ›Ersetzungsbefehl‹ den einen Bereich in den anderen konvertieren kann. Die Wahl der Medizin als Bezugsgröße wird dadurch motiviert, dass auch diese – genauso wie die Literatur – bei vielen noch als Kunst und nicht als Wissenschaft gelte: Ce qui a déterminé mon choix […], c’est que précisément la médecine, aux yeux d’un grand nombre, est encore un art, comme le roman. Claude Bernard a, toute sa vie, cherché et combattu pour faire entrer la médecine dans une voie scientifique. Nous assistons là aux balbutiements d’une science se dégageant peu à peu de l’empirisme pour se fixer dans la vérité, grâce à la méthode expérimentale. Claude Bernard a démontré que cette méthode appliquée dans l’étude des corps bruts, dans la chimie et dans la physique, doit l’être également dans l’étude des corps vivants, en physiologie et en médecine. Je vais tâcher de prouver à mon tour que, si la méthode expérimentale conduit à la connaissance de la vie physique, elle doit conduire aussi à la connaissance de la vie passionnelle et intellectuelle. Ce n’est là 134

135

Dieses Verständnis des Begriffs »Experimentalroman« ist im Übrigen nicht zu verwechseln mit der Bedeutung, die der Begriff im 20. Jahrhundert annehmen wird; bei Zola handelt es sich um die Anwendung bestimmter, dem Experiment des Naturwissenschaftlers abgeschauter Prinzipien auf den Roman; im 20. Jahrhundert handelt es sich um ein Experimentieren mit neuen Darstellungsformen, zum Beispiel bei Joyce, Proust, Faulkner, Claude Simon, Juan Goytisolo. Zola, Le roman expérimental, S. 2.

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qu’une question de degrés dans la même voie, de la chimie à la physiologie, puis de la physiologie à l’anthropologie et à la sociologie. Le roman expérimental est au bout.136 Was meine Wahl bestimmt hat […], ist, dass die Medizin genaugenommen vielen immer noch als eine Kunst gilt, wie der Roman. Claude Bernard hat sein Leben lang danach gestrebt und dafür gekämpft, dass die Medizin sich auf die wissenschaftliche Bahn begibt. Wir erleben hier das Stammeln einer Wissenschaft, die sich nach und nach vom Empirismus ablöst, um sich dank der experimentellen Methode im Reich der Wahrheit einzurichten. Claude Bernard hat nachgewiesen, dass diese Methode, welche man in der Chemie und der Physik auf anorganische Körper anwendet, ebenso in der Physiologie und der Medizin auf das Studium der lebenden Körper angewendet werden muss. Ich werde meinerseits zu beweisen versuchen, dass, wenn die experimentelle Methode zur Kenntnis des physischen Lebens führt, sie dann ebenso zur Kenntnis des Lebens der Passionen und des Geistes führen muss. Es handelt sich beim Verhältnis von Chemie und Physiologie, sowie von Physiologie, Anthropologie und Soziologie nur um graduelle Unterschiede auf einem gemeinsamen Weg. Am Ende dieses Weges befindet sich der Experimentalroman.

Ganz ähnlich wie Balzac versucht also auch Zola den Roman im Feld der Wissenschaften zu positionieren, indem er ihm aus der Entwicklungslogik des wissenschaftlichen Feldes heraus zwingend einen Platz zuweist. Er setzt den Roman in Analogie zur Medizin und somit sich selbst als Romancier in Analogie zum medizinischen Wissenschaftler Claude Bernard. So wie dieser dafür gekämpft habe, aus der ärztlichen Kunst eine Wissenschaft zu machen, kämpfe er, Zola, dafür, aus der Romankunst einen Teilbereich des wissenschaftlichen Feldes zu machen. Die Verwissenschaftlichung nach dem Prinzip der »méthode expérimentale« folgt einer Logik der Übertragung und Ausdehnung: Von der unbelebten (»corps bruts«) zur belebten Materie (»corps vivants«) – das ist der Weg Claude Bernards; und innerhalb der belebten Materie von der »vie physique« zur »vie passionnelle et intellectuelle« – das ist der Weg Émile Zolas. Damit stellt Zola den Roman in ein Paradigma von Disziplinen, deren Ziel die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung ist: Chemie, Physiologie (= Medizin), Anthropologie, Soziologie – und Roman. Es ist interessant anzumerken, dass Zola mutatis mutandis im Grunde dasselbe Ziel wie sein Vorgänger Balzac verfolgt. Wie dieser will er den Roman als wissenschaftliche Disziplin fundieren. Obwohl er hierin also Balzac folgt und dessen Projekt fortführt, impliziert seine Argumentation zugleich, dass Balzac mit seinem Vorhaben gescheitert sei, denn hätte er den Roman seinem Programm gemäß tatsächlich verwissenschaftlicht, würde sich Zolas Vorhaben ja erübrigen. Damit grenzt Zola sich implizit von Balzac ab. Andererseits beruft er sich, wie wir gleich sehen werden, explizit im Fortgang 136

Ebd.

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seiner Argumentation auf Balzac und bezeichnet dessen Roman La cousine Bette als Experimentalroman. Das Verhältnis zu seinem großen Vorläufer ist also durchaus ambivalent. Die Methode, welche Claude Bernard zufolge der Medizin ihre Wissenschaftlichkeit verleiht, nennt sich »expérience«, zu deutsch ›Experiment‹. »Expérience« steht zunächst in Opposition zu »observation«. Der Unterschied bestehe darin, dass der Beobachter seine Daten aus der Beobachtung von solchen Phänomenen gewinne, wie sie ihm die Natur darbiete; der Experimentator dagegen beobachte Phänomene unter Bedingungen, wie sie in der Natur nicht gegeben seien. Der Astronom etwa sei ein Beobachter, weil er die Gegenstände seiner Beobachtung, die Sterne, nicht verändern könne. Der Chemiker dagegen greife in die Natur ein und sei daher ein Experimentator. Obwohl die Begriffe in Opposition zueinander stehen, wird diese Opposition dadurch zurückgenommen, dass Bernard schließlich das Experiment als eine zu einem bestimmten Zweck, nämlich dem der Kontrolle, herbeigeführte Beobachtung definiert (»l’expérience est une observation provoquée dans un but de contrôle«).137 Überhaupt vermischten sich in der Medizin Beobachtung und Experiment auf untrennbare Weise. Dies erlaubt es Zola, die Experimentalmethode auch für den Roman zu beanspruchen, wo, wie er zunächst einräumt, man bislang nur die Beobachtung für möglich gehalten habe: Eh bien! en revenant au roman, nous voyons également que le romancier est fait d’un observateur et d’un expérimentateur. L’observateur chez lui donne les faits tels qu’il les a observés, pose le point de départ, établit le terrain solide sur lequel vont marcher les personnages et se développer les phénomènes. Puis, l’expérimentateur paraît et institue l’expérience, je veux dire fait mouvoir les personnages dans une histoire particulière, pour y montrer que la succession des faits y sera telle que l’exige le déterminisme des phénomènes mis à l’étude. C’est presque toujours ici une expérience »pour voir«, comme l’appelle Claude Bernard. Le romancier part à la recherche d’une vérité.138 Nun denn, wenn wir uns wieder dem Roman zuwenden, sehen wir ebenfalls, dass der Romanautor aus einem Beobachter und einem Experimentator besteht. Der Beobachter in ihm gibt die Fakten wieder, so wie er sie beobachtet hat, er setzt den Ausgangspunkt, befestigt den soliden Untergrund, auf dem sich die Figuren bewegen und die Phänomene entwickeln werden. Dann tritt der Experimentator auf den Plan und beginnt mit dem Experiment, das heißt, er lässt die Figuren sich in einer bestimmten Geschichte bewegen, um zu zeigen, dass die Abfolge der Fakten dort genau so sein wird, wie es der Determinismus der zu untersuchenden Phänomene verlangt. Es handelt sich dabei fast immer um ein Experiment, das etwas »zu entdecken« gibt, wie Claude Bernard es nennt. Der Romanautor begibt sich auf die Suche nach einer Wahrheit. 137 138

Ebd., S. 6. Ebd., S. 7f.

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Der Romanautor übernimmt Zola zufolge zwei Rollen, zunächst die des Beobachters sozialer Phänomene, aus denen er den Ausgangspunkt (»le point de départ«) beziehungsweise die Grundlage seiner Geschichten (»le terrain solide«) gewinnt. Innerhalb dieses durch Beobachtung der Wirklichkeit erzeugten Rahmens spielt der Romancier sodann die Rolle des Experimentators, indem er seine Figuren einem bestimmten Handlungsablauf unterwirft. Ziel des Experiments ist es zu zeigen, dass die Abfolge der Handlungselemente einer deterministischen Logik folgt. Darunter ist zu verstehen, dass jeder gegebene Sachverhalt auf eine ihm nächstgelegene Ursache zurückgeführt werden kann/muss (»Le but de la méthode expérimentale […] consiste à trouver les relations qui rattachent un phénomène quelconque à sa cause prochaine, ou autrement dit, à déterminer les conditions nécessaires à la manifestation de ce phénomène.«139 [Das Ziel der experimentellen Methode […] liegt darin, dass man die Beziehungen entdeckt, welche ein beliebiges Phänomen mit seiner unmittelbaren Ursache verbinden, oder anders gesagt, dass man die Bedingungen bestimmt, welche für das Auftreten dieses Phänomens notwendig sind.]) Dabei geht es nicht um das Warum, sondern allein um das Wie einer Ursache-Wirkungs-Beziehung, es handelt sich also nicht um ein metaphysisches Welterklärungsmodell. Allerdings zeichnet sich in Zolas Argumentation ein grundlegender Widerspruch ab: Einerseits behauptet er, der Romanautor begebe sich auf die Suche nach einer Wahrheit (wobei impliziert ist, dass er diese noch nicht kennt: »une expérience ›pour voir‹«). Andererseits aber will der Romancier zeigen, dass ein ihm schon bekanntes Prinzip (das deterministische Kausalitätsprinzip) Gültigkeit besitzt. Den Widerspruch zwischen der Suche nach neuer Erkenntnis und der bloßen Bestätigung bereits bekannten Wissens thematisiert Zola nicht. Das mag damit zusammenhängen, dass hier der wunde Punkt, die Sollbruchstelle der von Zola postulierten Verbindung von Literatur und Naturwissenschaft liegt. Denn ein literarischer Text – und insbesondere ein narrativer Text – tritt in aller Regel mit dem Anspruch auf, etwas Neues mitzuteilen. Das ginge ohne Weiteres konform mit den Zielen des Experimentators, der ja zu Beginn seines Experiments auch noch nicht weiß, welches Ergebnis das Experiment hervorbringen wird. Da aber nun die Anwendung des experimentierenden Verfahrens im Roman nur metaphorisch erfolgen kann – denn der Romancier hat faktisch nicht die Möglichkeit, seine Figuren, die ja nur innerhalb des von ihm geschriebenen Textes existieren, unter Laborbedingungen zu beobachten, sondern er muss als (fingierender) Autor schon selbst dafür sorgen, dass die Handlung sich in irgendeiner Rich139

Ebd., S. 3.

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tung entwickelt – bleibt als einzige Möglichkeit, von der Wissenschaft etwas zu übernehmen, der genannte Determinismus. Dieser aber ist ein allgemeingültiges Prinzip, welches nicht Erkenntnisziel, sondern Grundlage von Experimenten ist. Das Wissenschaftliche im Roman erhält dadurch den Status des Tautologischen und wandelt damit seine Funktion grundlegend. Die oben zitierte Bemerkung aus dem Vorwort zu Thérèse Raquin zeigt denn auch, dass es Zola im Wesentlichen um die narrative Bestätigung bereits bekannten Wissens geht. Das lässt sich auf seinen Zyklus Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire übertragen, wo die Taine’schen Gesetze der Determinierung durch »race«, »milieu« und »moment (historique)« am Beispiel einer Familie durchgeführt werden. Dass die Texte dann die wissenschaftlichen Erkentnisse, die sie illustrieren sollen, nicht immer vorbehaltlos bestätigen, steht auf einem anderen Blatt. Es ist wiederum ein Indiz für die Differenz zwischen Literatur und Naturwissenschaft.140 140

Vgl. hierzu Rainer Warning, »Kompensatorische Bilder einer ›wilden Ontologie‹: Zolas Les Rougon-Macquart«, in: Poetica 22 (1990), S. 355–383 (wiederabgedruckt in: ders., Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 240–268). Warning liest Zolas Romane als konterdiskursive Inszenierungen der Episteme des 19. Jahrhunderts. Foucaults bekannter These aus Les mots et les choses zufolge zeichnet sich diese Episteme durch die Suche nach dem Ursprung aus, durch eine durchgehende Historisierung des Wissens; damit steht sie in Opposition zur klassifikatorischen Episteme des 18. Jahrhunderts. Foucaults Epistemenkonzept, so Warning, ermögliche einen vereinheitlichenden Blick auf die dominanten Wissenschaftsparadigmen des 19. Jahrhunderts; das »befremdliche[ ] Nebeneinander von positivistischer Selbstbescheidung und hermeneutischer Spekulation« (S. 356; S. 241) werde somit erst verständlich. Nutznießer dieses neuen Blicks auf die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts sei auch Zola, der sich mit dem »Pathos der Suche nach Ursprüngen« (ebd.) identifiziert habe. Wenn Warning damit einerseits den Romancier Zola in »Grundtendenzen der Episteme seiner Zeit« (S. 357; S. 242) einordnet, so gilt ihm mit Foucault andererseits die Literatur als Gegendiskurs: »Literarische Texte sind immer schon bestimmte Inszenierungen einer gegebenen Episteme.« (Ebd.) In diesem Sinne liest Warning die in Zolas Romanen enthaltenen Gewalt- und Transgressionsphantasien als »kompensatorisch bezogen auf die Defizite eines harmonistischen Vitalismus« (S. 360; S. 245): »Zolas Transgressionsphantasie steigert die vitalistischen Diskurse seiner Zeit bis hin zu dem Punkt, da sie umschlagen in Todesphantasmagorien, deren entfesselte Bildlichkeit genau das hereinspielt, was die Wissensdiskurse selbst ausgrenzen.« (Ebd.) Auch Elke Kaiser, Wissen und Erzählen bei Zola. Wirklichkeitsmodellierung in den »Rougon-Macquart«, Tübingen 1990, wendet sich gegen eine einsinnige Deutung von Zolas Romanen als »Ausdruck positivistischen Denkens« (S. 11) und fokussiert im »heterogene[n] und ambivalente[n] Diskurs der Rougon-Macquart« jene »epistemischen Risse und Brüche […], welche die einzelnen Romane und erst recht den Zyklus insgesamt durchziehen« (S. 13).

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Zola illustriert nun seine Behauptung an einem Beispiel, nämlich Balzacs spätem Roman La cousine Bette. Zunächst habe Balzac einen allgemeinen Sachverhalt (»fait général«) beobachtet, nämlich die Zerstörungen, die im sozialen und familialen Umfeld eines Mannes daraus resultieren können, dass er der Liebe zum weiblichen Geschlecht allzu sehr zugeneigt ist und sich neben seiner Ehefrau zahlreiche kostspielige Mätressen leistet. In einem zweiten Schritt habe Balzac dann seinen Helden Hulot einer Reihe von Experimenten unterzogen: […] il a institué son expérience en soumettant Hulot à une série d’épreuves, en le faisant passer par certains milieux, pour montrer le fonctionnement du mécanisme de sa passion. Il est donc évident qu’il n’y a pas seulement là observation, mais qu’il y a aussi expérimentation, puisque Balzac ne s’en tient pas strictement en photographe aux faits recueillis par lui, puisqu’il intervient d’une façon directe pour placer son personnage dans des conditions dont il reste le maître.141 […] er hat sein Experiment vorgenommen, indem er Hulot einer Reihe von Prüfungen unterzog, indem er ihn bestimmte Milieus durchlaufen ließ, um zu zeigen, wie der Mechanismus seiner Leidenschaft funktioniert. Es ist also offensichtlich, dass hier nicht nur eine Beobachtung vorliegt, sondern auch ein Experiment vollzogen wird, da Balzac sich ja nicht streng wie ein Photograph an die von ihm gesammelten Fakten hält, da er ja auf direkte Art und Weise eingreift, um seine Figur unter Bedingungen zu stellen, die er selbst kontrolliert.

Das Problem dieser Analyse besteht darin, dass sie lediglich für den realen Autor Balzac, nicht aber für seinen Text zutreffen kann. Denn der Erzähler von La cousine Bette sagt an keiner Stelle, dass er seine Figur einem Experiment unterwerfe;142 im Gegenteil, eine solche Behauptung würde ja die referentielle Illusion143 zerstören, welche für Balzacs wirklichkeitsdarstellende Romane grundlegend ist (vgl. zum Beispiel das programmatische »All is true« zu Beginn von Le père Goriot).144 Das Experiment im Sinne Zolas wäre also nichts anderes als ein modernes Wort für das althergebrachte Konzept Fiktion (vgl. die in Diderots Jacques le fataliste ausführlich thematisierte Problematik: der Erzähler qua Autor könnte, wenn er wollte, in die Handlung nach Gutdünken eingreifen). Während es aber in vielen Romanen gewisse Fiktionssignale gibt (allwissender Erzähler, erlebte Rede, Innenschau usw.), 141 142

143 144

Le roman expérimental, S. 8. Die Frantext-Suche ergibt, dass in La cousine Bette das Wort »expérimentation« nicht vorkommt; das Wort »expérience« kommt insgesamt fünfmal vor, viermal in der Bedeutung ›Erfahrung‹, ein einziges Mal in der Bedeutung ›Experiment‹, allerdings nicht in Zolas Sinn. Vgl. hierzu Henri Mitterand, L’illusion réaliste. De Balzac à Aragon, Paris 1994. Le père Goriot, in: La Comédie humaine, Bd. III, hg. v. Pierre-Georges Castex, Paris 1976, S. 1–290, hier S. 50.

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fehlt in Balzacs Roman jede Markierung dessen, was Zola als Experiment bezeichnet. Der Experimentalcharakter ist somit kein Strukturmerkmal von La cousine Bette. Nun will Zola – nicht anders als Balzac (»La Société française allait être l’historien, je ne devais être que le secrétaire.«)145 –, dass der Experimentalroman nicht mehr sei als das Protokoll einer ihm vorgängigen Wirklichkeit, in diesem Falle der Wirklichkeit des Experiments (»[…] un roman expérimental […] est simplement le procès-verbal de l’expérience, que le romancier répète sous les yeux du public« [(…) ein Experimentalroman (…) ist nichts anderes als das Protokoll eines Experiments, welches der Romanautor vor den Augen des Publikums wiederholt]),146 sodass auch nach der Logik seiner eigenen Argumentation von einem sichtbaren fingierenden Eingriff auf der Ebene der schriftstellerischen Gestaltung und des Textes nicht die Rede sein kann. Im Hinblick auf diese illusionierende Darstellung ist der Naturalist Zola ein getreuer Nachfolger des Realisten Balzac. Der Romancier fingiert eine unter experimentellen Bedingungen stehende Handlung, die er dann getreu zu Papier bringt. Der Text soll so wirken, als bilde er die beobachtete Wirklichkeit unverändert ab. Damit aber stellt sich das Problem der formalen Gestaltung. Wie muss ein Text beschaffen sein, wenn er eine solche Wirkung erzielen will? Diese Frage indes lässt Zola ganz bewusst unbeantwortet. So sagt er beinahe am Ende seines Textes: J’ai négligé jusqu’ici la question de la forme chez l’écrivain naturaliste, parce que c’est elle justement qui spécialise la littérature. Non seulement le génie, pour l’écrivain, se trouve dans le sentiment, dans l’idée à priori [sic], mais il est aussi dans la forme, dans le style. Seulement, la question de méthode et la question de rhétorique sont distinctes. Et le naturalisme, je le dis encore, consiste uniquement dans la méthode expérimentale, dans l’observation et l’expérience appliquées à la littérature. La rhétorique, pour le moment, n’a donc rien à voir ici. Fixons la méthode, qui doit être commune, puis acceptons dans les lettres toutes les rhétoriques qui se produiront; regardons-les comme les expressions des tempéraments littéraires des écrivains.147 Bisher habe ich die Frage nach der Form beim naturalistischen Schriftsteller vernachlässigt, weil sie es ist, die gerade das Spezifische der Literatur ausmacht. Das Genie des Schriftstellers liegt nicht nur in dem Gefühl, in der apriorischen Idee, sondern auch in der Form, im Stil. Allerdings sind die Frage der Methode und die Frage der Rhetorik voneinander getrennt. Und der Naturalismus, ich sage es noch einmal, liegt einzig und allein in der experimentellen Methode, in der Beobachtung und dem Experiment, welche man auf die Literatur überträgt. Die Rhetorik 145 146 147

Balzac, »Avant-propos«, S. 11. Zola, Le roman expérimental, S. 8. Ebd., S. 46.

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hat also hier fürs erste nichts zu suchen. Bestimmen wir zuerst die Methode, die allen gemeinsam sein muss; sodann können wir im Bereich der Literatur alle Rhetoriken zulassen, welche sich anbieten mögen; betrachten wir sie als den Ausdruck des literarischen Temperaments der Autoren.

Wenn einerseits konzediert wird, dass das eigentlich spezifische Merkmal literarischer Texte die sprachliche Form sei und dass sich das Genie eines Autors sowohl im Inhaltlichen als auch im Formalen ausdrücke, so wird dies andererseits wieder zurückgenommen, indem Zola sagt, dass das Spezifische des Naturalismus ausschließlich in der »méthode expérimentale« liege. Damit definiert er den Naturalismus als etwas von der Literatur im Grunde völlig Getrenntes, was nach seiner eingangs zitierten Auffassung, wonach es zwischen den verschiedenen Manifestationsformen des menschlichen Geistes gar keinen wesentlichen Unterschied gebe, weil sie alle von wissenschaftlichen Prinzipien geleitet würden, insofern konsequent ist, als damit die Literatur ja in gewisser Weise überwunden würde. Das Spezifische der Literatur wird für nebensächlich erklärt, und die sprachliche Form wird gewissermaßen auf dem Altar der Wissenschaftlichkeit geopfert. Dem entspricht es wiederum, dass die naturalistischen Romanciers tatsächlich keine nennenswerten formalen oder stilistischen Innovationen vorgelegt haben. Sie haben lediglich die von Balzac und Flaubert entwickelten Erzähltechniken adaptiert und weiterentwickelt (zum Beispiel das zyklische Prinzip, die interne Fokalisierung, welche Verga zum choralen Erzählen umbaut, den Lakonismus und die impersonnalité des Flaubert’schen Erzählers). Es soll nun ein kurzer Blick auf das Verhältnis von Theorie und Praxis geworfen werden. Zolas zentrales Werk ist der 20-bändige Romanzyklus mit dem Titel Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, dessen erster Band, La fortune des Rougon, 1871 erschien. Im Vorwort zu diesem Roman schreibt Zola Folgendes: Je veux expliquer comment une famille, un petit groupe d’êtres, se comporte dans une société, en s’épanouissant pour donner naissance à dix, à vingt individus qui paraissent, au premier coup d’œil, profondément dissemblables, mais que l’analyse montre intimement liés les uns aux autres. L’hérédité a ses lois, comme la pesanteur. / Je tâcherai de trouver et de suivre, en résolvant la double question des tempéraments et des milieux, le fil qui conduit mathématiquement d’un homme à un autre homme. Et quand je tiendrai tous les fils, quand j’aurai entre les mains tout un groupe social, je ferai voir ce groupe à l’œuvre comme acteur d’une époque historique, je le créerai agissant dans la complexité de ses efforts, j’analyserai à la fois la somme de volonté de chacun de ses membres et la poussée générale de l’ensemble. / Les Rougon-Macquart, le groupe, la famille que je me propose d’étudier a pour caractéristique le débordement des appétits, le large soulèvement de

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notre âge, qui se rue aux jouissances. Physiologiquement, ils sont la lente succession des accidents nerveux et sanguins qui se déclarent dans une race, à la suite d’une première lésion organique, et qui déterminent, selon les milieux, chez chacun des individus de cette race, les sentiments, les désirs, les passions, toutes les manifestations humaines, naturelles et instinctives, dont les produits prennent les noms convenus de vertus et de vices.148 Ich möchte erklären, wie eine Familie, eine kleine Gruppe von Personen, sich in einer Gesellschaft verhält, indem sie sich entfaltet und zehn, zwanzig Individuen hervorbringt, die auf den ersten Blick zutiefst unterschiedlich erscheinen, von denen die Analyse aber zeigen kann, dass sie aufs engste miteinander verbunden sind. Die Vererbung hat ihre Gesetze, genau wie die Schwerkraft. / Ich werde versuchen, indem ich die doppelte Frage der Temperamente und der Milieus beantworte, den Faden, der mit mathematischer Präzision von einem Menschen zum nächsten führt, zu finden und zu verfolgen. Und wenn ich alle Fäden gefunden habe, wenn ich eine vollständige soziale Gruppe in Händen halte, werde ich diese Gruppe als Akteur in einer historischen Epoche am Werk zeigen, werde ich sie so schaffen, dass sie in der Komplexität ihrer Anstrengungen handelt, und werde zugleich die Willenssumme jedes ihrer Mitglieder analysieren und die allgemeinen Bestrebungen der Gesamtheit. / Die Rougon-Macquarts, jene Gruppe, jene Familie, die zu untersuchen ich mir vornehme, zeichnet sich durch ihren übermäßigen Appetit aus, die große Umsturzbewegung unseres Zeitalters, welches nach Vergnügungen giert. Physiologisch betrachtet sind diese Begierden die langsame Abfolge der Unfälle der Nerven und des Blutes, die in einer Rasse infolge einer ersten organischen Läsion auftreten und die entsprechend den Milieus in jedem der Individuen dieser Rasse die Gefühle, die Sehnsüchte, die Leidenschaften, alle natürlichen oder instinktgesteuerten menschlichen Ausdrucksformen bestimmen, deren Resultate üblicherweise als Tugenden und Laster bezeichnet werden.

Ausgangspunkt seines Romanprojekts ist also – anders als bei Balzac, dem es ja um die gesamte Gesellschaft geht – die Idee, eine Familie als Teilbereich der Gesellschaft darzustellen. Wie Balzac, so operiert auch Zola mit der Opposition Oberfläche vs. Tiefe. Auf den ersten Blick erscheinen die individuellen Mitglieder dieser Familie höchst unterschiedlich (»profondément dissemblables«); dieser Oberflächeneindruck soll durch die Freilegung der Tiefenstruktur mittels wissenschaftlicher Analyse überschritten werden (»que l’analyse montre intimement liés les uns aux autres«). Die tiefenstrukturelle Ähnlichkeit ergibt sich aus den Gesetzen der Vererbung, die mit dem Naturgesetz der Schwerkraft verglichen werden: »L’hérédité a ses lois, comme la pesanteur.« Auf der Basis der Annahme, dass individuelles Verhalten sich durch die Interaktion inhärenter Eigenschaften (»tempérament«) mit bestimmten Umweltbedingungen (»milieux«) erklären lasse, glaubt der 148

Émile Zola, La fortune des Rougon, in: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, Bd. I, hg. v. Armand Lanoux/Henri Mitterand, Paris 1960, S. 1–315, hier S. 3.

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Autor die Verbindungen zwischen den einzelnen Individuen mathematisch exakt bestimmen zu können. Wenn die soziale Gruppe in den Verbindungslinien zwischen all ihren Mitgliedern genau bestimmt ist, dann sollen diese in Aktion vorgeführt werden (»je ferai voir ce groupe à l’œuvre comme acteur d’une époque historique«). Es geht also um die statisch-paradigmatische Analyse eines Geflechts von Figuren und um die dynamisch-syntagmatische Darstellung von Handlung, welche wie bei Balzac historisch genau situiert ist, nämlich in der jüngsten Vergangenheit (der Zeit des Zweiten Kaiserreichs, 1851–1871). Diese syntagmatische Darstellung aber wird bezeichnenderweise als Fiktion ausgewiesen, als Schöpfung des Autors (»je le créerai agissant dans la complexité de ses efforts«). Es kommt also auch hier zu einer Verschmelzung von wissenschaftlichen (»expliquer«, »analyser«, »étudier«, »mathématiquement«) mit literarischen Verfahren (»créer«). Die syntagmatische Darstellung folgt einem deterministischen Prinzip, wonach nämlich die Verhaltensweisen der einzelnen Familienmitglieder einer Logik des Verfalls gehorchen, welche sich als Folge einer ursprünglichen organischen Verletzung erweist (»ils sont la lente succession des accidents nerveux et sanguins qui se déclarent dans une race, à la suite d’une première lésion organique«). (Ein Erbe dieser Ästhetik ist übrigens Thomas Mann, dessen erster, 1901 erschienener Roman den Titel trägt: Buddenbrooks. Verfall einer Familie.) Die Idee eines vererbungsbedingten Verfalls wird im Rougon-Macquart-Zyklus immer wieder aufgegriffen, beispielsweise in Nana, der Geschichte einer Schauspielerin, die sich von wohlhabenden Männern aushalten lässt und dadurch die vornehme Pariser Gesellschaft von innen her zersetzt, denn ihre Liebhaber stürzen sich in Schulden, um Nana reich zu beschenken, und zerstören dadurch ihre eigenen Familien. Muffat, einer ihrer Liebhaber, liest an einer Stelle der Handlung einen Artikel aus dem Figaro, in dem Nana anonym dargestellt wird (es handelt sich um eine mise en abyme der Gesamthandlung): Muffat lisait lentement. La chronique de Fauchery, intitulée La Mouche d’Or, était l’histoire d’une fille, née de quatre ou cinq générations d’ivrognes, le sang gâté par une longue hérédité de misère et de boisson, qui se transformait chez elle en un détraquement nerveux de son sexe de femme. Elle avait poussé dans un faubourg, sur le pavé parisien; et, grande, belle, de chair superbe ainsi qu’une plante de plein fumier, elle vengeait les gueux et les abandonnés dont elle était le produit. Avec elle, la pourriture qu’on laissait fermenter dans le peuple, remontait et pourrissait l’aristocratie. Elle devenait une force de la nature, un ferment de destruction, sans le vouloir elle-même, corrompant et désorganisant Paris entre ses cuisses de neige […].149 149

Zola, Nana, in: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, hg. v. Armand Lanoux/Henri Mitterand, Bd. II, Paris 1961, S. 1093–1485, hier S. 1269.

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Muffat las langsam. Faucherys Chronik mit dem Titel Die goldene Fliege erzählte die Geschichte einer jungen Frau, die von vier oder fünf Generationen von Alkoholikern abstammte, deren Blut durch ein weit zurückreichendes Erbe von Elend und Alkohol verdorben war, was sich in ihr in Form einer nervös bedingten sexuellen Abweichung niederschlug. Sie war in einer Vorstadt aufgewachsen, auf den Straßen von Paris; und großgewachsen, schön, üppig wie eine auf dem Misthaufen sprießende Pflanze, rächte sie die Bettler und die Verlorenen, von denen sie abstammte. In ihrer Gestalt stieg die Fäulnis, die man im Volk keimen ließ, zur Aristokratie auf und verdarb diese. Sie wurde zu einer Naturgewalt, einem Keim der Zerstörung, ohne es selbst zu wollen, zwischen ihren schneeweißen Schenkeln korrumpierte sie Paris und brachte es in Unordnung […].

Der Passus zeigt, wie Zola in seiner Analyse genetische Faktoren (Nanas Erbgut ist durch den Alkoholismus ihrer Vorfahren geschädigt) und soziale Faktoren (Nana ist in der Gosse aufgewachsen) gleichermaßen berücksichtigt, ganz so, wie er es im oben zitierten Vorwort zu La fortune des Rougon angekündigt hatte, wo er von der »double question des tempéraments et des milieux« sprach. Am Ende stirbt Nana an einer Pockeninfektion. Tatsächlich gab es in Paris im Jahr 1870 eine Pockenepidemie, über deren Verlauf und Auswirkungen Zola sich genauestens informiert hatte. Er folgt somit auch hier dem Prinzip der wissenschaftlich fundierten und informierten Wirklichkeitsdarstellung. Andererseits überhöht er Nanas Siechtum, indem er es parallelführt mit dem Ausbruch des preußisch-französischen Krieges. Die Freunde und ehemaligen Geliebten Nanas treffen sich an ihrem Totenbett und sprechen in frivol-aufgeregter Art und Weise über ihre ganz persönlichen Ängste und Sorgen, welche wiederum eingebettet werden in das historische Geschehen. Auf den Straßen versammeln sich derweil die Menschen und rufen aufgeregt: »À Berlin! à Berlin! à Berlin!« Dieser Schlachtruf wird leitmotivisch wiederholt und schließt Außen (Straße) und Innen (Sterbezimmer) zusammen. Nanas grässlich entstelltes Gesicht wird allegorisch gelesen; es erscheint nicht als physiologisch kontingent, sondern als bedeutungsvoll, gleichsam als eine gerechte Strafe für ihr ›Vergehen‹, welches darin bestand, dass sie ein ganzes Volk vergiftet habe: »Vénus se décomposait. Il semblait que le virus pris par elle dans les ruisseaux, sur les charognes tolérées, ce ferment dont elle avait empoisonné un peuple, venait de lui remonter au visage et l’avait pourri. / La chambre était vide. Un grand souffle désespéré monta du boulevard et gonfla le rideau. / ›À Berlin! à Berlin! à Berlin!‹«150 [Venus zersetzte sich. Es schien, als wäre ihr der Virus, den sie sich in den Gossen, bei dem geduldeten Aas zugezogen hatte, als wäre ihr jener Keim, mit dem sie ein ganzes Volk vergiftet hatte, gerade ins Antlitz ge150

Ebd., S. 1485.

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stiegen und hätte es verfaulen lassen. / Das Zimmer war leer. Ein starker Luftzug der Verzweiflung stieg vom Boulevard herauf und blähte den Vorhang. / »Nach Berlin! nach Berlin! nach Berlin!«] Durch die Juxtaposition des allegorisch gedeuteten Sterbens der Protagonistin und der Darstellung historischer Wirklichkeit erhält das Romanende eine quasi-mythische Dimension, denn unwillkürlich liest man Nanas Sterben als eine Chiffre für den Untergang des Zweiten Kaiserreichs, welcher mit dem preußisch-französischen Krieg 1870/71 besiegelt wurde. 4.4.2 Die Abkehr vom Naturalismus um 1900 a)

Pirandellos Il fu Mattia Pascal

Es soll nun gezeigt werden, wie die folgende Generation von Autoren, hier exemplarisch vertreten durch Luigi Pirandello (1867–1936), auf das naturalistische Programm der Verwissenschaftlichung reagiert hat. Dabei wird auch kurz auf den italienischen Naturalisten Giovanni Verga, der Zolas Projekt fortsetzt, einzugehen sein. Pirandellos Il fu Mattia Pascal (1904) ist ein Roman, der dem Realismus-Naturalismus des 19. Jahrhunderts eine dezidierte Absage erteilt. Diese Absage korreliert in signifikanter Weise mit einem gewandelten Verhältnis zur Naturwissenschaft. Der Ich-Erzähler Mattia Pascal hat, wie er in der »Premessa« sagt, eine ungewöhnliche Erfahrung mitzuteilen: den Verlust der elementarsten Gewissheiten, die ein Mensch besitzen kann, nämlich eine Antwort geben zu können auf die Fragen: Wer bin ich und wie heiße ich? Sein Identitätsverlust wird ihm Anlass zum Schreiben,151 obwohl er, der in einer Bibliothek arbeitet, Büchern gegenüber äußerst misstrauisch ist. In der anschließenden »Premessa seconda (filosofica) a mo’ di scusa« zeigt sich, dass Mattia Pascal grundsätzliche Hemmnisse sieht, die das Schreiben von Büchern zu verunmöglichen scheinen. Die Schuld daran habe, so meint er, die moderne Naturwissenschaft, vertreten durch Kopernikus. Das auf seinen Entdeckungen beruhende heliozentrische Weltbild rücke den Menschen an den Rand und lasse ihn innerhalb des Universums, in dessen Mittelpunkt seit Kopernikus keineswegs, wie man dies zuvor geglaubt habe, die Erde stehe, als völlig bedeutungslos 151

Zum Zusammenhang von Identitätsverlust und Schreiben bei Pirandello vgl. ausführlicher Thomas Klinkert, »Identitätskonstruktionen und ihre interkulturelle Dimension bei Pirandello«, in: Thomas Klinkert/Michael Rössner (Hg.), Zentrum und Peripherie. Pirandello zwischen Sizilien, Italien und Europa/Centro e periferia. Pirandello tra Sicilia, Italia ed Europa, Berlin 2006, S. 19–43.

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erscheinen, weshalb es, so schlussfolgert Mattia, auch sinnlos sei, vom Menschen zu erzählen und all die Unwichtigkeiten seines Lebens zu registrieren. Die Bewertung der modernen Wissenschaft hat sich gegenüber dem Realismus-Naturalismus völlig verändert. Wurde dort die Wissenschaft als Vorbild gefeiert, so gilt sie bei Pirandello geradezu als Feindbild. Entsprechend verbindet sich mit diesen Überlegungen eine polemische Kritik an der wirklichkeitsdarstellenden Literatur, die der Erzähler wie folgt illustriert: Il signor conte si levò per tempo, alle ore otto e mezzo precise … La signora contessa indossò un abito lilla con una ricca fioritura di merletti alla gola … Teresina si moriva di fame … Lucrezia spasimava d’amore …152 Der Herr Graf stand rechtzeitig auf, genau um halb neun Uhr morgens … Die Frau Gräfin zog sich ein mit einer reichen Spitzenkrause am Hals geschmücktes lila Kleid an … Teresina starb vor Hunger … Lucrezia schmachtete vor Liebe …

Es handelt sich um eine, wie Pirandellos Zeitgenosse Marcel Proust es nannte, »littérature de notations«,153 eine detailverliebt die Oberflächenwelt des Alltags notierende und registrierende Literatur. Eine solche reduktionistische Kritik an dem, was Roland Barthes »effet de réel«154 genannt hat, wird dem realistischen Roman sicher nicht gerecht. Doch hat die Verbindung von Kritik am Realismus und Skepsis gegenüber der modernen Wissenschaft ihre tiefere Berechtigung. Denn der Realismus Balzac’scher Prägung und stärker noch der Naturalismus eines Zola oder der daran anknüpfende Verismus eines Verga rekurrieren, wie wir wissen, auf den wissenschaftlichen Diskurs und somit das Postulat der Objektivität. Die bisweilen ans Triviale grenzende Thematik wird also gerechtfertigt durch das Ideal der objektiven Beobachtung. Damit verbunden ist ein unbeirrbarer Glaube an den Fortschritt. So schreibt Verga im Vorwort zu seinem 1881 erschienenen Roman I Malavoglia: Il cammino fatale, incessante, spesso faticoso e febbrile che segue l’umanità per raggiungere la conquista del progresso, è grandioso nel suo risultato, visto nell’insieme, da lontano. […] Chi osserva questo spettacolo non ha il diritto di giudicarlo; è già molto se riesce a trarsi un istante fuori del campo della lotta per studiarla senza passione, e rendere la scena nettamente, coi colori adatti, tale da dare la rappresentazione della realtà com’è stata, o come avrebbe dovuto essere.155 152

153

154

155

Luigi Pirandello, Il fu Mattia Pascal, in: Tutti i romanzi, hg. v. Giovanni Macchia, Milano 101998, Bd. I, S. 317–586, hier S. 323. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, hg. v. Jean-Yves Tadié, 4 Bde, Paris 1987–89, Bd. IV, S. 473. Roland Barthes, »L’effet de réel« (1968), in: Œuvres complètes, hg. v. Éric Marty, Bd. II (1966–1973), Paris 1994, S. 479–484. Giovanni Verga, I Malavoglia, in: I grandi romanzi, hg. v. Ferruccio Cecco/Carla Riccardi, Milano 71997, S. 3–289, hier S. 6f.

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Der schicksalhafte, unaufhaltsame, oft mühsame und fieberhafte Weg, den die Menschheit geht, um die Eroberung des Fortschritts zu erreichen, ist, global und aus der Ferne betrachtet, großartig in seinem Ergebnis. […] Wer dieses Schauspiel beobachtet, hat nicht das Recht, es zu beurteilen; es ist schon viel, wenn es ihm gelingt, für einen Moment sich aus dem Schlachtfeld zurückzuziehen, um es ohne Leidenschaft zu studieren und die Szene deutlich wiederzugeben, mit den passenden Farben, um die Wirklichkeit darzustellen, wie sie gewesen ist oder wie sie hätte sein sollen.

Pirandellos Erzähler fehlt dagegen ein solch emphatisch-positiver Glaube an den Fortschritt und an die objektive Darstellbarkeit der Wirklichkeit. Der Fortschritt der Erkenntnis hat Mattia Pascals Auffassung zufolge den Menschen aus der Mitte des Universums verbannt und macht das Erzählen eigentlich sinnlos, denn was keine Bedeutung hat, ist es nicht wert, erzählerisch beschworen zu werden: Ormai noi tutti ci siamo a poco a poco adattati alla nuova concezione dell’infinita nostra piccolezza, a considerarci anzi men che niente nell’Universo, con tutte le nostre belle scoperte e invenzioni; e che valore dunque volete che abbiano le notizie, non dico delle nostre miserie particolari, ma anche delle generali calamità?156 Mittlerweile haben wir alle uns allmählich an die neue Auffassung gewöhnt, dass wir unendlich klein sind, und daran, dass wir uns trotz all unserer schönen Entdeckungen und Erfindungen für noch weniger als ein Nichts im Universum halten müssen; und was für einen Wert sollen auch die Mitteilungen nicht etwa nur unserer persönlichen Nöte, sondern auch des allgemeinen Unheils haben?

Mattia Pascal übernimmt folglich auch nicht die bei Verga deutlich werdende Haltung des objektiven Wissenschaftlers, der als Beobachter nicht Teil der beobachteten Situation sein will (»fuori del campo della lotta«). Wenn er gegen seine eigene Überzeugung von der Sinnlosigkeit des Erzählens dennoch erzählt, so tut er dies in programmatischer Absetzung vom Naturalismus, indem er sich als Erzählsubjekt selbst mit beobachtet und sich zum problematischen Gegenstand des Erzählens macht. Während der naturalistische Erzähler keine Zweifel am Fortschritt der Wissenschaft und der Zivilisation hegt und auch keine Probleme der erzählerischen Darstellung zu kennen scheint, wird gerade letztere bei Pirandello zum Problem. Dem selbstbewussten Erzähler des naturalistischen Romans, der sich mit dem Naturwissenschaftler auf eine Stufe stellt und den Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt, Probleme des Schreibens aber weitgehend ausblendet, steht bei Pirandello der Anti-Erzähler gegenüber, der seine Identität verloren hat und eigentlich gar nicht schreiben will, weil er nach der Kopernikanischen Wende, also im Lichte der modernen Naturwissenschaft, 156

Pirandello, Mattia Pascal, S. 324.

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nicht mehr an die Sinnhaftigkeit des Erzählens glauben kann. Während der Naturalismus den Erzähler unsichtbar zu machen versucht, rückt dieser bei Pirandello in den Mittelpunkt. Das Erzählen wird selbstreflexiv. Und genau in dieser Selbstreflexivität liegt ein möglicher Ausweg aus der Krise des Erzählens. Wenn ein ›naives‹ und direktes Erzählen nicht mehr möglich erscheint, dann muss man auf die Metaebene ausweichen und von den Schwierigkeiten des Erzählens erzählen. Die Selbstreflexivität des Erzählens findet sich nicht nur auf der Ebene der Erzählsituation, sondern auch auf der Ebene der erzählten Handlung. Denn hier wird der Prozess der Identitätskonstitution als Fiktionalisierung modelliert, das heißt, Mattia Pascal wird zum Autor, der sich nach dem durch einen Zufall ermöglichten Ausbruch aus seiner bürgerlichen Existenz eine neue Biographie erfindet.157 Zunächst aber ein kurzes Resümee der zu dieser Situation hinführenden Handlung. Mattia Pascal ist der Sohn eines wohlhabenden Vaters, der jedoch früh gestorben ist. Die Familie wird von dem Verwalter Malagna und durch eigene Verschwendung um ihr Vermögen gebracht. Malagna, der eine unglückliche Ehe führt, wird Witwer und heiratet in zweiter Ehe Oliva, in die Mattia sich verliebt hat. Malagna ist also in doppelter Hinsicht Mattias Opponent, sowohl im Hinblick auf das Geld als auch in Sachen Liebe. Da seine Ehe kinderlos bleibt, wirft Malagna ein Auge auf Romilda, die Tochter einer Cousine. Mattias Freund Mino, der sich ebenfalls in Romilda verliebt hat, bittet Mattia, für ihn den Brautwerber zu spielen. Doch der Plan misslingt. Anstatt Romilda für Mino zu gewinnen, verliebt Mattia selbst sich in sie und schwängert sie. Der kinderlose Malagna, dem Romilda ihren Fehltritt gesteht, will das Kind als seines anerkennen und verkündet triumphierend seiner Frau, er werde nun endlich Vater. Die sich betrogen glaubende Oliva schläft aus Rache mit Mattia und wird ebenfalls schwanger, woraufhin Malagna, da er ja nun ein legitimes Kind erwartet, Romilda fallen lässt, sodass Mattia gezwungen ist, sie zu heiraten. Dieses Handlungsschema besteht aus einer mehrfach gestaffelten Geschichte vom betrogenen Betrüger; es gemahnt an Schwanknovellen von Boccaccio oder an Komödien und Farcen. Pirandello kombiniert dieses Schema im Folgenden mit einer aus dem veristischen Roman vertrauten Katastrophenhandlung. Nicht nur, dass Mattia eine unglückliche Ehe führt, weil seine Schwiegermutter ihm das Leben zur Hölle macht; nein, er, der ja 157

Vgl. hierzu Monika Schmitz-Emans, »Erzählen als Kunst der Selbst-Erfindung. Pirandellos ›Mattia Pascal‹ und einige seiner deutschen Verwandten«, in: Michael Rössner/Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Pirandello und die europäische Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn 1990, S. 173–190.

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schon sein gesamtes Vermögen durch Malagnas Betrügereien verloren hat, muss sich, um wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen, als Bibliothekar in der Boccamazzinischen Bibliothek verdingen, wo er sich zu Tode langweilt. Schließlich bringt Romilda ein Zwillingspaar zur Welt. Doch die beiden Mädchen sterben kurz nach der Geburt, ebenso wie Mattias Mutter. Der von diesen Schicksalsschlägen erschütterte Mattia flüchtet mit 500 Lire in der Tasche von zu Hause in der Absicht, in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Doch er kommt nur bis Monte Carlo, wo er beim Roulettespiel einen großen Gewinn macht. Damit hat endgültig der Zufall die Herrschaft über die Handlung ergriffen. Im Gegensatz zum veristischen Roman, wo strenge Gesetzmäßigkeiten herrschen, passieren bei Pirandello die haarsträubendsten Zufälle. Auch ist das Glück im Spiel eine deutlich markierte Abweichung von dem durch die anzitierte Katastrophenhandlung aufgerufenen Erwartungshorizont. Und der nächste Zufall lässt nicht lange auf sich warten. Auf der Rückreise liest der nun vermögend gewordene Mattia zufällig in der Zeitung, dass man in seinem Heimatdorf einen Selbstmörder gefunden habe, den man für Mattia Pascal halte. Er nutzt die damit sich ergebende Chance, aus dem Gefängnis seines Lebens endgültig auszubrechen, und legt sich eine neue, fiktive Identität zu. Auch hier geht ihm wieder der Zufall zur Hand. Seinen neuen Namen findet er durch das groteske Streitgespräch zweier Gelehrter, die sich in ihrem wechselseitigen Nicht-Verstehen insistierend Namen zuschreien; fortan nennt Mattia sich unter Aufgreifung dieser Namen Adriano Meis. Die metapoetische Selbstreflexivität des Textes wird im achten Kapitel besonders offenkundig, als Mattia über die Probleme berichtet, die sich aus dem Zwang zur Erfindung einer Vergangenheit für den eigentlich nach bürgerlichem Recht inexistenten Adriano Meis ergeben. Er schwankt zwischen dem Gefühl der absoluten Freiheit (»mi sentii così ebro della mia libertà, che temetti quasi d’impazzire, di non potervi resistere a lungo« [ich fühlte mich so berauscht von meiner Freiheit, dass ich beinahe fürchtete, verrückt zu werden, dem nicht mehr lange standhalten zu können])158 und dem der Einsamkeit, die daraus resultiert, dass er sich, will er nicht lügen, niemandem offenbaren kann und somit auch keinen Liebespartner finden wird, beziehungsweise der Einschränkungen, die ihm die Lebensentscheidungen seines früheren Ichs Mattia auferlegen, etwa hinsichtlich seines äußeren Erscheinungsbildes. Bei seinem Nachdenken und Phantasieren macht Mattia die Erfahrung, dass Fiktion keine völlige Neuerfindung, sondern eher eine Transformation der Wirklichkeit bedeutet: 158

Mattia Pascal, S. 415.

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Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

Nulla s’inventa, è vero, che non abbia una qualche radice, più o men profonda, nella realtà; e anche le cose più strane possono esser vere, anzi nessuna fantasia arriva a concepire certe follie, certe inverosimili avventure che si scatenano e scoppiano dal seno tumultuoso della vita; ma pure, come e quanto appare diversa dalle invenzioni che noi possiamo trarne la realtà viva e spirante! Di quante cose sostanziali, minutissime, inimmaginabili ha bisogno la nostra invenzione per ridiventare quella stessa realtà da cui fu tratta, di quante fila che la riallacciano nel complicatissimo intrico della vita, fila che noi abbiamo recise per farla diventare una cosa a sé! Or che cos’ero io, se non un uomo inventato? Una invenzione ambulante che voleva e, del resto, doveva forzatamente stare per sé, pur calata nella realtà.159 Es stimmt schon: Nichts lässt sich erfinden, das nicht mehr oder weniger tief in der Wirklichkeit verwurzelt wäre; und auch die allerseltsamsten Dinge können wahr sein, ja, es kann keiner Phantasie gelingen, gewisse Verrücktheiten, gewisse unwahrscheinliche Abenteuer auszuhecken, die dem zuckenden Schoß des Lebens selbst entspringen, aus ihm hervorbrechen; und doch, wie sehr unterscheidet sich die lebendige, atmende Wirklichkeit von den Erfindungen, die wir ausgehend von ihr schaffen! Wie vieler essentieller, detaillierter, unvorstellbarer Dinge bedarf doch unsere Erfindung, um sich in jene Wirklichkeit zurückzuverwandeln, aus der wir sie bezogen hatten, wie vieler Fäden bedarf es, die sie mit dem höchst komplizierten Geflecht des Lebens verknüpfen, Fäden, die wir abgeschnitten hatten, um aus ihr ein für sich selbst stehendes Gebilde zu machen! Was aber war ich denn anderes als ein erfundener Mensch? Eine wandelnde Erfindung, die, wenn sie auch in die Wirklichkeit hineingestellt war, doch für sich sein wollte und übrigens auch zwangsläufig musste.

Die zitierte Stelle beruht auf der semantischen Opposition »invenzione« vs. »realtà«. Der Gegensatz zwischen beiden Termen ist jedoch nicht absolut, sie schließen einander nicht wechselseitig aus. Vielmehr besteht trotz aller Gegensätzlichkeit zwischen Wirklichkeit und Erfindung ein Verhältnis der Inklusion; das Erfundene hat seine Wurzeln im Wirklichen (»Nulla s’inventa […] che non abbia una qualche radice, più o men profonda, nella realtà«). Auch will das Erfundene kein Selbstzweck, keine für sich stehende Sphäre sein, sondern es will seine eigene Differenz zur Wirklichkeit unsichtbar machen, will selbst wieder Wirklichkeit werden (»ridiventare quella stessa realtà da cui fu tratta«). Mit anderen Worten: Die Opposition zwischen Wirklichkeit und Fiktion wird dynamisiert und somit dekonstruiert, das heißt, sie wird einerseits bestätigt und andererseits zugleich negiert. Es entsteht eine oszillierende Bewegung zwischen den beiden Polen Fiktion und Wirklichkeit. Die Fiktion entsteht aus der Wirklichkeit heraus, in der sie ihre Wurzeln hat, differenziert sich zu einem eigenständigen Bereich aus und möchte dann aber von der Wirklichkeit, aus der sie genommen wurde, ununterscheidbar sein. Die Kunstfigur Adriano Meis verkörpert in sich die Ambivalenz dieser 159

Ebd., S. 414.

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Dekonstruktionsbewegung, denn der Erzähler bezeichnet Adriano als eine »invenzione ambulante che voleva e, del resto, doveva forzatamente stare per sé, pur calata nella realtà«. Er ist sowohl erfunden als auch wirklich und hat somit seinen Platz in der Wirklichkeit, und muss doch zugleich am Rande stehen und für sich bleiben. Daraus ergeben sich für ihn erhebliche Probleme. Die Opposition Wirklichkeit vs. Fiktion wird nun aber nicht nur von der Seite der Fiktion, die wieder Wirklichkeit sein möchte, sondern auch von der Seite der Wirklichkeit her dekonstruiert, indem es heißt: »anche le cose più strane possono esser vere, anzi nessuna fantasia arriva a concepire certe follie, certe inverosimili avventure che si scatenano e scoppiano dal seno tumultuoso della vita«. Manchmal nämlich ist die Wirklichkeit der erfindenden Phantasie des Menschen so sehr voraus, dass sie als unwirklich erscheint. Dies zeigt, dass wir in der Regel nicht das Wirkliche für wahr halten, sondern unsere Vorstellung dessen, was wahrscheinlich ist. Zwischen Wirklichkeit und Fiktion schiebt sich somit ein dritter Term, die Wahrscheinlichkeit (ital. »verosimile«, also ›das der Wahrheit Ähnliche‹). Gemeint ist hier nicht das statistisch Wahrscheinliche (»il probabile«), also etwa die Frage, wie groß die Chancen sind, eine Sechs im Lotto zu haben. Nein, es geht um das, was wir aufgrund bestimmter normativer Annahmen über die Wirklichkeit für wahr halten. Infolgedessen erscheint auch eine Erfindung als unwirklich beziehungsweise unwahrscheinlich, wenn sie so weit geht wie die Wirklichkeit, die sich nicht an die normativen Grenzen des Wahrscheinlichen hält. Genau diese Grenzüberschreitung aber vollzieht Pirandello in seinen Romanen, und darin manifestiert sich die seinen Werken inhärente ästhetische Distanz, durch die sie vorgegebene Erwartungen des Publikums durchbrechen. Dies reflektiert der Autor Pirandello in dem einer späteren Auflage des Mattia Pascal in den Zwanzigerjahren beigefügten Nachwort mit dem Titel »Avvertenza sugli scrupoli della fantasia«.160 Dort heißt es: »Le assurdità della vita non hanno bisogno di parer verosimili, perché sono vere.«161 [Die Absurditäten des Lebens haben es nicht nötig, wahrscheinlich zu sein, weil sie ja wahr sind.] Wahrheit und Wahrscheinlichkeit werden hier also deutlich einander gegenübergestellt, ihre Differenz wird hervorgehoben. Die Argumentation geht aus von einem wirklichen Vorfall, von dem am 25. Januar 1921 in den New Yorker Zeitungen berichtet wurde. Ein Alberto Heintz liebt zwei Frauen, seine Ehefrau und seine zwanzigjährige Geliebte. Die drei Betroffenen besprechen, was zu tun sei, und beschließen, gemeinsam Selbst160 161

Luigi Pirandello, Il fu Mattia Pascal, Milano 1988, S. 234–240. Ebd., S. 235.

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mord zu begehen. Die Ehefrau setzt den Beschluss sogleich in die Tat um. Daraufhin erkennen Herr Heintz und seine Geliebte, dass ja nun ihrer Liebe kein Hindernis mehr im Wege steht, und wollen heiraten. »Diversamente però risolve l’autorità giudiziaria, e li trae in arresto.«162 [Anders jedoch entscheiden die Justizbehörden und verhaften sie.] Eine, wie Pirandello meint, »Conclusione volgarissima«, wie überhaupt ein solcher Fall von Absurdität nur in der Wirklichkeit, nicht hingegen in einem Theaterstück vorkommen dürfe, denn hier gälten die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, die von den Kunstrichtern und Kritikern auch vehement eingeklagt würden. Doch, so Pirandello, man könne das Ganze grundsätzlich aus zwei Perspektiven betrachten, aus der der Kunst und aus der der Wirklichkeit, und je nach Perspektive müsse man anders urteilen: »Un caso della vita può essere assurdo; un’opera d’arte, se è opera d’arte, no. / Ne segue che tacciare d’assurdità e d’inverosimiglianza, in nome della vita, un’opera d’arte è balordaggine. / In nome dell’arte, sì; in nome della vita, no.«163 [Ein aus dem Leben gegriffener Fall darf absurd sein; ein Kunstwerk, wenn es Kunstwerk ist, darf das nicht. / Daraus folgt, dass es eine Dummheit ist, wenn man einem Kunstwerk im Namen des Lebens vorwirft, es zeichne sich durch Absurdität und Unwahrscheinlichkeit aus. / Im Namen der Kunst darf man so etwas sagen; im Namen des Lebens nicht.] Im weiteren Fortgang seiner Argumentation dekonstruiert Pirandello jedoch den Gegensatz zwischen Kunst und Leben (beziehungsweise Illusion und Wirklichkeit), indem er zeigt, dass die beiden ineinander greifen: Ma se il valore e il senso universalmente umano di certe mie favole e di certi miei personaggi, nel contrasto […] tra realtà e illusione, tra volto individuale ed immagine sociale di esso, consistesse innanzi tutto nel senso e nel valore da dare a quel primo contrasto, il quale, per una beffa costante della vita, ci si scopre sempre inconsistente, in quanto che, necessariamente purtroppo, ogni realtà d’oggi è destinata a scoprirsi illusione domani, ma illusione necessaria, se purtroppo fuori di essa non c’è per noi altra realtà?164 Wenn aber nun der Wert und die allgemein menschliche Bedeutung bestimmter meiner Fabeln und Figuren in dem Gegensatz […] zwischen Wirklichkeit und Illusion, zwischen individuellem Gesicht und dessen gesellschaftlichem Bild, vor allem in der Bedeutung und dem Wert lägen, die man jenem ersten Gegensatz beizumessen hätte, welcher, durch einen ständigen Streich des Lebens, sich immer als unbeständig erweist, insofern als notwendigerweise leider jede Wirklichkeit von heute sich morgen als Illusion erweisen muss, aber als notwendige Illusion, nachdem es leider außerhalb dieser für uns keine andere Wirklichkeit gibt? 162 163 164

Ebd., S. 234. Ebd., S. 235. Ebd., S. 237.

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Wenn man seinen Werken vorgeworfen habe, sie seien zu zerebral, und die Figuren neigten zu sehr der Reflexion zu und nicht dem Gefühl, erfüllten also nicht die Aufgabe der Kunst, das allgemein Menschliche zu repräsentieren, mit anderen Worten: sie erfüllten nicht die Regeln der Kunst, sondern reproduzierten bloß das Leben in seiner Abseitigkeit und Absurdität, so antwortet Pirandello, dass es gar nicht um den Gegensatz zwischen Kunst und Leben gehe, dass nicht in der Kunst andere Gesetze gälten als im Leben, sondern dass Leben und Kunst, Wirklichkeit und Illusion so eng miteinander zusammenhingen, dass das eine sich jederzeit ins andere verwandeln könne (»ogni realtà d’oggi è destinata a scoprirsi illusione domani«). Erneut ist hier also von jener oszillierenden Bewegung zwischen zwei gegensätzlichen und eigentlich einander ausschließenden Bereichen die Rede, einer Bewegung, die den Menschen jeder Sicherheit beraubt. Jeglicher Glaube an eine festgefügte Wirklichkeit, der man dann die Fiktion oder das Spiel beziehungsweise die Illusion als ihr Gegenteil gegenüberstellen kann, beruht auf falschen Prämissen. Die Illusion ist nämlich integraler Bestandteil der Wirklichkeit. Die Menschen tragen Masken, sie spielen soziale Rollen; wenn sie sich dieser Tatsache aber bewusst werden, dann bricht alles zusammen. Dann entdecken sie unter ihrer Maske ihr nacktes Gesicht. Diesen Vorgang stellt Pirandello künstlerisch dar. Dabei erscheint in der Tat das Dargestellte nicht menschlich, sondern mechanisch, denn die Menschen sind Marionetten ihrer selbst.165 Das Beispiel Pirandellos ist paradigmatisch für eine bedeutende Strömung des Romans im 20. Jahrhundert, insofern hier die Abgrenzung vom Realismus/Naturalismus des 19. Jahrhunderts durch ein nicht mehr fortschrittsgläubiges, sondern ironisch-skeptisches Verhältnis zur Wissenschaft vorgenommen wird. An die Stelle der Darstellung äußerer Wirklichkeit rückt die psychologische Introspektion, die Gesetze der Kausalität und des Determinismus werden durch den Zufall ersetzt, das seiner selbst und der Welt unsicher gewordene Erzählen wird selbstreferentiell. Die Krise des Erzählens wird in Il fu Mattia Pascal gleich zu Beginn programmatisch damit begründet, dass es in einer heliozentrischen Welt nicht mehr sinnvoll sei, vom Menschen und seinen banalen Schicksalen zu berichten. Die Überwindung der aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand resultierenden Bedrohung der Literatur erfolgt durch das Ausweichen auf die Metaebene; der bedrohliche Konflikt wird in den Roman integriert. Die Orientierung am Paradigma der Naturwissenschaft wird bei Pirandello also umcodiert.

165

Ebd., S. 238.

214 b)

Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

Pío Barojas El árbol de la ciencia

Wir wollen uns nun mit einem spanischen Roman des frühen 20. Jahrhunderts befassen, an dem sich die Krise des Erzählens in der realistisch-naturalistischen Tradition ebenfalls deutlich ablesen lässt: El árbol de la ciencia (1911) von Pío Baroja (1872–1956). Erzählt wird die Geschichte des Medizinstudenten und späteren Arztes Andrés Hurtado. Die Handlung setzt ein, als Andrés sein Studium in Madrid beginnt. Dargestellt wird die Welt des Studiums und der Studenten (Teil 1: »La vida de un estudiante en Madrid«). Durch seinen Kommilitonen Julio Aracil wird Andrés mit den beiden Schwestern Niní und Lulú bekannt gemacht. Im zweiten Teil (»Las carnarias«) stehen diese beiden Schwestern und ihr soziales Umfeld, das heißt die Bewohner ihres Hauses, im Mittelpunkt. Andrés freundet sich mit der nicht besonders hübschen, dafür aber intelligenten und geistreichen Lulú an, die mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in Armut lebt und arbeiten muss. Im dritten Teil (»Tristezas y dolores«) erkrankt Luisito, der kleine Bruder von Andrés, an einer Form von Tuberkulose, weshalb die Familie nach Valencia geht, wo Luisito mithilfe der mediterranen Meeresluft genesen soll. Die von dem angehenden Mediziner Andrés verkündeten Hygienevorschriften werden von Luisito und den Verwandten, bei denen die Familie wohnt, allerdings nicht ernst genommen. Nachdem Andrés aus beruflichen Gründen nach Burgos gegangen ist, erfährt er, dass sein Bruder an einer tuberkulösen Meningitis gestorben ist. Der vierte Teil (»Inquisiciones«) besteht hauptsächlich aus Gesprächen zwischen Andrés Hurtado und seinem Onkel Iturrioz, der ebenfalls Mediziner ist. Hintergrund dieser Gespräche sind die philosophischen Lektüren von Andrés, der nach einem Erklärungsmodell für das Leben sucht, welches über die Limitierungen der Wissenschaft hinausgeht. Eine zentrale Opposition, um die es in diesen Gesprächen geht, ist die zwischen der deutschen Metaphysik (Kant, Schopenhauer) und den englischen Empiristen. Die zweite zentrale Opposition ist die zwischen dem Baum des Wissens (»el árbol de la ciencia del bien y del mal«) und dem Baum des Lebens (»el árbol de la vida«). Es geht in diesen Kapiteln vor allem um epistemologische Fragen, die so formuliert werden, dass man eine grundsätzliche Skepsis an der Erkennbarkeit der Wirklichkeit nicht übersehen kann. Auf diese Zusammenhänge wird noch ausführlich zurückzukommen sein. Im fünften Teil (»La experiencia en el pueblo«) wird erzählt, wie Andrés als Landarzt in einem südspanischen Dorf praktiziert. Von der Rückständigkeit und Verständnislosigkeit seiner ländlichen Umwelt, aber auch von der Feindseligkeit des anderen niedergelassenen Arztes ihm gegenüber enttäuscht, kehrt er zurück nach Madrid, wo er als Hygienearzt und später als Armenarzt arbeitet (Teil 6: »La experien-

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cia en Madrid«). Dort trifft er Lulú wieder, in die er sich verliebt und die er schließlich heiratet. Im siebten und letzten Teil des Romans (»La experiencia del hijo«) wird erzählt, wie Lulú schwanger wird und, nachdem sie ihr Kind tot zur Welt gebracht hat, selbst an den Geburtsfolgen stirbt, woraufhin Andrés sich durch eine Überdosis Medikamente vergiftet. Die Situierung der Handlung im medizinischen Milieu, der illusionslose Blick auf die Situation benachteiligter Bevölkerungsschichten, der grundsätzliche Pessimismus des Handlungsschemas – all dies sind Elemente, die man aus dem Roman des Naturalismus bereits kennt. Was hinzukommt, ist wie bei Pirandello eine epistemologische Reflexion, die sich auf die Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Welt bezieht und aus der eine grundlegende Skepsis spricht.166 Von Beginn an artikuliert sich solche Skepsis gegenüber der Wissenschaft, indem die Wissenschaft, wie sie im Spanien des späten 19. Jahrhunderts betrieben wird, als epigonal und rückständig erscheint. Das beginnt mit dem lächerlichen Professor des ersten Kapitels, bei dem Andrés seine erste Vorlesung hört und der den Hörsaal betritt wie ein Schauspieler die Bühne. Sein pompös-zeremonieller Vortrag führt dazu, dass die Studenten sich über ihn lustig machen, indem sie ihn durch ein ironisch auf die Situation gemünztes Zitat aus Don Juan Tenorio, einem Drama von José Zorrilla, unterbrechen. Eine weitere lächerliche Figur ist José de Letamendi, Inhaber eines Lehrstuhls für allgemeine Pathologie in Madrid, der mit folgenden Worten eingeführt wird: »Letamendi era de estos hombres universales que se tenían en la España de hace unos años, hombres universales a quienes no se les conocía ni de nombre pasados los Pirineos.«167 [Letamendi gehörte zu jenen Universalgenies, die es in Spanien vor einigen Jahren gab und die man jenseits der Pyrenäen noch nicht einmal dem Namen nach kannte.] Dieser Professor gilt an seiner Universität als großes, aber im Ausland aus Missgunst gegenüber Spanien zu Unrecht ignoriertes Genie. Andrés begegnet ihm zunächst mit großem Interesse: »Andrés Hurtado, que se hallaba ansioso de encontrar algo que llegase al fondo de los problemas de la vida, comenzó a leer el libro de Letamendi con entusiasmo. 166

167

Vgl. hierzu Pere Juan i Tous, Die gefesselte Hoffnung. »El árbol de la ciencia« von Pío Baroja und der Geist der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1989, insbes. S. 331–424 und S. 425–472. Juan i Tous situiert El árbol de la ciencia poetologisch vor dem Hintergrund des naturalistischen Romans und zeigt Übereinstimmungen wie Abweichungen auf. Weil Andrés Hurtado zugleich Subjekt und Objekt der Handlung sei, sei Barojas Roman nicht mehr als naturalistischer, sondern als »meta-naturalistischer Roman« zu betrachten, »was a fortiori einer Infragestellung des vor›klassischen‹ Naturalismus, sowohl in romanpoetologischer wie in ideologischer Hinsicht, gleichkommt« (S. 436). Pío Baroja, El árbol de la ciencia, hg. v. Pío Caro Baroja, Madrid 2007, S. 67.

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La aplicación de las Matemáticas a la Biología le pareció admirable. Andrés fue pronto un convencido.«168 [Andrés Hurtado, der begierig darauf war, etwas zu finden, das den Problemen des Lebens auf den Grund ging, begann Letamendis Buch mit Enthusiasmus zu lesen. Die Anwendung der Mathematik auf die Biologie weckte seine Bewunderung. Andrés war schnell überzeugt.] Als der von Letamendis »fórmula de la vida« überzeugte Andrés jedoch mit anderen Studenten darüber spricht, schlägt ihm große Skepsis entgegen. Al decir Andrés que la vida, según Letamendi, es una función indeterminada entre la energía individual y el cosmos, y que esta función no puede ser más que suma, resta, multiplicación y división, y que no pudiendo ser suma, ni resta, ni división, tiene que ser multiplicación, uno de los amigos de Sañudo se echó a reir. – ¿Por qué se ríe usted? – le preguntó Andrés sorprendido. – Porque en todo eso que dice usted hay una porción de sofismas y de falsedades. Primeramente hay muchas más funciones matemáticas que sumar, restar, multiplicar y dividir. – ¿Cuáles? – Elevar a potencia, extraer raíces … Después, aunqe no hubiera más que cuatro funciones matemáticas primitivas, es absurdo pensar que en el conflicto de estos dos elementos, la energía de la vida y el cosmos, uno de ellos, por lo menos, heterogéneo y complicado, porque non haya suma, ni resta, ni división, ha de haber multiplicación. Además, sería necesario demostrar por qué no puede haber suma, por qué no puede haber resta y por qué no puede haber división. Después habría que demostrar por qué no puede haber dos o tres funciones simultáneas. No basta decirlo.169 Als Andrés sagte, dass Letamendi zufolge das Leben eine unbestimmte Funktion der individuellen Energie und des Kosmos sei und dass diese Funktion nichts anderes sein könne als Addition, Subtraktion, Multiplikation oder Division, und dass sie, da sie weder Addition noch Subtraktion noch Division sein könne, Multiplikation sein müsse, da fing einer von Sañudos Freunden an zu lachen. – Warum lachen Sie?, fragte ihn Andrés überrascht. – Weil in all dem, was Sie sagen, ein großer Anteil an Sophismen und Irrtümern steckt. Erstens gibt es viel mehr mathematische Funktionen als das Addieren, das Subtrahieren, das Multiplizieren und das Dividieren. – Welche denn? – Das Potenzieren, das Wurzelziehen … Sodann, selbst wenn es nur die vier mathematischen Grundrechenarten gäbe, wäre es absurd zu glauben, dass es bei dem Konflikt zwischen den beiden Elementen Lebensenergie und Kosmos, von denen eines zumindest heterogen und komplex ist, nur weil es keine Addition, Subtraktion und Division geben könne, nichts anderes als Multiplikation geben dürfe. Außerdem müsste man erst beweisen, warum es keine Addition, warum es keine Subtraktion und warum es keine Division geben kann. Danach müsste man beweisen, warum es nicht zwei oder drei Funktionen gleichzeitig geben kann. Es genügt nicht, das bloß zu behaupten. 168 169

Ebd., S. 68. Ebd., S. 68f.

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Es zeigt sich also bei nüchterner Betrachtung, dass die vermeintliche Lebensformel von Letamendi auf einer äußerst eingeschränkten Kenntnis der Mathematik und der Logik wissenschaftlicher Argumentation beruht. Letamendi ignoriert nicht nur, dass es neben den vier Grundrechenarten noch weitere mathematische Funktionen gibt, sondern er scheint auch nicht zu wissen, dass Behauptungen erst dann wissenschaftliche Qualität annehmen, wenn sie bewiesen worden sind. Einen Beweis für seine Behauptung, wonach das Leben eine Multiplikation der individuellen Energie mit dem Kosmos sein soll, bleibt Letamendi indes schuldig. Der durch solche ernüchternden Erfahrungen mit Vertretern der spanischen Wissenschaft geprägte Andrés setzt seine Sinnsuche fort, indem er sich mit der Philosophie befasst. Er liest unter anderem Fichtes Wissenschaftslehre, Schopenhauers Parerga und Paralipomena sowie Kants Kritik der reinen Vernunft. Die französischen und italienischen Philosophen des 19. Jahrhunderts dagegen erscheinen ihm schal und nichtssagend. Der von der Praxis des Medizinerberufs ebenso wie von der Grausamkeit des Lebens zunehmend enttäuschte Andrés sucht in Kant und Schopenhauer, was er in der Wissenschaft nicht finden kann, nämlich, wie er gegenüber seinem Onkel Iturrioz erklärt: »una filosofía que sea primeramente una cosmogonía, una hipótesis racional de la formación del mundo; después, una explicación biológica del origen de la vida y del hombre«170 [eine Philosophie, die in erster Linie eine Kosmogonie wäre, eine rationale Hypothese über die Entstehung der Welt; sodann eine biologische Erklärung des Ursprungs der Welt und des Menschen]. Sein Onkel bezweifelt, dass Andrés die gesuchte Synthese finden werde: »Tú quieres una síntesis que complete la cosmología y la biología, una explicación del Universo físico y moral.«171 [Du möchtest eine Synthese, die die Kosmologie und die Biologie ergänzt, eine Erklärung des physischen und des moralischen Universums.] Den deutschen Metaphysikern Kant und Schopenhauer, die Andrés als seine Gewährsleute nennt, stellt Iturrioz die englischen Empiristen entgegen. Während die Schriften der Engländer von einem Sinn für die Lebenspraxis gekennzeichnet seien, würden einem durch die Lektüre der Deutschen die Sinne benebelt, und man entferne sich von der Lebenswirklichkeit. Und in der Tat versteht Andrés die Kant’sche Philosophie als Quelle der Erkenntnis dessen, dass die vermeintliche Realität der Welt gar nicht objektiv gegeben, sondern ein Produkt des menschlichen Geistes sei: »hay además otra cosa que se desprende por primera vez claramente de la filosofía de 170 171

Ebd., S. 159. Ebd.

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Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

Kant, y es que el mundo no tiene realidad; es que ese espacio y ese tiempo y ese principio de causalidad no existen fuera de nosotros tal como nosotros los vemos, que pueden ser distintos, que pueden no existir …«172 [es gibt außerdem noch eine weitere Erkenntnis, die man erstmals klar aus der Kant’schen Philosophie gewinnen kann, nämlich dass die Welt nicht real ist; dass dieser Raum und diese Zeit und dieses Kausalitätsprinzip außer uns nicht so existieren, wie wir sie wahrnehmen, dass sie anders sein können, dass sie möglicherweise auch gar nicht existieren …]. Während der den englischen Empiristen zugeneigte Iturrioz solche Überlegungen als ingeniös, aber absurd bezeichnet, gelingt es Andrés, daraus Trost zu beziehen, indem er seine eigene Endlichkeit dazu in Bezug setzt: Para mí es un consuelo pensar que, así como nuestra retina produce los colores, nuestro cerebro produce las ideas de tiempo, de espacio y de causalidad. Acabado nuestro cerebro, se acabó el mundo. Ya no sigue el tiempo, ya no sigue el espacio, ya no hay encadenamiento de causas. Se acabó la comedia, pero definitivamente. Podemos suponer que un tiempo y un espacio sigan para los demás. ¿Pero eso qué importa si no es el nuestro, que es el único real?173 Es ist für mich ein Trost zu denken, dass, so wie unsere Netzhaut die Farben erzeugt, unser Gehirn die Vorstellungen der Zeit, des Raumes und der Kausalität erzeugt. Wenn unser Gehirn stirbt, dann stirbt auch die Welt. Die Zeit geht nicht mehr weiter, der Raum besteht nicht mehr fort, es gibt keine Kausalitätsketten mehr. Die Komödie ist vorbei, und zwar endgültig. Wir können annehmen, dass es für die anderen Menschen weiterhin eine Zeit und einen Raum gibt. Aber was bedeutet das für uns, wenn es nicht unsere Zeit und unser Raum sind, die die einzig realen für uns sind?

Der Zweifel an der objektiven Realität der Außenwelt ist somit ambivalent. Er kann zu einer Sinnkrise führen, er kann aber auch eine befreiende Wirkung haben. Die Befreiung liegt darin, dass man seinen eigenen Tod gleichsetzen kann mit dem Ende der Welt, insofern diese Welt ja eine je einmalige, nur im Geist des jeweiligen Individuums existierende ist. Stirbt also dieses Individuum, so stirbt auch seine Welt. Dies erspart einem die quälende Vorstellung, dass die Welt nach dem eigenen Tod ohne einen selbst weitergeht. Die Ambivalenz zeigt sich auch auf der epistemologischen Ebene: Einerseits wird davon ausgegangen, dass es keine Wirklichkeit gibt. Andererseits gibt es aber doch die Gesetze der Natur, zum Beispiel die Schwerkraft, also so etwas wie objektive Wahrheit. Es wird daher unterschieden zwischen zwei Arten von Wahrheit: einer konsensuellen Wahrheit und einer objektiven Wahrheit. Die konsensuelle Wahrheit wird von Andrés bezeichnet als »el acuerdo 172 173

Ebd., S. 160. Ebd., S. 161.

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de todas las inteligencias en una misma cosa«174 [die Übereinstimmung aller denkenden Wesen hinsichtlich einer bestimmten Sache]. Neben dieser konsensuellen Wahrheit, die auf der Zustimmung der denkenden Wesen zu einer bestimmten Anschauung beruht, gibt es eine zweite Art von Wahrheit, die, wie etwa das Naturgesetz der Schwerkraft, eine »verdad absoluta« ist. Diese Unterscheidung zwischen konsensueller und absoluter Wahrheit versucht Andrés an einem Beispiel zu veranschaulichen. So sagt er, dass die Messung der Temperatur mit der von Celsius entwickelten Skala arbiträr sei. Man könne auch andere Maßeinheiten verwenden. Aber der Unterschied zwischen zwei Temperaturen, zum Beispiel der Temperatur auf einer Dachterrasse und der im Keller, sei von den verwendeten Maßeinheiten unabhängig und damit objektiv gültig. Andrés ist also einerseits Anhänger von Kant und Schopenhauer und betrachtet die äußere Wirklichkeit als eine Hervorbringung des menschlichen Geistes, als eine Konstruktion des Gehirns, wie man heute sagen würde. Auf der anderen Seite nimmt er jedoch an, dass es einen Bereich objektiver Wahrheit gibt, die von den Naturwissenschaften erfasst werden kann. Insofern sind für Andrés – trotz seiner epistemologischen Skepsis – die Naturwissenschaften der Letzthorizont des Wissens über die Welt. Sein Onkel Iturrioz hält dem entgegen, dass es keine auf Wahrheit beruhende Letztbegründung des Wissens über die Welt geben könne. Im Gegenteil, das Leben beruhe auf der Basis der Lüge: »Esa anomalía de la naturaleza que se llama la vida necesita estar basada en el capricho, quizá en la mentira.«175 [Jene Anomalie der Natur, die man das Leben nennt, muss notwendigerweise auf einer Laune, vielleicht sogar auf einer Lüge beruhen.] Dies gesteht auch Andrés im Gespräch mit seinem Onkel zu, und er verweist auf Don Quijote, den er in seiner wahnhaften Weltwahrnehmung als ein Symbol der Lebensbejahung interpretiert. Don Quijote, so sagt er, lebe intensiver als die ihn umgebenden Vernünftigen. »El instinto vital necesita de la ficción para afirmarse. La ciencia entonces, el instinto de crítica, el instinto de averiguación, debe encontrar una verdad: la cantidad de mentira que es necesaria para la vida.«176 [Der Lebensinstinkt benötigt die Fiktion, um sich selbst affirmieren zu können. Die Wissenschaft, der kritische Instinkt, der Instinkt der Ermittlung muss auf eine Wahrheit stoßen, nämlich die Menge an Lüge, die notwendig ist für das Leben.] Diese Erkenntnis, so sagt Iturrioz, finde sich schon in der biblischen Genesis. Dort sei bekanntlich die Rede von zwei Bäumen, dem Baum des Le174 175 176

Ebd., S. 163. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167.

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Die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans

bens und dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Das von Gott ausgesprochene Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wird bei seiner Übertretung mit dem Tode bestraft. Wer also nach Wissen und Erkenntnis strebt, entfernt sich vom Leben. In der Diskussion zwischen Andrés und seinem Onkel schält sich folgendes Oppositionsparadigma heraus: Lüge, Fiktion, Nutzen, Leben vs. Wahrheit, Erkenntnis, Wissenschaft, Tod. Iturrioz vertritt die eine Seite dieses Oppositionsparadigmas, Andrés die andere.177 Als Rechtfertigung der Wissenschaft verweist Andrés auch darauf, dass der Mensch sich mithilfe der Wissenschaft von seiner Angst vor unerklärlichen Phänomenen befreien könne, ja dass er sich zum Herrn über die Welt gemacht habe. Dieser positive Aspekt der Wissenschaft hat aber auch wiederum eine Kehrseite, nämlich die Entzauberung der Welt, so die Ansicht von Iturrioz.178 Dieser fordert im Sinne einer praktischen Lebenskunst, dass man die Verbindung aus Lüge und Wahrheit, die dem Menschen eigen sei, bejahen und sie zu einem lebendigen Ganzen machen müsse. Man müsse mit den Verrücktheiten des Menschen zu leben lernen. Dieses hier ausführlich referierte Gespräch zwischen Andrés und seinem Onkel steht im Zentrum des Romans, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Zum einen bildet es den vierten von insgesamt sieben Teilen, aus denen der 177

178

M. Fernando Varela Iglesias, »Dialéctica entre el árbol de la ciencia y el árbol de la vida«, in: ders., Baroja, epígono del Romanticismo, Wien 2007, S. 162–184, legt dar, dass Baroja zeitlebens in der Dichotomie zwischen Positivismus und Idealismus gefangen gewesen sei und dass diesem Gegensatzpaar im Bereich der Literatur die Opposition zwischen Realismus und Romantik entspreche. Das dialektische Verhältnis zwischen Positivismus und Idealismus beziehungsweise Realismus und Romantik werde in dem Gespräch zwischen Andrés und seinem Onkel Iturrioz in die Begriffsopposition »árbol de la ciencia« vs. »árbol de la vida« übersetzt. »[…] Baroja no ha llegado a alcanzar una síntesis superior a las antinomias ciencia y vida, y todo hace suponer que se haya sentido toda su vida prisionero de esta dialéctica. […] Baroja es un Hurtado siempre arrepentido de no seguir el camino de Iturrioz. El realista, el hombre de su tiempo, estaba siempre arrepentido de serlo, y protestaba con la única arma de que disponía: la mentira vital y la ensoñación del mundo romántico.« [(…) es ist Baroja nicht gelungen, zu einer die Gegensätze Wissenschaft und Leben überwindenden Synthese zu gelangen, und alles deutet darauf hin, dass er sich sein Leben lang als Gefangener dieser Dialektik gefühlt hat. (…) Baroja ist ein Hurtado, der es stets bereut hat, nicht den Weg von Iturrioz gegangen zu sein. Als Realist, als Kind seiner Zeit empfand er stets Reue darüber, dies zu sein, und er protestierte mit der einzigen Waffe, die ihm zur Verfügung stand: der Lebenslüge und der Verzauberung der romantischen Welt.] (S. 173; kursiv im Text.) Vgl. hierzu Max Weber, »Wissenschaft als Beruf« (1919), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 31968, S. 582–613, hier S. 594.

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Roman besteht. Zum anderen wird in diesem Gespräch jener Begriff eingeführt, der dem Roman seinen Titel gibt, nämlich El árbol de la ciencia, und schließlich antizipiert das von Andrés in diesem Gespräch formulierte Bekenntnis zur Wahrheit und zum Tod das tragische Ende der Handlung. Andrés verliert nicht nur, wie man zu diesem Zeitpunkt bereits weiß, seinen Bruder Luisito, sondern auch, ganz am Ende, sein Kind und seine Frau, und er stirbt schließlich selbst. Damit erhält das pessimistische Handlungsschema, welches, wie ja schon erwähnt worden ist, typisch für den Roman des Naturalismus ist, eine nicht mehr wissenschaftliche, sondern epistemologische Fundierung. Wer nach Wissen strebt, ergibt sich dem Tod. Genau dies ist die Bedeutung, welche von der Geschichte vermittelt wird. Eine solche Todesverfallenheit ist das genaue Gegenteil des Fortschrittsoptimismus, der die Romanentwürfe des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Die in den philosophischen Auseinandersetzungen aufscheinenden Widersprüche zwischen der Relativität und Subjektivität jeder Erkenntnis und der Suche nach objektiver Wahrheit und Letztbegründung werden bei Baroja nicht aufgelöst. Keinesfalls lässt sich sein Roman als Bekenntnis zu einer bestimmten wissenschaftlichen oder philosophischen Position lesen. Es werden Fragen gestellt, aber keine Antworten gegeben. Der Roman ähnelt formal teilweise eher einem Traktat als einer literarischen Fiktion. Die Figuren haben tendenziell die Funktion, bestimmte philosophische und epistemologische Thesen zu verkörpern, das heißt, der Roman bewegt sich, ähnlich wie wir dies später noch bei Musil oder Calvino sehen werden, in Richtung Essayismus. In dieser Form lässt sich eine grundlegende Skepsis hinsichtlich der realistischen Darstellungstradition des 19. Jahrhunderts erkennen.

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5.

Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts im frühen 20. Jahrhundert

Die europäische Romanliteratur des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts – genannt seien hier Autoren wie Gabriele D’Annunzio, Italo Svevo, Luigi Pirandello, Marcel Proust, André Gide, Thomas Mann, Robert Musil, James Joyce, Virginia Woolf und Miguel de Unamuno – zeichnet sich insgesamt durch ihre Abkehr vom realistisch-naturalistischen Paradigma aus, welches das 19. Jahrhundert von Stendhal und Balzac bis hin zu Zola dominiert hatte. Diese Abkehr vom Glauben an die Darstellbarkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit geht einher mit einer Hinwendung zu Problemen des Subjekts, wie im vorigen Kapitel am Beispiel von Pirandellos Mattia Pascal exemplarisch deutlich geworden ist. Die Darstellung des Subjekts steht um 1900 im Zeichen von dessen Infragestellung beziehungsweise Auflösung. Diese Perspektive erklärt sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus den Entwicklungen der Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Edward Bizub hat einerseits den wissenschaftshistorischen Zusammenhang rekonstruiert und diesen andererseits als Verstehenshintergrund für Prousts Recherche interpretiert.1 Diesen Argumentationsgang möchte ich im Folgenden zunächst darlegen. Im Juni 1858 begegnet der französische Arzt Etienne Eugène Azam (1822–1899) einer Patientin namens Félida X …, die an einer Geisteskrankheit leidet, einer, wie man im Französischen damals sagte, »aliénation mentale«. Félida, eine Näherin aus Bordeaux, unterliegt einer bis dahin völlig unbekannten Form der Persönlichkeitsspaltung. Diese manifestiert sich folgendermaßen: Félida verspürt einen Schmerz an den Schläfen und versinkt in einen schlafähnlichen Zustand. Als sie nach etwa zehn Minuten erwacht, kann sie sich an ihren bisherigen Zustand nicht mehr erinnern und nimmt eine völlig neue Identität an. Ihre neuen Persönlichkeitsmerkmale sind denen ihrer früheren Persönlichkeit entgegengesetzt; war sie zuvor schüchtern und zurückhaltend, so tritt sie jetzt kühn und selbstbewusst, ja erotisch offensiv auf. Nach ein bis zwei Stunden wird der Identitätswechsel rückgängig gemacht: Sie fällt wieder in den etwa zehnminütigen schlafähnlichen Zustand und hat beim erneuten Erwachen keine Erinnerung mehr an den 1

Edward Bizub, Proust et le moi divisé. La »Recherche«: creuset de la psychologie expérimentale (1874–1914), Genève 2006.

Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

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zwischenzeitlich eingetretenen anderen Zustand (»condition seconde«). Die beiden durch keine Kontinuität der Erinnerung miteinander verbundenen Zustände alternieren in Félidas Leben miteinander, sodass man sagen kann, sie besitze zwei verschiedene, voneinander unabhängige Persönlichkeiten. Ein neues wissenschaftliches Paradigma ist mit diesem Krankheitsfall entdeckt worden: »le dédoublement de la personnalité fondé sur la division de conscience«2 [die auf Bewusstseinsspaltung beruhende Verdoppelung der Persönlichkeit]. Diese Entdeckung hat weitreichende wissenschaftsgeschichtliche Konsequenzen: »Les vies alternées de Félida vont marquer les recherches de toute une génération de savants de plus en plus méfiants par rapport aux théories psychologiques et philosophiques antérieures fondées sur la croyance en un ›je‹ univoque.«3 [Félidas alternierende Leben haben einen prägenden Einfluss auf die Forschung einer ganzen Generation von Gelehrten, die den bisher gültigen, auf dem Glauben an ein eindeutiges »Ich« beruhenden psychologischen und philosophischen Theorien gegenüber immer skeptischer werden.] Neben Azam selbst, der in einer Reihe von wissenschaftlichen Artikeln, die ab 1860 in medizinischen Fachzeitschriften erscheinen, und insbesondere in dem 1887 publizierten Buch Hypnotisme, double conscience et altérations de la personnalité den von ihm mehr als 20 Jahre lang behandelten und untersuchten Fall publik macht, haben sich mehrere bedeutende Wissenschaftler und Philosophen damit befasst, unter anderem Alfred Binet, Théodule Ribot, Pierre Janet und Jean-Martin Charcot. Azam hat die geradezu revolutionäre Bedeutung des Falles folgendermaßen umrissen: »Ainsi se trouve posé le problème redoutable de l’unité du moi et peut-être ébranlée la croyance à la personnalité, à l’individualité, croyance qui est à la base de l’étude de l’homme intellectuel et de sa responsabilité morale.«4 [Somit stellt sich das beängstigende Problem der Einheit des Ichs, und es wird möglicherweise der Glaube an die Persönlichkeit, an die Individualität erschüttert, welcher dem Studium des menschlichen Geistes und der moralischen Verantwortung des Menschen zugrunde liegt.] Wissenschaftsgeschichtlich ist hier insbesondere auf Charcot (1825–1893) zu verweisen, einen der prominentesten Ärzte und einflussreichsten Neurologen des späten 19. Jahrhunderts. Er wurde durch seine öffentlichen Inszenierungen der weiblichen Hysterie, welche er mithilfe von Hypnose zu be2 3 4

Ebd., S. 32. Ebd. Zit. nach ebd., S. 32.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

handeln versuchte, berühmt.5 Unter Hysterie verstand man eine psychische Krankheit, die, wie man ursprünglich annahm, von einer Erkrankung der Gebärmutter ausging. Symptome der Hysterie waren zum Beispiel Gehstörungen, Lähmungen oder ein Ausfall der Sinnesorgane. Den Patientinnen schrieb man bestimmte typische Persönlichkeitsmerkmale zu: Sie seien ichbezogen, geltungsbedürftig, kritiksüchtig usw. Der vom griechischen Wort hystera (›Gebärmutter‹) abgeleitete Begriff ist mittlerweile veraltet; man spricht in der Psychiatrie heutzutage von dissoziativer Störung beziehungsweise histrionischer Persönlichkeitsstörung. An einigen der von Charcot veranstalteten Sitzungen in der Salpêtrière nahm auch der von ihm bewunderte Azam teil, zu dessen 1887 erschienenem Buch Hypnotisme, double conscience et altérations de la personnalité Charcot ein Vorwort verfasste. Ein damals noch völlig unbekannter Mediziner aus Wien absolvierte 1885/86 mithilfe eines Stipendiums einen mehrere Monate dauernden Studienaufenthalt in Paris, um von Charcot zu lernen. Sigmund Freud (1856–1939) entwickelte auf der Grundlage des bei Charcot genossenen Anschauungsunterrichts und aufgrund eigener Erfahrungen als Nervenarzt sowie in der Zusammenarbeit mit Josef Breuer wenige Jahre später die Psychoanalyse, eine vollkommen neue Behandlungsmethode für Neurosen, die auf einer Theorie des seelischen Apparats beruht und die sich mit einer das gesamte 20. Jahrhundert prägenden Kulturtheorie verbindet. Michel Foucault misst Freud eine so hohe Bedeutung bei, dass er ihn als Diskursivitätsbegründer (»fondateur de discursivité«) bezeichnet.6 Die Folgen des von Freud begründeten Diskurses sind ähnlich nachhaltig wie die der Erfindung neuer Medien und Kommunikationsformen.7 5

6

7

Zum Zusammenhang von Schauspiel und Hysterie vgl. den reich bebilderten Band von Georges Didi-Huberman, Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot (1982), übers. v. Silvia Henke/Martin Stingelin/Hubert Thüring, München 1997. Michel Foucault, »Qu’est-ce qu’un auteur?« (1969), in: Dits et écrits, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Paris 1994, Bd. I, S. 789–821, hier S. 804. Vgl. hierzu Jacques Derrida, Mal d’archive. Une impression freudienne, Paris 1995. Freuds Theorie des Unbewussten und die damit verbundene Neudefinition von Konzepten wie Erinnerung und Archiv habe, so Derrida, radikale epistemologische Konsequenzen, die sich nicht nur auf den Status der Geschichtsschreibung, sondern auch auf den Status des Subjekts auswirkten: »[…] cette science, ce projet de science, à tout le moins, qui s’appelle psychanalyse, prétend transformer le statut même de l’objet de l’historien, la structure de l’archive, le concept de ›vérité historique‹, voire de science en général, les méthodes de déchiffrement de l’archive, l’implication du sujet dans l’espace qu’il prétend objectiver […]« [(…) diese Wissenschaft, dieses Projekt einer Wissenschaft zumindest, welches sich Psycho-

Freuds Psychoanalyse

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Parallel zur Entstehung der die Kenntnis des menschlichen Seelenlebens revolutionierenden Psychoanalyse führen die Entdeckungen von Azam, Charcot und anderen auch im Bereich der Literatur zu bedeutsamen Auseinandersetzungen mit der Psyche. Im Folgenden sollen nun zunächst die Grundprinzipien der Freud’schen Psychoanalyse skizziert werden. Man kann sich hierbei auf eine von Freud selbst stammende Schrift mit dem Titel Abriß der Psychoanalyse (1938) stützen.

5.1 Freuds Psychoanalyse Im Mittelpunkt von Freuds Interesse steht der psychische Apparat, also das, was zwischen den beiden Endpunkten des Gehirns (als des körperlichen Organs, in dem sich das Bewusstsein lokalisieren lässt) und der unmittelbar gegebenen Bewusstseinsakte situiert ist. Diesen psychischen Apparat stellt Freud sich mit räumlicher Ausdehnung vor. Diese Vorstellung hat den Charakter eines Modells, denn der psychische Apparat ist nicht direkt beobachtbar. Innerhalb des psychischen Apparates unterscheidet Freud drei Instanzen: das Es, das Ich und das Über-Ich. Er definiert diese drei Instanzen wie folgt: Das Es beinhaltet »alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden.«8 Weiter heißt es: Unter dem Einfluß der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahme und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation hergestellt, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs.9

Das Ich ist also eine Kontroll- und Vermittlungsinstanz: Es hat die »Verfügung über die willkürlichen Bewegungen«. In doppelter Weise erfüllt es dabei die Aufgabe der Selbstbehauptung: Nach außen schützt es den Organismus

8 9

analyse nennt, erhebt den Anspruch, den Status des Gegenstandes der Historiographie selbst zu verändern, die Struktur des Archivs, das Konzept der ›historischen Wahrheit‹, ja der Wissenschaft allgemein, die Methoden der Entzifferung des Archivs, das Verhaftetsein des Subjekts mit dem Raum, den es zu objektivieren beansprucht (…)] (S. 87, Kursivierung im Text). Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 82001, S. 42. Ebd.

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durch adäquate Reizaufnahme und -verarbeitung und die entsprechende Reaktion auf Reize (Aufzeichnung von Reizen im Gedächtnis, Vermeidung überstarker Reize durch Flucht, Anpassung an mäßige Reize, Aktivität zum Zweck der für den Organismus vorteilhaften Einwirkung auf die Außenwelt). Nach innen schützt das Ich den Organismus gegen die Triebansprüche des Es, indem es die Herrschaft über diese gewinnt und »entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt.«10 Das Ich steht unter dem Einfluss des Lustprinzips, es »strebt nach Lust, will der Unlust ausweichen.«11 Damit ist nicht nur die sexuelle Lust gemeint, sondern ganz allgemein Reizspannungen, deren Steigerung als Lust, deren Herabsetzung als Unlust erfahren werden. »Von Zeit zu Zeit löst das Ich seine Verbindung mit der Außenwelt und zieht sich in den Schlafzustand zurück, in dem es seine Organisation weitgehend verändert. Aus dem Schlafzustand ist zu schließen, daß diese Organisation in einer besonderen Verteilung der seelischen Energie besteht.«12 Die dritte Instanz des psychischen Apparates ist das Über-Ich, welches ein Niederschlag der für die Entwicklung des Menschen typischen und konstitutiven langen Kindheitsperiode ist. Im Über-Ich setzt sich der Einfluss der Eltern auch beim erwachsenen Menschen fort. Im Elterneinfluß wirkt natürlich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluß von Familien-, Rassen- und Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso nimmt das Über-Ich im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von seiten späterer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale.13

Das Ich steht mit dem Es, dem Über-Ich und der Realität in einem permanenten Konflikt und muss Kompromisse zwischen den Anforderungen dieser drei Instanzen finden. Wenn ihm dies gelingt, dann bleibt der Organismus im Gleichgewicht, und der Mensch fühlt sich gesund, wenn nicht, kommt es zu Gefährdungen und Störungen, die bis zur Krankheit mit körperlich wahrnehmbaren Symptomen gehen können und unter Umständen behandelt werden müssen. Zusammenfassend macht Freud folgende Bemerkung:

10 11 12 13

Ebd., S. 42f. Ebd., S. 43. Ebd. Ebd.

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Man sieht, daß Es und Über-Ich bei all ihrer fundamentalen Verschiedenheit die eine Übereinstimmung zeigen, daß sie die Einflüsse der Vergangenheit repräsentieren, das Es den der ererbten, das Über-Ich im wesentlichen den der von anderen übernommenen, während das Ich hauptsächlich durch das selbst Erlebte, also Akzidentelle und Aktuelle bestimmt wird.14

Der psychische Apparat ist also in sich aufgeteilt, das heißt, der Mensch ist in seinem Inneren gespalten, seine Psyche besteht aus verschiedenen Instanzen, die verschiedenen Zeitebenen zugehören und die zum Teil miteinander kooperieren, zum Teil aber getrennt sind und gegeneinander arbeiten, was so weit gehen kann, dass das Ich vom Es oder vom Über-Ich nichts weiß beziehungsweise nichts wissen will. Wir haben es also nicht wie etwa bei Descartes, bei Fichte oder auch in der Psychologie des 19. Jahrhunderts vor Azam und Charcot mit einem selbstmächtigen Ich zu tun, das die Welterkenntnis von sich her gestaltet oder qua Setzung die Wirklichkeit und sich selbst definiert. Wenn in der Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts schwache und ohnmächtige oder gar gespaltene Ichs auftreten, so stellt Freud dieses Phänomen auf eine wissenschaftliche Grundlage. Das Ich ist nicht mit dem psychischen Apparat deckungsgleich, es ist nur eine von mehreren Instanzen, die miteinander um die Vorherrschaft streiten. Das Es ist der Bereich der Triebe, deren Ziel es ist, befriedigt zu werden, ohne Rücksicht auf mögliche Gefahren, während das Ich für die Selbsterhaltung des Organismus zuständig ist. Freud unterscheidet zwei Grundtriebe: den Eros und den Destruktionstrieb (auch Todestrieb).15 »Das Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören.«16 Die Triebe mischen sich, Freud vermutet ein »Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe«,17 so wie im Bereich der anorganischen Welt das Gesetz von Anziehung und Abstoßung herrscht. Auch hier kommt es – wie bei den Kompromissen zwischen Ich, Es, Über-Ich und Realität – auf das richtige Mischverhältnis an. »Ein stärkerer Zusatz zur sexuellen Aggression führt vom Liebhaber zum Lustmörder, eine starke Herabsetzung des aggressiven Faktors macht ihn scheu oder impotent.«18 Konflikte und Probleme entstehen nicht nur bei falschen Misch14 15

16 17 18

Ebd., S. 43f. Vgl. hierzu ausführlich »Jenseits des Lustprinzips« (1920), in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al., Bd. III: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt/M. 1982, S. 213–272. Abriß der Psychoanalyse, S. 45. Ebd. Ebd., S. 45f.

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verhältnissen, sondern auch dadurch, dass der im Inneren als Todestrieb wirkende Trieb nicht nach außen als Aggressionstrieb abgeführt werden kann. Dies ist eine Folge der Kulturwerdung. »Mit der Einsetzung des Über-Ichs werden ansehnliche Beträge des Aggressionstriebes im Innern des Ichs fixiert und wirken dort selbstzerstörend.«19 Ein ganz zentraler Bereich der Freud’schen Theorie ist die Sexualfunktion.20 Hier finden sich Freuds vielleicht provozierendste Thesen. Er wendet sich gegen die landläufige Auffassung, wonach das Sexualleben im Wesentlichen auf den mit dem Ziel der Fortpflanzung herbeigeführten Kontakt der Genitalien von Mann und Frau beschränkt sei. Dieser Trieb beginne, wie man glaube, mit der Pubertät wirksam zu sein. Gegen diese Auffassung sprechen aber Freud zufolge drei Erfahrungstatsachen: 1) Es ist merkwürdig, daß es Personen gibt, für die nur Individuen des eigenen Geschlechts und deren Genitalien Anziehung besitzen. 2) Es ist ebenso merkwürdig, daß es Personen gibt, deren Gelüste sich ganz wie sexuelle gebärden, aber dabei von den Geschlechtsteilen oder deren normaler Verwendung ganz absehen; man heißt solche Menschen Perverse. 3) Und es ist schließlich auffällig, daß manche deshalb für degeneriert gehaltene Kinder sehr frühzeitig Interesse für ihre Genitalien und Zeichen von Erregung derselben zeigen.21

Homosexualität, ›Perversion‹ und Masturbation also sind weitverbreitete Formen des Sexuallebens, die sich nicht mit der landläufigen Auffassung von dessen heterosexuell-reproduktiver Funktion decken. Nach Freuds Erkenntnissen ist über das Sexualleben Folgendes auszusagen: a) Das Sexualleben beginnt nicht erst mit der Pubertät, sondern setzt bald nach der Geburt mit deutlichen Äußerungen ein. / b) Es ist notwendig, zwischen den Begriffen sexuell und genital scharf zu unterscheiden. Der erstere ist der weitere Begriff und umfaßt viele Tätigkeiten, die mit den Genitalien nichts zu tun haben. / c) Das Sexualleben umfaßt die Funktion der Lustgewinnung aus Körperzonen, die nachträglich in den Dienst der Fortpflanzung gestellt wird. Beide Funktionen kommen oft nicht ganz zur Deckung.22

Freud konstatiert also eine Trennung der Sexualfunktion von der reproduktiven Funktion, und er entdeckt, dass die Sexualität schon im frühkindlichen Alter auftritt, danach vergessen wird (Latenzzeit), um sodann mit der Pubertät erneut in Erscheinung zu treten. Daraus lassen sich Ansätze zur Erklä19 20

21 22

Ebd., S. 46. Vgl. hierzu ausführlich »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905), in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al., Bd. V: Sexualleben, Frankfurt/M. 1982, S. 37–145. Abriß der Psychoanalyse, S. 48. Ebd.

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rung von Neurosen, das heißt Dysfunktionen des psychischen Apparates, gewinnen. Die Ursache von Neurosen ist nach Freud häufig ein nicht bewältigter Ödipuskomplex. Ödipus tötet in der griechischen Sage, die ihren Niederschlag in der Tragödie des Sophokles gefunden hat, seinen Vater und heiratet seine Mutter. Nach Freud begehrt das männliche Kleinkind in jener Phase, die Freud als die phallische bezeichnet und die etwa mit dem zweiten bis dritten Lebensjahr beginnt, seine Mutter: Er wünscht, sie körperlich zu besitzen in den Formen, die er durch seine Beobachtungen und Ahnungen vom Sexualleben erraten hat, sucht sie zu verführen, indem er ihr sein männliches Glied zeigt, auf dessen Besitz er stolz ist. Seine früh erwachte Männlichkeit sucht, mit einem Wort, den Vater bei ihr zu ersetzen, der ohnehin bisher sein beneidetes Vorbild gewesen war infolge der körperlichen Stärke, die er an ihm wahrnimmt, und der Autorität, mit der er ihn bekleidet findet. Jetzt ist der Vater sein Rivale, der ihm im Wege steht und den er aus dem Weg räumen möchte. Wenn er während einer Abwesenheit des Vaters das Bett der Mutter teilen durfte, aus dem er nach der Rückkehr des Vaters wieder verbannt wird, bedeuten ihm die Befriedigung bei dem Verschwinden des Vaters und die Enttäuschung bei seinem Wiederauftauchen tiefgreifende Erlebnisse. Dies ist der Inhalt des Ödipuskomplexes […]23

Eine traumatisierende Begleiterscheinung des Ödipuskomplexes kann der Kastrationskomplex sein, wenn die Mutter dem Jungen, um seine frühkindlichen sexuellen Regungen zu unterdrücken, androht, sie werde ihm sein Glied wegnehmen, oder gar, um ihrer Drohung Nachdruck zu verleihen, ankündigt, der Vater werde dies tun. Unter dem Eindruck dieses Traumas verdrängt der Junge seinen Wunsch, die Mutter zu besitzen, und er entwickelt Angst vor dem Vater beziehungsweise gar Hass gegen ihn. Eine zu einer stabilen Ichbildung notwendige Voraussetzung ist es, dass der Junge sich später mit dem Vater identifiziert. Gelingt dies nicht, so kommt es zu neurotischen Störungen. Hier muss der Therapeut ansetzen, indem er versucht, im Dialog mit dem Patienten dessen frühkindliche Konflikte, die dieser vergessen oder verdrängt hat, zu entdecken. Er versucht, das geschwächte Ich des Patienten gegenüber den Ansprüchen des von den Trieben beherrschten Es und gegenüber dem auf Kontrolle und Verbot zielenden Über-Ich zu stärken. Dazu ist es erforderlich, den Patienten intellektuell am Vorhaben zu beteiligen. Er soll selbst in der dialogisch mit dem Analytiker vollzogenen Erinnerungs- und Deutungsarbeit die Lücken in seinem psychischen Apparat erkennen und sie provisorisch füllen. Zugleich aber muss der Analytiker versuchen, das Es zu 23

Ebd., S. 84.

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Wort kommen zu lassen, er muss die »aus dem Unbewußten eingedrungenen Inhalte und Strebungen aufspüren und durch Rückführung auf ihren Ursprung der Kritik bloßstellen.«24 Da dabei frühkindliche Erlebnisse nicht nur intellektuell erinnert, sondern aktiv nachvollzogen, wiederholt werden, schlüpft der Analytiker in die Rolle des Vaters beziehungsweise der Mutter, während der Patient auf den Zustand des Kindes regrediert. Diesen Vorgang nennt Freud Übertragung. Er ist ambivalent, denn das Kind empfindet gegenüber den Eltern sowohl positive als auch negative Gefühle, und diese überträgt der Patient nun auf den Analytiker. Der Kern der Psychoanalyse ist die Entdeckung, dass es neben dem Bewusstsein eine zweite psychische Qualität gibt: das Unbewusste.25 Denn die bewussten Vorgänge ergeben kein lückenloses, in sich geschlossenes Bild. Es bleibt ein Restbestand, den Freud als das Unbewusste beziehungsweise das Vorbewusste bezeichnet. Das Bewusstsein ist ja, wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, nicht etwas Festes und Dauerhaftes, sondern es hat transitorischen Charakter. Was jetzt im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, kann im nächsten Moment schon wieder weg sein. Um diesen Unterschied zu markieren, verwendet Freud den Begriff des Vorbewussten oder Bewusstseinsfähigen. Andere psychische Vorgänge dagegen sind regelrecht vom Bewusstsein abgeschnitten. Hier spricht Freud vom eigentlich Unbewussten. Die Inhalte des Unbewussten können nur durch die Überwindung von Hindernissen auf die Ebene des Bewusstseins gehoben werden. Das Unbewusste ist eng zusammengehörend mit dem Es. Im Es, welches ja ursprünglicher ist als das Ich, befinden sich einerseits »ursprünglich Mitgebrachtes« und andererseits »während der Ichentwicklung Erworbenes«. Das Letztere bezeichnet Freud auch als Verdrängtes. Manifestationen des Unbewussten finden sich in entstellter, das heißt verdichteter und verschobener Form in Träumen. Denn im Schlaf wendet sich das Ich von der Außenwelt ab, und es lockert sich seine Kontrollfunktion. Dadurch wird es für die im Es befindlichen, unbewussten Regungen möglich, sich an das Bewusstsein anzunähern, das heißt, die Grenzen zwischen den Bereichen werden durchlässig. Allerdings wird die Kontrollfunktion des Ichs nicht völlig neutralisiert, sodass es zu Konflikten kommt. Ausdruck und Symptom solcher Konflikte sind die Träume. Um die Regungen des Unbewussten zu erkennen, bedarf es allerdings einer speziellen Deutungsme24 25

Ebd., S. 76. Die wichtigste Schrift, in der Freud sich ausführlich mit dieser Kategorie befasst, ist »Das Unbewußte« (1915), in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al., Bd. III: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt/M. 1982, S. 119–173.

Zu einigen Affinitäten zwischen Freud und Pirandello

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thode, es handelt sich um einen Dechiffrierungsvorgang.26 Der manifeste Trauminhalt wird zum Signifikanten, der auf einen latenten, eigentlichen Inhalt als sein Signifikat verweist. Im Traum gelten die Gesetze der Verdichtung und der Verschiebung und allgemein der fehlenden Logik. Verdichtung bedeutet, dass oft ein einzelnes Traumelement eine ganze Reihe von latenten Bedeutungen hat. Verschiebung bedeutet die Umbesetzung psychischer Energien von einem Element auf ein anderes, »so daß oft im manifesten Traum ein Element als das deutlichste und dementsprechend wichtigste erscheint, das in den Traumgedanken nebensächlich war, und umgekehrt wesentliche Elemente der Traumgedanken im manifesten Traum nur durch geringfügige Andeutungen vertreten werden.«27 Man benötigt zur korrekten Dechiffrierung von Träumen die Mithilfe des Patienten, seine Assoziationen sind eine unabdingbare Voraussetzung für das Übersetzen der Träume. Selbst dann kann aber nicht jeder Traum eindeutig entschlüsselt werden. Man sieht, wie in der Freud’schen Theorie das Ich immer mehr aufgelöst wird, in einzelne Energien, Triebe und Funktionen zerfällt und wie diese sich zueinander nach dem Prinzip von Dynamik und Ökonomie verhalten. Dies stellt das hergebrachte Bild von dem seine eigenen Handlungen lückenlos kontrollierenden Subjekt nachhaltig infrage. Im Folgenden sollen vergleichbare Tendenzen in ausgewählten Texten der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts betrachtet werden.

5.2 Zu einigen Affinitäten zwischen Freud und Pirandello Gegenstand der folgenden Überlegungen ist nicht eine etwaige Freud-Rezeption Pirandellos. Zwar gibt es einige Indizien, die vermuten lassen, dass Freud und sein Werk keine terra incognita für Pirandello darstellten. Doch lassen diese Indizien für sich betrachtet nicht viel mehr als den Schluss zu, dass der Begründer der Psychoanalyse für Pirandello als allgemeine kulturelle Referenzgröße von Bedeutung war. Ich möchte zwei mehr oder minder explizite Hinweise auf Pirandellos Freud-Kenntnis hier zunächst nennen: (1) In der in den Dreißigerjahren überarbeiteten Fassung des Romans Suo marito (1911) macht eine der Figuren sich über den Bildungskanon der Gegenwart lustig, indem sie davon spricht, ein Buch mit dem Titel Bazar della Sapienza 26

27

Ausführlich hat Freud diese Methode in seiner Traumdeutung (1900) entwickelt und erläutert, in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al., Bd. II: Die Traumdeutung, Frankfurt/M. 1982. Abriß der Psychoanalyse, S. 63.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

zu schreiben. Dieses Buch müsse unter anderem Folgendes enthalten: »Una filza di questi nomi difficili; poi un po’ di storia dell’arte, preellenismo, arte micenaica e via dicendo; un po’ di Nietzsche, un po’ di Bergson, un po’ di Freud; qualche conferenza; […]«28 [Eine Reihe von diesen schwierigen Namen; dann ein wenig Kunstgeschichte, Prähellenismus, mykenische Kunst und so weiter; ein bisschen Nietzsche, ein bisschen Bergson, ein bisschen Freud; einige Vorlesungen; (…)] – (2) In dem Theaterstück Come tu mi vuoi (1930) taucht im dritten Akt die vermisste Ehefrau von Bruno Pieri wieder auf. Sie wurde im Ersten Weltkrieg von deutschen Soldaten verschleppt und ist daraufhin verrückt geworden. Der deutsche Schriftsteller Carl Salter macht sie in einer Wiener psychiatrischen Anstalt ausfindig und bringt sie in Begleitung ihres Psychiaters nach Italien. Die Verbindung von Wien und Psychiatrie lässt sich durchaus als augenzwinkernde Anspielung auf Sigmund Freud verstehen, der um 1930 bereits weltweit bekannt war. Auch die Verwechslung der eigentlich zu trennenden Domänen Psychiatrie und Psychoanalyse ist im Zusammenhang mit Freud ein topisches Element, darf also nicht überbewertet werden. Auffällig ist in beiden Fällen der spöttische Ton, mit dem Freud bedacht wird. In Come tu mi vuoi (1930) wird der Wiener Psychiater gar als Karikatur des Deutschen schlechthin gezeichnet: »Il Dottore e l’Infermiera avranno il tipo e l’impostatura caratteristica dei tedeschi.«29 [Der Arzt und die Krankenschwester sehen aus und verhalten sich wie typische Deutsche.] (Aus italienischer Sicht besteht nebenbei gesagt 1930 offenbar kein gravierender Unterschied zwischen Österreichern und Deutschen.) Der spöttische Ton wie auch die bloß beiläufige Erwähnung Freuds scheinen dafür zu sprechen, dass Pirandello sich mit ihm wohl kaum intensiv auseinandergesetzt hat. Wenn die beiden Autoren dennoch im Folgenden miteinander konfrontiert werden sollen, so erklärt sich dies aus grundlegenden Affinitäten des Denkens, die umso interessanter sind, als offenbar keine nachweisbare Beeinflussung Pirandellos durch Freud vorzuliegen scheint. Eine mögliche Erklärung für solche Affinitäten liegt, wie Maria Teresa Defazio gezeigt hat, in der Rezeption der Schriften von Binet und Ribot durch Pirandello, der also eine ähnliche Ausgangsbasis wie Freud hat und somit parallel zu ihm die menschliche Psyche untersucht, wenngleich mit anderen Mitteln und mit anderer Zielsetzung.30 28 29

30

Pirandello, Tutti i romanzi, Bd. I, S. 1085. Luigi Pirandello, Come tu mi vuoi, in: Opere di Luigi Pirandello, Bd. 4: Maschere nude I, Milano 41967, S. 917–1004, hier S. 985. Maria Teresa Defazio, Il mito dell’io impossibile. Allucinazioni e identità mancate in Guy de Maupassant, Henry James, Luigi Pirandello, Roma 2004.

Zu einigen Affinitäten zwischen Freud und Pirandello

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Ein wichtiger Kronzeuge für die Auffassung, dass Dichter und Psychoanalytiker eine gemeinsame Sensibilität haben können, ist Freud selbst. In seiner Schrift Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva« (1907) stellt er unter Hinweis auf seine Traumdeutung der allgemeinen wissenschaftlichen Auffassung, wonach Träume rein physiologische und somit bedeutungslose Vorgänge sind (Stichwort: ›Träume sind Schäume‹), seine erstmals in der Traumdeutung (1900) entfaltete, für die Psychoanalyse grundlegende These gegenüber, dass Träume einen Sinn haben und somit interpretierbar sind und therapeutisch nutzbar gemacht werden können. In diesem Zusammenhang sieht er eine objektive Koalition zwischen dem Psychoanalytiker und den Dichtern: In diesem Streite über die Würdigung des Traumes scheinen nun die Dichter auf derselben Seite zu stehen wie die Alten, wie das abergläubische Volk und wie der Verfasser der Traumdeutung. Denn wenn sie die von ihrer Phantasie gestalteten Personen träumen lassen, so folgen sie der alltäglichen Erfahrung, daß das Denken und Fühlen der Menschen sich in den Schlaf hinein fortsetzt, und suchen nichts anderes, als die Seelenzustände ihrer Helden durch deren Träume zu schildern. Wertvolle Bundesgenossen sind aber die Dichter, und ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben.31

Ich möchte zeigen, dass Pirandello in diesem Sinne ein zumindest partieller »Bundesgenosse« Freuds ist, ohne dass dabei die zweifellos vorhandene Differenz zwischen literarischem und psychoanalytischem Diskurs negiert werden soll. Diese Differenz hat Freud selbst klar erkannt und aus seiner Sicht bedauert. So heißt es in unmittelbarer Fortsetzung des obigen Zitats: »Wäre diese Parteinahme der Dichter für die sinnvolle Natur der Träume nur unzweideutiger! Eine schärfere Kritik könnte ja einwenden, der Dichter nehme weder für noch gegen die psychische Bedeutung des einzelnen Traumes Partei; er begnüge sich zu zeigen, wie die schlafende Seele unter den Erregungen aufzuckt, die als Ausläufer des Wachlebens in ihr kräftig verblieben sind.«32 Wo der wissenschaftlich-therapeutische Diskurs nach Eindeutigkeit verlangt, begnügt sich der literarische Diskurs damit, die trefflich diagnostizierten Erscheinungen des »Seelenlebens« in ihrer Vieldeutigkeit schillern zu lassen. Ich möchte betonen, dass mir keinesfalls daran gelegen ist, die beiden 31

32

Sigmund Freud, »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva« (1907), in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al., Bd. X: Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt/M. 1982, S. 9–85, hier S. 14. Ebd.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Autoren über einen Kamm zu scheren und Pirandello zum Freudianer malgré lui zu ernennen. Vielmehr geht es mir um die Beschreibung von höchst interessanten partiellen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden, die dazu dienen können, die Psychoanalyse als eine der epochentypischen Denkfiguren für die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg in der europäischen Literatur aufzuzeigen.33 Es ist auffällig, dass viele, wenn nicht die meisten Texte Pirandellos problematische Liebesbeziehungen zum Gegenstand haben. Häufig geht es dabei um Eifersucht, Betrug, Dreieckskonstellationen usw. In einigen Fällen wird das damit zusammenhängende Geflecht aus Schuld, Abwehr und Verdrängung auf eine Art und Weise analysiert, die Sigmund Freud alle Ehre gemacht hätte. Freud unterscheidet in einer Untersuchung aus den Jahren 1921/22 mit dem Titel »Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität« drei Formen von Eifersucht: die konkurrierende oder normale, die projizierte und die wahnhafte.34 Die uns hier interessierende projizierte Eifersucht geht, so Freud, »aus der eigenen, im Leben betätigten Untreue oder aus Antrieben zur Untreue hervor, die der Verdrängung verfallen sind.«35 Der Eifersüchtige verdächtigt in diesem Falle seinen Partner jener Bereitschaft zur Untreue, die er in sich selbst verspürt und abzuwehren versucht. Der gesellschaftlich erhobene Anspruch auf eheliche Treue ist, so Freud, erfahrungsgemäß permanenten Anfechtungen ausgesetzt. Nun kann man die in sich verspürten libidinösen Regungen und Wünsche zwar unterdrücken, was aber einen hohen Aufwand an psychischer Energie erfordert. Daraus entsteht die Suche nach Entlastungsmöglichkeiten. Eine bequeme Form der psychischen Erleichterung ist die projizierte Eifersucht. Freud spricht hier auch vom »Freispruch vor [dem] Gewissen«.36 Diese Projektion der eigenen unerwünschten Triebregungen nach außen, auf den Partner, ist eine durch die Psychoanalyse heilbare Abweichung vom normalen Verhalten. Daneben gibt es aber eine verschärfte Form der Eifersucht, die wahnhafte. Freud schildert einen konkreten Fall von solcher Eifersuchtsparanoia. Dieser 33

34

35 36

Zahlreiche Beispiele aus der deutschen Literatur der Moderne findet man bei Thomas Anz, »Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Ein Forschungsbericht und Projektentwurf«, in: Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1700–1930, Stuttgart 1997, S. 377–413. Freud, »Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität«, in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al., Bd. VII: Zwang, Paranoia und Perversion, S. 217–228, hier S. 219. Ebd., S. 220. Ebd.

Zu einigen Affinitäten zwischen Freud und Pirandello

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Fall ist im Hinblick auf Pirandello von besonderem Interesse, weil der betreffende Patient einerseits eine »tadellos getreue Frau«37 hat, andererseits aber seinerseits ein langandauerndes außereheliches Verhältnis gepflegt hatte. Freud analysiert den Mechanismus der paranoischen Projektion wie folgt: Es ahnt uns nun, daß wir das Verhalten des eifersüchtigen wie des verfolgten Paranoikers sehr ungenügend beschreiben, wenn wir sagen, sie projizieren nach außen auf andere hin, was sie im eigenen Innern nicht wahrnehmen wollen. Gewiß tun sie das, aber sie projizieren sozusagen nicht ins Blaue hinaus, nicht dorthin, wo sich nichts Ähnliches findet, sondern sie lassen sich von ihrer Kenntnis des Unbewußten leiten und verschieben auf das Unbewußte der anderen die Aufmerksamkeit, die sie dem eigenen Unbewußten entziehen. Unser Eifersüchtiger erkennt die Untreue seiner Frau an Stelle seiner eigenen; indem er die seiner Frau sich in riesiger Vergrößerung bewußtmacht, gelingt es ihm, die eigene unbewußt zu erhalten.38

Betrachten wir vor diesem Hintergrund das von Pirandello 1934 verfasste Stück Non si sa come. Der Kern der Handlung ist in der bereits 1913 entstandenen Novelle Nel gorgo enthalten. Ich betone dies deshalb, weil dadurch klar wird, dass Pirandello unabhängig von Freud und zeitlich sogar früher als er die psychischen Mechanismen der Eifersucht beschrieben hat. Zur besseren Nachvollziehbarkeit skizziere ich die Handlung des Stücks: Der Marineoffizier Giorgio Vanzi ist mit Ginevra verheiratet. Wenn er zur See fährt, ist seine Frau zu Gast bei dem befreundeten adeligen Ehepaar Romeo und Bice Daddi. Die Handlung setzt ein, als Vanzi sich nach achtmonatiger Fahrt auf Heimaturlaub befindet. Drei Tage vor Ende seines Urlaubs erhält er Besuch von Nicola Respi, der ihm mitteilt, dass der gemeinsame Freund Romeo Daddi verrückt geworden sei. Ursache seiner Verrücktheit seien die Zweifel, die Romeo an der Treue seiner Ehefrau habe. Dies ist den Außenstehenden völlig unerklärlich, gilt doch Bice Daddi als über jeden Zweifel erhaben. Insbesondere Respi weiß ein Lied davon zu singen, denn er hat ihr lange Zeit den Hof gemacht, ohne jemals ihre Tugend ins Wanken bringen zu können. Mit der Beziehung Romeo–Bice–Respi schiebt sich das für Pirandello typische Thema der Dreieckskonstellation in den Vordergrund. Doch Bice ist tatsächlich tugendhaft, sie liebt ihren Mann aufrichtig, Respi ist nicht das Problem. Dieses liegt vielmehr in dem eifersüchtigen Romeo selbst, der seiner Frau einen Moment lang untreu geworden ist, angeblich ohne es zu wollen. Als Ginevra eines Tages mit Romeo allein im Hause war, sind sie unwillkürlich einander in die Arme gefallen und haben Ehebruch begangen, obwohl sie beide ihren jeweiligen Ehepartner lieben. 37 38

Ebd., S. 221. Ebd., S. 222.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Sie behaupten nun, sie seien während dieses Vorgangs nicht sie selbst gewesen, und fühlen sich deshalb unschuldig. Romeo sagt: »Non sono stato io! [Ginevra n]on ha desiderato me, né io lei! Io non so nulla di lei: nulla! Un gorgo che s’è aperto tra noi all’improvviso, e ci ha afferrati un attimo e travolti, e subito richiuso, senza lasciar traccia di sé.«39 [Das bin nicht ich gewesen! (Ginevra) hat nicht mich begehrt, und ich nicht sie! Ich weiß nichts von ihr: nichts! Eine Stromschnelle hat sich unerwartet zwischen uns aufgetan, hat uns einen Moment lang gepackt und mit sich gerissen und sich plötzlich wieder geschlossen, ohne Spuren zu hinterlassen.] Dies ist in psychoanalytischer Terminologie ein Akt der Abwehr, ein Verdrängungsversuch. Romeo hat etwas getan, für das er sich schämt und das er am liebsten ungeschehen machen möchte. Er übernimmt dafür nicht die Verantwortung und spaltet den Vorgang von sich ab (»Non sono stato io!«). Den Ehebruch möchte er genauso verdrängen wie die mehr als dreißig Jahre zurückliegende Tötung eines Jungen, an die er sich anlässlich des Ehebruchs wieder erinnert. Romeo berichtet mit folgenden Worten von seiner mittlerweile verjährten Tat: »Delitto innocente. Come un sogno che ritorna. Tu capisci adesso, Ginevra? È per questo ritorno! Ritorno d’un sogno sepolto.«40 [Ein unschuldiges Verbrechen. Wie ein Traum, der wiederkehrt. Verstehst du jetzt, Ginevra? Es ist wegen dieser Wiederkehr! Der Wiederkehr eines verschütteten Traumes.] Diese Wiederkehr ist nichts anderes als die von Freud häufig beschriebene Wiederkehr des Verdrängten (vgl. zum Beispiel seine Analyse von W. Jensens Gradiva). Interessant und aufschlussreich ist hierbei die von Pirandello verwendete Metaphorik. Der begrabene Traum (»sogno sepolto«) oder – im Zusammenhang mit dem Ehebruch – die Stromschnelle, die alles verschlingt und keine Spuren hinterlässt. Die Metaphorik von Traum und Begraben wird hier wiederaufgegriffen: »il segreto d’un attimo, sepolto per sempre: accaduto e svanito, come in un sogno«41 [das Geheimnis eines Augenblicks, für immer begraben: geschehen und verschwunden, wie in einem Traum]. Die darin implizierte Raumopposition erinnert an die Freud’sche Topik Bewusstsein vs. Unbewusstes. Das aus dem Bewusstsein Verdrängte wird ins Unbewusste abgeschoben (›begraben‹), wo es aber weiter seine vom Ich nicht kontrollierbaren Wirkungen entfaltet und nur mit einem erheblichen Energieaufwand vom Bewusstsein ferngehalten werden kann. In Momen39

40 41

Non si sa come, in: Opere di Luigi Pirandello, Bd. 5: Maschere nude II, Milano 91985, S. 819–888, hier S. 857 (2. Akt). Non si sa come, S. 841 (1. Akt). Non si sa come, S. 858 (2. Akt).

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ten, in denen aufgrund einer Erschütterung des psychischen Systems der für die Verdrängung unverzichtbare Energieaufwand nachlässt, kehrt das Verdrängte wieder. So geschieht es jedenfalls in Non si sa come, wo nach dem Ehebruch nicht nur ein in ähnlicher Weise Schuldgefühle hervorrufendes und daher lange verdrängtes Ereignis wieder auf die Ebene des Bewusstseins gehoben wird, sich also die Verdrängung letztlich als unwirksam erwiesen hat, sondern darüber hinaus das neue Ereignis als so bedrohlich erscheint, dass es in Romeo eine projizierte Eifersucht hervorruft, die ihn von seinen Schuldgefühlen entlasten soll. So sagt er Bice zu seiner Verteidigung, dass Ginevra nicht seine Komplizin gewesen sei, sondern wie er selbst ein Opfer der Umstände: Non complice, Bice! Vittima con me! Finiscila di sospettare delitti! Non è delitto! Non sarebbe neanche per te, se l’avessi commesso! E non è da confessare, è da seppellire: si seppellisce da sé, come s’è sepolto in me, il primo, per trent’anni, non per calcolo, proprio da sé, di nascosto dalla nostra stessa coscienza che non vuole arrossirne, perché non è cosa che la riguardi, e la coscienza non deve dunque neanche saperla. Non dobbiamo saperne più nulla nemmeno noi stessi.42 Nicht Komplizin, Bice! Opfer, genau wie ich! Hör doch damit auf, überall Verbrechen zu vermuten! Dies ist kein Verbrechen! Es wäre auch keines gewesen, wenn du es begangen hättest! Und man darf es nicht etwa beichten, sondern man muss es begraben; es begräbt sich ganz von selbst, wie jenes erste dreißig Jahre lang in mir begraben gewesen ist, nicht aus Berechnung, nein, ganz von selbst, verborgen sogar vor unserem Gewissen, das nicht darüber erröten will, weil es keine Sache ist, die das Gewissen etwas anginge, und das Gewissen daher nichts davon wissen darf. Nicht einmal wir selbst dürfen noch irgendetwas davon wissen.

Kern der Aussage ist die Verneinung des Geschehenen als eines zu verurteilenden Aktes (»Non è delitto!«). Diese Verneinung, die, wie aus dem Kontext hervorgeht, wenig glaubwürdig ist, wird verstärkt durch die hier noch im Konjunktiv als hypothetisch konzipierte Projektion des Ehebruchs auf Bice (»Non sarebbe neanche per te, se l’avessi commesso!«). Schließlich steigert sich Romeo in seinen Bemühungen, das Geschehene ungeschehen zu machen, indem er explizit das Gebot formuliert, den Ehebruch zu verdrängen, ihn im Unbewussten zu begraben. Interessanterweise verwendet Pirandello hier das doppeldeutige Wort »coscienza«, das sowohl ›Gewissen‹ als auch ›Bewusstsein‹ bedeuten kann (»di nascosto dalla nostra stessa coscienza che non vuole arrossirne, perché non è cosa che la riguardi, e la coscienza non deve dunque neanche saperla«). Ein wenig später benützt Bice in einer Tirade sogar den Gegenbegriff »l’incoscienza«, ›das Unbewusste‹.43 42 43

Non si sa come, S. 855 (2. Akt). Non si sa come, S. 862 (2. Akt).

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Seine eigene Untreue projiziert Romeo schließlich in wahnhafter Form auf seine Frau Bice. Wenn er selbst habe schwach werden können und dennoch weiterhin glaubwürdig versichern dürfe, dass er Bice liebe, so meint er schlussfolgern zu können, dass umgekehrt Bices Liebesbeteuerungen ihm gegenüber kein Beweis für ihre Treue sein müssen. Aus dieser für ihn unerträglichen Situation der Unentscheidbarkeit entsteht sein Wahn. Um den Halt nicht zu verlieren, unterstellt Romeo Bice, dass sie ihn betrogen habe, und sei es auch nur im Traum. Diese persönlichkeitsstabilisierende Projektion des eigenen schlechten Gewissens auf einen anderen führt in letzter Konsequenz zur tragischen Katastrophe. Denn es tritt ein durch den realen Ehebruch zwischen Romeo und Ginevra Geschädigter auf den Plan: Giorgio Vanzi. Als dieser – noch dazu aus Romeos Mund – erfährt, dass er betrogen wurde, tötet er den Schuldigen. Eine psychoanalytische Sensibilität zeigt sich auch in Stücken wie Sogno (ma forse no) und Bellavita. In diesen Einaktern geht es erneut um Dreiecksbeziehungen und das damit zusammenhängende Geflecht von Schuld, Verrat und schlechtem Gewissen. In Sogno (ma forse no) wird die Perspektive einer ihren Liebhaber hintergehenden Frau eingenommen, deren schlechtes Gewissen sich in einem Albtraum konkretisiert. Dramaturgisch höchst interessant ist das Verfahren, mittels dessen Pirandello Traum und Realität einander gegenüberstellt, wobei schon im Titel angedeutet wird, dass die Grenze zwischen Traum und Realität – aufgrund der erdrückenden Übermacht des schlechten Gewissens – fließend ist. Der Liebhaber erscheint der jungen Frau im Traum und formuliert explizit den unbewussten Trennungswunsch, der in ihrem ›Verrat‹ offenbar zum Ausdruck gekommen ist. Sie hat sich nämlich von einem anderen Mann ein teures Perlenschmuckstück schenken lassen. Am nächsten Morgen besucht ihr Liebhaber sie, um ihr enttäuscht mitzuteilen, dass er ihr eine Überraschung habe bereiten wollen: Er habe ihr just jenes Schmuckstück schenken wollen, das sie, was er indes nicht wissen kann, schon besitzt, es sei aber schon verkauft gewesen. Das Geld habe er beim Glücksspiel gewonnen. Anstatt ihm die Wahrheit über das Geschenk und ihr schlechtes Gewissen zu sagen, simuliert sie eine heile Welt. Sie versucht also, die im Traum gewonnene Einsicht in ihre unbewussten Wünsche wieder zu verdrängen. Das Stück hat ein offenes Ende, doch man kann sich ohne Weiteres ausmalen, dass die Konflikte der angedeuteten Dreiecksbeziehung durch Verdrängung nicht zu lösen sind. In Bellavita wird die Perspektive eines Witwers eingenommen, dem von seiner Ehefrau Hörner aufgesetzt wurden: Diese hatte ein Verhältnis mit dem Notar Denora, der auch der Vater ihres Sohnes Michelino ist. Der Konditor

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Bellavita rächt sich an seinem Nebenbuhler, indem er durch übertriebene Unterwürfigkeit diesem ein schlechtes Gewissen macht. Während Denora sich loskaufen will, indem er vorschlägt, Michelino in ein Internat nach Neapel zu schicken, will Bellavita keinerlei materielle Unterstützung annehmen. Denora will sich der Lächerlichkeit einer Beziehung zu dem ihm sozial nicht ebenbürtigen Bellavita entledigen, dieser hingegen zwingt ihn durch den ›Respekt‹, den er ihm erweist, die Realität dieser Beziehung, an der der Notar ja selbst schuld ist, anzuerkennen. Unfreiwillig gibt Denora durch seine Weigerung, von Bellavita mit Respekt behandelt zu werden, diesem das Mittel zur Rache an die Hand: Er will sich einen schwarzen Anzug schneidern lassen und dem Notar auf Schritt und Tritt – als Inkarnation von dessen schlechtem Gewissen – folgen: »Lui il corpo, ed io l’ombra! L’ombra del suo rimorso! Di professione! Lasciatemi passare!«44 [Er der Körper, und ich sein Schatten! Der Schatten seiner Gewissensqual! Von Beruf! Lasst mich vorbei!] Beide Einakter sind also gewissermaßen komplementär. Sogno (ma forse no) nimmt den Standpunkt der Verräterin ein. Durch den Traum wird das Schuldgefühl aus der Innenperspektive gezeigt. Bellavita hingegen wählt den Standpunkt des Verratenen, des Opfers. Nicht die innerpsychische Perspektive des Traumes, sondern die Inkarnation des schlechten Gewissens durch Bellavita ist Gegenstand des Stückes. Wie die allegorischen Figuren im geistlichen Spiel des Mittelalters, so verkörpert Bellavita eine abstrakte Größe, das Gewissen, und macht somit psychische Sachverhalte sichtbar. Die untersuchten Textstellen aus Pirandellos Werken haben gezeigt, dass es bisweilen frappierende Affinitäten zur Freud’schen Psychoanalyse gibt. Phänomene wie Schuldgefühle, Abwehr, Verdrängung oder projizierte und wahnhafte Eifersucht werden von beiden Autoren ähnlich luzide analysiert. Der grundlegende Unterschied liegt im jeweiligen Diskurstyp begründet. Während Freud die genannten Phänomene des Seelenlebens mit dem Ziel untersucht, sie zu therapieren und das mit ihnen verbundene Leid seiner Patienten zu lindern, verlegt Pirandello sich darauf, die Hoffnungslosigkeit seiner Figuren zu exponieren. Dies erfolgt nicht ohne die Möglichkeit von Mitleid und Identifikation seitens der Rezipienten (im Sinne der Poetik des umorismo),45 ist aber nichtsdestoweniger Ausdruck eines für den Autor cha44 45

Bellavita, in: Maschere nude II, S. 583–602, hier S. 602. Vgl. Luigi Pirandello, L’umorismo, in: Saggi, poesie, scritti varii, hg. v. Manlio Lo Vecchio-Musti, Milano 1965, S. 15–160, hier S. 127ff., wo vom »sentimento del contrario« die Rede ist, welches über die bloße Wahrnehmung eines komischen Gegensatzes (den »avvertimento del contrario«) hinausgeht und eine auf Reflexion gestütze Einfühlung ermöglicht.

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rakteristischen pessimistischen Weltbildes. Die durch zwischenmenschliche Konflikte gestörte Ordnung, mit der Pirandellos Theaterstücke in durchaus traditionskonformer Weise eröffnet werden, lässt sich am Ende nicht wiederherstellen. Auch die Katastrophe stellt, anders als etwa in der herkömmlichen Tragödie, keine Lösung dar. Die einzige Hoffnung liegt in der stets aufs Neue unternommenen künstlerischen Bearbeitung der als unlösbar erkannten Konflikte.

5.3 Das Ich zwischen Restitution und Auflösung bei Proust Marcel Proust (1871–1922) war zwar seit den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts als Schriftsteller aktiv, doch kennt man ihn vor allem als den Autor eines einzigen, zwischen 1908 und 1922 entstandenen Werkes. Sein siebenteiliger Roman À la recherche du temps perdu erschien zwischen 1913 und 1927; die letzten drei Bände wurden erst nach Prousts Tod veröffentlicht. Obwohl Proust, wie er am 1. 1. 1920 in einem an Jacques Boulanger gerichteten Brief mitteilt, schon mehrere Jahre zuvor die letzte Seite seines Romans geschrieben und diesen somit äußerlich abgeschlossen hatte, lässt sich kaum bestreiten, dass sein Text unvollendet ist.46 Die Unabgeschlossenheit resultiert aus Prousts Arbeitsweise; er pflegte nicht nur seine Manuskripte, sondern auch die Korrekturfahnen bis zum letzten Moment zu überarbeiten und zu erweitern. Nachdem er während der Arbeit an den Fahnen von La prisonnière starb, gibt es von den letzten drei Bänden keine von Proust autorisierte Textgestalt.47 Man müsste also eigentlich bei Proust die Unabgeschlossenheit als Strukturmerkmal des Textes48 in die Betrachtung mit einbeziehen, was jedoch im vorliegenden Zusammenhang nicht möglich ist.

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Vgl. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, hg. v. Jean-Yves Tadié, 4 Bde, Paris 1987–89, Bd. IV, S. 1320, wo der Wortlaut des Briefes an Jacques Boulanger folgendermaßen wiedergegeben wird: »[…] la dernière page de mon livre est écrite depuis plusieurs années (la dernière page de tout l’ouvrage, la dernière page du dernier volume)« [(…) die letzte Seite meines Buches wurde schon vor mehreren Jahren geschrieben (die letzte Seite des gesamten Werkes, die letzte Seite des letzten Bandes)]. Zur Entstehungsgeschichte der Recherche vgl. Volker Roloff, »Die Entwicklung von À la recherche du temps perdu. Aktuelle Probleme der genetischen Forschung«, in: Romanische Forschungen 97 (1985), S. 165–196. Vgl. hierzu Rainer Warning, »Schreiben ohne Ende. Prousts Recherche im Spiegel ihrer textkritischen Aufarbeitung«, in: ders. (Hg.), Marcel Proust. Schreiben ohne Ende, Frankfurt/M. 1994, S. 7–26.

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Die Recherche erzählt die Geschichte eines Ichs, das nach langen und schmerzvollen Umwegen seine Bestimmung findet und zum Schriftsteller wird. Der Roman wird in der ersten Person erzählt, das Ich wird also – wie es in der Ich-Erzählung strukturell notwendig ist – aufgespalten in ein erzählendes und ein erlebendes Ich. Als bedeutsame strukturelle Innovation erweist sich die Erweiterung der klassischen binären Struktur der Ich-Erzählung (mit dem Wechselspiel von erlebendem und erzählendem Ich)49 durch die Einführung einer dritten Ich-Instanz, des sogenannten »je intermédiaire«.50 Das intermediäre Ich ist zeitlich zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich angesiedelt, seine Erinnerungsfähigkeit ist zunächst stark eingeschränkt. Zu Beginn des Textes begegnet dem Leser das Ich als ein Schlafloser, der sich in seinem Bett hin- und herwälzt und sich in einem zwischen Wachsein und Traum schwankenden Zustand an seine Kindheit zu erinnern versucht. Seine Erinnerung wird verglichen mit einem »pan lumineux, découpé au milieu d’indistinctes ténèbres«51 [einer erleuchteten Fläche, die sich abhebt von einer sie umgebenden undurchdringlichen Dunkelheit], das heißt, sie ist fragmentarisch und dekontextualisiert. Ihr Gegenstand ist das sogenannte »drame du coucher« [das Drama des Zubettgehens], welches darin besteht, dass der kleine Junge abends nur einschlafen kann, wenn er von seiner Mutter einen Gute-Nacht-Kuss erhält. Dieser aber wird ihm regelmäßig dann verweigert, wenn die Familie Besuch vom Nachbarn Swann erhält. Eines Abends lehnt der Junge sich gegen die in seinen Augen inhumane Härte der Kussverweigerung auf, indem er so lange aufbleibt, bis seine Eltern zu Bett gehen, um sich mit dem Mute der Verzweiflung auf seine Mutter zu stürzen und den verweigerten Kuss doch noch zu erzwingen. Wider Erwarten wird er für diesen Regelverstoß nicht bestraft, sondern im Gegenteil belohnt: Sein Vater gestattet der Mutter, die Nacht im Zimmer des Jungen zu verbringen. Die ihren Sohn zärtlich liebende Mutter gibt dem Drängen ihres Kindes nach und weicht damit von ihren Erziehungsprinzipien ab, die darauf ausgerichtet sind, der angeblichen Nervenschwäche des Jungen entgegenzuarbeiten. Dem Erzähler erscheint die Handlung der Mutter als »première abdication«52 [erste Abdankung]. 49

50

51 52

Dass es bei Proust eigentlich um den Gegensatz von erinnerndem und erinnertem Ich geht, hat Hans Robert Jauß dargelegt; vgl. Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu«. Ein Beitrag zur Theorie des Romans (1955), Frankfurt/M. 1986. Der Begriff stammt von Marcel Muller, Les voix narratives dans la »Recherche du temps perdu«, Genève 1965. Recherche, Bd. I, S. 43. Ebd., S. 38.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Das »drame du coucher« enthält folgende Elemente: Wir haben es mit einem Ich zu tun, das sich in einer, wie Freud sagen würde, ödipalen Konstellation befindet. Der Sohn begehrt seine Mutter, und ihm gelingt es, die dyadische Beziehung zur Mutter durch den Ausschluss des Vaters zumindest temporär wiederherzustellen. Der Junge leidet unter übersteigerter Trennungsangst, die von den Eltern als Nervenschwäche interpretiert wird. Er rivalisiert mit dem Vater um die Zuneigung und Präsenz der Mutter. Das Ich zeichnet sich nicht durch Aktivität und Stärke, sondern durch Passivität, Schwäche und Angst aus. Es agiert nicht, sondern es reagiert; in seiner aus Angst und Schwäche geborenen Reaktion aber erweist es sich dann paradoxerweise durchaus als situationsmächtig. Wenn das intermediäre Ich sich bei seinen Versuchen, sich die eigene Kindheit zu vergegenwärtigen, zunächst beinahe ausschließlich an das »drame du coucher« zu erinnern vermag, so lässt sich dies als Indiz für eine Traumatisierung53 deuten, die noch das intermediäre Ich selbst betrifft. In der Tat gibt es eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen dem erlebenden und dem intermediären Ich. Beide sind passiv, sie liegen häufig im Bett und nutzen dieses als Ort des Nachdenkens beziehungsweise der Introspektion. Beide haben ein enges Verhältnis zur Mutter. Beide sind in einer deutlich negativen Gemütsverfassung. Beiden tut sich schließlich die Möglichkeit einer unerwarteten Abhilfe durch die Vermittlung der Mutter auf: Während es dem erlebenden Ich gelingt, durch seinen ›Überfall‹ auf die Mutter sich ihrer Präsenz für eine ganze Nacht zu versichern, wird die Erinnerungsblockade des intermediären Ichs durch ein ihm von der Mutter mitsamt einer Tasse Lindenblütentee dargebotenes Gebäckstück, eine Madeleine, aufgehoben. Die sogenannte Madeleine-Episode ist die berühmteste Stelle des Werkes. Der Text führt hier eine poetologische Basisopposition ein, den Gegensatz von »mémoire volontaire« und »mémoire involontaire«.54 Zwar kann das intermediäre Ich sich in abstrakter Form daran erinnern, dass es in Combray noch andere Räume gab und dass dort andere Dinge zu anderen Zeitpunkten passiert sind. Dieses abstrakte Wissen über die Vergangenheit aber erscheint ihm wertlos, denn 53

54

Zur Bedeutung des Traumabegriffs im Zusammenhang mit literarischen Texten vgl. neuerdings die Beiträge in Peter Kuon (Hg.), Trauma et Texte, Frankfurt/M. 2008 (darin auch meinen Aufsatz »Claude Simon et la mémoire traumatisée«, S. 133–149, mit zahlreichen weiterführenden Literaturangaben). Vgl. hierzu grundlegend Karl Hölz, Das Thema der Erinnerung bei Marcel Proust. Strukturelle Analyse der »mémoire involontaire« in »À la recherche du temps perdu«, München 1972.

Das Ich zwischen Restitution und Auflösung bei Proust

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[…] comme ce que je m’en serais rappelé m’eût été fourni seulement par la mémoire volontaire, la mémoire de l’intelligence, et comme les renseignements qu’elle donne sur le passé ne conservent rien de lui, je n’aurais jamais eu envie de songer à ce reste de Combray. Tout cela était en réalité mort pour moi.55 […] da mir das, woran ich mich erinnert hätte, nur von der willkürlichen Erinnerung, der Erinnerung des Verstandes, zur Verfügung gestellt worden wäre und da die Informationen, die diese Erinnerung über die Vergangenheit vermittelt, von ihr nichts bewahren, hätte ich niemals Lust verspürt, an diesen Rest von Combray zu denken. All dies war in Wahrheit tot für mich.

Um die tote, nur noch intellektuell, aber nicht mehr emotional erinnerte und damit nicht authentisch bewahrte Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken, bedarf es einer anderen Form der Erinnerung, der »mémoire involontaire«. Sie ist dem erinnernden Subjekt unverfügbar, denn sie wird ihm nur als Zufallsgeschenk zuteil. Auslöser ist der Geschmackseindruck, der durch den Genuss eines in Lindenblütentee getunkten Gebäckstückes hervorgerufen wird. Indem das intermediäre Ich die in Tee aufgelöste Madeleine zum Gaumen führt, erfährt es ein ungeahntes und ihm unerklärliches Glücksgefühl. Nach einiger vergeblicher Anstrengung gelingt es dem intermediären Ich schließlich, den Grund für dieses Glücksgefühl zu entdecken. Es spürt, wie sich tief in ihm etwas gelöst hat und nun allmählich auf die Ebene der Wahrnehmung und des Bewusstseins (»jusqu’à la surface de ma claire conscience«)56 emporsteigt (diese Metaphorik von Tiefe und Oberfläche erinnert an Freuds Gegensatzpaar Bewusstsein vs. Unbewusstes): »[…] je sens tressaillir en moi quelque chose qu’on aurait désancré, à une grande profondeur; je ne sais ce que c’est, mais cela monte lentement; j’éprouve la résistance et j’entends la rumeur des distances traversées«57 [(…) ich spüre in mir etwas erzittern, als ob man tief unten einen Anker gelöst hätte; ich weiß nicht, was es ist, aber es steigt langsam hoch; ich verspüre den Widerstand und höre das Geräusch der überwundenen Ferne]. Das Geschmackserlebnis ist offenbar an ein ebenso wie es selbst längst vergessenes Erinnerungsbild geknüpft. Durch die Identität zweier Geschmackseindrücke, eines gegenwärtigen und eines vergangenen, wurde das langsame Wiederauftauchen dieses Erinnerungsbildes vorbereitet. Dieser Vorgang kündigt sich durch das besagte ungeahnte Glücksgefühl an. Allerdings dauert es noch eine gewisse Zeit, bis das intermediäre Ich das Erinnerungsbild und seinen Auslöser identifizieren kann. Endlich aber ist es so weit, und aufgrund der Identität zweier Geschmackseindrücke wird die vergessen geglaubte Vergangen55 56 57

Recherche, Bd. I, S. 43. Ebd., S. 46. Ebd., S. 45.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

heit aus dem Inneren des Ichs durch metonymische Assoziation wieder hervorgeholt.58 Die »mémoire involontaire« ist die strukturelle Basis des Proust’schen Romans. Ihre Funktion und ihre Wirkungsweise sind ambivalent, denn sie verdankt sich einerseits einem kontingenten Anlass, ist also Ausdruck für die Unverfügbarkeit der Erinnerung und somit für die gefährdete Identität des Text-Ichs. Insofern kann man die »mémoire involontaire« als literarische Modellierung von Erkenntnissen der experimentellen Psychologie deuten, welche Proust durch seinen Vater kannte.59 Andererseits aber bewirkt die »mémoire involontaire« nicht nur ein außergewöhnliches, alles Diesseitige und Zeitliche scheinbar überwindendes Glücksgefühl, sondern sie ermöglicht es dem erlebenden Ich zudem, sich in ein erzählendes Ich zu verwandeln. Denn nur indem die unwillkürliche Erinnerung auf totalisierende Weise die vergessen geglaubte Vergangenheit restituiert, kann das Ich über den Stoff verfügen, der es ihm ermöglicht, zum Erzähler seines eigenen Lebens zu werden. Insofern würde man zu kurz greifen, wenn man lediglich Analogien zwischen Elementen des Proust’schen Romans und Elementen des zeitgenössischen wissenschaftlichen Wissens betrachten würde. Es ist im Gegenteil stets auch zu bedenken, welche Funktionen diese Elemente im Text übernehmen, das heißt wie sie literarisch codiert werden. Die Verwandlung des erlebenden Ichs in ein erzählendes erfolgt nun nicht schon in der zu Beginn des Romans situierten Madeleine-Episode, sondern erst am Ende, in der Matinée Guermantes, die die »mémoire involontaire« wieder aufgreift und sie theoretisch-poetologisch anreichert und fundiert. Anfang und Ende des gewaltigen Romans stehen somit in einer strukturellen Korrespondenz zueinander. Makrostrukturell wird die verlorene Zeit am Ende wiedergefunden und die verlorene Identität des Protagonisten restituiert. Um die Frage zu beantworten, ob diese Restitution tatsächlich funktioniert, muss man nicht nur die bereits erwähnte Kontingenz berücksichtigen, welcher sich die »mémoire involontaire« verdankt und welche zu der postulierten Identitätsrestitution im Widerspruch steht, sondern man muss auch die Geschichte des Ichs betrachten. Tut man dies, so erkennt man, dass dieses Ich sich unter anderem durch folgende Merkmale auszeichnet: (physische und psychische) Krankheit, Ich-Schwäche, Eifersucht, Beziehungsunfähigkeit, Sensibilität und Beobachtungsgabe, Künstlertum. Wäre die Proust’sche Romankonzeption konventionell, so könnte hier das Schema einer Überwindung und Sublimierung des irdischen Leids in der Kunst – im Sinne einer 58 59

Ebd., S. 46f. Vgl. Bizub, Proust et le moi divisé. Dazu ausführlicher etwas weiter unten.

Das Ich zwischen Restitution und Auflösung bei Proust

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säkularisierten Heilsgeschichte – zur Anwendung kommen.60 Tatsächlich ist es aber so, dass die negativen und leidvollen Erfahrungsanteile dieses Ichs vor allem in seiner Liebesbeziehung zu Albertine einen so breiten Raum einnehmen, dass man hier von einer Verselbständigung sprechen kann. Durch die ruinöse Beziehung zu Albertine wird das Ich in den Selbstverlust und die Selbstauflösung getrieben. Dies wirft aber unweigerlich die Frage auf, inwieweit ein solches Ich mittels der »mémoire involontaire« wieder zu sich selbst finden kann. Man kommt am Ende nicht umhin zu konstatieren, dass sich die Prämissen der Erinnerungspoetik und die Implikationen der AlbertineErfahrung unversöhnlich gegenüberstehen.61 Der Proust’sche Text dekonstruiert somit eine Basisopposition der abendländischen Kultur, nämlich die zwischen Erinnern und Vergessen, und er tut dies unter Berücksichtigung aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse. Bemerkenswert ist die Aufspaltung des Ichs in verschiedene Instanzen. Die Ekstase der »mémoire involontaire« erzeugt ein vorübergehend außerhalb der Zeit stehendes Ich. Diesen Vorgang hat Edward Bizub bezogen auf die Ich-Spaltung, welche in der Psychologie des 19. Jahrhunderts entdeckt worden ist und deren berühmtestes Beispiel die bereits erwähnte Félida X … war.62 Eine Trennung oder Unterscheidung verschiedener Persönlichkeiten 60

61

62

Gérard Genette, »Proust palimpseste«, in: Figures I, Paris 1966, S. 39–67, hier S. 65f., weist auf die in der Recherche zitathaft aufgerufenen Elemente der biblischen Heilsgeschichte hin. Vgl. hierzu ausführlich Rainer Warning, Proust-Studien, München 2000, darin insbes. »Supplementäre Identität: ›Albertine endormie‹« (1988), S. 77–107. Zu Félida X … vgl. Proust et le moi divisé, S. 25ff. Prousts Vater Adrien hat als Mediziner selbst einen unter Persönlichkeitsspaltung leidenden Patienten namens Émile X … behandelt (S. 113ff.). Als »licencié en philosophie« und als Sohn eines Arztes, dessen Arbeit von Koryphäen wie Charcot und Janet geschätzt wurde, besaß Proust, so Bizubs These, hinreichendes Interesse an der experimentellen Psychologie, um sie in seinem Roman fiktional zu bearbeiten. So deutet Bizub die »mémoire involontaire« als »résultante de l’élaboration complexe qui, moyennant l’assimilation de certaines des investigations accomplies dans le champ de la psychologie expérimentale, a conduit la fiction proustienne à configurer à sa façon les efforts déployés pour traquer et sonder les manifestations intermittentes d’un autre moi« [Ergebnis des komplexen Verarbeitungsprozesses, welcher mittels der Aneignung gewisser Forschungsergebnisse aus dem Bereich der experimentellen Psychologie die Proust’sche Fiktion dazu brachte, die unternommenen Versuche, den intermittierenden Ausdrucksformen eines anderen Ichs auf die Schliche zu kommen, auf ihre eigene Weise zu konfigurieren] (S. 274). Bereits einige Jahre vor Bizub hat Ulla [d. i. Ursula] Link-Heer in der konzentrierten Form eines Aufsatzes auf diese Zusammenhänge hingewiesen: »Pastiches und multiple Persönlichkeiten. Proust: Eine Vater-Sohn-Geschichte«, in: Marianne Schuller/Claudia Reiche/ Gunnar Schmidt (Hg.), BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

oder Instanzen des Ichs findet sich in Prousts Werk an zahlreichen Stellen. Zum einen ist diese Trennung strukturell verankert mittels der Drei-Ebenen-Struktur (erzählendes und erlebendes Ich, intermediäres Ich als Subjekt der unfreiwilligen Erinnerung);63 zum anderen wiederholt sich die Erfahrung der »mémoire involontaire« in verschiedener Gestalt (die Kirchtürme von Martinville, die Bäume von Hudimesnil usw.). Dabei geht es nicht nur um zeitliche, sondern auch um räumliche Spaltungen.64 Schließlich ist es auch so, dass das Ich sich unterschiedlich verhält, je nachdem, ob es einsam oder in Gesellschaft ist. Über solche Unterschiede stellt der Proust’sche Erzähler eine ausführliche Reflexion an. Beispielsweise verhält sich der junge Mann, der sich in Albertine verliebt hat und nichts sehnlicher wünscht, als ihr zu begegnen und sie kennenzulernen, in dem Moment, in dem er die Möglichkeit hat, seinen Wunsch endlich zu realisieren, völlig gegenläufig zu seinem Wunsch, das heißt, er spielt in der Gesellschaft eine bestimmte Rolle, er heuchelt Indifferenz, wo er eigentlich getrieben ist von einem brennenden Begehren. Ein weiteres Beispiel für die Aufspaltung des Ichs ist die Tatsache, dass der Erzähler und Protagonist in seiner Intimbeziehung zu Albertine Liebe und Begehren am stärksten dann empfindet, wenn Albertine abwesend ist und er fürchtet, dass sie sich ihm entzieht. Ist sie dagegen anwesend und steht ihm zur Verfügung, so schwindet sein Begehren, und er möchte sich am liebsten von ihr trennen. Proust modelliert also ein Ich, das sich selbst niemals voll gegenwärtig ist. Es kann die Gegenwart niemals ungehindert erleben und genießen. Sein Bezug zur Welt ist nur als vermittelter Bezug möglich, als Erinnerung oder Wunschvorstellung, als Begehren nach etwas

63

64

Medizin, Hamburg 1998, S. 169–183. Bizub besaß offenbar keine Kenntnis von Link-Heers Untersuchung, denn er behauptet fälschlicherweise: »Alors que de nombreux travaux critiques s’intéressent aujourd’hui aux interactions entre la littérature et le contexte scientifique dans lequel celle-ci voit le jour, aucun n’avait encore sondé le thème du moi divisé dans l’œuvre proustienne en prenant en considération le champ des connaissances psychologiques qui ont présidé à son élaboration.« [Während sich heutzutage zahlreiche Studien für die Wechselwirkungen zwischen der Literatur und dem wissenschaftlichen Kontext, in dem sie entsteht, interessieren, hat bisher noch keine das Thema des gespaltenen Ichs in Prousts Werk untersucht und dabei das Feld der psychologischen Erkenntnisse, die bei der Ausarbeitung dieses Themas Pate gestanden haben, mit in Betracht gezogen.] (S. 272) Zur Drei-Ebenen-Struktur vgl. grundlegend Ursula Link-Heer, Prousts »À la recherche du temps perdu« und die Form der Autobiographie, Amsterdam 1988. Dass die Spaltung des Ichs sich nicht nur in der zeitlichen, sondern auch in der räumlichen Dimension vollzieht, hat Georges Poulet, L’espace proustien, Paris 1963, herausgearbeitet.

Das Ich zwischen Restitution und Auflösung bei Proust

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Abwesendem. Da dieses Ich aber das Begehren hat, die Welt zu besitzen, ist es gezwungen, das, was ihm nicht zur Verfügung steht, beherrschbar zu machen, indem es ein Kunstwerk schafft. Die Erkenntnis, wie ein solches Kunstwerk zu schaffen ist, gewinnt der Protagonist in der Matinée Guermantes. Hier erfährt er eine ganze Serie von ihn beglückenden Erinnerungsekstasen, und ihm wird klar, dass er sein in der Erinnerung wieder auferstandenes Leben zum Gegenstand eines schriftstellerischen Werkes machen muss. Er entwickelt eine Theorie dieses von ihm zu schreibenden Werkes. Sie hängt eng mit seiner Auffassung von Wirklichkeit zusammen, die er nicht vom Objekt, sondern vom Subjekt her begreift. Wirklichkeit bedeutet für ihn nicht die Oberfläche der Erscheinungen (im Sinne einer »littérature de notations«),65 sondern eine Kombination aus Wahrnehmungen, Empfindungen, Zuständen und Plänen, die sich in einem Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt vereinen. Die Objekte erhalten durch diese Konfrontation mit den Eindrücken eines wahrnehmenden Subjekts eine ganz neue Bedeutung, die ihre bloße Objekthaftigkeit weit überschreitet, sie verwandeln sich durch die subjektive Aneignung, und erst dadurch entsteht Wirklichkeit: Une heure n’est pas qu’une heure, c’est un vase rempli de parfums, de sons, de projets et de climats. Ce que nous appelons la réalité est un certain rapport entre ces sensations et ces souvenirs qui nous entourent simultanément – rapport que supprime une simple vision cinématographique, laquelle s’éloigne par là d’autant plus du vrai qu’elle prétend se borner à lui – rapport unique que l’écrivain doit retrouver pour en enchaîner à jamais dans sa phrase les deux termes différents. On peut faire se succéder indéfiniment dans une description les objets qui figuraient dans le lieu décrit, la vérité ne commencera qu’au moment où l’écrivain prendra deux objets différents, posera leur rapport, analogue dans le monde de l’art à celui qu’est le rapport unique de la loi causale dans le monde de la science, et les enfermera dans les anneaux nécessaires d’un beau style. Même, ainsi que la vie, quand en rapprochant une qualité commune à deux sensations, il dégagera leur essence commune en les réunissant l’une et l’autre pour les soustraire aux contingences du temps, dans une métaphore. La nature ne m’avait-elle pas mis elle-même, à ce point de vue, sur la voie de l’art, n’était-elle pas commencement d’art elle-même, elle qui ne m’avait permis de connaître, souvent longtemps après, la beauté d’une chose que dans une autre, midi à Combray que dans le bruit de ses cloches, les matinées de Doncières que dans les hoquets de notre calorifère à eau? Le rapport peut être peu intéressant, les objets médiocres, le style mauvais, mais tant qu’il n’y a pas eu cela, il n’y a rien.66

65 66

Recherche, Bd. IV, S. 473. Ebd., S. 467f.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde, sie ist ein Gefäß voller Düfte, Klänge, Pläne und Wetterzustände. Was wir Wirklichkeit nennen, ist ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Empfindungen und den Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben – ein Verhältnis, welches durch eine bloße kinematographische Sichtweise zerstört wird, welche sich umso weiter von der Wahrheit entfernt, je mehr sie vorgibt, sich auf die Wahrheit zu beschränken – ein einzigartiges Verhältnis, welches der Schriftsteller wiederherstellen muss, um in seinem Satzbau auf ewig die beiden unterschiedlichen Terme miteinander zu verketten. Man kann in einer Beschreibung die Gegenstände, welche sich an dem beschriebenen Ort befanden, beliebig aneinanderreihen, die Wahrheit wird erst dann zum Vorschein kommen, wenn der Schriftsteller zwei unterschiedliche Gegenstände nimmt, das zwischen ihnen bestehende Verhältnis definiert, welches in der Welt der Kunst demjenigen Verhältnis analog ist, welches das einzigartige Kausalgesetz in der Welt der Wissenschaft darstellt, und wenn er sie in die notwendigen Ringe eines schönen Stils einschließt. Sogar wenn er, genau wie das Leben, ein Merkmal, welches zwei unterschiedlichen Empfindungen gemeinsam ist, heranholt und ihre gemeinsame Essenz sichtbar macht, indem er sie miteinander vereinigt, um sie den Kontingenzen der Zeit zu entziehen mittels einer Metapher. Hatte nicht die Natur selbst mich diesbezüglich auf den Weg zur Kunst gebracht? War sie nicht selbst schon der Anfang der Kunst, sie, die mir oft erst sehr viel später gestattet hatte, die Schönheit einer Sache in einer anderen zu erkennen, den Mittag in Combray erst im Klang seiner Glocken, den Morgen von Doncières erst im Schluckauf unserer Heizung? Der Bezug mag wenig interessant sein, die Gegenstände mittelmäßig, der Stil schlecht, aber solange es nicht wenigstens das gegeben hat, gibt es gar nichts.

Die Realität wird hier nicht als Summe von Objekten aufgefasst, sondern als Relationierung von bestimmten Objekten mit einem wahrnehmenden Subjekt. Geleistet wird diese Relationierung durch Sinneseindrücke (»sensations«). Solche Relationierung (»rapport«) gilt es zu erfassen, und zwar im Sinne einer Wiederentdeckung (»retrouver«), also einer Erinnerung. Man darf ja nicht vergessen, dass, wenn der Text hier allgemein vom Schriftsteller spricht, eigentlich konkret der Held des Romans gemeint ist, der zum Schriftsteller werden soll, indem er sich an sein eigenes Leben erinnert – und nicht etwa die Welt der Objekte ›kinematographisch‹ abbildend beschreibt, sondern sich ihrer erinnernd vergegenwärtigt, so wie sie sich in seinem damaligen Bewusstsein in Form von Sinneseindrücken gespiegelt haben. Nach der Wiederentdeckung der einstmals vorhandenen »rapports« zwischen dem Ich und den Objekten müssen diese »rapports« sprachlich festgehalten werden. Interessanterweise wird hier das Verb »enfermer« verwendet, es soll also etwas eingeschlossen werden (so wie auch Albertine gefangengenommen wird, sodass diese zu einer Allegorie der Poetik des Romans wird,67 was allerdings dann wiederum auf das Scheitern dieser Poetik hinweist, weil das 67

Zur allegorischen Funktion Albertines vgl. auch Ingrid Veltkamp, Marcel Proust. Eifersucht und Schreiben, München 1987, S. 98.

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Fluchtwesen Albertine sich nicht fesseln lässt). Die Einschließung bedient sich der »anneaux nécessaires d’un beau style«. In dieser Formulierung verbirgt sich schon jene sprachliche Ausdrucksform, die im Folgenden genannt wird, nämlich die Metapher.68 Sie erweist sich als Äquivalent einer Erfahrung, die das Leben/die Natur dem angehenden Autor bereits zuteil werden ließ: Die Metapher funktioniert genauso wie jene Erfahrung der »mémoire involontaire«, die ein Heraustreten aus der Zeit bewirkte. Die Analogie von Metapher und »mémoire involontaire« soll etwas ausführlicher erläutert werden. Eine Metapher setzt, wie wir wissen, zwei Elemente – Tenor und Vehikel – zueinander in Bezug, dergestalt, dass das eine durch das andere ersetzt werden kann. Grundlage für die Ersetzung ist ein Ähnlichkeitsbezug (similitudo), das heißt eine Schnittmenge gemeinsamer semantischer Merkmale zwischen zwei Ausdrücken. Nehmen wir das schon zitierte Beispiel: »les anneaux […] d’un beau style«, so gilt es zunächst den Tenor (»beau style«) vom Vehikel (»anneaux«) zu unterscheiden. »Style« wird im Petit Robert wie folgt definiert: »Aspect de l’expression chez un écrivain, dû à la mise en œuvre de moyens d’expression dont le choix résulte, dans la conception classique, des conditions du sujet et du genre, et dans la conception moderne, de la réaction personnelle de l’auteur en situation.« [Aspekt des Ausdrucks bei einem Schriftsteller, der sich der Anwendung von Ausdrucksmitteln verdankt, deren Wahl in der klassischen Vorstellung sich aus den Bedingungen des Themas und der Gattung ergibt und in der modernen Vorstellung aus der persönlichen Reaktion des jeweiligen Autors.] Stil ist also eine für eine Textsorte oder einen Autor charakteristische Summe von typischen Merkmalen beziehungsweise sprachlichen Verfahren, die die Textsorte oder die Texte des Autors wiedererkennbar machen. »Anneau« bedeutet dagegen: »Cercle de matière dure qui sert à attacher ou retenir.« [Kreisförmiges Gebilde aus hartem Material, welches dazu dient, etwas zu befestigen oder festzuhalten.] Die beiden Begriffe passen somit semantisch nicht zusammen, der eine bezeichnet einen konkreten Gegenstand, der andere ein abstraktes Bündel von sprachlichen Merkmalen. Aus dem Kontext geht hervor, dass es auf der primären, wörtlichen Ebene um den Stil geht. Daraus folgt, dass »anneau« nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn verwendet wird. Nun werden der Tenor »style« und das Vehikel »anneau« hier gleichzeitig verwendet und syntaktisch eng aneinander gekoppelt. Es handelt sich um eine Metapher in praesentia (›Genitivmetapher‹). Nun ist die Frage zu stellen: Worin besteht die Schnittmenge semantischer Merkmale, die die Lexeme »style« 68

Vgl. hierzu ausführlich Roderich Billermann, Die »métaphore« bei Marcel Proust. Ihre Wurzeln bei Novalis, Heine und Baudelaire, ihre Theorie und Praxis, München 2000.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

und »anneau« gemeinsam haben? Auf den ersten Blick scheint es schwierig zu sein, solche Ähnlichkeiten zu erkennen. Doch hilft uns der Kontext mit dem Verb »enfermer« und dem Adjektiv »beau«. Mit den Lexemen »enfermer« und »anneau« wird eine Isotopie des Festhaltens/Fixierens gebildet, sodass dem Wort »style« damit ebenfalls eine solche Qualität zugeschrieben wird. Das ist auch insofern plausibel, als »style« etymologisch so viel wie ›Griffel‹ bedeutet, also ein Instrument für Einschreibungen und Einritzungen bezeichnet. Die Metapher »les anneaux d’un beau style« beruht somit auf dem Tenor und Vehikel gemeinsamen semantischen Merkmal Festhalten – Fixieren – Einschreiben – Auf-Dauer-Stellen. Hinzu kommt im Zusammenhang mit dem Lexem »beau« eine zweite Isotopie, an der auch »anneau« in der Bedeutung ›Schmuckstück‹ partizipiert: Das gemeinsame Merkmal ist hier das Schöne. Durch die komplexe Metapher »les anneaux […] d’un beau style« werden also die Merkmale Schönheit und Dauer als notwendige Merkmale der Kunst miteinander verbunden, und zwar, indem semantische Teilmerkmale herausgegriffen und auf ihrer Grundlage eine Gleichsetzung heterogener Ausdrücke vorgenommen wird. Das, was ausgesagt wird, wird somit zugleich auf der sprachlichen Ebene selbst ikonisierend vollzogen. Was hat dies nun mit der »mémoire involontaire« zu tun? Auch hier werden, wie wir gesehen haben, zwei Elemente, zwei Zeitebenen miteinander in einen identifizierenden Bezug gesetzt, was dadurch möglich wird, dass ein Teilaspekt (eine »impression«) beiden Zeitebenen gemeinsam ist. Die gemeinsame Schnittmenge erlaubt die Gleichsetzung, was sogar so weit geht, dass der Protagonist momentan gar nicht mehr weiß, auf welcher Zeitebene er sich befindet (»jusqu’à faire empiéter le passé sur le présent, à me faire hésiter à savoir dans lequel des deux je me trouvais«).69 Die Metapher fungiert als sprachliches Äquivalent dieser Erfahrung, weil sie eine analoge Struktur aufweist und weil sie dadurch die »mémoire involontaire« ikonisierend abbilden kann. Sie ist also nicht ein arbiträres Zeichen für eine außersprachliche Wirklichkeit, sondern sie bildet in sich die »rapports« ab, die in der »mémoire-involontaire«-Erfahrung vorhanden sind, und wird dadurch zum motivierten Zeichen dieser Erfahrung.70 69 70

Recherche, Bd. IV, S. 450. Vgl. hierzu auch Angelika Corbineau-Hoffmann, Beschreibung als Verfahren. Die Ästhetik des Objekts im Werk Marcel Prousts, Stuttgart 1980, S. 146: »Beschreibung als Verfahren der simultanen ›Schichtung‹ von Elementen entspricht in idealer Weise der Struktur der ›mémoire involontaire‹, in der sich Vergangenheit und Gegenwart, Hier und Woanders überlagern. Daß der beschreibende Text den beschriebenen Gegenstand an einen – im Text metaphorisch bezeichneten – erinnerten bindet, konstituiert die für die Recherche signifikante Ästhetik des Objekts.«

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Die eine Tendenz dieses Werkes besteht also darin, dass das verlorene Ich sich selbst wiedergewinnt, indem es die Vergangenheit mittels der »mémoire involontaire« wieder aufleben lässt und sie in ein Kunstwerk verwandelt und damit bewahrt. Dieser Tendenz steht jedoch eine gegenläufige Tendenz gegenüber. Es wurde ja schon darauf hingewiesen, dass die Albertine-Erfahrung eine sehr negative ist. In der Begegnung mit der rätselhaften Albertine verliert sich der liebende Protagonist. Dies zeigt sich insbesondere nach der Flucht und dem Unfalltod der Geliebten in Albertine disparue. Der Leidende, dessen Begehren und Eifersucht sich ins Unermessliche steigern, weil eine Erfüllung seines Begehrens ja nun definitiv nicht mehr möglich ist, durchlebt seine Beziehung zu Albertine noch einmal in der Erinnerung, und zwar zeitlich gegenläufig. In diesem Prozess erfolgt eine allmähliche Ablösung des Ichs vom Gegenstand seines Begehrens. Diese Ablösung wird ermöglicht durch Vergessen. Der Prozess des Vergessens wird beschrieben als die allmähliche Ersetzung der im Ich vorhandenen Teil-Ichs durch neue Teil-Ichs (»moi de rechange«).71 Im Zuge dieser Ersetzung des alten Ichs durch ein neues Ich entsteht das Bewusstsein für die Nichtidentität des Ichs mit sich selbst: […] ma vie m’apparut comme quelque chose de si dépourvu du support d’un moi individuel identique et permanent, […], quelque chose que la mort pourrait aussi bien terminer ici ou là, sans nullement le conclure, que ces cours d’histoire de France qu’en rhétorique on arrête indifféremment, selon la fantaisie des programmes ou des professeurs, à la Révolution de 1830, à celle de 1848, ou à la fin du Second Empire.72 […] mein Leben erschien mir als etwas, dem die Basis eines identischen und dauerhaften individuellen Ichs so sehr fehlte, […] als etwas, das der Tod ebensosehr hier oder da beenden könnte, ohne es in irgendeiner Weise abzuschließen, wie jene Lektionen zur Geschichte Frankreichs, die man im Rhetorikunterricht nach Belieben, gemäß den Vorstellungen des Programms oder der Lehrer, bei der Revolution von 1830 beendet, bei der von 1848 oder beim Ende des Zweiten Kaiserreichs.

Diese Infragestellung der Identität des Ichs ist so radikal, dass sie nicht mehr verrechenbar ist mit der Konzeption einer Wiedergewinnung des Ichs und einer Identitätskonstitution durch die »mémoire involontaire«. Der Proust’sche Roman führt uns also ein Ich vor, das nicht Herr seiner selbst ist und das nur im Medium des Schreibens existieren kann. Die Abkehr von der Praxis des Abbildungsrealismus des 19. Jahrhunderts wird hier, wie auch bei Pirandello, verbunden mit einer Reflexion des Ichs auf sich selbst. Dabei kommt 71 72

Recherche, Bd. IV, S. 174. Ebd., S. 173f.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

es zu einer Darstellung von Problemen des Ichs, die viele Analogien aufweist mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse, ohne dass dadurch die Differenz zwischen Literatur und Wissenschaft aufgehoben würde.73 Wie schon bei Pirandello (und auch bei vielen anderen in dieser Studie betrachteten Autoren literarischer Werke) gezeigt wurde, ist es nicht die Funktion der Literatur in der Moderne, Lösungen für lebensweltliche Probleme zu entwickeln, sondern diese Probleme durch ästhetische Gestaltung sichtbar zu machen. Dabei kommt es zu je unterschiedlichen Relationierungen zwischen Literatur und Wissenschaft. Zu stellen ist nun die Frage, wie der Proust’sche Roman selbst das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft definiert. In der Poetik, die der Erzähler in Le temps retrouvé entwickelt, vergleicht er den Künstler beziehungsweise den Schriftsteller mit dem Wissenschaftler.74 73

74

Zur Nähe von Prousts Recherche zur Psychoanalyse vgl. Rainer Warning, »Vergessen, Verdrängen und Erinnern in der Recherche« (1993), in: ders., Proust-Studien, S. 141–177, hier S. 158, der Prousts Recherche und Freuds Aufsatz »Trauer und Melancholie« als »verschiedene Manifestationen eines identischen Tiefendiskurses« im Sinne Foucaults betrachtet. Gregor Schuhen, »Biopolitische Schwelle um 1900. Prousts Ars erotica zwischen Psychopathologie und Psychoanalyse«, in: Walburga Hülk/Ursula Renner (Hg.), Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 243–259, spricht von Prousts »interdiskursive[r] Nähe« zur Psychoanalyse (S. 249). Es sei biographisch belegt, dass Proust von Freud nichts gelesen habe (ebd.). Doch entwickle Proust aus seiner Kenntnis der Psychopathologie heraus Konzeptionen, die denen der Psychoanalyse teilweise sehr nahe kämen. Insbesondere Warning insistiert jedoch auch auf der unhintergehbaren Differenz zwischen Prousts literarischem Werk und dem Diskurs der Psychoanalyse. Zu Prousts Verhältnis zur Wissenschaft vgl. Nicola Luckhurst, Science and Structure in Proust’s »À la recherche du temps perdu«, Oxford 2000; Allen Thiher, »Proust and the End of Epistemic Competition«, in: Fiction Rivals Science. The French Novel from Balzac to Proust, Columbia/London 2001, S. 167–210; ders., »Proust, Poincaré, and Contingency«, in: Fiction Refracts Science. Modernist Writers from Proust to Borges, Columbia/London 2005, S. 100–134; François Vannucci, Marcel Proust à la recherche des sciences, Paris 2005. Luckhurst liest – ausgehend von einer Beobachtung Virginia Woolfs, wonach sich in Prousts Roman ein »doppelter Blick« manifestiere, der des Dichters und der des Wissenschaftlers (S. 2) – die Recherche als einen Text, dessen essayistisch-maximenhafte, auf der Tradition der französischen Moralistik fußende Komponente aufgrund der Instabilität und Dynamik der Sentenzen umschlage in eine der zeitgenössischen Epistemologie affine wissenschaftliche Haltung. »Rather than presenting a collection of polished maxims, the end-products of sententiousness, the text displays the processes by which such formulations are reached, forming an enquiry into the desire for truths, performing an interrogation of intellectual method.« (S. 3) Thiher vertritt in seinen beiden Veröffentlichungen die These, dass die für das 19. Jahrhundert charakteristische Rivalität zwischen Literatur und Wissenschaft mit Proust beendet werde. Für Proust sei der

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Dieser Vergleich steht im Kontext einer Reflexion über die ästhetische Autonomie der Kunst. Erwähnt wird Maurice Barrès, der gesagt habe, dass es die Aufgabe des Künstlers sei, dem Ruhm seines Vaterlandes zu dienen. Diese Aufgabe, so der Erzähler, könne der Künstler aber nur erfüllen, indem er Künstler sei, »c’est-à-dire qu’à condition, au moment où il étudie ces lois, institue ces expériences et fait ces découvertes, aussi délicates que celles de la science, de ne pas penser à autre chose – fût-ce à la patrie – qu’à la vérité qui est devant lui«75 [das heißt nur unter der Bedingung, dass er, wenn er diese Gesetze studiert, diese Experimente durchführt und diese Entdeckungen macht, welche genau so heikel sind wie die der Naturwissenschaft, an nichts anderes denkt – auch nicht an das Vaterland – als an die Wahrheit, der er sich gegenübersieht]. Die Kunst wird also hier mit der Wissenschaft gleichgesetzt; der Künstler sei der Wahrheit genauso verpflichtet wie der Wissenschaftler, unter Absehung von allen anderen Interessen. Auch in der vorhin schon zitierten Stelle, in welcher Wirklichkeit definiert wurde als eine Verbindung zwischen Elementen der Außenwelt und inneren Empfindungen und Erinnerungen, wird die Tätigkeit des Künstlers mit der des Wissenschaftlers verglichen, indem der vom Künstler zu entdeckende und darzustellende Bezug (»rapport«) zwischen zwei Elementen mit dem Kausalgesetz in der Naturwissenschaft analogisiert wird. Entsprechend der Auffassung, wonach der Schriftsteller eine Art Wissenschaftler sein soll, unternimmt es der Erzähler in seinem Text, Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien zu entdecken und zu beschreiben. Zwei wichtige Bereiche, in denen er solche Gesetzmäßigkeiten freilegt, sind die Verhaltensweisen der Menschen in der Gesellschaft (»le monde«) und in Intimbeziehungen (»l’amour«). Proust steht hier in der Tradition der französischen Mo-

75

literarische Text ein eigener, jenseits der Wissenschaft angesiedelter Erkenntnismodus. »In his novel, Proust wants to find a space in which poetic salvation can be achieved in spite of the relentless reduction of the world, by science and by naturalism, to a world that can be described, if not explained, by deterministic laws. Proust does this by redefining the epistemic function of literature by drawing directly upon scientific epistemology to justify his demonstration that literature can have access to realms that science cannot describe. With this demonstration using science’s own epistemology, Proust’s novel presents a way of ending the sense of rivalry literature had felt with science.« (»Proust and the End of Epistemic Competition«, S. 170) Vannucci zufolge werden Kunst und Wissenschaft in der Recherche als komplementäre Erkenntnismodi zusammengeführt (so wie die beiden »côtés« durch das Kind von Gilberte und Robert de Saint-Loup miteinander verbunden werden), die eine ganzheitliche Erfassung der Welt ermöglichen (S. 186). Recherche, Bd. IV, S. 467.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

ralistik, die auf einer negativen Anthropologie beruht.76 Der Mensch gilt als fremdbestimmt durch die Gewalt des ihm innewohnenden »amour-propre«. Dieser treibe den Menschen dazu, nach Anerkennung zu streben, dabei aber die Motive seines Bestrebens zu verbergen. Selbst altruistische Verhaltensweisen seien somit in Wirklichkeit nur verkleidete Versuche des »amourpropre«, die Anerkennung der anderen zu finden. Insofern kann man sagen, dass das soziale Ich in permanenter Täuschung und Simulation zu leben gezwungen ist. Dieser Auffassung entspricht es, wenn Proust zwischen einem »moi social« und einem »moi profond« unterscheidet. Das Ich könne in der Gesellschaft niemals sein wahres Gesicht zeigen, es müsse sich permanent verstellen und sei daher inauthentisch. Nur in der Einsamkeit sei das Ich bei sich selbst, und es gebe nur eine Möglichkeit, dieses authentische Selbst zu Wort kommen zu lassen, nämlich in der Kunst. Was bei Proust für die gesellschaftlichen Interaktionen gilt, bestimmt auch den Bereich der Intimbeziehungen.77 Je stärker man ein Liebesobjekt begehrt, desto größer ist zugleich die Angst, es zu verlieren. Diese Angst will der Liebende jedoch keinesfalls nach außen kehren, weil er befürchtet, dass er dann verletzt werden könnte und dass er den von ihm gefürchteten Verlust des Liebesobjekts beschleunigt herbeiführen würde. Unter diesen Bedingungen ist der Liebende gezwungen, seine wahren Gefühle zu verbergen, was zu der paradoxen Situation führt, dass (a) ein Liebender erst dann wirklich liebt, wenn er Verlustangst empfindet und (b) dass er seine Liebe dem geliebten Objekt gegenüber verbirgt, indem er Indifferenz, Überdruss oder gar Grausamkeit an den Tag legt. Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Liebe gilt somit, dass Wünsche niemals (zur richtigen Zeit) erfüllt werden. Als Swann Odette kennenlernt und sie sich ihm gegenüber sehr aufgeschlossen zeigt, legt er keinen gesteigerten Wert auf ihre Präsenz. Als sie sich ihm aber zu entziehen droht und er Verlustangst empfindet, wird er von heftiger Eifersucht erfasst und versucht, sie an sich zu fesseln, worauf sie jedoch mit Fluchtversuchen reagiert. Nach einem langen schmerzvollen Prozess gelingt es Swann schließlich, sich von Odette zu lösen. Am Ende versteht er selbst nicht mehr, wieso er Jahre seines Lebens für eine Frau verschwendet hat, die gar nicht seinem Schönheitsideal entspricht. »Dire que j’ai gâché des années de ma vie, que j’ai voulu 76

77

Prousts Rekurs auf die Moralistik wurde untersucht von Rainer Warning, »Proust und die Moralistik« (1997), in: ders., Proust-Studien, S. 35–50, und von Luckhurst, Science and Structure, S. 13–30. Vgl. hierzu allgemein Friedrich Balke/Volker Roloff (Hg.), Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, München 2003 (darin auch mein Beitrag »Kontingenz und Aura. Metamorphosen der romantischen Liebe bei Benjamin Constant und Marcel Proust«, S. 157–174).

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mourir, que j’ai eu mon plus grand amour, pour une femme qui ne me plaisait pas, qui n’était pas mon genre!«78 [Dass ich Jahre meines Lebens verschwendet habe, dass ich habe sterben wollen, dass meine größte Liebe einer Frau galt, die mir nicht gefiel, die nicht mein Typ war!] Gemäß der Logik der Proust’schen Psychologie ist es nur konsequent, dass Swann diese Frau, nachdem sie ihm gleichgültig geworden ist, heiratet. Jetzt, da er sie nicht mehr begehrt, steht sie ihm immer zur Verfügung. Analoge Gesetzmäßigkeiten gelten im Bereich der gesellschaftlichen Beziehungen. Swann verkehrt in den höchsten Pariser Adelskreisen. Er ist Mitglied des Jockey Clubs, dem auch der Prince of Wales angehört. Er ist mit der Herzogin von Guermantes befreundet und ist gerngesehener Gast in ihrem Salon. Eines aber bleibt ihm nach seiner Heirat mit Odette verwehrt: Da sie in dem Ruf steht, eine ehemalige Kurtisane zu sein, darf er sie niemals in den Salon der Herzogin von Guermantes mitbringen. Sie gilt als gesellschaftlich nicht angemessene Partnerin. Dieselbe Odette aber findet nach Swanns Tod ohne Weiteres Zugang zu den Kreisen der Guermantes. Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu demonstrieren, wie sehr in der Proust’schen Welt das Begehren und seine Erfüllung auseinanderklaffen. Diese Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, macht sich der Erzähler anheischig; darin gleicht seine Aufgabe der des Wissenschaftlers. Diese seine nomologische Tätigkeit ist jedoch zugleich auch durch die literarische Tradition der französischen Moralistik geprägt, das heißt, es liegt eine doppelte Determinierung des Schreibens vor. Die Kunst wird nun andererseits, wie wir gesehen haben, als ein Bereich definiert, in dem die lebensweltlich unmöglich gewordene Einheit von Ich und Welt wiederhergestellt werden soll. Das Ich soll in der Kunst zu sich selbst finden. Die Kontingenz des Lebens und der Sterblichkeit soll überwunden werden. Die Essenz des Daseins soll durch die Kunst entdeckt und bewahrt werden. Gleichzeitig soll das Kunstwerk, welches der Erzähler sich zu schreiben vornimmt, sich auf das Leben des Erzählers beziehen, das heißt, das zu Überwindende soll integraler Bestandteil des es überwindenden Kunstwerks sein. Insofern besitzt dieses Werk von Anfang an den Status des Hybriden. Diese Hybridität wurde in der Forschung als historische Signatur des Textes gedeutet, der ja an der Schwelle zwischen dem im 19. Jahrhundert dominierenden Paradigma des Gesellschaftsromans und dem im 20. Jahrhundert dominierenden Paradigma des Bewusstseinsromans steht.79 Die Struktur des Romans ist gekennzeichnet von zahlreichen Brüchen. So haben 78 79

Recherche, Bd. I, S. 375. Zum historischen Schwellencharakter der Recherche vgl. Antoine Compagnon, Proust entre deux siècles, Paris 1989.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

wir den Bruch zwischen einem Ich-Erzähler mit eingeschränkter Perspektive und einem Er-Erzähler, der alles über die von ihm dargestellte Welt weiß.80 Wir haben den Widerspruch zwischen einem Erzähler, der behauptet, dass ein literarisches Werk, welches Theorien enthalte, wie ein Gegenstand sei, an dem noch das Preisschild hänge,81 und einem Werk, welches selbst voller Theorien steckt. Wir haben ein Werk, dessen Erzähler beansprucht, dieses Werk aus der eigenen Erinnerung zu erschaffen, und eine Geschichte, in der die Erinnerung des Helden zunehmend durch das Vergessen gefährdet wird. Schließlich haben wir die Widersprüchlichkeit eines Werkes, das einerseits vollendet, andererseits aber unvollendet ist. Zu all diesen Widersprüchen – die Liste ist nicht vollständig – kommt nun noch derjenige zwischen der Gleichsetzung des literarischen Werkes mit einem wissenschaftlichen Unternehmen und der Tatsache, dass die Wissenschaft zugleich auch infrage gestellt wird, hinzu. Die Gleichsetzung findet sich nicht nur in den bereits erwähnten poetologischen Reflexionen von Le temps retrouvé, sondern auch etwa in folgender Stelle aus Le côté de Guermantes: Et j’arrivais à me demander s’il y avait quelque vérité en cette distinction que nous faisons toujours entre l’art, qui n’est pas plus avancé qu’au temps d’Homère, et la science aux progrès continus. Peut-être l’art ressemblait-il au contraire en cela à la science; chaque nouvel écrivain original me semblait en progrès sur celui qui l’avait précédé […].82 Und ich zog schließlich in Zweifel, dass jene Unterscheidung, die wir immer zwischen der Kunst, die immer noch nicht weiter gekommen sei als zu Zeiten Homers, und der Wissenschaft mit ihren ständigen Fortschritten machen, etwas Wahres an sich habe. Vielleicht ähnelte hierin die Kunst im Gegenteil ja der Wissenschaft; jeder neue und originelle Schriftsteller, so schien es mir, erreichte einen Fortschritt gegenüber jenem, der ihm vorangegangen war […].

Hier wird die Kunst mit der Wissenschaft hinsichtlich des Merkmals eines möglichen Fortschritts gleichgesetzt. In unmittelbarer Nähe zu der zitierten Stelle wird der Künstler mit einem Augenarzt verglichen, der durch sein teilweise den Eindruck einer schmerzhaften Behandlung machendes Wirken den Augen einen neuen Blick auf die Welt ermögliche.83 Dies erinnert stark an die etwa gleichzeitig entstandenen Theorien der russischen Formalisten, denen zufolge das Kunstwerk einen deautomatisierenden und somit völlig 80

81 82 83

Vgl. hierzu Link-Heer, Prousts »À la recherche du temps perdu« und die Form der Autobiographie. Recherche, Bd. IV, S. 461. Bd. II, S. 624. Ebd., S. 623.

Das Ich zwischen Restitution und Auflösung bei Proust

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neuen Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht.84 Die Dialektik von Deautomatisierung und Automatisierung führt zu literarischer Evolution und damit zu so etwas wie künstlerischem Fortschritt.85 Dennoch wäre es verfehlt, aus Prousts metaphorischer Gleichsetzung von Kunst und Wissenschaft den Schluss zu ziehen, dass es für ihn keinen Unterschied zwischen den beiden Bereichen gebe. 84

85

Vgl. Viktor Sˇklovskij, »Die Kunst als Verfahren« (1916), in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 41988, S. 3–35, hier S. 15: »Die Automatisierung frißt die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges. ›Wenn das ganze komplizierte Leben bei vielen unbewußt verläuft, dann hat es dieses Leben gleichsam nicht gegeben.‹ [Tolstoj] Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.« Vgl. Viktor Sˇklovskij, »Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren« (1916), in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 41988, S. 37–121, hier S. 51: »Ein Kunstwerk wird wahrgenommen auf dem Hintergrund und auf dem Wege der Assoziierung mit anderen Kunstwerken. Die Form des Kunstwerks bestimmt sich nach ihrem Verhältnis zu anderen, bereits vorhandenen Formen. […] Nicht nur die Parodie, sondern überhaupt jedes Kunstwerk wird geschaffen als Parallele und Gegensatz zu einem vorhandenen Muster.« Bei Proust liest sich das folgendermaßen: »[…] le peintre original, l’artiste original procèdent à la façon des oculistes. Le traitement par leur peinture, par leur prose, n’est pas toujours agréable. Quand il est terminé, le praticien nous dit: ›Maintenant regardez.‹ Et voici que le monde (qui n’a pas été créé une fois, mais aussi souvent qu’un artiste original est survenu) nous apparaît entièrement différent de l’ancien, mais parfaitement clair. […] Tel est l’univers nouveau et périssable qui vient d’être créé. Il durera jusqu’à la prochaine catastrophe géologique que déchaîneront un nouveau peintre ou un nouvel écrivain originaux.« (Bd. II, S. 623) [(…) der originelle Maler oder Künstler verfährt wie ein Augenarzt. Seine Behandlung durch Malerei oder durch Prosa ist nicht immer angenehm. Nach dem Ende der Behandlung sagt uns der Arzt: ›Jetzt schauen Sie.‹ Und siehe da, die Welt (die nicht einmal erschaffen wurde, sondern so viele Male, wie es originelle Künstler gegeben hat) erscheint uns als völlig verschieden von der alten, doch als vollkommen klar. (…) So steht es um das neue und vergängliche Universum, welches soeben erschaffen worden ist. Es wird bis zur nächsten geologischen Katastrophe Bestand haben, welche durch einen neuen originellen Maler oder Schriftsteller hervorgerufen werden wird.]

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Dass die Kunst für den Proust’schen Erzähler eine Sphäre sui generis ist, die letztlich auch im Gegensatz zur Wissenschaft steht, zeigt sich unter anderem bei der Aufführung des Septetts von Vinteuil. Dieses während eines Empfangs im Salon Verdurin erstmals aufgeführte, nachgelassene Werk des Musikers Vinteuil löst im Erzähler eine Reflexion aus, bei der die Kunst in einen radikalen Gegensatz zur normalen Alltagswelt gestellt wird. So bezeichnet der Erzähler im Modus der Frage die Musik als das einzige Beispiel dessen, was, wenn es nicht die Erfindung der menschlichen Sprache gegeben hätte, die Kommunikation der Seelen hätte sein können.86 Außerdem wird das Werk von Vinteuil in seiner Singularität als Beweis für die Existenz des Individuellen gedeutet, und zwar, wie es heißt, im Gegensatz zu den von der Wissenschaft nahegelegten Schlussfolgerungen (»en dépit des conclusions qui semblent se dégager de la science«).87 Die Kunst als eine Sphäre eigener Wirklichkeit, als mystisches Evidenzerlebnis, als Beweis für die Existenz des Individuellen, als Beispiel für die Kommunikation der Seelen – solche Zuschreibungen stehen in einem deutlichen Gegensatz zu dem Rationalismus der modernen Wissenschaft. Man darf von Prousts Werk nicht erwarten, dass es die genannten Brüche und Widersprüche harmonisierend auflöst. Im Gegenteil lässt sich feststellen, dass diese Widersprüche die ästhetische Qualität dieses Textes entscheidend mit bedingen. Der Text steht einerseits in der Tradition der romantischen und nachromantischen Kunstreligion,88 andererseits setzt er sich, wie gezeigt wurde, mit Elementen der zeitgenössischen Wissenschaft auseinander, die er künstlerisch bearbeitet. Der Text ist in mehrfacher Weise hybrid: einerseits in Bezug auf die literarische Form (Gesellschaftsroman und Bewusstseinsroman verbinden sich zu einer widersprüchlichen Einheit), andererseits in Bezug auf das Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft, denn der Text affirmiert die ästhetische Autonomie des Kunstwerks und insistiert doch zugleich auf dessen epistemologischer Funktion.

5.4 Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse in Svevos La coscienza di Zeno Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Diskurstypen Literatur und Psychoanalyse, ihre Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Differenz, ist dafür verant86 87 88

Recherche, Bd. III, S. 763. Ebd., S. 760. Vgl. hierzu Anne Henry, Proust romancier. Le tombeau égyptien, Paris 1983.

Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse

259

wortlich, dass es im 20. Jahrhundert immer wieder zu diskursiven Interferenzen und Hybridisierungen von Literatur und Psychoanalyse kommt.89 Wenn Freud seine Analysemethode auf literarische Texte wie Jensens Gradiva überträgt und sie an diesen erprobt, wenn er die Bezeichnung für eine seiner wichtigsten Entdeckungen, den Ödipuskomplex, einer Tragödie des Sophokles entnimmt oder wenn er gar eine psychische Kategorie wie das Unheimliche anhand einer Lektüre von E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann entwickelt, so finden wir umgekehrt in der Literatur die explizite oder implizite Auseinandersetzung mit Freud’schen Kategorien. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Italo Svevos 1923 erschienener Roman La coscienza di Zeno, dessen Held und Ich-Erzähler sich einer Psychoanalyse unterzieht. In der Forschung wurde Svevos Verhältnis zur Psychoanalyse unterschiedlich, ja konträr beurteilt. Mario Fusco etwa liest den Roman als literarische Applikation psychoanalytischer Erkenntnisse. So schreibt er: »[…] ces textes sont les confessions d’un malade, qui se reconnaît comme tel, et qui, à ce titre, a demandé à être soigné. La maladie de Zeno préexiste donc au roman; mieux encore, elle est le postulat qui rend le roman possible.«90 [(…) diese Texte sind die Bekenntnisse eines Kranken, der sich als solchen erkennt und der auf dieser Grundlage darum gebeten hat, behandelt zu werden. Zenos Krankheit geht also dem Roman voraus; oder noch besser, sie ist das Postulat, welches den Roman erst möglich macht.] Daraus zieht Fusco die Schlussfolgerung, dass man, um Zeno verstehen zu können, seinen Text einer psychoanalytischen Lektüre unterziehen müsse. Man müsse die Leserrolle, wie sie im Vorwort des Textes durch Zenos Analytiker vorgegeben werde, annehmen und sich selbst an die Stelle des Analytikers setzen. Dies praktiziert Fusco, indem er die manifesten und die latenten Inhalte des Romans herausarbeitet. Roland Galle dagegen kritisiert Fuscos Vorgehen als reduktionistisch, weil es die literarische Dimension des Romans unterschlage.91 Gemeint sind Phänomene wie Ironisierung, subjektive Perspektivierung und die daraus resultierende Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit. Die wichtigste Dimen89

90 91

Stefan Goldmann, »Sigmund Freud und Hermann Sudermann oder die wiedergefundene, wie eine Krankengeschichte zu lesende Novelle«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 58 (2009), S. 11–35, erläutert materialreich die Zusammenhänge zwischen Freuds Fallgeschichten und der Gattung der Novelle. Mario Fusco, Italo Svevo. Conscience et réalité, Paris 1973, S. 319. Roland Galle, »Wissenschaft und Kunsterfahrung. Zum Verhältnis von Romanform und Psychoanalyse in Svevos ›La Coscienza di Zeno‹«, in: Ulrich SchulzBuschhaus/Helmut Meter (Hg.), Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur, Tübingen 1983, S. 125–141.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

sion des Romans werde, so Galle, erst dann sichtbar, wenn man seine Fiktionalität mit in Betracht ziehe. Dann erkenne man, dass er nicht die Aufforderung zu einer psychoanalytischen Rekonstruktion von Zenos Neurose sei, sondern dass er dem Leser die »Einsicht in den Entzug von kategorial abgesicherter Welterschließung«92 vermittle. Andererseits gesteht Galle zu, dass Fuscos psychoanalytische Interpretation nicht völlig unberechtigt ist. Sie wird vom Roman gewissermaßen vorgegeben. Die Frage ist nur, inwieweit die psychoanalytische Interpretation die Bedeutungsdimensionen des Textes erschöpft. Der Streit der Forschungspositionen – hier die ›psychoanalytische‹, da die ›literarische‹ Lektüre93 – ist Symptom eines tieferliegenden Problems. Was auf dem Spiel steht, ist offenbar die Eigenständigkeit des literarischen Diskurses, dem von der Psychoanalyse der Rang streitig gemacht wird. Denn genaugenommen vermittelt auch der psychoanalytische Diskurs die von Galle für Svevos Roman reklamierte Einsicht. Das Ich nämlich ist sich selbst nach Freuds Erkenntnissen nicht vollständig verfügbar, es gibt den Bereich des Unbewussten, den das Ich, gerade und auch das gesunde, nicht beherrschen kann. Psychische Gesundheit ist nichts anderes als ein stets labiles Gleichgewicht von Ich, Es und Über-Ich. Die Simulation eines psychoana92 93

Ebd., S. 138. Vgl. hierzu auch Florian Mehltretter, »Die Wahrheit über Zeno Cosini. Svevos erzählerischer Dialog mit Freud«, in: Italienische Studien 21 (2000), S. 161–200, der La coscienza di Zeno nicht im Sinne von Fusco oder Jean Pouillon als »roman d’une psychanalyse«, sondern als »roman de la psychanalyse« (S. 162), das heißt als »Replik in einem Dialog, als Kommentar und Stellungnahme« (S. 161), liest. Vgl. außerdem Jean Spizzo, »Svevo ou la praxis auto-analytique de l’écriture«, in: Rudolf Behrens/Richard Schwaderer (Hg.), Italo Svevo. Ein Paradigma der europäischen Moderne, Würzburg 1990, S. 189–204, für den La coscienza di Zeno nicht eine in einen Roman transponierte Psychoanalyse ist, sondern die unmittelbare Erfahrung des Ablaufs einer Psychoanalyse, welche im Symptom des Schreibens ihren Ausdruck findet (S. 201), und Giuseppe Genco, »Italo Svevo tra psicanalisi e letteratura«, in: ders., Italo Svevo tra psicanalisi e letteratura, Napoli 1998, S. 153–170, für den Svevo in seinem Roman zwar Elemente der Psychoanalyse zitierend aufnimmt, diese allerdings auf die Ebene des Metadiskurses hebt und somit in Ambivalenz überführt. Mit einem kritischen Forschungsbericht, der im Zeichen des Gegensatzes von ›psychoanalytischen‹ und ›literarischen‹ Deutungen von Svevos Roman steht, beginnt Paul Geyer, »Kritischer Bewußtseinsroman und erlebte Rede in der Ich-Form: Italo Svevos La coscienza di Zeno«, in: Winfried Wehle (Hg.), Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen, Frankfurt/M. 2001, S. 107–145, hier S. 107–113. Eine einführende Darstellung von La coscienza di Zeno findet sich bei Christof Weiand, »Italo Svevo: La Coscienza di Zeno«, in: Manfred Lentzen (Hg.), Italienische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin 2005, S. 60–81.

Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse

261

lytischen Diskurses durch den Roman droht also dessen Identität zu zerstören, wenn er zu Lektüren wie denen eines Fusco berechtigterweise Anlass geben kann. Galle selbst weist auf diese Problematik hin, wenn er sagt: Die Psychoanalyse hat die neue Tiefendimension des Subjekts zu ihrem Gegenstand gemacht und darüberhinaus, vor allem im Rahmen der metapsychologischen Theoriebildung, explizit oder implizit den Anspruch erhoben, die zunehmend bedrängende Erfahrung eines labyrinthischen Subjekts wissenschaftlich zu formulieren und zu kodifizieren. Es konnte damit der für die Literaturtheorie folgenreiche Eindruck aufkommen, Literatur sei als vorwissenschaftliche Artikulation eines Gegenstandsbereiches zu verstehen, der durch die Psychoanalyse gleichsam wissenschaftlich eingeholt worden sei. Wenn auch die Konsequenz selten durchgespielt worden ist: Eine solche Relationierung von Kunst und Wissenschaft implizierte die Funktionslosigkeit der analysierten Kunst überhaupt.94

Nun ist die Literatur durch den konkurrierenden wissenschaftlichen Erklärungsanspruch der Psychoanalyse nicht wirklich funktionslos geworden – anderenfalls würde es sie heute vermutlich nicht mehr geben. Doch dass ihr durch die Psychoanalyse eine Bedrohung ihrer Identität entstanden war, lässt sich an Svevos Roman darlegen. Meine These lautet, dass Svevo durch die Hybridisierung des literarischen Diskurses mit dem psychoanalytischen den Versuch unternimmt, eine neue, wenn auch brüchige Identität für die Literatur zu gewinnen.95 Diese Identität ist in zweifacher Weise interkulturell. Sie beruht auf diskursiv-struktureller Ebene auf der Begegnung und Verschmelzung zweier Kulturen (im Sinne von Snow): der schöngeistig-ästhetischen und der therapeutisch-wissenschaftlichen. Zum anderen spielt die Handlung des Romans in einem kulturellen Grenzraum: der Stadt Triest vor und während des Ersten Weltkriegs, also in der Endphase jener Epoche, in der die kulturelle Identität dieser seit Jahrhunderten zum Habsburgerreich gehörenden Stadt in einem zusehends sich verschärfenden Widerspruch zu ihrer staatlichen und wirtschaftlichen Zugehörigkeit stand. Durch den Krieg wird die Grenze zwischen Österreich und Italien aktualisiert, und dies wird im Schlusskapitel des Romans thematisch. Die Aktualisierung der Grenze koinzidiert, wie zu zeigen sein wird, nicht zufällig mit dem Abbruch der Psychoanalyse, hat also eine ganz zentrale, interpretatorisch auszuwertende Bedeutung. 94 95

Galle, »Wissenschaft und Kunsterfahrung«, S. 126. Etwas anders akzentuiert, aber nicht inkompatibel mit meiner Interpretation ist die Deutung Paul Geyers, der La coscienza di Zeno als »diskurstheoretische Abhandlung über die je eigene Leistungsfähigkeit der Psychoanalyse und der literarischen Narrativik« liest beziehungsweise als »Versuch einer Ab- und Eingrenzung des genuinen Beitrags der Literatur zur Selbsterforschung des modernen Bewußtseins und seiner Entstellungen« (»Kritischer Bewußtseinsroman und erlebte Rede in der Ich-Form«, S. 120).

262 a)

Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Diskursive Hybridisierung

Svevos Roman steht programmatisch im Zeichen der Psychoanalyse, und zwar sowohl auf der Ebene der erzählten Geschichte (histoire) als auch auf der Ebene der Darstellung (discours). Der Ich-Erzähler nämlich unterzieht sich einer psychoanalytischen Therapie bei einem Dottor S., welcher ihm rät, als Vorbereitung für die Analyse seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Die Psychoanalyse (histoire-Ebene) ist somit die strukturelle Voraussetzung für die Entstehung des Textes (discours-Ebene). Es handelt sich um einen seine eigene Entstehung erzählenden Text. Dies hat Svevos Roman mit zeitgenössischen Texten wie Pirandellos Il fu Mattia Pascal und Quaderni di Serafino Gubbio operatore, Prousts À la recherche du temps perdu oder Gides Les faux-monnayeurs gemeinsam. Was ihn von diesen Texten unterscheidet, ist die Hybridisierung des literarischen mit dem psychoanalytischen Diskurs. Im Vorwort zu La coscienza di Zeno erläutert Dottor S. dem Leser, dass er aufgrund von Zenos Alter zu einem unorthodoxen therapeutischen Mittel gegriffen habe: Debbo scusarmi di aver indotto il mio paziente a scrivere la sua autobiografia; gli studiosi di psico-analisi arricceranno il naso a tanta novità. Ma egli era vecchio ed io sperai che in tale rievocazione il suo passato si rinverdisse, che l’autobiografia fosse un buon preludio alla psico-analisi.96 Ich muss dafür um Entschuldigung bitten, dass ich meinen Patienten dazu gebracht habe, seine Autobiographie zu schreiben; die Fachleute der Psychoanalyse werden über eine solche Neuerung die Nase rümpfen. Aber er war schon alt, und ich hoffte, dass seine Vergangenheit dank dieser Erinnerung wieder aufblühen, dass die Autobiographie ein gutes Präludium für die Psychoanalyse sein würde.

Wenn der Psychoanalytiker von der »novità« seiner Methode spricht, so markiert er eine Distanz zur Psychoanalyse, wie sie von Freud seit gut zwei Jahrzehnten praktiziert wurde. Denn die von Freud entwickelte Therapie beruht auf der mündlichen Evokation der Vergangenheit, die der Patient im Gespräch mit dem Analytiker hervorbringt. Dabei gilt die »psychoanalytische Grundregel«, dass »der Analysierte alles mitteilen soll, was er in seiner Selbstbeobachtung erhascht, mit Hintanhaltung aller logischen und affektiven Einwendungen, die ihn bewegen wollen, eine Auswahl zu treffen«.97 Wie 96

97

Italo Svevo, La coscienza di Zeno, in: Romanzi e »continuazioni«, hg. v. Nunzia Palmieri/Fabio Vittorini/Mario Lavagetto, Milano 2006, S. 623–1085, hier S. 625. Sigmund Freud, »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung« (1912), in: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al., Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt/M. 1982, S. 169–180, hier S. 179.

Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse

263

sehr die von Dottor S. gewählte Vorgehensweise von Freuds Ideen abweicht, erkennt man an dessen folgender Äußerung: Es ist unrichtig, dem Analysierten Aufgaben zu stellen, er solle seine Erinnerung sammeln, über eine gewisse Zeit seines Lebens nachdenken u. dgl. Er hat vielmehr vor allem zu lernen, was keinem leichtfällt anzunehmen, daß durch geistige Tätigkeit von der Art des Nachdenkens, daß durch Willens- und Aufmerksamkeitsanstrengung keines der Rätsel der Neurose gelöst wird, sondern nur durch die geduldige Befolgung der psychoanalytischen Regel, welche die Kritik gegen das Unbewußte und dessen Abkömmlinge auszuschalten gebietet.98

Nun ist es so, dass Dottor S. Zenos Aufzeichnungen in seine Analyse mit einbezieht. Diese Aufzeichnungen dienen nicht nur der Vorbereitung, sondern sie werden zum integralen Bestandteil von Zenos Analyse. Damit wird die Analysesituation verdoppelt. Der späteren Kopräsenz von Arzt und Patient wird eine »zerdehnte Sprechsituation«99 vorgeschaltet. Die Schreibsituation versucht allerdings die Analysesituation partiell zu simulieren. Denn Zeno schreibt in assoziativer, seinem Unbewussten folgender Form – also genau so, wie der Patient in Gegenwart des Analytikers sprechen soll. Als Voraussetzung dafür begibt er sich zu Beginn seines Schreibens in eine bequeme Reflexionsposition, die der des Patienten analog ist: »Dopo pranzato, sdraiato comodamente su una poltrona Club, ho la matita e un pezzo di carta in mano. La mia fronte è spianata perché dalla mia mente eliminai ogni sforzo. Il mio pensiero mi appare isolato da me. Io lo vedo. S’alza, s’abbassa …«100 [Nach dem Essen habe ich es mir in einem Clubsessel bequem gemacht und halte einen Bleistift und ein Stück Papier in Händen. Meine Stirn ist glatt, weil ich jede Anstrengung aus meinem Geist verbannt habe. Meine Gedanken erscheinen mir wie abgetrennt von mir. Ich sehe sie. Sie steigen und fallen …] Die Therapiesituation wird hier in Verbindung mit literarischen Mitteln fingiert. Literarische Verfahren und therapeutische Maßnahmen werden miteinander verschränkt. Durch die literarisierte Verwendung psychoanalytischer Diskurselemente entsteht eine neue Art von Literatur; die Begegnung von Literatur und Psychoanalyse führt zu einer neuen Art von Identitätsbildung des literarischen Textes. Diese Identitätsbildung ist jedoch nicht unproblematisch. Dies zeigt sich an dem oszillierenden Verhältnis zwischen beiden Diskursen, an dem Hin und Her zwischen Abgrenzung und Assimilation. 98 99

100

Ebd. Konrad Ehlich, »Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung«, in: Aleida Assmann/Jan Assmann/Christof Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis, München 1983, S. 24–43, hier S. 32. Svevo, La coscienza di Zeno, S. 626.

264

Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Ein Beispiel für Assimilation: Die Verdoppelung der Therapiesituation durch eine literarische Sprechsituation wird im Text explizit reflektiert. Nicht zufällig verwendet Dottor S. den aus der Literatur stammenden Gattungsbegriff »autobiografia«. Der ›Erfinder‹ der modernen Autobiographie, Jean-Jacques Rousseau, hat seiner Lebensgeschichte den Titel Les confessions (1782/89) gegeben, und in dieser Lebensgeschichte spielt die Kindheit mit ihren Konflikten eine prominente Rolle. So berichtet Rousseau von Handlungen, für die er sich ein Leben lang geschämt hat, etwa als er in einem Internat den von ihm begangenen Diebstahl eines Bandes auf ein unschuldiges Mädchen namens Marion schob, um der Bestrafung zu entgehen. Oder er erzählt von sexuellen Verwirrungen, etwa der quasi-inzestuösen Liebe zu seiner Ersatzmutter Mme de Warens. In der autobiographischen Introspektion liegt also eine der Wurzeln der Psychoanalyse.101 Ein Beispiel für Abgrenzung: Die Diskrepanz zwischen einer Therapie und einem literarischen Text, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit wird in Svevos Roman ebenfalls klar markiert. Es wird nämlich deutlich gemacht, dass die Publikation des vorliegenden Textes, also der Autobiographie von Zeno Cosini, das Resultat einer gescheiterten Therapie ist. Literatur und Analyse werden somit in ein Differenzverhältnis zueinander gesetzt. Dottor S. teilt mit, dass sein Patient Zeno die Therapie abgebrochen hat, und er entschließt sich aus Rache dazu, dessen Manuskript zu veröffentlichen. Die Publikation des Manuskripts ist also eine Zweckentfremdung; eine für den therapeutischen Gebrauch verfasste Schrift wird der Öffentlichkeit präsentiert. Darin manifestiert sich ein eklatanter Vertragsbruch des Arztes, der seinerseits auf einen Vertragsbruch von Seiten des Patienten reagiert. Einerseits werden also klare Grenzziehungen vorgenommen; es wird deutlich gesagt, dass Analyse und literarischer Text zwei unterschiedliche Phänomene sind. Andererseits werden diese Grenzen ignoriert, indem der vorliegende Text sich als das Resultat einer (wenn auch gescheiterten) Therapie zu erkennen gibt. Psychoanalyse und Literatur stehen somit zueinander in einem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, von Ähnlichkeit und Differenz.

101

Jean Starobinski, »Jean-Jacques Rousseau et le péril de la réflexion«, in: L’œil vivant, Paris 1961, S. 91–190, unternimmt den Versuch einer Lektüre von Rousseaus autobiographischen Schriften im Lichte psychoanalytischer Erkenntnisse.

Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse

b)

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Das Verhältnis zwischen histoire und discours und das Problem der Grenze

Im Text manifestiert sich diese Austauschbeziehung durch das komplexe, schillernde und widersprüchliche Verhältnis zwischen histoire und discours. Dieses Verhältnis ist durch mehrfache Grenzziehungen geprägt. Einen Eindruck von diesem komplexen Verhältnis vermittelt schon ein Blick auf die Anordnung und Struktur der Kapitel: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Prefazione (S. 625 = 1 S.) Preambolo (S. 626–627 = 2 S.) Il fumo (S. 628–652 = 25 S.) La morte di mio padre (S. 653–684 = 32 S.) La storia del mio matrimonio (S. 685–785 = 101 S.) La moglie e l’amante (S. 786–909 = 124 S.) Storia di un’associazione commerciale (S. 910–1047 = 138 S.) Psico-analisi (S. 1048–1085 = 38 S.)

Die erste Form der Grenzziehung ist auf struktureller Ebene, im Verhältnis zwischen énonciation und énoncé, angesiedelt. Die »Prefazione« stammt von Dottor S., dem fiktiven Herausgeber des Textes. Zusammen mit dem Schlusskapitel bildet dieses Vorwort einen Rahmen, eine Klammerstruktur, denn in diesen beiden Kapiteln ist vom Scheitern der Therapie die Rede. Das 8. Kapitel ist Zenos Reaktion auf das Scheitern der Therapie, das 1. Kapitel und der mit ihm verbundene performative Gestus der Textveröffentlichung stellt die Reaktion des Analytikers auf Zenos Therapieabbruch dar. Der Text erzählt somit nicht nur seine eigene Genese, sondern auch die Geschichte seiner Veröffentlichung. Neben diesem äußeren Rahmen hat der Text einen zweiten, inneren Rahmen, der durch das 2. Kapitel repräsentiert wird. Dieses konstituiert eine Schreibsituation als Vorbereitung auf eine künftige Therapie. Diese selbst ist indes nicht Gegenstand der erzählerischen Darstellung. Ihr Platzhalter im Roman ist Zenos Erinnerungserzählung. Dieser eigentliche narrative Kern des Romans, der von den beiden Rahmen eingefasst und präsentiert wird, ist in den Kapiteln 3 bis 7 enthalten. Die sechsmonatige Therapie hingegen, auf die Zenos autobiographische Selbstvergegenwärtigung zusteuert, fällt in eine narrative Ellipse, die zwischen dem 7. und dem 8. Kapitel liegt. Damit enthält der Text eine virtuelle weitere Rahmenstruktur, in deren Zentrum eine Leerstelle liegt. Dies lässt sich als der Versuch interpretieren, die Psychoanalyse durch ihre strukturelle Einklammerung beziehungsweise Aussparung zu neutralisieren, sie gewissermaßen durchzustreichen. Der literarische Text versucht seine Identität zu bewahren, indem er dasjenige Ele-

266

Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

ment, dem er seine Entstehung qua diskursiver Hybridisierung verdankt, ausklammert. Doch das Ausgeklammerte hat überall im Text seine Spuren hinterlassen. Denn die Verschmelzung des literarischen mit dem psychoanalytischen Diskurs ist nicht nur ein thematisches beziehungsweise auf die Rahmenstrukturen beschränktes Element; sie findet auch ihren Niederschlag auf der Ebene der narrativen Darstellung. So erwähnt der Erzähler Zeno mehrfach jeweils zu Beginn eines Kapitels den Auftrag seines Therapeuten, einem bestimmten Problem auf den Grund zu gehen. Die Ordnung des Erzählens wird somit ganz wesentlich von den Anforderungen der Therapie beeinflusst. Das »Preambolo« überschriebene 2. Kapitel bildet den Auftakt, indem es die Erinnerungssituation konstituiert und dabei auch gleich die Schwierigkeiten benennt, die sich demjenigen stellen, der die große zeitliche Distanz zwischen seiner Gegenwart als alter Mann und seiner Kindheit zu überbrücken versucht. Gerade deshalb, weil es so schwer ist, an die weit zurückliegende Kindheit heranzukommen, empfiehlt Dottor S. seinem Patienten den Umweg über die jüngere Vergangenheit (»le immaginazioni e i sogni della notte prima«).102 Damit aber ist die Nichtbefolgung der Chronologie, das Hin- und Herspringen zwischen den Zeitebenen von Anfang an vorgegeben. Die Zeitstruktur erscheint somit nicht als willkürliches, sondern als aus der Erzählsituation heraus motiviertes Element der narrativen Darstellung. Die durch die Rahmungen vorgenommenen Grenzziehungen funktionieren also nicht. Zwischen den abgegrenzten Elementen bestehen Relationen der Kontinuität und der Ähnlichkeit. Der Versuch, den fremden Diskurs durch Rahmung und Ausklammerung unschädlich zu machen, misslingt. Eine zweite Ebene der Grenzziehung ist das letzte Kapitel. Dieses bildet einen völligen Bruch auf der Ebene der Geschichte wie auch der Darstellung. Es trägt den Titel »Psico-analisi« und handelt von dem Abbruch der Analyse durch Zeno und den Gründen ihres Scheiterns. Die formalen und strukturellen Merkmale des Kapitels korrelieren mit seiner semantischen Funktion. Erstmals im gesamten Roman ist ein Kapitel nicht länger, sondern kürzer als das ihm vorangehende. Im Gegensatz zu allen anderen Kapiteln hat das Schlusskapitel die Form eines Tagebuchs. Einzelne Einträge sind genau datiert, und zwar auf den 3. Mai 1915,103 den 15. Mai 1915,104 den

102 103 104

La coscienza di Zeno, S. 626. Ebd., S. 1048. Ebd., S. 1065.

Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse

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26. Juni 1915105 sowie den 24. März 1916.106 Aus diesen Einträgen und einigen zusätzlichen Zeitangaben lässt sich die Chronologie der Geschichte und des Schreibens rekonstruieren, wobei sich herausstellt, dass Zeno offenbar ungenaue Angaben über sein Alter gemacht hat. Denn wenn es stimmt, dass er am 15. April 1890, an dem sein Vater verstarb, 30 Jahre alt war,107 dann ist er 1860 geboren und muss zu dem Zeitpunkt, als er das letzte Kapitel seines Manuskripts verfasst, folglich 55 beziehungsweise 56 Jahre alt sein. Da er das letzte Kapitel nach einer über einjährigen Schreibpause beginnt (»Da un anno non avevo scritto una parola«),108 kann er beim Verfassen der früheren Kapitel nicht älter als maximal 54 Jahre gewesen sein. Dem widerspricht jedoch die im 3. Kapitel gemachte Angabe, wonach er 57 Jahre alt sei.109 Will man diesen Widerspruch nicht als ein Versehen des Autors Svevo verbuchen, so muss man vermuten, dass die widersprüchlichen Altersangaben ein Indiz für die Unglaubwürdigkeit des Erzählers Zeno sind. Diese Unglaubwürdigkeit wird an verschiedenen Stellen explizit thematisiert, etwa wenn Dottor S. in seinem Vorwort von den »tante verità e bugie ch’egli ha quì accumulate«110 [vielen Wahrheiten und Lügen, die er hier aufgehäuft hat] spricht, vor allem aber im Schlusskapitel, in welchem Zeno systematisch seine eigene Glaubwürdigkeit untergräbt, mit dem Ziel, den Nutzen der Therapie insgesamt infrage zu stellen. Im selben Maß, wie Zeno seine Therapie infrage stellt, unterläuft der Text sich selbst. Das letzte Kapitel wird zum Widerruf des Vorherigen, der Text dekonstruiert sich am Ende selbst, indem er alle vermeintlichen Wahrheiten und Sicherheiten kassiert. Dies ist ein zweiter Versuch, die Identität des literarischen Textes gegenüber der Psychoanalyse durch Abgrenzung abzusichern. Das zeigt sich explizit, wenn Zeno kurz vor dem Ende des Romans sagt, er wolle den ganzen Text, der in den Händen seines Analytikers sei, noch einmal neu schreiben: »Il dottore, quando avrà ricevuta quest’ultima parte del mio manoscritto, dovrebbe restituirmelo tutto. Lo rifarei con chiarezza vera perché come potevo intendere la mia vita quando non ne conoscevo quest’ultimo periodo?«111 [Wenn der Doktor diesen letzten Teil meines Manuskripts erhalten haben wird, dann müsste er es mir vollständig zurückgeben. Ich würde es dann mit wahrhafter Klarheit neu schreiben, denn wie 105 106 107 108 109 110 111

Ebd., S. 1070. Ebd., S. 1081. Ebd., S. 653f. Ebd., S. 1048. Ebd., S. 637: »Ne ho cinquantasette degli anni […].« Ebd., S. 625. Ebd., S. 1083.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

hätte ich mein Leben verstehen können, als ich diese letzte Phase noch nicht kannte?] Mit dem Anspruch, die eigene Lebensgeschichte in Kenntnis ihres Endes neu zu schreiben, greift Zeno auf die teleologische Erzählhaltung der traditionellen Autobiographie zurück. Dies bedeutet aber, dass die einzig zu verteidigende Identität der Literatur bei einem Rückfall hinter die Erkenntnisse der Psychoanalyse die eines traditionellen teleologischen Erzählens wäre. Das wäre die Absage an das von Svevos Roman praktizierte modernistische Erzählen. Doch wie glaubwürdig kann eine solche Rückkehr zu traditionellem Erzählen sein bei einem Subjekt wie Zeno, das seine eigene Geschichte und seine Motivationen und Handlungen nur teilweise durchschaut? Auch dies ist also nur eine weitere Volte des Romans, der sich in immer neuen Anläufen selbst infrage stellt. Diese Selbstdekonstruktion wird auf der histoire-Ebene mit dem Ausbruch des Krieges zwischen Italien und Österreich korreliert (Eintrag vom 26. Juni 1915). Zeno berichtet davon, wie er, der den seit einem Jahr andauernden Krieg als ferne, ihn nicht tangierende Realität zu betrachten pflegte, von dieser Realität eingeholt und dadurch zu einem völlig neuen Menschen gemacht wurde (»io fui un uomo del tutto nuovo«).112 Der Kriegseintritt Italiens und die Eröffnung einer Front an der italienisch-österreichischen Grenze isoliert die im Grenzgebiet liegende Stadt Triest von ihrem italienischen Umland. Dadurch wird Zeno von seiner im Sommerurlaub befindlichen Familie getrennt. Er bleibt allein in Triest zurück und muss dort seine von den italienischen Angestellten verlassenen Geschäftsräume beaufsichtigen. In dieser Einsamkeit liest Zeno in seinem Manuskript, um sich die Zeit zu vertreiben. Dies ruft eine starke Befremdung in ihm hervor: Infatti esso [il manoscritto] mi procura un quarto d’ora meraviglioso in cui appresi che ci fu a questo mondo un’epoca di tanta quiete e silenzio da permettere di occuparsi di giocattoletti simili. Sarebbe anche bello che qualcuno m’invitasse sul serio di piombare in uno stato di mezza coscienza tale da poter rivivere anche soltanto un’ora della mia vita precedente. Gli riderei in faccia. Come si può abbandonare un presente simile per andare alla ricerca di cose di nessun’importanza? A me pare che soltanto ora sono staccato definitivamente dalla mia salute e dalla mia malattia.113 In der Tat verschafft es [das Manuskript] mir eine wunderbare Viertelstunde, in der ich erfuhr, dass es auf dieser Welt einst eine Zeit gab, die so ruhig und still war, dass es möglich war, sich mit derartigen Spielereien zu beschäftigen. Es wäre auch noch schöner, wenn jemand mich im Ernst dazu aufforderte, in einen Zustand der halben Bewusstlosigkeit zu versinken, sodass ich auch nur eine 112 113

Ebd., S. 1070. Ebd., S. 1070f.

Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse

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Stunde meines früheren Lebens wiedererleben könnte. Ich würde ihn auslachen. Wie kann man eine Gegenwart wie die jetzige aufgeben, um sich auf die Suche nach völlig wertlosen Dingen zu begeben? Mir will es scheinen, dass ich erst jetzt endgültig von meiner Gesundheit und von meiner Krankheit gelöst bin.

Der Krieg bildet also eine zeitliche Grenze, durch die ein Vorher und ein Nachher unterschieden werden. Im Vorher war die Psychoanalyse eine sinnvolle Möglichkeit, im Nachher ist sie es nicht mehr. Der zeitlichen wird eine räumliche Grenze hinzugefügt. Denn in demselben Tagebucheintrag vom 26. Juni 1915 berichtet Zeno davon, wie er durch die Sperrung der Grenze von seiner Familie getrennt wurde und sich plötzlich unvermutet allein in Triest wiederfand. »[…] un fitto cordone di fanteria chiudeva il transito per l’Italia, creando una nuova ed insuperabile frontiera«114 [ein dichter Ring aus Infanteristen blockierte den Übergang nach Italien und schaffte eine neue und unüberwindliche Grenze]. Diese Information erhält Zeno von österreichischen Soldaten, die ihn aufhalten und nicht passieren lassen. Dabei rettet ihn, wie er glaubt, nur seine Kenntnis des Deutschen davor, von den Soldaten getötet zu werden. Anders als seine Familie, sein Verwalter Olivi und seine Angestellten gehört Zeno nun also zum Kollektiv der Österreicher. Seine neue Identität ist eine österreichische. Nun muss man wissen, dass die kulturelle Identität der Stadt Triest immer eine dominant italienische gewesen ist, während seine politische und wirtschaftliche Zugehörigkeit spätestens seit der Gründung des Freihafens 1719 österreichisch war.115 Durch diese doppelte, interkulturelle Identität konnte Triest ja zum Übersetzungsfilter zwischen dem deutschsprachigen und dem italienischen Kulturraum werden. Diese doppelte Zugehörigkeit wird durch den Krieg zerstört. Man muss sich nun für Italien oder für Österreich entscheiden. Zeno optiert umständehalber für Österreich und handelt sich damit einen Gewinn und zugleich einen Verlust ein. Der Gewinn ist ein ökonomischer, denn Zeno wird zum Kriegsgewinnler. Der Verlust ist eben jene Übersetzungsfähigkeit, die ihn als Triestiner Italiener das Experiment einer Therapie wagen ließ.116 114 115

116

Ebd., S. 1078. Eine konzise Darstellung der Geschichte von Triest findet man bei Glauco Arneri, Trieste. Breve storia della città, Trieste 1998. Michael Rössner, »Svevos (mitteleuropäische?) Skepsis«, in: Rudolf Behrens/ Richard Schwaderer (Hg.), Italo Svevo. Ein Paradigma der europäischen Moderne, Würzburg 1990, S. 81–92, beleuchtet die Frage nach der Zugehörigkeit des Triestiner Autors Svevo zu einer spezifisch mitteleuropäischen Kultur, wie sie sich in einer im Text nachweisbaren ironischen Skepsis ausdrücke, welche – etwa im Gegensatz zu den Werken des Sizilianers Pirandello – nicht alles ausspreche, sondern es dem Leser überlasse, die letzten Schlüsse zu ziehen.

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Die wissenschaftliche und literarische Infragestellung des Subjekts

Dass der Begriff »Übersetzungsfähigkeit« hier – ebenso wie die Aktualisierung der Grenze – ganz wörtlich zu verstehen ist, zeigt sich an einer früheren Stelle des 8. Kapitels. Zeno erklärt, dass er schon seit längerem in einem subversiven Kampf mit seinem Analytiker begriffen sei. Er verberge nämlich in der Therapie seine wahre Meinung. Doch gelte dies nicht nur für die Therapie, sondern auch für seine schriftlichen Aufzeichnungen, die er im Rekurs auf Rousseau auch als »confessioni« bezeichnet.117 Anders als Rousseau, der in seinen Confessions den Anspruch auf absolute Wahrheit und Wahrhaftigkeit erhebt, gesteht Zeno indes, dass er vielfach, ja sozusagen systematisch gelogen habe. Der Grund hierfür sei die italienische Standardsprache, die er als Sprecher des Triestiner Dialekts nicht verwenden könne, ohne zu lügen: Il dottore presta una fede troppo grande anche a quelle mie benedette confessioni che non vuole restituirmi perché le riveda. Dio mio! Egli non studiò che la medicina e perciò ignora che cosa significhi scrivere in italiano per noi che parliamo e non sappiamo scrivere il dialetto. Una confessione in iscritto è sempre menzognera. Con ogni nostra parola toscana noi mentiamo! Se egli sapesse come raccontiamo con predilezione tutte le cose per le quali abbiamo pronta la frase e come evitiamo quelle che ci obbligherebbero di ricorrere al vocabolario! È proprio così che scegliamo dalla nostra vita gli episodi da notarsi. Si capisce come la nostra vita avrebbe tutt’altro aspetto se fosse detta nel nostro dialetto.118 Der Doktor schenkt diesen meinen verflixten Bekenntnissen viel zu sehr Glauben und will sie mir nicht zurückgeben, auf dass ich sie überarbeite. Mein Gott! Er hat nur Medizin studiert und weiß daher nicht, was es für uns bedeutet, auf Italienisch zu schreiben, die wir Dialekt sprechen, aber ihn nicht schreiben können. Ein schriftliches Bekenntnis ist immer lügenhaft. Mit jedem toskanischen Wort, das wir verwenden, lügen wir! Wenn er wüsste, dass wir mit Vorliebe all das erzählen, wofür wir den Ausdruck gerade parat haben, und dass wir jenes aussparen, was uns zwingen würde, das Wörterbuch in die Hand zu nehmen! Genauso wählen wir aus unserem Leben die aufzuschreibenden Episoden aus. Es versteht sich, dass unser Leben ganz anders aussähe, wenn es in unserem Dialekt erzählt würde.

Die italienische Standardsprache ist also ein Selektionsfilter, der es dem Dialektsprecher schwer, wenn nicht unmöglich macht, die Wahrheit über sich zu schreiben. Doch immerhin ermöglicht dieser Filter eine Übersetzung.119 Nun 117 118 119

La coscienza di Zeno, S. 1050. Ebd. Till R. Kuhnle, »Italo Svevo La Coscienza di Zeno/Zeno Cosini«, in: Hans-Vilmar Geppert (Hg.), Große Werke der Literatur IX, Tübingen 2005, S. 141–164, hier S. 150–153, deutet das Verhältnis zwischen Triestiner Dialekt und toskanischem Standard als das zwischen Sprache und Mythos (im Sinne von Roland Barthes). Dieses der Unmittelbarkeit des Dialekts entfremdete, sekundäre System diene Zeno als »Vehikel seiner neurotischen Privat-Ideologie« (S. 152). Auch der Dis-

Diskursive Hybridisierung von Literatur und Psychoanalyse

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aber, nach dem Ausbruch des Krieges, ist eine solche Übersetzungsarbeit offenbar für Zeno unmöglich geworden. Nun kann er sich über seinen Therapieversuch nur noch wundern. Triest hat also durch das Auseinanderbrechen seiner Grenzidentität die Fähigkeit verloren, als Kulturvermittler zu dienen. Die in Svevos Roman stattfindende Begegnung von Literatur und Psychoanalyse lässt sich auf verschiedenen Textkonstitutionsebenen nachweisen. Die auf der histoire-Ebene stattfindende Psychoanalyse ist die strukturelle Voraussetzung für die Entstehung des Textes (discours-Ebene), denn zur Vorbereitung auf seine Analyse schreibt Zeno seine Autobiographie. Dadurch entsteht ein Text, der sowohl literarische als auch psychoanalytische Diskurselemente verwendet und dessen diskursive Identität folglich eine hybride ist: Er ist weder ein orthodoxer psychoanalytischer noch ein traditioneller literarischer Text. Gerade darin besteht die ästhetische Innovation des Textes und seine herausragende Bedeutung im Paradigma des modernen Experimentalromans. Die Kehrseite solcher ästhetischen Innovativität ist eine als problematisch empfundene Mischidentität, die sich in einer Reihe von Abgrenzungsproblemen niederschlägt. So wird versucht, durch eine mehrfach gestaffelte Rahmenstruktur die Kontinuität zwischen Literatur und Psychoanalyse zu unterbrechen und die eigentliche Analyse durch deren strukturelle Ausblendung zu neutralisieren. Diese Grenzziehung funktioniert aber nicht, denn die ausgeblendete Psychoanalyse hat überall im Text ihre Spuren hinterlassen, insbesondere in der Anordnung der narrativen Elemente. Im achten und letzten Kapitel versucht der Text schließlich, eine Grenze gegen sich selbst zu ziehen und sich selbst aufzuheben. Zenos Wunsch, seine eigene Geschichte noch einmal, und zwar unter Maßgabe teleologischer Kriterien zu erzählen, erscheint indes als wenig überzeugender Fluchtversuch vor der Ästhetik des modernistischen Textes. Die Problematik der Grenze wird in diesem letzten Kapitel auch ganz konkret topographisch inszeniert; durch den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg im Jahr 1915 wird die Stadt Triest von ihrem Umland abgegrenzt, und Zeno muss sich für den österreichischen Teil seiner Identität entscheiden. Dies aber bedeutet einen schwerwiegenden Verlust auf der Ebene der interkulturellen Vermittlungsfunktion der Stadt. Der Abbruch der Psychoanalyse ist metonymisch auf diesen Verlust bezogen. kurs der Psychoanalyse sei ein solches sekundäres Zeichensystem, welches Zeno als »Handlanger eines Realitätsprinzips [erscheint], für das die Hochsprache steht.« (Ebd.) Durch die Konfrontation der beiden auf Lüge gegründeten Zeichensysteme – Individualmythos des Protagonisten und Psychoanalyse – führe Svevo das Scheitern der Kommunikation vor.

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6.

Die Grenzen der Literatur

Die Grenzen der Literatur

6.1 Musils Mann ohne Eigenschaften als Roman des Hypothetischen Musils großer unvollendeter Roman Der Mann ohne Eigenschaften führt eine intensive Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit, wie insbesondere einige jüngere Studien deutlich gemacht haben. Manfred Requardt1 geht aus von dem von Pascal definierten Gegensatzpaar »Geist der Geometrie« vs. »Geist des Feinsinns«, einer sehr frühen Variante des Gegensatzes, den C. P. Snow als die »zwei Kulturen« bezeichnet hat. Musil habe es unternommen, »die Methode der Geometrie in die Sphäre des Feinsinns zu tragen«.2 Requardt erklärt dies aus Musils äußerem Werdegang. Musil (1880–1942) besuchte 1897 die Technische Militärakademie in Wien, studierte von 1898 bis 1901 Maschinenbau in Brünn, legte 1901 die Ingenieurstaatsprüfung ab, studierte von 1903 bis 1908 Philosophie, Logik und experimentelle Psychologie in Berlin und promovierte ebenda 1908 im Fach Philosophie mit einer Dissertation über Ernst Mach. Die Hälfte seines Artikels widmet Requardt der Mach’schen Erkenntnisphilosophie und ihrer Rezeption durch Musil. Ein wichtiger Gesichtspunkt sei hierbei die Problematisierung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, das heißt »die Erkenntnis, daß das erkennende Subjekt nicht in logisch widerspruchsfreier Weise vom Objekt der Erkenntnis abgetrennt und geschieden werden kann«.3 Außerdem sei wichtig, dass Mach das ›Ding an sich‹ hinter den Erscheinungen abschaffe und es durch »Konglomerate und Komplexe von Erfindungen und Ereignissen«4 ersetze. Dies bedeute auch den Verzicht auf »Naturgesetzlichkeit als metaphysische Entität hinter den Phänomenen«.5 In letzter Konsequenz führe dies zu der Auflösung hierarchischer Strukturen. Kategorien wie Innenwelt, Außenwelt, Sinneseindrücke, Naturgesetze seien alle von der gleichen Qualität. Musils Roman wird 1

2 3 4 5

Manfred Requardt, »Robert Musil und das Dichten ›More geometrico‹«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Text + Kritik 21/22: Robert Musil, München 1983 (3. Aufl., Neufassung), S. 29–43. Ebd., S. 32. Ebd., S. 37. Ebd., S. 40. Ebd.

Musils Mann ohne Eigenschaften als Roman des Hypothetischen

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gedeutet als »konkrete Realisierung einer radikal extrapolierten Machschen Philosophie«.6 Neuere Studien wie die von Bernd Hüppauf,7 Christian Kassung8 und Claus Hoheisel9 widmen sich der Bedeutung der Physik für Musils Roman. Während Hüppauf die Analogien zwischen dem Weltbild der modernen Physik und Musils Konzeptionen eher auf einer abstrakten Ebene situiert,10 unternehmen es Kassung und Hoheisel in ihren Dissertationen, große Teile des physikalischen Wissens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts minutiös zu rekonstruieren und jene Elemente dieses Wissens, die in Musils Roman nachweisbar sind, in Form eines Kommentars zu explizieren. Sosehr der interpretatorische Ertrag dieses Verfahrens bisweilen in einem Missverhältnis zu dem betriebenen Aufwand steht, so eindrucksvoll ist es doch auf der anderen Seite zu erkennen, in welch detaillierter und differenzierter Weise aktuelles naturwissenschaftliches Wissen in Musils Roman eingegangen ist. Besonders fruchtbar erscheint mir Kassungs Hauptthese, wonach die Poetologie von Musils Roman und die Epistemologie sich im Gegenstand der Entropie treffen: Es geht also nicht primär um ›die‹ Physik, deren Inhalte, Wissen oder Denkmodelle und deren Interferenz mit dem »Mann ohne Eigenschaften«. Vielmehr richtet sich das Interesse darauf, wie die Physik über ihr eigenes Funktionieren als 6 7

8

9

10

Ebd., S. 43. Bernd Hüppauf, »Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und das Weltbild der modernen Physik«, in: Richard Faber/Barbara Naumann (Hg.), Literarische Philosophie – philosophische Literatur, Würzburg 1999, S. 227–251. Christian Kassung, Entropie-Geschichten. Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« im Diskurs der modernen Physik, München 2001. Zur poetologischen Funktion des physikalischen Wissens vgl. Rolf Günter Renner, »Postmoderne Perspektiven im Text der klassischen Moderne: Robert Musil«, in: ders., Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne, Freiburg i. Br. 1988, S. 124–144, hier S. 129, wo es heißt, dass »das Geschichtsbild der Moderne, das unmittelbar mit dem der Mechanik verknüpft ist, […] jetzt durch ein anderes abgelöst werden [soll], das den Gesetzen der Thermodynamik ähnelt.« Claus Hoheisel, Physik und verwandte Wissenschaften in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« (dmoe). Ein Kommentar (2004), Berlin u. a. 2005 (erw. Neuauflage). Charakteristisch ist etwa folgendes Zitat: »Musils Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ bewegt sich an der Schwelle zwischen einem Weltentwurf, der sich mit Steven Weinberg vereinfacht als ›Newtons Traum‹ bezeichnen läßt, und einer Welt der Zufälle, Unbestimmtheit und Undenkbarkeiten.« (Hüppauf, »Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und das Weltbild der modernen Physik«, S. 228) Hauptsächlich beschäftigt Hüppauf sich mit der modernen Physik, über Musil erfährt man wenig Konkretes.

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Die Grenzen der Literatur

Wissenschaft nachdenkt und wie sie dieses Nachdenken in ihre eigene Epistemologie integriert. Erst auf dieser Ebene nämlich, der Verbindungslinie von Epistemologie und Poetologie, treten der Musilsche Roman und die Entropie in ein Verhältnis der Vergleichbarkeit.11

Was Kassung also interessiert, ist die Selbstreflexivität sowohl der Literatur als auch der Physik und die damit gegebene Vergleichbarkeit der beiden Diskurstypen. In diesem Sinne möchte ich im Folgenden den Roman betrachten. Was bei dieser Untersuchung besonders in den Vordergrund rücken wird, ist die Frage nach den Grenzen der Literatur, welche von Musils Roman verschoben werden. Im Mann ohne Eigenschaften findet der wissenschaftliche Diskurs auf drei Ebenen seinen Niederschlag: auf der Ebene der erzählten Geschichte (histoire), auf der Ebene der Darstellung (discours) und auf der Ebene der poetologischen Reflexion. Die drei Ebenen sind eng miteinander verflochten und spiegeln sich wechselseitig. Auf allen Ebenen zeigt sich, wie der Roman seine spezifische, die herkömmlichen Diskursgrenzen überschreitende Identität12 in poetologischer Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Modellen gewinnt. Zunächst zur Ebene der histoire: Ulrichs Vorgeschichte wird im Text als eine Serie von drei ad acta gelegten Lebensentwürfen beschrieben, die alle darauf zielen, »ein bedeutender Mann« zu werden.13 Sein Weg führt ihn dabei vom Konkreten zum Abstrakten, von der Traditionsverbundenheit zur Zeitgenossenschaft, vom Realen zum Potentiellen, vom Handelnwollen zur wissenschaftlichen Betrachtung. Jeweils verbunden sind damit unterschiedliche literarische Modelle beziehungsweise Ästhetiken, woraus klar wird, dass die 11 12

13

Kassung, Entropie-Geschichten, S. 8. Vgl. hierzu Walter Moser, »Zwischen Wissenschaft und Literatur. Zu Robert Musils Essayismus«, in: Jacques Le Rider/Gérard Raulet (Hg.), Verabschiedung der (Post-)Moderne? Eine interdisziplinäre Debatte, Tübingen 1987, S. 167–196, demzufolge Musil nicht wie etwa Zola auf epistemologischer Ebene dem wissenschaftlichen Diskurs den Vorrang gebe und diesen in den Roman importiere, sondern im Gegenteil eine komplexe Verbindung der beiden Diskurstypen vornehme. »Musil gilt als der Romanautor, der zugleich Wissenschaftliches darstellt, thematisiert und einen wissenschaftlichen Stil hat.« (S. 169) Durch diese Verbindung würden, so Moser, beide Diskurse verändert: die Wissenschaft werde »fiktional erprobt, befragt und einer eigentlichen Kritik unterzogen«, während umgekehrt die traditionelle Romanform einer Veränderung ausgesetzt werde, »die bis zu ihrer praktischen Verunmöglichung« führe (ebd.). Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 2 Bde, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1978, Bd. I, Teil I, Kap. 9–11.

Musils Mann ohne Eigenschaften als Roman des Hypothetischen

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erzählte Geschichte je schon poetologisch funktionalisiert wird. Zunächst versucht Ulrich sich als Offizier in der österreichischen Armee und ist erfüllt »von einer leidenschaftlichen Erinnerung an heroische Zustände des Herrentums, der Gewalt und des Stolzes«.14 Damit wird das Modell des Desillusionsromans von Cervantes bis hin zu Balzac, Stendhal und Flaubert anzitiert, deren Helden einem heroischen Ideal nachstreben, welches durch den Kontakt mit der Wirklichkeit gebrochen wird. Während dort jedoch das Desillusionsschema die Makrostruktur der Handlung dominiert, ist es bei Musil nur noch eine Episode aus der Vorgeschichte; damit verabschiedet Musil implizit das ältere Romanmodell. Seine Desillusionierung erlebt Ulrich, als er aufgrund einer missglückten Auseinandersetzung mit einem einflussreichen »Finanzmann« seine soziale Unterlegenheit erkennt und daraufhin enttäuscht seinen Dienst quittiert. Der zweite Versuch führt ihn dann »von der Kavallerie zur Technik«15 und lässt ihn Ingenieur werden. Ulrich begeistert sich für die Erkenntnisse der Technik, wobei ihm überkommene Begriffe von Moral bedeutungslos werden: Ulrich war, als er die Lehrsäle der Mechanik betrat, vom ersten Augenblick an fieberhaft befangen. Wozu braucht man noch den Apollon von Belvedere, wenn man die neuen Formen eines Turbodynamo oder das Gliederspiel einer Dampfmaschinensteuerung vor Augen hat! Wen soll das tausendjährige Gerede darüber, was gut und bös sei, fesseln, wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine »Konstanten« sind, sondern »Funktionswerte«, so daß die Güte der Werke von den geschichtlichen Umständen abhängt und die Güte der Menschen von dem psychotechnischen Geschick, mit dem man ihre Eigenschaften auswertet!16

Die moderne Technik veranlasst also einen ästhetischen Paradigmenwechsel, einen Wandel des Schönheitsideals (»Turbodynamo« und »Dampfmaschinensteuerung« statt »Apollon von Belvedere«, Bewegung anstelle von plastischer Schönheit). Dies hat eine ästhetikgeschichtliche Parallele in der Technikbegeisterung des Futurismus. So schrieb Marinetti 1909 im Futuristischen Manifest : Nous déclarons que la splendeur du monde s’est enrichie d’une beauté nouvelle: la beauté de la vitesse. Une automobile de course avec son coffre orné de gros tuyaux, tels des serpents à l’haleine explosive … une automobile rugissante, qui a l’air de courir sur de la mitraille, est plus belle que la Victoire de Samothrace.17

14 15 16 17

Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 37. F.-T. Marinetti, »Manifeste du Futurisme«, in: Le Figaro, 20. 2. 1909, S. 1.

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Die Grenzen der Literatur

Wir erklären, dass die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert worden ist: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, welche Schlangen gleichen mit ihrem explosiven Atem … ein röhrendes Automobil, das auf Kartätschen zu rollen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

Bei dieser Technikbegeisterung, die sich im Futurismus, wie die martialische Metaphorik indiziert, mit Militarismus verbindet (so wird der Krieg von Marinetti als »seule hygiène du monde«18 gefeiert), lässt es Musils Protagonist indes nicht bewenden. Für ihn ermöglicht die Technik nämlich einen neuen Blick auf den Bereich der Moral: »das tausendjährige Gerede darüber, was gut und bös sei«, erweist sich als hinfällig angesichts der Erkenntnis, dass der Mensch keine autonomen und individuellen Eigenschaften besitze, sondern dass sein Handeln durch »Funktionswerte« zu erklären sei, dass es von sozio-historischen Umständen abhänge und sich in Statistik auflösen lasse. Die nüchtern-rationale Betrachtungsweise »mit dem Rechenschieber« wird von Ulrich zu einer Art Heroismus der Moderne stilisiert, wobei sich hier schon das später von Ulrich in die Tat umgesetzte Ideal des Lebens in Proben und Entwürfen zitathaft unter Bezug auf Emerson manifestiert (»Die Menschen wandeln auf Erden als Weissagungen der Zukunft, und alle ihre Taten sind Versuche und Proben, denn jede Tat kann durch die nächste übertroffen werden!«).19 Eine solche aus Versuchen und Proben bestehende Existenz, die sich permanent selbst überholt und außer Kraft setzt, vollzieht Ulrich am eigenen Leib. Denn als er merkt, dass die real existierenden Ingenieure nicht dem eigenen Heroismus der unbedingten Zeitgenossenschaft entsprechen, dass sie also in ihrer privaten Existenz hinter ihren eigenen technischen Erkenntnissen zurückbleiben, wendet er sich auch von diesem Beruf wieder ab und wird Mathematiker. Dieser dritte Versuch, ein bedeutender Mann zu werden, wird nicht ohne Grund als der wichtigste bezeichnet.20 Während der Techniker die eigenen Erkenntnisse nicht auf seine eigene Person anwenden müsse, genauso wenig wie eine Maschine übrigens, habe der Mathematiker keine andere Wahl, denn die Mathematik »ist die neue Denklehre selbst, der Geist selbst«, und in ihr »liegen die Quellen der Zeit und der Ursprung einer ungeheuerlichen Umgestaltung«.21 Die moderne Forschung sei nicht nur Wissenschaft, sondern Zauber, Zeremonie, ja sogar »eine Religion, deren Dogmatik von der harten,

18 19 20 21

Ebd. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 38. Vgl. die Überschrift des 11. Kapitels. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. I, S. 39.

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mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird«.22 Die Mathematik als Super- und Metawissenschaft hat Ulrich zu seinem dritten Beruf gemacht, und zwar vor allem deshalb, weil in ihr wie in der Wissenschaft allgemein die permanente Selbstaufhebung, der permanente revolutionäre Paradigmenwechsel zum Prinzip gemacht wurde, ganz analog also zur Ästhetik der Avantgarde. Und obwohl Ulrich, wie es heißt, die Mathematik liebt, ist es nur konsequent, wenn am Ende auch diese Entscheidung schließlich wieder rückgängig gemacht wird, wenn also das Prinzip des Paradigmenwechsels rekursiv auf sich selbst angewendet und dadurch die Berufswahl wieder aufgehoben wird. Das aus der modernen Wissenschaft übernommene Prinzip des Hypothetischen, des Vorläufigen und der permanenten Selbstinfragestellung findet auch auf der Ebene der Darstellung und der textimmenanten Poetologie des Romans seinen Niederschlag.23 Der Mann ohne Eigenschaften erzählt ja keine Geschichte im klassischen Sinn. Ein histoire-Substrat ist zwar vorhanden, aber der quantitativ überwiegende Teil des Textes ist nicht narrativ, sondern essayistisch. Und in die ausufernden essayistischen Reflexionen, die sich mit dem Erzählen eigentümlich mischen, fließen massenhaft wissenschaftliche Diskurselemente ein. Dies führt zur Verflüssigung der erzählten Wirklichkeit, zu ihrer Auflösung ins Hypothetische und statistisch Exemplarische, dessen Realitätsstatus fraglich wird, wie sich sehr deutlich etwa schon anhand des 1. Kapitels zeigen lässt. Dieses Kapitel trägt nicht umsonst den Gestus der ironischen Selbstaufhebung bereits im Titel programmatisch vor sich her: »Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht.« Der Beginn des Romans lautet wie folgt: Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der 22 23

Ebd. Zum Hypothetischen und zum Möglichkeitsprinzip bei Musil vgl. Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung, Stuttgart 1991, S. 114–131. Wie Kafkas Proceß, so ist auch Musils Mann ohne Eigenschaften laut Petersen ein Text, für den auf der Ebene der Tiefenstruktur die Möglichkeit das dominante Prinzip ist. Vgl. auch Thomas Sebastian, The Intersection of Science and Literature in Musil’s »The Man Without Qualities«, Rochester 2005, S. 80–108 (»Multiple Subjects: The Construction of a Hypothetical Narrative«).

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Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.24

Musil setzt in diesem Eingangspassus den meteorologischen Diskurs in ein wechselseitig ironisches Verhältnis zum narrativen Diskurs. Um die Schwierigkeit des Anfangens zu überwinden, welches mit einem klischeehaft-traditionellen Satz wie »Es war ein schöner Augusttag« in einem modernen, künstlerisch anspruchsvollen Roman, ohne lächerlich zu wirken, kaum adäquat geleistet werden könnte, wird der banale Sachverhalt in die Sprache der Meteorologie übersetzt. Diese aber wird einerseits durch anthropomorphisierende Wendungen verfremdet (»verriet noch nicht die Neigung«, »taten ihre Schuldigkeit«, »stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis«), andererseits wird durch die copia verborum ein Eindruck von Hypertrophie der Beschreibung erzeugt, deren Notwendigkeit dann durch die Rückübersetzung des meteorologischen Sachverhaltes in eine banale Aussage ironisch infrage gestellt wird: Muss man wirklich so viel wissenschaftlichen Aufwand betreiben, um am Ende so wenig zu sagen? (Man beachte auch den sich von beiden Seiten der Gleichung distanzierenden Satz des Erzählers: »Mit einem Wort […], wenn es auch etwas altmodisch ist«.) Der narrative Diskurs stellt somit den wissenschaftlichen infrage und umgekehrt. Sie können daher, so die implizite Schlussfolgerung, offenbar nur noch gemeinsam existieren. Zugleich wird durch diese meteorologische Analyse paradigmatisch ein Darstellungsverfahren exponiert, welches im Verlauf des Romans dann immer wieder zur Anwendung kommen wird. Denn die wissenschaftliche Beschreibung nimmt dem schönen Augusttag des Jahres 1913 ja seine individuelle Besonderheit und somit seine Ereignishaftigkeit; er wird zum exakt vorhersagbaren statistischen Fall (»entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern«). Dementsprechend ereignislos und anonym wird das Erzählen dann auch fortgesetzt: Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem 24

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. I, S. 9.

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Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde.25

Beschrieben werden hier in kühner und dynamischer Metaphorik (wolkige Schnüre, welche sich verdicken und rieseln, Töne, die zu einem drahtigen Geräusch verwunden sind usw.) die Bewegung anonymer Menschenmassen in einer Großstadt und die dadurch hervorgerufene Geräuschkulisse, wobei zunächst keine Wahrnehmungsperspektive markiert ist – sieht man von der Erzählerperspektive ab, deren Subjektivität durch die Metaphorik implizit markiert wird. Erst durch die Nennung eines Menschen, der »nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen« den Ort als die Stadt Wien erkannt haben würde, wird auf fiktionsinterner Ebene ein Beobachter eingeführt, in dem wir, wenn wir wollen, später Ulrich wiedererkennen können, der ebenfalls nach längerer Abwesenheit wieder zurückgekehrt ist. Sein Status ist jedoch ein hypothetischer, das heißt, er ist nicht tatsächlich, sondern allenfalls virtuell anwesend. Im Folgenden wird dann auch noch die Bedeutung der Aussage, dass es sich um die Stadt Wien handle, infrage gestellt. Ebenso wie die dargestellten Menschen anonym sind, wird also auch die Stadt, in der sie sich befinden, als anonym und somit als austauschbar modelliert, und dies wieder unter explizitem Rekurs auf naturwissenschaftliche und anthropologische Erkenntnisse: Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte. Es wäre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikromillimeter genau ausdrücken ließe; wogegen man bei etwas so viel Verwickelterem, wie es eine Stadt ist, in der man sich aufhält, immer durchaus genau wissen möchte, welche besondere Stadt das sei. Es lenkt von Wichtigerem ab.26

Das Besondere wird hier zum Unwichtigen erklärt, es verliert sich im Allgemeinen. Dadurch werden neue Konventionen des Erzählens postuliert, welche auf die üblichen Fragen der Leser (wer handelt, wann und wo?) die Antwort verweigern beziehungsweise deren Relevanz infrage stellen. Die Aufhebung des Ereignishaften durch Wissenschaft und Technik wird im zweiten Teil des ersten Kapitels sodann gleich noch einmal auf Handlungsebene vorgeführt, wodurch der Roman seine eigene, eben erst rudimentär entwickelte Poetik in einer mise en abyme selbstreflexiv inszeniert. Ein 25 26

Ebd. Ebd., S. 9f.

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Figurenpaar, dessen Status ebenso wie der des oben erwähnten Beobachters, der nach langer Abwesenheit wieder zurückgekehrt ist, rein hypothetisch ist (»Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt«),27 wird Zeuge eines Unfalles, bei dem ein Passant schwer verletzt wird. Das daraus resultierende Unbehagen bannt der vermeintliche Arnheim, indem er als Unfallursache den zu langen Bremsweg des Fahrzeugs nennt: Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wußte nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.28

Auch hier wird also die Ereignishaftigkeit, das Besondere des eben geschehenen Unfalles, aufgehoben in der Allgemeinheit von technischen Aussagen und am Ende des Kapitels dann explizit durch den Hinweis auf Unfallstatistiken. Die Poetik des Hypothetischen und der permanenten Selbstaufhebung bringt Musil auf einen Begriff: den des Essayismus. Ulrichs Lebensweise steht allegorisch für diese Poetik ein. Er versucht, die »Utopie des exakten Lebens« zu verwirklichen, welche vom Erzähler als Signatur einer Epoche, der Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg, ausgewiesen wird. Diese Utopie versucht Ulrich stellvertretend für seine Zeitgenossen in einem Experiment an sich selbst zu verwirklichen. Das Experiment führt zu einem Menschen, »in dem eine paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit stattfindet«.29 Diese paradoxe Verbindung nun steht in Korrelation mit der Gattung des Essays, denn: »Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, – denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können.«30 Es geht Ulrich also um die möglichst vorurteilslose, exakte Erfassung seiner selbst (also ein durchaus wissenschaftlich inspiriertes Vorhaben), aber unter Verzicht auf begriffliche Reduktion. Die in der abendländischen Tradition implizierte Binarität der Alternativen weist er zurück: Weder möchte er Gelehrter (ein 27 28 29 30

Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 246. Ebd., S. 250.

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»Mann, der die Wahrheit will«) sein, noch Schriftsteller (»ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will«).31 Ulrich lehnt die binäre Alternative ab und möchte beides zugleich sein. Auf der Ebene der literarischen Darstellung (des discours) verweigert Musil sich ganz analog dazu der Entscheidung, ob er einen Roman oder doch lieber eine wissenschaftliche Abhandlung schreiben soll. Er tut keines von beiden, indem er beides zugleich tut und somit einen hybriden literarischen Text schafft, der seine experimentelle, stets vorläufig-hypothetische Identität durch die Verschmelzung von literarischem und wissenschaftlichem Diskurs gewinnt. Dies möchte ich im Folgenden anhand einiger Auszüge aus Kapitel 72 demonstrieren. Dieses Kapitel trägt folgende Überschrift: »Das in den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen«.32 Das Kapitel steht im Zusammenhang mit der sogenannten »Parallelaktion«. Diese zielt darauf ab, das 70-jährige Regierungsjubiläum des habsburgischen Kaisers Franz-Joseph, welches im Jahr 1918 stattfinden soll, gebührend vorzubereiten, und zwar parallel zu dem 30-jährigen Kronjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II. Eine der Romanfiguren mit Namen Diotima beruft im 71. Kapitel den sogenannten »Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät« ein. Ihre Gäste sind Gelehrte und Schöngeister, also mit anderen Worten Vertreter der Wissenschaft und Vertreter der Literatur. Die beiden Bereiche werden in diesem Zusammenhang einander gegenübergestellt; so wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass das Konzept der Autorschaft im Bereich der Naturwissenschaften ein ganz anderes sei als im Bereich dessen, was Musils Erzähler als schöner Geist bezeichnet. Zu Beginn des 72. Kapitels ist nun die Rede von dem Lächeln der Gelehrten, also der Vertreter der Wissenschaft, die angesichts der Reden der Schöngeistigen ihrer »Ehrerbietung und Inkompetenz«33 Ausdruck verleihen. Dies nimmt der Erzähler zum Anlass für eine längere Reflexion über die Wissenschaft. Er behauptet, dass in den Wissenschaftlern »ein Hang zum Bösen rumorte, wie das Feuer unter einem Kessel«.34 Diese Behauptung steht im offensichtlichen Gegensatz zum Selbstverständnis der Wissenschaftler, die von sich behaupten, dass sie »schlicht der Wahrheit und dem Fortschritt«35 31 32

33 34 35

Ebd., S. 254. Vgl. hierzu auch die Analyse bei Olav Krämer, Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry, Berlin/New York 2009, S. 108–114. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. I, S. 301. Ebd. Ebd.

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dienten. Um seine These zu belegen, verweist der Erzähler auf den Ursprung der modernen Naturwissenschaft und nennt einen der wichtigsten Vertreter derselben, nämlich Galilei. Dieser habe sich der Erforschung nicht des Wesens der Natur, ihrer Geheimnisse, sondern ihrer Oberfläche gewidmet, das heißt, er habe sich nicht gefragt, »aus welchem in ihrem Wesen liegenden Grund die Natur eine Scheu vor leeren Räumen habe, so daß sie einen fallenden Körper solange Raum um Raum durchdringen und ausfüllen lasse, bis er endlich auf festem Boden anlange.«36 Stattdessen habe Galilei ganz einfach ergründet, »wie schnell ein solcher Körper fällt, welche Wege er zurücklegt, Zeiten verbraucht und welche Geschwindigkeitszuwüchse er erfährt.«37 Aus dieser Abkehr von der Metaphysik und Hinwendung zur »harten Betrachtung der Dinge« habe sich das moderne Leben im Maschinenzeitalter entwickelt, »die Eisenbahnfahrpläne, die Arbeitsmaschinen, die physiologische Psychologie und die moralische Verderbnis der Gegenwart.«38 Mit dieser »Lust an den Tatsachen«39 stehe der moderne Wissenschaftler in der Tradition der Krieger, Jäger und Kaufleute, »mit anderen Worten, man erblickt nichts anderes als eben die alten Jäger-, Soldaten- und Händlerlaster, die hier bloß ins Geistige übertragen und in Tugenden umgedeutet worden sind.«40 Und genau diesen Lastern wohne, so der Erzähler, immer noch das »Element des Urbösen« inne, welches er wie folgt expliziert: Angesichts alles Hohen stecke im Menschen der Impuls, es zu zerstören. Wer kennt nicht die boshafte Verlockung, die bei der Betrachtung eines schönglasierten üppigen Topfes in dem Gedanken liegt, daß man ihn mit einem Stockhieb in hundert Scherben schlagen könnte? Zum Heroismus der Bitterkeit gesteigert, daß man sich im Leben auf nichts verlassen könne, als was niet- und nagelfest sei, ist sie ein in die Nüchternheit der Wissenschaft eingeschlossenes Grundgefühl, und wenn man es aus Achtbarkeit nicht den Teufel nennen will, so ist doch zumindest ein leichter Geruch von verbranntem Pferdehaar daran.41

Beispiele gibt der Erzähler für diese Lust, das Hohe zu Fall zu bringen, indem er auf die Vorliebe der Wissenschaftler verweist, alles durch mechanische, statistische, materielle Aussagen zu erklären, also beispielsweise »Gemütsbewegungen in Zusammenhang mit inneren Ausscheidungen zu bringen; festzustellen, daß der Mensch zu acht oder neun Zehnteln aus Wasser besteht; […] Schönheit auf gute Verdauung und ordentliche Fettgewebe zu36 37 38 39 40 41

Ebd., S. 302. Ebd. Ebd. Ebd., S. 303. Ebd. Ebd.

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rückzuführen« usw.42 Durchaus konzediert der Erzähler, dass es sich hier um die Liebe zur Wahrheit handle, hält aber dagegen, dass diese Liebe zur Wahrheit umgeben sei von einer »Vorliebe für Desillusion«.43 In seiner Analyse hat also die Wahrheitssuche der Wissenschaft eine Kehrseite, »ein verdächtiges Nebengeräusch«.44 Diese Ambivalenz der wissenschaftlichen Wahrheitssuche könne man aber ins Positive wenden, indem man »den zweideutigen Geschmack an der Wahrheit und ihren boshaften Nebenstimmen des Menschengehässigen und Höllenhundsmäßigen offen zur Schau« trage.45 Diese Haltung sei gleichbedeutend mit der »Utopie des exakten Lebens«, der »Gesinnung auf Versuch und Widerruf«,46 welche der Protagonist Ulrich anstrebe. Dieses Verhalten zur Lebensgestaltung ist nun freilich keineswegs pflegend und befriedend; es würde das Lebenswürdige keineswegs nur mit Ehrfurcht ansehen, sondern eher wie eine Demarkationslinie, die der Kampf um die innere Wahrheit beständig verschiebt. Es würde an der Heiligkeit des Augenblickszustandes der Welt zweifeln, aber nicht aus Skepsis, sondern in der Gesinnung des Steigens, wo der Fuß, der fest steht, jederzeit auch der tiefere ist. Und in dem Feuer einer solchen Ecclesia militans, welche die Lehre haßt um des noch nicht Geoffenbarten willen und Gesetz und Gültiges beiseite schiebt im Namen einer anspruchsvollen Liebe zu ihrer nächsten Gestalt, würde der Teufel wieder zu Gott zurückfinden, oder, einfacher gesprochen, die Wahrheit wäre dort wieder die Schwester der Tugend und müßte nicht mehr gegen sie die versteckten Bosheiten verüben, welche eine junge Nichte gegen eine altjüngferliche Tante ausheckt.47

Auffällig ist an diesem Passus, dass die wissenschaftliche Grundeinstellung, die Ulrichs Utopie des exakten Lebens zugrunde liegt, positiv bewertet wird, das heißt also, dass der Kern dessen, was zuvor vom Erzähler kritisch durchleuchtet worden war, nämlich die Haltung des Wissenschaftlers, aus Liebe zur Wahrheit alles infrage zu stellen und in Zweifel zu ziehen, eine positive Qualität besitzt. Zum anderen wird diese positive Bewertung des wissenschaftlichen Geistes im Modus des Utopischen, das heißt des noch nicht Realisierten formuliert. Der Erzähler verwendet den Konjunktiv (»würde«, »wäre«). Außerdem bedient er sich einer hochmetaphorischen Sprechweise: Da ist die Rede von einer Demarkationslinie (militärische Metapher), von einer Gesinnung des Steigens (Bereich des Bergsteigens), es wird auf die 42 43 44 45 46 47

Ebd., S. 303f. Ebd., S. 304. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Ecclesia militans verwiesen (religiöser Bereich), und die Wahrheit wird zur Tugend in ein metaphorisches Verwandtschaftsverhältnis gestellt (»Schwester«, »Nichte«, »Tante«). Der Text reflektiert also ausführlich über den Stellenwert und die Bedeutung der modernen Wissenschaft. Er tut dies essayistisch in scheinbar autonomer Erzählerrede, das heißt, man hat den Eindruck, als würde sich der Erzählerkommentar von der erzählten Handlung völlig ablösen. Der romaninterne Verweis auf Ulrichs Utopie des exakten Lebens indes macht deutlich, dass dieser Kommentar eine handlungsrelevante Dimension besitzt. Die Autonomie des Erzählerkommentars und dessen handlungstechnische Funktionalisierung stehen also im Gegensatz zueinander und fügen sich zu einer widersprüchlichen Einheit. Trotz der Gelehrtheit des Erzählerkommentars besitzt diese Schreibweise auch eine poetische Dimension, indem der Text das Thematisierte heterogen metaphorisiert. Dadurch werden je unterschiedliche Perspektiven und Fokussierungen des Thematisierten erzeugt. Der Leser muss immer zweigleisig lesen, er muss versuchen, die komplexen Ausführungen des Erzählers einerseits als solche zu verstehen, indem er seine Argumentation, die nicht immer auf den ersten Blick klar erkennbar ist, nachvollzieht, andererseits muss er immer auch im Blick auf die Gesamthandlung lesen. Der eigentümliche Status dieses Erzählens erweist sich auch noch an jener Stelle, da gegen Ende des Kapitels der Bogen zum Anfang geschlagen wird, indem es heißt: »es wird also ein Männerlächeln vielerlei von solcher Art ausdrücken, auch wenn es sich der Selbstbeobachtung entzieht oder überhaupt noch nie durchs Bewußtsein gegangen ist, und so beschaffen war das Lächeln, mit dem sich die meisten der eingeladenen berühmten Fachleute in die lobenswerten Bestrebungen Diotimas fügten.«48 Die scheinbar autonome Erzählerrede erweist sich hier plötzlich rückwirkend als perspektivische Figurenrede, deren Bewusstheitsgrad allerdings im Vagen verbleibt, denn es wird ja ausdrücklich infrage gestellt, dass die solchermaßen über ihren Berufsstand nachdenkenden Wissenschaftler zu einer solch expliziten Selbstanalyse fähig seien, und auch der Inhalt dieser Analyse zeigt, dass die Wissenschaftler aufgrund ihres Selbstverständnisses keineswegs anerkennen können, dass ihr eigenes Tun ambivalent ist. Die perspektivisch den im Übrigen anonym bleibenden Trägern des Männerlächelns zugeschriebene Figurenrede oder Reflexion ist also vielmehr eine Projektion des Erzählers auf diese Figuren, eine Exegese des »in den Bart Lächelns«. Diese Metapher zeigt an, dass der Erzähler das Unsichtbare sichtbar zu machen versucht, denn wörtlich genommen kann man ein solches Lächeln ja gar 48

Ebd., S. 306.

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nicht sehen. Außerdem ist dieses Lächeln ein Zeichen der ironischen Distanz des Erzählers zu seinem Erzählgegenstand. So wie die Wissenschaft als ambivalent dargestellt wird, ist also auch das Erzählen selbst in höchster Weise ambivalent.

6.2 Borges oder die Subvertierung des Epistemologischen in der literarischen Fiktion49 Der Argentinier Borges (1899–1986) veröffentlichte im Jahr 1941 eine Sammlung von sieben Kurztexten unter dem Titel El jardín de senderos que se bifurcan. Diese Sammlung wurde 1944 mit der aus neun Texten bestehenden Sammlung Artificios verbunden und unter dem Titel Ficciones erneut publiziert. Nun ist in der Forschung hinlänglich dargelegt worden, in welch umfassender Weise Borges wissenschaftliches und epistemologisches Gedankengut verarbeitet.50 Ich möchte dagegen weniger auf das verarbeitete Wissen abzielen als vielmehr auf das Verhältnis, in dem dieses Wissen zur Form seiner Ver-

49

50

Das Borges-Kapitel übernehme ich aus Thomas Klinkert, »Literatur, Wissenschaft und Wissen – ein Beziehungsdreieck (mit einer Analyse von Jorge Luis Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius)«, in: ders./Monika Neuhofer (Hg.), Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, Berlin/New York 2008, S. 65–86, hier S. 77–85 (die Fußnoten sind geringfügig überarbeitet und ergänzt worden). Ich verweise hier exemplarisch auf folgende Studien: Ulrich Schulz-Buschhaus, »Borges und die Décadence. Über einige literarische und ideologische Motive der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius«, in: Romanische Forschungen 96 (1984), S. 90–100; Heinz Schlaffer, Borges, Frankfurt/M. 1993; Santiago Juan-Navarro, »La alquimia del verbo: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius de J. L. Borges y la sociedad de la Rosa-Cruz«, in: Hispanofila 120 (1997), S. 67–80; Alfonso de Toro/Fernando de Toro (Hg.), Jorge Luis Borges. Thought and Knowledge in the XXth Century, Frankfurt/M. 1999, darin insbesondere: Eckhard Höfner, »Some Aspects of the Problem of Time in the Works of Jorge Luis Borges: An Eclectic Between Plato and the Theory of Relativity«, S. 207–239; Mario Bunge et al., Borges científico. Cuatro estudios, Buenos Aires 1999; Leo Corry, »Algunas ideas científicas en la obra de Borges y su contexto histórico«, in: Myrna Solotorevsky/Ruth Fine (Hg.), Borges en Jerusalén, Frankfurt/M. 2003, S. 49–74; J. Andrew Brown, »Borges’s Scientific Discipline«, in: ders., Test Tube Envy. Science and Power in Argentine Narrative, Lewisburg 2005, S. 125–159; Alfonso de Toro (Hg.), Jorge Luis Borges: Ciencia y Filosofía, Hildesheim 2007. – Zur allgemeinen Charakterisierung der Ficciones siehe Noé Jitrik, »Estructura y significación en Ficciones, de Jorge Luis Borges«, in: El fuego de la especie. Ensayos sobre seis escritores argentinos, Buenos Aires 1971, S. 129–150.

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arbeitung steht.51 Es geht mir also um die diskursive Gestalt jener Texte, die Borges nicht ohne Grund als Ficciones bezeichnet. Im Vorwort zu El jardín de senderos que se bifurcan schreibt der Autor: Desvarío laborioso y empobrecedor el de componer vastos libros; el de explayar en quinientas páginas una idea cuya perfecta exposición oral cabe en pocos minutos. Mejor procedimiento es simular que esos libros ya existen y ofrecer un resumen, un comentario. Así procedió Carlyle en Sartor Resartus; así Butler en The Fair Haven; obras que tienen la imperfección de ser libros también, no menos tautológicos que los otros. Más razonable, más inepto, más haragán, he preferido la escritura 51

Vgl. hierzu etwa Walter Mignolo, »Emergencia, espacio, ›mundos posibles‹: las propuestas epistemológicas de Jorge L. Borges«, in: Revista Iberoamericana 43 (1977), S. 357–379; Arturo Echevarría Ferrari, »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius: creación de un lenguaje y crítica del lenguaje«, in: Revista Iberoamericana 43 (1977), S. 399–413; Ottmar Ette, Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist 2001, Kapitel 5 (»Vom modernen Erzählraum zum Orbis Tertius«), insbes. S. 247–268. – Mignolo betrachtet die Erzählungen von Borges als paradigmatisches Beispiel »emergenter« Textstrukturen, also solcher, die mit bislang gültigen narratologischen Kategorien nicht mehr adäquat beschreibbar sind. Mithilfe der Unterscheidung »discurso analógico« (das heißt »aquel tipo de discurso que respeta la continuidad en la contigüidad« [jener Diskurstyp, der in der Kontiguität die Kontinuität respektiert]) vs. »discurso discontinuo« (das heißt »aquel que opera una alteración de la continuidad y en el cual nuestra intuición reconoce una ruptura entre dos hechos (sintagmas) adyacentes« [jener, der eine Veränderung der Kontinuität bewirkt und in dem unsere Anschauung einen Bruch zwischen zwei benachbarten Sachverhalten (Syntagmen) erkennt], S. 363, Kursivierung im Text) beschreibt Mignolo das Spezifische einer Erzählung wie etwa El Sur, welche zugleich beide Lesarten – die »analoge« und die »diskontinuierliche« – zulasse. Die Koexistenz mehrerer, einander ausschließender Lesarten lasse auf die Existenz mehrerer möglicher Welten schließen, und insofern seien die Erzählungen von Borges aufgrund ihrer Darstellungsform beziehungsweise Schreibweise als Korrelate bestimmter Theoriediskussionen zu betrachten (vgl. insbes. S. 367). – Echevarría Ferrari zufolge lotet Borges in Tlön Natur und Grenzen jeglicher Sprache aus. Dies werde mittels der Form der Texte geleistet, denn »los principios gnoseológicos que postula el cuento están inscritos en el desarrollo de la trama, en la estructura misma del relato y en un hábil, lúcido y complejísimo manejo de un lenguaje para luego llevar a cabo una devastadora crítica del lenguaje« [die gnoseologischen Prinzipien, welche von der Erzählung postuliert werden, sind der Entwicklung der Handlung eingeschrieben, der Struktur der Erzählung selbst und der geschickten, luziden und höchst komplexen Handhabung der Sprache, die dazu dient, eine zerstörerische Kritik der Sprache ins Werk zu setzen] (S. 400). – Ette untersucht die Hybridität der Erzählungen von Borges, die Fiktionalisierung »diktionaler« Modelle (S. 247, zum Begriff der »Diktion« vgl. Gérard Genette, Fiction et diction, Paris 1991), welche dazu führt, dass man die Erzählungen sowohl diktional-referentiell als auch fiktional lesen kann. – An die genannten Untersuchungen möchte ich anknüpfen.

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de notas sobre libros imaginarios. Éstas son ›Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‹ y el ›Examen de la obra de Herbert Quain‹.52 Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorzulegen. So machte es Carlyle in Sartor Resartus, so Butler in The Fair Haven: Werke, behaftet mit der Unvollkommenheit, daß sie eben auch Bücher sind, nicht minder tautologisch als die anderen. Aus größerer Gewitztheit, größerer Unbegabtheit, größerer Faulheit habe ich das Schreiben von Anmerkungen zu imaginären Büchern vorgezogen. Diese sind ›Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‹ und ›Untersuchung des Werks von Herbert Quain‹.53

Borges folgt hier ganz offensichtlich einer Logik der Reduktion, welche Sinn und Zweck von Büchern grundlegend infrage stellt und als Zeichen einer für das 20. Jahrhundert charakteristischen Krise der Literatur gedeutet werden kann. Es lohne nicht den Aufwand, 500-seitige Bücher zu schreiben, wenn man die in ihnen enthaltenen Ideen mündlich in wenigen Minuten vermitteln könne. Daher – so der erste Schritt der Reduktion – sei es besser, man gebe vor, dass besagte Bücher bereits existierten, und schreibe eine Zusammenfassung oder einen Kommentar, das heißt, man kürzt einen Teil der Bücher weg, nämlich die Primärtexte. Diese Art von kommentierenden Büchern sind wie etwa die genannten von Carlyle und Butler Metatexte (Bücher über Bücher) mit der Besonderheit, dass ihr Gegenstand, also das kommentierte Buch, nicht real, sondern fiktiv ist. Damit wird bei Borges also die Verschränkung von Fiktion (einem literaturtypischen Merkmal) und Metatextualität (einem im weiteren Sinne wissenschaftsspezifischen Merkmal) zum Programm erhoben. Dieses Programm wird in einem zweiten Schritt der Reduktion dahingehend verändert, dass Borges nicht Bücher, sondern nur »notas«, also Anmerkungen beziehungsweise Kurztexte, über imaginäre Bücher schreibt. Die Paradoxie lässt sich indes dadurch nicht aus der Welt schaffen, denn auch die »notas« ergeben in ihrer Summe am Ende wieder ein ganzes Buch. Wenn Borges sein eigenes Vorhaben mit den widersprüchlichen Adjektiven »Más razonable, más inepto, más haragán« motiviert, so scheint er auf dessen grundlegende Paradoxie zu verweisen. Liest man den die Sammlung eröffnenden (und von Borges als Beispiel für sein Reduktionsverfahren genannten) Text Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, so stellt man fest, dass dieser zunächst bei unvoreingenommener Betrachtung 52 53

Jorge Luis Borges, Obras completas, 4 Bde, Barcelona 1996, Bd. I, S. 429. Jorge Luis Borges, Fiktionen. Erzählungen, übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs, Frankfurt/M. 1994, S. 13.

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aussieht wie ein non-fiktionaler Bericht. Wir finden eine Reihe von Authentizitätssignalen: Gleich zu Beginn ist die Rede von einer mit dem Erzähler befreundeten Person namens Bioy Casares. Diese Person ist der Schriftsteller Adolfo Bioy Casares, der 1940 einen der großen Romane des 20. Jahrhunderts publiziert hat, nämlich La invención de Morel, dessen Handlungsführung übrigens sein Freund Borges in einem Vorwort als »perfekt« bezeichnet hat.54 Die beiden Freunde befinden sich in Ramos Mejía, einem real existierenden Ort in der Nähe von Buenos Aires. Sie sprechen, was bei Schriftstellern üblich sein dürfte, über einen zu schreibenden Roman: […] nos demoró una vasta polémica sobre la ejecución de una novela en primera persona, cuyo narrador omitiera o desfigurara los hechos e incurriera en diversas contradicciones, que permitieran a unos pocos lectores – a muy pocos lectores – la adivinación de una realidad atroz o banal.55 […] wir waren in eine weitläufige Polemik über die Ausarbeitung eines Romans in Ich-Form geraten, dessen Erzähler Tatsachen auslassen oder entstellen und sich in verschiedene Widersprüche verwickeln sollte, die es wenigen Lesern – sehr wenigen Lesern – gestatten würden, eine grausige oder banale Wirklichkeit zu erahnen.56

Alles wirkt also, als wäre es direkt aus dem Leben gegriffen. Allerdings lässt sich das letzte Zitat auf einer zweiten Ebene auch als Fiktionssignal und heimliche Rezeptionsanweisung57 für den vorliegenden Text verstehen, einen Text, der ja ebenfalls, wie noch zu zeigen ist, voller Fallen und Widersprüche steckt. Durch einen Zufall fällt die Rede auf eine Gegend namens Uqbar. Als nämlich die beiden Schriftsteller von einem Spiegel geblendet werden, erinnert Bioy Casares an das Diktum eines Häresiarchen aus Uqbar, wonach »los espejos y la cópula son abominables, porque multiplican el número de los hombres«58 [(…) die Spiegel und die Paarung seien abscheulich, weil sie die 54

55 56 57

58

Adolfo Bioy Casares, La invención de Morel. El gran Serafín, hg. v. Trinidad Barrera, Madrid 1984, S. 91. Obras completas, Bd. I, S. 431. Fiktionen, S. 15. Vgl. hierzu auch Ette, Literatur in Bewegung, S. 249, der den Beginn von Tlön – also die den Erzähler und seinen Freund Bioy Casares implizierende Lese- und Schreibsituation – als »Keimzelle oder generatives Modell« des Textes bezeichnet, also poetologisch interpretiert. Ebenso Juan-Navarro, »La alquimia del verbo«, S. 68: »Esta novela imaginaria nos remite a cualquiera de los relatos incluidos en la antología Ficciones y, en especial, al propio cuento que estamos leyendo.« [Dieser imaginäre Roman verweist uns auf die in der Sammlung Ficciones enthaltenen Erzählungen, und insbesondere auf die Erzählung, welche wir gerade lesen.] Obras completas, Bd. I, S. 431.

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Zahl der Menschen vervielfachen].59 Borges fragt seinen Freund nach der Quelle dieses Diktums, Bioy verweist ihn auf die Anglo-American Cyclopaedia, einen Nachdruck der Encyclopaedia Britannica. Als man im betreffenden Band nachschlägt, findet sich jedoch kein Eintrag zum Stichwort Uqbar. Die dadurch ausgelöste Recherche ergibt, dass Bioy ein offenbar abweichendes Exemplar eben dieser Enzyklopädie besitzt, in dem sich jener von ihm zitierte Eintrag zu Uqbar tatsächlich befindet. Sein Exemplar hat vier Seiten mehr als der reguläre Teilband der Enzyklopädie. Allmählich erkennt man als Leser, dass der Text Tlön, Uqbar, Orbis Tertius keineswegs ein schlichter Bericht von tatsächlich Vorgefallenem ist, sondern dass er ein hochartifizieller, auf Symmetrien und Spiegelungen beruhender künstlerischer und damit ein die eigenen Prämissen durch Gattungshybridisierung unterlaufender Text ist.60 Zwei Schriftsteller unterhalten sich übers Romaneschreiben. Dabei geht es um Entstellungen, Auslassungen und Widersprüche und darum, dass nur wenige Leser in der Lage sein werden, die in der romanesken Darstellung verborgene Wirklichkeit zu erkennen. Das eigentliche Thema ist also die Täuschung des Lesers durch den Text. Die Protagonisten werden sodann von einem Spiegel geblendet. Dies führt zum Thema der Verdoppelung, welches zusammen mit dem der Täuschung das Hauptthema des nun Folgenden sein wird, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass Blendung ebenfalls etwas mit Täuschung zu tun hat. Die Anglo-American Cyclopaedia ist eine Kopie oder Verdoppelung der Encyclopaedia Britannica, allerdings eine offenbar in mindestens zwei Varianten existierende Kopie. Die Kopie wird also noch einmal kopiert – und es wird zusätzlich eine Abweichung eingebaut, um den Leser zu verwirren. Das Spiel mit Täuschung und Verdoppelung geht noch sehr viel weiter. Später nämlich stößt der Ich-Erzähler durch Zufall auf einen Band mit dem Titel: A First Encyclopaedia of Tlön. Vol. XI. Hlaer to Jangr. Dazu folgender Kommentar des Erzählers: 59 60

Fiktionen, S. 15. Michael Rössner, »Textsortenlabyrinthe. Zu den Textstrategien bei Macedonio Fernández, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar«, in: Iberoromania 39 (1994), S. 79–92, hier S. 85, beschreibt die in Tlön verwendete Textstrategie folgendermaßen: »[…] die Fiktion wird zum vorgeblich autobiographischen Bericht, der nicht mehr in der Tradition literarischer Pseudo-Autobiographien steht, sondern nach Art der gerichtlichen Zeugenaussage oder des Polizeiberichtes exakte und größtenteils verifizierbare Angaben macht, um dann in essayistischer Form die seltsamen Vorgänge und den geheimnisvollen Artikel argumentativ zu hinterfragen und zu kommentieren.« Die für Borges charakteristische Transgression bestehe im »Einbruch […] des essayistischen in den narrativen Text« (ebd.).

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Die Grenzen der Literatur

Hacía dos años que yo había descubierto en un tomo de cierta enciclopedia práctica una somera descripción de un falso país; ahora me deparaba el azar algo más precioso y más arduo. Ahora tenía en las manos un vasto fragmento metódico de la historia total de un planeta desconocido […]. Todo ello articulado, coherente, sin visible propósito doctrinal o tono paródico.61 Vor zwei Jahren hatte ich in einem Band einer gewissen Raubdruck-Enzyklopädie die zusammenfassende Beschreibung eines falschen Landes entdeckt; jetzt bescherte mir der Zufall etwas weit Kostbareres und Schwierigeres. Jetzt hielt ich ein umfangreiches methodisches Fragment der Gesamtgeschichte eines unbekannten Planeten in Händen […]. Dies alles gegliedert, zusammenhängend, ohne ersichtliche Lehrabsicht oder parodistische Färbung.62

Der Text gibt also vor, dass der betreffende Band einer Enzyklopädie von Tlön tatsächlich existiere. Zugleich wird vom Erzähler klar gesagt, dass die Welt von Tlön eine fiktive sei. Er vermutet sogar, dass ein ganzes Wissenschaftlerkollektiv daran gearbeitet habe, Tlön zu erfinden, denn ein Einzelner habe unmöglich allein alles erfinden und niederschreiben können. Die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist somit bislang auf der Handlungsebene des Textes möglich, sodass man diesen weiterhin als Metatext über Fiktion lesen kann, mithin in gewisser Weise als literaturwissenschaftlichen Text. Wenn man allerdings die oben erwähnten Fiktionssignale (autoreferentielle Situation der beiden Schriftsteller, Spiegelungen, Täuschungen und Verdoppelungen) mit berücksichtigt, dann wird die Unterscheidung zwischen Fiktion und wirklichkeitsdarstellendem Bericht auf der Ebene der énonciation schon fragwürdig. Im Folgenden wird vom Erzähler das in Tlön herrschende »concepto del universo« vorgestellt. Es ergibt sich das Bild einer der uns bekannten in vielerlei Hinsicht entgegengesetzten Welt. Die Bewohner von Tlön sind ›Idealisten‹. »El mundo para ellos no es un concurso de objetos en el espacio; es una serie heterogénea de actos independientes. Es sucesivo, temporal, no espacial.«63 [Die Welt ist für sie nicht ein Zusammentreffen von Gegenständen im Raum, sondern eine heterogene Reihenfolge unabhängiger Handlungen. Sie ist sukzessiv, zeitlich, nicht räumlich.]64 Man glaubt nicht an räumlich-zeitliche Identität und Kontinuität und kennt somit nicht das Kausalitätsprinzip:

61 62 63 64

Obras completas, Bd. I, S. 434. Fiktionen, S. 20. Obras completas, Bd. I, S. 435. Fiktionen, S. 21.

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[…] no conciben que lo espacial perdure en el tiempo. La percepción de una humareda en el horizonte y después del campo incendiado y despues del cigarro a medio apagar que produjo la quemazón es considerada un ejemplo de asociación de ideas.65 Sie erfassen das Räumliche nicht als in der Zeit fortdauernd. Die Wahrnehmung eines Rauchgewölks am Horizont und danach der brennenden Steppe und danach der halberloschenen Zigarre, die den Brand verursachte, wird als ein Beispiel von Gedankenassoziation gewertet.66

Unter diesen Bedingungen kann es keine Wissenschaft geben, denn einen Sachverhalt zu erklären oder ihn zu beurteilen bedeutet, ihn mit einem anderen Sachverhalt zu verknüpfen, so wie man Rauch mit Feuer verknüpft und jenen als Zeichen für dieses interpretiert; und eine solche Verknüpfung ist – der in Tlön herrschenden ›idealistischen‹ Überzeugung zufolge – eine nachträgliche, durch das beobachtende Subjekt vorgenommene Manipulation, hat also nichts mit der beobachteten Objektwelt selbst zu tun. Der Text von Borges vermittelt hier also offenbar eine epistemologische Grundlagenreflexion. Er ist ein Text, der Wissenschaft, Philosophie und Wissen zum Gegenstand hat und der uns an einem fiktiven Gegenentwurf zu unserer Welt die Voraussetzungen und die Relativität unseres eigenen Denkens vor Augen führt. Das ist die ›Ernstebene‹ des Textes, die neben der artistischen Virtuosität und ironischen Abgründigkeit Bestand hat. Dennoch kann man aus dieser Ernstebene keine kohärente philosophische oder wissenschaftliche Position ableiten. Dagegen spricht schon die grundlegende Widersprüchlichkeit des Textes, die wir gleich weiter beobachten können. Trotz des fehlenden Kausalitätsdenkens nämlich gibt es in Tlön zahllose Zweige der Wissenschaft und Philosophie, und zwar gerade deshalb, weil man sich dessen bewusst ist, dass jede Wissenschaft und jede Philosophie (Borges scheint hier keinen terminologischen Unterschied zwischen beiden zu machen) unter dem Zeichen des »Als Ob«67 steht, also letztlich nicht nach Wahrheitssuche strebt. »Los metafísicos de Tlön no buscan la verdad ni siquiera la verosimilitud: buscan el asombro. Juzgan que la metafísica es una rama de la literatura fantástica.«68 [Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: Sie suchen das Erstaunen. Sie halten die Metaphysik für

65 66 67

68

Obras completas, Bd. I, S. 436. Fiktionen, S. 23. Borges zitiert den Titel von Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (Leipzig 1922) auf Deutsch (Obras completas, Bd. I, S. 436). Obras completas, Bd. I, S. 436.

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Die Grenzen der Literatur

einen Zweig der phantastischen Literatur.]69 Weitere Bereiche des Tlön’schen Geisteslebens, die der Erzähler im Folgenden vorstellt, sind: der Streit um den Materialismus (illustriert durch die Anekdote von den neun Geldstücken), die Geometrie, die Literatur (es gibt keine individuelle Autorschaft, denn »se ha establecido que todas las obras son obra de un solo autor, que es intemporal y es anónimo«70 – [(…) man geht davon aus, daß alle Werke das Werk eines einzigen Autors sind, der zeit- und namenlos ist],71 die Rückwirkung des Idealismus auf die Realität (hrönir als verdoppelte verlorene Gegenstände – erneut greift der Text hier das Thema der Verdoppelung auf). An den Text, der mit der Beschreibung von Tlön abbricht und somit nicht wieder auf die Ebene des Erzählrahmens, also der durch die »conjunción de un espejo y de una enciclopedia« ausgelösten Suche des Ich-Erzählers, zurückkehrt, schließt sich ein auf das Jahr 1947 datierter Nachtrag (»Posdata de 1947«)72 an. Mittlerweile hat der Erzähler weitere Informationen über die Entstehung der Fiktion von Tlön erhalten. Demnach gehe die Idee auf den Beginn des 17. Jahrhunderts zurück, als eine Geheimgesellschaft den Plan entwickelt habe, ein Land zu erfinden. Im Laufe der Jahrhunderte sei daraus die Idee entstanden, einen ganzen Planeten zu erfinden, zugleich aber diese Erfindung geheim zu halten. Einer der Urheber des Projekts sei der amerikanische Millionär Ezra Buckley gewesen, der mit dieser menschlichen Gegenschöpfung Gott, an den er nicht geglaubt habe, herausfordern habe wollen: »Buckley descree de Dios, pero quiere demostrar al Dios no existente que los hombres mortales son capaces de concebir un mundo.«73 [Buckley glaubt nicht an Gott, will aber dem nichtexistierenden Gott beweisen, daß die Sterblichen fähig sind, eine Welt auszuhecken.]74 Im Jahr 1914 erscheint die erste Ausgabe der 40-bändigen Ersten Enzyklopädie von Tlön, die geheim bleibt und im Folgenden in eine der – natürlich ebenfalls erfundenen – Sprachen von Tlön übersetzt wird; diese übersetzte und erweiterte Fassung der 69 70 71 72

73 74

Fiktionen, S. 23. Obras completas, Bd. I, S. 439. Fiktionen, S. 27. Ette, Literatur in Bewegung, S. 256, macht darauf aufmerksam, dass das auf 1947 datierte Nachwort eine Mystifikation ist, war es doch bereits im Erstdruck von Tlön (erschienen im Mai 1940 in der Zeitschrift Sur) enthalten. Diese Mystifikation aber, so Ette, macht dem Leser des Erstdruckes, der die im Nachwort erwähnte Ausgabe der Zeitschrift Sur ja in Händen hält, deutlich, dass hier ein bewusstes Spiel mit den Grenzen zwischen Fiktion und Realität inszeniert wird beziehungsweise, um es mit den von Ette verwendeten, von Genette stammenden Begriffen zu sagen: mit Fiktion und Diktion. Obras completas, Bd. I, S. 441. Fiktionen, S. 30.

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Ersten Enzyklopädie von Tlön nennt sich Orbis Tertius. Danach berichtet der Erzähler von seltsamen Vorfällen, die man als Einbruch der imaginierten Welt in die reale interpretieren muss. So entdeckt man auf einem silbernen Kompass Buchstaben, die einem der Alphabete von Tlön entsprechen, oder jemand gelangt in den Besitz eines Metallkegels, der in Tlön als sakraler Gegenstand gilt. Weitere Ereignisse (unter anderem die Entdeckung der 40-bändigen Ersten Enzyklopädie von Tlön im Jahr 1944) deuten darauf hin, dass die erfundene Welt von Tlön die reale Welt nach und nach ersetzen wird. »El mundo será Tlön.«75 [Die Welt wird Tlön sein.] Der Übergriff der erfundenen Welt auf die reale ist nach der uns geläufigen Logik ein Ding der Unmöglichkeit. Die dafür ins Feld geführten Indizien werden aber von demselben Erzähler genannt, der uns zuvor die Differenz zwischen Wirklichkeit und Erfindung vor Augen geführt hatte. Und er distanziert sich auf keinerlei Weise von diesen Behauptungen. Dadurch wird aber die Opposition zwischen Tatsachenbericht (Geschichte der Entdeckung des fiktiven Tlön durch Borges und Bioy Casares) und Fiktion (die Welt von Tlön) dekonstruiert, sodass man am Ende gar nicht mehr weiß, was man vom ursprünglich geglaubten Tatsachenbericht halten soll. Ist auch er eine Erfindung? Der scheinbar authentische, ›wissenschaftliche‹ Bericht erweist sich möglicherweise als das Résumé eines fiktiven Buches, nicht eines realen Buches mit fiktivem Inhalt. Es handelt sich möglicherweise um die Simulation einer Simulation, die aussieht wie ein wissenschaftlicher Bericht. Borges generiert also einen literarischen Text, indem er so tut, als schriebe er einen quasi-wissenschaftlichen Tatsachenbericht. Unter der Hand und gegen die diskursiven Rahmenbedingungen entsteht bei ihm sozusagen die Literatur; es handelt sich um Anti-Literatur im modernen Sinn, eine Literatur, die sich parasitär in einen wissenschaftlichen Diskurs einzuschreiben scheint. So, wie die erfundene Welt von Tlön im Konflikt mit der realen Welt steht, lässt sich in den Texten von Borges häufig ein konflikthaftes Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen literarischem und wissenschaftlichem Schreiben beobachten. Das lehrt ein Blick auf Texte wie Pierre Menard, autor del Quijote, La biblioteca de Babel oder Funes el memorioso. Diese und viele andere seiner Texte sehen aus wie Tatsachenberichte, ja häufig wie wissenschaftliche Analysen oder Metatexte, die mit zahlreichen Authentizitätssignalen wie Fußnoten und Quellenangaben versehen sind. Ihre Schreibweise und ihre Gesamtstruktur lösen indes die Erwartungen, die man an wissen-

75

Obras completas, Bd. I, S. 443; Fiktionen, S. 34.

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schaftliche Texte stellen darf, nicht ein.76 Viele der erwähnten Autoren und Quellen gibt es gar nicht, Zeitangaben sind falsch usw. Daneben enthalten die Texte aber auch korrekte beziehungsweise verschobene, fiktionalisierte Informationen (man denke etwa an die partiellen Gemeinsamkeiten zwischen Pierre Menard und Paul Valéry).77 Die Frage ist also, wie man sich diesen Texten gegenüber verhalten soll/darf, wie man sie lesen kann. Aus meiner Lektüre dürfte klar geworden sein, dass ich diese Texte als metapoetische und metaepistemologische Kommentare lese, welche die Selbstbehauptung der Literatur in einem von der Dominanz naturwissenschaftlichen Denkens und von der Heterogenität unterschiedlichster Wissenssysteme aufgrund einer Omnipräsenz des Archivs geprägten Zeitalter zum Thema haben. Die Literatur macht sich einerseits zum Medium wissenschaftlich-epistemologischer Diskurse, aber auch historisch unterschiedlicher Wissensordnungen (man denke an den Islam oder auch an Indien), sie simuliert diese Diskurse und stellt sie in ein polylogisches Verhältnis zueinander. Zugleich aber behauptet sie gegen diese fremden Diskurse ihre brüchig gewordene Identität, indem sie mit den Mitteln einer abgründigen Fiktionalisierung operiert, welche häufig auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen ist, aber dennoch als Generalverdacht über allem von Borges Geschriebenen steht. Die höchste und zugleich paradoxe Vollendung solcher Fiktionalisierung besteht nämlich genau darin, dass die Texte wie wissenschaftliche oder nicht-fiktionale Texte aussehen und man doch ständig den Verdacht hat, dass es sich um Fiktionen handelt.

6.3 Cortázars Rayuela oder die Selbstauflösung des Textes im Zeichen der Chemie Der 1963 erschienene Roman Rayuela von Julio Cortázar (1914–1984) ist ein seine eigene Theorie enthaltender Roman über den Roman, der ein ganzes Arsenal experimenteller Erzählverfahren (innerer Monolog, Montage, Wech76 77

Vgl. hierzu Schlaffer, Borges, insbes. S. 82–99. Zu Pierre Menard, autor del Quijote vgl. Christian Wehr, »Originalität und Reproduktion. Zur Paradoxierung hermeneutischer und ästhetizistischer Textmodelle in Jorge Luis Borges’ Pierre Menard, autor del Quijote«, in: Romanistisches Jahrbuch 51 (2000) [=2001], S. 351–369. Wehr vertritt die These, dass der poetologische Gehalt von Pierre Menard auf énoncé-Ebene (vielschichtige Intertextualität, offener Werkbegriff usw.) durch die ironisch-satirische énonciation (der Text als Persiflage literarischer Klatschkolumnen) gebrochen und damit relativiert werde. Solche Relativierung löscht indes nicht den Ernst-Charakter der auf énoncé-Ebene verhandelten Konzepte.

Cortázars Rayuela oder die Selbstauflösung des Textes im Zeichen der Chemie 295

sel zwischen Ich- und Er-Erzählung usw.) zum Einsatz bringt.78 Das auffälligste und vielleicht kühnste dieser Verfahren besteht darin, dass der Text es dem Leser überlässt, ob er eine lineare oder eine nicht-lineare Erzählung lesen möchte. Der Roman besteht nämlich aus notwendigen und aus weglassbaren Kapiteln, und im »Tablero de dirección« wird man aufgefordert, entweder nur die notwendigen Kapitel 1 bis 56 in linearer Reihenfolge zu lesen, oder aber diese mit den weglassbaren Kapiteln nach einer vorgegebenen, nicht-linearen Reihenfolge zu kombinieren. Das heißt, dass eine definitive Textgestalt nicht beabsichtigt ist. Die Offenheit der Textgestalt kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass man, wenn man den zweiten, nichtlinearen Lektüreparcours wählt, am Schluss in eine Endlosschleife gerät, die einen zwingt, permanent zwischen Kapitel 131 und 58 hin- und herzuspringen. Dadurch markiert der Text seine eigene Unabschließbarkeit. Durchzogen ist Rayuela von einer insistierenden Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen des Romans in der Moderne und im technischen Zeitalter. Eine zentrale Figur ist der Schriftsteller Morelli,79 der in dem zu den »capítulos prescindibles« [weglassbaren Kapiteln] gehörenden 62. Kapitel das Projekt eines die herkömmliche Psychologie hinter sich lassenden Romans entwirft. Dabei rekurriert Morelli auf die Naturwissenschaft, genauer die Chemie. In den Entwürfen zu einem zu schreibenden Roman bezieht er sich auf die von dem schwedischen Neurobiologen Holger Hyden entwickelte »teoría química del pensamiento«.80 Hyden ist der Nachweis gelungen, dass mentale Prozesse ihr Korrelat auf der Ebene chemischer Prozesse in den Neuronen haben. Ich zitiere aus einer Fußnote des 62. Kapitels, welche ihrerseits einen (angeblich) in der Zeitschrift L’Express (ohne Datum) erschienenen Artikel zitiert: Las funciones superiores del cerebro – la memoria y la facultad de razonar – se explican, para Hyden, por la forma particular de las moléculas de proteína que corresponde a cada clase de excitación. Cada neurona del cerebro contiene millones de moléculas de ácidos ribonucleicos diferentes, que se distinguen por la disposición 78

79

80

Grundlegend zu Cortázar vgl. Walter Bruno Berg, Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart, Frankfurt/M. 1991. Zu Rayuela s. ebd., S. 185–285. Eine Cortázar-Lektüre im Lichte von Quantenmechanik und Kybernetik und ihrer Bedeutung für den Autor findet sich bei J. Andrew Brown, »Cortázar’s Quantum Values«, in: ders., Test Tube Envy. Science and Power in Argentine Narrative, Lewisburg 2005, S. 160–188. Gemäß Rössner, »Textsortenlabyrinthe«, S. 89, ist Morelli ein nach Borges’ Vorbild erfundener Autor. Julio Cortázar, Rayuela, Madrid 1987, S. 377. Zu Hydens wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung vgl. S. P. R. Rose, »Holger Hyden and the Biochemistry of Memory«, in: Brain Research Bulletin 50, 5–6 (1999), S. 443.

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de sus elementos constituyentes simples. Cada molécula particular de ácido ribonucleico (RNA) corresponde a una proteína bien definida, a la manera como una llave se adapta exactamente a una cerradura. Los ácidos nucleicos dictan a la neurona la forma de la molécula de proteína que va a formar. Esas moléculas son, segun los investigadores suecos, la traducción química de los pensamientos. La memoria correspondería, pues, a la ordenación de las moléculas de ácidos nucleicos en el cerebro, que desempeñan el papel de las tarjetas perforadas en las computadoras modernas.81 Die höheren Gehirnfunktionen – Gedächtnis und Denkfähigkeit – erklären sich nach Hyden aus der besonderen Form der Proteinmoleküle, die auf jede Art von Reiz ansprechen. Jedes Neuron im Gehirn enthält Millionen Moleküle verschiedener Ribonukleinsäuren, die sich durch die Anordnung ihrer einfachen Bestandteile unterscheiden. Jedes einzelne Molekül der Ribonukleinsäure (RNS) entspricht einem genau definierten Protein – wie ein Schlüssel, der genau ins Schloß paßt. Die Nukleinsäuren schreiben dem Neuron die Form des Proteinmoleküls vor, die es bilden wird. Diese Moleküle sind, nach Meinung der schwedischen Forscher, die chemische Übersetzung der Gedanken. Das Gedächtnis entspräche demnach der Anordnung der Nukleinsäuremoleküle im Gehirn, die die Rolle von Lochkarten in den modernen Computern übernehmen.82

Mit dieser Erkenntnis, so Morelli, sei den Menschen ein neuer Schlüssel oder Code (im Text wird der Begriff »clave« verwendet) gegeben, der ihnen dazu diene, sich selbst, ihr Verhalten und ihren Bezug zur Umwelt zu verstehen. Wenn er den geplanten Roman schreiben würde, so wäre die Psychologie nicht mehr geeignet, die Handlungsweisen der Romanfiguren zu erklären. Aus psychologischer Sicht würde ihr Verhalten als verrückt erscheinen. Doch es würde etwas bisher Unsichtbares sichtbar: Si escribiera ese libro, las conductas standard (incluso las más insólitas, su categoría de lujo) serían inexplicables con el instrumental psicológico al uso. Los actores parecerían insanos o totalmente idiotas. No que se mostraran incapaces de los challenge and response corrientes: amor, celos, piedad y así sucesivamente, sino que en ellos algo que el homo sapiens guarda en lo subliminal se abriría penosamente un camino como si un tercer ojo parpadeara penosamente debajo del hueso frontal. Todo sería como una inquietud, un desasosiego, un desarraigo continuo, un territorio donde la causalidad psicológica cedería desconcertada, y esos fantoches se destrozarían o se amarían o se reconocerían sin sospechar demasiado que la vida trata de cambiar la clave en y a través y por ellos, que una tentativa apenas concebible nace en el hombre como en otro tiempo fueron naciendo la clave-razón, la clave-sentimiento, la clave-pragmatismo. Que a cada sucesiva derrota hay un acercamiento a la mutación final, y que el hombre no es sino que busca ser, proyecta ser, manoteando entre palabras y conducta y alegría salpicada de sangre y otras retóricas como ésta.83 81 82

83

Rayuela, S. 377f. Julio Cortázar, Rayuela. Himmel-und-Hölle, übers. v. Fritz Rudolf Fries, Frankfurt/M. 31986, S. 419f. Rayuela, S. 379.

Cortázars Rayuela oder die Selbstauflösung des Textes im Zeichen der Chemie 297 Schriebe ich besagtes Buch, wären die Standardverhaltensweisen (inklusive der allerungewöhnlichsten, welche ihre Luxuskategorie sind) mit dem gebräuchlichen psychologischen Instrumentarium unerklärlich. Die Akteure würden als wahnsinnig oder völlig idiotisch erscheinen. Sie erwiesen sich zwar nicht als ungeeignet fürs gebräuchliche challenge and response: Liebe, Eifersucht, Nächstenliebe und so fort, aber etwas, das der Homo sapiens unterschwellig in sich hat, würde sich mühsam einen Weg bahnen, so als ob ein drittes Auge angestrengt unterm Stirnbein blinzelte. Alles wäre wie eine ständige Beängstigung, Unruhe, Entwurzelung, ein Territorium, auf dem die psychologische Kausalität ratlos das Feld räumen würde, und die Marionetten würden einander zerstören oder lieben oder sich erkennen, ohne sonderlich zu ahnen, daß das Leben in ihnen und durch sie und für sie den Code zu ändern versucht, daß sich ein kaum vorstellbarer Versuch im Menschen anbahnt, wie sich zu anderen Zeiten der Code Vernunft, der Code Gefühl, der Code Pragmatismus angebahnt hat. Daß jeder erfolgten Niederlage eine Annäherung an die letzte, entscheidende Mutation entspricht und daß ein Mensch nicht ist, sondern zu sein sucht, daß er zappelnd unter Worten und Verhaltensweisen und blutbespritzter Freude und anderen Stilblüten dieser Art sein Sein entwirft.84

Die moderne Naturwissenschaft revolutioniert also das jahrhundertealte Selbstbild des Menschen, wonach es einen fundamentalen Gegensatz zwischen Geist und Körper, zwischen res cogitans und res extensa gibt.85 Geistige oder Bewusstseinsprozesse sind auf organische, chemisch analysierbare Prozesse zurückzuführen. Angesichts dieser neuen Situation muss sich auch die Literatur grundlegend verändern. Man kann sagen, dass Cortázars Romanexperiment einen möglichen Weg aufzeigt, den die Literatur gehen könnte, und zwar sowohl auf der Ebene der Darstellungsverfahren als auch auf der Ebene der romanimmanenten Kommentierung dieser Verfahren. Ich möchte im Folgenden einen kurzen Blick auf die zuletzt genannte Ebene werfen, die im Text breiten Raum einnimmt. Die Hauptfigur des Romans, der Schriftsteller Horacio Oliveira, und seine Freunde vom Club de la Serpiente lesen Morellis Aufzeichnungen und denken gemeinsam über die darin gestellten Probleme nach. Sie versuchen einerseits zu verstehen, worauf das von Morelli unvollendet hinterlassene Projekt abzielte, und andererseits die ästhetischen Konsequenzen für sich selbst daraus zu ziehen. Die Freunde sind sich einig darüber, dass Morellis wesentliche 84 85

Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 421. Zu Descartes siehe explizit Rayuela Kap. 99, S. 453: »Acido, ergo sum«, auch Kap. 18, S. 83: »porque era el que estaba pensando, era en todo caso el que podía saber con certeza que estaba pensando, ¡eh Cartesius viejo jodido!« [weil er es war, der dachte, in jedem Fall war er derjenige, der mit Gewissheit wissen konnte, dass er dachte, nicht wahr, Cartesius, alter verfluchter Kerl! – eigene Übers., da die Übers. von Fries an dieser Stelle sehr ungenau ist].

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Leistung in dem liege, was er selbst als »desescribir« bezeichnet habe.86 Solches ›Zerschreiben‹ oder Zerstören der Literatur sei die Aufgabe des Schriftstellers, und dabei müsse ihm der »lector-cómplice« (der in Opposition zum konventionsfixierten »lector-hembra« steht) behilflich sein, wie Oliveira meint.87 Bei der Zerstörung dürfe man jedoch nicht stehenbleiben, sondern man müsse die Frage beantworten, wie man danach weitermachen könne. Man könne nicht, so Oliveira, auf die (von den Surrealisten und vor ihnen schon von den Romantikern ersehnte) Poetisierung der Welt hoffen, dem stehe nämlich die Realität des technischen Zeitalters entgegen. Es sei zwar notwendig, reiche aber nicht aus, der Sprache und der Literatur im Namen einer als wahr und erreichbar geglaubten Realität den Krieg zu erklären. Der Zerstörung müsse etwas nachfolgen, das Oliveira jedoch selbst nur im Modus der offenen Frage postulieren kann. Der Maler Etienne glaubt in Morellis Schriften den gesuchten konstruktiven Ansatz erkennen zu können: Morelli versuche, die mentalen Gewohnheiten des Lesers zu zerbrechen (»quebrar los hábitos mentales del lector«),88 indem er die konventionellen Formen und Prinzipien textueller Kohärenzbildung (Kausalität, Linearität, logische Verknüpfung der Textelemente) zerschlage. Hinter seiner Zerstörungsarbeit scheint sich etwas zu verbergen, ein Jenseits oder, wie Oliveira es mit einem englischen Wort benennt, ein »Yonder«.89 Offenbar wolle, wie Ronald meint, Morelli im technischen Zeitalter etwas bewahren, das am Aussterben sei, doch um dieses zu bewahren, müsse er es zuvor töten. Es sei ein Irrtum, wie die Futuristen zu glauben, dass es die Aufgabe der Poesie sei, die Wirklichkeit des Maschinenzeitalters auf herkömmliche poetische Weise zu kommentieren. Dadurch lerne man diese Realität nicht besser verstehen. Oliveira pflichtet Ronald bei und fügt hinzu, dass die Realität selbst ja gar nicht greifbar sei, sondern nur bestimmte Konzepte und Vorstellungen von ihr, seien es die der Religion (»la de la Santa Sede«), die der Dichtung (»la de René Clair«) oder die der modernen Naturwissenschaft (»la de Oppenheimer«).90 In jedem Falle handle es sich um eine konventionelle, unvollständige und parzellierte Realität.91 Man habe keinen Begriff von der 86

87 88 89 90 91

Rayuela, S. 445. Der Neologismus »desescribir« ist konzeptuell nicht weit entfernt von Jacques Derridas »déconstruction«. Vgl. hierzu Michael David Hasbrouck, Deconstructing Logos: »Rayuela« and the Construction of the Pharmacentric Text, Diss. Pennsylvania State University 1998. Rayuela, S. 446. Ebd., S. 447. Ebd., S. 448. Ebd., S. 449. Ebd.

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Realität, der diese vollständig und wahrhaftig erfassen könne, und zugleich glaube man doch die Existenz einer »verdadera realidad«92 spüren zu können, wie der Maler Etienne erläutert: »[…] esa verdadera realidad, repito, no es algo por venir, una meta, el último peldaño, el final de una evolución. No, es algo que ya está aquí, en nosotros. Se la siente, basta tener el valor de estirar la mano en la oscuridad. Yo la siento mientras estoy pintando.«93 [(…) diese wahre Realität, ich wiederhole es, ist nicht etwas, das noch kommen wird, ein Ziel, die letzte Stufe, das Ende einer Evolution. Nein, es ist etwas, das schon hier ist, in uns. Man kann sie spüren, es genügt schon, die Hand im Dunkeln auszustrecken. Ich fühle sie, wenn ich male.]94 Die Realität ist also einerseits unerreichbar, weil sie hinter konventionellen Codes und die Wahrnehmung steuernden Abstraktionen und Modellen verschwindet, andererseits gibt es ein intuitives, an eine mystische Evidenzerfahrung gemahnendes Erfassen der Realität. Diese Evidenzerfahrung aber ist an die Kunst gebunden (»Yo la siento mientras estoy pintando«). Dementsprechend lässt sich Morellis Unternehmen letztlich nur als ein paradoxes beschreiben. Er will mit sprachlichen Mitteln das Jenseits der Sprache erreichen, er will die Grenzen diskursiver Systeme überschreiten und bedient sich dabei doch seinerseits einer Sprache, wenn auch einer »lengua sumamente clara«.95 Wenn man mit Wittgenstein davon ausgehe, dass die Grenzen der Sprache auch die Grenzen der Welt seien, so sei Morellis Vorhaben absurd, wie Oliveira erläutert.96 Und dennoch zeigt sich bei Cortázar, dass die Kunst beziehungsweise die Literatur der einzige Ort ist, an dem die skizzierten erkenntnistheoretischen Probleme nicht nur diskursiv reflektiert werden können, sondern auch mit ästhetischen Mitteln eine Wahrnehmung in Gang gebracht werden kann, die ein sinnliches Äquivalent jener abstrakten aporetischen Erkenntnis darstellt. Die Aufhebung der Differenz zwischen res cogitans und res extensa wird modellhaft auf den Text übertragen: Hier ist es die Differenz zwischen Text und Leser, die aufgehoben wird, denn der Leser selbst muss durch seine Selektionen aktiv an der Herstellung einer individuellen Textgestalt mitwirken. Dies latent für jeden Text gültige Prinzip wird bei Cortázar aktualisiert und radikalisiert, indem der Leser von Beginn an vor der Entscheidung steht, wie er mit den weglassbaren Kapiteln umgeht, wobei jede der möglichen Entscheidungen die Realisierung einer bestimmten Textgestalt unter Ausschluss aller anderen zur Folge hat. 92 93 94 95 96

Ebd., S. 450. Ebd. Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 509. Rayuela, S. 452. Ebd., S. 453.

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Cortázars Roman lässt seine Figuren nicht nur theoretisch über die Infragestellung der Realität reflektieren, sondern er inszeniert diese Infragestellung auch auf der Ebene der Handlung und der Darstellung. Der von den Figuren selbst explizit formulierte Grundgedanke ist der, dass das Sein für den Menschen unerklärlich und rätselhaft sein muss, weil der Mensch als Beobachter Teil des von ihm Beobachteten ist.97 Diese Erkenntnis wird ästhetisch umgesetzt, indem die Figuren des Romans sich selbst und füreinander letztlich undurchschaubar und rätselhaft erscheinen. Um diese Rätselhaftigkeit zu veranschaulichen, sagt eine der Figuren: En realidad nosotros somos como las comedias cuando uno llega al teatro en el segundo acto. Todo es muy bonito pero no se entiende nada. Los actores hablan y actúan no se sabe por qué, a causa de qué. Proyectamos en ellos nuestra propia ignorancia, y nos parecen unos locos que entran y salen muy decididos.98 In Wirklichkeit sind wir wie Komödien, wenn man im zweiten Akt ins Theater kommt. Alles ist sehr hübsch, aber man versteht nichts. Die Schauspieler sprechen und agieren, man weiß nicht warum und weshalb, wir projizieren in sie unser eigenes Nichtwissen, und sie kommen uns wie ein paar Irre vor, die sehr entschieden auftreten und abgehen.99

Diese Rätselstruktur ist auch dem Text selbst eigen, indem er seine Darstellung unvermittelt einsetzen lässt. Der Protagonist Oliveira befindet sich im ersten Kapitel auf der Suche nach seiner Geliebten, die den Namen La Maga trägt. Er hat die Gewohnheit, mitten in Paris, ohne eine Verabredung mit ihr zu haben, darauf zu hoffen, dass er ihr zufällig begegnet. Durch den Erinnerungsmonolog des Ich-Erzählers erfährt man nach und nach immer mehr Einzelheiten über die Beziehung der beiden, und so setzt sich allmählich ein Bild vor den Augen des Lesers zusammen. Allerdings bleibt diese Beziehung grundsätzlich rätselhaft, weil beide Figuren sich selbst und dem Leser intransparent bleiben. Die Handlung des Romans setzt ein, als die Beziehung zwischen Oliveira und La Maga bereits beendet ist. Nach dem tragischen Tod ihres Kindes Rocamadour hat La Maga die Flucht ergriffen und die Beziehung beendet. Oliveiras Suche nach ihr ist zum Scheitern verurteilt und verwandelt sich in eine retrospektive Suche nach den Gründen dieses Scheiterns. Die dargestellte Handlung vollzieht sich im Modus der Erinnerung und der Rückblende. Erzählt wird nicht chronologisch linear, sondern in Zeitsprüngen, woraus sich für den Leser ein ähnlicher Effekt ergibt wie für den oben zitierten Theaterbesucher, der zu spät ins Theater gekommen ist. 97 98 99

Rayuela, S. 174. Ebd., S. 175. Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 192.

Cortázars Rayuela oder die Selbstauflösung des Textes im Zeichen der Chemie 301

Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass ein Verstehen im empathischen Sinn unmöglich sei. In einem Gespräch mit seinem Freund und Doppelgänger Traveler unterscheidet Oliveira zwei Arten des Verstehens: das oberflächliche Verstehen, wenn etwa Freunde, Liebende oder Familien sich gut miteinander verstehen, und das eigentliche Verstehen.100 Dieses wahre oder tiefergehende Verstehen lässt sich in Bezug setzen zu den im Vorigen erwähnten chemischen Prozessen, die sich laut den Erkenntnissen der schwedischen Naturwissenschaftler im Gehirn vollziehen, und die die Grundlage menschlichen Verhaltens bilden. So sagt Oliveira zu Traveler kurz nach der eben zitierten Stelle: »Me da por pensar que nuestra relación es quasi química, un hecho fuera de nosotros mismos. Una especie de dibujo que se va haciendo.«101 [Manchmal denke ich, daß unser Verhältnis ein beinah chemisches ist, etwas außerhalb von uns selbst. Eine Art Zeichnung, die langsam entsteht.]102 Dieser Unterscheidung liegt also die Differenz von Oberfläche und Sichtbarkeit auf der einen und Tiefe und Unsichtbarkeit auf der anderen Seite zugrunde. Außerdem geht es um Prozesshaftigkeit, ein Merkmal, das im Roman manifest wird, indem sich die Verhältnisse permanent verschieben und verändern und es niemals zu einer abschließenden Verdinglichung und Objektivierung der erzählten Handlung und der Figuren kommt. Die Opposition zwischen Oberfläche und Tiefe wird unter anderem dadurch reflektiert, dass der Text mit dem Prinzip der Spiegelung arbeitet. Oliveira und Traveler werden explizit als Doppelgänger bezeichnet. Travelers Frau Talita erscheint als Doppelgängerin von Oliveiras Geliebter La Maga. Der Schriftsteller Morelli ist ein Doppelgänger von Oliveira, und auch Oliveira selbst hat in der Gestalt seiner Freunde, die allesamt Künstler sind oder über Kunst reflektieren, verschiedene Doppelgänger neben sich. Ein Doppelgänger ist allerdings niemals vollkommen dem anderen gleich, sondern er steht zu ihm in einem Verhältnis von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Der Doppelgänger verkörpert auf radikale Weise das Prinzip der Identität und das Prinzip der Nichtidentität. Wenn ich meinem Doppelgänger gegenüberstehe, dann spiegele ich mich selbst in ihm, scheine mir also selbst zu begegnen, weiß aber zugleich, dass er nicht mit mir identisch ist. Insofern steht der Doppelgänger für das Prinzip der oberflächlichen Ähnlichkeit und der radikalen Differenz, welches dafür verantwortlich ist, dass ein Verstehen zwischen den Menschen unmöglich ist. 100 101 102

Rayuela, S. 298. Ebd., S. 299f. Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 329.

302

Die Grenzen der Literatur

Das Prinzip der Differenz in der Identität wird im Kapitel 47 vorgeführt, als Talita ihre eigene Stimme mithilfe eines Tonbandgerätes aufnimmt. Sie beginnt mit den Worten »Soy yo, soy él.«103 [Ich bin ich, ich bin er.]104 Als sie ihre Aufzeichnung abhört, erkennt sie ihre eigene Stimme nicht mehr wieder. Die technische Aufzeichnung der Stimme führt zu einer identischen Wiederholung des Gesagten und zugleich zu einer akustischen Verzerrung und damit zur Erfahrung der Differenz des Identischen. Bezeichnenderweise thematisiert der aufgezeichnete erste Satz von Talitas Rede die Verdoppelung und Spaltung des Ichs, welches mit sich selbst identisch ist und sich zugleich als ein anderes erscheint. Der Satz »Soy yo, soy él« erinnert an Rimbauds berühmten Satz »Je est un autre«.105 Mithilfe des Tonbandgerätes produziert der Text einen inneren Monolog, bei dem die Sprecherin Talita Fragmente der von ihr aufgezeichneten Rede mit ihrer aktuellen Rede vermischt und über die Produktion dieses mehrschichtigen Textgebildes reflektiert. Sie verweist darauf, dass die technisch bedingte Verdoppelung der eigenen Stimme und der dadurch produzierte fragmentarische Diskurs Ähnlichkeit mit der avantgardistischen Literatur hat. So bezeichnet Talita sich selbst als »una mala parodia de Faulkner«106 [eine schlechte Parodie von Faulkner].107 Ein zweiter Aspekt ist die durch die Wiederholung des Gesagten ausgelöste Reflexion über die Gründe des Gesagten. So zeichnet sich ab, dass der Satz »Ich bin ich, ich bin er« Ausdruck von Talitas Unbewusstem ist: Soy yo, soy él, lo había dicho sin pensarlo, es decir que estaba más que pensado, venía de un territorio donde las palabras eran como los locos en la clínica, entes amenazadores o absurdos viviendo una vida propia y aislada, saltando de golpe sin que nada pudiera atajarlos […].108 Ich bin ich, ich bin er, sie hatte es gesagt, ohne sich etwas dabei zu denken, aber eigentlich war es mehr als gedacht, es kam aus einer Zone, wo die Worte wie die Irren in der Klinik waren, bedrohlich oder absurd, isoliert, sie hatten ihr Eigenleben, und mit einem Schlag sprangen sie auf, ohne daß man sie aufhalten konnte […].109

Durch die metaphorische Gleichsetzung der eigenen Gedanken mit Verrückten in einer Klinik wird zum Ausdruck gebracht, dass die Sprecherin keine rationale Kontrolle über das von ihr Gesagte besitzt, dass sich in ihm 103 104 105

106 107 108 109

Rayuela, S. 301. Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 332. Arthur Rimbaud, »Lettre à Georges Izambard du 13 mai 1871«, in: Œuvres complètes, hg. v. Pierre Brunel, Paris 1999, S. 236–239, hier S. 237. Rayuela, S. 302. Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 332. Rayuela, S. 304. Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 335.

Cortázars Rayuela oder die Selbstauflösung des Textes im Zeichen der Chemie 303

also im Sinne Freuds die Macht des Unbewussten manifestiert, und aus dem Fortgang der Reflexion geht hervor, dass die dritte Person, mit der das sprechende Ich sich identifiziert, nicht etwa ihr Ehemann Traveler ist, sondern dessen Doppelgänger Oliveira. Dessen Verhalten erscheint ihr als ambivalent und undurchschaubar. Er scheint sich zugleich für sie zu interessieren und ihr gegenüber völlig gleichgültig zu sein. Diese Unklarheit seiner Absichten ist die Grundlage ihrer eigenen Faszination für Oliveira. Im darauf folgenden Kapitel 48 vermittelt uns der Text die Perspektive Oliveiras auf Talita. Dabei wird klar, dass sie ihn an seine verlorene Geliebte La Maga erinnert. Cuando Traveler le presentó a Talita en el puerto, […] volvió a sentir que ciertas remotas semejanzas condensaban bruscamente un falso parecido total, como si de su memoria aparentemente tan bien compartimentada se arrancara de golpe un ectoplasma capaz de habitar y completar otro cuerpo y otra cara, de mirarlo desde fuera con una mirada que él había creído reservada para siempre a los recuerdos.110 Als Traveler ihm Talita im Hafen vorstellte, […] merkte er einmal mehr, daß gewisse entfernte Ähnlichkeiten sich im Nu zu einer falschen kompletten Ähnlichkeit verdichteten, als ob sich aus seinem scheinbar so gut in Schubkästen unterteilten Gedächtnis plötzlich ein Ektoplasma löste, das in der Lage war, einen anderen Körper oder ein anderes Gesicht zu bewohnen und zu vervollständigen und ihn von außen mit einem Blick zu betrachten, von dem er geglaubt hatte, er sei für immer den Erinnerungen vorbehalten.111

Es zeigt sich hier, dass die Wahrnehmung eine Kombination aus einem äußeren, real vorhandenen Objekt und einer subjektiven Projektion darstellt. Diese subjektive Projektion wird gesteuert von einem »unkontrollierbaren Begehren«, welches aus dem Unbewussten (»subconsciencia«) kommt. Dieses unbewusste Begehren führt dazu, dass sich die Liebe von ihrem ursprünglichen Objekt ablöst. Daraus resultiert ein Verlust von Eindeutigkeit. Oliveira ist eine Figur, die sich klaren Subjekt-Objekt-Relationen verweigert. Sein Doppelgänger Traveler wirft ihm dies auch vor, indem er sagt: Estar vivo parece siempre el precio de algo. Y vos no querés pagar nada. Nunca lo quisiste. […] El verdadero doppelgänger sos vos, porque estás como desencarnado, sos una voluntad en forma de veleta, ahí arriba. Quiero esto, quiero aquello, quiero el norte y el sur y todo al mismo tiempo, quiero a la Maga, quiero a Talita, y entonces el señor se va a visitar la morgue y le planta un beso a la mujer de su mejor amigo. Todo porque se le mezclan las realidades y los recuerdos de una manera sumamente no-euclidiana.112

110

Ebd., S. 307. Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 339. 112 Rayuela, S. 359. 111

304

Die Grenzen der Literatur

Am Leben sein ist immer der Preis für irgend etwas. Und du willst nichts bezahlen. Du hast es nie gewollt. […] Der wahre Doppelgänger bist du, denn du bist wie desinkarniert, du bist ein Wille in Form einer Wetterfahne, hoch oben. Ich will das, ich will jenes, ich will den Norden und den Süden und alles gleichzeitig, ich will die Maga, ich will Talita, und dann stattet der Herr dem Leichenschauhaus einen Besuch ab und verpaßt der Frau seines besten Freundes einen Kuß. Alles, weil ihm die Realitäten und die Erinnerungen auf eine höchst nichteuklidische Weise durcheinanderpurzeln.113

Was Traveler seinem Freund hier vorwirft, ist also dessen Weigerung, in binären Strukturen zu denken und klare Ja-Nein-Entscheidungen zu treffen. Wenn man jedoch, wie Oliveira dies offenbar tut, davon ausgeht, dass es gar keine eindeutige Wirklichkeit gibt und dass die Motive, die der Einzelne hat, um sich für dies oder für jenes zu entscheiden, undurchschaubar sind, dann wird verständlich, weshalb er das Treffen von Entscheidungen grundsätzlich verweigert. Diese Offenheit verbindet Cortázars Roman mit Musils Mann ohne Eigenschaften. Auch Ulrich ist ja ein Protagonist, der sich nicht entscheiden kann, welchen Beruf er ergreifen soll, und der ein Leben aus Proben und Entwürfen führt. Als utopischen Ausweg aus dem Dilemma des modernen Individuums gibt es bei Musil den sogenannten »anderen Zustand«. Diesem korrespondiert bei Cortázar der sogenannte »kibbutz del deseo«. Auch was die Form der Darstellung betrifft, gibt es Analogien zwischen Musil und Cortázar. Der breite Raum, den Reflexion und Kommentar in beiden Romanen einnehmen, ist ein solches gemeinsames Merkmal. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied darin, dass die Kommentarebene bei Musil hauptsächlich beim übergeordneten Erzähler angesiedelt ist, während bei Cortázar die Kommentare hauptsächlich den Figuren zugeordnet werden, teils in Form von direkter Rede, teils in Form von erlebter Rede oder innerem Monolog. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Cortázar, anders als Musil, die chronologische Ordnung völlig auflöst und sein Text auch formal viel stärker fragmentiert wird als der Musil’sche Text. Rayuela leistet also zweierlei: Zum einen stellt der Text Probleme der modernen Naturwissenschaft zur Diskussion, die sich dem menschlichen Verstehenshorizont weitgehend entziehen, und macht sie verstehbar, indem er ihre Konsequenzen anschaulich durchdenkt (Gegensatz Psychologie/Chemie). Zum anderen bezieht der Roman die naturwissenschaftlichen Probleme auf das geänderte menschliche Selbstbild und versucht Konsequenzen für die Literatur daraus abzuleiten.

113

Rayuela. Himmel-und-Hölle, S. 397.

Calvinos Palomar als epistemologische Fiktion

305

6.4 Calvinos Palomar als epistemologische Fiktion im Zeichen der Erkenntnisungewissheit Der Titelheld des 1983 erschienenen Textes Palomar von Italo Calvino (1923–1985)114 ist schon durch seinen Namen als epistemologische Figur gekennzeichnet. Wie der Autor im Klappentext der Erstausgabe mitteilt, kommt der Name von einem Berg in Kalifornien, Mount Palomar, auf dem sich ein astronomisches Observatorium befindet.115 Das ist kein Zufall, denn bedenkt man die Etymologie des Wortes »Theorie«, welches auf griechisch theorein, ›schauen, betrachten‹, zurückgeht und von Cicero mit dem lateinischen Wort contemplatio wiedergegeben wird, so erkennt man einen wichtigen Zusammenhang: Das theoretische Wissen hat seinen begrifflichen Ursprung in der Himmelsbetrachtung der Auguren. Calvinos Palomar steht damit in einer Traditionslinie, die zu den Anfängen der abendländischen 114

115

Für eine Charakterisierung und Einordnung dieses Textes in Calvinos Werk vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus, »Herr Palomar und die Komplexität der Welt. Bemerkungen zu Italo Calvinos Spätwerk«, in: Beiträge zur romanischen Philologie 27 (1988), S. 123–134, der in Palomar eine »Palinodie der Calvinoschen Anfänge« (S. 132) erblickt, nämlich den Verzicht auf Positionen wie die »Selbständigkeit des Ich gegenüber der Welt«, den »Primat des Bewußtseins«, die »Kraft kritischer Distanz« und die »Möglichkeit einer Beherrschung der Geschichte« (ebd.). Ähnlich ist die Position von Giorgio Bárberi Squarotti, »Dal Castello a Palomar: il destino della letteratura«, in: Giovanni Falaschi (Hg.), Italo Calvino. Atti del Convegno internazionale (Firenze, 26–28 febbraio 1987), Milano 1988, S. 329–346, der die These vertritt, dass Calvino in seinem Spätwerk das Verfahren der Kombinatorik durch die ironische Reduktion ersetze und damit eine »letteratura minimale« (S. 346) schaffe. Christine Lessle, »Palomar – Lektüre des Universums«, in: dies., Weltreflexion und Weltlektüre in Italo Calvinos erzählerischem Spätwerk, Bonn 1992, S. 123–182, betont die Erkenntnisskepsis in Palomar: »Die Lesbarkeit der Welt erweist sich als Illusion.« (S. 168) Häufig hat man in diesem Zusammenhang versucht, Calvino als postmodernen Autor zu vereinnahmen, wogegen sich Andreas Gelz mit überzeugenden Gründen wendet: Postavantgardistische Ästhetik. Positionen der französischen und italienischen Gegenwartsliteratur, Tübingen 1996, S. 194ff. Gelz bezieht sich dabei allerdings vornehmlich auf Calvinos Lezioni americane. Zu den verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Namens Palomar vgl. Lessle, »Palomar – Lektüre des Universums«, S. 129–132. Der Name des Protagonisten verweist nicht nur auf das Observatorium auf dem Mount Palomar, sondern auch auf »die spanische Bezeichnung für eine Patience mit dem Muster eines Schachbrettes« (S. 129). Das Observatorium mit seinem Teleskop legt zudem eine Verbindung zu Emanuele Tesauros Cannocchiale aristotelico (1654) nahe. Auf diese Weise enthält der Name des Protagonisten einen mehrfach codierten Verweis auf technisch gestützte Beobachtung und auf Wahrnehmungsmuster (Schachbrettmuster).

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Die Grenzen der Literatur

Episteme zurückreicht. Er ist kein aktiv handelnder, sondern ein kontemplativ beobachtender Protagonist, der sich über die Bedingungen und Möglichkeiten des Wissens Gedanken macht. Auf die genannte Traditionslinie wird im Text explizit verwiesen, etwa im Kapitel »La contemplazione delle stelle«.116 Palomar begibt sich an einen einsamen Strand, um den Sternenhimmel zu beobachten, und zwar mit bloßem Auge, »come gli antichi navigatori e i pastori erranti«.117 Die einzigen Hilfsmittel, deren er sich bedient, sind eine Brille, eine Reihe von Himmelskarten sowie eine Taschenlampe. Der Beobachtungsvorgang erweist sich als höchst mühsam und kompliziert: Einen Stern zu identifizieren beziehungsweise zu lokalisieren setzt ein Hin und Her zwischen dem Blick gen Himmel und dem Blick auf die diversen Karten voraus sowie das damit verbundene Auf- und Absetzen der Brille und das Ein- und Ausschalten der Taschenlampe. Der dilettierende Himmelsbeobachter Palomar erkennt zwischen den schematischen Darstellungen der Karten und dem realen Himmel wenig Ähnlichkeiten. Es fällt ihm schwer, einzelne Sterne oder Sternbilder zu identifizieren. Die erhoffte Erkenntnis beziehungsweise die Bestätigung einer vermuteten Erkenntnis bleibt aus: Trovandosi davvero in presenza del cielo stellato, tutto sembra che gli sfugga. Anche ciò a cui lui si credeva più sensibile, la piccolezza del nostro mondo rispetto alle distanze sconfinate, non risulta direttamente. Il firmamento è qualcosa che sta lassù, che si vede che c’è, ma da cui non si può ricavare nessuna idea di dimensioni o di distanza.118 Nun, da er sich wirklich dem Sternenhimmel gegenübersieht, scheint sich ihm alles zu entziehen. Auch das, wofür er sich das meiste Gespür zuschrieb, nämlich die Winzigkeit unserer Welt angesichts der unendlichen Entfernungen, ist nicht direkt erkennbar. Das Firmament ist etwas, das sich da oben befindet, von dem man sieht, dass es existiert, aber von dem sich keinerlei Vorstellungen von Größenverhältnissen und Entfernungen ableiten lassen.

Der dem bloßen Auge sichtbare Himmel erweist sich als leer und unlesbar, er vermittelt keine Sicherheit, sondern Unsicherheit. Die Himmelskörper sind »carichi d’incertezza«, aber auch die zwischen den Sternen sich auftuende Leere, »le regioni deserte del cielo«, das Nichts, auf das Palomar als Bezugspunkt negativer Sicherheit glaubt zurückgreifen zu können, erweisen sich als Quellen der Unsicherheit. Wann immer er glaubt, seinen Blick auf ein schwarzes Nichts heften zu können, entstehen Punkte der Sichtbarkeit, deren Her116

117 118

Italo Calvino, Palomar, in: Romanzi e racconti, hg. v. Claudio Milanini et al., Bd. II, Milano 21995, S. 871–979, hier S. 909–913. Ebd., S. 909. Ebd., S. 911f.

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kunft allerdings unklar bleibt. Handelt es sich um Himmelserscheinungen oder um das Flimmern vor den Augen, das man auch bei geschlossenen Lidern sieht, oder gar um von der eigenen Brille ausgehende Lichtreflexe? Eine klare Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Es bleibt nur folgender Negativbefund: »Questa osservazione delle stelle trasmette un sapere instabile e contraddittorio, – pensa Palomar, – tutto il contrario di quello che sapevano trarne gli antichi.«119 [Diese Beobachtung der Sterne vermittelt ein instabiles und widersprüchliches Wissen, – denkt Palomar, – ganz das Gegenteil dessen, was die Menschen der Antike daraus zu gewinnen verstanden.] Die von Palomar selbst erkannte Differenz zwischen dem mythologisch abgesicherten Wissen der Antike (etwas weiter unten ist explizit von der »conoscenza mitica degli astri« die Rede) und seinem eigenen Manko an Wissen hängt nicht unwesentlich damit zusammen, dass das beobachtende Subjekt konstitutiver Teil des Beobachtungsvorgangs und der daraus gewinnbaren Erkenntnis ist. Das Subjekt selbst ist unzulänglich und unsicher, sein Wahrnehmungsapparat ist unzuverlässig, also kann die durch Kontemplation gewonnene Erkenntnis keine sichere und stabile sein. So vermutet Palomar zwar zunächst, dass er durch regelmäßige Übung möglicherweise zu einer gesicherten Erkenntnis gelangen könne: »[…] forse alla fine conquisterebbe anche lui la nozione d’un tempo continuo e immutabile, separato dal tempo labile e frammentario degli accadimenti terrestri«120 [(…) vielleicht würde dann am Ende auch er die Vorstellung einer kontinuierlichen und unveränderlichen Zeit gewinnen, getrennt von der zerbrechlichen und fragmentarischen der irdischen Ereignisse]. Doch im nächsten Moment wird ihm schon bewusst, dass eine solche Erkenntnis nicht ohne eine grundlegende Veränderung seiner selbst als des beobachtenden Subjekts zu haben wäre: Ma basterebbe l’attenzione alle rivoluzioni celesti a marcare in lui questa impronta? o non occorrerebbe soprattutto una rivoluzione interiore, quale egli può supporre solo in teoria, senza riuscirne a immaginare gli effetti sensibili sulle sue emozioni e sui ritmi della mente?121 Aber würde denn die Aufmerksamkeit auf den Umlauf der Himmelskörper genügen, um in ihm diese Veränderung zu bewirken? Oder bedürfte es nicht vor allem einer inneren Umwälzung, wie er sie sich nur theoretisch vorstellen kann, ohne dass es ihm gelänge, sich ihre spürbaren Auswirkungen auf seine Emotionen und die Rhythmen seines Geistes vorzustellen?

119 120 121

Ebd., S. 912. Ebd. Ebd.

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Die Grenzen der Literatur

Die erforderliche »rivoluzione interiore« erscheint ihm als unmöglich. Er ist ein moderner Mensch, ein modernes Subjekt, das gewissermaßen zwischen allen Stühlen sitzt und weder am mythologischen Wissen der Antike noch an der wissenschaftlichen Erkenntnis der Gegenwart partizipiert, von der er nur die in den Zeitungen verbreiteten Vulgarisierungen rezipiert. Sowohl von der vergangenen und obsoleten als auch von der gegenwärtigen (als einer in Fachdiskurse ausdifferenzierten und daher dem Laien nicht zugänglichen) Episteme ausgeschlossen, ist Palomar ein in den Unzulänglichkeiten der eigenen Physis gefangenes Subjekt, welches am Ende des Kapitels erkennt, dass es sich in einer lächerlichen Situation befindet, indem klar wird, dass der am nächtlichen Strand sitzende Beobachter seinerseits beobachtet wird: »Il signor Palomar sente un sussurro. Si guarda intorno: a pochi passi da lui s’è formata una piccola folla che sta sorvegliando le sue mosse come le convulsioni d’un demente.«122 [Herr Palomar vernimmt ein Geraschel. Er blickt um sich: Einige Schritte von ihm entfernt hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt, die seine Bewegungen wie die Zuckungen eines Schwachsinnigen beobachtet.] Schon in Flauberts Bouvard et Pécuchet konnten wir sehen, dass das Scheitern der Erkenntnis ein Problem der Relation zwischen Subjekt und Objekt ist. Ob die Ursache des serialisierten Scheiterns der beiden Protagonisten mehr am Objekt oder mehr an den Subjekten festzumachen ist, bleibt bei Flaubert in der Schwebe. Der Erzähler wahrt eine ironische Distanz zu seinen Figuren und schwankt zwischen Sympathie und Spott. Ganz ähnlich ist es bei Calvino, welcher in seiner postum 1992 erstmals vollständig veröffentlichten Presentazione sagt: »Rileggendo il tutto, m’accorgo che la storia di Palomar si può riassumere in due frasi: ›Un uomo si mette in marcia per raggiungere, passo a passo, la saggezza. Non è ancora arrivato.‹«123 [Beim Wiederlesen des Ganzen wird mir bewusst, dass man Palomars Geschichte mit zwei Sätzen zusammenfassen kann: ›Ein Mann begibt sich auf den Weg, um Schritt für Schritt zur Weisheit zu gelangen. Er ist noch nicht bei ihr angekommen.‹] Die Suche nach der Weisheit ist etwas positiv Konnotiertes; dieses Positive wird ironisch gebrochen durch die Tatsache, dass der Held die Weisheit noch nicht gefunden hat. Ausdruck dessen ist das anhand der oben referierten Episode exemplarisch sichtbar gewordene komische Schei122 123

Ebd., S. 913. Romanzi e racconti, Bd. II, S. 1402–1405, hier S. 1405. Zu Calvinos Verhältnis zu Flaubert und speziell zu Bouvard et Pécuchet vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus, »Palomar und die ›Komik der Ideen‹. Über Calvino und Flaubert«, in: Helene Harth/Susanne Kleinert/Birgit Wagner (Hg.), Konflikt der Diskurse. Zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im modernen Italien, Tübingen 1991, S. 275–290.

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tern, welches daraus resultiert, dass das Subjekt in der Objektwelt und ihrer Materialität verhaftet ist. Doch grundsätzlich kann man festhalten, dass Calvinos Text seinen Protagonisten nicht denunziert, ebenso wenig wie Flaubert seine beiden wissensdurstigen Schreiber bloßstellt. Im Gegenteil ist es so, dass Palomar trotz seines Dilettantismus und seines gelegentlichen komischen Scheiterns (man denke auch an die burleske Episode »Il seno nudo«, in der Palomar eine junge Frau, die nackt ein Sonnenbad nimmt, durch verschiedene ihrer Intention nach ›politisch korrekte‹ Blicke ganz gegen seine Absicht in die Flucht schlägt)124 sich Fragen stellt, welche epistemologisch auf der Höhe der Zeit liegen. Dabei werden immer wieder auch nicht-selbstverständliche Erkenntnisse gewonnen und formuliert, und es wird mit Wahrnehmungsgewohnheiten gebrochen. So wird etwa im Kapitel »Lettura di un’onda« deutlich, dass es unmöglich ist, eine einzelne Welle zu beobachten, weil man nicht genau sagen kann, wo ihre Grenzen sind: Insomma, non si può osservare un’onda senza tener conto degli aspetti complessi che concorrono a formarla e di quelli altrettanto complessi a cui essa dà luogo. Questi aspetti variano continuamente, per cui un’onda è sempre diversa da un’altra onda; ma è anche vero che ogni onda è uguale a un’altra onda […].125 Kurz und gut, man kann eine Welle nicht beobachten, ohne die komplexen Zusammenhänge zu berücksichtigen, durch deren Zusammenwirken sie entsteht, und jene ebenso komplexen Zusammenhänge, die aus ihr hervorgehen. Diese Zusammenhänge verändern sich ständig, sodass sich eine Welle stets von einer anderen unterscheidet; aber es stimmt auch, dass jede Welle einer anderen gleicht […].

Die Erscheinungen der Objektwelt sind niemals vollständig identisch miteinander, und doch sind im permanenten Fluss der Erscheinungen sich wiederholende Muster erkennbar. Selbst ein vermeintlich klar abgrenzbares Objekt wie ein künstlich angelegter Rasen besitzt genau betrachtet keine Grenzen, und bei seiner Betrachtung stellt sich die Frage, ob man lauter einzelne Grashalme sieht oder den Rasen als Ganzes.126 Der Rasen, der einerseits unabweisbar existiert und andererseits keine klar definierbare Identität besitzt, lässt sich wiederum als Modell des Universums deuten: L’universo come cosmo regolare e ordinato o come proliferazione caotica. L’universo forse finito ma innumerabile, instabile nei suoi confini, che apre entro di sé altri universi. L’universo, insieme di corpi celesti, nebulose, pulviscolo, campi di forze, intersezioni di campi, insieme di insiemi …127 124 125 126 127

Palomar, S. 880–882. Ebd., S. 876. Ebd., S. 899f. Ebd., S. 900.

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Die Grenzen der Literatur

Das Universum als regelmäßig geformter und geordneter Kosmos oder als chaotische Wucherung. Das möglicherweise endliche, aber nicht zählbare Universum, in seinen Grenzen instabil, das in sich die Tür zu anderen Universen enthält. Das Universum, eine Menge von Himmelskörpern, Sternennebeln, Staub, Kraftfeldern, Schnittpunkten von Feldern, Menge von Mengen …

Trotz der ironischen Distanz zeichnet der Text seinen Helden, der sich epistemologisch brisante Fragen stellt, mit Empathie und ermöglicht dem Leser somit eine positive Identifikation mit ihm und einen möglicherweise damit verbundenen lernenden Nachvollzug von Palomars Erkenntnissen. Hier nun ist die Aufmerksamkeit auf die Darstellungsebene zu richten.128 Die exemplarische Untersuchung der Ebene des Dargestellten hat ergeben, dass hier epistemologische Fragen im Modus der Fiktion abgehandelt werden. Die Quintessenz des Dargestellten ist eine Infragestellung der Möglichkeit, objektive Erkenntnis zu gewinnen, weil alles Wahrgenommene stets durch ein subjektives Bewusstsein gefiltert ist. Das wahrnehmende Subjekt ist seinerseits ein Teil der Objektwelt und partizipiert an allen ihr eigenen Unsicherheiten.129 Es ist nun zu fragen, wie der Text diese Sachverhalte vermittelt und wie sich das Dargestellte zur Form der Darstellung verhält. In der Presentazione sagt Calvino zur Form der Darstellung Folgendes: Palomar viene fuori adesso come un libro quanto mai sottile come numero di pagine, ma nel suo farsi è stato tentato di trasformarsi volta a volta in enciclopedia, in »discorso sul metodo«, in romanzo. Invece, anziché espandersi, ha finito per diventare sempre più asciutto e concentrato.130 Palomar kommt jetzt gemessen an seiner Seitenzahl als äußerst dünnes Büchlein heraus, aber in seiner Entstehung wurde versucht, es mal in eine Enzyklopädie zu verwandeln, mal in eine »Abhandlung über die Methode«, mal in einen Roman. Doch anstatt sich auszudehnen, ist das Buch schließlich immer trockener und konzentrierter geworden.

Drei Gesichtspunkte sind an dieser Charakterisierung wichtig: zum einen der wiederholte Hinweis auf die Knappheit, die Kürze, die Konzentration, den Lakonismus des Textes; zum anderen der Verweis auf die Prozesshaftigkeit des aus dem Blickwinkel seiner Entstehungsgeschichte betrachteten Textes; schließlich – im Zusammenhang mit dieser Prozesshaftigkeit – die Nennung von Gattungen oder Diskurstypen, zu denen der Text offenbar 128

129 130

Vgl. hierzu auch die Strukturanalyse bei Christine Lessle, »Palomar – Lektüre des Universums«, S. 125–141, und bei Francesca Serra, Calvino e il pulviscolo di Palomar, Firenze 1996, insbes. S. 77–107. Vgl. hierzu auch »Il mondo guarda il mondo«, Palomar, S. 968–970. Presentazione, S. 1403.

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Affinitäten aufweist, ohne dass er ihnen indes vollgültig angehören würde. Genannt werden die Gattung der Enzyklopädie, der philosophisch-rationalistische Diskurs (im antonomastischen Hinweis auf Descartes) und der Roman. Dadurch wird Calvinos Text ex negativo charakterisiert als diskursives Mischgebilde, welches Tendenzen hat, dem wissenschaftlichen (Enzyklopädie), dem philosophischen (Descartes) und dem literarischen Diskurs (Roman) anzugehören, ohne dass diese Tendenzen jeweils voll realisiert worden wären. In seiner Konzentration enthält der Text Elemente aller genannten Textsorten und Diskurstypen. Er zeichnet sich also aus durch Unentschiedenheit und Virtualität. So wie auf der Ebene des Dargestellten keine Sicherheit der Erkenntnis erlangt werden kann, besitzt der Text keine klare Textsortenidentität. Der epistemologischen Unsicherheit im Bereich der dargestellten Welt steht auf der Ebene der Darstellung die Unsicherheit des Textstatus und seiner Identität gegenüber. Wir haben zwar, wie in narrativ-fiktionalen Texten üblich, einen Protagonisten, der in realitätsanaloge Lebenszusammenhänge eingebunden ist und Subjekt von Handlungsabläufen wird, also Veränderungen in Raum und Zeit unterworfen ist: Er macht Urlaub und geht auf Reisen, er jätet Unkraut in seinem Garten, er beobachtet die Sterne, er geht einkaufen usw. Doch ist Calvinos Text nicht dominant syntagmatisch, sondern dominant paradigmatisch organisiert. Diese Organisation geht schon aus der Kapiteleinteilung hervor. Der Text besteht aus drei Teilen: 1. »Le vacanze di Palomar« [Palomars Ferien]; 2. »Palomar in città« [Palomar in der Stadt]; 3. »I silenzi di Palomar« [Palomars Schweigen]. Jeder der drei Teile enthält drei Unterabteilungen, die in sich wiederum drei Kapitel enthalten. Die Unterabteilungen lauten: 1.1 »Palomar sulla spiaggia« [Palomar am Strand]; 1.2 »Palomar in giardino« [Palomar im Garten]; 1.3 »Palomar guarda il cielo« [Palomar betrachtet den Himmel]; 2.1 »Palomar sul terrazzo« [Palomar auf der Terrasse]; 2.2 »Palomar fa la spesa« [Palomar geht einkaufen]; 2.3 »Palomar allo zoo« [Palomar im Zoo]; 3.1 »I viaggi di Palomar« [Palomars Reisen]; 3.2 »Palomar in società« [Palomar in Gesellschaft]; 3.3 »Le meditazioni di Palomar« [Palomars Meditationen]. Schon dieser oberflächliche Blick auf die Anordnung der Kapitel zeigt, dass hier – wie in philosophischen oder wissenschaftlichen Texten – eine doppelte paradigmatische Gliederung vorliegt.131 Auf der ersten Ebene werden drei Paradigmen vorgegeben, die dann auf der zweiten Ebene durch drei Sub-Paradigmen gefüllt werden, welche in sich erst die 131

Zur Dominanz des Paradigmatischen in modernen Erzähltexten vgl. Rainer Warning, »Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition«, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001) [=2002], S. 176–209.

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eigentlichen Kapitel enthalten, in denen die Handlung erzählt wird. Diese Handlung folgt somit nicht einer kausallogischen und zeitlichen Ordnung, sondern sie zerfällt in einzelne Episoden, die nach thematischen Gesichtspunkten zueinander gruppiert sind. Der Ausfall einer übergreifenden syntagmatisch realisierten Entwicklung macht deutlich, dass der Text nicht dominant narrativ ist – anders als zum Beispiel Calvinos ebenfalls experimentelle Texte aus den Siebzigerjahren, Il castello dei destini incrociati oder Se una notte d’inverno un viaggiatore, die beide einen klaren narrativen Rahmen haben, in den unterschiedliche Erzählungen zweiten Grades eingelagert sind. Die Anordnung der Kapitel in Palomar ist nicht zufällig, sondern folgt einer vom Autor im Paratext explizierten Gesetzmäßigkeit. Das erste Kapitel einer Serie tendiert jeweils zur Deskription, das zweite zur Erzählung, das dritte zur Meditation.132 Gegenstand der ersten Kapitel ist eine »esperienza visiva, che ha quasi sempre per oggetto forme della natura« [visuelle Erfahrung, die beinahe immer Formen der Natur zum Gegenstand hat]; in den zweiten Kapiteln geht es um »elementi antropologici, culturali in senso lato« [anthropologische, im weiten Sinne kulturelle Elemente]: Gegenstand sind unter anderem Zeichen und Sprache; in den dritten Kapiteln stehen spekulative Aspekte im Mittelpunkt, »riguardanti il cosmo, il tempo, l’infinito, i rapporti tra l’io e il mondo, le dimensioni della mente« [die den Kosmos betreffen, die Zeit, das Unendliche, die Bezüge zwischen dem Ich und der Welt, die Dimensionen des Geistes].133 Zeigt schon diese Aufzählung eine Tendenz zur Heterogenität, so wird die Unentschiedenheit des Textes hinsichtlich seiner eigenen Identität noch deutlicher, wenn man bedenkt, worauf Calvino ebenfalls hinweist, nämlich dass die genannten Elemente in verschiedenen Mischungsverhältnissen in allen Teilen des Buches vorhanden sind. Die durch die strenge Formalisierung der Kapitelanordnung suggerierte Ordnung wird dadurch unterlaufen, dass die vorgenommenen Unterscheidungen (Deskription, Erzählung, Meditation) in den Kapiteln selbst nicht eingehalten werden. Die Ebene der Darstellung ist somit durch ein Spannungsverhältnis zwischen formalisierter Ordnung und faktischer Unordnung gekennzeichnet. Dies lässt sich als formales Äquivalent der auf der Ebene des Dargestellten konstatierten Erkenntnisungewissheit interpretieren. Es liegt somit eine doppelte Codierung dieser Erkenntnisungewissheit vor: Sie schlägt sowohl auf der Ebene des Dargestellten als auch auf der Ebene der Darstellungsverfahren zu Buche und potenziert somit den Zweifel. Denn der Leser darf sich ja berechtigter132 133

Palomar, S. 872. Ebd.

Calvinos Palomar als epistemologische Fiktion

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weise fragen, auf welchem Beobachterstandpunkt das Erzählsubjekt sich befindet, ja wie überhaupt von solchen Ereignissen, wie Palomar sie erlebt, in der dritten Person erzählt werden kann. Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Aufgrund der beinahe durchgehend verwendeten erlebten Rede lässt sich allenfalls vermuten, dass der Erzähler und der Protagonist viel miteinander zu tun haben, zumal im letzten Kapitel davon berichtet wird, dass Palomar beschlossen habe, seine Beobachtungen aufzuschreiben. Ist also Palomar selbst die Quelle der Erzählung?134

134

Lessle, »Palomar – Lektüre des Universums«, S. 124, verweist auf die »Affinität von Palomar und Calvino«, die sich textgenetisch daraus ergibt, dass Calvino die einzelnen Episoden des Buches zwischen 1975 und 1983 im Corriere della sera und in La Repubblica veröffentlicht hatte und in ihnen die Stimme des Journalisten Calvino sehr viel deutlicher zu vernehmen war als in der stärker fiktionalisierten Buchfassung.

314

7.

Literatur und moderne Physik

Literatur und moderne Physik oder die Sichtbarmachung des Unbeobachtbaren

Wenn im Titel dieses Kapitels von der Sichtbarmachung des Unbeobachtbaren die Rede ist, so hat diese Rede metaphorischen Status. Denn streng und wörtlich genommen können literarische Texte nichts sichtbar machen – außer ihrer eigenen Textgestalt. Abgesehen davon aber, dass man das Verb »sehen« und seine romanischen Äquivalente auch umgangssprachlich in Bedeutungen wie ›wahrnehmen, verstehen, auffassen, einsehen, sich vorstellen‹ verwenden kann, ist auffällig, dass in vielen literarischen Texten das Sehen als poetologische Metapher verwendet wird. Ich nenne nur zwei berühmte Beispiele aus der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Proust’sche Erzähler bezeichnet seinen Roman als »instrument optique«, das es dem Leser ermögliche, etwas zu sehen, das er ohne dieses Instrument nicht hätte sehen können.1 Georges Perec stellt seinen deskriptionsgesättigten Roman La vie mode d’emploi unter das programmatische Motto »Regarde de tous tes yeux«. Auch in der Narratologie spricht man ganz selbstverständlich von Erzählperspektive und Fokalisierung. In diesem Sinne sind literarische Texte Zeichenkomplexe, die die Vorstellungskraft des Rezipienten aktivieren und vor seinem inneren Auge Bilder entstehen lassen, welche Verstehens- und Erkenntnisprozesse in Gang setzen können. Dabei kann auch Unsagbares mitgeteilt, Unsichtbares sichtbar gemacht werden. Literarische Texte erfordern die aktive Mitarbeit des Lesers, sie bedürfen der Ergänzung und Konkretisierung durch die Imagination. In gewisser Weise sind sie stets unvollständig, eben weil sie keine Abbilder von der Wirklichkeit schaffen können, sondern nur sprachliche und somit weitgehend abstrakte, da hauptsächlich auf arbiträren Zeichen beruhende Modelle. Aus systemtheoretischer Sicht hat Kunst die Funktion, die getrennten Bereiche Wahrnehmung und Kommunikation zusammenzuführen. Wahrnehmung ist, wie Luhmann schreibt, eine Spezialkompetenz des Bewusstseins. Kommunikation dagegen ist

1

»L’ouvrage de l’écrivain n’est qu’une espèce d’instrument optique qu’il offre au lecteur afin de lui permettre de discerner ce que sans ce livre il n’eût peut-être pas vu en soi-même.« (Proust, Recherche, Bd. IV, S. 489f.).

Literatur und moderne Physik

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[…] eine emergente Realität, die zwar bewußtseinsfähige Lebewesen voraussetzt, aber auf keines dieser Lebewesen und auch nicht auf alle zusammen zugerechnet werden kann. Sie vollzieht eine im Vergleich zum Bewußtsein sehr langsam arbeitende, sehr zeitraubende Sequenz der Transformation von Zeichen (was u. a. heißt, daß das an der Kommunikation teilnehmende Bewußtsein Zeit hat für eigene Wahrnehmungen, eigene Imaginationen, eigene Gedankenarbeit). Sie greift mit eigenen Rekursionen vor und zurück auf weitere Kommunikationen und kann überhaupt nur so, d. h. nur im Netzwerk selbstproduzierter Kommunikation, operative Elemente des eigenen Systems, eben Kommunikationen, produzieren. Sie bildet dadurch ein eigenes autopoietisches System im strengen (nicht nur ›metaphorisch‹ gemeinten) Sinn dieses Begriffs.2

Die so verstandene Kommunikation ist ein soziales Phänomen und schließt Wahrnehmung als Phänomen des Bewusstseins aus. Zwar kann über Wahrnehmung kommuniziert und kann diese sprachlich bezeichnet werden, doch bleibt Wahrnehmung für die Kommunikation selbst unzugänglich. Zwischen beiden besteht eine Kluft. Hier kommt die spezielle Funktion der Kunst zum Tragen. Denn, so Luhmann, »Kunst macht Wahrnehmung für Kommunikation verfügbar, und dies außerhalb der standardisierten Formen der (ihrerseits wahrnehmbaren) Sprache. […] Sie kann Wahrnehmung und Kommunikation integrieren, ohne zu einer Verschmelzung oder Konfusion der Operationen zu führen. […] Das psychische System kann aus Anlaß der wahrnehmenden Teilnahme an Kunstkommunikation Erlebnisintensitäten erzeugen, die als solche inkommunikabel bleiben.«3 Kunst ist also eine Kommunikation, die Wahrnehmung in Anspruch nimmt; sie ermöglicht eine strukturelle Kopplung von Kommunikation und Wahrnehmung. Dies leistet sie durch Objekte, die die emergente Realität der Systemoperationen überdauern und dadurch Zeit binden und die Entstehung eines Sozialsystems Kunst begünstigen – Kunstwerke. In diesem Sinne ermöglicht die Literatur (a) die gegenseitige Verständigung der an den Spezialdiskursen Beteiligten und bremst in gewisser Weise die zunehmende Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft, sie hat also eine integrative, identitätsbildende Funktion, und sie bildet (b) den Brückenschlag vom individuellen Bewusstsein zur sozialen Realität der Kommunikation, indem sie Wahrnehmung und Kommunikation strukturell miteinander verkoppelt. Vor diesem Hintergrund sollen nun drei Texte betrachtet werden, in denen in Auseinandersetzung mit der modernen Physik über die der Literatur gegebenen Möglichkeiten der Sichtbarmachung des Unbeobachtbaren reflektiert wird.

2 3

Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, S. 20. Ebd., S. 82f.

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Literatur und moderne Physik

7.1 Die Grenzen des Sehens und der Kommunikation: Del Giudices Atlante occidentale und Staccando l’ombra da terra Im Roman Atlante occidentale (1985) von Daniele Del Giudice (geb. 1949)4 geht es um die Begegnung und entstehende Freundschaft zwischen dem Atomphysiker Pietro Brahe, der im europäischen Teilchenbeschleuniger bei Genf arbeitet, und dem Schriftsteller Ira Epstein, der als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt wird. Beide sind Hobbypiloten und lernen sich bei einem Beinahe-Zusammenstoß auf einem in der Nähe von Genf gelegenen Flugplatz kennen. Beide sind in ihrem jeweiligen Beruf in einen Grenz- oder Schwellenbereich vorgedrungen. Brahe versucht in seinen Experimenten im Teilchenbeschleuniger die Grenzen der Sichtbarkeit zu verschieben, das heißt Ereignisse im subatomaren Bereich sichtbar zu machen, die bisher niemand zuvor beobachten konnte. Das Problem dabei ist, dass der Gegenstand seiner Forschungen auf herkömmlichem Wege nicht kommunizierbar ist. Die in für ein Laienpublikum geschriebenen Büchern zur besseren Verständlichkeit verwendeten Metaphern und Vergleiche seien dem Gegenstand nicht adäquat: […] e cosí le cose di cui lui si occupava diventavano arance tagliate in spicchi, sandwich con diversi strati, palle da tennis, […] e la frase che piú ricorreva era »immaginate un …« e quasi sempre doveva immaginare una cosa diversa da quelle su cui lavorava; da piú di mezzo secolo tutto era cambiato, eppure una straordinaria legge di conservazione dell’immaginario e della percezione riconduceva tutto a come era prima.5 […] und so wurden die Dinge, mit denen er sich beschäftigte, zu Orangenschnitzen, zu mit mehreren Schichten belegten Broten, zu Tennisbällen, […] und der sich am häufigsten wiederholende Satz lautete »stellen Sie sich vor …«, und so gut wie immer sollte er sich eine Sache vorstellen, die mit denen, an denen er arbeitete, nichts zu tun hatte; seit mehr als einem halben Jahrhundert war alles verändert, und doch führte ein außerordentliches Erhaltungsgesetz des Imaginären und der Wahrnehmung dazu, dass alles so erschien wie früher. 4

5

Einführend zu Del Giudice vgl. meinen Beitrag »Daniele Del Giudice ossia letteratura ed esperienza nell’epoca della realtà virtuale«, in: Rassegna europea di letteratura italiana 24 (2004), S. 65–78 (eine etwas kürzere deutsche Fassung dieses Beitrags erschien als: »Daniele Del Giudice: Literatur und Erfahrung im Zeitalter virtueller Realität«, in: Felice Balletta/Angela Barwig (Hg.), Die italienische Literatur der achtziger und neunziger Jahre. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren in Einzelmonographien, Frankfurt/M. usw. 2003, S. 299–308), und Steffen Richter, »Daniele Del Giudice«, in: ders., Trauerarbeit der Moderne. Autorenpoetiken in der Gegenwartsliteratur, Wiesbaden 2003, S. 179–252. Vgl. auch Philippe Daros, »Le temps qui vient: Science et littérature dans l’œuvre de Daniele Del Giudice«, in: Monika Schmitz-Emans (Hg.), Literature and Science. Literatur und Wissenschaft, Würzburg 2008, S. 239–250. Daniele Del Giudice, Atlante occidentale, Torino 1985, S. 90.

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Dem Gegenstand seiner Forschung fehlt mit anderen Worten die Anschaulichkeit (»per quello che lui vedeva e cercava di vedere letteralmente non esisteva immagine« [für das, was er sah und zu sehen versuchte, gab es im wörtlichen Sinn keine Bilder]).6 Das ist darauf zurückzuführen, dass das Verhalten von Atomen mit bloßem Auge nicht beobachtet werden kann, sodass der Physiker auf Messgeräte angewiesen ist, die die erhobenen Daten in Form von Linien, Kurven und Ellipsen auf Monitore projizieren. Die dadurch erzeugte Visualisierung ist abstrakt, sie kann alles und nichts bedeuten, wie es zu Beginn des zweiten Kapitels heißt, wo das auf dem Monitor Sichtbare unter anderem mit einer aus der Vogelperspektive betrachteten nächtlichen Großstadt und der Nachtaufnahme einer von Autos befahrenen Straße verglichen wird.7 Während sich für Brahe also die Welt in abstrakte Diagramme, in Anordnungen und Abfolgen von Lichtpunkten und -linien auf einem Bildschirm auflöst – und diese Auflösung des Objektbereichs impliziert seine NichtErzählbarkeit, welche sich darin manifestiert, dass wir im Roman über den eigentlichen Inhalt des Experiments nichts erfahren –, ist es – gewissermaßen zur Bestätigung der Nicht-Erzählbarkeit der Welt – für den Schriftsteller Epstein so, dass er mit dem Schreiben an ein Ende gekommen ist. In einem Brief an seinen Verleger erklärt und rechtfertigt er sein Verstummen als Schriftsteller, indem er sagt, er habe das Schreiben in all seinen Formen durchquert. Dieses Durchqueren vergleicht er mit dem Durchqueren des Erdballes von Alaska zur Antarktis, es hat also etwas von einer Entdeckungsreise. Dem am anderen Ende der Erde Angelangten stellt sich die Welt in neuer Sichtbarkeit dar. »Qui tutto è da vedere, io comincio appena a vedere.«8 [Hier will alles gesehen werden, ich fange gerade erst an zu sehen.] Das neue Sehen unterscheidet sich qualitativ von dem, was Epstein bisher gewohnt war, es besitzt die so lange von ihm vermisste Transparenz. »Ho sempre atteso, per tutta la mia vita, che lo scrivere e il raccontare storie avessero una trasparenza anche per me; questo momento è arrivato, non vorrei sciuparlo facendo dei pasticci.«9 [Ich habe mein ganzes Leben lang darauf gewartet, dass das Schreiben und das Geschichtenerzählen auch für mich eine Transparenz annähmen; dieser Moment ist jetzt gekommen, und ich möchte ihn mir nicht verderben, indem ich pfusche.] Er verwendet in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck »vedere oltre la forma« [über die Form hinaus sehen].10 6 7 8 9 10

Ebd. Ebd., S. 21. Ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Ebd., S. 32.

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Literatur und moderne Physik

Epsteins und Brahes berufliche Tätigkeiten konvergieren also genau an diesem Punkt: Für beide handelt es sich darum, die Welt neu zu sehen, die Grenzen des Sichtbaren zu verschieben oder zu überschreiten. Brahe versucht dies mithilfe von technischen Geräten und Monitoren, Epstein diente – und ich verwende hier bewusst das Vergangenheitstempus, weil er das Schreiben zum Zeitpunkt der Handlung ja bereits aufgegeben hat – die Literatur als Instrument der Erkenntnisfindung. Doch während Brahes wissenschaftliche Entdeckung zu Beginn des Romans noch bevorsteht, ist Epstein schon einen Schritt weiter. Für ihn haben sich die Grenzen des Sichtbaren schon insoweit verschoben, als sein Blick die Formen überschreitet und er, wie er Brahe gegenüber im Gespräch erklärt, seine Geschichten in einer Art Simultanperspektive sieht: […] oggi io le mie storie le vedo, io comincio sempre piú a vedere le mie storie. È difficile che lei possa capire, o che io riesca a spiegarmi; prima le vedevo raccontando, le vedevo nel momento in cui le scrivevo, adesso le vedo guardando, vedo una storia compiutamente dall’inizio alla fine semplicemente guardando. E questo, – ha concluso Epstein in un tono piú sospeso, – è il mio esperimento.11 […] heute sehe ich meine Geschichten, ich beginne immer mehr, meine Geschichten zu sehen. Es ist schwer für Sie, das zu verstehen, oder für mich, mich richtig zu erklären; früher sah ich sie beim Erzählen, ich sah sie in dem Moment, in dem ich sie aufschrieb, jetzt sehe ich sie, indem ich schaue, ich sehe eine Geschichte abgeschlossen vom Anfang bis zum Ende, einfach indem ich schaue. Und das, – so schloss Epstein mit etwas angehaltenem Atem, – ist mein Experiment.

Diese Stelle macht deutlich, dass Epsteins und Brahes Tätigkeiten hinsichtlich ihrer epistemologischen Funktion vom Text äquivalent gesetzt werden. Beide Protagonisten verfolgen Experimente, in denen es jeweils um eine besondere Art des Sehens geht. Verbunden ist damit eine Reflexion über die Bedingungen und Voraussetzungen des Sehens. Dementsprechend drehen sich die Gespräche der Protagonisten auch um epistemologische Fragen. So fordert Epstein etwa, als sie in seinem Garten sitzen, seinen Gast auf, ihm alles mitzuteilen, was er gerade sehe, und zwar möglichst ohne Einmengung von Urteilen.12 Brahe beschreibt zunächst die Gegenstände, die sich seinem Blick darbieten: Autos, ein Schiff, Pflanzen, Blumen, Gebäudeteile usw. Darauf fragt Epstein ihn, ob er keine Personen gesehen habe. Brahe beschreibt sodann die Personen: den Gärtner, Epsteins Sekretärin Gilda, auf Nachfrage schließlich auch seinen Gesprächspartner Epstein. Auf die Bitte, sich selbst zu beschreiben, antwortet Brahe dagegen: »Io sono io. Non mi 11 12

Ebd., S. 71. Ebd., S. 61ff.

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vedo. Se non nelle estremità.«13 [Ich bin ich. Mich sehe ich nicht. Höchstens meine Extremitäten.] Dass das wahrnehmende Subjekt sich selbst von der Wahrnehmung ausnimmt, erscheint Brahe zwar offenbar als selbstverständlich, doch Epstein findet es befremdlich: Però è curioso, uno le chiede di vedere e lei vede una Chevrolet, un battello, un tomahawk, un tagliaerba. Le persone le vede solo dopo, e vede soprattutto le loro posizioni nello spazio e quello che fanno o i vestiti e dove sono. Però se uno le chiede di lei, lei pensa subito di essere qualcuno. Non le pare esagerato?14 Es ist aber doch seltsam, man bittet Sie zu sehen, und Sie sehen einen Chevrolet, ein Schiff, ein Tomahawk, einen Rasenmäher. Die Personen sehen Sie erst später, und Sie sehen dann vor allem ihre Position im Raum und das, was sie tun, oder ihre Kleidung und wo sie sich befinden. Wenn man Sie dann aber nach sich selbst fragt, glauben Sie sofort, jemand zu sein. Kommt Ihnen das nicht übertrieben vor?

Damit macht Epstein deutlich, dass die Wahrnehmung eines Subjekts, welches sich selbst ausblendet und zum blinden Fleck macht, unvollständig ist. Ein subjektloses Sehen liefert ein falsches Bild von der Wirklichkeit. Der Grund dafür, dass dies in der Regel vergessen wird, ist, so Epstein, folgender: »Guardando si vede solo lo sfondo, pensando si pensa solo la figura. Mai le due cose assieme.«15 [Beim Schauen sieht man nur den Hintergrund, beim Denken denkt man nur an die Figur. Niemals hat man beides gemeinsam.] Diese Dissoziation von Schauen und Denken, von »sfondo« und »figura« zu überwinden, war Ziel seines Schreibens: Tutta la mia vita, tutto il mio lavoro non è stato altro che raccordare le persone agli oggetti, e gli oggetti all’esperienza e ai sentimenti, alla percezione di sé, alle idee. Forse quello che ho inventato fin qui non è altro che una lente speciale, che permette di vedere lo sfondo e la figura nella loro relazione, in pari dignità.16 Mein ganzes Leben, meine ganze Arbeit zielten auf nichts anderes als darauf, die Personen und die Gegenstände miteinander zu verbinden und die Gegenstände mit der Erfahrung und den Gefühlen, der Selbstwahrnehmung, den Ideen. Vielleicht ist alles, was ich bisher erfunden habe, nichts anderes als eine Speziallinse, die es ermöglicht, Hintergrund und Figur in ihrer Beziehung zueinander zu sehen, in gleicher Dignität.

Epsteins Schreiben war also (ähnlich wie bei Proust) ein optisches Instrument, welches eine Defizienz der Wahrnehmung korrigieren sollte. Auch in13 14 15 16

Ebd., S. 65. Ebd. Ebd. Ebd., S. 66.

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sofern werden in Del Giudices Roman das literarische Schreiben und die Naturwissenschaft äquivalent gesetzt.17 Während in Calvinos Palomar auf der Ebene des Dargestellten die epistemologische Unsicherheit vorherrschte, ob überhaupt Erkenntnis möglich sei, ist es bei Del Giudice so, dass eine Erkenntnis, ein neues Sehen zwar möglich sind, dass aber dieses neue Sehen sowohl im Bereich der Naturwissenschaft als auch im Bereich der Literatur sich der Darstellbarkeit entzieht. Die Frage lautet daher: Wie stellt Del Giudice das Undarstellbare dennoch dar? Diesbezüglich sind zwei Merkmale seines Textes besonders aufschlussreich. Zum einen ist das die Vermischung von literarischem und technischnaturwissenschaftlichem Register. Beispielhaft sei hierfür die von Epstein stammende Beschreibung eines Feuerwerks über dem Genfer See genannt: Linee traccianti […] entravano dal basso nel riquadro di cielo buio, esplodevano in alto con un boato perforante, si divaricavano in un punto dove la materia diventava luce, probabilmente il sodio luce gialla, il bario luce verde, il rame luce azzurra, il magnesio luce bianca, lo stronzio luce rossa, e il calomelano […] il calomelano luce celeste. Linee di luce si diramavano concentriche e riscendevano giú, smorzandosi, nei piccoli fuochi d’apertura, non troppo intensi per catturare l’occhio senza offenderlo e disporlo a una gradualità.18 Linien von Leuchtspurgeschossen […] drangen von unten in das Rechteck des dunklen Himmels ein, explodierten in der Höhe mit einem durchdringenden Knall, spreizten sich auseinander an einem Punkt, wo die Materie zu Licht wurde, wahrscheinlich Natrium zu gelbem Licht, Barium zu grünem Licht, Kupfer zu blauem Licht, Magnesium zu weißem Licht, Strontium zu rotem Licht und Kalomelanum […] Kalomelanum zu himmelblauem Licht. Linien aus Licht verästelten sich in konzentrischen Kreisen und sanken herab, schwächer werdend, in den kleinen Raketen zum Auftakt, die nicht zu grell waren, sodass sie das Auge fesseln konnten, ohne es zu blenden, und es so auf ein stufenweises Ansteigen vorbereiten konnten.

Die am Phänomenalen haftende Deskription des Sicht- und Hörbaren (»Linee traccianti«, »riquadro di cielo buio«, »boato perforante«) wird angereichert durch die technische Erklärung der das Feuerwerk verursachenden chemischen Prozesse (»il sodio luce gialla, il bario luce verde« usw.). Ähnliche 17

18

Richter, »Daniele Del Giudice«, S. 219, zufolge vereinigt Del Giudice in Atlante occidentale die Diskurse von Natur- und Geisteswissenschaft, indem einerseits der Naturwissenschaftler Brahe vom Schriftsteller Epstein lerne, was Kommunikation bedeutet, während umgekehrt der Autor Del Giudice »physikalische Wahrnehmungsweisen in seinen Text integriert und einen ›Bewußtseinsrückstand‹ der Literatur gegenüber dem naturwissenschaftlichen Erkenntnishorizont wettzumachen sucht«. Atlante occidentale, S. 148f.

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Registermischungen findet man bei der Beschreibung von Start-, Flug- und Landevorgängen oder bei der Darstellung dessen, was Brahe bei seinen Experimenten tut und was er sieht. Fachsprachen nehmen also einen breiten Raum in Del Giudices Roman ein, was diesem das Merkmal großer technischer Präzision verleiht. Und dennoch wird die literarische Fiktion in diesem beschreibungsgesättigten Roman niemals von den fachsprachlichen Elementen überdeckt oder verdrängt, sondern es stellt sich im Gegenteil eine spannungsreiche Balance zwischen Deskription und Narration ein. Durch die fachsprachlichen Elemente erhält der Text ein evokatives Potential, welches beim Leser den Eindruck erzeugt, dass die nicht-dargestellten Dinge, obwohl sie sich der Sagbarkeit entziehen, dennoch existieren. Insofern wird nicht das Undarstellbare dargestellt, sondern die Undarstellbarkeit. Das zweite interessante Merkmal des Textes ist die mise en abyme des Erzählakts im letzten Kapitel.19 Hier wird nämlich auf paradoxe Weise Epstein zum Erzähler der Geschichte, in der er selbst in der dritten Person vorkommt, also erzählte Figur ist. Er hat beschlossen, seinen Wohnsitz von Genf nach Deutschland zu verlegen, und wartet am Bahnhof auf die Abfahrt seines Zuges und auf Brahe, um von ihm Abschied zu nehmen. Der Wartende erblickt in einem Schaufenster eine Modelleisenbahn, die Genf und seine Umgebung nachbildet, inklusive jenes Flugplatzes, auf dem Epstein und Brahe sich zu Beginn der erzählten Handlung erstmals begegnet sind. Dieser Anblick löst in Epstein eine Serie von Visionen aus. Er wird in einem der Proust’schen »mémoire involontaire« ähnlichen Erlebnis in jenen Augenblick zurückversetzt, in welchem er beim Anfliegen des Flugplatzes ein riskantes, beinahe zum Zusammenstoß mit Brahes Maschine führendes Manöver ausprobierte. Danach sieht er vor seinem inneren Auge eine Reihe von Momenten der im Roman erzählten Handlung ablaufen, darunter auch solche, die er selbst gar nicht erlebt hat und von denen er als handelnde Figur keine Kenntnis besitzen kann (zum Beispiel eine Liebesbegegnung zwischen Brahe und Epsteins Sekretärin Gilda), ebenso wie Erinnerungsbilder aus seinem Leben, die im Roman bisher gar nicht vorkamen. Schließlich sieht er sogar Brahe, der, während Epstein am Bahnhof wartet, in rasender Eile dorthin unterwegs ist, um sich von seinem Freund zu verabschieden. Als Brahe dort ankommt und sich der Kreis schließt, hört Epstein auf zu sehen. Was hier verwirklicht ist, ist kein Sehen im herkömmlichen, mimetischen Sinn 19

Vgl. hierzu Gerhard Regn, »Nach der Moderne. Literatur und Naturwissenschaft in Daniele Del Giudices Atlante occidentale«, in: Helene Harth/Susanne Kleinert/ Birgit Wagner (Hg.), Konflikt der Diskurse. Zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im modernen Italien, Tübingen 1991, S. 327–352, hier S. 346–349.

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mehr, sondern es erinnert an Epsteins oben erwähntes anderes Sehen (»vedere oltre la forma«). All dies kann nichts anderes bedeuten, als dass der Schriftsteller Epstein in dieser Schlussszene in einer Metalepse die Grenze der erzählten Geschichte überschreitet und dass sein Bewusstsein mit dem des außerhalb der Geschichte stehenden Erzählers verschmilzt. Der paradoxe, logisch unmögliche Romanschluss reflektiert seine eigene Paradoxie: Brahe fragt Epstein beim Abschied, ob jemand die nun zu Ende gegangene Geschichte aufschreiben werde, worauf Epstein erwidert: »Non so, penso di no. L’importante non era scriverla, l’importante era provarne un sentimento.«20 [Ich weiß nicht, ich glaube nicht. Wichtig war es nicht, sie aufzuschreiben, wichtig war, sie zu fühlen.] Durch die Verwendung des imperfetto insinuiert Epstein aber, dass die Geschichte schon geschrieben sei, was aus der Sicht des den fertigen Text in Händen haltenden Lesers auch stimmt, nicht hingegen aus Epsteins und Brahes Sicht, die ja Teil der in diesem Moment zu Ende gehenden, noch nicht in eine Erzählung verwandelten Geschichte sind. Der Erzähl- und Schreibvorgang ist also gewissermaßen auf einen einzigen Augenblick zusammengeschrumpft, was im Einklang steht mit der neuartigen Erfahrung Epsteins, der, wie schon erwähnt, Geschichten nicht mehr schreibt, sondern sie simultan sieht. Wenn Epstein, der verstummte Schriftsteller, insgeheim der Erzähler der Geschichte ist, dann steht dieser paradoxe Sachverhalt dafür, dass eine Darstellung von außen, aus der Perspektive eines allwissenden oder auch eines neutral-personalen Erzählers, also gewissermaßen eine Darstellung ohne Subjekt, nicht möglich ist. Epstein steht somit für die sich selbst reflektierende Darstellung: Das Subjekt der Erzählung wird in die Objektwelt integriert. Im paradoxen Verhältnis zwischen Epsteins Verstummen und dem Diskurs des Textes äußert sich der prekäre Status eines Textes, dessen Gegenstand die Grenzen des Sichtbaren und somit letztlich die Nichtdarstellbarkeit sind. In Del Giudices Werk, welches die unterschiedlichsten Gegenstände darstellt (in Lo stadio di Wimbledon geht es um den Versuch, das Leben des Triestiner Literaturkritikers Roberto Bazlen, eines ›Autors ohne Werk‹, zu rekonstruieren; in Nel museo di Reims versucht ein Blinder, ein Museum zu besichtigen; in Orizzonte mobile wird eine Reise in die Antarktis erzählt), gibt es gewisse thematische Konstanten. Die wichtigste dieser Konstanten ist das Interesse für Flugzeuge und Fliegen. Biographisch mag sich dies durch die Tatsache erklären, dass Del Giudice selbst Pilot ist, doch werden die rekurrenten Bezugnahmen auf das Fliegen aus dem Werk heraus vor allem dadurch gerechtfer20

Atlante occidentale, S. 173.

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tigt, dass sich ein allegorischer und damit poetologischer Bezug zwischen Fliegen und Schreiben herstellen lässt. Nicht umsonst ist der Schriftsteller Epstein aus Atlante occidentale Pilot, genauso wie der Naturwissenschaftler Brahe. Es ist daher nur folgerichtig, dass ihre erste Begegnung auf dem Flugplatz stattfindet. Besonders deutlich wird die poetologische Bedeutung des Fliegens in Staccando l’ombra da terra (1994).21 Dieser Text besteht aus zwei diegetischen Ebenen. Zum einen wird die Geschichte eines Hobbypiloten erzählt, der im ersten Kapitel (»Per l’errore«)22 zum ersten Mal allein mit dem Flugzeug starten darf und später (»Fino al punto di rugiada«)23 bei einem Flug die Orientierung verliert. Diese Figur ist zum Teil Ich-Erzähler, zum Teil wird sie in der zweiten Person von einem externen Erzähler angesprochen. In diese primäre Handlungsebene werden verschiedene Geschichten eingeschoben, die miteinander in keinem Bezug stehen, außer dem, dass sie mit dem Fliegen zu tun haben und mit der Gefahr des Todes, die mit dem Fliegen konstitutiv verbunden ist. So geht es etwa um den Absturz einer italienischen Verkehrsmaschine bei der Insel Ustica am 27. Juni 1980 (»Unreported inbound Palermo«)24 oder um die Erinnerungen von Kriegsveteranen (»Pauci sed semper immites«).25 Im letzten Kapitel (»Doppio decollo all’alba«)26 geht es um den letzten Flug des im Zweiten Weltkrieg abgestürzten Schriftstellers und Fliegers Antoine de SaintExupéry, der mit einer Spurensuche des Ich-Erzählers parallelisiert wird. Poetologisch besonders wichtig ist das Kapitel »E tutto il resto?«.27 In diesem Kapitel beschreibt der Ich-Erzähler, der offenbar auch der Protagonist der anderen auf die Primärhandlung bezogenen Kapitel ist, sein Verhältnis zum Fliegen. Er berichtet davon, wie er sich als Kind mit einem Flugzeug identifizierte. Später erfolgte eine Transformation vom Flugzeug zum Piloten. Diese Transformation wurde überlagert von einer weiteren Transformation, der vom Zeugen zum Handelnden. Diese Opposition leitet der Erzähler aus seinen Kinoerfahrungen ab. Im Kino habe er gelernt, dass die Helden sterben müssten und dafür Ruhm ernteten, dass die Existenz des Films und damit der Ruhm der Helden aber darauf beruhe, dass es Zeugen der Helden21 22 23 24

25 26 27

Daniele Del Giudice, Staccando l’ombra da terra, Torino 1994. Ebd., S. 3–14. Ebd., S. 67–84. Ebd., S. 97–104. Diesen Gegenstand hat Del Giudice (mit dem Schauspieler Marco Paolini als Koautor) später in Form eines Theaterstücks noch einmal behandelt; vgl. I-TIGI. Canto per Ustica (2001). Staccando l’ombra da terra, S. 36–66. Ebd., S. 105–122. Ebd., S. 23–35.

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Literatur und moderne Physik

taten gebe, die überleben müssten, um Zeugnis ablegen zu können. Der Erzähler verspürt in sich die Neigung, selbst Zeuge zu werden, zugleich aber verspürt er die Berufung, Flugzeug zu sein, mit anderen Worten, er hat eine doppelte Natur. Will er Pilot werden, so muss er diese doppelte Natur hinter sich lassen, vom Zeugen zum Handelnden werden. Allerdings, so sagt er, habe sein früherer Zustand des Flugzeugseins sich teilweise erhalten. Was hier zur Diskussion steht, ist also ganz offenbar die Verschmelzung der Gegensätze, der Zusammenfall von Zeuge und Held. In einem Exkurs erläutert der Erzähler den Zusammenhang von dichterischer Phantasie und Fliegen. Erst im 20. Jahrhundert sei es aufgrund technischer Fortschritte möglich geworden, die Phantasien der Dichter materiell zu realisieren. Als Beispiel für eine epochale Begegnung von Dichtung und Flugtechnik im frühen 20. Jahrhundert nennt der Text die Flugausstellung von Brescia 1909, bei der unter anderem Franz Kafka und Gabriele D’Annunzio anwesend waren. Das 20. Jahrhundert zeichnet sich jedoch durch eine grundlegende Paradoxie aus. Einerseits verwandelt es die Phantasien in Objekte, andererseits lässt es sich beschreiben als das Jahrhundert, in dem die Objekte zunehmend verschwinden. Insofern besteht eine Analogie zwischen dem Erzähler und seinem Jahrhundert. Der Erzähler ist zugleich Flugzeug und Pilot, zugleich Handelnder und Zeuge, ebenso wie das 20. Jahrhundert zugleich das Jahrhundert der Objekte und das des Verschwindens der Objekte ist. Analog dazu wiederum kommt es auf der Ebene der Schreibweise Del Giudices zu der bereits aus Atlante occidentale bekannten Verschmelzung verschiedener Stile. Die präzise technische Beschreibungssprache wird verbunden mit poetischer Imagination und Metaphorik. Diese enge Verknüpfung von Technik und poetischer Sprachverwendung ermöglicht die allegorische Rede über den Text selbst. Dies wiederum wird rückgebunden an den Aspekt des Sehens. Wer fliegen lernen will, muss sehen lernen. Zunächst muss die horizontale Sicht auf die Erde durch eine vertikale ersetzt werden. Dazu muss das Auge erst erzogen werden. Diese vertikale Sicht auf die Erde muss dann allerdings durch die oblique Sicht ergänzt werden, woraus wiederum ein neuer Blick auf die Erde und ihre Oberfläche entsteht, nämlich der kubische Blick. In diesem neuen Blick auf die Erde wird der physische Raum zur Repräsentation seiner selbst und der menschlichen Geschichte. Das Fliegen also wird als ein semiotischer Lernprozess dargestellt, der zu einer Erkenntnis des Piloten (»conoscenza del pilota«)28 führt, die derjenigen Erkenntnis analog ist, welche die Literatur ermöglicht. Das Fliegen ermöglicht einen völlig neuen Blick auf die Welt und 28

Ebd., S. 35.

Literatur im Zeichen des Unbestimmtheitsprinzips

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ihre Beschaffenheit, genauso wie die Literatur ein neues Sehen auf die Wirklichkeit ermöglicht. Es ist signifikant, dass Del Giudice diese Engführung von Fliegen und Schreiben, von Technik und Literatur mittels der immer wiederkehrenden Figur der Verschmelzung von Mensch und Ding zum Ausdruck bringt. Der Mensch, der sich als Maschine fühlt, ist ein Grenzphänomen genauso, wie Del Giudices Text auf der Grenze zwischen Technik und Phantasie, zwischen Erzählen und Beschreiben steht.

7.2 Literatur im Zeichen des Unbestimmtheitsprinzips 7.2.1 Houellebecq, Les particules élémentaires Dass der Roman Les particules élémentaires (1998) von Michel Houellebecq (geb. 1958) im Zeichen der Naturwissenschaft steht, wird schon im Titel signalisiert. Gemeint sind die Elementarteilchen, welche von der Atomphysik und auch von der Molekularbiologie untersucht werden. Dass es in diesem Text wie in Del Giudices Atlante occidentale um die Begegnung von Literatur und Naturwissenschaft geht, wird erst allmählich klar. Die beiden Hauptfiguren sind Michel Djerzinski und Bruno Clément. Sie sind Halbbrüder und stehen in doppelter Hinsicht in Opposition zueinander. Michel ist Naturwissenschaftler (Physiker und Mikrobiologe), Bruno Geisteswissenschaftler und Literat. Michel ist unfähig zur Empfindung sexueller Lust und hat ein dementsprechend reduziertes Sexualleben. Bruno dagegen hat einen übermäßig stark ausgeprägten Sexualtrieb, den er vor allem durch Masturbation, bei Prostituierten und in Swingerclubs auslebt. Beide leiden an ihrer Situation. In Rückblenden erzählt der Text die Kindheit der beiden Brüder, wobei die jeweils frühe Trennung von den Eltern eine wichtige Rolle spielt. Insbesondere ihre gemeinsame Mutter, Janine Ceccaldi, erscheint in einem negativen Licht, wird sie doch dargestellt als eine Vorläuferin der sexuellen Befreiung, die für die Auflösung der traditionellen Familie verantwortlich gemacht wird. Die sexuelle Revolution führe nicht nur zur Bindungsunfähigkeit der Menschen, zu ihrer Entwurzelung und Entfremdung, sondern sie verbinde sich mit den Prinzipien der Konsumgesellschaft und lasse den Sex zum knappen Gut werden, das zu erwerben und massenhaft zu konsumieren man verpflichtet sei. Da jedoch nicht alle Menschen über gleichwertige Ressourcen (körperliche Attraktivität, mentale Disposition, Geld) verfügten, entstehe eine Zweiklassengesellschaft, die aus Menschen bestehe, die prinzipiell Zugang zum sexuellen Massenkonsum hätten, und solchen, denen der Zugang dazu verwehrt sei.

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Die entsprechenden Kapitel lesen sich wie soziologische Analysen, und sie haben nicht unmaßgeblichen Anteil an dem durch den Roman hervorgerufenen Literaturskandal gehabt. Man hat den Roman als reaktionäre Abrechnung mit der 68er-Generation gelesen, die diese auf den Aspekt der sexuellen Befreiung reduziere und letztere pauschal für das Unglück des modernen Menschen verantwortlich mache. Eine solche Sicht des Romans ist indes ihrerseits reduktionistisch, denn sie blendet genau jene Elemente des Textes aus, die im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse sind: die Begegnung und wechselseitige Perspektivierung von Literatur und Naturwissenschaft.29 Untersucht man die entsprechenden Textstellen, so relativiert sich die plakative Thesenhaftigkeit des Romans. Bei einem Gespräch erläutert Michel seinem Bruder, dass eine Geschichte, die man über sein eigenes Leben erzählen könne, vergleichbar sei mit einer »histoire consistante de Griffiths«. Was es damit auf sich hat, führt er in folgender Weise aus: Les histoires consistantes de Griffiths ont été introduites en 1984 pour relier les mesures quantiques dans des narrations vraisemblables. Une histoire de Griffiths est construite à partir d’une suite de mesures plus ou moins quelconques ayant lieu à des instants différents. Chaque mesure exprime le fait qu’une certaine quantité physique, éventuellement différente d’une mesure à l’autre, est comprise, à un instant donné, dans un certain domaine de valeurs. Par exemple, au temps t1, un électron a une certaine vitesse, déterminée avec une approximation dépendant du mode de mesure; au temps t2, il est situé dans un certain domaine de l’espace; au temps t3, il a une certaine valeur de spin. À partir d’un sous-ensemble de mesures on peut définir une histoire, logiquement consistante, dont on ne peut cependant 29

Zu diesem in der Forschung schon mehrfach diskutierten Zusammenhang vgl. etwa Kim Doré, »Doléances d’un surhomme ou La question de l’évolution dans Les particules élémentaires de Michel Houellebecq«, in: Tangence 70 (2002), S. 67–83, hier S. 67: »Entre le laboratoire du chercheur et l’espace narratif du roman subsiste une volonté commune de révéler, d’organiser et de structurer les objets auxquels la pensée s’attache. […] Les particules élémentaires de Michel Houellebecq met à profit ce point de rencontre du scientifique et du littéraire à travers ce qu’on pourrait appeler une esthétique de la confrontation.« [Zwischen dem Labor des Forschers und dem narrativen Raum des Romans besteht ein gemeinsamer Wille, die Gegenstände, auf die das Denken sich richtet, zu enthüllen, zu organisieren und zu strukturieren. (…) Les particules élémentaires von Michel Houellebecq macht diesen Berührungspunkt zwischen der Wissenschaft und der Literatur durch das, was man eine Ästhetik der Konfrontation nennen könnte, nutzbar.], und Ulrich Prill, »Die Ausweitung der Literatur-Zone – Michel Houellebecqs Particules élémentaires zwischen Quantenphysik und Romantik«, in: Joachim Leeker/Elisabeth Leeker (Hg.), Text – Interpretation – Vergleich. Festschrift für Manfred Lentzen, Berlin 2005, S. 58–67, der die »Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft« als »romantisches Erbe« versteht (S. 66).

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pas dire qu’elle soit vraie; elle peut simplement être soutenue sans contradiction. Parmi les histoires du monde possibles dans un cadre expérimental donné, certaines peuvent être réécrites sous la forme normalisée de Griffiths; elles sont alors appelées histoires consistantes de Griffiths, et tout se passe comme si le monde était composé d’objets séparés, dotés de propriétés intrinsèques et stables. Cependant, le nombre d’histoires consistantes de Griffiths pouvant être réécrites à partir d’une série de mesures est en général sensiblement supérieur à un.30 Die stimmigen Geschichten von Griffiths sind 1984 eingeführt worden, um Quantenmessdaten in Form von plausiblen Erzählungen miteinander zu verbinden. Eine Griffiths-Geschichte wird ausgehend von einer Folge von mehr oder weniger beliebigen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorgenommenen Messungen konstruiert. Jede Messung bringt zum Ausdruck, dass eine bestimmte physikalische Größe, die möglicherweise von einer Messung zur anderen unterschiedlich sein kann, zu einem gegebenen Zeitpunkt innerhalb eines gewissen Wertebereichs liegt. Zum Beispiel hat ein Elektron zum Zeitpunkt t1 eine bestimmte Geschwindigkeit, die, abhängig von der Messart, annäherungsweise bestimmt werden kann; zum Zeitpunkt t2 befindet es sich an einem bestimmten Punkt im Raum; zum Zeitpunkt t3 besitzt es einen gewissen Spinwert. Ausgehend von einer Teilmenge von Messungen kann man nun eine logisch schlüssige Geschichte definieren, von der man allerdings nicht behaupten kann, dass sie wahr sei; sie lässt sich lediglich widerspruchsfrei vertreten. Unter den in der Welt möglichen Geschichten können manche innerhalb eines bestimmten Versuchsrahmens in der normalisierten Form von Griffiths neu geschrieben werden; man nennt sie dann stimmige Geschichten von Griffiths, und es hat den Anschein, als bestünde die Welt aus getrennten Objekten mit intrinsischen und stabilen Eigenschaften. Allerdings ist die Anzahl der stimmigen Geschichten von Griffiths, welche ausgehend von einer Reihe von Messungen neu geschrieben werden können, im Allgemeinen deutlich höher als eins.

Auf der atomaren Ebene besteht die Welt bekanntlich nicht aus festen Gegebenheiten, sondern aus Wahrscheinlichkeiten. Die Elementarteilchen sind in beständiger Bewegung, und man kann keine ontologischen Aussagen über sie treffen. Auch sind sie bekanntlich jenseits der Schwelle des Sichtbaren angesiedelt. Macht man das Unsichtbare nun sichtbar, das heißt, beobachtet man mithilfe eines Mikroskops ein Elektron, so kann man zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Parameter (Geschwindigkeit, räumliche Situierung, Bewegungsrichtung) getrennt voneinander bestimmen. Diese bilden die Grundlage für eine hypothetische, in sich widerspruchsfreie Rekonstruktion der ›Geschichte‹ dieses Elektrons, einer Geschichte, die zwar plausibel, aber nicht wahr ist. Dementsprechend lassen sich ausgehend von einer bestimmten Anzahl von Messdaten mehr als nur eine in sich konsistente Griffiths-Geschichte bilden. Der ontologische Wahrheitsbegriff ist bekanntlich in der Atomphysik des 20. Jahrhunderts verabschiedet worden, weshalb die 30

Michel Houellebecq, Les particules élémentaires, Paris 1998, S. 84f.

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Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft auch für Laien so schwer verständlich sind (diese Unverständlichkeit ist auch schon, wie gezeigt wurde, bei Cortázar und Del Giudice thematisch). Wenn nun Michel diese naturwissenschaftliche Erkenntnis auf die erzählende Rekonstruktion eines Lebens auf der Grundlage von einzelnen Erinnerungen überträgt, so postuliert er, dass es auch hier allenfalls plausible, konsistente Hypothesen, nicht hingegen eindeutige und andere Versionen ausschließende Wahrheiten gibt. Diese Erkenntnis gilt dann aber auch für das vorliegende Buch, welches seinerseits die Rekonstruktion der Lebensgeschichte zweier Brüder und ihrer Generationen sowie der Vorgeschichte einer bedeutsamen wissenschaftlichen Leistung darstellt. Die Handlung des Romans setzt zwar im Jahr 1998, dem Erscheinungsjahr des Romans, ein, doch stellt sich am Ende heraus, dass der Erzählakt etwa im Jahr 2079 angesiedelt ist.31 Das Buch ist als Rückblick auf unsere Gegenwart als eine ferne Vergangenheit konzipiert. Der Verfasser ist kein Mensch, sondern Repräsentant einer neuen, aus dem Menschen hervorgegangenen Spezies, die sich nicht sexuell reproduziert, sondern durch Klonen des Erbmaterials, und die daher unsterblich ist. Der ›Vater‹ dieser vom Menschen nach seinem Bilde geschaffenen und zur eigenen Ersetzung in die Welt gesetzten Spezies ist Michel Djerzinski, dessen wissenschaftliche Erkenntnisse von einem Forscher namens Frédéric Hubczejak im Jahr 2029 in die Tat umgesetzt wurden. Im Epilog wird die zeitliche Situierung des Erzählakts vorgenommen, und dort wird auch explizit auf die Relativität, auf den hypothetischen Charakter des vorliegenden Textes verwiesen: »Sur la vie, l’apparence physique, le caractère des personnages qui ont traversé ce récit, nous connaissons de nombreux détails; ce livre doit malgré tout être considéré comme une fiction, une reconstitution crédible à partir de souvenirs partiels, plutôt que comme le reflet d’une vérité univoque et attestable.«32 [Hinsichtlich des Lebens, der äußeren Erscheinung, des Charakters der Figuren, die diese Erzählung durchquert haben, sind uns zahlreiche Einzelheiten bekannt; dennoch muss dieses Buch als eine Fiktion betrachtet werden, als eine auf partialen Erinnerungen beruhende, glaubwürdige Rekonstitution, und weniger als der Widerschein einer eindeutigen und attestierbaren Wahrheit.] Hiermit überträgt der Text also explizit das Prinzip der »histoire consistante de Griffiths« auf sich selbst. Das bedeutet dann aber auch, dass die soziologischen Analysen, die das Elend der Nach-68er-Generation pauschal auf die sexuelle Promiskuität der Eltern zurückführen, nur eine von mehreren möglichen Wahr31 32

Ebd., S. 392f. Ebd., S. 383.

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heiten sind. Auch die so unterschiedlich verlaufenden Lebensgeschichten der beiden Brüder Michel und Bruno sind ein Beleg für die Pluralität der historischen Wahrheitskonstruktionen. Aus einer Ursache (sie haben dieselbe Mutter) ergeben sich entgegengesetzte Wirkungen. Was aber bedeutet diese Erkenntnis für die Literatur? Auch sie wird infrage gestellt, und zwar geradezu auf sardonische Art und Weise. In langen Gesprächen blicken Bruno und Michel auf ihr Leben zurück. Brunos Geschichte ist die eines unerfüllbaren sexuellen Begehrens. Er heiratet und geht als Lehrer in die französische Provinz. Dort begehrt er heimlich seine Schülerinnen und versucht zugleich, es sich im bürgerlichen Leben bequem zu machen. Michel analysiert dieses Verhalten mit dem Blick des Wissenschaftlers und fragt sich, ob man Bruno überhaupt als Individuum betrachten könne. Der allmähliche Verfall seines Körpers sei eine durchaus individuelle Erfahrung, doch andererseits teile er seine hedonistische Lebensanschauung mit einer ganzen Generation. Er sei also je nach Betrachtungsweise entweder ein Individuum oder ein »élément passif du déploiement d’un mouvement historique«33 [passives Element in der Entfaltung einer historischen Bewegung], ganz wie man in der Physik – gemäß dem Komplementaritätsprinzip – die Atome entweder als Teilchen oder als Wellen analysieren könne.34 Im Tierreich, so der Fortgang von Michels Reflexionen, die das menschliche Leben aus streng naturwissenschaftlicher Perspektive analysieren, gebe es zwei Möglichkeiten, auf Frustrationserfahrungen zu reagieren. Zunächst bemühe sich das Tier mit größerer Kraft um die Erlangung des nicht erreichbaren Nahrungsmittels. Nach einiger Zeit jedoch gehe es über zu einer Ersatzhandlung, zum Beispiel indem es ziellos in den Boden picke. »[…] un tel comportement hors de propos, fréquent dans les situations qui impliquent une frustration ou un conflit, est appelé activité de substitution. Début 1986, peu après avoir atteint l’âge de trente ans, Bruno commença à écrire.«35 [(…) solch ein unangemessenes Verhalten, welches häufig in Situationen vorkommt, die eine Frustration oder einen Konflikt beinhalten, nennt man Ersatzhandlung. Anfang 1986, kurz nach seinem dreißigsten Geburtstag, begann Bruno zu schreiben.] Dass Bruno mit dem Schreiben anfängt, ist somit nichts anderes als eine Ersatzhandlung, die die Frustration seines sexuellen Begehrens kompensieren soll. 33 34

35

Ebd., S. 221. Houellebecq selbst hat in Interviews und Selbstkommentaren des Öfteren darauf hingewiesen, dass er das Komplementaritätsprinzip als poetologisches Modell für seinen Roman angewendet habe. Vgl. insbes. Sigrid Weigel/Michel Houellebecq, »Die Quantenmechanik, das Komplementaritätsprinzip, der Todestrieb und die Poesie. Ein Gespräch«, in: Sprache im technischen Zeitalter 39 (2001), S. 13–24. Les particules élémentaires, S. 222.

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Entsprechend äußert sich in seinen Schriften Sexualneid gegenüber von ihm als mit größerer Potenz ausgestattet vermuteten jungen aus Afrika stammenden Franzosen, die ihn bei seinen Schülerinnen ausstechen. Damit wird nun einerseits die Literatur der Lächerlichkeit preisgegeben, insbesondere im Zusammenhang mit der satirischen Darstellung des Pariser Literatur-Establishments in Gestalt von dessen prominentem Vertreter Philippe Sollers; andererseits aber wird eine Äquivalenzrelation zwischen Literatur und Naturwissenschaft hergestellt. Denn für Michel hat das naturwissenschaftliche Interesse ebenfalls kompensatorischen Charakter. Seine erste protosexuelle Erfahrung mit einer Cousine, die sich mit dem Neunjährigen im frisch gemähten Gras wälzt, wird dadurch zum Frustrationserlebnis, dass er am nächsten Tag von schlimmem Juckreiz geplagt wird, hervorgerufen durch ein Insekt namens Thrombidium holosericum. Die unvermittelte Nebeneinanderstellung der kindlichen Liebesszene und der klinisch-nüchternen Symptombeschreibung macht implizit deutlich, dass Michels Beschäftigung mit Naturwissenschaft einen Ersatz für seine gescheiterte Sexualität bedeutet.36 Dieser Bezug wird am Ende des Romans dann expliziert. Nach dem Tod seiner Geliebten Annabelle zieht Michel sich in ein irisches Forschungsinstitut zurück und schreibt dort seine Clifden Notes, in denen er die Grundlage für die Abschaffung der Sexualität und die Überwindung des Todes legt. Bei beiden Brüdern sind es somit die frustrierte Sexualität und die damit verbundene leidvolle Erfahrung, die den Antrieb ihrer kreativen Aktivität bilden. Der Text lässt sich also lesen als ein mehrschichtiges Gebilde, in dem folgende Komponenten zusammentreffen: (1) Eine auf soziologischer Analyse beruhende Geschichte der 68er-Generation und der mit ihr verbundenen sexuellen Befreiung. Diese zeitgeschichtliche Darstellung steht in der Tradition des Realismus beziehungsweise Naturalismus.37 (2) Eine Geschichte 36 37

Ebd., S. 44f.; vgl. auch S. 112f. Vgl. hierzu Rita Schober, »Weltsicht und Realismus in Michel Houellebecqs utopischem Roman Les particules élémentaires«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 25 (2001), S. 177–211, hier S. 178: »Les particules élémentaires brechen mit dieser Fixierung auf die ›écriture‹ […] und nehmen mit einem gewandelten Romankonzept die Verankerung der Fiktion in der Realität gemäß der Tradition eines Balzac, Flaubert, Zola wieder auf.« Schober sieht auch einen Zusammenhang zwischen Zolas Poetik des »roman expérimental« und Houellebecqs Rekurs auf die Naturwissenschaft (S. 184f.). In der Forschung wurde auch auf Affinitäten Houellebecqs zu Auguste Comte verwiesen, vgl. George Chabert, »Michel Houellebecq – lecteur d’Auguste Comte«, in: Revue romane 37/1 (2002), S. 187–204, und Vincent Aurora, »La mesure de l’homme: Le positivisme d’Auguste Comte et la mécanique quantique dans Les Particules Élémentaires de Michel Houellebecq«, in: Versants 43 (2003), S. 163–185.

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zweier Brüder, die exemplarisch für bestimmte Tendenzen ihrer Gesellschaft beziehungsweise der Generation, der sie angehören, einstehen, und an deren Individualgeschichten die kollektive Geschichte konkretisiert und veranschaulicht wird. (3) Eine Begegnung von Literatur (verkörpert durch Bruno) und Naturwissenschaft (verkörpert durch Michel). Diese Begegnung beschränkt sich nicht auf die thematische Ebene, sondern hat Auswirkungen auf die Darstellungsebene des Textes.38 Es konnte gezeigt werden, dass das von dem Naturwissenschaftler Michel erwähnte Prinzip der stimmigen Geschichten von Griffiths, welches aus der Atomphysik stammt, für den Roman selbst als poetologisches Prinzip in Anschlag zu bringen ist. Im konkreten Zusammenhang geht es um die Unmöglichkeit, einen bestimmten Sachverhalt auf eindeutige Weise zu erzählen. So wie im Bereich der Elementarteilchen auf subatomarer Ebene über die konkreten Bewegungen derselben keine Wahrheitsaussagen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können und es verschiedene Möglichkeiten gibt, solche Aussagen zu treffen, verhält es sich auch in Bezug auf das Erzählen gesellschaftlicher Zusammenhänge und Ereignisse. Die Möglichkeit, die vorhandenen wahrnehmbaren Erscheinungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu deuten und zu erzählen (jede Erzählung beruht ja schon auf einer Deutung und einer Bewertung der erzählten Ereignisse) sind stets größer als die Zahl 1. Es gibt also immer mehrere konkurrierende Deutungen ein und desselben Sachverhalts. Überträgt man dieses grundlegende epistemologische Prinzip auf Houellebecqs Roman, so heißt das, dass die in ihm enthaltenen polemischen Deutungen der sexuellen Revolution der Sechzigerjahre und von deren Konsequenzen, welche bei der öffentlichen Wahrnehmung des Romans als eines Skandals die maßgebliche Rolle gespielt haben, nur eine von mehreren Möglichkeiten sind. Dadurch relativiert der Text die ihm selbst eingeschriebenen Deutungen. Er suspendiert damit die Annahme, man könnte komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge wie die der modernen Gesellschaft und ihres Umgangs mit Sexualität eindeutig interpretieren und kausal erklären. Dass dennoch gerade diese Partien des Textes eine besondere Aufmerksamkeit erfahren haben, hängt damit zusammen, dass Houellebecq sich nicht scheut, mit pornographischen Darstellungsformen die Schaulust des 38

Vgl. hierzu Christian Monnin, »Le roman comme accélérateur de particules. Autour de Houellebecq«, in: Liberté 41 (1999), S. 11–28, hier S. 22ff., und ausführlich Betül Dilmac, »Die Vermischung von literarischem und naturwissenschaftlichem Diskurs bei Michel Houellebecq«, in: Thomas Klinkert/Monika Neuhofer (Hg.), Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, Berlin/New York 2008, S. 293–312.

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Lesers zu bedienen. Indem er diese Anleihen beim Trivialgenre der Pornographie macht, lockt er den Leser gewissermaßen in die Falle. Er befriedigt voyeuristische Bedürfnisse und lässt den Leser vergessen, dass diese Textkomponenten in einem widersprüchlichen Verhältnis zu der epistemologischen Reflexivität des Textes stehen, ebenso wie zu den kulturpessimistischen Anschauungen des Erzählers. Sieht man alle Textkomponenten im Zusammenhang, dann ergibt sich das widersprüchliche Bild eines Textes, der zugleich Kulturkritik, Pornographie, Science Fiction und epistemologische Grundlagenreflexion beinhaltet. In der Auseinandersetzung mit den Prinzipien der modernen Naturwissenschaft, die er poetologisch auf sich selbst anwendet, konstituiert sich der Text somit als sprachliches Äquivalent des in der modernen Physik entstandenen Konzepts der Unbestimmtheit. 7.2.2 Volpi, En busca de Klingsor Der mexikanische Romancier Jorge Volpi (geb. 1968) veröffentlichte En busca de Klingsor 1999.39 Der Erzähler dieses Romans, Gustav Links, ist Professor für Mathematik an der Universität Leipzig. Er erzählt im Jahr 1989 seine Lebensgeschichte, deren Schwerpunkt in die Dreißiger- und Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts fällt. Gustav Links stand den Verschwörern des 20. Juli nahe und hat die Verfolgung durch Hitler nur durch einen Zufall überlebt. Gegenstand seiner Geschichte ist das Verhältnis zwischen politischer Macht und Naturwissenschaft im Dritten Reich. Die Geschichte wird teilweise aus der Perspektive von Gustav Links erzählt, also aus einer autobiographischen Perspektive, teilweise jedoch aus der Perspektive des zweiten Protagonisten Francis Bacon. Ich-Erzählung und Er-Erzählung alternieren somit auf paradoxe Weise in diesem Text, denn der Ich-Erzähler Links berichtet mit dem Anspruch des allwissenden Erzählers von Ereignissen und Sachverhalten, die er selbst nicht erlebt hat.40 Francis Bacon ist ein amerikanischer Physiker, der 39

40

Vgl. allgemein zu Volpis Werk José Manuel López de Abiada et al. (Hg.), En busca de Jorge Volpi. Ensayos sobre su obra, Madrid 2004. Für die vorliegende Fragestellung von Interesse ist darin der Beitrag von Félix Jiménez Ramírez, »En busca de Klingsor: Jorge Volpi y el lenguaje científico«, S. 180–186. Vgl. außerdem Robert O. Goebel, »Volpi’s Klingsor: Science, Mann, Magic, and the Middle Ages«, in: Philological Papers 2002, S. 86–91, und Ignacio Álvarez, »Paradoja y contradicción: epistemología y estética en En busca de Klingsor, de Jorge Volpi«, in: Taller de letras 33 (2003), S. 47–60. Zur Erzählsituation und ihren epistemologischen Konsequenzen vgl. Álvarez, »Paradoja y contradicción«, S. 54ff. Álvarez hebt die paradoxe Selbstinfragestellung des Erzählers Links hervor, welche daraus resultiert, dass er einen Großteil der Handlung im Modus der Null-Fokalisierung erzählt, zugleich aber einräumt, dass sein diesbezügliches Wissen auf Hypothesen beruhe: »En suma, para el lector

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nach Kriegsende 1945 als Offizier der amerikanischen Armee den Auftrag erhält, im zerstörten Deutschland nach einer mysteriösen Person mit dem Decknamen Klingsor41 zu suchen. Klingsor gilt als der spiritus rector des deutschen Atombomben-Projekts, als derjenige, der im Auftrag Hitlers die Aktivitäten der deutschen Forschung gefördert und koordiniert haben soll. Man vermutet, dass Klingsor ein bedeutender Physiker gewesen sein muss, einer, der zu den führenden Vertretern dieser Wissenschaft in Deutschland gehört habe. Bacon begegnet bei seiner Untersuchung den wichtigsten Vertretern der damaligen Physik, zum Beispiel Werner Heisenberg, Max Planck, Johannes Stark, aber auch Wissenschaftlern, die während der NS-Zeit nicht in Deutschland lebten, wie Erwin Schrödinger und Niels Bohr. Unterstützt wird Bacon bei seiner Untersuchung von Gustav Links, der als Mathematiker mit vielen dieser Wissenschaftler Kontakt hatte beziehungsweise ihre Netzwerke kannte und ihn bei der Begegnung mit diesen Personen orientieren kann. Vordergründig handelt es sich also um eine Kriminalgeschichte, um einen Thriller, bei dem es darum geht, die Identität eines Verbrechers aufzuklären. Elemente eines Thrillers zeigen sich beispielsweise in der Tatsache, dass Personen verraten werden, dass sich Rätsel stellen, dass sich spannende und bedrohliche Situationen ergeben. Jenseits dieser vordergründigen Handlungsebene geht es jedoch grundlegend um den Zusammenhang von Wissenschaft und Schreiben. Der Roman zeichnet sich aus durch eine hohe poetologische Selbstreflexivität. So werden beispielsweise gleich zu Beginn des ersten Buches sogenannte »Leyes del movimiento narrativo«42 formuliert.

41

42

es imposible afirmar un juicio de verdad respecto de ninguna de las aseveraciones de Links, es decir, de ninguna parte de la novela, que se revela entonces como una completa paradoja. Si la clásica narración es siempre cierta, pues crea su objeto, la narración paradójica nos sume en la incertidumbre. Las concecuencias epistemológicas son evidentes: no es posible conocer la realidad (de la novela), sino solo de manera probabilística, incluso el aparato de observación (el narrador) influye en el valor de lo percibido.« [Kurz, für den Leser ist es nicht möglich, hinsichtlich irgendeiner der Behauptungen von Links ein Wahrheitsurteil zu fällen, das heißt hinsichtlich aller Teile des Romans, der sich somit als komplette Paradoxie entpuppt. Wenn die klassische Erzählung immer wahr ist, da sie ja ihren Gegenstand selbst erzeugt, dann stürzt uns die paradoxe Erzählung in die Unsicherheit. Daraus ergeben sich folgende evidente epistemologische Konsequenzen: Es ist nicht möglich, die Realität (des Romans) zu kennen, es sei denn in probabilistischer Form, sogar der Beobachtungsapparat (der Erzähler) hat Einfluss auf den Wert des Wahrgenommenen.] (S. 56) Zu dem komplexen intertextuellen Spiel, welches sich mit diesem auf Wolframs von Eschenbach Parzival ebenso wie auf Richard Wagners Parsifal verweisenden Namen verbindet, vgl. Goebel, »Volpi’s Klingsor«, S. 90. Jorge Volpi, En busca de Klingsor, Barcelona 2004, S. 25–29.

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Diese Gesetze lauten wie folgt: (1) Jede Erzählung wurde von einem Erzähler geschrieben (»Toda narración ha sido escrita por un narrador«). (2) Jeder Erzähler bietet eine einzigartige Wahrheit an (»Todo narrador ofrece una verdad única«). (3) Jeder Erzähler hat ein Motiv, um zu erzählen (»Todo narrador tiene un motivo para narrar«). Nun kann man die bereits erwähnte Tatsache, dass Gustav Links sowohl als Ich-Erzähler mit eingeschränkter Perspektive als auch als Er-Erzähler mit Überperspektive auftritt, auch dahingehend auslegen, dass wir es faktisch mit zwei verschiedenen Erzählern zu tun haben. Dies lässt den Schluss zu, dass es in dem vorhandenen Text keine exklusive Wahrheit geben kann. Diese Tatsache wird in Bezug gesetzt zu der epistemologischen Unsicherheit, welche sich aus den Erkenntnissen der modernen Physik ergibt. Wie schon bei Houellebecq werden die Prinzipien der Unsicherheit und der Unbestimmtheit narrativ umgesetzt.43 In vielfacher Hinsicht werden Modelle, Konzepte, Ideen der modernen Naturwissenschaft und der Mathematik im Roman thematisiert und in ein Wechselverhältnis zur Handlung wie auch zur Erzählebene gestellt. Die poetologische Funktionalisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird bereits in dem zweiten narrativen Gesetz, wonach jeder Erzähler eine einheitliche beziehungsweise exklusive Wahrheit präsentiere, deutlich gemacht. In den diesbezüglichen Erläuterungen wird auf Erwin Schrödinger hingewiesen. Schrödinger war ein Physiker, der auch später auf der Handlungsebene noch eine wichtige Rolle als Auskunftsperson und handelnde Figur spielen wird. Er wird hier eingeführt als Entdecker der Wellenmechanik. Ihm wird attestiert, dass er die Grundlagen einer modernen Wahrheitstheorie geschaffen habe, welche in Zusammenhang stehe mit der Relativität beziehungsweise, wie es auch heißt, mit den Prinzipien der Unsicherheit, der Komplementarität und der Exklusion. Diese poetologische Inanspruch43

Vgl. hierzu – neben der bereits diesbezüglich zitierten Studie von Álvarez – Goebel, »Volpi’s Klingsor«, S. 86: »The uncertainty principle that bears [Heisenberg’s] name silently governs the book […]« und Jiménez Ramírez, »En busca de Klingsor«, S. 180: »[…] el azar y la incertidumbre desempeñan un papel relevante en el desarrollo argumental (ingredientes de novela policíaca), de la misma manera que el azar pasará a ser un elemento importante de la física cuántica […]. Se produce de esta manera una verdadera fusión entre ciencia (argumento de la novela) y teoría científica (estructura y desarrollo del relato) en la propia novela.« [(…) der Zufall und die Unsicherheit spielen eine für die Handlungsentwicklung relevante Rolle (Elemente des Kriminalromans), ebenso wie der Zufall zu einem wichtigen Element der Quantenphysik werden wird (…). Auf diese Weise entsteht eine regelrechte Vermischung von Wissenschaft (Thema des Romans) und wissenschaftlicher Theorie (Struktur und Entwicklung der Erzählung) im Roman selbst.]

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nahme, die also hier gleich zu Beginn schon sehr deutlich angekündigt wird, zeigt sich dann im Roman an späterer Stelle immer wieder. So wird beispielsweise in einem Kapitel mit dem Titel »Hipótesis 4. Sobre el Teorema de Gödel y el matrimonio« der Gödel-Satz zitiert, und zwar in seiner wissenschaftlichen Formel-Variante, und er wird sodann kommentiert: A cada clase k w-consistente y recursiva de formulae corresponden signos de clase r recursivos, de modo que ni v Gen r ni Neg (v Gen r) pertenecen a Flg (k) (donde v es la variante libre de r). Cuya traducción aproximada sería: »Toda formulación axiomática de teoría de los números incluye proposiciones indecidibles.« En términos simples, Gödel decía lo siguiente: »Esta aseveración de teoría de los números no tiene ninguna demostración en el sistema de los Principia Mathematica.« […] En resumen, Gödel afirmaba que en cualquier sistema – en cualquier ciencia, en cualquier lengua, en cualquier mente – existen aseveraciones que son ciertas pero que no pueden ser comprobadas. Por más que uno se esfuerce, por más perfecto que sea el sistema que uno haya creado, siempre existirán dentro de él huecos y vacíos indemostrables, argumentos paradójicos que se comportan como termitas y devoran nuestras certezas. Si la teoría de la relatividad de Einstein y la teoría cuántica de Bohr y sus seguidores se habían encargado de demostrar que la física había dejado de ser una ciencia exacta – un compendio de afirmaciones absolutas –, ahora Gödel hacía lo mismo con las matemáticas. Nadie estaba a salvo en un mundo que comenzaba a ser dominado por la incertidumbre. Gracias a Gödel, la verdad se tornó más huidiza y caprichosa que nunca.44 Zu jeder -widerspruchsfreien rekursiven Klasse k von Formeln gibt es rekursive Klassenzeichen r, so daß weder  Gen r noch Neg ( Gen r) zu Flg (k) gehört (wobei  die freie Variable aus r ist). Was übersetzt ungefähr hieß: »Alle widerspruchsfreien axiomatischen Formulierungen der Zahlentheorie enthalten unentscheidbare Aussagen.« Einfach ausgedrückt, sagte Gödel folgendes: »Für diesen Satz der Zahlentheorie gibt es im System der Principia Mathematica keinerlei Beweis.« […] Zusammengefaßt behauptete Gödel, daß in jedem System – in jeder Wissenschaft, jeder Sprache, jedem Geist – Aussagen existieren, die wahr sind, aber nicht bewiesen werden können. So sehr man sich auch bemüht, so vollkommen das System auch sein mag, das man sich geschaffen hat, immer werden darin Löcher und unbeweisbare Leerstellen auftauchen, widersprüchliche Argumente, die wie Termiten alle unsere Gewißheiten zerfressen. Wenn durch Einsteins Relativitätstheorie und die Quantentheorie von Bohr und seinen Anhängern bewiesen worden war, daß die Physik nicht länger eine vollkommen deterministische Wissenschaft war – ein Kompendium absoluter Aussagen –, so hatte Gödel es nun übernommen, die Mathematik auf den Kopf zu stellen. Niemand war mehr sicher in einer Welt, die zunehmend von der Unbestimmtheit regiert wurde. Dank Gödel war die Wahrheit unbeständiger und launischer denn je geworden.45

44 45

En busca de Klingsor, S. 110. Kursivierungen im Text. Jorge Volpi, Das Klingsor-Paradox, übers. v. Susanne Lange, Stuttgart 2001, S. 102.

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Aus diesem Passus geht hervor, dass es in jedem Aussagensystem Momente der Unentscheidbarkeit gibt. Man kann es auch so formulieren: Es gibt in jedem beliebigen Aussagensystem, sei es eine Wissenschaft, eine Sprache oder Ähnliches, Aussagen, die zwar wahr sind, aber nicht beweisbar. Jedes System ist also unvollständig und führt zu paradoxen Aussagen, Sachverhalten oder Beziehungen. Der Mathematiker Gödel wird hier in einen Bezug zu den Physikern Einstein und Bohr gestellt. Während Einstein und Bohr erkannt haben, dass die Physik Unschärfen und Unsicherheiten zulässt und somit nicht mehr im überlieferten Sinn als exakte Wissenschaft betrachtet werden kann, liefert Gödel hierzu den mathematischen Beweis. Die Thematisierung epistemologischer Sachverhalte ist im Roman von Volpi kein Selbstzweck, sondern sie ist – ähnlich wie bei Houellebecq – unmittelbar übertragbar auf die Handlung des Romans ebenso wie auf dessen Darstellungsebene und hat somit poetologische Funktion. Die Unsicherheit bezieht sich auf alle Protagonisten, in erster Linie natürlich die deutschen Physiker, die von dem Protagonisten Bacon mit dem Ziel befragt werden, dass sie Auskunft über Klingsor geben. Klingsor muss nämlich ein hochrangiger Physiker gewesen sein, sonst wäre er gar nicht in der Lage gewesen, das Atomprogramm der Nationalsozialisten zu verstehen und zu koordinieren. Dementsprechend sind alle bedeutenden Physiker, die in Deutschland geblieben waren, verdächtig, Klingsor gewesen zu sein. Diese Unsicherheit bleibt bis zum Schluss bestehen, denn anders als im Thriller oder im Kriminalroman verweigert der Text die Auflösung, das heißt, der Leser erfährt nicht, wer Klingsor war. Auch im privaten Bereich der Protagonisten gibt es Unsicherheiten. So verliebt Bacon sich in eine junge Deutsche namens Irene, von der sich herausstellt, dass sie für den östlichen Geheimdienst arbeitet. Umgekehrt behauptet Irene, dass Gustav Links, der ja Bacons Kontaktmann zur deutschen Wissenschaft ist, in Wirklichkeit Klingsor sei. Links selbst erzählt seine private Geschichte, in der es ebenfalls um Betrug, Verrat und Täuschung geht. So verliebt er sich beispielsweise in die Frau seines besten Freundes, und es kommt zu einer lesbischen Beziehung zwischen seiner eigenen Frau und der Frau seines besten Freundes. Die Welt des Romans erweist sich somit als eine Welt der Täuschungen, der Unklarheiten, der Unsicherheit. Im Kapitel »El Principio de incertidumbre« findet sich folgender Passus: Así que ustedes disculparán el que recurra a esta odiosa vulgarización pero, en aquellos momentos, yo no podía dejar de pensar que el teniente Bacon y yo habíamos sido presa de algo muy parecido al principio de incertidumbre. Poco importaba que, en el fondo, los átomos apenas tuviesen que ver con nuestras pesquisas. Klingsor hacía que nos sintiésemos, en realidad, en medio de la mayor de las dudas. ¿Estábamos siguiendo el camino correcto? ¿Se trataba de una trampa? ¿O ni

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siquiera eso, sino de una simple equivocación? Y, a partir de ahí, las preguntas cada vez se volverían más acuciantes y desesperanzadoras. ¿Podíamos confiar en los demás? ¿Era Irene una amante devota? ¿Y era Bacon un hombre fiel? ¿Yo debía seguir creyendo en la ingenuidad y la torpeza del teniente? ¿Era prudente que él siguiese mis indicaciones? ¿Estaba yo manipulándolo a mi favor, como decía Irene? ¿O era ella quien lo manipulaba a él? ¿Quién jugaba con quién? ¿Quién traicionaba a quién? ¿Y para qué? ¿Éramos, de un modo u otro, piezas en el ajedrez de Klingsor? O, peor aún, ¿Klingsor no era más que una abstracción de nuestras mentes, una proyección desorbitada de nuestra incertidumbre, un modo de colmar nuestro vacío? / No había modo de saberlo.46 Entschuldigen Sie also bitte, wenn ich mir selbst diese abscheuliche populäre Variante zunutze mache, aber damals konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß Oberleutnant Bacon und ich Gefangene von etwas waren, das eng mit der Unbestimmtheitsrelation verwandt war. Da spielte es kaum eine Rolle, daß die Atome im Grunde nur wenig mit unseren Forschungen zu tun hatten. Klingsor hatte uns wahrhaftig in die größten Zweifel gestürzt. Waren wir auf dem richtigen Weg? War es eine Falle? Oder nicht einmal das, sondern nur ein simpler Irrtum? Von diesem Punkt an wurden die Fragen immer aufwühlender, ließen uns immer mehr verzweifeln. Konnten wir den anderen vertrauen? War Irene eine treue Geliebte? War Bacon ein verläßlicher Mann? Sollte ich weiter an die Naivität und Ungeschicklichkeit des Oberleutnants glauben? War es klug, daß er meinen Hinweisen folgte? Manipulierte ich ihn zu meinen Gunsten, wie Irene behauptete? Oder manipulierte sie ihn? Wer spielte mit wem? Wer verriet wen? Und wozu? Waren wir auf die eine oder andere Weise Klingsors Schachfiguren? Oder schlimmer noch, war Klingsor nichts weiter als eine Abstraktion unseres Geistes, eine übertriebene Projektion unserer Unbestimmtheit, eine Art, unsere Leere auszufüllen? / Es gab keinen Weg, das herauszufinden.47

An dieser Stelle vollzieht der Erzähler Links selbst, was im Roman strukturell angelegt ist, das heißt, er wendet das Unbestimmtheitsprinzip reflexiv auf die eigene Situation an. Entscheidend ist, dass alle ungeklärten Fragen und alternativen Antworten letztlich unentscheidbar sind, dass es heißt »No había modo de saberlo«. Mit anderen Worten: Die grundlegende Unsicherheit, das Nicht-Wissen wird nicht als beliebiger Zufall oder ungünstigen Umständen zu verdankendes Missgeschick interpretiert, sondern als etwas sehr viel Grundlegenderes, als etwas auf der epistemologischen Ebene des modernen Wissens Fundiertes. Insofern, so lässt sich nun verallgemeinern, ist dieser Roman der Versuch, genau wie bei Houellebecq eine Korrelation zwischen modernem Wissen, welches ein Wissen der Unbestimmtheit ist, und literarischer Fiktion herzustellen. Ein Roman kann im Zeitalter des Unbestimmtheitsprinzips nicht mehr naiv sein, er kann nicht ein auf absoluter Gewiss46 47

En busca de Klingsor, S. 420. Das Klingsor-Paradox, S. 385f.

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Literatur und moderne Physik

heit beruhendes Wissen vermitteln, welches es auf der epistemischen Ebene nicht mehr gibt. Das Besondere an Volpis Roman ist nun, dass diese Sachverhalte gedoppelt werden. Auf der thematischen Ebene ist ja in doppelter Weise von Unbestimmtheit die Rede, einerseits im Hinblick auf die ungeklärte Frage, wer Klingsor war, und damit verbunden natürlich die Frage nach den Urhebern der nationalsozialistischen Verbrechen beziehungsweise – anders gewendet – die Frage nach der Schuld der Wissenschaftler.48 Dies ist die thematische Ebene, die Ebene der Intrige. Daneben haben wir die Tatsache, dass alle beteiligten Figuren Wissenschaftler sind, die über die Prinzipien der modernen Wissenschaft Bescheid wissen und somit selbstreflexiv mit diesem Wissen umgehen und dieses Wissen auf ihre eigene Situation rückbeziehen können. In dieser Doppelung erzeugt der Roman somit ein Wissen auf der Seite des Lesers, der durch ungeklärte Fragen auf der Ebene der Fiktion nachvollziehen lernt, was das Unbestimmtheitsprinzip für den modernen Menschen bedeutet. Insofern ist es kein Zufall, dass diese beiden Elemente hier zusammengeführt und miteinander verknüpft werden.

48

Vgl. hierzu Michael Altmann, »La contaminación de los científicos«, in: José Manuel López de Abiada et al. (Hg.), En busca de Jorge Volpi. Ensayos sobre su obra, Madrid 2004, S. 13–29, und Philipp Lothenbach, »La responsabilidad del físico en Brecht, Dürrenmatt y Volpi. En busca de Klingsor y dos de sus antecedentes en la dramática alemana«, ebd., S. 203–207.

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8.

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Die vorliegende Untersuchung nimmt ihren Ausgang von der allseits bekannten Beobachtung, dass zwischen Kunst und Literatur auf der einen und Wissenschaft auf der anderen Seite eine tiefe Kluft besteht. Diese Kluft wurde von C. P. Snow auf den Begriff der ›zwei Kulturen‹ gebracht und darf trotz der vielfach geübten Kritik an Snows These als maßgebliche Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft gelten. Eine funktionsgeschichtliche Erklärung findet Snows These in der von Niklas Luhmann beschriebenen und theoretisch begründeten Struktur der modernen Gesellschaft als einer funktional ausdifferenzierten. Funktionale Ausdifferenzierung bedeutet, dass es in der Gesellschaft verschiedene, auf je eine Funktion spezialisierte Teilsysteme gibt (Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst, Religion, Wissenschaft), die operativ geschlossen sind und die die Elemente, aus denen sie bestehen, nach einer je spezifischen Leitdifferenz codieren. Dies bedeutet, dass eine Kommunikation zwischen den Systemen schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Trotz dieser Sachlage ist nun aber zu beobachten, dass es in der Literatur der Moderne immer wieder Wechselwirkungen und diskursive Interferenzen zwischen den Systemen Literatur und Wissenschaft gibt. Es wurde hier versucht, eine – sehr partiale – Geschichte solcher diskursiven Interferenzen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu schreiben. Zur theoretischen Fundierung wurde in der Einleitung unter Rekurs auf den Luhmann’schen Begriff des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums eine Vergleichbarkeit der Begriffe Wahrheit und Fiktion hergestellt. Luhmann betrachtet Wahrheit nicht als eine Eigenschaft von Sätzen und Kognitionen, sondern als »ein Medium der Emergenz unwahrscheinlicher Kommunikation«.1 Die Entstehung des Wahrheitsbegriffs hängt mit der Entstehung der griechischen Alphabetschrift zusammen, die, wie unter anderem Havelock, Goody und Watt beschrieben haben, zur Folge hat, dass sich zwischen der Produktion und der Rezeption eines Kommunikationsaktes eine Distanz auftut. Diese Distanz, so Luhmann, erhöht die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, was durch die Entstehung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Wahrheit mit der binären Alternative wahr/falsch, welche die Anzahl aller möglichen Anschlusskommunikationen auf zwei einschränkt, kompensiert wird. 1

Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992, S. 173.

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Auch das Konzept der Fiktion entsteht, wie Wolfgang Rösler2 gezeigt hat, als Folge der griechischen Alphabetschrift. Die durch die Alphabetschrift ermöglichte Akkumulation von Wissen führt, so Rösler, zur Wahrnehmung von Differenzen und damit zu einem Bewusstsein von Geschichte, zu kontroversen Diskussionen über das Wissen und zur Ausdifferenzierung von Wissensbereichen, insbesondere in Dichtung, Geschichtsschreibung und Philosophie. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung entsteht in der Zeit zwischen Homer und Aristoteles ein zunehmendes Bewusstsein für Fiktionalität als spezifisches Merkmal poetischer Texte – im Gegensatz zur Wahrheit als Merkmal historiographischer oder philosophischer Texte. Wenn nun also Wahrheit und Fiktion genetisch, strukturgeschichtlich und funktional miteinander verwandt sind, als historisch spezifische Antworten auf eine durch die Alphabetschrift entstandene Problemlage, dann, so die These des vorliegenden Buches, plausibilisiert dies die Rivalität zwischen Dichtung und Wahrheitsdiskursen (Philosophie, Theologie, Wissenschaft) als eine die gesamte abendländische Geschichte durchziehende Konstellation. Außerdem lässt sich auf der Basis dieser Theorie, welche Fiktion und Wahrheit nicht als essentielle Eigenschaften von Texten betrachtet, sondern als kommunikative Operatoren, eine grundlegende Vergleichbarkeit von poetischen und wissenschaftlichen Texten postulieren. Vergleichbarkeit heißt indes nicht Gleichheit, denn es ist nicht zu übersehen, dass literarisch-poetische Texte nicht nur mit dem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Fiktion operieren, sondern auch nach der Leitdifferenz schön vs. hässlich beziehungsweise interessant vs. langweilig codiert sind. Man kann somit von einer doppelten Codierung poetischer Texte sprechen, welche der Hauptgrund für das in diesen Texten in unterschiedlicher Art und Weise zustande kommende Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Wissen ist. Vor diesem theoretischen Hintergrund werden im Hauptteil der Untersuchung zahlreiche Texte in italienischer, französischer, deutscher und spanischer Sprache von der Mitte des 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts untersucht. Das zweite Kapitel stellt Interferenzen von Literatur und Wissenschaft im 18. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Vicos Scienza nuova ist ein Traktat, der es sich zum Ziel setzt, die Prinzipien der geschichtlichen Entwicklung freizulegen. Um sein Erkenntnisziel zu erreichen, bedient er sich der Verbindung von Philosophie und Philologie: Literatur beziehungsweise Mythos dienen ihm als kulturgeschichtliche Erkenntnisquellen. Vicos eigener Text zeichnet 2

Rösler, »Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike«, in: Poetica 12 (1980), S. 283–319.

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sich aus durch rhetorische Brillanz und durch literarischen Stil. Besonders eindringlich kommt dies zum Ausdruck, wenn er sich zur Erläuterung des eigenen Vorhabens der emblematischen Verbindung von Text und Bild bedient. Rousseau setzt sich in seinem zweiten Discours das Ziel, die aktuell zu beobachtende Ungleichheit unter den Menschen historisch zu erklären und moralisch zu bewerten. Sein Ansatz ist vergleichbar mit einem Gedankenexperiment, versucht er doch, die Natur des Menschen durch die hypothetische Rekonstruktion eines Urzustandes zu erfassen. Da es für diesen Urzustand keine historiographischen Quellen gibt, muss Rousseau die Entwicklung vom »homme naturel« zum Zivilisationsmenschen als eine fiktive Geschichte der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit erzählen. Das heißt, er bedient sich genau jener Verfahren, welche seit Aristoteles für die Dichtung charakteristisch sind. Auch in anderen Texten, etwa im Émile, kommt es bei Rousseau zu Vermischungen von traktathafter Argumentation und fiktionaler Darstellung. Seine Texte, die sich auf der Inhaltsebene durch ein aporetisches Denken jenseits der binären Logik auszeichnen, besitzen ihrerseits einen jenseits der Alternative Dichtung oder Philosophie angesiedelten hybriden Status. Diderots Entretien entre d’Alembert et Diderot hat das Ziel, aktuelle naturwissenschaftliche Theorien (Theorie der sensitiven Materie, Theorie der Hybridisierungen und Formenwechsel) zu diskutieren. Die Dialogform dient einerseits zur prozesshaft-dynamischen Vermittlung des Wissens und andererseits zur Diskussion ungeklärter Fragen. Die auf der Ebene der Theorie von den Beobachtern erkannten Lücken werden auf der Ebene der Darstellung durch Metaphern (zum Beispiel »instrument« und »cordes vibrantes«) gefüllt und zugleich bloßgelegt. Außerdem bedient der Text sich des Verfahrens der mehrfachen Versprachlichung des Problems durch Juxtaposition und Überlagerung verschiedener Sprechsitutationen: Im Rêve de d’Alembert (dem zweiten Teil des Entretien) nämlich wird das Gespräch zwischen d’Alembert und Diderot vom schlafenden d’Alembert im Traum defiguriert und von d’Alemberts Lebensgefährtin Mademoiselle de l’Espinasse im Gespräch mit dem herbeigeholten Arzt Bordeu refiguriert. Auf diese Weise wird einerseits die didaktische Komponente des Textes hervorgehoben (Mademoiselle de l’Espinasse vertritt die Rolle des zu belehrenden Lesers), andererseits wird in selbstreflexiver Weise die Struktur des Textes als eines sich auf der Basis bestimmter wiederkehrender und variierter Metaphern autopoietisch konstituierenden Kommunikationsaktes bloßgelegt. In Diderots experimentellem Roman Jacques le fataliste zeigt sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem philosophisch-wissenschaftlichen, dem his-

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toriographischen und dem literarischen Diskurs. Der Text arbeitet mit zahlreichen Mitteln einer Deautomatisierung des Erzählens und einer Bloßlegung der Fiktionalität (Durchbrechung des Erwartungshorizontes hinsichtlich der Informationsvergabe, Dialog zwischen Erzähler und erzähltem Leser, Überlagerung verschiedener diegetischer Ebenen, permanente Unterbrechung von Erzählvorgängen usw.). Diese Mittel dienen einerseits dazu, den Autonomieanspruch des Romans zu betonen, und zwar paradoxerweise, indem der Roman als Gattung verurteilt wird. Andererseits ist es von der Position eines Autonomie beanspruchenden Textes aus möglich, die fundierenden Oppositionen der Wissensordnung zu unterlaufen: Der Text dekonstruiert systematisch die Oppositionsbezüge zwischen den drei Grundtermen des »systême des connoissances humaines«: Philosophie, Geschichte und Poesie. Im dritten Kapitel wird das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft um 1800 am Beispiel Goethes betrachtet. Wenngleich schon in der französischen Spätaufklärung Ansätze zu einer autonomieästhetischen Selbstbeschreibung erkennbar sind, erreicht diese ihre vollgültige Ausprägung doch erstmals im deutschen Sturm und Drang, wie am Beispiel von Goethes Werther gezeigt werden kann. Dieser Text nämlich lässt die Differenz zwischen ästhetischer und moralischer Bewertung offenkundig werden. Auch die Wahlverwandtschaften lassen sich vor dem Hintergrund der Autonomieästhetik lesen. Im Gegensatz zu Goethes erklärter Intention, die darin bestand, dass er »eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge« zurückführen wollte, was auf der Annahme beruht, dass es nur eine Natur gebe, in der die »Vernunftfreiheit« und die »trübe[.], leidenschaftliche[.] Notwendigkeit« miteinander verschränkt seien, zeigt eine genaue Lektüre des Romans, dass die berühmte chemische Gleichnisrede nicht geeignet ist, um als Erklärungsmodell für die auf der Handlungsebene sich entfaltende Beziehungsdynamik zu fungieren. Vielmehr wird deutlich, dass ein tiefgehender Riss zwischen Erzählen und Wissen, zwischen Literatur und Chemie besteht. Dieser Riss wiederum lässt sich als Indiz wachsender Autonomisierung der Literatur deuten. Das vierte Kapitel untersucht die paradoxe Verwissenschaftlichung des Romans im Realismus und im Naturalismus. Trotz der durch die funktionale Ausdifferenzierung bedingten Trennung zwischen den Systemen Literatur und Wissenschaft kommt es im Roman des 19. Jahrhunderts verstärkt zu poetologischen Auseinandersetzungen mit wissenschaftlichen Modellen, Theorien und Denkfiguren. Begründende Funktion hat in diesem Zusammenhang Balzac, der im »Avant-propos« zur Comédie humaine den von ihm

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konzipierten wirklichkeitsdarstellenden Roman als wissenschaftliche Gattung zu definieren versucht. Wenn er eine systematisch-enzyklopädische und eine historiographisch-narrative Komponente unterscheidet und diese auf unterschiedlichen Textebenen zu verankern versucht – erstere auf der Ebene des kommentierenden Erzählers, letztere auf der Ebene der erzählten Geschichte –, so zeigt sich bei einer Untersuchung seiner Romane, dass zwischen der Ebene des Kommentars und der Ebene der Handlungslogik erhebliche Diskrepanzen bestehen, welche die dem Erzähler zugeschriebene Ordnungsfunktion und damit die unterstellte Wissenschaftlichkeit der Romane erheblich gefährden. Die Brüchigkeit von Balzacs Projekt wird von ihm selbst in dem frühen Roman La peau de chagrin explizit reflektiert: Hier übt er einerseits eine grundlegende epistemologische Kritik an den Wissenschaften und stellt in der phantastischen Ambivalenz der Konfrontation zwischen dem vermeintlich magischen Objekt und der rationalen wissenschaftlichen Analyse desselben die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft infrage. Flaubert setzt das Balzac’sche Projekt einer auf Wissenschaft beruhenden Wirklichkeitsdarstellung einerseits fort und distanziert sich andererseits davon. Seine Skepsis hinsichtlich der Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts manifestiert sich insbesondere in seinem letzten, unvollendet gebliebenen Roman Bouvard et Pécuchet. Hier wird einerseits auf der Ebene der Handlung der Versuch unternommen, die Welt mithilfe der Wissenschaften sinnhaft zu begreifen. Andererseits führt dieser Versuch zu einem in der Serialisierung komisch wirkenden Scheitern, wobei offen bleibt, wer mehr Verantwortung an diesem Scheitern trägt: die dilettierenden Protagonisten oder die unvollkommenen Wissenschaften. Die Tatsache, dass die schon in Flauberts früheren Werken erkennbare Zitathaftigkeit der dargestellten Wirklichkeit in Bouvard et Pécuchet um ein Vielfaches gesteigert wird, erhält insofern einen poetologischen und epistemologischen Index, als die beiden Protagonisten auch über Literatur nachdenken und selbst Schreibprojekte entwerfen und dabei die Grundlagen von Flauberts eigener Darstellung berühren; insbesondere ihre Auseinandersetzung mit Balzac lässt sich als ein ambivalenter selbstreflexiver Kommentar des Flaubert’schen impliziten Autors über das wirklichkeitsdarstellende Projekt und seine Grenzen lesen. Parallel zu Balzac entwickelt Manzoni sein Projekt eines historischen Romans, in welchem die Ebene der Fiktion und die Ebene der historischen Wirklichkeit nicht wie bei Scott miteinander vermischt werden, sondern einander getrennt gegenüberstehen. Die fiktive Handlung der Promessi sposi folgt dem Schema des hellenistischen Liebes- und Abenteuerromans und

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führt trotz aller Hindernisse und Gefährdungen schließlich zur glücklichen Vereinigung der beiden Liebenden. In diese Individualgeschichte eingebettet ist die Analyse der Mailänder Pest, welche der Erzähler mit den Mitteln des Historikers und des modernen Wissenschaftlers unternimmt. Den beiden klar getrennten Komponenten des Textes liegen unterschiedliche, ja inkompatible Weltmodelle zugrunde. Der Glaube an eine göttliche Providenz, dem Manzoni nachweislich nahestand, wird durch die Diskrepanz zwischen Liebesgeschichte und Pesthandlung infrage gestellt. Der Text signalisiert diese Infragestellung auch an anderer Stelle durch Ironiesignale, etwa im Hinblick auf die historiographische Refunktionalisierung der Manuskriptfiktion. Zola knüpft in seiner dezidiert wissenschaftlichen Poetik des Naturalismus an Balzacs Projekt an. Er übersteigert die Balzac’sche Position, indem er den Romanautor mit dem Wissenschaftler schlechthin gleichsetzt. In Anlehnung an Claude Bernard postuliert Zola für den Romancier die Rolle des Beobachters und des Experimentators. Während jedoch in seiner Theorie der »roman expérimental« nichts anderes als das Protokoll einer ihm vorgängigen Wirklichkeit sein soll, mithin Fragen der Darstellung ausgeblendet bleiben, zeigt sich an seinen Romanen, dass hier durchaus mit romanspezifischen Verfahren der Stilisierung gearbeitet wird, etwa wenn in Nana der durch die deterministischen Gesetze der Vererbung und des Milieus bedingte Tod der Protagonistin parallelgeführt wird mit dem Ausbruch des preußisch-französischen Krieges und dadurch ein quasi mythischer Zusammenhang hergestellt wird, der die Vorgaben des wissenschaftlichen Modells überschreitet. Um die Jahrhundertwende kommt es zu expliziten Absetzbewegungen vom Naturalismus. Im Gegensatz zu der geradezu euphorischen Wissenschaftsgläubigkeit eines Zola stellt der Erzähler von Pirandellos Roman Il fu Mattia Pascal von Beginn an das Projekt des Erzählens infrage, indem er sich auf Kopernikus beruft und ihm vorwirft, er habe durch seine astronomischen Entdeckungen den Menschen so klein und unwichtig gemacht, dass es sich nicht mehr lohne, von ihm zu erzählen. Während im Naturalismus das Erzählen als solches eher wenig reflektiert wird, finden wir bei Pirandello einen sich selbst beobachtenden, skeptischen Ich-Erzähler, der über die Bedingungen des Erzählens grundlegend nachdenkt. Die von ihm erzählte Handlung lässt sich beschreiben als programmatische Recodierung naturalistischer Handlungsschemata, etwa indem die Kausalgesetze durch Zufall ersetzt oder indem die Katastrophen im Modus des Komisch-Grotesken erzählt werden. Auch Pío Barojas El árbol de la ciencia knüpft an die naturalistische Konstellation an, indem der Protagonist als Mediziner dargestellt wird und die

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Handlung die typischen Merkmale naturalistischer Untergangsszenarien aufweist. Die Abweichung vom Naturalismus liegt bei Baroja in der epistemologischen Reflexion, die sich insbesondere in den Gesprächen zwischen dem Protagonisten Andrés Hurtado und seinem Onkel Iturrioz niederschlägt. In diesen Gesprächen manifestiert sich eine grundlegende Skepsis hinsichtlich der Erkennbarkeit der Welt, die sich aus der Begegnung mit der Philosophie von Kant, Fichte und anderen ergibt. Das pessimistische Handlungsschema (Andrés verliert nicht nur seinen kleinen Bruder, sondern auch seine Frau durch Krankheit und stirbt am Ende durch Selbstmord) wird nicht mehr wie bei Zola durch wissenschaftlichen Determinismus, sondern durch epistemologische Reflexion begründet. Wer nach Wissen strebt, ergibt sich dem Tod: so lautet die Quintessenz der Handlungs- und der Kommentarebene. Dies hat auch Auswirkungen auf die Darstellungsebene, die geprägt ist durch traktathafte Einlassungen und damit vorausdeutet auf die Weiterentwicklung des Romans im 20. Jahrhundert, etwa bei Proust, Musil oder Calvino. Im Fokus des fünften Kapitels steht der Parallelismus von wissenschaftlicher und literarischer Infragestellung des Subjekts. Die Hinwendung zum Subjekt und seiner Psyche ist ein allgemeines Kennzeichen der Literatur im frühen 20. Jahrhundert. Der für diese Phase einschneidendste wissenschaftliche Diskurs ist die von Freud geprägte Psychoanalyse. Sie steht im Zeichen der Auflösung des Subjekts in verschiedene miteinander in Konflikt stehende Instanzen: das Ich, das Es und das Über-Ich. Die vielleicht entscheidende Entdeckung Freuds ist das Unbewusste als ein Bereich der Psyche, welcher dem Ich unzugänglich und unverfügbar ist. In seinen Schriften bezieht Freud sich häufig auf literarische Texte als Anschauungsbeispiele und Inspirationsquellen für theoretische Konzepte (man denke zum Beispiel an die von Sophokles entlehnte Bezeichnung für den Ödipuskomplex oder an die auf E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann verweisenden Ausführungen zum Unheimlichen). Es wurde auch nachgewiesen, dass es Affinitäten zwischen den Freud’schen Falldarstellungen und der Form der Novelle gibt (Stefan Goldmann). Jenseits solcher grundlegenden Affinitäten zwischen der Psychoanalyse und der Literatur ist jedoch zu bedenken, dass für Freud ebenso wie für einige seiner bedeutendsten literarischen Zeitgenossen die Erkenntnisse der französischen Experimentalpsychologie des späten 19. Jahrhunderts (Azam, Charcot, Ribot, Janet) ein wichtiger Ausgangspunkt waren. Angesichts dessen ist es aufschlussreich, den psychoanalytischen und den literarischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts als parallele Entwicklungen zu betrachten. So lässt sich bei Autoren wie Pirandello und Proust zeigen, dass sie hinsichtlich der menschlichen Psyche zu Beschreibungen gelan-

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gen, die denen Freuds sehr nahe kommen, ohne von ihnen nachweislich direkt beeinflusst worden zu sein. Bei Pirandello ist hier auf das Phänomen der wahnhaften Eifersucht zu verweisen, welche in dem Stück Non si sa come dargestellt wird. Es kommt zu Phänomenen wie Abwehr, Verdrängung, Abspaltung, und bis in die Metaphorik hinein wird das Unbewusste beschrieben als ein Raum, in dem das Verdrängte scheinbar begraben wird, aus dem es aber wiederkehren kann. Das Ich leugnet die Verantwortung für sein eigenes Tun, es behauptet, ein anderer gewesen zu sein. Bei Proust finden wir ein Ich, das in verschiedene Instanzen aufgespalten wird. Wie die Forschung gezeigt hat, hatte Proust, vermittelt durch seinen Vater, den Nervenarzt Adrien Proust, Kenntnis von den Theorien der gespaltenen Persönlichkeit (Ulla Link-Heer, Edward Bizub). Sein unter Nervenschwäche leidendes Ich, welches in sich plural ist, das heißt aus mehreren Instanzen besteht, die sich intermittierend in den Vordergrund schieben, lässt sich als literarische Umsetzung solcher Theorien betrachten. Das Proust’sche Ich ist heteronom und besteht aus Anteilen, die ihm selbst nicht verfügbar sind: einerseits im Hinblick auf die nicht vollständig erinnerbare Vergangenheit, andererseits im Hinblick auf sein eigenes gegenwärtiges Verhalten und seine Affekte. Das Ich ist gezeichnet durch ein unerfüllbares Begehren nach etwas Abwesendem. So wie Begehren und Erfüllung auseinanderklaffen, steht es auch im Verhältnis zwischen Kunst und Leben und zwischen Kunst und Wissenschaft. Einerseits soll das Ich durch die Schaffung eines Kunstwerks jene Erfüllung finden, die ihm lebensweltlich versagt bleibt, andererseits werden die leidvollen Erfahrungen des Ichs im Werk nicht überwunden, sondern sie werden als die Kontingenz des Lebens und des mit ihm verbundenen Leidens Teil dieses Werkes. Eine vergleichbar widersprüchliche Rolle spielt die Wissenschaft, insofern sie einerseits zum Modell für die Tätigkeit des in der Welt und in der Gesellschaft nach Gesetzmäßigkeiten suchenden Erzählers wird und andererseits eine klare Opposition zwischen Kunst und Wissenschaft formuliert wird, etwa im Zusammenhang mit der Aufführung des Septetts von Vinteuil. Im Gegensatz zu Pirandello und Proust hat sich deren Zeitgenosse Svevo intensiv mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt und inszeniert in seinem Roman La coscienza di Zeno einen Protagonisten, der sich von einem Psychoanalytiker behandeln lässt, dessen Therapie aber scheitert. Einerseits distanziert der Roman sich durch die Handlung (Abbruch und Scheitern der psychoanalytischen Therapie), durch die Erzählerkommentare und durch die Äußerungssituation (Publikation von Zenos Autobiographie als Racheakt des Arztes gegenüber seinem Patienten) von der Praxis der Psychoanalyse. Andererseits werden zahlreiche psychoanalytische Konzepte zitierend ver-

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wendet, sodass man von einer strukturellen Hybridisierung des literarischen Diskurses mit dem psychoanalytischen sprechen kann. Im Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Psychoanalyse manifestiert sich bei Svevo der Versuch, den literarischen Text ästhetisch neu zu fundieren und ihm damit eine neue, prekäre Identität zu gewinnen. Im sechsten Kapitel wird die Konfrontation der Literatur mit ihren Grenzen betrachtet. Bei einigen wichtigen Autoren des 20. Jahrhunderts werden in unterschiedlicher Form mittels einer Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen und/oder epistemologischen Fragen die Grenzen des Literarischen ausgelotet. Musils Mann ohne Eigenschaften erzählt die Geschichte eines Mannes, der in seiner Ausbildung zunächst den Beruf des Offiziers, dann den des Technikers und schließlich den des Mathematikers erlernt hat. Was ihn an der Mathematik besonders fesselt, ist die permanente Selbstaufhebung, und insofern ist es konsequent, dass er dieses Prinzip auf sich selbst anwendet und auch den Beruf des Mathematikers wieder aufgibt. Die Handlung setzt ein, als Ulrich sich eine einjährige ›Auszeit‹ genehmigt, um sich über sein Leben und die Welt Klarheit zu verschaffen. Damit steht der Roman von Beginn an unter dem Zeichen der Offenheit, der Selbstinfragestellung, des Hypothetischen. Mit diesen Prinzipien korreliert die Aufhebung romantypischer Konkretheit und Ereignishaftigkeit im Zeichen wissenschaftlicher Modellierung, ebenso wie die essayistische Darstellungsweise. So, wie der Protagonist sich der Entscheidung verweigert, ob er lieber Gelehrter oder Schriftsteller sein will, verweigert Musil seinem Text eine klare Identität: Dieser ist zugleich eine literarische Fiktion und ein wissenschaftlich informierter, gelehrter Traktat, in dem sich beide Ebenen immer wieder unmerklich miteinander verbinden. Borges spielt in seinen Ficciones mit der Unentscheidbarkeit, ob es sich um essayistisch-wissenschaftliche oder fiktionale Texte handelt. In dem Einleitungstext der Ficciones, Tlön, geht es um den Gegensatz von Fiktion und Tatsachenbericht. Diese beiden Ebenen werden zunächst klar voneinander getrennt, indem durch Authentizitätssignale der Eindruck erweckt wird, dass ein Tatsachenbericht vorliege. Der mit dem Autor scheinbar identische IchErzähler unterhält sich mit seinem Freund, dem real existierenden Schriftsteller Bioy Casares, über eine Enzyklopädie und gelangt auf Umwegen zu der Erkenntnis, dass eine Geheimgesellschaft eine Welt namens Tlön erfunden hat, die in der Enzyklopädie Orbis tertius minutiös beschrieben wird. Am Ende jedoch wird behauptet, dass die Grenze zwischen der erfundenen Welt von Tlön und der realen Welt des Erzählers durchlässig sei, dass also Gegenstände, die es nur in der erfundenen Welt geben kann, in die uns bekannte

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Wirklichkeit eingedrungen seien. Durch diese Behauptung wird die Opposition zwischen Fiktion und Wirklichkeit dekonstruiert, was nicht ohne Auswirkung auf Borges’ Text bleiben kann, der zwischen dem Status des authentischen Berichts und der Fiktion schwankt. Julio Cortázar konfrontiert in seinem experimentellen Roman Rayuela den Schriftsteller Morelli mit einer von dem schwedischen Neurobiologen Holger Hyden entwickelten »chemischen Theorie des Denkens«. Aus dem Anfang der Sechzigerjahre erstmals möglich gewordenen Nachweis, dass Denkvorgänge organische Korrelate im Gehirn haben, also chemisch analysierbar sind, zieht Morelli den Schluss, dass man in der Literatur eine völlig neue Darstellungsform entwickeln müsse, um dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnis gerecht zu werden. Was Morelli auf der Ebene der dargestellten Handlung als Projekt entwirft, nämlich die Aufhebung der Differenz zwischen Geist und Materie durch die Überschreitung herkömmlicher Darstellungsformen der Literatur (»desescribir«), versucht Cortázar in seinem Text in die Tat umzusetzen, indem er etwa die Differenz zwischen Produktion und Rezeption annulliert und dem Leser die Aufgabe zuweist, den Text selbst nach einem von ihm gewählten Plan zusammenzusetzen. Calvino zeigt in Palomar einen Protagonisten, der sich auf der Suche nach Weisheit befindet, dessen Suche aber, ähnlich wie die seiner literarhistorischen Vorgänger Bouvard und Pécuchet, niemals an ihr Ziel kommt. Palomar wird schon durch seinen Namen als eine epistemologisch interessierte Figur gekennzeichnet: Auf dem kalifornischen Mount Palomar befindet sich ein Observatorium. Die verschiedenen Versuche Palomars, durch Beobachtung die Gesetze der Welt zu erkennen, führen jedoch immer wieder zum Scheitern. Trotz der ironischen Distanz zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten sind die von Palomar gestellten Fragen keineswegs sinnlos, sondern ergeben sich aus den unhintergehbaren Bedingungen der Erkenntnissuche, insbesondere der Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt. Wenn auf der Ebene des Dargestellten die Unsicherheit der Erkenntnis im Vordergrund steht, so lässt sich auf der Ebene der Darstellung analog die Unsicherheit des Textstatus nachweisen: Palomar schwankt zwischen Enzyklopädie, philosophisch-rationalistischem Diskurs und Roman. Die Erkenntnisungewissheit ist also doppelt codiert. Das siebte Kapitel widmet sich dem Zusammenhang von Literatur und moderner Physik. Del Giudice erzählt in Atlante occidentale von der Begegnung eines Schriftstellers und eines Atomphysikers. Beide haben grundlegende Kommunikationsprobleme im Hinblick auf ihren jeweiligen Gegenstand. Der Atomphysiker Brahe macht durch seine Experimente im Teilchenbe-

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schleuniger von Genf Phänomene sichtbar, für die es keine Worte gibt. Der Schriftsteller Epstein hat mit dem Schreiben aufgehört, weil er seine Geschichten nicht mehr erzählen kann, sondern sie simultan sieht. In beiden Fällen wird also die verbale Kommunikation durch das Sehen ersetzt. Paradoxerweise wird nun aber diese Nichtkommunizierbarkeit Gegenstand eines Romans und damit ja wieder in verbale Sprache übersetzt. Dieser Roman zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sich in ihm literarisch-metaphorische und technisch-naturwissenschaftliche Darstellungsweisen vermischen. Außerdem wird durch eine paradoxe mise en abyme, in der Epstein als Figur der Erzählung mit dem Erzähler verschmilzt, ein formales Äquivalent dessen erzeugt, was Epstein als »vedere oltre la forma« bezeichnet. Houellebecq erzählt in Les particules élémentaires die Geschichte zweier Halbbrüder, eines Naturwissenschaftlers und eines Schriftstellers. In Auseinandersetzung mit den epistemologischen Grundlagen der Quantenphysik, die der Roman poetologisch funktionalisiert, wird eine Unsicherheit erzeugt, durch die der Wahrheitsgehalt der erzählten Geschichte infrage gestellt wird. Das auffälligste Merkmal des Romans, welches bei seiner Rezeption als Literaturskandal die entscheidende Rolle gespielt hat, ist seine soziologisch fundierte Kritik an der 68er-Generation und der von ihr propagierten sexuellen Befreiung. Die beiden Brüder werden als Opfer dieser sexuellen Befreiung dargestellt, weil ihre Mutter sie aus Gründen der Selbstverwirklichung vernachlässigt habe. Nimmt man indes die poetologisch codierten Elemente der naturwissenschaftlichen Grundlagenreflexion ernst, so relativiert der Text nicht nur die Geschichten der beiden Brüder, sondern auch die soziologischen Analysen des Erzählers. Jorge Volpi erzählt in En busca de Klingsor die Suche nach einem deutschen Physiker, der in der NS-Zeit das deutsche Atombombenprogramm koordiniert haben soll, durch einen amerikanischen Offizier namens Francis Bacon. Im Auftrag der US-Regierung begibt Bacon sich ins besetzte Deutschland und begegnet zahlreichen deutschen und internationalen Physikern, um sich dem Phantom »Klingsor« anzunähern. Diese Kriminalgeschichte wird angereichert durch zahlreiche Diskurse und Erläuterungen zur modernen Physik. Einige der Denkfiguren der modernen Physik, insbesondere das Prinzip der Unbestimmtheit, werden wie bei Houellebecq poetologisch auf den Text selbst angewendet und führen zu Unentscheidbarkeiten auf der Ebene der erzählten Handlung wie auf der Ebene der epistemologischen Fundierung. Die Spannbreite des hier untersuchten Verhältnisses zwischen Literatur und Wissenschaft ist also insgesamt sehr groß. Im 18. Jahrhundert standen die Texte im Zeichen einer noch bestehenden, aber allmählich sich auflösen-

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den Einheit des Wissens. Texte wie Rousseaus zweiter Discours oder Diderots Entretien entre d’Alembert et Diderot kombinieren literarische und wissenschaftliche Darstellungsweisen zum Zweck der Gewinnung oder Vermittlung von Erkenntnissen. Die im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung stärker ins Bewusstsein tretende Autonomie der Funktionsbereiche Kunst und Wissenschaft wird in Romanen wie Jacques le fataliste und insbesondere Goethes Wahlverwandtschaften reflektiert; hier manifestiert sich nicht mehr die Einheit, sondern die Differenz der Bereiche. Im 19. Jahrhundert entsteht das Paradigma des wirklichkeitsdarstellenden Romans, welcher von Balzac (und in seiner Nachfolge von Zola) programmatisch im Rekurs auf Wissenschaft fundiert wird; der teilweise emphatischen Wissenschaftsgläubigkeit der Realisten, welche sich sogar bei einem eher skeptischen Autor wie Flaubert nachweisen lässt, steht entgegen, dass sich auf der Ebene der Textwirklichkeit (etwa in La peau de chagrin, in Nana, insbesondere aber in Bouvard et Pécuchet) die Nicht-Vereinbarkeit von Kunst und Wissenschaft in Form von Widersprüchen und Ambivalenzen manifestiert. Bei Autoren der Jahrhundertwende wie Pirandello und Pío Baroja kommt es dann zu einer deutlichen Abkehr von den Prinzipien realistisch-naturalistischen Schreibens, welche sich mit einer expliziten Umcodierung des Verhältnisses zur Wissenschaft beziehungsweise zur Epistemologie verbindet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten wir beobachten, wie es im Anschluss an die Erkenntnisse der experimentellen Psychologie des späten 19. Jahrhunderts zu einer parallelen Infragestellung und Auflösung des Ichs in der Wissenschaft (Freud) und in der Literatur (Pirandello, Proust, Svevo) kommt. Trotz dieser Parallelität aber machen die literarischen Texte durch metapoetische Reflexionen immer wieder deutlich, dass sie als solche ganz andere Ziele verfolgen als der wissenschaftliche Diskurs. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts hat es sich dann erwiesen, dass literarische Texte in der Auseinandersetzung mit Wissenschaft ihre eigenen Grenzen ausloten und verschieben (Musil, Borges, Cortázar) beziehungsweise dass sie durch die Hybridisierung poetischer mit wissenschaftlichen Diskurselementen das Unbeobachtbare sichtbar zu machen versuchen (Calvino, Del Giudice, Volpi). Insgesamt hat sich gezeigt, dass in allen Fällen die literarischen Texte die in ihnen enthaltenen Bezugnahmen auf wissenschaftliche Modelle in doppelter Weise funktionalisieren: zum einen in direkter Weise, das heißt indem diese Bezugnahmen primär didaktisch-wissensvermittelnde Funktion haben, zum anderen, indem diese Bezugnahmen metapoetisch codiert werden und damit Elemente der Selbstbeschreibung literarischer Texte sind.

Bibliographie

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Bibliographie

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Namenregister

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Namenregister

Adler, Jeremy 122 Albrecht, Jörn 34 Altmann, Michael 338 Álvarez, Ignacio 332, 334 Anderson, Wilda 77 Anz, Thomas 234 Aristoteles 28, 49, 92, 100, 101, 120, 130, 340, 341 Arneri, Glauco 269 Arnim, Achim von 179 Arnold, Heinz Ludwig 272 Asor Rosa, Alberto 186 Assmann, Aleida 263 Assmann, Jan 263 Augustinus, Aurelius 185 Aurora, Vincent 330 Azam, Eugène 222–225, 227, 345 Bacon, Francis 43, 49 Baecker, Dirk 91 Balke, Friedrich 254 Balletta, Felice 316 Balzac, Honoré de 1, 2, 12, 18, 94, 130–156, 157, 158, 159, 163, 164, 166, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 186, 192, 195, 196, 199, 200, 201, 202, 203, 206, 222, 252, 275, 330, 342, 343, 344, 350 Bárberi Squarotti, Giorgio 305 Baroja, Pío 2, 12, 131, 214–221, 344, 345, 350 Baroja, Pío Caro 215 Barrera, Trinidad 288 Barrès, Maurice 253 Barthes, Roland 101, 206, 270 Barwig, Angela 316 Baudelaire, Charles 102, 156, 249 Baumgartner, Hans Michael 14 Beaumarchais, Jean-Pierre de 58 Behrens, Rudolf 76, 77, 78, 105, 106, 108, 130, 162, 163, 186, 260, 269 Belaval, Yvon 92 Berg, Walter Bruno 295

Bergson, Henri 232 Bernard, Claude 193–196, 344 Bernardini, Carlo 21 Berndt, Frauke 168 Berthollet, Claude-Louis 122 Billermann, Roderich 249 Billy, André 78 Binet, Alfred 223, 232 Bioy Casares, Adolfo 288, 289, 293, 347 Bizub, Edward 1, 222, 244–246, 346 Black, Max 15, 82 Blumenberg, Hans 15 Boccaccio, Giovanni 208 Bock, Ursula 18 Bohr, Niels 333, 335, 336 Bolz, Norbert W. 116 Bonaparte, Napoléon 19, 111, 146, 148, 149 Booth, Wayne C. 103 Bordeu, Théophile 77, 78, 88, 89, 90, 341 Borges, Jorge Luis 1, 2, 12, 17, 176, 252, 285–294, 295, 347, 348, 350 Bormann, Alexander von 95 Bossuet, Jacques Bénigne 55, 56, 186 Boulanger, Jacques 240 Bourdaloue, Louis 186 Bourdieu, Pierre 156 Brandstetter, Gabriele 1, 2, 117, 118 Brecht, Bertolt 338 Breuer, Josef 224 Brooks, Peter 156, 157 Brown, J. Andrew 285, 295 Brunel, Pierre 302 Brunetière, Ferdinand 171 Brunner, Otto 14 Bucciantini, Massimo 2 Büchner, Georg 36 Buffon, Georges Louis Leclerc de 58, 132 Bunia, Remigius 19, 29

370 Burlamaqui, Jean-Jacques 63 Byron, George Gordon (Lord Byron) 140 Caillois, Roger 54 Calvino, Italo 2, 3, 12, 17, 21, 221, 305–313, 320, 345, 348, 350 Castex, Pierre-Georges 132, 140, 146, 148, 199 Cecchi, Emilio 44 Cecco, Ferruccio 206 Cervantes, Miguel de 18, 29, 104, 151, 159, 169, 180, 182, 219, 275 Chabert, George 330 Charcot, Jean-Martin 223, 224, 225, 227, 245, 345 Chartier, Pierre 95, 105 Chiari, Alberto 180 Chrétien de Troyes 29 Citron, Pierre 146 Clarac, Pierre 156 Cohn, Dorrit 29, 104 Colet, Louise 159 Compagnon, Antoine 255 Comte, Auguste 192, 330 Constant, Benjamin 254 Conze, Werner 14 Corbin, Alain 167 Corbineau-Hoffmann, Angelika 250 Corry, Leo 285 Coseriu, Eugenio 34 Couty, Daniel 58 Crawford, Robert 1 Culler, Jonathan 156, 160, 162 Cunningham, Andrew 122 Cuvier, Georges 133, 139–142, 155, 159 Cortázar, Julio 2, 3, 12, 289, 294–304, 328, 348, 350 D’Alembert, Jean Baptiste Le Rond 49–53, 67, 76–91, 105, 192, 341, 350 Danneberg, Lutz 1 D’Annunzio, Gabriele 185, 222, 324 Dante Alighieri 18, 53, 102 Daros, Philippe 316 Darwin, Charles 33, 193

Namenregister Defazio, Maria Teresa 232 Defert, Daniel 172, 224 Del Giudice, Daniele 2, 3, 12, 316–325, 328, 348, 350 Derrida, Jacques 43, 62, 102, 224, 298 Descartes, René 23, 42, 58, 77, 227, 297, 311 Detel, Wolfgang 14 Dickens, Charles 7 Diderot, Denis 1, 2, 11, 12, 29, 49–53, 57, 58, 59, 60, 70, 76–110, 115, 118, 130, 136, 192, 199, 341, 350 Didi-Huberman, Georges 224 Dieckmann, Herbert 77, 78 Dilmac, Betül 331 Dirscherl, Klaus 93 Doré, Kim 326 Dotzler, Bernhard J. 2 Duchet, Claude 131 Dürrenmatt, Friedrich 338 Duhem, Pierre 155 Dumas, Alexandre 175, 187 Dumesnil, René 160, 163, 173 Echevarría Ferrari, Arturo 286 Eckermann, Johann Peter 189 Ehlich, Konrad 263 Eibl, Karl 112, 115, 116 Eimermacher, Karl 186 Einstein, Albert 335, 336 Emerson, Robert 276 Eliot, T. S. 6 Elsner, Norbert 1 Engelhardt, Dietrich von 118 Engler, Winfried 135 Ertler, Klaus-Dieter 45 Ette, Ottmar 286, 288, 292 Ewald, François 172, 224 Faber, Richard 273 Falaschi, Giovanni 21, 305 Faulkner, William 194, 302 Félida X … 222, 223, 245 Fernández, Macedonio 289 Fichte, Johann Gottlieb 23, 111, 217, 227, 345 Flaubert, Gustave 1, 2, 3, 12, 101, 131, 144, 145, 156–177, 178, 179, 187,

Namenregister 192, 201, 275, 308, 309, 330, 343, 348, 350 Fludernik, Monika 103, 104 Föcking, Marc 1, 138, 139, 140, 159, 160, 162 Fohrmann, Jürgen 16 Foscolo, Ugo 76, 121, 185 Foucault, Michel 14, 29, 30, 77, 119, 132, 172, 198, 224, 252 Franz von Assisi 55 Freud, Sigmund 2, 12, 30, 224, 225–240, 242, 243, 252, 259, 260, 262, 263, 297, 303, 345, 346, 350 Frick, Werner 1, 106, 130, 186 Friedrich, Hugo 179 Fries, Fritz Rudolf 296, 297 Frisé, Adolf 274 Fröhlicher, Peter 162 Fuhrmann, Manfred 100 Fusco, Mario 259–261 Gagnebin, Bernard 59 Gaillard, Françoise 131, 139 Galilei, Galileo 282 Galle, Roland 40, 63, 76, 259–261 Garbe, Christine 89 Gebelein, Helmut 117 Gelz, Andreas 305 Genco, Giuseppe 260 Genette, Gérard 19, 29, 158, 172, 245, 286, 292 Geppert, Hans-Vilmar 270 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 112 Gertken, Jan 30 Geyer, Paul 260, 261 Ghisalberti, Fausto 180 Gide, André 222, 262 Ginzburg, Carlo 135 Goebel, Robert O. 332, 333, 334 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 2, 12, 50, 95, 111–129, 139, 142, 169, 178, 189, 342, 350 Gödel, Kurt 335, 336 Gogol’, Nikolaj 36 Goldmann, Stefan 259, 345 Goody, Jack 25, 26, 27, 339 Gothot-Mersch, Claudine 168

371 Goytisolo, Juan 194 Greiner, Thorsten 1 Grimm, Melchior 95 Grimm, Reinhold R. 191 Guilleragues, Gabriel de 113 Guise, René 145 Gumbrecht, Hans Ulrich 1, 8, 130, 138 Haefs, Gisbert 287 Hardmeier, Christof 263 Harth, Helene 1, 308, 321 Hasbrouck, Michael David 298 Hausmann, Frank-Rutger 54, 55, 185, 208 Hausmanninger, Thomas 8, 124 Havelock, Eric A. 25, 26, 339 Haverkamp, Anselm 15, 82 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 95, 169 Heine, Heinrich 249 Heisenberg, Werner 333, 334 Heissenbüttel, Helmut 8 Heitmann, Klaus 179 Heliodor 185, 186 Henke, Silvia 224 Henrich, Dieter 31 Henry, Anne 258 Herodot 100 Herschberg-Pierrot, Anne 167 Hesiod 27 Heusser, Peter 117 Himmelsbach, Siegbert 45 Hobbes, Thomas 43, 67 Hoffmann, Christoph 122 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 259, 345 Höfner, Eckhard 1, 18, 131, 170, 171, 172, 193, 285 Hölderlin, Friedrich 76, 121 Hölz, Karl 242 Hörisch, Jochen 116, 117 Hösle, Johannes 180 Hösle, Vittorio 42 Hoheisel, Claus 273 Homer 41, 44, 47, 53, 169, 256, 340 Horst, Karl August 287 Houellebecq, Michel 2, 12, 325–332, 334, 336, 337, 349

372 Huet, Pierre Daniel 92 Hülk, Walburga 17, 252 Hüppauf, Bernd 273 Hugo, Victor 133 Hyden, Holger 295, 296 Ihring, Peter 187 Inglese, Giorgio 18 Iser, Wolfgang 19, 31 Jakobson, Roman 15 James, Henry 232 Janet, Pierre 223, 245, 345 Jannidis, Fotis 30 Jardine, Nicholas 122 Jauß, Hans Robert 101, 241 Jensen, Wilhelm 233, 236, 259 Jermann, Christoph 42 Jiménez Ramírez, Félix 332, 334 Jitrik, Noé 285 Joyce, James 194, 222 Jüttner, Siegfried 95 Juan i Tous, Pere 215 Juan-Navarro, Santiago 285, 288 Jurt, Joseph 17 Kablitz, Andreas 131 Kafka, Franz 277, 324 Kaiser, Elke 1, 198 Kamecke, Gernot 91 Kammer, Stephan 169 Kant, Immanuel 5, 23, 115, 156, 214, 217–219, 345 Kassung, Christian 273, 274 Keil, Rolf-Dietrich 131 Kemper, Dirk 14 Kimminich, Eva 1, 15 Kittler, Friedrich A. 42, 114 Kleinert, Susanne 1, 308, 321 Klinkert, Thomas 15, 18, 36, 76, 91, 115, 121, 193, 205, 242, 254, 285, 316, 331 Köppe, Tilmann 30 Kopernikus, Nikolaus 205, 207, 344 Koselleck, Reinhart 14 Krämer, Olav 281 Kreuzer, Helmut 6, 7 Krings, Hermann 14

Namenregister Küpper, Joachim 131, 143, 149, 156, 185, 186, 189 Kuhnle, Till R. 270 Kuon, Peter 242 Lachmann, Renate 2 Laënnec, René Théophile Hyacinthe 162 Lämmert, Eberhard 158 Lampart, Fabian 179, 187 Lanoux, Armand 202, 203 Lauer, Gerhard 30 Lausberg, Heinrich 82, 184 Lavagetto, Mario 262 Leavis, F. R. 7, 8 Leeker, Elisabeth 326 Leeker, Joachim 326 Leibniz, Gottfried Wilhelm 58 Leigh, R. A. 72 Lembert, Alexandra 118 Lemot, Achille 160 Lentzen, Manfred 45, 260, 326 Lenz, Jakob Michael Reinhold 112 Leopardi, Giacomo 76, 121 Lepenies, Wolf 8, 58 Le Rider, Jacques 91, 274 L’Espinasse, Julie de 77, 78, 88, 89, 90, 341 Lessle, Christine 305, 310, 313 Levi, Primo 2 Link, Jürgen 15 Link-Heer, Ursula (Ulla) 8, 245, 246, 256, 346 Linné, Carl von 173 Liptay, Fabienne 104 López de Abiada, José Manuel 332, 338 Lothenbach, Philipp 338 Lotman, Jurij M. 131, 142, 143 Lo Vecchio-Musti, Manlio 239 Lubkoll, Christine 117, 129 Luchting, Wolfgang 287 Luckhurst, Nikola 252, 254 Luhmann, Niklas 3, 8, 9, 10, 11, 13, 16, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 28, 29, 30, 33, 34, 35, 36, 91, 107, 109, 112, 121, 314, 315, 339 Lukrez 42

373

Namenregister Lützeler, Paul Michael 116 Lyon-Caen, Boris 135 Macchia, Giovanni 206 Mach, Ernst 155 Mahler, Andreas 168 Maillard, Christine 1 Malinowski, Bernadette 8, 124 Man, Paul de 15, 62 Mandelbrot, Benoît 21 Mann, Thomas 2, 203, 222 Mann, Heinrich 185 Manzoni, Alessandro 2, 12, 131, 177–192, 343, 344 Marinetti, Filippo Tommaso 275, 276 Marsham, John 42 Martens, Ekkehard 14 Martín-Santos, Luis 2 Marty, Éric 101, 206 Maturana, Humberto 10, 91 Maupassant, Guy de 155, 232 Maurice, Barthélemy 168 Mayer, Mathias 111 McLeod, James E. 116 Mehigan, Tim 122 Mehltretter, Florian 260 Meister, Jacques-Henri 95 Meter, Helmut 259 Michelet, Jules 101 Mignolo, Walter 286 Milanini, Claudio 306 Mitscherlich, Alexander 227, 228, 230, 231, 233, 234, 262 Mitterand, Henri 193, 199, 202, 203 Molière (d.i. Jean-Baptiste Poquelin) 149 Monnin, Christian 331 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 52, 53, 54, 55, 58, 88, 92 Moser, Walter 274 Moussaron, Jean-Pierre 171, 172 Müller, Harro 16 Muller, Marcel 241 Musil, Robert 2, 3, 12, 17, 221, 222, 272–285, 304, 345, 347, 350 Napoleon s. Bonaparte Naumann, Barbara 273

Neefs, Jacques 167 Neuhofer, Monika 36, 193, 285, 331 Neumann, Gerhard 2, 117 Newton, Isaac 105, 273 Nicolini, Fausto 39 Nietzsche, Friedrich 62, 232 Nigro, Salvatore S. 186 Nodier, Charles 155 Nolting-Hauff, Ilse 186 Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg) 249 Oelmüller, Willi 102 Oesterle, Günter 95 Palmieri, Nunzia 262 Paolini, Marco 323 Pascal, Blaise 152, 272 Perec, Georges 21, 314 Petersen, Jürgen H. 277 Pethes, Nicolas 2 Petrarca, Francesco 102 Pfeiffer, Helmut 40, 63, 76 Pindar 27 Pirandello, Luigi 12, 131, 192, 205–213, 215, 222, 231–240, 251, 252, 262, 269, 344–346, 350 Planck, Max 333 Platon 18, 23, 28, 114, 122 Plumpe, Gerhard 10 Poincaré, Jules Henri 155, 252 Pouillon, Jean 260 Poulet, Georges 246 Prill, Ulrich 326 Propp, Vladimir 185, 186 Proust, Adrien 245, 346 Proust, Marcel 1, 2, 12, 62, 155, 156, 158, 192, 194, 206, 222, 240–258, 262, 314, 319, 321, 345, 346, 350 Queneau, Raymond 177 Quintili, Paolo 1, 87, 105 Quintilian 82 Racine, Jean 56 Raulet, Gérard 274 Raymond, Marcel 59 Regn, Gerhard 321

374 Reiche, Claudia 245 Reicher, Maria E. 31 Renner, Rolf Günter 273 Renner, Ursula 17, 252 Requardt, Manfred 272 Rey, Alain 58 Ribot, Théodule 223, 232, 345 Riccardi, Carla 206 Richards, Ivor Armstrong 15, 82 Richardson, Samuel 91, 93, 94, 115, 136 Richter, Karl 234 Richter, Steffen 316, 320 Ricœur, Paul 15 Rieger, Stefan 2 Rilke, Rainer Maria 62 Rimbaud, Arthur 1, 302 Robbe-Grillet, Alain 131 Rösler, Wolfgang 3, 26, 27, 340 Rössner, Michael 205, 208, 269, 289, 295 Roger, Jacques 77 Roloff, Volker 158, 240, 254 Rossi, Paolo 44 Rousseau, Jean-Jacques 2, 11, 43, 53, 57, 58, 59–76, 89, 93, 108, 115, 121, 130, 136, 264, 270, 341, 350 Rousset, Jean 158 Rutherford, Ernest 6 Saint-Exupéry, Antoine de 323 Saint-Hilaire, Geoffroy 132, 139, 141, 155, 159 Sand, George 177 Sandre, Yves 156 Sapegno, Natalino 44 Sauder, Gerhard 122 Schalk, Fritz 55, 58 Scheffler, Armin 117 Schenkel, Elmar 118 Schlaffer, Heinz 28, 41, 285, 294 Schlegel, August Wilhelm 111 Schlegel, Friedrich 95, 111 Schlobach, Jochen 95 Schlüter, Gisela 187 Schmid, Susanne 115 Schmidt, Gunnar 245 Schmidt, Hans-Peter 36

Namenregister Schmidt, Siegfried J. 10 Schmitz-Emans, Monika 2, 208, 316 Schnädelbach, Herbert 14 Schober, Rita 330 Schönert, Jörg 234 Scholler, Dietrich 168, 169 Schopenhauer, Arthur 214, 217, 219 Schröder, Hartmut 18 Schrödinger, Erwin 333, 334 Schütz, Alfred 138 Schuhen, Gregor 252 Schuller, Marianne 245 Schulz-Buschhaus, Ulrich 157, 168, 169, 170, 259, 285, 305, 308 Schwaderer, Richard 260, 269 Schwedt, Georg 117 Scott, Walter 134, 175, 177, 179, 187, 343 Searle, John R. 31, 32, 35 Sebastian, Thomas 277 Séginger, Gisèle 172, 173, 174 Serra, Francesca 310 Shakespeare, William 6, 7 Shapin, Steven 20, 33 Siepmann, Helmut 185 Simon, Claude 194, 242 Sklovskij, Viktor 257 Snow, Charles P. 6, 7, 10, 261, 272, 339 Sophokles 229, 259, 345 Spenser, John 42 Spinoza, Baruch de 106, 122 Spizzo, Jean 260 Sprenger, Ulrike 172, 173 Stackelberg, Jürgen von 76 Staël, Germaine de 76, 121, 130, 133 Stanzel, Franz K. 128 Stark, Johannes 333 Starobinski, Jean 51, 62, 81, 264 Stendhal (d.i. Henri Beyle) 144, 145, 157, 163, 171, 179, 222, 275 Sterne, Laurence 104 Stierle, Karlheinz 1, 31, 63, 130, 138 Stingelin, Martin 224 Striedter, Jurij 257 Sudermann, Hermann 259 Sue, Eugène 187 Svevo, Italo 2, 12, 192, 222, 258–271, 346, 347, 350

375

Namenregister Tadié, Jean-Yves 206, 240 Taine, Hippolyte 171, 192, 198 Tesauro, Emanuele 305 Thibaudet, Albert 160, 163, 173 Thiers, Adolphe 174 Thiher, Allen 1, 155, 252 Tholen, Georg Christoph 117 Thüring, Hubert 224 Titzmann, Michael 1, 234 Todorov, Tzvetan 154, 172 Tolstoj, Leo 257 Toro, Alfonso de 2, 170, 285 Toro, Fernando de 285 Trilling, Lionel 8 Turk, Horst 114 Unamuno, Miguel de

222

Vaihinger, Hans 291 Valéry, Paul 281, 294 Vannucci, François 1, 252, 253 Vanoncini, André 149 Varela Iglesias, M. Fernando 220 Vaugelas, Claude Favre de 56, 57 Veltkamp, Ingrid 248 Verga, Giovanni 2, 185, 201, 205, 206, 207 Vergil 53 Vico, Giambattista 2, 11, 39–48, 68, 340 Vietta, Silvio 14 Vigny, Alfred de 179 Vigorelli, Giancarlo 179 Vinken, Barbara 162 Vittorini, Fabio 262 Vogl, Joseph 1, 120, 121 Vollhardt, Friedrich 1 Volpi, Jorge 2, 12, 332–338, 349, 350 Voltaire (d.i. François Marie Arouet) 52, 58, 64, 72, 92, 93, 106, 108, 130, 170

Wagner, Birgit 1, 308, 321 Wagner, Richard 333 Walton, Kendall L. 32, 33–37 Wanning, Frank 1 Warning, Rainer 1, 29, 30, 31, 32, 97, 99, 102, 104, 130, 138, 143, 158, 162, 164, 168, 169, 198, 240, 245, 252, 254, 311 Watt, Ian 26, 27, 339 Weber, Max 220 Wehle, Winfried 1, 40, 43, 130, 133, 260 Wehr, Christian 155, 294 Weiand, Christof 260 Weigel, Sigrid 329 Weinberg, Steven 273 Weinrich, Harald 48 Werber, Niels 10, 115 Wetzel, Hermann H. 1 Wiethölter, Waltraud 168 Wilhelm, Raymund 68 Willms, Weertje 36 Wild, Christoph 14 Wild, Reiner 111 Winckelmann, Johannes 220 Winko, Simone 30 Wittgenstein, Ludwig 24, 299 Wolf, Yvonne 104 Wolfram von Eschenbach 333 Wolfzettel, Friedrich 187 Woolf, Virginia 222, 252 Yudkin, Michael

8

Zeleny, Milan 91 Zimmermann, Harro 111 Zipfel, Frank 30, 31 Zola, Émile 1, 2, 12, 192–205, 206, 222, 274, 330, 344, 345, 350 Zorrilla, José 215