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German Pages 408 Year 2021
Thorsten Hertel Entziffern und Strafen
Bildungsforschung
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Band 7
FürTante Hilde Für meine Eltern
Thorsten Hertel (Dr. phil.), geb. 1983, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen und war von 2013 bis 2016 Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der erziehungswissenschaftliehen Schulforschung, insbesondere auf dem Zusammenhang von urbaner Segregation und Schule.
Thorsten Hertel
Entziffern und Strafen Schulische Disziplin zwischen Macht und Marginalisierung
[ transcript]
Gefördert durch ein Promotionsstipendium und einen Druckkostenzuschuss der Hans-Böckler-Stiftung Hans Böckler Stiftung Mitbestimmung · Fo...:l>ung · Stipendien
Dies ist die überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertation, die am 30.12.2019 unter dem Titel »Bestrafen, Entziffern. Machtwissen und Disziplinarkultur an marginalisierten SchulenBrennpunktschulen< 1124
4.3 Zusammenfassung
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TEIL 111. ANLAGE DER STUDIE UND METHODISCHES VORGEHEN 5 Zur Anlage der Studie I 137 5.1 Entstehungskontexte der vorliegenden Arbeit 1137 5.2 Samplingstrategie, Forschungsdesign und Fallschulen 1139 6
Macht rekonstruieren. Entwurf einer dokumentarischen Analytik von Machtwissen und Disziplinarkultur I 151 6.1 Dokumentarische Machtanalytik 1152 6.2 Dokumentarische Disziplinarkulturanalyse 1160
TEIL IV. EMPIRISCHE ANALYSEN 7
7.1
Bestrafen und Entziffern. Rekonstruktion pädagogischen Machtwissens 1167 Fragile Ordnungen. Die Disziplinarkrise
als strukturhomologe Erfahrung 1170 7.2 Blicke. Zur Konstruktion des Subjekts I 179 7.3 Disziplin zwischen Strafen und Entziffern 1192 7.4 Exklusionen 1232 Typologie pädagogischen Machtwissens I 251 8.1 Repression und Exploration als sinngenetische Typen I 251 8.2 Machttheoretische Reflexion: Typen des Machtwissens als >Artikulationen< globaler Machtformationen I 256
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Machtverdichtung. Rekonstruktionen zur Disziplinarkultur zweierSchulen I 261
9.1
Geschichte(n) der Macht. Zum historischen Werden schulischer Disziplinarkultur I 262
9.2 Räume der Macht. Verdichtungen schulischer Disziplinarkultur in räumlicher Schließung und Öffnung I 279 9.3 Machtzirkulationen. Repression und Exploration in den Interaktionen der Lehrer* innen I 295 9.4 Disziplinarsubjekte. Machtzirkulationen im Interaktionsraum der Schüler* innen I 312 9.5 Zusammenfassung: Die Einzelschule als disziplinarkultureller Verdichtungsraum I 331
TEIL V. SCHLUSSTEIL THEORETISCHE ABSTRAKTIONEN UND WEITERE FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN 10
Theoretische Schneisen und Perspektiven
weiterer Forschung I 339 10.1 Machtwissen und Zurichtung zwischen Disziplin und gouvernementaler Regierung. Dispositivtheoretische Reflexion I 340 10.2 Die Schule der Post-Disziplinarmacht Schultheoretische Reflexion I 345 10.3 Machtwissen, Zurichtung, Sozialraum. Reflexion zum Verhältnis von schulischer Disziplin und Marginalisierung I 348 10.4 Zurichtung, Subjekt und Bildung. Subjekttheoretische Reflexion 1350 10.5 Theoretischer Epilog: Repression und Exploration als Idealtypen schulischer Disziplinarkultur I 354 Transkriptionsregeln und Transkriptionssymbole Literaturverzeichnis
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Danksagung »The work becomes itself. Writing takes a set ofideas, intuitions, acts of research, and intellectual backgrounds, and passes those through a nwnber of refractive surfaces - your personal style and history as a writer; your disciplinary training and your job; your colleagues, friends, students, and other interlocutors; whatever's going on in your life otherwise; and, finally, the process of writing proper, the long hours of reading and thought, silent manipulation, joy, and struggle through which something fin al appears on the page. « (Hayot 2014: 213)
Der Prozess, den die vorliegende Studie von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung durchlaufen hat, hätte kaum prägnanter umschrieben werden können, als in dem oben abgedruckten Auszug aus Eric Hayots Buch The Elements of Academic Style. Denn dass diese Arbeit geschrieben werden konnte, verdanke ich beileibe nicht nur eigenen Mühen und vielen einsamen Stunden am Schreibtisch, sondern auch und vor allem einer langen Reihe von Menschen, die mir alle auf ihre Art und Weise den Weg geebnet und in den Höhen und Tiefen, die das Verfassen einer Dissertation mit sich bringt, den Rücken gestärkt haben. Ihnen allen möchte ich hier meinen großen Dank dafür aussprechen, dass sie, ganz im Sinne jener »refractive surfaces«, von denen im Eingangszitat die Rede ist, ihren Teil zum Werden dieser Studie beigetragen haben. Zu ihnen gehört allererst Prof.in Dr. Nieolle Pfaff. Du hast die vorliegende Arbeit als Erstbetreuerin von Anbeginn mit viel Umsicht begleitet und mir in den vergangenen Jahren nicht nur mit deiner fachlichen Expertise und kritischem Rat, sondern stets mit großem Engagement, viel Geduld, nicht zuletzt aber mit Humor und Empathie zur Seite gestanden. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen. Ebenso danke ich sehr herzlich Prof.in Dr. Merle Hummrich, die diese Arbeit als Zweitgutachterin begleitet hat, für ihre Offenheit, konstruktive Unterstützung und Beratung, auch und vor allem im >Endspurtgeglättet< und habituell zurechtgerückt, muss sich körperlichem Drill und straffer Lernkultur fügen, den Habitus des Hochkulturellen inszenieren, sich der räumlichen Ordnung in Schule und Klassenraum unterwerfen und, nicht zuletzt - »zwischen Fahnen aufgestellt« -, die Nation zelebrieren. Diese Verse sind eine pointierte Kritik der Pauk- und Drillschule und ihrer Verankerung in den sozialen Strukturen der Nachkriegszeit. Disziplin bedeutet hier: Zurichtung des Körpers, Zurichtung des Wissens, Zurichtung auf kulturelle Normen, kollektivierende Anpassung, Herstellung bürgerlichen Selbstausdrucks und damit immer auch die Reproduktion der Klassenverhältnisse. Die Schule wirkt hier nicht wie der privilegierte Ort von Aufklärung und Erziehung zur Mündigkeit, sondern, mit Anthony Giddens (1997: 188) gesprochen, wie »ein >BehälterSkandal< um die Berliner Rütli-Schule, in die Aufmerksamkeit der medialen Öffentlichkeit gerückt sind. Die Lehrkräfte der RütliOberschule hatten damals mit einem Brandbrief (Rütli-Kollegium 2006) an verschiedene politische Institutionen für Furore gesorgt. Dieser zeichnete das desolate Bild einer Schule, welche die Kontrolle über sich und ihre Schüler*innen verloren hatte, deren Alltag von Aggressivität, Respektlosigkeit und Gewalt geprägt war und an der reguläre schulische Abläufe nicht mehr gewährleistet werden konnten. Es war das Bild einer dysfunktionalen Organisation, an der sich gesellschaftliche Problemlagen radikal zuspitzten und soziale Ordnung vollständig suspendiert zu sein schien, und das auch heute noch in der despektierlichen Metaphorik von der >Brennpunkt-
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schule< pointiert zum Ausdruck gelangt (zu dieser Diskursfigur vgl. Fölker, Hertel & Pfaff2015b: 9f.; Karg 2014). Analytisch ist dabei zunächst zu konstatieren, dass diese Schulen vor allem eins sind: Ausdruck systemischer Prozesse der Reproduktion von Bildungsbenachteiligung im Schnittfeld sozialer Ungleichheiten, urbaner Segregation und institutioneller Logiken. Die sogenannten Brennpunktschulen entpuppen sich bei näherer Betrachtung als marginalisierte Schulen, weil sich an ihnen die Marginalisierten des Bildungssystems wiederfinden - und werden ihrerseits nicht selten selbst zu marginalisierenden Schulen, weil in ihren pädagogischen Praktiken Benachteiligungen weiter verfestigt werden. Mit Blick auf die Frage nach Disziplin an solchen Schulen liegen zwar erste Befunde vor, die auf die erhöhte Brüchigkeit von Ordnung verweisen (vgl. Fölker et al. 2013: 201f.; Racherbäumer & Ackeren 2015), und bestehen insbesondere aus der US-amerikanischen Forschung Hinweise darauf, dass sich an den >urban schools< der Großstädte stärker straforientierte Disziplinarformen ausprägen als an anderen Schulen - und dass diese dann jene Schüler*innen mit besonderer Härte treffen, die ohnehin sozial stigmatisierten Gruppen angehören (vgl. z.B. Losen & Skiba 2010; Morris & Perry 2016). Insgesamt bleibt das Thema aber bis dato eher ein randständiges. Die Frage nach den Disziplinarpraktiken an den Schulen deprivierter Großstadtviertel beschreibt ein Desiderat des erziehungswissenschaftliehen Diskurses. In diese Lücke stößt die vorliegende Studie. Sie nimmt sich der Frage nach Machtverhältnissen und Disziplinarpraktiken an marginalisierten Schulen empirisch an. Sie fragt danach, welche Wissensstrukturen die Praktiken der Disziplin an solchen Schulen orientieren. Dieses Wissen wird hier als pädagogisches Machtwissen bezeichnet. Dabei bilden Rekonstruktionen zu insgesamt drei Fallschulen den empirischen Kern. An diesen Schulen, die allesamt in hoch deprivierten Sozialräumen deutscher Großstädte liegen und von mehrfach benachteiligten Jugendlichen besucht werden, wurden Gruppendiskussionen und Interviews mit Lehrkräften und Schulleitungen ebenso geführt, wie mit den Schüler*innen. Diese Datenbasis erlaubt einen tiefen Einblick in die Disziplinarpraktiken und Machtverhältnisse an den untersuchten Schulen, aber auch in die Erfahrungen und Erfahrungsräume, die hinter diesen liegen. Die Studie versteht die Schule mit Foucault (1978) als ein >Dispositiv der Machtdokumentarische Methode< und >praxeologische Wissenssoziologie< bisweilen Synonym verwendet. In der vorliegenden Arbeit kommt der Begriff praxeologische Wissenssoziologie zur Anwendung, wenn es um methodologische Grundlagen geht, während von der dokumentarischen Methode gesprochen wird, wenn stärker methodische Vorgehensweisen in den Blick geraten.
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ehe Dimensionen von Wissen und Praxis dabei zusammenspielen. In den Rekonstruktionen wird nicht nur deutlich, dass und wie sich dieses Wissen in pädagogischen Praktiken niederschlägt und dabei bisweilen auf solche Bereiche des Schulischen ausdehnt, die zunächst nicht dem engeren Formenkreis des Disziplinierens zuzurechnen sind, sondern insbesondere auch, wie es sich mit gesellschaftlichen Differenzdiskursen verwebt, wie in ihm Normalität und Abweichung verhandelt werden. Schließlich steht der übergreifende Befund im Raum, dass sich pädagogisches Machtwissen und schulische Disziplin in tiefgreifende Spannungsverhältnisse zu historisch gewachsenen Machtformationen verwickeln und dass in ihnen Ungleichheit und Marginalität reproduziert oder auch irritiert werden können. In einem zweiten empirischen Schritt wird dann gezeigt, wie pädagogisches Machtwissen in der Einzelschule und ihren unterschiedlichen Interaktionsräumen zirkuliert und sich zu einzelschulischen Disziplinarkulturen verdichtet. In diesem Analyseschritt geraten historische Entwicklungen einzelner Schulen ebenso in den Blick, wie die Bedeutung räumlicher Strukturen, die Interaktionen zwischen den Lehrkräften und das Verhältnis zwischen schulischer Disziplinarkultur und den Schüler*innen. Die Einzelschule wird dabei als Ort der Manifestation sowie der Hervorbringung und Reproduktion des pädagogischen Machtwissens erkennbar. Machtverhältnisse artikulieren sich in den und durch die verschiedenen einzelschulischen Handlungsebenen und werden gleichermaßen in ihnen reproduziert. Vor allem wird dabei aber auch deutlich, dass die Gestalt schulischer Disziplin nicht durch >den < Sozialraum oder >die< Schüler*innenschaft einer Schule präfiguriert oder gar determiniert ist, wie der öffentliche Diskurs um die anomischen Verhältnisse an den >Brennpunktschulen< zuweilen nahelegen könnte. Vielmehr prägen sich unter nahezu strukturidentischen Bedingungen mithin hoch kontrastive Formen von Machtwissen und Disziplinarkultur aus, die ihre jeweilige Gestalt eher innerschulischen Prozessen und organisationalen Milieus, d.h. der Logik und etablierten Strukturen der Einzelschule, als externen Faktoren verdanken. Macht wird damit in allen hier untersuchten Schulen generiert. Sie drückt sich jedoch in hoch differenter Form und stets im Wechselfeld von Schule und Gesellschaft aus. >Behälter< (Giddens 1997: 188) im Sinne eines äußerlichen Rahmens, der von jenen Praktiken unberührt bliebe, die sich in ihm vollziehen, sind sie damit gerade nicht. Vielmehr zeigt sich die netzförmig-dynamische Gestalt des Schuldispositivs auch und gerade in der pädagogischen Praxis und der einzelnen Schule, in Machtwissen und Disziplinarkultur gleichermaßen. Schulische Disziplin ist keine unabhängige Größe, sondern umfassend mit Macht und Marginalisierung verwoben. Sie weist weit über die Grenzen der Schule hinaus.
1.1 ZUM BEGRIFF DER DISZIPLIN UND SEINER REZEPTION IN DER ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT Der in dieser Arbeit zentrale Begriff der Disziplin ist vielfältig besetzt und historisch je unterschiedlich gerahmt worden. Ganz basal kann zunächst jener Zustand als Disziplin bezeichnet werden, in dem die Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung dadurch sichergestellt ist, dass Subjekte eigenständig gemäß dieser Ordnung han-
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dein. Hierzu gehört, dass sie solche Verhaltensreize und Impulse, die ebendieser Ordnung entgegenlaufen, unterdrücken. In diesem Sinne wird Disziplin insofern pädagogisch relevant, als sie einerseits die Ermöglichungsbedingung schulischer Prozesse ist, andererseits aber auch selbst zum Gegenstand der Vermittlung wird (vgl. A. Langer & Richter 2015: 219ff.). In der Erziehungswissenschaft und angrenzenden Disziplinen haben sich zahlreiche, theoretisch je spezifisch justierte Perspektiven auf den Gegenstand schulischer Disziplin etabliert. Die stark in der pädagogischen Psychologie verankerte Forschung zu Klassenführung und >Classroom ManagementKiassenftihrung< fokussiert entsprechend auf »jene Maßnahmen, mit deren Hilfe Lehrende ftir Disziplin sorgen, einen reibungslosen Ablauf des Unterrichts gewährleisten, mit störenden Schülern umgehen, Regeln aufstellen, Konflikte lösen« (Seidel 2009: 137) können. Disziplin ist in dieser Forschungslinie die Voraussetzung für Ordnung und steht entsprechend als jene Zielkategorie im Raum, die es im Sinne schulischer Praxis zu erreichen gilt. Studien zum Classroom Management analysieren pädagogische Interaktionen und versuchen, Muster >erfolgreicher< Praxis zu rekonstruieren (Kounin 1976; Mayr 2006; Neuenschwander 2006) und hieraus Handlungsempfehlungen ftir den schulischen Alltag zu generieren (Nolting 2007). Aus machtanalytischer Warte dient die Forschung zur Klassenftihrung damit der Aufrechterhaltung, Effektivierung und Stabilisierung der in der Schule angelegten Ordnungs- und Machtverhältnisse. Sie produziert sozialtechnologisches >Regierungswissen< ftir Lehrkräfte und andere Pädagog*innen und müsste machtanalytisch selbst zum Forschungsgegenstand werden . Die pädagogisch-erziehungswissenschaftliche Diskussion um Disziplin geht aber über Klassenftihrung und Classroom Management weit hinaus. Letztlich ist die Frage nach der Disziplin und ihrem Verhältnis zu den normativen Zielen der Erziehung so alt wie diese normativen Ziele selbst. Ist nämlich Erziehung im Sinne aufklärerischer Traditionen dem Ziel verpflichtet, ein autonomes Subjekt hervorzubringen, dann stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Widerspruch zwischen Freiheit, Autonomie und Mündigkeit einerseits und Zwang, Disziplinierung und Strafe andererseits. Dieses Spannungsverhältnis, das bereits Kant thematisierte (Kant 1977), beschäftigt Pädagogik und Erziehungsphilosophie bis heute. Die Auseinandersetzungen reichen hier von Versuchen, das Verhältnis dieser beiden Pole auszutarieren, indem etwa zwischen einer >guten< innengeleiteten, an der Gemeinschaft orientierten Disziplin und ihrem negativen Anderen, einer rein >äußeren< Disziplin unterschieden wird (Horney 1968), oder indem Disziplin als Voraussetzung gelungener Zivilisierung letztlich im aufklärerischen Ideal selbst begründet wird (Röhrs 1968). Systematische Perspektiven hingegen analysieren das Verhältnis von Pädagogik und Disziplin(ierung) vor dem Hintergrund modernisierungstheoretischer, strukturaler und machttheoretischer Perspektiven. Das Verhältnis von Freiheit und Zwang, in welchem die Frage nach der pädagogischen Disziplin letztlich aufgehangen ist, erscheint dann als ein antinomisches, ein zwar zu bearbeitendes, nicht aber aufzulösendes Spannungsverhältnis (vgl. Reisper 1990, 2010). Aus einer an Foucault anschließenden Perspektive wird die Trennung von Freiheit und Zwang letztlich obsolet, insofern nun jeder Prozess der wissensmäßigen Weltaneignung, insbesondere aber jeder pädagogische Prozess, der mit stellvertre-
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tender Weltdeutung und vorgängigen Machtasymmetrien verbunden ist, zu einer Unterwerfung unter bestehende Wahrheiten und Wahrheitsregime gerät (vgl. A. Schäfer 2004). Aus dieser Perspektive resultiert dann aber nicht normative Resignation, sondern der Versuch, Emanzipation ebenso jenseits humanistischer Verheißungen wie außerhalb althergebrachter Dichotomien und vor allem: jenseits eines zentrierten, souveränen Subjektbegriffs zu denken (vgl. ebd.: 162; Rieger-Ladich 2002b: 176ff.). Disziplinierung ist von Foucault ausgehend dann wiederum als Vorgang der Subjektivierung beschreibbar. Sie ist in all ihren Ausprägungen nicht vor dem Hintergrund normativer Bildungsideale (diese wären selbst Ausdruck von Macht), sondern als Verknüpfung von >Herrschaftstechnologien< mit >Technologien des Selbst< (hierzu vgl. Lemke, Krasmann & Bröckling 2000: 8) zu denken. Disziplin und Disziplinierung bedeuten dann die Einfügung eines Subjekts in die jeweils spezifische Ordnung des schulischen Dispositivs, die ihrerseits verwoben ist mit den Anforderungen der jeweiligen sozialen Bezugsordnung, aufwelche die Subjekte zugerichtet werden. Ein Individuum wird aus dieser Perspektive auch und vor allem dadurch zum legitimen schulischen Subjekt, dass es Fremd- und Selbsttechnologien in Abhängigkeit hegemonialer Ordnungen zur Passung bringt und eigenständig reproduziert. In der Erziehungswissenschaft findet sich ferner eine ganze Reihe historischer wie insbesondere qualitativ-empirischer Analysen zu Disziplin und Strafe, welche die konkrete Gestalt von Disziplinarpraktiken zum Thema machen. Historische Analysen fragen nach den geschichtlichen Entwicklungen pädagogischer Disziplinierungsformen. Sie thematisieren die historische Verwobenheit von Pädagogik und Strafe (Rutschky 1977), arbeiten die Entwicklung pädagogischer Disziplinar- und Strafpraxis vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts auf (Fiissikowski, Kluge & Schauerhammer 1980) oder analysieren die Transformationen des pädagogischen Strafdiskurses (Richter 2018). Sie untersuchen dabei auch die Herausbildung neuer, nun vermehrt auf Beobachtung und subtile Durchdringung des Subjekts setzender Strategien der Disziplinierung (Pongratz 1989, 1995). Qualitativ-empirische Forschung zu Praktiken des Disziplinierens liegt ebenfalls in nicht unerheblichem Ausmaß vor. Stark vertreten sind hier insbesondere ethnographische, praxeologisch justierte Analysen. Sie beobachten pädagogische Mikropraktiken der Disziplinierung (M. Jäger 2011 ; Jäger 2019; Kassis 2019), die Einbindungen und produktive Zurichtungen des Körpers in und durch schulische Ordnungen (A. Langer 2008), die Formen der Etablierung von Disziplin und die damit einhergehenden Legitimationen und Deutungsmuster von Lehrkräften (A. Langer & Richter 2015; Richter 2019) sowie die Nutzung und Einbindung räumlicher Strukturen in die Prozesse der Disziplinierung und Ordnungsbildung (Richter & Friebertshäuser 20 12). Rekonstruktiv angelegte Studien vertiefen die Frage nach der Wirkmächtigkeit schulischer Raumstrukturen und Raumformationen auf pädagogische Prozesse, wobei die Disziplinierungsfunktion des Schulraums, die bereits Foucault (1994) gesehen hat, hervortritt. Hier wird die material-räumliche, architektonische Gestaltung der Schule (Böhme 20 12) ebenso zum Gegenstand, wie die Frage nach den Entwürfen schulräumlicher Gestalten (Böhme & Herrmann 2011). Die Frage nach dem Zusammenhang schulischer Disziplinarpraxis unter Bedingungen urbaner Marginalisierung wird in der Forschung bisweilen thematisiert, bleibt aber eher ein Teil- oder Unterthema anderweitig ausgerichteter Forschung (Wellgraf 2012, 2018).
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Desiderate bestehen damit hinsichtlich zweier Aspekte: Erstens fehlen Studien, welche die handlungsleitenden Wissensbestände schulischer Disziplinarpraxis systematisch rekonstruieren. Zweitens besteht ein Mangel an solchen Studien, die den Zusammenhang von Benachteiligung, Schule und Disziplinarpraxis in den Blick nehmen können. Die vorliegende Arbeit leistet mir ihrem Fokus auf die Rekonstruktion von Machtwissen und Disziplinarkultur an marginalisierten Schulen einen Beitrag zur Bearbeitung dieser Desiderate. Dabei nimmt sie im Anschluss an Foucault eine >gouvernementale< Perspektive auf ihren Gegenstand ein.
1.2 GOUVERNEMENTALE PERSPEKTIVEN Mit dem Begriff der >Gouvemementalität< sind unterschiedliche Bedeutungen verknüpft. Foucault entwickelt den Begriff im Zuge seiner Vorlesungen am College de France und im Nachgang seiner Analysen zur Disziplinargesellschaft, die er in Überwachen und Strafen (Foucault 1994) dargelegt hatte. Es handelt sich dabei um eine Wortneuschöpfung aus frz. gouverner für >regieren< oder auch >lenken< und mentalite für Mentalität oder Geisteshaltung. Unter dem Begriff der Gouvemementalität fragt Foucault nach den Praktiken der Führung und Lenkung der Menschen, wie sie sich in der Modeme entwickelt haben (vgl. Foucault 2006b: 149, 182f.). Der Begriff beschreibt damit zunächst eine Machtformation, welche sich durch Prinzipien der Menschenführung auszeichnet, die sich von der normierenden, durch Einschließung und auf den Körper fokussierte Zurichtungen im Sinne der Disziplinarmacht absetzen. Die Gouvemementalität erscheint hier als ein Gegenmodell zur Disziplinarmacht (vgl. Gertenbach 2014: 157), als eine Machtformation, die durch sanfte Führung und subtile Intervention in die Handlungsumgebungen der Subjekte regiert. Sie verknüpft Herrschafts- und Selbsttechnologien (vgl. Lemke, Krasmann & Bröckling 2000: 8) miteinander, die in ihrer historischen Entwicklung mithin bis in das Frühchristentum zurückreichen (vgl. Bröckling 2017; Foucault 2005). Daneben verweist der Begriff auf politische Rationalitäten, insbesondere auch liberale und neo liberale Prinzipien der Regierung durch Ökonomisierung. Gouvemementalität ist die Machtformation, die dem modernen Liberalismus und dem spätmodernen Neoliberalismus entspricht (vgl. Gertenbach 2014: 157). Und drittens zielt der Begriff auf die Analyse ebenjener Mikropraktiken, die sich im Zuge (neo-)liberaler Strukturen herausbilden, entwickelt und zum Einsatz gebracht werden (ebd.: 158). Die Forschungstradition der Governmentality Studies interessiert sich für ebendiese Mikropraktiken (ebd.: 159). Ihr Augenmerk richtet sich dabei »gleichermaßen auf die Praktiken der Fremd- und Selbststeuerung wie auf die mit diesen verbundenen Wissensformen, Problematisierungen und Rationalisierungsweisen« (Bröckling & Krasmann 2010: 24). Der Fokus liegt Bröckling & Krasmann (ebd.) zufolge auf Rationalitätsmustern und Rationalisierungsweisen in ihrer lokalen Entstehung, ihrer Verbindung mit »Führungstechnologien und Selbstbezügen« (ebd.: 26). Gouvemementalitätsanalysen dieser Art rekonstruieren die Produktion von >Wahrheit< (ebd.) in diskursiven Mustern der Menschenführung, von Technologien und Strategien der Einwirkung auf Verhalten (vgl. ebd.: 27). Der Fokus liegt dann gerade nicht auf den Praktiken und dem Verhalten der Subjekte selbst. Denn Gouvemementalitätsanaly-
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sen »fragen nicht, wie regiert wird, sondern wie dafür Sorge getragen wird, dass regiert werden soll« (ebd.: 28). Im erziehungswissenschaftliehen Diskurs ist die gouvernementale Perspektive mittlerweile fest verankert. So ist die Frage nach Regierungsrationalitäten in pädagogischen Kontexten vielfach gestellt worden. Gouvernementale Führungsmuster werden hier etwa in den Reformen des Schulsystems ausgemacht (Pongratz 2014), in ihrer Verwobenheit mit Schulentwicklungspraktiken analysiert (Ricken & LehmannRommel 2004), pädagogische Anti-Aggressionsprogrammewerden gouvernemental dekonstruiert (Krasmann 2000) oder die Soziale Arbeit als >Regierung< im Foucault'schen Sinne gelesen (Kessl 2006a). Pädagogisches Machtwissen ist aus gouvernementaler Perspektive dann insbesondere ein diskursives Wissen, das neue Rationalisierungsweisen und Rationalitäten der (pädagogischen) Menschenführung entwirft und dabei nicht zuletzt auch in Interferenz mit weiteren sozialen Wissensfeldern tritt (ausführlich vgl. Maurer & Weber 2006). Der Begriff des >MachtWissens< fokussiert in dieser Forschungsperspektive im Anschluss an Foucault auf diskursive Rationalitäten pädagogischen Wissens, auf dessen Verwobenheit mit Machtund Subjektivierungen sowie auf seine Entwicklungen, Kontinuitäten und Brüche (vgl. ebd., vgl. auch S. M. Weber 2006). Gegenüber einem alleinigen Fokus gouvernementaler Analysen auf explizite Regeln und diskursive Entwürfe von Subjektfiguren, wie er etwa bei Bröckling & Krasmann (2010) vertreten wird, ist mittlerweile aber auch Kritik formuliert worden. So unterscheidet Bührmann (2012) zwischen diskursiver Subjektformierung einerseits und Subjektivierungsweisen andererseits und hebt mit letzterem Begriff die Frage nach dem Selbsterleben und den Selbstdeutungen der Subjekte hervor (vgl. ebd.: 146, 151ff.). Ähnlich positionieren sich auch Geimer & Amling (2017: 152ff.) in ihren Entwürfen einer dokumentarischen Subjektivierungsforschung kritisch gegenüber einer Begrenzung gouvernementaler Analysen auf diskursive Subjektfiguren allein. Sie schlagen vor, gemäß einer praxeologisch-wissenssoziologischen Analyseeinstellung gerade jene Schnittstelle empirisch in den Blick zu nehmen, an der »explizite Regeln zur Führung des Selbst mit impliziten Rahmungen des Alltagshandeins zusammentreffen« (ebd.: 154). Die vorliegende Arbeit knüpft an eine gouvernementale Analysehaltung an, vertritt aber eine ähnlich kritische Haltung gegenüber dem alleinigen Fokus auf diskursive Formationen und explizit-programmatisches Wissen. Ihr Forschungsinteresse ist einerseits ein >klassisch< gouvernementales, insofern es bei der Rekonstruktion von Machtwissen, Zurichtungspraktiken und Disziplinarkultur um Fragen der Menschenregierungpar excellence geht und indem die Verbindung von Wissen und Praktiken fokussiert werden soll. In der Frage nach dem implizit-habitualisierten Orientierungswissen geht sie jedoch, ähnlich der dokumentarischen Subjektivierungsforschung (Geimer & Amling 2017, 2019), insofern einen anderen Weg, als sie gerade jenes Wissen fokussiert, das die Praktiken der Subjekte orientiert und strukturiert und indem sie ebenjene Subjekte und ihr Wissen zum Ausgangspunkt der Rekonstruktionen macht. Gerade hieraus ergibt sich dann aber das Potenzial, die gouvernemental relevante Frage nach den »Praktiken der Fremd- und Selbststeuerung« (Bröckling & Krasmann 2010: 24), hier im Sinne pädagogischen Machtwissens und schulischer Disziplinarkultur, umfassend empirisch zu beleuchten.
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1.3 ZUM AUFBAU DER ARBEIT Die Arbeit ist in insgesamt zehn Kapitel gegliedert. Im folgenden Kapitel (Kap. 2) werden grundlagentheoretische Verortungen vorgenommen, indem das Konzept des Dispositivs als zentraler Analysebegriff eingeführt wird. An diesem ist die gesamte Arbeit orientiert, denn es dient ihr als wesentliches Konzept zur analytischen Beschreibung der Schule und ihrer disziplinarpraktischen Strukturen. Mit Dispositiven sind netzförmige Verbindungen, >heterogene Ensembles< (Foucault 1978: 119) gemeint, die ihrer Funktion der Bearbeitung gesellschaftlicher Bedarfslagen durch die Hervorbringung von Subjekten und in der Verknüpfung unterschiedlicher Sphären und Dimensionen des Sozialen nachkommen. Der Begriff eignet sich für Analysen schulischer Macht- und Disziplinierungsformationen, weil er deren Multimodalität ihre Verankerung in Diskursen, ihre Einlassung in räumlich-materiale Strukturen, ihre Realisierung in konkreten Praktiken, ihre Verwobenheit mit Subjektivierungen und schließlich ihre Bezüge zu in anderweitigen sozialen Kontexten historisch gewachsenen Machtformationen - zu fassen vermag. In diesem Zuge und im Anschluss an einschlägige dispositivtheoretische Literatur werden die unterschiedlichen Dimensionen von Dispositiven theoretisch hergeleitet. Dabei wird die an Foucault orientierte theoretische Perspektive mit den grundlagentheoretischen Prämissen der praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack 2010, 2017b) verwoben. Anschließend wird dann die Schule, weiterhin im Dialog zwischen Foucault'scher Machtanalytik und praxeologischer Wissenssoziologie, als Organisation bestimmt. Auf diese Weise legt dieser erste Abschnitt die Basis für die Definition der beiden zentralen Analysebegriffe dieser Arbeit: Machtwissen und schulische Disziplinarkultur. Im anschließenden Kapitel (Kap. 3) wird dann der Forschungsstand zu schulischer Disziplinierung ausführlich aufgearbeitet. Die Darstellungen nehmen in ihrer Struktur die zuvor dargelegten dispositivtheoretischen Überlegungen auf und diskutieren zunächst die Machtformationen Disziplinarmacht, (neo-)liberale Gouvernementalität und Kontrollgesellschaft in ihrer Verwobenheit mit dem schulischen Dispositiv. Anschließend werden Entwicklungen und Befunde zu pädagogischen Disziplinar- und Strafdiskursen, zur Schule als >verregelter< Organisation, zu pädagogischen Praktiken schulischer Ordnungsbildung, Disziplinierung und Strafe, zur aktuellen Bedeutung räumlicher Strukturen für schulische Disziplin sowie schließlich zu den Subjektivierungen der Schüler*innen im schulischen Machtdispositiv diskutiert. Am Ende dieser umfänglichen und eng an der erziehungswissenschaftliehen Forschung orientierten Darstellung erscheint die gegenwärtige Schule als geprägt von einem Spannungsbogen zwischen auf Normierung und Normalisierung ausgerichteten, in ihrer Struktur der Disziplinarmacht verhafteten Praktiken einerseits und einer auf sanfte Führung und Selbstführung setzenden, eher gouvernemental orientierten >Regierungspraxis< andererseits. In einem weiteren Schritt (Kap. 4) folgt dann die Annäherung an das Untersuchungsfeld der marginalisierten Schulen. Ausgehend von den dispositivtheoretischen Vorüberlegungen und der Darlegung des Forschungsstandes wird in diesem Kapitel herausgestellt, welche Prozesse zur Herausbildung marginalisierter Schulen führen und mit welchen diskursiven Konstruktionen diese einhergehen. Ferner wird hier dargestellt, welche Folgen diese Prozesse für pädagogische Praxis innerhalb marginalisierter Schulen zeitigen und inwiefern diese Schulen drohen, zu Räumen prekärer
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Anerkennung zu werden. Die Aufarbeitung der bestehenden Befunde zum Zusammenhang von schulischer Marginalisierung, Disziplinierung und Strafe rundet die Darstellungen in diesem Kapitel ab. Die marginalisierte Schule erscheint hier weniger als >BrennpunktschuleBrennglas< sozialer Ungleichheit, Stigmatisierung und Prekarisierung. Das nachfolgende Kapitel (5) dient der Darstellung von Untersuchungsdesign, Fallauswahl und Erhebungsinstrumenten. Anschließend (Kap. 6) werden die methodische Herangehensweise sowie das rekonstruktive Vorgehen der Arbeit transparent gemacht. In dem dort vorgelegten Entwurf einer >dokumentarischen Machtanalytik< werden die grundlagentheoretischen Verortungen (Kap. 2) in ein konkretes methodisches Vorgehen übersetzt und die verschiedenen Verfahrensschritte einer rekonstruktiven Analyse von Machtwissen und Disziplinarkultur ausgewiesen. Die darauffolgenden Kapitel dokumentieren die empirischen Analysen. Im ersten Schritt (Kap. 7) werden die Befunde zum pädagogischen Machtwissen und den aus diesem Wissen resultierenden Zurichtungspraktiken sukzessive ausdifferenziert. Über eine mehrdimensionale sinngenetische Typenbildung und die Relationierung ihrer Ergebnisse zueinander, gelangt die Arbeit zu dem Ergebnis zwei er übergreifender >Modi Operandi < pädagogischen Machtwissens, die als Typus der Repression und als Typus der Exploration bezeichnet werden. Nach der Zusammenführung dieser Analyseergebnisse in einer Typologie zum Machtwissen und ihrer ersten machttheoretische Einordnung (Kap. 8), folgt der zweite empirische Analyseteil (Kap. 9), in welchem die Verdichtung der zwei Typen des Machtwissens zu einzelschulischen Disziplinarkulturen rekonstruiert wird. Hier geraten die Verankerung, Manifestation und (Re-)Produktion von Disziplinarkultur in der einzelschulischen Geschichte, in den Raumpraktiken, den Interaktionen zwischen den Lehrkräften sowie schließlich den Interaktionen und Praktiken der Schüler*innen in den Fokus der Analyse. Am Ende steht hier der Ausweis der Ergebnisse im Sinne einer Abstraktion zu den Dynamiken der Verdichtung einzelschulischer Disziplinarkulturen. Im letzten Kapitel (Kap. 10) werden die Ergebnisse schließlich über die beiden empirisch fokussierten Ebenen hinweg und mit Blick auf allgemeine theoretische Abstraktionen reflektiert und in diesem Zuge weitere Forschungsperspektiven ausgewiesen. Hier folgen eine macht- und dispositivtheoretische, sodann eine im engeren Sinne schultheoretische, eine sozialraum- und ungleichheitsbezogene sowie schließlich eine subjekt- und bildungstheoretische Reflexion der Befunde, bevor die Studie mit einer Überführung der empirischen Ergebnisse in eine Idealtypik von repressiver und explorativer Schule endet.
Teil I. Grundlagentheoretische Verortungen
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Machtnetze. Grundlagentheoretische Überlegungen zur Schule als Dispositiv »Tatsächlich tritt die Funktion der Schule im Prozeß der Disziplinierung erst dann in den Blick, wenn sie als Dispositiv der Macht begriffen wird.«
(Pongratz 1989: 150)
Als zentrale grundlagentheoretische Heuristik der vorliegenden Arbeit wird im Folgenden das Konzept des >Dispositivs< eingeführt. Der Dispositivbegriff geht prominent auf Michel Foucault zurück, der ihn an seinem werkperiodischen Übergang von der diskursanalytischen Archäologie des Wissens (Foucault 2013a) zur macht- bzw. subjektanalytischen Genealogie (Foucault 2006a, b, 2008a) geprägt hat. Das Dispositiv wird hier zu einem zentralen >Terminus technicus< in Foucaults Denken, und zwar im Sinne eines allgemeinen, analytischen Konzepts (vgl. Agamben 2008: 15). 1 Denn der Dispositivbegriff ermöglicht es, netzartige Strukturen gesellschaftlicher Machtformationen analytisch zu greifen und in ihrer Ausdehnung in und über heterogene soziale Felder hinweg als Zusammenhang zu denken. Die Orientierung am Dispositivkonzept ermöglicht es entsprechend auch der vorliegenden Arbeit, ihre Analysegegenstände - pädagogisches Machtwissen, pädagogische Disziplinarpraxis sowie schließlich einzelschulische Disziplinarkultur - als Ausdruck multidimensionaler sozialer Dynamiken zu fassen. Um dieses Potenzial für rekonstruktive Analysen fruchtbar zu machen, bedarf es jedoch einer Vermittlung des Dispositivkonzepts und seiner grundlagentheoretischen Implikationen mit den methodologischen Basiskategorien der praxeologischen Wissenssoziologie (Hohnsack 2010, 2017b). Dieses Kapitel soll diese Vermittlung leisten. Hierzu wird in einem ersten Schritt der Begriff des Dispositivs erläutert (Kap. 2.1 ). Im Anschluss folgen Ausführungen zu den verschiedenen Elementen, aus denen sich Dispositive zusammensetzen (Kap. 2.2). Tragende dispositivtheoretische Kategorien - Subjekt, Diskurs, Praxis, materi-
Dies zeigt sich in seinen Arbeiten zum >Dispositiv der Sexualität< und zur Bio-Macht bzw. Bio-Politik (Foucault 2008a; vgl. auch Dreyfus & Rabinow 1983: 126-167) ebenso, wie an der im Zuge der Gouvernementalitätsanalysen vorgenommene Beschreibung von >S icherheitsdispositivenmi litärisch-diplomatischen < Dispositiven und schließlich von >Gefangnis-< bzw. >lnhaftierungsdispositiven< im Kontext der Studien zur Disziplinargesellschaft (Foucault 1994, 2006a, b).
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elle Objektivationen und Macht - werden zunächst ausgehend von Foucault erarbeitet, sodann in ihrer Bedeutsamkeit ftir den machtanalytischen Blick auf Schule ausgewiesen und mit den methodologischen Grundannahmen der praxeologischen Wissenssoziologie vermittelt. Ausgehend von diesen Vorarbeiten wird schließlich in einem weiteren Schritt die Schule als Dispositiv der Macht markiert (Kap. 2.3). Hieran anschließend (Kap. 2.4) wird die Einzelschule in den Fokus gerückt und wiederum eine machtanalytisch informierte und praxeologisch-wissenssoziologisch justierte Perspektive auf die Einzelschule als Organisation entwickelt. Sodann wird das theoretische Konzept der einzelschulischen Disziplinarkultur (Kap. 2.5) ausdifferenziert, indem zunächst der Begriff geklärt und anschließend mit historischen Entwicklungen der Einzelschule, ihrer sozialräumlichen Verortung sowie ihrer territorial-räumlichen Struktur drei Dimensionen der Rahmung und Verankerung schulischer Disziplinarkultur beleuchtet werden. Abschließend (Kap. 2.6) werden dann die beiden Analysekategorien Machtwissen und Disziplinarkultur noch einmal zusammenfassend ausgewiesen. Auf diese Weise entsteht ein integriertes grundlagentheoretisches Gerüst, welches die hieran anschließenden gegenstandstheoretischen Ausführungen ebenso unterfüttert, wie die Gestalt und Methodik der empirischen Analysen. Die folgenden Überlegungen sind dabei nicht am theoretischen Reißbrett entstanden, sondern ihrerseits im Spannungsfeld von Theorie und Empirie begründet. Sie sind kein Versuch, ein Theoriegebäude zu entwickeln, welches an der Empirie >scheitern< oder sich an ihr >bewähren< soll, sondern ihrerseits im Spannungsfeld zwischen den an späterer Stelle dokumentierten empirischen Analysen und den in dieser Arbeit bedeutsamen methodologischen und theoretischen Diskursen entstanden (zum Verhältnis von Theorie und Empirie vgl. auch Hirsehauer 2008; Kalthoff2008).
2.1 DISPOSITIV ALS ANALYTISCHER BEGRIFF Etymologisch ist der Begriff»Dispositiv« mit dem französischen alltagssprachlichen Substantiv dispositif (m.) verwandt, das zunächst eine im weitesten Sinne zweckdienliche Anordnung unterschiedlicher Elemente, eine Vorrichtung oder ein Bündel von (zielgerichteten) Maßnahmen beschreibt (vgl. z.B. Caborn 2007: 113V Die Konnotationen liegen dabei vornehmlich im juristischen, technisch-mechanischen oder strategischen Bereich, wobei Link (2008) insbesondere die Bedeutung des Verftigbar-Machens und des strategischen Anordnens herausstellt. Foucault selbst liefert folgende Definition: »Was ich unter diesem Titel [Dispositiv, T.H.] festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektmale Eimichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussa2
So ist etwa mit frz. >dispositif antivoldispositif policier< das Polizeiaufgebot und ein >dispositif d 'a/arme< eine Alarmanlage meint. Im juristischen Kontext markiert der Begriff den anordnenden, entscheidenden, also: >disponierenden< Teil eines Urteils oder eines Gesetzes (vgl. Agamben 2008: 16; ausführlich Link 2008: 238).
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gen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich mit dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann [... ]. Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können. Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von - sagen wir - Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.« (Foucault 1978: 119f, Herv. i. 0 .)
An dieser Definition wird zunächst deutlich, dass Dispositive Heterogenes inkorporieren, verknüpfen und anordnen. Sie nehmen eine Relationierung unterschiedlicher sozialer Elemente zu einem Zusammenhang vor, der spezifische gesellschaftliche Funktionen erftillt. So unterschiedliche Dinge wie Architekturen, Gesetzen, Entscheidungen, Verwaltungspraktiken, Wissen und Wissenschaften, Philosophie und Ethik und Moral können gleichermaßen als Teil von Dispositiven fungieren. Foucault zieht zudem die Unterscheidung von >Gesagtem< und >Ungesagtem< (Foucault 1978: 119) in seine Definition ein, womit verdeutlicht wird, dass sprachliche ebenso wie >stumme< Praktiken und Strukturen zu Dispositiven gehören können. Ihre Genese verdanken Dispositive stets einer zu einem gegebenen Zeitpunkt bestehenden sozialen Bedarfslage. Sie sind strategisch-zweckorientiert, denn Dispositive reagieren auf einen »Notstand« bzw. auf eine »urgence« (Foucault 1978: 120; vgl. auch Agamben 2008: 15ff.; Schneider 2015: 29), geben Antworten auf »eine Dringlichkeit, ein bestehendes oder gleichsam sich abzeichnendes - mithin diskursiv prozessiertes, also >wahr< im Sinne von >wahr-nehmbar< gemachtes - gesellschaftliches Problem« (Schneider 2015: 29), indem sie ein strategisches Verknüpfungsverhältnis zwischen Macht-Wissen-Komplexen, Aussageformationen und Praktiken herstellen (vgl. Bröckling & Krasmann 2010: 24). Dispositive bringen Subjekte hervor und prozessieren auf diese Weise sozialen Wandel (vgl. Bührmann & Schneider 2008b: 105ff.). Insofern die Reaktion auf diese >Urgencen< Flexibilität erfordert, sind Dispositive keine geschlossenen Gebilde, die jedem einzelnen ihrer Elemente klare und dauerhaft festgeschriebene Positionen zuweisen. Die >Natur ihrer Verbindung< zeichnet sich vielmehr durch Fluidität und Transformierbarkeit aus. Zwischen den Elementen eines Dispositivs sind demnach Verschiebungen, Neuformationen, Positions- und Funktionswechsel möglich (vgl. Foucault 1978: 120). Einzelne Elemente können aus ihnen ausgelagert oder neu in sie integriert werden und treten dabei in potentiell harmonische oder auch spannungsvolle Verhältnisse mit den anderen Elementen. Foucault spricht hier von der >funktionellen Überdeterminierung< der Dispositive. Sie zeigt sich insofern, als »jede positive oder negative, gewollte oder ungewollte Wirkung in Einklang oder Widerspruch mit den anderen treten muß und eine Wiederaufnahme, eine Readjustierung der heterogenen Elemente, die hier und da auftauchen, verlangt« (ebd.: 121). Dispositive sind damit weder widerspruchs-noch friktionslos, sondern in sich spannungsgeladen. Sie produzieren unbeabsichtigte Nebenef-
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fekte, die sie aber mithin durch den Prozess der »strategische[n] Wiederauffiillung« (ebd.) zu (re-)integrieren vermögen. Dispositive lassen sich damit als komplexe, in ihrer Genese multidimensionale und in ihrer Gestalt wandelbare Formationen verstehen, deren Funktion aber stets darin besteht, vor dem Hintergrund konkreter, sozio-historisch gewachsener Bedarfslagen Menschen zu solchen Subjekten zu formen, die ehendiesen Bedarfslagen entsprechen (vgl. Bührmann & Schneider 2008b). Als umfängliche Netze der Hervorbringung des Subjekts sind Dispositive gerade nicht nur als offensichtlich machtvolle, weil explizit herrschaftsetablierende, Apparate denkbar, wie etwa in Gestalt des Militärs, der Polizei (vgl. Foucault 1993a) oder der Gefängnis- und Strafanstalten (vgl. Foucault 1994). Dispositive entstehen und wirken vielmehr auch dort, wo Machtverhältnisse subtil eingespielt und Ordnungen im fortlaufenden Strom der Alltagspraxis etabliert werden. Zu denken wäre etwa an Geschlechterdispositive und ihre Stabilisierung innerhalb alltäglichen Sprechens und Tuns (vgl. Bührmann 1998; Schneider & Hirseland 2008) oder an Dispositive der Hervorbringung des Nationalen auf unterschiedlichen, miteinander verschränkten Ebenen (vgl. Mecheril & Rigelsky 2010; Rose 2013). Aber auch um philosophisch-ethische Konzepte herum können sich Dispositive herausbilden, so dass sich etwa von Bildung als Dispositiv sprechen lässt (vgl. Lange 2010; Ricken 2015). Und schließlich lässt sich auch die Schule als ein >Dispositiv der Machtobjektivierte< und materielle Elemente des Sozialen, auf Praxis und Praktiken in ihrer Rolle für die Hervorbringung von Subjekten, auf die netzartige Verbindung dieser Dimensionen miteinander. Er stellt damit die Verwobenheit sozialer Elemente scharf (vgl. Bührmann & Schneider 2008b: 23-33; Schneider 2015: 24ff.). Um diese analytischen Potenziale aber auch empirisch fruchtbar machen zu können, wird im Folgenden ein theoretisches Verständnis von der Struktur der Dispositive entwickelt, welches die vorliegende Arbeit sowohl in ihren theoretisch-methodologischen Konzepten als auch in der empirischen Analyse unterfüttert.
2.2 MACHTELEMENTE. ZUR STRUKTUR VON DISPOSITIVEN ZWISCHEN SUBJEKT, DISKURS, PRAXIS, OBJEKTIVATIONEN UND MACHT Wenn Dispositive als >heterogene< und netzf6rmige Arrangements unterschiedlicher sozialer Elemente verstanden werden, so muss insbesondere in empirischen Vorhaben grundlagentheoretisch geklärt werden, um welche Elemente es sich handelt und wie diese Elemente bestimmt und voneinander abgegrenzt werden können. Die Frage nach der Architektur der Dispositive und nach der Bestimmung ihrer Elemente
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gehört dabei zu den wesentlichen Aspekten jüngerer dispositivtheoretischer Debatten. Und so hat das Dispositivkonzept innerhalb der letzten Dekade zahlreiche Weiterentwicklungen erfahren. 3 Die Diskussion um diese Erweiterungen ist nicht abgeschlossen, wird kontrovers geführt und dreht sich insbesondere um grundlagentheoretische Prämissen (vgl. exemplarisch Dyk 2010; Kretzschmar 2013; Nowicka 2013). Im Folgenden wird diese Debatte nicht weiter thematisiert, sondern an die konzeptionellen Schärfungen des Dispositivbegriffs durch Andrea Bührmann und Werner Schneider (2008b, 2010, 2016) angeschlossen und diese Perspektivierungen durch die grundlagentheoretischen Annahmen der praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack 2010, 20 17b) flankiert. Bührmann & Schneider begreifen Dispositive zunächst ganz im Foucault' schen Sinne als strategische Reaktionen auf die Tatsache des sozialen Wandels (vgl. auch Foucault 1978: 120). Im weiteren Anschluss an insbesondere poststrukturalistische, diskurs- und praxistheoretische Perspektiven legen die Autor*innen dann systematisch die Forschungsperspektive der Dispositivanalyse dar, indem sie tragende Grundbegriffe ihres Dispositivmodells theoretisch bestimmen (vgl. Bührmann & Schneider 2008b, dort Kap. 2.3) und hier unter anderem an die Dispositiv- und Diskurstheorie im Anschluss an Siegfried Jäger (vgl. ebd.: 58, weiterfuhrend S. Jäger 2011) sowie die Interdiskurstheorie nach Jürgen Link (2007) anknüpfen. Innerhalb dispositiver Anordnungen als >Prozessoren< sozialen Wandels spielen nach Bührmann & Schneider (2008b: 92ff.) vier wesentliche Elemente zusammen: Das erste Element besteht in den Diskursformationen, die im Anschluss an Link (2007) als Aussagenformationen im Wechselverhältnis horizontaler und vertikaler Wissensdifferenzierungen gedacht werden. Mit Blick auf Diskursformationen interessiert, was innerhalb diskursiver Praktiken wie als Wahrheit hergestellt wird (vgl. Bührmann & Schneider 2008b: 95). Den Diskursformationen kommt die Rolle eines maßgeblichen Bezugspunktes aller weiteren Dispositivelemente zu. Diese bestehen zweitens in (nicht-diskursiven) Praktiken, wobei das Augenmerk hier vor allem auf dem Verhältnis zwischen diskursiven Praktiken einerseits und alltagsweltlichen, 3
Dabei erhält das Dispositivkonzept u.a. einen je spezifischen Status und ein je unterschiedliches Gewicht im Verhältnis etwa zum Begriff des Diskurses und des Subjekts. So versteht Reiner Keller (2008) Dispositive als »die tatsächlichen Mittel der Machtwirkungen eines Diskurses« (ebd. : 101), die letztlich zwischen den Diskursen und Praxisfeldern/Praktiken vermitteln. Das Dispositiv wird dabei einerseits zum vorgängigen Konstrukt, das den Diskurs und sein Wirken überhaupt erst ermöglicht (vgl. auch Bührmann & Schneider 20 I 0: 269f. ), andererseits steht es aber einem vergleichsweise starken Verständnis von Diskurs gegenüber und erscheint so als dessen untergeordneter Bestandteil (vgl. Bührmann & Schneider 2008a: 115ff., hier 117). Giorgio Agamben hingegen legt ein stark entgrenztes Verständnis von >Dispositiv< an. Der Begriff schließt hier »potentiell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich« (Agamben 2008: 9) ein. So kann alles, was in irgend einer Weise geeignet ist, »die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern« (ebd.: 26), als Dispositiv fungieren - Schule und Fabrik ebenso wie Beichte und juristische Maßnahmen, Federhalter und Computer ebenso wie Mobiltelefone, Zigaretten und schließlich auch die Sprache selbst (vgl. 26f.; kritisch zu Agambens entgrenztem Dispositivkonzept vgl. Bührmann & Schneider 2010: 263f.).
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nicht-diskursiven Praktiken andererseits liegt. Das dritte Element der Dispositive besteht in symbolischen und materialen Objektivationen. Die Frage lautet hier, in welchem Verhältnis diskursive Praktiken zu solchen Wissensordnungen stehen, die sich in Dingen und Artefakten materialisieren. Im Spannungsfeld von Diskursformationen, Objektivationen und Praktiken entstehen dann, als viertes Dispositivelement, Subjektivationen und Subjektivierungen. Damit ist auf die Kernfunktion der Dispositive - die Hervorbringung von Subjekten - verwiesen. Eine entsprechend integrierte Dispositivanalyse fragt dann danach, in welchem Verhältnis ein jeweiliges Dispositiv zu sozialem Wandel steht, wie das jeweilige Dispositiv >seine< Subjekte hervorbringt, welche Diskurse, Praktiken, Techniken und Strategien in ihm zusammenwirken und welche intendierten und nicht-intendierten (Neben-)Folgen dabei hervorgebracht werden (vgl. ebd.; vgl. auch Foucault 1978: 121). Hinsichtlich der Dispositivanalyse als Forschungsstil plädieren Bührmann & Schneider (vgl. Bührmann & Schneider 2008b: 83ff.) nun für eine rekonstruktive Analytik, die diskursanalytische Verengungen überwindet und explizit nach dem Zusammenspiel der verschiedenen Dispositivdimensionen in der Hervorbringung von Subjekten und sozialen Realitäten fragt (vgl. ebd.: 84). Der analytische Blick liegt auf»der dispositiven Konstruktion der Wirklichkeit , also der Konstruktion von Wirklichkeit über diskursive und nicht diskursive Praktiken in ihren sowohl symbolischen wie materialen Äußerungsformen« (ebd.: 85, Herv. i. 0.). Der Mehrwert dieses Modells liegt damit gerade in der Integration verschiedener sozialer Ebenen in einen machttheoretischen Rahmen. Es holt die grundlegende Erkenntnis, dass Macht sich stets über unterschiedliche soziale Ebenen und Ausdrucksformen erstreckt, theoretisch ein. Auf den Gegenstand der vorliegenden Arbeit übertragen, können Elemente pädagogischer Zurichtung vermittels des Dispositivbegriffs in ihrer Multivariabilität und Spannung sowie in ihrer Verzweigtheit über unterschiedliche historische Entwicklungen und heterogene gesellschaftliche Felder gedacht werden. Ferner kann dabei produktiv an die praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2010, 2017b) und ihre aufKarl Mannheim (1980b; 1964b) zurückgehenden methodologischen Grundannahmen angeschlossen werden. So finden sich bereits bei Bührmann & Schneider an mehreren Stellen Verweise auf die Mannheim ' sche Wissenssoziologie. Diese nämlich stelle einen Wissensbegriff bereit, der Wissen in Abhängigkeit zu sozialen Lagerungen fasst und damit die Verquickung »von diskursivem und nicht diskursivem Wissen mit Intersubjektivität und gesellschaftlicher Erfahrung« (Bührmann & Schneider 2008b: 72, i. 0. herv.) ebenso leisten kann, wie er gesellschaftliche Existenz als in kollektivem Erleben fundiert denkt (vgl. ebd.). Die zwischen Dispositivtheorie und praxeologischer Wissenssoziologie vermittelnde, grundlagentheoretische Klärung zu den Elementen der Dispositive wird im Folgenden geleistet. Dabei werden an die vorliegende Arbeit angepasste Modifikationen vorgenommen. Zunächst wird der Begriff des Subjekts geklärt und hier insbesondere die Grundannahme der Fundiertheit des Subjekts in Strukturen des Wissens scharf gestellt. Dann folgen Ausführungen zu Diskursen, Praxis und Praktiken, symbolischen und materialen Objektivationen und schließlich zum Begriff der Macht. Durch die konsequente Verquickung der Foucault' schen Machtanalyse mit der praxeologischen Wissenssoziologie wird hier die Herstellung eines >methodologischen Holis-
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mus< angestrebt (Diaz-Bone 2006: Abs. 4ff.). Demzufolge sind nicht nur theoretische Modelle der analysierten Realität zu entwickeln, sondern soll auch die zugrunde gelegte Methodologie die theoretischen Prinzipien ihrerseits »in sich aufgreifen und wiederholen« (Bührmann & Schneider 2008b: 85).
2.2.1 Subjekt und Wissen Der Begriff >Subjekt< beschreibt den Menschen als »sozial zurechenbares Wesen« (Reckwitz 2011: 41). Als im philosophischen Diskurs entstandene Beobachtungskategorie war der Subjektbegriff eine >Erfindung der NeuzeitProduktionszusammenhänge von SubjekthaftigkeitTodkonjunktiven Erfahrungsräumen< auf den Begriff gebracht.
Unterwerfung und Selbstzurichtung. Das Subjekt der Macht Für Foucault ist das Subjekt zunächst eine abhängige Figur. Insbesondere in den früheren Arbeiten der >archäologischen Phase< erscheint es als Ausdruck diskursiver Strukturen, die seinem Einfluss enthoben sind. Es sind die Diskurse, als autonom prozessierende Aussagenformationen, welche die Positionen und Positionierungen der Subjekte herstellen (vgl. Foucault 20 13a: 82). Aus dieser Perspektive erscheint das Subjekt nicht als >Souverän< oder >transzendentale Subjektivität< (vgl. ebd.),
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sondern als Ausdruck, als Produkt von diskursiven Wissensstrukturen. Jede Aneignung von Wissen ist dann ein Prozess der Unterwerfung des Subjekts unter die Diskurse. Das Subjekt wird dann zu einem »Effekt der Macht des Wissens« (A. Schäfer 2004: 148). In den genealogisch orientierten Arbeiten wird das Subjekt dann stärker zur handelnden Instanz, wobei jedoch der Grundgedanke seiner Existenz als Ausdruck von >Macht-Wissen-Komplexen< erhalten bleibt. Diese Ambivalenz der Subjektivierung zwischen Unterwerfung und Selbstausdruck ist auch in dispositivtheoretischer Hinsicht relevant. Denn innerhalb dispositiver Anordnungen werden die Subjekte zunächst zum Zielpunkt unterwerfender Praktiken, wie Foucault an verschiedenen Stellen und am Beispiel so unterschiedlicher Institutionen wie dem Gefangnis, der Medizin und Psychologie, der Fabrik und auch der Schule gezeigt hat (vgl. Foucault 1994, 2008a). Sie werden hier vermittels unterschiedlicher Prozeduren und Techniken - Analyse, Untersuchung, Diagnose, Prüfung - zu Objekten gemacht und bilden als solche den Zielpunkt hegemonialer Wissensproduktion. Foucault spricht von »Objektivierungsformen [... ], die den Menschen zum Subjekt machen« (Foucault 2005: 240). Diese fmden sich in den Wissenschaftsdisziplinell und ihren Forschungen (ebd.) ebenso, wie in den basalen Praktiken des Unterscheidens, in den teilenden Praktiken innerhalb gesellschaftlicher Institutionen, in und durch welche das Subjekt »entweder in sich selbst geteilt oder von den anderen unterschieden und getrennt« wird (ebd.). Mit dem Begriff der teilenden Praxis ist damit einerseits auf die analytischen >Zerlegungen< des Subjekts nach innen sowie andererseits auf Formen des Unterscheidens und Positionierens entlang hegemonialer Differenzsysteme verwiesen. Solche Praktiken gehören zu den Kernpraktiken der Dispositive (vgl. Bührmann & Schneider 2008b: 97f.), denn Unterscheidungen bevölkern jeglichen Subjektivierungsprozess. Die Verortung eines Individuums innerhalb jeweils dominanter Grunddichotomien wie normal vs. unnormal, zivilisiert vs. unzivilisiert, erwünscht vs. unerwünscht etwa hat erhebliche Folgen ftir die Konstruktion und Positionierungen der Subjekte in gesellschaftlichen Ordnungen. Diese Unterscheidungen werden wiederum in Diskursen verhandelt (Foucault 2013a: 74), in Praktiken realisiert und in Institutionen verfestigt und >wahr gemachtInstrumentedisponierenden Subjektivitätmächtigen< Subjekte innerhalb des jeweiligen Dispositivs gemeint sind. Auf die Schule gewendet, kommt diese Position den Pädagog*innen zu. Sie verfügen primär über die dispositive Klaviatur, wozu nicht nur die Verfügungs- und Entscheidungsmacht über Aspekte von Lehr-, Lern- und Bildungsarrangements zählen, sondern auch die konkreten Formen pädagogischer Disziplinierung. Die instrumentelle Topik setzt sich dabei aus einem mannigfaltigen Fächer an Optionen zusammen, der von formalen Regeln der Institution über kommunikative Regelstrukturen im pädagogischen Verhältnis, didaktische Vorkehrung und materiale Objektivationen bis hin zu expliziten Instrumenten und Technologien der Disziplinierung und Bestrafung reicht (siehe Kap. 3). Auf dem Objekt-Pol hingegen ist die »disponierte Subjektivität« verortet (vgl. ebd.). Die disponierten Subjekte bilden den primären Zielpunkt des Dispositivs und seiner Wirkungen. Ihre Subjektivität stellt sich »als bloßer Effekt der Machtkonstellationen« ein (Bührmann & Schneider 2008b: 63V Im Machtdispositiv Schule sind dies die Schüler*innen. Sie sehen sich der instrumentellen Topik und ihrer Anwendung durch Lehrkräfte und pädagogisches Personal zunächst einseitig gegenübergestellt und können sich lediglich reaktiv zu ihr ins Verhältnis setzen. Dieses Verhältnis ist aber weder determiniert noch starr und unflexibel. Denn auch die Schüler*innen nehmen in mannigfaltigen Formen Bezug auf die Regel- und Disziplinarklaviatur der Schule, die in Verinnerlichung, Verbürgung und Aneignung ebenso bestehen können, wie in subtilem Unterlaufen, in offener Opposition oder gar Aneignung und Verkehrung der Klaviatur (siehe Kap. 3.5). Ebenso wenig, wie die disponierten Subjekte uneingeschränkt unterworfen sind, sind die disponierenden Subjekte uneingeschränkt Herrschende. Vielmehr müssen auch sie als Ausdruck dispositiver Strukturen, als deren Elemente und »Relays« (Link 2007: 221) begriffen werden. Zwischen beiden Polen entsteht somit ein Kreislauf der >Rückkopplung< (vgl. ebd.). Ihre unterschiedlichen Positionen mit Blick auf die Verfügungsmacht über die Instrumente des Dispositivs erzeugt jedoch ein grundlegendes Machtdifferenzial zugunsten der Disponierenden, das eher punktuell als fundamental irritiert werden kann (ebd.: 222ff.; vgl. auch Link 2008). Aus einer an Foucault geschulten Perspektive erscheint das Subjekt damit zunächst als Produkt multipler Unterwerfungen unter Wissensregime und institutionelle Machtverhältnisse. Daneben wird aber das komplementäre Prinzip der Unterwerfung immer schon deutlich, indem die Subjekte Mitkonstrukteur*innen ihrer selbst 4
Link stellt nun heraus, dass in den bisherigen Überlegungen zum Dispositiv vor allem dieser letztgenannten, disponierten Subjektivität Aufmerksamkeit geschenkt worden sei, obschon die andere Seite, die der Disponierenden, als ebenso wichtiger und zentraler Wirkungsbestandteil dispositiver Anordnungen betrachtet werden müsse. Dies leuchtet zunächst mit Blick aufFoucaults Studien zum Wahnsinn, zur Klinik, zum Gefangnisdispositiv und zur Frage danach, welches Subjekt hier hervorgebracht wird (der Kranke, der >PerverseWissensfelder< werden nun aber entlang der Unterscheidung zwischen konjunktivem und kommunikativem Wissen ausdifferenziert. Die Bezugnahme auf Regelsysteme und Normativitäten geschieht dann zweitens aus den impliziten Modi Operandi der Subjekte heraus, womit letztlich drittens deren Selbst-Welt-Bezüge erzeugt werden. Die Existenz in konjunktiven Erfahrungen ist dann nicht nur Vorbedingung von Selbsterkenntnis (vgl. wie oben Mannheim 1980a: 213), sondern >primordialer< Mechanismus von Subjektivierung. Die Frage nach der Einbindung und Unterwerfung des Subjekts in Regel- und Normensysteme und damit nach der Ordnung dispositiver Strukturen, entscheidet sich dann immer entlang des konjunktiven Wissens und der habitualisierten Praxis in ihrer notorischen Spannung zu den ihnen exterioren Normen (vgl. wie oben Bohnsack 2017b: 104) oder, mit Foucault gesprochen, im Verhältnis von Subjekt, Wissen und Normativität (vgl. wie oben Foucault 1984, 2008b). Mit der praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack 20 17b) legt die vorliegende Arbeit damit eine Perspektive auf ihren Gegenstand, die erstens eine Differenz expliziter und impliziter Wissensbestände und deren Fundierung in konjunktiven Erfahrungen systematisch in Rechnung stellt. Praxis innerhalb dispositiver Anordnungen speist sich dann aus den impliziten Wissensstrukturen kollektiver Subjekte im Verhältnis zu normativen Ordnungen. 5 Der an Mannheim geschulte Wissensbegriff berücksichtigt zweitens nicht nur die »Erfahrung und Erfahrbarkeit von Welt« (Bührmann & Schneider 2008b: 72), sondern ebenso die »Pragmatik des Wissensgebrauchs bei der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit« (ebd.), wie sie sich im 5
So fragt auch die praxeologisch-wissenssoziologische Subjektivierungsforschung (vgl. Amling & Geimer 2016; Geimer & Amling 2019) nicht - wie etwa die >governmentality studies< - nach Programmen und expliziten Entwürfen der >MenschenregierungProduzenten< von Erfahrungen und Erfahrungsräumen verstanden werden. Welche Erfahrungsräume nun im Kontext der Schule und ihrer Disziplinierungs- und Subjektzurichtungspraktiken relevant werden, bleibt dabei eine empirische Frage, die unter anderem die vorliegende Arbeit beschäftigt.
2.2.2 Diskurse als Regime des Wissens Der Begriff >Diskurs< leitet sich vom französischen discours (m .) ab, was so viel bedeutet wie >RedeDenkSichtweiseWirklichkeit< stiftendes Geflecht von Aussagen und Bedeutungen, dem immense Strukturierungskraft ftir die Konstruktion sozialer Ordnung zugeschrieben wird. 6 Diskurse erzeugen Wahrheit und Wirklichkeit im Sinne geltenden Wissens über die Welt. Diskursives Wissen ist ein machtvolles Wissen, das soziales Handeln orientiert. Soziale Gegenstände erscheinen dann nicht mehr als prädiskursiv gegeben, sondern erst die Diskurse werden zu ihren Produzenten, indem sie »entlang >machtvoller Regeln»SignifikationsregimeSpezialdiskurse< heraus, die den im jeweiligen Feld vorherrschenden Codes der Produktion von Wahrheit folgen. Spezialdiskurse stehen aber nicht abseits von anderen sozialen Feldern, sondern haben eine partiell re-integrierende Tendenz, die Link als >interdiskursive Wissensproduktion< bezeichnet. Interdiskurse sind Kombinate unterschiedlicher Versatzstücke aus den Spezialdiskursen. Sie stellen Verbindungen zwischen spezialisierten Wissensformen her, die sich dann in begrifflichen >Konnotationsknoten< und Kollektivsymboliken 7 ausprägen (vgl. ebd. 228f.; zur Kollektivsymbolik vgl. auch Link 2012). In Interdiskursen werden spezialdiskursive Elemente popularisiert, was wiederum den Anschluss dieser Wissensbestände an alltagsweltliche Bezüge und umgekehrt ermöglicht (vgl. Waldschmidt et al. 2008: 321f.). Denn Diskurse differenzieren sich auch entlang einer zweiten, stratifikatorischen Achse der Wissensdifferenzierung aus (vgl. Link 2007: 231 f.). Auf dieser >abwärts-vertikal< gegliederten Achse folgen unterschiedliche diskursive Stufen aufeinander. Einer stärker >elaborierten< Stufe (versehen mit Attributen wie >informiertgebildetintellektuellelementareAspektstruktur< von Aussagen ein Grundgerüst der Analyse diskursiver, gesprochener wie vertexteter Semantiken und Weltauslegungen in ihrer sozialen Verankerung vorgelegt hat (vgl. Srubar 2009: 281ff.). So existiert bei Mannheim ein Verständnis nicht nur des Konstruktcharakters von Wissen, sondern auch seiner machtvollen Effekte. Sinnbildende Prozesse sind bei ihm ebenfalls solche der Wirklichkeitskonstruktion. Sie zielen dabei nicht primär auf gegenseitige Verständigung, sondern auf die Durchsetzung von Definitionsmacht und Deutungshoheit (vgl. ebd.: 289). Mit ihrer Trennung von kommunikativ-generalisierendem und konjunktiven Wissen kann diejüngere praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2010, 2017b) 7
Als Beispiele nennt Link (2007: 228f.) etwa die Begriffe »Charakter«, »Entwicklung« und »Wachstum«, die jeweils aus spezifischen Disziplinen/Spezialdiskursen stammen (Psychologie, Biologie, Geschichte, Pädagogik, Kunst), jedoch übergreifend kollektivsymbolische Bedeutungsdimensionen ausbilden, die dem je spezialdiskursiven Streben nach möglichst exakten Definitionen, Abgrenzungen und Bestimmungen letztlich zuwiderlaufen.
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auch an die obigen Ausführungen, insbesondere die Interdiskurstheorie nach Link (2007), anschließen . Wissenschaftliche Spezialdiskurse erscheinen dabei ebenso als Produzenten kommunikativ-generalisierten, den Subjekten reflexiv verfügbaren Wissens, wie gesellschaftlich geteilte Normen und Regelsysteme. Das konjunktive Wissen wäre wiederum der Sphäre der Alltags- und Elementardiskurse mit ihren differenten Logiken der Wissensproduktion zuzurechnen . Die praxeologische Wissenssoziologie stellt die Existenz beider Wissensformen ebenso in Rechnung, wie die motorische Spannungöffentlichen Diskursen< auf sehr ähnliche Weise (neu) bestimmt. Er argumentiert, dass öffentliche Diskurse stets multiple Erfahrungsräume übergreifen, mit denen sie zugleich systematisch in Wechselwirkung stehen (vgl. Nohl2016b: 121). Öffentlichkeit und Diskurs sind damit im weitesten Sinne als milieuübergreifende Rezipierbarkeit modelliert, während das Milieu weiterhin als konjunktiver Erfahrungsraum gedacht wird. Die Denkstile und Weltanschauungen konjunktiver Erfahrungsräume verbleiben in Nohls Entwurf nun aber nicht im quasi-hermetisch abgeschotteten Milieuzusammenhang. Vielmehr, so argumentiert er im Anschluss an Mannheim (1929), streben die >Weltauslegungen konkreter Gruppen< ihrerseits danach, in die >Öffentlichkeit< zu dringen und dort Deutungshoheit zu erlangen (vgl. Nohl 2016b: 120f.). So erscheinen >öffentliche Diskurse< als Konglomerate miteinander konkurrierender, vormals konjunktiver Weltauslegungsarten, als spannungs- und konfliktgeladene, sich permanent verschiebende Sinngeflechte. Daraus ergibt sich die permanente Veränderbarkeit und dauerhafte (Um-)Strukturierung öffentlicher Diskurse, indem konjunktiv verankerte Weltauslegungen oder >Geistesströmungen< diese prägen und gleichsam in erstere zurückwirken (vgl. ebd.: 121). 8 Aus dieser Perspektive weisen dann aber auch öffentliche Diskurse eine vorreflexive Strukturiertheit auf. Nicht nur das konjunktive Wissen ist durch einen »weitgehend impliziten Modus Operandi« geprägt, »sondern auch das diskursive, kommunikative Wissen« (Nohl 2016b: 122). Anschlussfahigkeit zwischen >öffentlichen< und konjunktiven Diskursen ergibt sich dann weniger aus rein inhaltlichen Konvergenzen, als aus strukturellen Homologien zwischen den Modi Operandi der Diskurse einerseits und spezifischer konjunktiver Erfahrungsräume andererseits (vgl. ebd.: 134). 9 Für eine dispositivtheoretische Analyse schulischer Disziplin ergibt sich hieraus zunächst die grundlegende Annahme, dass Schule selbst Ausdruck wie Raum der Manifestation diskursiver Wahrheiten ist. Sie ist in ihrer institutionellen Gestalt und in ihren alltäglichen Praktiken an rechtliche Diskurse gebunden. Die Schule ist 8
Man beachte hier auch die Parallelen zu Links (2007) Theorem des >Kreativzyklus< zwi-
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Damit beschreibt Nohl aus wi ssenssoziologisch-milieutheoretischer Perspektive letztlich
schen Interdiskurs und Elementarkultur. das, was Diaz-Bone (2013), aus der Tradition der französi schen Epistemologie kommend, als >Sozio-Episteme < bezeichnet hat: Eine implizit-vorreflexive Tiefenstruktur des Diskurses (ebd. : 83), die sich jedoch bei Mannheim bzw. Nohl nun aus der Verschränkung von aus konjunktiven Erfahrungsräumen hervorgehenden Einspeisungen in >öffentliche Diskurse Forminvestitionen< thematisiert werden.
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durchwirkt von herrschenden Ideologien, die ihrerseits diskursiv vermittelt sind und in ihr fortlaufend >wahr gemacht< werden. Nicht zuletzt unterliegt die Frage danach, welche Praktiken von Disziplinierung als legitim gelten, der Entwicklung pädagogischer (Fach-)Diskurse (Kap. 3 .2). Schließlich ist schulische Praxis von diskursiv etablierten Differenzen durchzogen, die maßgeblich beeinflussen, welche Normalitätsannahmen im schulischen Raum gelten und die dortigen Praktiken stützen. Nicht zuletzt ist die Schule aber auch ein Ort der Entstehung potentiell neuer diskursiver Formationen. Eine praxeologisch-wissenssoziologische Analyse pädagogischen Machtwissens denkt Diskurse als übergreifende Resonanzräume der Wirklichkeitskonstruktion mit. Auf diese Weise können empirisch rekonstruierte konjunktive Wissensbestände und habitualisierte Praktiken in ihrem Verhältnis zu hegemonialen Signifikations- und Sagbarkeitsregimen beurteilt werden.
2.2.3 Praxis zwischen Fremd- und Selbstunterwerfung Dispositive können sich nicht konstituieren, ohne in Praktiken verwirklicht zu werden. Soziale Praktiken können dabei zunächst basal als »sinnhaft regulierte Körperbewegungen« verstanden werden, »die von einem entsprechenden impliziten, inkorporierten Wissen abhängen« (Reckwitz 2008a: 192). Sie sind in ihrer Körperlichkeit einerseits und in ihrer Verbundenheit mit Artefakten andererseits umfassend an Materialität gekoppelt (vgl. Reckwitz 2003: 290) und gewinnen ihren Sinn erst in den Kontexten ihrer >AufftihrungMachtbesitzTechnologien des Selbst< bezeichnet Foucault zunächst solche Praktiken, durch welche Menschen versuchen, ihr Verhalten an Regeln auszurichten, um den eigenen Zustand zu verbessern. Es sind Praktiken der gezielten Transformation des Subjekts, die nicht zuletzt auch an ästhetischen Aspekten orientiert sind (vgl.
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Foucault 2008b: 1163). Das Ziel dieser aus der griechischen Antike stammenden Praktiken war es also, das Subjekt durch Arbeit an sich selbst in einen Zustand des Glücks und der Vollkommenheit zu führen (vgl. Foucault 1993b: 26). Doch sie wurden im Zuge historischer Entwicklungen sukzessive mit Formen der Herrschaft und Machtausübung verquickt (vgl. Foucault 2008b: 1163f.), sodass Fremd- und Selbsttechnologien keine Gegensätze mehr, sondern systematisch aneinandergekoppelt sind. Selbsttechnologien werden zum Vehikel der Zurichtung - und die Machtverhältnisse sind umgekehrt stets auf die Bereitschaft des Subjekts, sich selbst zu regieren, angewiesen (vgl. Bröckling 2013: 53). Dispositive sind nun jene Netze, in denen die Verquickung der Fremd- und Selbsttechnologien ins Werk gesetzt wird. Denn die Nähe zwischen den Begriffen Dispositiv und Disposition ist keine rein etymologische (vgl. Leitner 2015: 61 , mit Bezug auf die etymologische Argumentation bei Agamben 2008), sondern eine inhaltlich-systematische. Mit >Disposition< bezeichnet etwa Bourdieu eine habituell aufgespeicherte Tendenz zu bestimmten Handlungsweisen, ein Strukturierungsprinzip und eine Erzeugungsgrundlage »von Praxisformen und Repräsentationen« gleichermaßen, die dazu tendiert, »kollektive Regelmäßigkeiten und Anpassungsformen zu erzeugen« (Mautz 2012: 164, mit Verweis auf Bourdieu 1979: 165). Die Inkorporierung von Dispositionen geschieht dabei v.a. durch die »mimetische Teilhabe« (Mautz 2012: 168) an der sozialen Praxis. Dispositionen verweisen als solche demnach aufdie »Verinnerlichung der Äußerlichkeit« (Bourdieu 1987: 102), aufdie Inkorporierung sozialer Strukturen. Und hier zieht wiederum Leitner (2015) die Verbindungslinie von Disposition zu Dispositiv. Dispositive bilden demnach den äußeren Rahmen, das Bedingungsgefüge für die Herausbildung mentaler Dispositionen, welche dann die Subjekte konstituieren. Diese Dispositionen sind umgekehrt die interne Voraussetzung für die Konstitution von Macht durch und in dispositive(n) Anordnungen (vgl. ebd.: 66). Somit ist nicht nur das Subjekt an das Dispositiv, sondern auch das Dispositiv an das Subjekt, seine Praktiken und sein Wissen gebunden. Anders ausgedrückt sind Dispositive jene Netze, in denen den Subjekten habituelle Dispositionen formlieh einverleibt werden. Denn letztlich basiert soziale Praxis zu weiten Teilen auf implizitem und inkorporiertem Wissen. So weist nicht nur Reckwitz (2003) auf das Implizitheitstheorem der Praxeologie hin und gehen Bührmann & Schneider (2008b) in ihrem Dispositivmodell davon aus, dass nichtdiskursive Praktiken lediglich >nicht mehr< Gegenstand diskursiver Konstruktionsprozesse seien, weil sie sich soweit sedimentiert hätten, dass sie zu habitualisiertem Wissen geworden seien (ebd.: 100, Herv. i. 0.) 10 , sondern auch die praxeologische Wissenssoziologie fußt grundlegend auf der Annahme der Implizitheit handlungsleitenden Wissens (vgl. Bohnsack 2010, 20 17b ). Die habitualisierte Praxis der Subjekte dokumentiert sich dabei einerseits in konjunktiven Begriffsbildungen, die Bohnsack (2017b: 143f.) als proponierte Performanz bezeichnet, sowie andererseits in Formen der Interaktion zwischen Subjekten, wofür Bohnsack den Begriff der performativen Performanz prägt (vgl. auch ebd.: 93f.). Die praxeologische Wissenssoziologie stellt I 0 Umgekehrt seien aber auch jene nicht-diskursiven Praktiken von Interesse, die »noch nicht« (vgl. Bührmann & Schneider 2008b: I 01 , Herv. i.O.) Gegenstand diskursiver Formierungen sind. Hier könnte deren materiale dispositive Hervorbringung in ihren Konsequenzen und Funktionen für Akteur*innen aufschlussreich sein (vgl. ebd.).
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damit die Fundiertheit der Praxis durch implizites Wissen systematisch in Rechnung und macht sie zum Zielpunkt der Analyse. Dabei wird aber gerade nicht von der >stummen Praxis< auf das dahinterliegende Wissen geschlossen, also keine im weitesten Sinne >nicht-diskursiven< Praktiken rekonstruiert, sondern bleibt die sprachliche Äußerung die Datenbasis, ausgehend von der nun die Logik der Praxis, ihre implizite Struktur, ihr >Modus Operandi materieller Objektivationen< mit Diskursen und Praktiken (vgl. Bührmann & Schneider 2008b: 103ff.). Mit Blick auf Disziplinierungen im Dispositiv Schule werden Objektivationen insbesondere in zwei Ausprägungen relevant: als Artefakte des Gebrauchs durch die Subjekte sowie als übergeordnete, räumlich-architektonische Strukturen. Dispositivtheoretisch sind Objektivationen hinsichtlich ihrer Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge sowie hinsichtlich der sich in ihnen und ihrer Nutzung dokumentierenden Subjektivierungswirkungen gleichermaßen von Interesse. Objektivationen sind Materialisierungen von Sinn, die, einmal produziert, weiter im Kontext sozialer Beziehungen prozessieren, sie strukturieren, aber auch in ihnen bearbeitet, genutzt, konsumiert, mit neuen Verwendungsweisen ausgestattet, in neue Interaktionsbeziehungen eingebunden werden (vgl. Bührmann & Schneider 2008b: 104). Die Dinge erhalten einen Doppelcharakter als materielle Gegenstände und als Teil symbolischer Ordnungen (vgl. Dyk 2010: 180ff., im Anschluss an Latour, z.B. 2001 , 2006) und können als Ko-Konstrukteure des Sozialen verstanden werden, insofern sie spezifische Praktiken anleiten oder begünstigen, andere unwahrscheinlicher werden lassen oder verunmöglichen . Im Horizont des >Spatial Turn< in den Sozialwissenschaften (vgl. Döring & Thielmann 2009; Soja 1989) erscheint so auch der Raum als eine Kategorie, die in relationalem Verhältnis zur Praxis steht. Der Raum ist weder als Behälter (vgl. Werten 2005), innerhalb dessen sich soziale Prozesse entfalten, noch als unilateral wirkende >Determinante< des Sozialen vorzustellen. Ebenso wenig ist er ein rein symbolisches Konstrukt, das sich nur und ausschließlich aus Diskursen herleitet (zur Kritik vgl. Belina 2013: 29ff., 37ff.). Raum und Praxis stehen vielmehr in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung und Hervorbringung zueinander. So definiert Martina Löw Räume als »relationale (An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten« (Löw 2007: 95), die im Wechselfeld von >Spacing< und >Syntheseleistung< entstehen (vgl. auch Löw 2001). Der Begriff der (An)Ordnung bezeichnet hier ein Anordnen im Sinne von Platzierungspraxen und kognitiven Verknüpfungen, verweist aber zweitens darauf, dass Räume eine gesellschaftliche Ordnung vorgeben, also etwas im direktiven und imperativistischen Sinne >anordnen< . Räumliche Strukturen bilden sich nun heraus, wenn »die Anordnung von Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von Gütern bzw. Menschen zu Räumen[ ... ] in ReII Dies bezieht sich an dieser Stelle auf Analysen, die - wie in der vorliegenden Arbeit - von sprachlich verfasstem Material ausgehen. Für Bild- und Videoanalysen gilt, dass sie sehr wohl auch >stummeintervenieren< in Denk- und Handlungsweisen (vgl. Lueger & Proschauer 2018 : 11). Das Subjekt konstituiert sich aus dieser Perspektive dann auch über den Gebrauch von und die Beziehung zu Artefakten (vgl. auch Reckwitz 2007: 102f.). Und so spielen Artefakte und Räume auch in schulischen Disziplinierungs- und Subjektivationsprozessen eine Rolle, ob es sich nun um Bücher und andere Medien, um Schreibutensilien oder um schulisches Mobiliar handelt. Sie spuren spezifische Praktiken ein, die das Subjekt in spezifischer Weise anrufen - die Sitzbank als Subjekt des unbewegten Körpers, der Stift als schreibendes, konzentriertes, das Buch als schweigendes, lesendes, die Tafel als aufmerksames Subjekt (siehe Kap. 3). Die Leitfrage nach den symbolischen und materiellen Objektivationen, wie sie Bührmann & Schneider (2008b: 103ff.) formulieren , stellt die Dispositivanalyse nun vor die methodologische Herausforderung, das in den Objektivationen angelegte Wissen zu rekonstruieren (vgl. ebd.: 103). Sie ist demnach darauf angewiesen, die jeweils interessierende Objektivation in ihrer Gestalt sowie ihre Einbindung in die Praktiken und Strukturen des Dispositivs zu erfassen. Auch die praxeologische Wissenssoziologie hat die Bedeutung von Artefakte und artefaktbezogenen Praktiken für soziale Ordnungsbildungen erkannt (vgl. Bohnsack 2017b: 66ff.). Empirische Analysen zeigen hier, wie Subjekte existentielle Beziehungen nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit Artefakten eingehen können (ebd.: 70, zur Rolle von und >Kontagion< mit Artefakten im Kontext Schule vgl. auch Asbrand, Martens & Petersen 2013; Asbrand & Nohl 2013). Einen konkreten methodologischen Vorschlag zur Analyse von Artefakten hat wiederum Nohl (2016a) unterbreitet. Er schließt an den Latourschen Symmetriegedanken sowie an Mead an und schlägt vor,
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Artefakte in den räumlich und zeitlich situierten Transaktionen, in welche »das jeweilige Ding eingebunden ist« (ebd.: 42), zu rekonstruieren. Die vorliegende Arbeit ist nicht artefaktanalytisch angelegt. Jedoch werden die empirischen Analysen zeigen, wie sich Objektivationen im Sinne von Artefakten und Räumen durch die Darstellungen der Akteur*innen ziehen und in ihre Praxen eingewoben sind. Das betrifft sowohl räumliche Strukturen des Ein- und Ausschlusses innerhalb der Schule als auch die Nutzung von Schrift-, Dokumentations-, Lern- und weiteren, zeichenhaft kodierten Artefakten im Kontext schulischer Disziplinierung.
2.2.5 Macht >Macht< stellt nicht nur einen Schlüsselbegriff der vorliegenden Arbeit dar, sie ist auch einer der Dreh- und Angelpunkte dispositivanalytischer Perspektiven. Denn letztlich lassen sich alle oben thematisierten Elemente der Dispositive als Elemente der Macht lesen. In den Sozialwissenschaften ist Macht auf sehr unterschiedliche Weisen definiert worden (für einen Überblick vgl. Imbusch 2012, 2016). In der klassischen Definition nach Max Weber etwa bedeutet Macht »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (M. Weber 2002: 28). Der Kerngedanke dieser Definition liegt in einem Verständnis von Macht als sich eröffnendem Möglichkeitsraum (»Chance«), unterstreicht aber gleichzeitig ihre konflikthafte Dimension. Macht gilt Weber dabei, im Gegensatz etwa zu Herrschaft, als analytisch nicht fassbares, amorphes Phänomen (vgl. ebd.; vgl. ausführlich Neuenhaus-Luciano 2012). Für Luhmann hingegen ist Macht vergleichsweise eindeutig zu bestimmten. Sie ist ihm ein Kommunikationsmedium, das im Interesse des Machthabers liegende Verhaltensweisen beim Machtunterworfenen wahrscheinlicher werden lässt (vgl. Brodocz 2012: 250ff.). Aus einer an Bourdieu geschulten Perspektive wiederum erscheint Macht als Ausdruck sozialer Klassendifferenz. In Gestalt >symbolischer Gewalt< sorgt sie subtil und unterschwellig dafür, dass Unterdrückte die Deutungsschemata ihrer eigenen Unterdrückung übernehmen und somit bestehende Herrschaftsverhältnisse fortschreiben (vgl. Alkemeyer & Rieger-Ladich 2008: 103; Bourdieu & Wacquant 1992: 272). Der Gedanke von der Macht als subtil zirkulierendes System der Einflussnahme führt nun bereits in die Nähe jener Perspektiven, die F oucault entwickelt hat. 12 Er versteht Macht als ein permanent in Bewegung befindliches, fluides, nicht rein repressives, sondern produktives Verhältnis der Zurichtung von Subjekten (vgl. Kneer 2012; Rieger-Ladich 2004). Diesen Gedanken formuliert er erstmals in Überwachen und Strafen, wo es heißt:
12 Dessen Aussagen zur Gestalt der Macht sind das Ergebnis eines analytischen Interesses an der historischen Entstehung des abendländischen Subjekts, wie er selbst herausgestellt hat (vgl. Foucault 2005 : 240). Was unter dem Begriff der Machtanalytik firmiert, ist dann gerade dies: der Vorschlag und der Versuch, Wege zu der Rekonstruktion machtvoller Subjektivierungen zu eröffnen, ohne dabei theoretische Annahmen als unverrückbar und überhistorisch zu setzen (vgl. Dreyfus & Rabinow 1983: 184).
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»Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur >ausschließen unterdrückenverdrängenzensieren abstrahieren< , >maskieren< , >verschleiern< würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion« (Foucault 1994: 243).
In dieser Formulierung sind die Grundannahmen zur Macht konzentriert auf den Begriff gebracht. Macht ist erstens symbolisch, weil sie Wissen hervorbringt. Mit dem Begriff des >Wahrheitsrituals< ist aber noch auf einen zweiten Aspekt verwiesen, nämlich auf jenen der Praxis als konstitutivem Bestandteil von Macht. Macht kann immer nur in actu ausgeübt werden, schreibt Foucault (vgl. 2005: 255) an anderer Stelle. Sie zirkuliert durch die Subjekte, ihr Wissen und ihre Körperpraxis, und strukturiert, wie Menschen im Wechselfeld von Wissensordnungen und Praktiken zu Subjekten werden (ebd.: 240). Macht ist zudem niemals zentriert, an eine Position gebunden oder gar in den Händen einzelner dauerhaft als Besitz verortet, sondern ein Beziehungsgeflecht, das nicht ausschließlich >top downUnterworfenen< immer zugleich (sich selbst und andere) Unterwerfende - sowie die Unterwerfenden ihrerseits Unterworfene der jeweiligen Dispositive (vgl. wie oben Link 2007). In ihrer amorphen Gestalt liegt Macht damit über und quer zu den Subjekten, sie ist netzfdrmig organisiert und geht durch die Subjekte hindurch (vgl. Foucault 1978: 82). Machtverhältnisse haben entsprechend einen gewissen Grad an Freiheit zur Voraussetzung. Im Gegensatz zu Gewaltbeziehungen, die zwingen und zerstören - zumindest mit Zerstörung drohen - , eröffnen Machtbeziehungen Möglichkeiten des Handelns. In ihnen wird nicht unilateral determiniert, sondern auf das Handeln anderer eingewirkt (vgl. Foucault 2005: 255f.). Dies wiederum setzt Subjektfigurationen voraus, die dieses Handeln ermöglichen. Der Andere muss als handelndes und handlungsfähiges Subjekt anerkannt werden (vgl. ebd.: 255)_'3 Die Techniken und Strategien der Macht sind entsprechend vielfältig. Sie schließen ein oder setzen frei, sie können ermöglichen und begrenzen, Handlungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. Macht ist »auf Handeln gerichtetes Handeln« (ebd. : 256). In funktionalen Machtverhältnissen regieren die Subjekte sich damit immer auch im Sinne einer >Führung der Führungen< selbst. Der durch Foucault geprägte Begriff des >Regierens< bezieht sich entsprechend nicht auf Staaten allein, sondern auf alle Felder, in denen Menschen geführt und angeleitet werden, wozu explizit auch pädagogische Verhältnisse gehören (vgl. auch Foucault 2006b: 141). Dass die Macht amorph und flexibel angelegt ist, bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch träge werden, sich einrichten und in spezifischen Zusammenhängen auf Dauer stellen kann. Institutionen, Organisationen und Dispositive sind solche Zusammenhänge. Foucault illustriert dies bezeichnenderweise an der Schule: »Die räumliche Anordnung; die penible Regulierung des schulischen Lebens; die verschiedenen Tätigkeiten, die dort organisiert werden; die verschiedenen Personen, die darin leben oder dort zusammenkommen und jeweils ihre Aufgabe, ihren Platz, ihr
13 Zum Entwurfvon Macht als Netz und Beziehung vgl. auch Foucault (1994 : 38f.).
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Gesicht haben - all das bildet einen >Block< aus Fähigkeiten, Kommunikation und Macht« (Foucault 2005 : 253). In der Gesamtschau ist Macht damit als durchgehend >produktivesmikrophysischen< Praktiken der Disziplinierung und Überwachung; sie zirkuliert zwischen Individuen ebenso wie innerhalb von Institutionen und Organisationen; sie prozessiert im sprachlichen wie nicht-sprachlichen Tun gleichermaßen, sie ist in hierarchischen Verhältnissen ebenso präsent, wie in vordergründig egalitären Beziehungen, sie materialisiert sich nicht zuletzt auch in Artefakten, räumlichen Arrangements und in architektonischen Anordnungen und kann die Gestalt sanfter Führung ebenso annehmen, wie jene von Drill , Zurichtung und Strafe. Macht ist das, was den Dispositiven ihren Zweck und ihre Form verleiht. Sie ist ubiquitär und total: »Eine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen wäre nur eine Abstraktion« (Foucault 2005: 258). Die praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2010, 20 17b) stellt ihrerseits ein Instrumentarium zur Rekonstruktion von Macht bereit. Erstens lenkt sie den Blick grundlegend auf die Verhältnisse von Wissensordnungen. So war bereits Mannheim an der Frage interessiert, wie es spezifischen >Weltauslegungsarten< gelingt, Dominanz und Deutungshoheit gegenüber anderen zu erlangen (s.o. und vgl. Srubar 2009: 289f.). Um die Weltauslegung nämlich, so Mannheim, wird im öffentlich-gesellschaftlichen Raum gerungen, sie ist »Korrelat der Machtkämpfe einzelner Gruppen« (Mannheim 1929: 47). Aber nicht nur im Wissen und in den handlungsleitenden Orientierungen der Subjekte, auch in ihren wechselseitigen Interaktionen (in der performativen Performanz, s.o.), manifestiert sich Macht. Im Phänomen der >Fremdrahmung< etwa sind Macht und Wissen auf das Engste verschmolzen. Fremdrahmungen entstehen immer dann, wenn ein Subjekt oder ein Kollektiv solchen Wissensordnungen unterworfen wird, die nicht seine eigenen, ihm also ursprünglich fremd sind. Sie können sich etwa in Interaktionen zwischen Subjekten zeigen, die ihrerseits unterschiedlichen Erfahrungsräumen angehören - deren Wissen also unterschiedlich sozial eingebettet ist. Wenn Subjekte nun die Orientierungen der anderen durch die eigenen überformen, eben fremd rahmen, dann zeigt sich in mikrosozialen Zusammenhängen das oben benannte Ringen um Weltauslegungen, das hier aber in impliziten Wissensbeständen prozessiert und sich in Praktiken wechselseitiger kommunikativer Bezugnahmen dokumentiert (empirisch vgl. Przyborski 2004: 218-242, 259). Fremdrahmungen existieren aber nicht nur innerhalb konkreter Interaktionen, sondern gehören mithin zum Prinzip von - insbesondere pädagogischen - Institutionen und Organisationen. Dieser Aspekt wird in den organisationstheoretischen Ausftihrungen noch weiterfUhrend behandelt (vgl. Bohnsack 2017b: 244-274). Aber auch die Prozesse des Erziehens und insbesondere des Disziplinierens können als fremdrahmende Prozesse verstanden werden. Amd-Michael Nohl (2018) hat Erziehung aus praxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive als »die nachhaltige Zumutung von Handlungs- oder Lebensorientierungen durch Erzieherinnen gegenüber Zöglingen« (ebd.: 122) definiert. Zumutung bedeutet dabei das Auferlegen von Ori-
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entierung ebenso, wie ein grundlegendes Zutrauen darin, dass der >Zögling< sie übernehmen und umsetzen kann. Diese Zumutungen sind, auch, wenn es sich um explizite Erziehungsabsichten handelt, vorreflexiv fundiert. So strukturieren >Handlungsorientierungen< (ebd.: 127, mit Bezug auf Asbrand 2008: 4) bereits die Wahrnehmung von Erziehungssituationen habituell spezifisch (vgl. ebd.: 127f.). Erziehung ist dann der Anspruch inhärent, dass das disziplinierte Subjekt sein Verhalten in Passung zu den Orientierungen der Erziehenden bringt - dass sich das Subjekt also im Sinne der dominanten Ordnung selbst regiert.
2.3 ERSTE MARKIERUNG DER SCHULE ALS DISPOSITIV DER MACHT Bis zu diesem Punkt wurden die verschiedenen, für die Struktur von Dispositiven tragenden Elemente grundlagentheoretisch ausgearbeitet. Was macht nun aber die Schule zum Dispositiv? Die Entwicklung der Schule lässt sich historisch zunächst bis in die Antike zurückverfolgen (zum Überblick vgl. Adick 2008, hier: 993). 14 In der heute bestehenden Gestalt ist sie allerdings ein Kind der Modeme. In der Modeme nämlich vollziehen sich tiefgreifende sozio-politische und kulturelle Transformationen, aus denen jene Strukturen emergieren, welche die Schule bis heute ausmachen. Zu diesen Transformationsprozessen gehört nicht nur die Entstehung der Kindheit als eigene Lebensphase (vgl. Aries 1977; Honig 2008), sondern insbesondere die philosophischen Entwicklungen der europäischen Aufklärung, die mit ihrem Entwurf des mündigen Menschen (Kant 1784) ein anthropologisches Idealbild entwickelt hat, das zum festen Bestandteil des europäischen Selbstentwurfes werden sollte. Die Aufklärung hat damit wesentliche Grundlagen des modernen pädagogischen Denkens geschaffen (vgl. Tenorth 2008: 78-85). Sie stellt philosophische und normative >Lehrsätze< - spezialdiskursive Wissensordnungen also - bereit, welche das normative Fundament der Pädagogik bilden und in der Schule wirksam werden, die aber andererseits in Widerspruch zu gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen, institutionellen Strukturen und Machtdynamiken geraten können. 15 Zu einem festen Teilsystem der Gesellschaft wird das Schul- und Bildungswesen schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier etabliert sich die Schule als Organisation (vgl. Langenohl 2008: 827ff.) und wird schließlich, im bürgerlichen Zeitalter und im kapitalistischen Wirtschafts- und Herrschaftssystem, zum tragenden
14 Studien aus dem Kontext der historischen Anthropologie zeigen, dass bereits um 3000 v. Chr. in Ägypten und Mesopotamien erste Schulen entstanden sind, deren primäre Aufgabe darin bestand, jungen Menschen bestimmte Fähigkeiten und spezifisches Wissen, allen voran aber die für die Erfüllung gesellschaftlicher Verwaltungs- und Regierungsfunktionen bedeutsame Schrift, zu vermitteln (vgl. Adick 2008). 15 So wird etwa das Humboldt' sche Bildungsideal nicht nur durch bestehende Herrschaftsinteressen gebrochen (vgl. Pongratz 201 Oe: 90-95), sondern trägt seinerseits auch dazu bei, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu begründen und zu stabilisieren (vgl. Ricken 2015: 42-46).
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Element der Reproduktion staatlicher Strukturen. Sie dient dabei nicht nur dem Transfer von Wissen und Qualifikationen, sondern insbesondere auch der ideologischen Zurichtung der Subjekte. Während etwa preußisches Gymnasium und Universität der Ausbildung staatlicher Eliten in Gestalt loyaler Beamter und Funktionäre dienten, ging es im niederen Schulwesen zunächst primär um die Verbreitung eines Bildungsminimums, das aber seinerseits mit ideologischen Momenten verwoben war, die auf »die Indoktrination der Bevölkerung« (Tenorth 2008: 151) zielten. So ist die flächendeckende Vermittlung des Hochdeutschen nicht als humanistisch inspiriertes Alphabetisierungsprojekt zu betrachten, sondern von Anfang an mit der Legitimation und ideologischen Festigung neuer staatlicher Strukturen und ihrer Ordnungsprinzipien verbunden (vgl. Hansen & Tillmann 1991: 137). Denn die Schule vermittelte fortan basale Kulturtechniken und qualifikationsbezogenes Wissen ebenso, wie sie »Nationalbewußtsein und Untertanengeist« (ebd.: 138) verbreiten sollte, und gehört seither zu den Kerninstitutionen des modernen Nationalstaats (vgl. Amos 2016: 196ff.; vgl. auch Adick 2008: 997). 16 Als solche ist sie bis heute strukturell in gesamtgesellschaftliche Reproduktionsvorgänge eingebunden (vgl. Fend 2008 : 4552). Die beschriebenen Strukturen formieren sich dabei historisch um ein sinnlogisches Zentrum : die Normalisierung des Subjekts. Normalität bedeutet dabei zunächst soviel wie Durchschnitt oder Mittelmaß, ist also ein deskriptiver Begriff, während Norm oder Normativität angeben, wie etwas oder jemand zu sein hat (vgl. Sehrader & Wrana 2015: 12). In der Modeme jedoch avanciert Normalität zum Prinzip der Vergesellschaftung. Der Normalismus, wie Link (1999) dieses Phänomen bezeichnet, ist getragen von dem »Glauben an die Normalverteilung, der gleichursprünglich ein Wille zur Normalverteilung ist« (ebd.: 166). Normalität wird damit vom Verteilungsmerkmal zur Beschreibung einer Erwartung (Mecheril 2012: 18) - und die Schule zu jenem Dispositiv, dass diese Erwartung ebenso umsetzen wie Abweichungen von ihr sichtbar machen soll. In der Schule prozessieren hegemoniale Wissensordnungen, die den Subjekten auferlegt, die in den Diskursen, Praktiken, in den Curricula und Lerninhalten, in den Regelhaushalten und materialen Ordnungen des Schulraums gleichermaßen präsent sind. In der Schule werden Schüler*innen zu Subjekten gemacht - und machen sich selbst zu solchen: vermittels Praktiken der Zuweisung von Bildungszertifikaten zu Subjekten in sozialen Klassenpositionen (vgl. Bourdieu & Passeron 1971), durch Praktiken der Disziplinierung zu Disziplinarsubjekten (vgl. Amos 20 16; Pongratz 1995), durch solche des subtilen, en passant sich vollziehenden Vermitteins sozialer Regeln zu Subjekten gesellschaftlicher Ordnung (vgl. Brandmayr 2015; Zinnecker 1975), durch Praktiken der Adressierung und Anrufung zu natio-ethno-kulturell (Nicht-)Zugehörigen (vgl. Mecheril & Rigelsky 2010; Rose 2013). Der Funktion sozialer Kontrolle und Disziplinierung kommt dabei ein ebenso hoher Stellenwert zu (vgl. Amos 2016: 197ff.; Plake 2010: 82ff.; Singeinstein & Stolle 2012: llf.). Disziplinartechniken wurden im historischen Verlaufnicht nur in 16 Die im öffentlichen Schulwesen betriebene »politische Formierung der Individuen zu Staatsbürgern« (Radtke 2008: 656) gehört dabei zu jenen Strukturprinzipien, die sich global vergleichsweise einheitlich beobachten lassen (vgl. ebd. : 656f ; Adick 2008: 996-1000; historisch vgl. auch Meyer, Ramirez & Nuhoglu Soysal 1992).
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Schulen eingesetzt, sondern mithin in ihnen entwickelt, verändert und verfeinert. Die Schule wurde selbst zum >Labor< und Experimentierfeld neuer Formen und Instrumente der Disziplin. Von den Klosterschulen des Mittelalters über die Philanthropine und Industrieschulen des 18. bis zu den Gymnasien und Elementarschulen des 19. Jahrhunderts werden Instrumente und Techniken von Strafe und Belohnung, Übung und Drill, Beobachtung und Analyse, Überwachung und Kontrolle erprobt und verändert, die das Netz der Optionen schulischer Verhaltenszurichtung immer weiter ausdifferenzieren (vgl. Gstettner 1981; Hnilica 2010; Pongratz 1989; Stechow 2004, siehe auch Kap. 3.1). Das Schuldispositiv, so urteilt Ludwig Pongratz, entstand allererst »als historische Antwort auf das Disziplinierungsproblem gelehriger Körper« (Pongratz 2011 : 146). Diese kurze Skizze historischer Entwicklungen macht deutlich, dass die Schule nicht >aus einem Guss< entstanden ist, sondern dass sie sich in ihrer gesamten Gestalt hoch wechselhaften, dynamischen Entwicklungsprozessen verdankt, die heterogene und teils widersprüchliche soziale Impulse miteinander in Beziehung setzen. Die Schule ist damit idealtypisch als Dispositiv beschreibbar - und die Disziplinierung bis heute als schulische Kernfunktion zu verstehen, die ihrerseits mit Logiken der normalisierenden Subjektivierung verwoben ist. Im folgenden Kapitel wird nun ein Aspekt beleuchtet, der bis zu diesem Punkt der Arbeit noch kaum berücksichtigt wurde. Er schließt an die vorhergehenden Überlegungen an und ist für das hier angelegte Verständnis von Schule von zentraler Bedeutung: die Gestalt der Schule als Organisation, als organisiertes Dispositiv.
2.4 DIE ORGANISATION DER MACHT. ZUR STRUKTUR DER EINZELSCHULE Nachdem nun die grundlagentheoretischen Überlegungen zur Schule als Dispositiv entwickelt worden sind, geht es im Folgenden darum, die Position der Einzelschule im Dispositiv schulischer Zurichtung zu bestimmen. Die grundlagentheoretische Klammer bilden dabei weiterhin die Arbeiten Foucaults sowie die praxeologische Wissenssoziologie, die nun aber mit Blick aufEinzelschulen als Organisationen rezipiert und mit Organisations- und schulkulturtheoretischen Konzepten vermittelt werden. Zunächst wird die Schule dazu als Organisation bestimmt und anschließend die Bedeutung von organisationalen Milieus sowie von unterschiedlichen organisationalen Interaktionsräumen für schulische Praxis diskutiert. In einem zweiten Schritt wird der Begriff der Disziplinarkultur ausdifferenziert.
2.4.1 Die Schule als Organisation Einzelschulen sind Organisationen. Rein deskriptiv können Organisationen zunächst als soziale Gebilde verstanden werden, »die durch das Zusammenwirken ihrer Mitglieder, spezifische Zweckorientierungen, geregelte Arbeitsteilung, beständige Grenzen und eigene Kultur gekennzeichnet sind« (Göhlich 2011 : 100). Mitgliedschaftsrollen, die an die Schule herangetragene Zweckorientierung, ihre Arbeitsteilungen
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und schließlich die Kultur der einzelnen Schule wirken dabei strukturierend auf die Praxis der in ihr tätigen Akteur* innen. Einzelne Organisationen - und damit: Einzelschulen - sind dabei nicht erst Angriffspunkte oder Wirkungsflächen, sondern basaler Ausdruck moderner Regierungsrationalität. Organisationen werden von sozialen Kräfte- und Machtverhältnissen ebenso hervorgebracht, wie sie selbst als wesentliches Element der Modeliierung und Durchsetzung von Machtpraxis und Subjektivierungsprozessen gelten müssen. Sie sind Ausdruck und produzierende Instanzen von Macht und gesellschaftlicher Realität (vgl. Gertenbach 2014: 161f.). Aber nicht nur sind einzelne Organisationen machtrelevant, sondern ist das Prinzip >Organisation< an sich bereits ein Dispositiv der Modeme, das ganz spezifische Regierungsrationalitäten verbürgt (vgl. Bruch & Türk 2007; Türk, Lemke & Bruch 2006). So verweist der Begriff des Organisierens seiner Bedeutung nach auf das Herstellen geordneter Abläufe und geregelter Strukturen (Türk, Lemke & Bruch 2006: 19). Organisationen sind dann soziale Verbände, die spezifische Zwecke verfolgen und regelmäßig bestimmte Praktiken vollziehen, die zur Erfüllung dieser Zwecke geeignet sind. Organisationen richten sich dabei zweitens nach dem Primat der Rationalität und streben nach Produktivität und Effektivität. Sie bringen drittens die Unterwerfung der Subjekte unter spezifische Hierarchien und die damit verbundene Anforderung zur Selbstdisziplinierung mit sich. Organisation dient der Herstellung sozialer Ordnung, wobei die Imperative von Rationalität, Effektivität, Produktivität und Herrschaft zusammenfallen (vgl. ebd.: 21ff.). Organisationen etablieren sich ferner als Einheiten mit nach außen und innen klar definierten Grenzen. So werden sie zu abstrakten Gebilden, die ihre Mitglieder nicht als >natürliche Personencorporate IdentityOrganisationsdispositiv< zugrunde liegt. Organisationen sind die Verkörperung von Organisation als eigenes >Gouvernement< (vgl. Bruch & Türk 2007: 268), das seine umfassende Wirkung über die »produktive Regulation der Individuen in Form der Strukturierung von Zeit und Raum« (ebd.: 271, Herv. i. 0 .) gewinnt. Die Schule kann dann als Ergebnis der Verschmelzung des Organisationsdispositiv mit anderen Dispositiven - dem Dispositiv der Bildung (Ricken 2015), aber auch einem allgemein auf die Gesellschaft gerichte-
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ten Dispositiv der Disziplinierung und sozialen Kontrolle (Pongratz 2001) - verstanden werden. Für Prozesse schulischer Machtartikulation und Disziplinarkultur ist es entsprechend bedeutsam, die Organisationale Verfasstheit von Schule zu berücksichtigen. Schulen sind, wie alle Organisationen, durch eine Reihe formaler Regeln bestimmt, anhand derer Verhaltenserwartungen an die Mitglieder gerichtet werden. Hierzu zählt die durch Zertifikate nachgewiesene, fachliche und pädagogische Expertise professioneller schulischer Akteur*innen ebenso, wie gesetzliche Regelungen und die jeweils rollenbezogenen Verhaltenserwartungen an alle Mitglieder der Schule, wobei ein Verstoß gegen diese Erwartungen zum (temporären) Ausschluss aus der Organisation führen kann (vgl. Langenohl 2008: 819). E in entscheidender Unterschied zwischen Lehrkräfte- und Schüler*innenrolle besteht dabei darin, dass Lehrer*innen in der Regel aus freien Stücken heraus, Schüler*innen hingegen aufgrund staatlicher Regelungen zu Organisationsmitgliedern werden (vgl. ebd.: 821f.). Sie sind »Insassen der Organisation« (Kalthoff 2019: 222), die ihrerseits vom Organisationspersonal entlang spezifischer Regeln und Routinen klassifiziert, kategorisiert und pädagogisch >bearbeitet< (vgl. ebd.), machtanalytisch gesprochen: in soziale Ordnungen eingepasst werden. Daneben konstituiert sich schulische Praxis aber auch über je organisationsintern entwickelte formale sowie informelle Regeln und Praktiken (vgl. Kalthoff & Kelle 2000), die ihrerseits an unterschiedliche Erfahrungsräume und Organisationale Milieus gebunden sind (vgl. Nohl2007b) - und die nun die konkrete Gestalt einer einzelschulischen Organisation ebenso wie ihre Organisations-, Schul- und schließlich Disziplinarkultur formen . Alle schulischen Prozesse vollziehen sich damit auf dem Hintergrund historisch gewachsener organisationaler Strukturen, welche durch Akteur*innen performiert, dabei aber auch interpretiert und verändert werden können. Die schulische Organisation ist es, die »den Rahmen für das Handeln von Lehrerinnen« (Langenohl 2008: 817) ebenso vorgibt, wie sie den Erfahrungsraum >Schule< für Schüler*innen strukturiert. Deren Übergang in die Schule macht sie damit nicht nur zu >institutionellen< (de Boer 2009a: 105, im Anschluss an Fend 2006: 152), sondern zugleich auch zu >organisationalen< und >organisierten< Subjekten. Im Folgenden sollen drei Aspekte der Organisation und Organisiertheit von Schule thematisiert werden: Das Verhältnis von formalen Regeln, organisationalen Milieustrukturen und Wissensformen, das Verhältnis unterschiedlicher Interaktionsräume in (pädagogischen) Organisationen sowie drittens die >Rahmungsmacht< als eine spezifisch Organisationale Form, Macht auszuüben. Die folgenden Ausführungen bereiten damit das Verständnis von schulischer Disziplinarkultur vor, das im anschließenden Unterkapitel entwickelt wird.
2.4.2 Organisationale Spannungen (1 ): Organisation, Milieu und Wissen Eingangs wurden Organisationen als soziale Gebilde definiert, die sich durch koordiniertes Zusammenwirken ihrer Mitglieder, Arbeitsteilung, Grenzen und eine eigene >Kultur< auszeichnen (vgl. wie oben Göhlich 2011: 100). Die erwähnten, formalisierten Mitgliedschaftsbedingungen zeigen sich in Ge- und Verboten, welche die Unter-
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werfung unter die raum-zeitlichen Strukturen, unter die Systeme der Bewertung, der Zertifizierung und schließlich die meritokratische Ideologie der Schule regeln. Aber auch die verfügbaren und angewendeten Sanktionssysteme und Disziplinarmaßnahmen werden zum Teil von formalen, kodifizierten Regeln bestimmt, wie ein Blick in schulgesetzliche Paragraphen zu Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen in der Schule zeigt. 17 Formale Regelungen stellen den Rahmen der >produktiven Regulation< der Subjekte qua organisationaler Mitgliedschaft her. Somit sind Organisationen zunächst Räume überindividuell >eingeschliffener< und qua Wiederholung auf Dauer gestellter Prozessstrukturen (vgi.Nohl 2007b: 66), ftir deren Existenz und Funktionieren »explizierte formale Regeln eine Bedingung sine qua non« darstellen (ebd.: 66, Herv. i.O.). Der entscheidende Unterschied zwischen Organisationen und Milieus besteht nun in der formalen Mitgliedschaftsrolle und den mit ihr verknüpften Erwartungen an das Verhalten des Mitglieds. Zwar wird es in Organisationen zur Mitgliedschaftsbedingung, formalen Regeln zu folgen (vgl. ebd., im Anschluss an Luhmann 1964: 36ff.), Organisation erschöpft sich aber nicht darin. Aus praxeologischwissenssoziologischer Perspektive basiert Praxis entsprechend gerade nicht auf formalisierten Regeln allein, sondern ergibt sich immer auch aus der Zugehörigkeit zu konjunktiven Erfahrungsräumen und durch habitualisiertes, implizites Wissen (vgl. Bohnsack 2017b; Nohl 2007b: 67). In Organisationen - und damit auch in Einzelschulen - treffen diese beiden Dimensionen aufeinander. Konjunktiv verankerte Orientierungen treten damit in ein Spannungsverhältnis zu den formalisierten Regeln der Organisation. Anders ausgedrückt, verdoppelt sich die Spannung zwischen Habitus und exterioren Normen beim Eintritt in Organisationen (vgl. Bohnsack 20 17a; Bohnsack 2017b: 129ff.). So kann habitualisiertes Handlungswissen die formalen Regeln einer Organisation ebenso reproduzieren und ihnen folgen , wie es sie unterlaufen und brechen kann, sodass sich ein >milieubedingtes Unterleben< innerhalb der Organisation ausbildet (vgl. Nohl 2007b: 67f,V 8 Dieses Unterleben ergibt sich aus einem Hineinragen (vgl. ebd.: 61) gesellschaftlicher Milieus in die Organisation. Habitualisierte Handlungspraktiken sind dann aber nicht per se dysfunktional ftir die Organisation, sondern bilden gerade das Fundament an Wissensbeständen, aus dem heraus die formalen Regeln verstanden und gerahmt werden (vgl. ebd.: 68), was zu Passungen ebenso wie zum Unterlaufen und Brechen dieser Regeln fUhren kann. Bei Nichtvorhandensein milieugebundener Routinen des Umgangs mit Regeln können sich in Organisationen zudem >informelle Regeln< neu herausbilden. Sie entstehen in der Praxis selbst und funktionieren als eine Ergänzung formaler Regeln, die es aber erst ermöglicht, sie handhabbar zu machen (vgl. Nohl 2007b: 69). Ähnlich den milieugebundenen Praxen bedürfen sie nicht der Explikation, sondern werden durch die mimetische und vorreflexive Übernahme beobachteter Praxis eingespurt, wodurch sie sukzessive in das »Vorbewusstsein« der Akteur*innen absinken (ebd.:
17 Vgl. exemplarisch etwa das Schulgesetz Niedersachsen §61 CErziehungsmittel und Ordnungsmaßnahmen) oder das Schulgesetz NRW § 53 (Erzieherische Einwirkungen, weitere Ordnungsmaßnahmen). 18 Der Begriff des Unterlebens stammt dabei von Gofiman (vgl. 2014: 185).
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70). 19 Im Gegensatz zu den Milieus in Organisationen, die >von außen< in die Organisation hineingelangen, entstehen auf diese Weise neue Organisationsmilieus innerhalb der Praxis selbst. Organisationale Milieus in der oben beschriebenen Form bilden dann die >stabilen Untereinheiten< der Organisation, weil in und aus ihnen heraus die jeweilige pädagogische Praxis entlang konjunktiver Orientierungen strukturiert wird. Ihr Verhältnis strukturiert letztlich die kulturellen Ausformungen der einzelnen Organisation (vgl. Bohnsack 2017a: 246). Dabei treten unterschiedliche Organisationale Milieus in ein unentwegtes Ringen um Deutungshoheit, sodass in pädagogischen Organisationen letztlich spezifische Milieus in die dominante Position gelangen können, andere dafür in unterlegene Positionen gedrängt werden und ihre milieubedingte Rahmung der Regeln nicht durchsetzen können (vgl. Nohl 2007b: 69). Obschon formale Regeln in organisationalen Zusammenhängen also hoch bedeutsam sind, wird ihnen mit den obenstehenden Überlegungen letztlich der niedrigere Erklärungswert für die Logik sozialer Praxis zugewiesen. Das wiederum könnte im Umkehrschluss zu der Annahme verleiten, dass Organisationen gar nicht als solche existieren, sondern in sich in Milieus >zerfallen< (vgl. Amling 2017a: 105). Aus diesem Grund hat die Setzung des >lmplizitheits-Primats< auch in der praxeologischwissenssoziologischen Organisationsforschung Irritationen erfahren, weshalb sich neben diesem ersten Theorem ein zweiter Ansatz der Analyse organisationaler Praxis herausgebildet hat (für einen Überblick vgl. Amling 2017b). Dieser Ansatz firmiert unter dem Begriff der Polykontexturanalyse (Jansen, Schlippe & Vogd 2015; Jansen & Vogd 20 17; Vogd 201 0) und macht die These stark, dass Organisationen sich gerade durch die Relevanz expliziten Wissens als Teil handlungsleitender Orientierungen auszeichnen (vgl. Jansen & Vogd 2017: 261) und dass in Organisationen wiederum hoch heterogene, verschiedenen logischen Bereichen zugehörige >soziale Räume< gleichzeitig existieren. Diese Räume sozialer Praxis werden in Anlehnung an Gotthard Günther (1979; 1976) als >Kontexturen< bezeichnet. Die Organisation ist dann ein >polykontexturales< Gebilde und ihre Praxis als »ein Prozessieren verschiedenster manifester wie latenter Räume [... ], die reflexiv ineinander verschachtelt werden« (Jansen & Vogd 2017: 261), zu verstehen. Die Bearbeitungen der Verhältnisse von Kontexturen werden dann als transjunktionale Operationen bezeichnet (vgl. ebd.: 268, dort mit Verweis auf Günther 1976).
19 Nohl (2007b) nennt das Beispiel einer neuen Lehrkraft, die durch Beobachtung und Mimesis im praktischen Vollzug lernt, wie in der gelebten Praxis mit formalen Regeln des Verhaltens auf dem Pausenhof umgegangen wird (vgl. ebd.: 70).Ein ähnliches Beispiel, das sich unmittelbar auf schulisches Disziplinarhandeln bezieht, ist bei Weilgraf (2018: 174f) dokumentiert. Er zeichnet nach, wie eine Lehrerin innerhalb einer Schule, an welcher es zur Routine gehört, >Strafnoten< als Disziplinierungsmittel einzusetzen, diese Praxis entgegen ihrer eigentlichen Überzeugung sukzessive übernimmt. Was Weilgraf als institutionelle Überformung erzieherischer Leitbilder liest (vgl. ebd.: 175), kann auch als eine Form der oben beschriebenen mimetischen Übernahme interpretiert werden, die nun sogar eine Praxis einspurt, welche sich durchsetzt, obwohl sie dem ursprünglichen Habitus der Lehrerin diametral entgegenläuft.
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Auf die Schule gewendet scheint diese Modeliierung unmittelbar einsichtig. Hier sind bereits bei oberflächlicher Betrachtung eine ganze Reihe unterschiedlicher logischer Räume, unterschiedlicher Kontexturen, auszumachen (man denke an Professionslogiken, Praktiken des Lehrens, Erziehens, Bewertens, soziale Formen wie Unterricht, Pausen, etc.). Es bleibt jedoch letztlich eine empirische Frage, ob, und, wenn ja, in welcher Form, unterschiedliche Handlungsräume und Wissensformen im Kontext organisationaler Praxis bedeutsam sind. In der Gesamtschau erscheint die Schule somit als eine Organisation, die vor allem zwei Spannungsfelder vereint. Das erste Spannungsfeld zwischen formalen Regeln und habitualisierter Praxis lässt sich machttheoretisch auch als Spannung zwischen übergeordneten, mithin staatlich und administrativ gesetzten Regelungen und organisationsinternen Routinen oder Kulturen lesen. Foucault selbst hat diese Spannung zwar nicht explizit thematisiert, jedoch insofern herausgestellt, als seine Analysen insgesamt zeigen, dass der staatliche Souverän in der Disziplinargesellschaft zunehmend in den Hintergrund tritt und Macht insbesondere auf der Ebene von Institutionen und Organisationen, eben >mikrophysisch< oder als >Mikro-Justizunterhalb< formaler Regeln wären dann eine Form der Aushandlung dieser Mikro-Justiz. Das zweite Spannungsfeld des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Organisationsmilieus ist insofern machtanalytisch relevant, als es sich in einen Kampf um organisationale, schulkulturelle Deutungshoheit verlängern kann. Macht prozessiert damit nicht mehr nur primär in der Rahmung von Individuen durch die Organisation entlang hierarchischer Differenz, sondern auch in einem Ringen zwischen Subjekten innerhalb hierarchischer Ebenen. Die Frage, welche Disziplinarkultur eine Schule auszeichnet und wie pädagogische Macht in ihr prozessiert, entscheidet sich dann maßgeblich daran, welche(s) Milieu(s) sich in organisationalen Deutungskämpfen durchsetzen kann bzw. können.
2.4.3 Organisationale Spannungen (2): interaktive Erfahrungsräume organisationaler Praxis Neben dem Aufeinandertreffen organisationaler Milieus laufen in Organisationen auch unterschiedliche Handlungsanforderungen zusammen und existieren entsprechend unterschiedliche Organisationale Handlungsräume. Zu denken wäre mit Blick auf die Schule etwa an unterschiedliche soziale und hierarchische Gruppen - Schulleitung, Lehrer*innenkollegium, sozialpädagogischer Bereich, >Peer Culture< - sowie an die mit diesen verbundenen Praktiken, etwa des Unterrichtens, der Bewertung, des Kontakts mit außerschulischen Akteur*innen und anderen Organisationen. Diese unterschiedlichen Räume erscheinen ihrerseits als eigene Erfahrungsräume, die nun, im Gegensatz zum abstrakten Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums, primär interaktiver wie gruppenspezifischer Art sind und sich durch Face-to-FaceInteraktionen konstituieren (vgl. Bohnsack 2017b: 128). Mit Bohnsack können drei solcher interaktiven Erfahrungsräume unterschieden werden: Er beschreibt ( 1) den Erfahrungsraum der Interaktion von Organisationsmitgliedern mit ihrer Klientel (vgl. ebd.: 132). In diesem Interaktionsraum vollzieht sich das Kerngeschäft von Organisationen, indem hier die Organisationsmitglieder mit den
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Adressat*innen der organisationalen Praxis interagieren. Diesen Erfahrungsraum grenzt er von einem (2) zweiten interaktiven Eifahrungsraum der Dokumentation über die Klientel ab. Dieser Raum konstituiert sich über Praktiken der Aktenführung und Datengenerierung innerhalb der Organisation. Im Gegensatz zum ersten Erfahrungsraum interagieren hier die Organisationsmitglieder mit der Akte sowie den Adressat* innen der Akte, bei denen es sich in der Regel um andere Professionelle handelt (vgl. ebd.). Akten dienen der Informationsspeicherung über Subjekte als >Fälle< ebenso, wie sie Organisationales Handeln festhalten und gleichzeitig legitimieren. Sie sind Analyse-, Dokumentations- und Kommunikationsmedium gleichermaßen (vgl. Erne 2017: 53). In der Aktenführung bleibt das Subjekt stumm, steht aber gleichsam als Objekt im Mittelpunkt der Wissensproduktion. Ein dritter (3) Erfahrungsraum konstituiert sich nach Bohnsack (2017b: 132f.) als Raum der Interaktion der Mitglieder untereinander. Gemeint sind damit die Interaktionen der Professionellen abseits der Arbeit mit ihrer Klientel. Zu denken ist hier an informelle Interaktionen ebenso wie an ritualisierte und formalisierte Arrangements (etwa Sitzungen und Besprechungen). Sie sind nicht unmittelbar auf die Klientel der Organisation gerichtet, haben aber mittelbar, etwa im Sinne von Entscheidungen, Einfluss auf die Praxis der Organisation. Organisationen fragmentieren sich demnach nicht nur entlang ihrer (organisationalen) Milieus, sondern zudem entlang unterschiedlicher Interaktionsräume, die durch ihre eigenen Logiken strukturiert sind, aber nicht unabhängig voneinander stehen. Vielmehr sind sie miteinander verwobene »reflexive Erfahrungsräume« (ebd.: 121), deren »gemeinsame Erlebnisschichtung« (ebd.) sich aber aus der Bearbeitung der Verhältnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher Erfahrungsräume, Milieus und institutionalisierter Normen ergibt (vgl. ebd.). Die von Bohnsack getroffene Unterscheidung dreier interaktiver Erfahrungsräume ist für die Bestimmung und Analyse schulischer Disziplinarkulturen instruktiv, weil sie den Blick auf die Zirkulation von Macht über diese Interaktionsräume hinweg lenkt und sie praxeologisch-wissenssoziologisch greifbar macht. Die Organisation Schule betreffend sind jedoch theoretische Nachjustierungen in zweierlei Hinsicht notwendig. Erstens ist die von Bohnsack zentral gestellte Differenz von Organisationsmitgliedern und Klientel für die Schule nicht trennscharf. Sie mag dort zutreffend sein, wo Interaktionen zwischen pädagogischem Personal und außerschulischen Akteur*innen betrachtet werden. Spätestens aber, wenn Interaktionen zwischen Lehrkräften und ihren Schüler* innen in den Blick rücken, verliert sie an analytischer Präzision. Denn schließlich sind Schüler*innen zwar Teil der >Klientel< ihrer Schule. Sie sind aber, im Gegensatz etwa zu den Adressat*innen vieler Organisationen der sozialen Arbeit, gleichzeitig auch deren Mitglieder. So ist die Unterscheidung zwischen den Erfahrungsräumen 1 und 3 in der von Bohnsack vorgeschlagenen idealtypischen Struktur nicht mehr gegeben, weil die Grenzen zwischen Interaktionen der Mitglieder mit der Klientel der Organisation und den Interaktionen der Mitglieder untereinander verschwimmen (hierzu vgl. auch den kurzen Verweis bei Bohnsack 2017b: 134). Zweitens braucht es eine machttheoretische Nachjustierung, welche die Position der Subjekte innerhalb dispositiver Anordnungen berücksichtigt. Daher wird hier vorgeschlagen, die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und >Klientel< durch die Unterscheidung von disponierenden und disponierten Subjekten im Sinne
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von Link (vgl. wie oben Link 2007) zu ersetzen. Die analytische Differenz verläuft dann nicht mehr entlang der Frage von Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft, sondern entlang der Frage nach der Verftigbarkeit über die Klaviatur bzw. die instrumentelle Topik des Dispositivs (vgl. ebd.: 221) sowie schließlich entlang der Frage nach den hierarchischen Positionen und Strukturen innerhalb der Organisation. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine Reihe, je nach empirischer Relevanz weiter auszudifferenzierender, möglicher organisationaler Handlungs- und Erfahrungsräume. Im vorliegenden Fall und in den empirischen Analysen werden insbesondere drei Ausprägungen relevant: Die erste ist jene der Interaktionen zwischen den professionellen Akteur* innen, also insbesondere zwischen den Lehrkräften, Schulleitungen und weiteren pädagogischen Mitarbeiter*innen. Diese Ebene entspricht der Erfahrungsraumkategorie 3 nach Bohnsack (Interaktionen zwischen Mitgliedern) noch am ehesten, insofern diese in Sohnsacks Modell bereits nahelegt, dass die Adressat*innen der primären organisationalen Praxis (hier: Erziehung, Disziplinierung) in diesen Interaktionen nicht präsent sind. Hier interagieren die disponierenden Subjekte miteinander, es ist der Interaktionsraum des Subjekt-Pols (vgl. wie oben Link 2007: 22lf). Dabei bleibt aber in Rechnung zu stellen, dass die Subjekte sich hier auch gegenseitig disponieren können, dies ist aber nicht die primäre Logik dieses Raums. Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen sind dann als Interaktionen zwischen disponierender und dispanierter Subjektivität, zwischen Subjekt- und Objekt-Pol im eigentlichen Sinne zu beschreiben. Beide sind Mitglieder der Organisation, jedoch ist die Überschreitung der Differenz zwischen den Ebenen der beiden Subjektivitäten der konstituierende Aspekt dieses zweiten ftir diese Arbeit bedeutsamen Interaktionsraums. Er wird hier als Interaktionsraum des Disponierens bezeichnet. In ihm wird der subjektivierende >Kernauftrag< des schulischen Machtdispositivs realisiert. 20 Interaktionen von Schüler*innen und schulischen Peergroups untereinander wären dann Interaktionen innerhalb des Objekt-Pols, also zwischen den disponierten Subjekten. Dieser dritte Interaktionsraum kommt auch ohne das unmittelbare Einwirken der Pädagog*innen zustande. Durch die Analysen in diesem Interaktionsraum, der hier als Interaktionsraum des Objekt-Pols bezeichnet wird, kann rekonstruiert werden, in welcher Weise sich Schüler* innen zur schulischen Disziplinarkultur in ein Verhältnis bringen. Methodologisch bietet sich hier der Anschluss an die
20 Eine Analyse der Praxis in diesem Raum kann prinzipiell auf zweierlei Weise erfolgen. Die erste besteht in der Rekonstruktion von Praxis ausgehend von Datenmaterial mit Akteur* innen jeweils einer der beiden Gruppen. Dabei werden die Modi Operandi der Disziplinarpraxis und der Verhältnisbildung zur schulischen Ordnung systematisch rekonstruiert und so eine Aussage über die darin eingelagerten Enalproduktive Macht< beschreibt. Organisation ist eine Form der Machtausübung inhärent, die sich nicht auf eine spezifische soziale Sphäre (etwa: den Staat) zurückführen lässt, sondern die Formen und Modalitäten der Macht aus unterschiedlichen Bereichen des Sozialen bezieht. Machtausübung im Dispositiv der Organisation ist produktiv, sie wirkt als kontrollierende Macht, ist dabei aber gleichermaßen »auf die Entfaltung von Kräften mittels besonderer Allokationspraktiken gerichtet« (Bruch & Türk 2007: 271). Bohnsack (20 17b) beschreibt nun eine Form der Machtausübung, die er als spezifisch für Organisationen bestimmt und als Rahmungsmacht bezeichnet. Dabei schließt er in seinen Ausführungen zum einen an Überlegungen Luhmanns (1975), zum anderen an die Ethnomethodologie der Chicagoer Schule sowie drittens an Foucault (1994) an. Ausgangspunkt ist dabei auch bei Bohnsack der Gedanke, dass Macht nicht Eigenschaft eines Individuums ist, sondern sich in der Zirkulation von Wissen und Zuschreibungen an die Subjekte manifestiert. Macht prozessiert in Organisationen demnach »im Sinne einer Codestruktur, einer codespezifischen Transformation, einer Neurahmung, welche für mindestens einein der Beteiligten eine Fremdrahmung, das heißt eine nicht selbst eingebrachte Rahmung seiner eigenen Praktiken[ ... ] darstellt« (vgl. Bohnsack 2017b: 246f.). Macht als Fremdrahmung bedeutet damit, dass ein Subjekt durch Kategorien und Wissen überformt wird, die nicht seine eigenen sind, sondern der Logik der Organisation folgen. Dieser Prozess der Fremdrahmung wurde oben (Kap. 2.4.4) bereits angesprochen. In Organisationen vollzieht er sich nach Bohnsack in einem dreischrittigen Kreislauf, der aus >Erst-CodierungZweit-Codierung< und >struktureller Invisibilisierung< besteht. Die Erst-Codierung wird dabei als »konstituierende Rahmung« (ebd.: 247) begriffen, weil sie für Organisationen unerlässlich, eben »von konstitutiver Bedeutung« ist (ebd.: 135). Es handelt sich bei Erst-Codierungen um reduktionistische, selektive Zuschreibungen an durch Organisationen adressierte Akteur*innen. Auch die Schule basiert auf einer ganzen Reihe solcher Erst-Codier-
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ungen . Sie zeigen sich prominent in der Attribuierung der Schüler*innenrolle an die Kinder und Jugendlichen, womit diese nicht als >ganze PersonPoliceywissenschaft< und Pastoralmacht stammen (vgl. ebd.: 295ff.). In der Regierung der Sexualität im Kontext der Schule treffen sich die Sortierungsund Einschließungspraktiken der Disziplinarmacht mit den Geständnisproduktionen der Pastoralmacht (vgl. Meyer-Drawe 2013: 165ff.). Und auch in den Schulen Montessoris werden subtile Zwangsmechanismen etabliert (vgl. Skiera 2018: 131-134), wird systematisch Wissen produziert und angehäuft, das biopolitischen Disziplinierungen dienlich ist (vgl. Grabau 2013: 300; zu Montessori und Ellen Key vgl. auch Reiß 2012). Auch Reformpädagogik zielt damit auf die Normalisierung des Kindes, ist darauf gerichtet, Abweichungen oder >Deviationenbiopolitische Unterrichtspraktiken< durchgesetzt, die bis dato stillgelegte und fixierte >Kinderkräfte< nicht mehr unterdrücken, sondern systematisch in subtile Lern- und Disziplinierungsformen einbinden (vgl. Caruso 2009.: 336f.). Schließlich zeigt sich der biopolitisch-pastorale Modus auch in den Techniken des Strafens und Disziplinierens, welche ihren Blick nun auf Motivationen, Dispositionen und Sozialformen richten (vgl. Pongratz 1995: 190). An die Stelle der Bestrafung durch die Lehrkraft tritt in der Reformpädagogik die Erziehung durch die schulische Gemeinschaft womit die drohende Ausschließung aus dieser Gemeinschaft zur höchsten Strafe wird (vgl. ebd.: 192). Die Fremdbestimmung anonymisiert sich, sie ist nicht mehr sichtbar, wirkt daher aber um so tiefer (vgl. ebd.: 194), und die Individuen »können
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sich als Subjekte von Prozessen erleben, denen sie dennoch vollständig ausgeliefert bleiben« (ebd.: 191). Mit der Herausbildung gouvernementaler Regierungstechnologien ist der Grundstein für die spätmodernen, neoliberalen und Ökonomistischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Gesellschaft, Bildungswesen und schulischen Disziplinarpraktiken gleichermaßen gelegt. 5 Vielfach wird diese Entwicklung dabei als tiefe Zäsur in den gesellschaftlichen und pädagogischen Machtartikulationen interpretiert. So findet sich der Gedanke einer umfassenden Ökonomisierungen des Sozialen beispielsweise auch in Gilles Deleuzes Modell der >Kontrollgesellschaft< (Deleuze 1993). In der Kontrollgesellschaft geht die Selbstunterwerfung des Subjekts so weit, dass die Einschließungsmilieus als Signum der Disziplinargesellschaft obsolet werden. Wo das Subjekt der Disziplinargesellschaft von Einschließungsmilieu zu Einschließungsmilieu >weitergereicht< wurde (von der Schule in die Fabrik), flexibilisiert und totalisiert die Kontrollgesellschaft das ökonomische Prinzip und verlagert es in die Subjekte hinein. Von >>Uitraschnellen Kontrollformen« (ebd.: 255) ist die Rede, von der Verdrängung der Fabrik durch das Unternehmen und des Examens durch permanente Kontrolle und fortlaufenden Wettbewerb (vgl. ebd.: 257). Deleuze diagnostiziert damit einen historischen Bruch, eine Ablösung der Disziplinar- durch die Kontrollgesellschaft (vgl. ebd.: 255). Dieser Gedanke ist nun auch in der Erziehungswissenschaft - häufig in produktiver Vermittlung mit gouvernementalen Analyserastern - rezipiert worden. So reflektiert Pongratz (2004) die Position der Schule »zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft« und verweist hier insbesondere auf die Machtwirkungen ökonomisierender Impulse neoliberaler Provenienz, die er nicht zuletzt auch in aktuellen politischen Steuerungslogiken des Bildungswesens am Werk sieht. Pongratz (2015) wiederum liest das Disziplinierungsinstrument des >TrainingsraumsPsychopolitik< (Han 2014), trete die Kontrolle der Psyche vermittels biopolitischer Dispositive der diagnostischen Datenproduktion und -verarbeitung. Die neue Kontrollkultur folge dem »Primat des Messund Zählbaren« (Amos 2016: 204), ihr primärer Wirkungsmechanismus liege in der 5
Die Tendenz der fortlaufenden Ökonomisierung zeigt sich in Bildungsreformen (Höhne 2012, 2015 ; Pongratz 2014), Prinzipien >neue Steuerung< im Bildungswesen (Bellmann 2007; Massehelein 2006; Weiß 2001), Wettbewerbslogik, Vermessung und Leistungsvergleichen (Radtke 2003) und nicht zuletzt am Einfluss privatwirtschaftlicher Akteure und Agenturen im Kontext globaler Schulstrukturen (Ball 2012) gleichermaßen. Letztlich trägt auch die empirische Bildungsforschung ihren Teil zur Legitimierung und Aufrechterhaltung von als >gouvernemental< zu bewertenden Wettbewerbslogiken bei (Damm er 20 15) und entpuppen sich selbst die Prinzipien des >lebenslangen Lernens< unterhalb ihrer neuhumanistischen Rhetorik als Programme ökonomistischer Subjektivierung (Pongratz 2002, 2010b).
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vollständigen Selbstunterwerfung des Menschen unter die herrschenden Diskurse durch >intrinsische Kontrolle< (vgl. ebd.: 206). Dies bedeutet nicht, dass der Körper aus der Kontrollkultur verschwindet; ihm tritt aber ein neues Tableau >psychischer Disziplinierung< zur Seite, welches Fremd- und Selbstdisziplinierung immer weiter miteinander zu verschmelzen vermag (vgl. ebd.: 203f.). In der Gesamtschau zeigt sich damit das Bild einer historischen Ausdifferenzierung von Machtformationen, die mithin konträre Logiken der Subjektivierung bedienen und, vereinfacht gesprochen, zwischen den Polen harter, um den Körper kreisender Disziplinierung und weicher, auffreie Individuen zielender Regierung changieren. In all ihren Facetten sind diese Machtformationen mit dem schulischen Dispositiv verwoben . Disziplinarmacht, Pastoralmacht, biopolitische Gouvernementalität und Kontrollgesellschaft bemächtigen sich damit nicht einfach der Pädagogik, sondern werden durch diese be-mächtigt. Sie fUhren Strategien, Taktiken, Technologien, Diskurse und Instrumente der Disziplinierung ebenso einer Pädagogisierung zu, wie sie vermittels ihrer Pädagogisierung gesamtgesellschaftlich stabilisiert werden. Hinsichtlich der Transformationen der Machtverhältnisse wäre es aber verkürzt, von einem einseitigen Bruch, einer »gradlinigen Ablösung einer Gesellschaftsform durch eine andere« auszugehen (Stehr 2007: 29). Dies hat weder Foucault selbst so gesehen (vgl. Foucault 2006b: 161; Stehr 2007: 30), noch würde diese These aktuellen empirischen Befunden standhalten, die z.B. deutlich machen, dass Bestrafung im Zuge neoliberaler Umbrüche wieder zum salonfähigen Modus der Regierung von Armut geworden ist (vgl. Wacquant 2011). Vielmehr stellen Disziplinarmacht, Gouvernementalität und Kontrollgesellschaft historisch gewachsene Prinzipien der Regierung der Subjekte dar, die je verschiedene Logiken von Subjektivierung offerieren und einspuren, ohne sich dabei vollends gegenseitig zu ersetzen. Historisch gewachsen ist damit nicht eine Reihe sich nacheinander ablösender Machtformationen, sondern ein breites Interferenzfeld möglicher Artikulationen von (pädagogischer) Macht. Es handelt sich um einen breit aufgefächerten Spannungsbogen der Machtformationen, der in verschiedenen Kontexten der Praxis spezifisch ausgehandelt wird. Wenn im Folgenden der Stand der Forschung zu Disziplinierung in der Schule aufgearbeitet wird, bildet ebendieser Spannungsbogen von Disziplinarmacht und (neo-)liberaler Gouvernementalität die tragende Hintergrundfolie.
3.2 MACHTDISKURSE. DAS PÄDAGOGISCHE SPRECHEN ÜBER DISZIPLIN ZWISCHEN GOUVERNEMENTALISIERUNG UND PUNITIVER RENAISSANCE In den grundlagentheoretischen Vorüberlegungen wurde herausgestellt, dass sich Dispositive immer im Kreuzungsfeld unterschiedlicher Diskurse herausbilden, wobei Diskurse als Aussagenformationen bestimmt worden sind, die geltende Wahrheiten hervorbringen. Unter Verweis auf Links (2007) Interdiskurstheorie wurde ferner argumentiert, dass sich >Spezialdiskurse< im Sinne wissenschaftlicher Aussageformationen von Elementar- und Alltagsdiskursen (vgl. Waldschmidt et al. 2008) unterscheiden lassen und dass beide unterschiedlichen Modi der Wahrheitskonstruktion
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folgen. Die Ebene der Interdiskurse bildet dabei die Schnittstelle zwischen Spezial-, Elementar- und Alltagsdiskurs. In diesem Kapitel steht die Ebene der pädagogischen Spezial- und Interdiskurse zum Komplex pädagogischer Disziplinierung im Vordergrund. Das Ziel ist es, die in diese eingelagerten Deutungs- und Praxisangebote für pädagogische Zurichtungsformen nachzuzeichnen. In den Blick geraten dabei diskursive Entwicklungen insbesondere von 1945 bis in die aktuellen Debatten hinein. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zu Disziplinarmacht und Gouvemementalität werden dabei zwei Transformationsprozesse fokussiert. Der erste besteht in einer Gouvemementalisierung des Disziplinierungsdiskurses, die sich insbesondere in den 1970er Jahren Bahn bricht und bis in die 1990er Jahre dokumentiert ist. Die zweite Bewegung zeigt sich gegenläufig zur ersten und firmiert hier unter der Überschrift der >punitiven RenaissanceGouvernementalisierung< des pädagogischen Disziplinierungsdiskurses Jener Prozess, der hier als Gouvemementalisierung des pädagogischen Disziplinierungsdiskurses bezeichnet wird, vollzieht sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen in strukturell ähnlicher Form. Er dokumentiert sich zunächst im pädagogischen Sprechen über das Strafen. So zeigt Richter (20 18) in ihrer Diskursanalyse, wie das Strafen im Laufe des 20. Jahrhunderts sukzessive aus dem pädagogischen Diskursraum verdrängt wird. War es über lange Zeit fester Bestandteil des pädagogische Selbstverständlichen, wird zunächst die Körperstrafe problematisiert (vgl. ebd. 109ff.) und schließlich die Frage nach der Legitimität von Strafe insgesamt gestellt. 6 Im Fahrwasser sozio-kultureller Umbrüche (1968er-Bewegung, Popularisierung antiautoritärer Pädagogiken) wird das Bestrafen per se problematisiert und schließlich die Körperstrafe auch juristisch geächtet (vgl. Radtke 2011: 167; Wemer 2018). Strafe wird zum Teil des Nichtpädagogischen, das aber im Pädagogischen als ein ihm Äußeres präsent bleibt (vgl. Richter 2018: 117). An ihre Stelle tritt in dieser Zeit das Ideal selbstläufiger, zwangloser Disziplin (vgl. ebd.: 126ff.). Ab den 1990er Jahren gehört das Bestrafen im pädagogischen Diskurs dann vollständig der Vergangenheit an. Die Strafe ist zum >Fremdkörper der Erziehung< geworden (vgl. ebd.: 128ff., zusammenfassend: 138ff.). Diese Bewegung ist als eine Humanisierung des Pädagogischen insgesamt zu deuten. Das Kind erscheint als Subjekt mit ausgeweiteten eigenen Rechten, insbesondere dem Recht auf körperliche wie psychische Unversehrtheit, das nicht mehr durch rigide Kontrolle gebändigt und in seiner >Wildheit< gezähmt, sondern in seinem Selbstausdruck emstgenommen, geschützt und in gesellschaftliche Prozesse eingebunden werden soll. An die Stelle einseitiger Unterordnung tritt die Freisetzung des Individuums, was auf eine zweite Diskursbewegung verweist: Parallel zur Problematisierung und Ächtung des Strafens, steigt seit den 1970er Jahren der Topos der Individualisierung zur hegemonialen Deutungsfigur auf. Individualisierung wird zum 6
Dieser Prozess verläuft in anderen Feldern als dem pädagogischen Fachdiskurs, etwa in den Debatten um das Schulrecht und insbesondere in den Schulen und Familien selbst, noch wesentlich langsamer und zaghafter (vgl. Schumann 2000: 37-43).
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dominanten Subjektivationsmodus der Spätmodeme (vgl. Rose 2016: 187-190) und zur >pädagogischen Zauberformel< (Ricken 2016b: 7). Es entsteht ein Diktum der Förderung des Einzelnen durch individualisierende Konzepte, dem fortan kaum noch zu widersprechen ist (vgl. Reh 2011: 33), und das sich in neuen Formen der Aufgaben- und Unterrichtsorganisation sowie didaktischen Entwürfen ebenso zeigt, wie in Reflexionen zum Umgang mit >heterogenen Lemgruppen< (vgl. Trautmann & Wischer 2008). Als Gegenentwurf zu »klassenförmig organisiertem >Lernen im Gleichschrittdiagnostische Blick< ist dann seinerseits ein Mechanismus der Macht, der die im vorherigen Kapitel angesprochenen pastoralen Praktiken einer Steuerung des Individuums durch Wissensproduktion aktualisiert und damit einen noch fundamentaleren Zugriff auf das Selbst anbahnt (vgl. Reisper 1990: 186). Die selbständige Schüler* in wird so auch zur Legitimationsfolie sanft zurichtender Machttechnologien. In der diskursiven Wahrheit der Individualisierung wird Fremdzwang unterschwellig in Selbstzwang übersetzt (vgl. Pongratz 2004; 2005: 30f.), was nicht zuletzt auch die Überantwortung struktureller Ungleichheiten an das Individuum ermöglicht (vgl. Rabenstein 2016: 200). Insgesamt werden die oben schon mit Caruso (2009) angesprochenen biopolitischen Ordnungsmuster so mit all ihren Ambivalenzen diskursiv fortgeschrieben (vgl. Rabenstein 2007: 44). Das Prinzip der Disziplinierung durch Selbststeuerung überträgt sich nun auch in fachdiskursive Entwürfe konkreter Disziplinierungsarrangements. In der Spätmoderne wird Disziplinierung vor allem als präventive Verhinderung von Unterrichtsstö-
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rungen und als therapierende Behandlung verhaltensauffälliger >Problemschüler*innenTrainingsraums< illustrieren lässt, das auf den US-amerikanischen Sozialpädagogen Edward E. Ford (1994) zurückgeht. Es handelt sich um ein Konzept, das Lehrkräften die Möglichkeit geben soll, störende Schüler*innen vom Unterricht auszuschließen, indem sie in einen speziell hierfür vorgesehenen Raum - den Trainingsraum - verwiesen werden. Dort sollen die Schüler* innen aber nicht bestraft werden, sondern ihr Verhalten unter Anleitung einer Lehrkraft oder einer Sozialpädagog*in reflektieren und auf diese Weise dauerhaft ändern. Die einschlägige Programmatik modelliert den Trainingsraum als einen Ort selbstläufiger, intrinsisch motivierter Verhaltensänderung im Sinne der Schüler*innen (Balke 1996b, 2003 ; Bründel & Sirnon 2013). Die Rhetorik, die das Trainingsraummodell begleitet, ist eine individualisierende Entwicklungsrhetorik, welche die oben dargelegten diskursiven Figuren in eine Disziplinierungstechnik überträgt. Bereits das Wort >Training< transportiert, als interdiskursives >Kollektivsymbol< (Link 2007), Semantiken der Steigerung von Kompetenz und Potenzial durch fortwährendes Üben, einer Überschreitungsbewegung des Subjekts über sich selbst hinaus. So erscheint der Trainingsraum als umfängliche Methode sinnvoller, mithin schadloser Störungsbewältigung, als Programm des selbständigen Denkensund Handeins (vgl. Bründel & Sirnon 2013). Kritische Dekonstruktionen des Programms aber machen deutlich, dass es letztlich gerade doch dazu dient, die Deutungshoheit der Schule aufrecht zu erhalten und durch das Subjekt inkorporieren zu lassen. Störungen werden den Schüler*innen einseitig angelastet, Reflexionen struktureller Zwänge und Widersprüche werden systematisch ausgeklammert, indem Störpotenziale ausschließlich den Schüler*innen zugeschrieben werden (vgl. Bröcher 2005: 140). Metaphoriken der Selbstoptimierung und einsichtigen Regelfolge naturalisieren die strukturellen Zwänge des Dispositivs. Dabei treffen sich basale Techniken der Exklusion mit komplexen Methoden der subtilen Unterwerfung unter die Prinzipien des gouvernemental-neoliberalen Machtregimes (vgl. Pongratz 2013 ; Pongratz 2015). Das Programm spricht die Sprache der Subjektivierung im Modell des Marktes: Schüler*innen werden aus diesem Diskursstrang heraus als >Unternehmerische Selbste< (Bröckling 2007) adressiert, denen alle Möglichkeiten offenstehen, die aber gleichsam gehalten sind, diese zu nutzen - und dabei eben auch die Risiken des Scheiterns tragen. Der Trainingsraum erscheint so als ein subtiles Strafarrangement, das »gouvernementale Kontrollformen in den Raum der Schule hineinprojiziert« (Pongratz 201 Oa: 71 ). Bis zu diesem Punkt zeigt sich der pädagogische Diskurs der Disziplinierung als einer der individualisierenden Freisetzung, der an gouvernementale Führungsmodi anschließt und selbige pädagogisiert. Gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse neoliberaler Prägung unterflittern einen >Selbständigkeitskult< in der Pädagogik (Liesner 2004), der didaktischen und disziplinarischen Programmen gleichermaßen sein Gepräge verleiht. Andererseits aber mehren sich in den letzten Dekaden Versuche, das Strafen zu rehabilitieren. Die Rede ist von einem Revival, einer Renaissance des rigorosen Strafens, einer punitiven Wende, die sich auch im Pädagogischen bemerkbar macht.
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3.2.2 Die Rückkehr der harten Hand. Punitive Renaissance im pädagogischen Disziplinierungsdiskurs Als Bernhard Bueb sein Buch Lob der Disziplin publiziert, erhält es binnen kürzester Zeit erhebliche Aufmerksamkeit. Der ehemalige Internatsleiter vertritt in seiner >Streitschrift< die These, dass es schlecht bestellt sei um den Zustand der Erziehung in Deutschland. Seine Diagnose lautet, dass der Erziehung in Zeiten von Individualisierung und >plakativem WohlstandKonsumgesellschaft< und einer im Nachgang der 1968er Bewegung grundlegend antiautoritär geprägten gesellschaftlichen Atmosphäre, die Wertebasis abhandengekommen sei. Kurzum, es fehle der »Mut zur Erziehung« (Bueb 2007: 17) - und Mut zur Erziehung heißt für Bueb »vor allem Mut zur Disziplin« (ebd.), die zwar »das ungeliebte Kind der Pädagogik« (ebd.) sei, gleichsam aber »das Fundament aller Erziehung« (ebd.) bilde. Und so entpuppt sich das Lob der Disziplin als Plädoyer für eine Rückkehr zu >altbewährten< Erziehungsstilen, die in ihrem Kern auf Autorität und Folgsamkeit zielen. In eigentümlicher Verwobenheit von autoritärer Erziehungsphilosophie, reformpädagogischer Metaphorik und aufklärerischen Denkfiguren, wird die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den pädagogischen Metaphern des Gärtners und des Töpfers angemahnt - durch eine Bewegung zurück zur Seite des Töpfers. Dabei nimmt der Autor eine explizit kritische Haltung zu genau jener Entwicklungsbewegung ein, die oben unter Verweis auf Richter (2018) skizziert wurde: die zunehmende Verdrängung des Strafens aus dem Diskursraum des Pädagogischen. Für Bueb liegt in der Bereitschaft zur Strafe der Schlüssel zu einer >gerechten Erziehung< (vgl. Bueb 2007: 107ff.). In Abgrenzung zur vermeintlichen Laissez-FairePädagogik der Ära nach 1968 bedeutet Strafe demnach die legitime und notwendige, konsequente Ahndung von Regelübertretungen. Dabei bräuchten Jugendliche nicht lediglich »verbale Orientierung« (ebd.: 109), sondern bedürften >physischer Grenzenkleiner Gerichtshöfe< in Folge von Verfehlungen (vgl. ebd.: 110ff.) und schließlich, bei schweren Verstößen, der temporäre Ausschluss der Delinquent*innen vom Internatsleben (vgl. ebd.: 113 , zu den Straftechniken bei Bueb vgl. auch Radtke 2007b: 233ff.). In der Gesamtschau vertritt Bueb damit eine erzieherische Haltung zu Strafe und Disziplin, die weitestgehend der Diskurslage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entspricht (vgl. Richter 2018: 111). Zwar wird die körperliche Züchtigung explizit abgelehnt und als unpädagogisch und unethisch verurteilt, Strafe jedoch soll als pädagogische Kernpraxis rehabilitiert werden. Und so werden reformpädagogische Anleihen mit Praktiken von Machtausübung verquickt, die zwar nicht mit Gewalt, wohl aber mit engmaschigen Kontrollsystemen und solchen Disziplinarformen arbei-
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ten, die auf die Produktion von Strafleid zielen und mithin über die körperliche Ebene wirksam werden (vgl. Radtke 2007b: 234). Das Strafarsenal von Disziplinargesellschaft und >schwarzer Pädagogik< wird auf diese Weise aktualisiert und erneut fruchtbar gemacht (vgl. ebd.: 236). Buebs Schrift wurde zunächst insbesondere in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit rezipiert und kontrovers diskutiert. Anerkennung und Bestätigung seiner Thesen ließen dabei ebenso kurz auf sich warten, wie moralische Empörung, ethische und schließlich erziehungswissenschaftlich fundierte Kritik (vgl. Brumlik 2007). Aus dispositivtheoretischer Sicht ist der Text aber zunächst als ein interdiskursives (vgl. Link 2007: 226f.) Ereignis zu bewerten, das auf der Grenze zwischen pädagogischem Spezialdiskurs und >elementarkultureller< Ebene angesiedelt ist. So ist Bueb als Leiter eines renommierten Internats zunächst Experte, spricht also aus dem pädagogischen Spezialdiskurs heraus. Gleichzeitig handelt es sich beim Lob der Disziplin aber um einen Text, der explizit die breite Öffentlichkeit adressiert. Im Kontext einer diskursiven Gesamtlage, in welcher ein Sprechen über und ein Propagieren von Strafe in der Erziehung nur eingeschränkt möglich sind, werden Sagbarkeitsregeln irritiert. Aus dieser Perspektive rückt das Lob der Disziplin als Ausdruck eines konservativen Gegendiskurses in den Blick (vgl. auch Radtke 2007b), der nicht nur Logiken propagiert, die im zeitgenössischen Diskurs eine marginalisierte Stellung einnehmen, sondern der sich als expliziter Angriff auf die vermeintlich dominante kulturelle Grundorientierung einer Tabuisierung und Kritik der Autorität richtet. Mit dieser Stoßrichtung steht Buebs Schrift indes nicht allein, sondern kann, im weiteren Kontext gesellschaftlicher wie pädagogischer Debatten, als Manifestation einer allgemein seit den späten 1990er Jahren einsetzenden Rückbesinnung auf strafende Härte gelesen werden . Diese Bewegung wird in den Sozialwissenschaften unter dem Begriff einer >punitiven Wende< diskutiert. Der punitive turn, wie es im anglo-amerikanischen Diskurs heißt, fußt zentral auf einem Subjektbild, das dichotom zwischen dem >normalenRisikoschüler< gilt es demnach durch pädagogische und mithin therapeutische Maßnahmen zu re-normalisieren. Andererseits muss aber die normale bzw. >gesunde< Schüler*innenpopulation vor ihm geschützt werden . Für letzteres sorgt der punitive Staat, indem er die Unregierbaren, die >nicht erlösbaren< (engl. unredeemable) aussondert und entfernt (vgl. Amos 2006: 723). Im >Zero-Tolerance-Diskurs< (Kap. 4.2.3) vermischen sich Denkfiguren aus Kriminologie, Pädagogik, Hygiene, Moral und Religion - und begründen auf diese Weise eine Verschärfung staatlicher wie pädagogischer Straf- und Exklusionsformen (vgl. Amos 2007: 29ff.), womit letztlich auch der Inklusionsauftrag der Schule in Frage gestellt wird (vgl. Amos 2006: 718, 721). Die über die Schule vermittelte, nationalstaatliche Mitgliedschaftskonstitution wird durch eine punitive Logik überlagert, die ebenjene Mitgliedschaft zunehmend an individuelles Wohlverhalten und Anpassung koppelt und damit ihrer Selbstverständlichkeit entledigt (vgl. ebd.). Im deutschsprachigen Raum wird die Frage nach einer gesamtgesellschaftlichen punitiven Wende ebenfalls diskutiert (vgl. Dollinger 2011; F. Sack 2010).Im pädagogischen Kontext mehren sich dabei insbesondere in der Sozialen Arbeit und ihren Subdisziplinen die Hinweise auf eine punitive Renaissance, die sich hier jedoch weniger in Form von Inhaftierungsraten messen lässt, als vielmehr mit Blick auf die
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Logik pädagogischer Programme, Strategien und Praktiken ersichtlich wird (vgl. Kessl 2011: 132). Exemplarisch hierfür steht die >konfrontative Pädagogik< (Weidner 2010). Es handelt sich dabei um eine pädagogische Methode, die aus dem Anti-Aggressions-Trainings (AAT) entstanden ist (vgl. S. A. Schäfer 2011: 96). Das AA T kommt seinerseits aus dem Strafvollzug, wird jedoch mittlerweile auch für die Schule fruchtbar gemacht (Kilb, Weidner & Gall 20 13). Es beruft sich auf eine Reihe therapeutischer Theorien und methodischer Ansätze aus dem Bereich der Lerntheorie und Psychotherapie (vgl. S. A. Schäfer 2011: 97f.). Die konfrontative Pädagogik bringt Techniken zur Anwendung, welche darauf zielen, die jeweiligen >Delinquenten< gezielt (verbal) zu attackieren und zu provozieren. In der dort zentral stehenden Technik des >heißen Stuhls< geht es vor allem darum, den Delinquenten im Verbund von Gruppe und Pädagog*innen gezielt »zu attackieren und dadurch zum Nachdenken über seine gewalttätigen Verhaltensweisen zu bewegen« (vgl. ebd.: 99; zum heißen Stuhl vgl. auch Göppe12010: 103ff.; Plewig 2007). Er ist die praktische Realisierung des Prinzips einer >Einmassierung des OpferleidsFeminisierung der Pädagogik< vergessene >väterliche Prinzip< (vgl. Tischner 2010: 62) in die Erziehung zurückholen will. Eine >klare Linie mit Herz< wird zur pädagogischen »Erfolgsformel der Zukunft« erklärt (Weidner 2010: 25). Kurzum: Es ist die sozialpädagogische Vorwegnahme jener Gedanken, die Bueb in seinem Lob der Disziplin auf die Erziehung insgesamt anwendet. In ihrer Anlage, ihrer Philosophie und ihren Praktiken betreibt die konfrontative Pädagogik ein »Revival pädagogischer Punitivitätsprogrammatik« (Kessl 2011: 138f.), wobei aber die Möglichkeit gezielter Erniedrigung der Delinquent* innen nicht nur eröffnet, sondern bisweilen systematisch betrieben wird (vgl. etwa die Darstellungen in Musial & Trüter 2005, kritisch hierzu Herz 2005). Es handelt sich um eine Form der Intervention, die in vielerlei Hinsicht ebenfalls an die Ära der Disziplinargesellschaft und der >schwarzen Pädagogik< mit ihren Logiken der Kontrolle und Strafe erinnert (vgl. Stechow 2010). Das Subjekt der konfrontativen Pädagogik wird dabei nicht mehr als gewachsene Persönlichkeit betrachtet, deren Verhalten in komplexen Erfahrungen verankert ist, sondern in » Verhaltenskomponenten« zerlegt, die nun gezielt bearbeitet werden (vgl. Krasmann 2000, hier: 214). Auf Normbruch wird mit Machtdemonstration, auf Devianz mit Repression reagiert. Restriktive Normalisierungsformen erfahren eine erneute Aufwertung und Drill, Dressur und harte Sanktion werden hoffahig gemacht (vgl Herz 2010: 171). Die skizzierten Logiken strafender Härte und Sanktion stehen auf den ersten Blick im deutlichen Widerspruch zu den zuvor dargestellten diskursiven Figuren einer Freisetzung subjektiver Autonomie, einer gezielten >Enthemmung< des Selbstausdrucks im Sinne einer Regierung durch Freiheit. Gleichwohl wäre es verfehlt, die punitive Wende als eine Absetzbewegung von neoliberalen Steuerungsdiskursenper se zu interpretieren. Vielmehr können punitive Praktiken in dieses Regime eingespannt werden, insofern ein neuer Geist von Autorität und straffer Disziplin nicht nur in der Post-PISA-Schule, sondern auch in der neo-liberalen Wirtschaftsform mit ihren Management- und Führungsstrukturen anschlussfahig wird (vgl. Radtke 2007b: 242).
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3.3 ORDNUNG UND DISZIPLIN. ZURICHTUNGSPRAKTIKEN IM SCHULISCHEN DISPOSITIV Nachdem oben gezeigt wurde, wie sich pädagogische Disziplinierungsdiskurse im Spannungsfeld von >Gouvemementalisierung< und >punitiver Renaissance< bewegen, geht es nun darum, die Forschung zu den konkreten schulischen Strukturen, Praktiken und Prozessen der Disziplinierung in den Blick zu nehmen . Fokussiert wird dazu zunächst die Schule als >verregelter Raum < (3.3.1), bevor anschließend die Techniken und Taktiken, die Instrumente und Interaktionen, die Adressierungen und Angriffspunkte von Disziplinierungspraktiken entlang einschlägiger Forschungsbefunde erhellt werden. Hierzu werden Praktiken aktiver Ordnungsbildung (3 .3.2) in den Blick genommen, wird Disziplin als >verkörperte Ordnung< verstehbar (3.3.3) und schließlich im letzten Schritt auf Disziplin und Individualisierung (3.3.4) eingegangen.
3.3.1 Ordnung. Die Schule als verregelter Raum Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich schulische Ordnung über eine Reihe an Regeln und Regelungen formaler wie informeller Art konstituiert. Entsprechend erscheinen Regeln auch aus Sicht von Lehrkräften zum einen als Bedingung des >Funktionierens von Schuleorganisatorische< wie eine >pädagogische Ebene< (vgl. ebd.: 145). Wenn Disziplin die Internalisierung einer gesellschaftlichen Ordnung durch das Subjekt bedeutet, dann gewinnt sie ihre Legitimität nicht zuletzt aus dem strategischen Imperativ der Vermittlung von Regeln. In der Schule als Organisation gelten zunächst allgemeine Regelungen, die die täglichen Abläufe und Rhythmisierungen strukturieren. Schulen definieren Zeiten und Räume, legitime und illegitime Subjekte der An- und Abwesenheit, Sozial- und Interaktionsformen. Dies zeigt sich dabei bereits an der allgemeinen Schulpflicht. Als Form der schulischen Zwangsinklusion regelt sie, dass Schüler*innen zu bestimmten Zeitpunkten in jener schulischen Organisation anwesend sein müssen, der sie als Mitglied zugerechnet werden. Auf Abweichungen wird empfindlich reagiert. Das Fernbleiben vom Unterricht wird sanktioniert und dauerhafte Abwesenheit >Schulabsentismus< - ist juristisch geahndet. Umgekehrt kann auch die illegitime Anwesenheit von Personen, die nicht zur Organisation gehören, durch den Verweis vom Schulgelände sanktioniert werden. Schulisches Handeln konstituiert sich damit von Beginn an über den auch rechtlich sanktionierten Zugriff auf den Körper der Subjekte und ihre Fixierung auf dem schulischen Territorium. N icht nur Unterricht und Wissensvermittlung, auch die schulische Kustodialfunktion (vgl. Plake 2010: 82ff.; auch Amos 2016: 198) wird maßgeblich durch räumlichen Einschluss erfüllt. Die Abläufe innerhalb der Schule sind ihrerseits wiederum regelhaft strukturiert und rhythmisiert. So existieren feste Zeitstrukturen für die unterschiedlichen sozialen Interaktionsformen, die für Lehrkräfte und Schüler* innen je spezifisch gestaltet und
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bindend sind. Kurz gefasst stabilisiert sich die Schule also durch komplexe Verfahrensabläufe, die zeitlich, räumlich und körperlich abgestimmt werden (vgl. Kalthoff & Kelle 2000: 691). Sie produziert eine »regelmäßige und haufenförmige Ansammlung« von Subjekten, aus der wiederum die Notwendigkeit entsteht, diese Subjekte und ihre Praktiken zu synchronisieren. Sie wird demnach »mit einem Effekt konfrontiert, den sie selbst erzeugt« (ebd.) und bearbeiten muss. Die Störanfälligkeit schulischer Abläufe resultiert nicht zuletzt auch hieraus. Für das Betragen in der Schule werden einerseits formalisierte Regelungen erlassen und schulöffentlich kommuniziert. Sie betreffen prinzipiell alle möglichen Bereiche des Verhaltens: die Nutzung von Mobiltelefonen, legitime/verbotene Konsumpraktiken wie das Rauchen, das Verbot des Schneeballwerfens, das Verhalten im Streitfall, aber auch den Zugang zu Toiletten, die Frage der Erlaubnis zum Verlassen des Schulgebäudes in den Pausen, Hinweise zu Umgang mit Dingen und zur Organisation von Ordnungsdiensten (vgl. z.B. Richter 2019: 82-98). Und auch, wenn sich der Ton in schulischen Regelkodizes (Schulordnungen) im Laufe der letzten 100 Jahre geändert hat, allgemein >pädagogischer< geworden ist, erfüllen Schulordnungen letztlich weiterhin jene Funktion, die bis in die 1960er Jahre die Hausordnung abdeckte: Sie explizieren insbesondere potentiell illegitimes Verhalten und greifen auf dieses vor (vgl. Gruschka 2001). Unabhängig von der Rhetorik im Einzelfall entstehen Schulordnungen damit nicht »aus einer positiven Vorstellung einer Erziehung zum Gemeinsinn und zur Gewissenhaftigkeit«, sondern dienen allererst »dem Ziel der Abwehr von negativen Verhaltensweisen« (ebd.: 70f.). Durch die Festlegung äußerer Verfahrensabläufe entsteht ein komplexes Netz von Regeln, das den Subjekten auferlegt wird. Diese Grundstruktur umfassender Verregelung potenziert sich nun im Unterrichts- und Klassenrahmen noch einmal, insofern auch im Kontext der Schulklasse Regeln neu hervorgebracht werden (vgl. Richter 2019: 94-100). Sie definieren Rederechte, Umgangsweisen, Bekleidungsformen . Sie produzieren Abläufe täglicher Praxis und ordnen die Subjekte in hierarchischen Positionen, indem einerseits die Differenz Lehrkraft/Schüler*in grundlegend in das Regelsystem eingeschrieben ist, zudem aber auch eine Differenz von regelfolgsamen und regelbrüchigen Schüler*innen eröffnet wird. Regelbruch und Regeleinhaltung eröffnen und verschließen Spielräume des Handeins (vgl. ebd.: 96) und werden, nicht zuletzt, moralisiert. Der wiederholte Regelbruch wird zum Etikett, der Regelbrecher zur stigmatisierten Figur (vgl. ebd.: 98). Mit dem Differenzierungsgrad von Regelsystemen steigt zudem die Wahrscheinlichkeit, dass Regeln gebrochen werden. Die Störung entsteht damit auch aus dem Regelsystem selbst. Gewissermaßen unterhalb formaler und im Klassenrahmen festgelegter Regelungen werden Unterrichtsinteraktionen ferner durch eine Reihe informeller, d.h. nicht explizierter oder kodifizierter Regeln strukturiert. So ist die Durchführung von Unterricht an basale Bedingungen gebunden, zu denen die Anwesenheit der Teilnehmenden ebenso gehört, wie deren Verteilung und zeitliche Bindung an dafür vorgesehene Plätze und das Vorhandensein von Unterrichts- und Lernmaterialien. Diese >Materialität der schulischen Ordnung< (Kalthoff & Kelle 2000: 696) wird ergänzt durch die Erwartung, dass Schüler*innen ruhig auf ihren Stühlen sitzen und aufmerksam sind, sich im Sitzen diszipliniert zeigen, dass sie legitime von illegitimen Dingen unterscheiden und Störungen vermeiden (vgl. ebd.). Sie haben die Asymmetrie der Unterrichtskommunikation ebenso zu akzeptieren (vgl. ebd.: 698ff.), wie so-
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ziale Etikette, Umgangsformen und legitime Sprechweisen zu beachten sind (vgl. ebd.: 700). Insbesondere praxeologisch orientierte Studien machen darauf aufmerksam, dass Ordnungen letztlich erst im konkreten, kollektiv-situativen Vollzug entstehen und dass die sie konstituierenden Praktiken zum Großteil auf kollektivem, vorreflexivem Wissen basieren (vgl. Reckwitz 2003). Auch schulische Ordnung wird dann als situative und gleichzeitig situierte Performanz von Praktiken (vgl. Baizer & Bergner 2012: 254) hergestellt, wozu letztlich auch differierende Auslegungen sowie die Befolgung, Brechung und Verschiebung von Regeln gleichermaßen gehören (vgl. auch Richter 2019: 99f.). So liegt die Verfügungsmacht über die Regeln zwar bei der Lehrkraft, sodass Schüler* innen zunächst nur reaktiv mit Regeln umgehen und diese re-interpretieren können (vgl. Kalthoff & Kelle 2000), gleichzeitig haben Störungen aber auch die Funktion der Regelerinnerung, indem sie die Lehrkräfte in ihre Wächterfunktion hineinrufen. Im Regelverstoß übernehmen Schüler*innen damit letztlich selbst Unterrichtsfunktionen (vgl. ebd.: 701). Unterricht ist in seiner Ordnung hoch störanfallig, er ist aber gleichzeitig in der Lage, Störungen der Ordnung auszuhalten und produktiv zu re-integrieren (vgl. auch Breidenstein 2010: 878). Aus den oben skizzierten Perspektiven erscheint Schule damit als ein hoch verregelter Raum. Schulische Ordnung adressiert Schüler* innen als Regelsubjekte. Dies ist von funktionaler Bedeutung, insofern Erziehung zu Regelfolgsamkeit immer auch der Eingliederung in bestehende Herrschaftssystem dient (vgl. Fend 1980; Fend 2008: 46f.). Kinder und Jugendliche sollen die geltenden Regeln des herrschenden Zustands, letztlich mitsamt seinen ungleichen Strukturen und Machtgefallen, vermittels alltäglicher Interaktionen als legitim erfahren und akzeptieren - dies gehört zum >heimlichen Lehrplan< der Schule (vgl. Hummrich & Kram er 2017: 133f.; Jackson 1968; Zinnecker 1975). Hier werden die Verkehrsformen des Sozialen, seine Hierarchien, Deutungshoheiten und Hegemonien implizit gelehrt und >naturalisiertInsassen< nicht nur temporär von der Außenwelt ab, sie sanktioniert Praktiken durch die Nutzung von Artefakten sowie akustischen und visuellen Signalen (vgl. Jäger 2019: 47ff.), sie rhythmisiert und >zähmt< die Schüler*innenkörper, positioniert sie,
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versetzt sie in Bewegung, reguliert ihr Sprechen und Schweigen (vgl. ebd.: 54ff.). Diese Komplexität der Disziplinarstrukturen bestätigend zeigt auch Wolter (2018), wie Kinder im Grundschulunterricht an abstrakte Formen der Verhaltenskoordination gewöhnt, ihnen Plätze im Raum zugewiesen, die Kinder als Schüler*innen markiert werden und wie dabei je spezifisches Wissen über sie hervorgebracht wird. Indem die Kinder lernen, sich in einem Netz an Regeln zu subjektivieren, die zunächst der unterrichtlichen Verhaltenskoordination dienen, werden sie stets auch in anonymisierte Herrschaftsstrukturen eingepasst, die ihrerseits über den schulischen Raum hinausweisen (vgl. ebd.: 109ff.). Ein Dreh- und Angelpunkt der oben skizzierten Formen von Disziplinierung sind immer auch Artefakte in ihrer Einbindung in schulische Praktiken (zu Artefakten vgl. Lueger & Froschauer 2018: 11 ). Hier spuren Stühle und Tische körperliche Positionierungen ein, wirken Signalsysteme - gelbe und rote Karten, Gong und Schulglocke, Smileys und Klammem - als entpersonalisierte Strukturgeber und als Symbole der Kommunikation und der Sanktionen. Der in den Artefakten aufgespeicherte soziale Sinn leitet Ordnungsbildungen >stumm< an. Dies gilt selbst für die Tafel, die, als maßgebliches schulisches Artefakt, ihrerseits als Disziplinarinstrument fungieren kann, indem Anweisungen, Verfehlungen oder auch Namen an ihr festgehalten werden. Sie fordert immer auch implizit die Selbstdisziplinierung der als Lernende angerufenen Subjekte ein (vgl. Neto Carvalho, Veits & Kolbe 2015: 163ff.). Ein anders gelagertes, populäres Mittel schulischer Disziplinierung besteht im Abschließen von Vereinbarungen und >Verträgen< zwischen Schule, Lehrkraft und Schüler*in. Diese Form der disziplinierenden Strukturbildung fußt zwar nicht zentral auf >sprachlosen< Artefakten, erfüllt aber einen ähnlichen Zweck: eine Abstrahierung von Regeln und ihre Festschreibung in einem übersubjektiv bedeutsamen Dokument. Die Praxis eines >Vertragsschlusses< geht in ihrer Anlage über die herkömmlichen Schul- und Hausordnungen insofern hinaus, als Verträge nicht als einseitige Regelerlasse zu verstehen sind, denen ein Subjekt sich unterordnen muss, sondern als Dokument einer bewussten Vereinbarung, eines >Agreements< zwischen den beteiligten Vertragsparteien. In der gegenwärtigen Schule sollen Verträge die Transparenz und Verbindlichkeit von Regeln erhöhen und zu einer Verbesserung von Atmosphäre und Schulklima ebenso wie zu einem Abbau von Konflikten und Gewalt beitragen (vgl. z.B. Krumm 2003: 117; Möhle 1997; Schultebraucks-Burgkart 2008). Dazu kommen unterschiedliche Vertragskonstrukte zum Einsatz, die je verschiedene Ebenen des Schulischen berühren (vgl. Füssel & Kretschmann 2005). Sie dienen der verbindlichen Regelfestlegung einerseits, sollen aber andererseits auch die Identifikation mit den Regeln ermöglichen (vgl. ebd.: 62), insofern Schüler* innen erstens an der Erstellung von Regeln beteiligt werden, sich zu deren Einhaltung aber anschließend explizit verpflichten (sollen).7 7
Füssel & Kretschmann (2005) diskutieren in ihrem Beitrag noch weitere Vertragsformen, die an dieser Stelle nicht berücksichtig werden. So existieren etwa neben den oben besprochenen Vertragsformen noch Lehr-Lern-Verträge, in denen inhaltliche Ziele zwischen Lehrkraft und Schüler*in vereinbart werden und die ebenfalls auch die Eltern miteinbeziehen können. Hierzu gehören zum Beispiel Portfolios (vgl. ebd.: 65f.). Daneben weisen die Autoren noch auf eine Reihe hoch ausdifferenzierter Vertrags-/Vereinbarungskonstrukte
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Verträge etablierten damit ein sehr spezifisches, weil distanzverringerndes Verhältnis zwischen Subjekt, Regel und Organisation. Denn allererst ist ein Vertrag ein Konstrukt, das per definitionem zwischen freien Subjekten zustande kommt (Bröckling 2017: 238). Gleichsam ist die Autonomie dann aber auch Anrufung, denn weil »nur mündige Individuen sich vertraglich binden können, sind alle dazu verdammt, sich fortwährend als mündig zu erweisen« (ebd.: 238f.). Damit drängt sich die Frage auf, wie weit die Einflussnahme der Schüler*innen auf die Regeln tatsächlich reicht. Empirische Studien zeigen einerseits, wie in der schulischen Praxis das Motiv der Anrufung zu selbständigen Einhaltung gemeinsamer Regeln präsent ist (vgl. Richter 2019: 151f.). Ebenso zeigt die Forschung aber, dass vertragsähnliche Konstrukte bisweilen nur dazu dienen, den Nimbus demokratischer Regelbildung aufrecht zu erhalten, indem einerseits Spielräume der Einflussnahme von Schüler*innen bei der Regeldefinition systematisch begrenzt, letztere aber wiederum zum Bekenntnis zu den Regeln (etwa zur Unterschrift) verpflichtet werden (vgl. Weilgraf 2012: 252f.). Dies wiederum führt das kontraktualistische Grundprinzip letztlich ad absurdum. Verträge in der Schule können somit Ausdruck egalitärer Willensbildung, Instrument der Einräumung von begrenzter Einflussnahme oder, im äußersten Fall, eine Verdeckung starrer Hierarchien durch vordergründig demokratische Rhetorik gleichermaßen sein. Die oben skizzierten Praktiken zielen damit allesamt auf aktive Regelvermittlungen. Sie sind Praktiken des >aktiven Disziplinierens< (vgl. Richter 2019: 162ff.) und streben nach einer Etablierung von Disziplin ohne expliziten Zwang. Sie zielen auf Einsicht und selbstläufige Regelfolge (vgl. ebd.: 165), favorisieren Ideale der Selbstregulation und Partizipation (vgl. ebd.: 164). Denn wenn Regeln vermittelt und befolgt werden, wird Strafe obsolet. Aber auch der aktiven Disziplinierung liegt ein Bild über Schüler* innen zugrunde, das Kinder und Jugendlichen als grundlegend regellos imaginiert (vgl. ebd.). Auch im Kontext aktiv regelorientierter Disziplinierung bleibt die Schule damit einem defizitären Subjektbild verhaftet, worin sich aber letztlich ihre Rolle als dominante Zivilisierungsinstanz erst begründen kann. Die in den Disziplinarstrukturen aufgegangene Regelungen und Ritualisierungen lassen die durch sie verbürgte Ordnung dabei als natürlich erscheinen (vgl. Radtke 2011: 166), sie verdinglichen Machtverhältnisse.
3.3.3 Ordnungen verkörpern. Disziplin(ierung) als Körperbildung Eine für Disziplinierungen wesentliche Dimension sozialer Ordnungen deutete sich bis hierhin bereits an, wurde aber noch nicht explizit zum Thema. Die Rede ist von der Dimension des Körpers. Innerhalb der letzten Dekade sind eine Reihe von Studien entstanden, welche die Ebene des Physisch-Leiblichen und des SozialKörperlichen ebenso theoretisch einholen wie empirisch zum Untersuchungsgegenstand machen (z.B. Alkemeyer & Pille 2008; Fankhauser & Kaspar 20 17; A. Langer 2008; Rose 2013; zusammenfassend vgl. auch Langer, Richter & Friebertshäuser hin, die im anglo-amerikanischen Raum zum Einsatz kommen. Auffallig ist dabei, dass diese Konstrukte mithin zu ausführli chen Dokumentationen von Verhalten, Lernfortschritt, Entwicklungsstand und Zielerreichungen >verpflichtenSpecial Needs < (vgl. ebd. 64f.).
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2010: 11). Diese Studien zeigen, wie die soziale Ordnung der Schule körperlichperformativ inszeniert wird. In den Blick geraten damit Praktiken der >Verkörperung< des Sozialen. Und so ist auch (schulische) Disziplin immer körperlich. Nicht nur entstehen Störungen der Ordnung vielfach durch illegitime Bewegungen des Körpers, auch die Techniken und Instrumente der Disziplin(ierung) setzen am Körper des Subjekts an (vgl. Foucault 1994: 175). Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Transformationen der Machtverhältnisse stellt sich aber die Frage, welche Rolle dem Körper im Kontext schulischer Disziplinierung in spätmodernen Verhältnissen denn noch zukommt. Der Frage nach der Einbindung des Körpers und seiner >Verwendung< im schulischen Kontext ist Antje Langer (2008) in ihrer diskursanalytischen Ethnographie nachgegangen. Sie zeigt, dass die Schule nicht nur zwangsläufig mit dem und bisweilen auch gegen den Körper arbeitet, sondern in umfassender Weise darauf bedacht ist, aktive, sozialisierte und disziplinierte Körper hervorzubringen. Ihr »Körperregime« wird durch die Körper ebenso gebildet, wie es »Körper bildend« ist (ebd.: 98). Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Sitzordnung in der Klasse. Die Anordnung der Tische und Stühle ist nicht nur strukturbildend für die Platzierung der Körper, sondern auch für die soziale Ordnung selbst. Die Körperplatzierung erzeugt den »institutionalisierten Raum« (ebd.: 96) der Schule mit. In diesem institutionalisierten Raum sind nicht nur die Schüler* innen entlang ihrer Körpergröße, nach Unterstützungsbedarf und weiteren sozialen Kriterien angeordnet, sondern ist auch das Lehrer*innenpult in seiner Position hervorgehoben, was nicht nur die hierarchische Position des >Lehrkörpers< symbolisch in die Raumordnung einschreibt, sondern ihm auch grundlegend andere Bewegungsmöglichkeiten eröffnet (vgl. ebd.). Die primäre Körperpraxis im schulischen Unterricht ist dabei das Sitzen. Es hat einen basalen Disziplinierungseffekt, insofern es nicht nur Bewegungseinschränkung bedeutet, sondern im Sitzen spezifische Haltungen angemahnt werden. Sitzen wird nicht zuletzt auch mit weiteren Körperpraktiken der Einschränkung - etwa mit dem Respektieren von Redeordnungen und damit: dem Schweigen - verkoppelt. 8 Und so verwundert es wenig, dass Störungen der schulischen Ordnung insbesondere dort manifest werden, wo Körperpraktiken von der Ordnung des Sitzens und Schweigens abweichen, was sich prägnant etwa dann zeigt, wenn Verstöße gegen diese Ordnung - etwa durch das Kippeln mit dem Stuhl - mithin durch die Verordnung anderer Körperpraktiken im Sinne von Straf- oder Ausschlusspraktiken (Ste-
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Diese Praktiken der Körper(an)ordnung verweisen auf eine Reihe an historischen Kontinuitäten. Oben wurde bereits deutlich, dass die Disziplinarmacht sich zentral um den Körper anordnet, ihn platziert und formt. Und auch die Zentralität des Sitzens ist historisch tief im System Schule verankert und in ihrer Bildungsarchitektur angelegt. Bereits die hegemoniale Stellung des Buches als schulisches Leitmediwn adressiert das Bildungssubjekt als ein stillsitzendes, insofern Lesen und Schreiben als zentrale schulische Kulturtechniken diese Form der disziplinierten Körperhaltung zur Voraussetzung haben (vgl. Böhme 2006; Böhme 2015). Aber auch die historischen Diskurse um schulische Raumordnungen und schulisches Mobiliar kreisten immer wieder um die Frage, wie ein Anordnen der Körper im Raum schulische Ordnung ermöglichen kann (vgl. Hnilica 2010, hier: 142).
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hen, Verweis aus dem Unterricht) geahndet werden (vgl. A. Langer 2008: 146ff.). Abweichungen von der Anweisung zum Sitzen werden damit empfindlich registriert und sanktioniert. In spezifischen Kontexten aber beruht die schulische Ordnung gerade darauf, Bewegung hervorzubringen und zu nutzen. Dies zeigt sich etwa in schulischen Ritualen wie dem Begrüßungsritual (vgl. ebd.: 109) oder im Sportunterricht Hier wird gerade das Unterlassen erwünschter Bewegung(en) zum Verstoß und das SichBewegen entsprechend zur disziplinierten Normalität. Ebenso existieren im Zuge des geöffneten Unterrichts und der individualisierten Lernformen eine Reihe von Methoden und Arrangements, die Bewegung nicht nur ermöglichen, sondern bisweilen explizit fordern, sodass die selbständige Regulierung von Bewegung und Stillsitzen zur expliziten Anforderung an Schüler*innen wird (vgl. etwa die Beobachtungen zum geöffneten Unterricht bei Reh & Rabenstein 2012: 237ff.). Und schließlich ist auch der Körper der Lehrperson Artikulationsort von Disziplin und Instrument der Disziplinierung gleichermaßen, indem Lehrkräfte der ruhigen Präsenz eines disziplinierten eigenen Körpers die Wirkung zurechnen, für Ruhe im Klassenraum zu sorgen. Der Körper wird dann zum Medium der Herstellung von Ordnung (vgl. Fankhauser & Kaspar 2017: 60). Etwa kann die Bewegung der Lehrkraft durch den Klassenraum ein >Beobachtungsregime< zu etablieren helfen (vgl. Dorow 2017: 154) und ist körperliches Auftreten auch von grundlegender Bedeutung für die Ausbildung eines erkennbaren >Berufshabitusgouvernementaler< Diskurs markiert. Individualisierung ist dabei als alternatives Moment der Ausbildung einer schulkonformen Arbeitshaltung erkennbar geworden (vgl. Reh & Labede 2009: 172). Einschlägige Studien zeigen nun, dass die Selbstdisziplinierung der Schüler*innen auch unter Bedingungen individualisierenden Unterrichts weiterhin primär vor dem Hintergrund schulischer Anforderungen erfolgt, eine intrinsisch motivierte Identifizierung des Subjekts mit Aufgaben und Inhalten entsprechend eher ausbleibt (vgl. Menzel, Rademacher & Ziems 2017: 25lf.). Letztlich werden mit individualisierenden Settings vor allem neue Formen der Selbstführung trainiert, zu denen sich Schüler*innen je spezifisch positionieren (müssen) (vgl. Rabenstein 2007). Dabei bringt individualisierende Unterrichtspraxis neue hierarchische Positionen innerhalb des Peer-Gefüges hervor, indem sich jene Kinder, welche die Norm der Selbständigkeit erfolgreich performieren, von solchen Kindern absetzen, die sich ihr nicht oder nur eingeschränkt unterwerfen (können). Während einige in die Position der >Hilfslehrerin< einrücken (vgl. Reh 2013: 200), werden andere als unselbständig kategorisiert und damit auf subalterne Positionen verwiesen (vgl. Reh 2013: 200; Reh & Rabenstein 2012: 239f.). Auf diese Weise weitet sich letztlich auch die schulische
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Exklusionsdrohung auf den Raum der Peer Culture aus (vgl. Reh & Rabenstein 2012: 242f.). Auch in neuen Instrumenten der Selbsteinschätzung ist die Logik der Individualisierung präsent. Eine Untersuchung hierzu (Menzel & Rademacher 20 12) macht deutlich, dass die latente Sinnstruktur von Sellbsteinschätzungsinstrumenten darauf gerichtet ist, institutionelle Logiken der Beurteilung in das Individuum einzuschreiben. Die Deutungshoheit über die >Richtigkeit< und Angemessenheil der Selbsteinschätzungen verbleibt dabei letztlich bei der Lehrkraft (vgl. ebd.: 93-95). Individualisierung erscheint vor diesem Hintergrund vor allem als eine Subjektivierungs- und Kontrollstrategie (vgl. ebd.: 96ff.). Und kongruent zeigt sich schließlich, dass auch in geöffneten Unterrichtssettings mitunter neue, den individualisierenden Unterricht rahmende und unterflitternde Kontrollformen etabliert werden (vgl. Dorow 2017). Individualisierte pädagogische Settings eröffnen und entgrenzen also Dynamiken der Disziplinierung und Hierarchisierung, die mit Distinktionsmöglichkeiten entlang der Passfdrmigkeit von schulischer Ordnung und Verhalten verknüpft sind. Die Konstruktion der selbständigen Schüler*in bringt die Markierung ihres negativen anderen, des Unselbständigen, immer schon mit sich. Die Dynamik der Individualisierung erzeugt eine >Spirale< der wechselseitigen Inszenierung der Selbständigkeitsnorm (vgl. Reh 2013: 196-200), sodass sich die Kinder selbstläufig in hierarchisierten Subjektpositionen anordnen. Übergeordneter Bezugspunkt bleibt dabei aber die Logik und das Anforderungsprofil der Institution. Individualisierung ist subtile Disziplinierung und rückt damit in die Nähe jener >gouvernementalen< Logik, weiche ihr einschlägige Diskursanalysen bereits attestiert hatten. Sie ist eine >Führung der Führungen< (vgl. Foucault 2005), die subtil Hierarchien erzeugt, die dann als natürliche Differenz der Subjekte erscheinen. Die Struktur der Schule als Disziplinarorganisation bleibt aber im Hintergrund erhalten. Darüber hinaus bleiben, auch unter dem Eindruck des lndividualisierungsparadigmas, jene Praktiken im schulischen Dispositiv präsent, die auf der anderen Seite des Spektrums pädagogischer Disziplinierungen angesiedelt sind: Praktiken des Strafens . Sie werden im nächsten Unterkapitel behandelt.
3.3.5 Verletzen. Strafe, Gewalt und Demütigung im Schuldispositiv Über Strafe ist in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und in unterschiedlichen historischen Phasen viel geschrieben und diskutiert worden. Die Debatten rankten sich dabei nicht nur um den Sinn und Zweck und die Legitimität und Illegitimität von Strafe, sondern auch um die Frage nach den unterschiedlichen Formen des Bestrafens und den Effekten, die konkrete Strafpraktiken nach sich ziehen. In der Pädagogik setzt die Diskussion um das Strafen bereits im 18. Jahrhundert ein. War die Bestrafung durch harte körperliche Zucht zuvor, in Mittelalter, früher Neuzeit und noch zu Beginn der Moderne, ein vollkommen selbstverständliches Mittel der Disziplinierung in Schule und Erziehung, das, nicht zuletzt in christlicher Tradition stehend, in der Überzeugung vom grundsätzlich verdorbenen, mithin satanischen Wesen des Kindes gründete, ändert sich die Situation im Verlauf der Modeme. In Zeiten der Disziplinargesellschaft verschwindet die Körperstrafe zwar nicht vollumfanglich, man versucht aber, sie zu begrenzen. War die Rute des Lehrers in Mittelalter und Frühmoderne noch so etwas wie ein didaktisches Universalinstrument,
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wird die körperliche Züchtigung allmählich zur Ausnahme, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert zum pädagogischen Problem und schließlich zur Straftat (historisch vgl. Flissikowski, Kluge & Schauerhammer 1980; Pongratz 1989; Richter 2018). Wie oben dargelegt, kommt der Strafe aktuell eine ambivalente Position zu. Einerseits ist in der pädagogischen Praxis das Bekenntnis zur Strafe allgemein tabuisiert, gleichzeitig werden Strafen in der Schule weiter praktiziert (vgl. Richter 2019). Mithin finden sich Versuche, sie in ihrer Bedeutung ftir pädagogische Praxis zu rehabilitieren. Im Folgenden wird nun der Stand der Forschung zu Praktiken des Strafens in der Schule dargelegt.
Strafe und Regel In einer ersten definitorischen Annäherung kann Strafe bestimmt werden als eine Handlung, die dem zu bestrafenden Individuum als Konsequenz einer vollzogenen unerwünschten Handlung (oder Unterlassung) eine unangenehme Konsequenz oder einen ftihlbaren Nachteil verschafft (vgl. Geißler 1975: 149). Diese Logik ist Strafen grundlegend zu eigen: Strafe soll das Subjekt >treffen< und auf diese Weise sein Verhalten ändern. Die Wege und Mittel, mit denen dies geschieht, sind vielfältig und komplex. Sie unterscheiden sich in ihrer Gestalt und Angriffsfläche ebenso, wie in ihrer graduellen Ausprägung. Einen Versuch, unterschiedliche Formen von Strafe als >Erziehungsmittel< und damit letztlich den Platz der Strafe im Kontext des pädagogischen zu bestimmen, hat Erich E. Geißler (1975) unternommen. Als moralischer Begriff gedacht, erfolge Strafe demnach als Reaktion auf ein begangenes Verfehlen. Sie ist in diesem Fall die »Folge eines durch subjektive Schuld entstandenen Unrechtes« ( ebd: 149). Hier soll Strafe dem Täter die moralische Problematik seines Verhaltens deutlich machen. Voraussetzung hierftir ist die Freiheit des Subjekts - die Möglichkeit also, überhaupt schuldig zu werden (vgl. ebd.). Mit Disziplinarstrafe und Erziehungsstrafe unterscheidet Geißler nun zwei Formen des Bestrafens. Die Disziplinarstrafe wird als >gewohnheitsbildendes Lenkungsmittel< eingesetzt. Sie rekurriert auf einen Entwurf von Disziplin als Basis der Erziehung, als institutionellem Ordnungsrahmen, der erzieherisches Einwirken allererst ermöglicht. Die »repressive Form des ftihlbaren Nachteils« (ebd.: 151) ist auch hier Mittel der Disziplin(ierung), die Disziplinarstrafe entbehrt aber im Gegensatz zur moralisch orientierten Strafe des Komplexes von Schuld und Sühne. Ihr geht es um die Lenkung und Steuerung von Verhalten. Typische Strafformen dieser Art sind nach Geißler die Strafarbeit, das Nachsitzen oder auch die - von ihm als hoch problematisch markierte - Strafe durch schlechte Schulnoten. Ebenso zählt Geißler die Einbindung der Eltern in den Strafakt zum Komplex der Disziplinarstrafen (vgl. Geißler 1975: 167-171). Disziplinarstrafen drohen aber auch, die Ziele der Erziehung zu unterminieren (ebd.: 161ff.). Denn es besteht die Gefahr, die Tatsache der Diszipliniertheit mit >tatsächlichem< Erziehungserfolg zu verwechseln (vgl. ebd.: 171), indem ein äußerlich angepasstes Verhalten der Schüler*innen als Ausdruck ihrer inneren Haltung fehlinterpretiert wird. Demgegenüber haben Erziehungsstrafen das Ziel, »den Willen des Gestraften bessernd [zu] verändern« (ebd.: 171 ). Vor dem Hintergrund der normativen Zielstellung von Autonomisierung, geht es hier um Verhaltensänderung aufgrundeiner Beeinflussung des inneren Zustands, um Einsicht und auch die Übernahme von Schuld (vgl. ebd.: 172). Die Erziehungsstrafe brauche dabei, so Geißler, den personalen Be-
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zug von Erzieher*in und Zögling ebenso, wie Verantwortungsfahigkeit seitens der Heranwachsenden. Erziehungsstrafen rekurrieren auf die Anerkennung einer Autorität und damit auf >innere Disziplin< (Homey 1968: 80). Formen der Erziehungsstrafe sind demnach der - von Geißler hoch kritisch betrachtete - >Liebesentzug< ebenso, wie Praktiken der Wiedergutmachung entstandenen Schadens und der Sühne (vgl. Geißler 1975: 178-181). An dieser Stelle wird nun das durch die Strafe produzierte Leid positiv besetzt.9 Denn, wenn tief verspürte Sühne und die Erfahrung von Strafleid es sind, die das Subjekt zur Verhaltensänderung bringen, dann wird diese Form der Strafe legitim. Mit der Unterscheidung einer inneren von einer äußeren Ordnung und mit zwei unterschiedlichen Formen von Bestrafung, die ihrerseits normativ unterschiedlich bewertet werden, ist eine populäre Denkfigur des pädagogischen Diskurses in den 1950er-1970er Jahren auf den Begriff gebracht. In derlei Entwürfen kristallisieren sich die Logiken und Widersprüche des Strafens in Gänze heraus. Denn einerseits steht Strafe dem Erziehungsziel entgegen, wird aber andererseits in ihrer Notwendigkeit zumindest implizit legitimiert. Sie muss sich vor dem Hintergrund eines auf Autonomisierung und Selbständigkeit zielenden normativen Horizonts in Widersprüche verwickeln. Strafe ist, so wie alle pädagogischen Unterfangen seit der Modeme, grundlegend antinomisch strukturiert (vgl. Reisper 2004). 10 Aus einer an Foucault geschulten Perspektive ist die Dichotomie von Erziehungs- und Disziplinarstrafen in letzter Konsequenz obsolet. So zielen etwa die Strafen der Disziplinarmacht immer auf die Etablierung einer äußeren Ordnung - und arbeiten mit ebendieser -, streben aber grundlegend danach, das Subjekt in der Tiefe zu modifizieren. Bestrafung und Subjektivierung fallen dann ineinander. Das sich hier bereits andeutende, grundlegende Unbehagen am Bestrafen durchzieht auch gegenwärtige pädagogische Praxis und pädagogisches Sprechen. So zeigen ethnographische Beobachtungen, wie Disziplin von Lehrkräften als permanenter Kampf um das Einhalten von Regeln konstruiert wird, während Disziplinierung als unschöner Begriff oder >furchtbares Wort< mit einem Sprechtabu belegt wird. Disziplinierungspraxis haftet demnach ein impliziter Nimbus des repressiven Bestrafens an, sie wird mit äußerem Zwang assoziiert und ist - im Gegensatz zum Begriff der Disziplin als Idealzustand - negativ besetzt (vgl. A. Langer & Richter 2015: 215f.). Die Frage nach der Disziplinierung steht damit in einem grundlegenden Verweisungszusammenhang mit Strafe, die Anforderung, zu sanktionieren, fällt mit dem 9
Denn unter der Voraussetzung, dass der Wille des Subjekts nicht seinem Intellekt folgt, sondern eigendynamischen Regungen und Strebungen, wäre die »Strafe, bei aller verbleibenden Ambivalenz, kein Rest noch nicht aufgearbeiteter gesellschaftlicher Inhumanität, sondern selber Ausdruck eines unabdingbaren Humanum im Existenzbereich des freien und verantwortlichen, zugleich aber auch endlichen und fehlbaren Menschen« (Geißler 1975: 181).
I 0 Und so ist die Strafe bei Geißler (1975) noch legitim, dies jedoch nur unter größten Vorbehalten und in sehr eingeschränkter Form. Damit stehen seine Ausfuhrungen paradigmatisch fur jene umfassende Problematisierung von Strafe(n) im pädagogischen Diskurs, die sich an der Schwelle zu den 1970er Jahren abzeichnet (vgl. Richter 2018: 111-128) und schließlich in ihre vollständige Verdrängung aus dem pädagogischen Diskurs münden sollte.
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Sprechtabu über die Strafe zusammen, wodurch letztlich das Sprechen über Disziplinierung insgesamt erschwert wird (vgl. Richter 2019: 122-133). Gleichwohl werden im schulischen Alltag Strafen auch weiterhin angedroht und verhängt. Sie dienen der Sicherung von Regeln und tauchen in unterschiedlichen Formen - vom Sanktionieren durch Signalsysteme über die Androhung von Unterrichtsausschluss bis zum Abschreiben der Schulordnung - auf (vgl. ebd.: 86, 92, 93f.). 11 Dabei werden Strafen bisweilen einseitig auferlegt, bisweilen den Schüler*innen erklärt und so legitimiert (vgl. ebd.: 128). Die Strafe steht damit letztlich stets im Hintergrund jeder Disziplin, Praktiken der Disziplinierung fußen stets auf der Möglichkeit der Bestrafung. Und alle Strafe rekurriert ihrerseits auf die Vulnerabilität des Subjekts, wie Heinze (2016) im engen Bezug auf Butler herausstellt. Aus dieser Perspektive erscheint die Strafe als eine Pädagogisierung der Gewalt (vgl. ebd.), die sich in Rohrstock und Karzer ebenso manifestieren kann, wie in den neuen, auf rationale Selbstunterwerfung zielenden Disziplinarpraktiken (neoliberaler) pädagogischer Prägung (vgl. ebd.: 180f.).
Körperstrafe und Gewalt In besonderer Deutlichkeit kommt der Charakter des Strafens als einer >Verletzung< des Subjekts in Körperstrafe und Gewalt zum Ausdruck. In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Verankerung körperlicher Züchtigung in der Schule der Vormodeme und ihre Transformationen in der Disziplinargesellschaft bereits deutlich hervorgehoben und dabei nicht nur auf ihre lange Persistenz, sondern auch auf entscheidende Wendepunkte aufmerksam gemacht. Wenn der Umgang mit dem Körper des jungen Menschen etwas über die Machtverhältnisse zwischen den Generationen, über den Charakter und die Orte der Zurichtungen des Subjekts auf soziale und ökonomische Prinzipien sowie über die Legitimierungen dieser Zurichrungen aussagt (vgl. Hafeneger 2011: 24), so bleibt hier zu konstatieren: Die Institution Schule reklamierte über lange Zeit einen quasi-totalen Zugriff auf den Körper der Schüler*in, der von Zurichtungspraktiken im Kontext schulischer Rituale, räumlicher Praxis und mannigfaltigen Ein- und Ausschlussformen bis über die Grenze der physischen und psychischen Unversehrtheit hinausreichte. Diese Form der Macht war in der Lehrkraft personifiziert - und im >Rohrstock< objektiviert. In der Gegenwart sind körperliche Strafen und Gewalt in der Schule sozial geächtet und rechtlich sanktioniert. Neben den in den letzten Jahren medial wie wis-
II Die Art und Weise der Sanktionierung hängt wiederum davon ab, wie die Gründe von Regelabweichung und Störung attribuiert werden. Letztlich läuft alles darauf hinaus, die Disziplinierung an den Schüler* innen anzusetzen, weil allein diese bearbeitbar, dem kompensatorischen pädagogischen Zugriffverfügbar sind. Dies wiederum zieht einen Defizitblick auf das Individuum mit sich (vgl. Richter 2019: 188). Disziplin als selbstläufige Regelfolge bildet auch hier den positiven Gegenhorizont nicht nur von Regellosigkeit, sondern auch von Disziplinierung und Strafe. Anstelle von (potentiell demütigenden) Praktiken des Herumschreiens oder des In-die-Ecke-Stellens, werden Unterricht und interaktive Gesprächsführung positiv bewertet. Andererseits grenzen sich die Lehrkräfte aber auch von Nachlässigkeit und Inkonsequenz ab. In dem Moment, wenn es um Konsequenz und Regeleinhaltung geht, erscheinen Bestrafungen damit legitim, werden jedoch immer mit Vorsicht und hoch differenziert benannt und beschrieben.
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senschaftlieh vielbeachteten Fällen der systematischen sexualisierten Gewalt in Schulen, Heimen und kirchlichen Einrichtungen, die an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden können (vgl. Hafeneger 2011 ; Thole et al. 2012; Willems & Ferring 2014), zeigen empirische Studien zu alltäglichen Schulerfahrungen jedoch, dass es bisweilen immer noch zu Formen körperlicher Übergriffe nicht nur unter Mitschüler*innen, sondern bisweilen durch Lehrkräfte gegen Kinder und Jugendliche kommt. Lehrer*innengewalt, so lässt sich konstatieren, ist zwar selten, bleibt aber Teil der schulischen Erfahrungswelt So geben in einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen 2,5% der befragten Schüler*innen an, in der Vergangenheit von ihren Lehrkräften geschlagen worden zu sein, wobei Jungen häufiger betroffen sind, als Mädchen (vgl. Baier et al. 2009: 57f.). Auch Befunde aus Österreich deuten darauf hin, dass körperliche Gewalt durch Lehrkräfte zwar die Ausnahme bildet, dennoch aber zum Repertoire des Praktizierten gehört (vgl. Krumm 2003; Krumm & Eckstein 2002; Krumm & Weiß 2002). Zu gewaltförmigem Lehrer*innenverhalten gehört dabei nicht nur das Schlagen, auch andere Formen von Gewalt sind empirisch beobachtet worden, zu denen etwa das Werfen mit Gegenständen (Schlüsselbund) oder auch das ziehen an Haaren und Ohren zählt (vgl. den Überblick bei Schubarth & Ulbricht 2015: 279f.). Die Frage, ob und wann körperliche Gewalt als Form der >Strafe< zu deuten ist, lässt sich wiederum nur im jeweiligen Kontext beantworten. Statistische Studien wie die oben zitierten sagen in der Regel wenig Systematisches über die Rahmenbedingungen der erlebten Gewalt aus. Auch wenn es Hinweise auf die Einbindung körperlich gewaltsamer Praxis als systematische Sanktionsform gibt, erfährt man wenig darüber, ob die gewaltsamen Handlungen in der Mehrzahl als Bestrafung gerahmt waren, ob sie in anderen Situationen (etwa im Kontext allgemeinerer Interaktionen, im Affekt usw.) geschehen (sind) oder ob es sich gar um Formen ungerichteter und selbstbezüglicher Gewalt handelt. Diesen Aspekt hat bereits Geißler (1975) mit Blick auf Befunde zu Gewalt gegen Kinder in den 1970er Jahren diskutiert. Er argumentiert, dass die Reduktion von Gewalt auf Strafe schnell übersehen lässt, dass »die genannten Formen [von Gewalt, T.H.] Auswüchse einer gewalttätigen Herrschaft sind, während es Strafe mit dem Verhältnis von Recht, Schuld und Gerechtigkeit« zu tun habe (ebd.: 147). Der Unterschied zwischen Gewalt und Strafe besteht aus dieser Perspektive in dem Verlust moralisch-ethischer Bezüge und wohl auch in der Intensität des gewaltförmigen Handelns. An dieser Stelle und mit steigender Rigorosität würde dann, mit Foucault gesprochen, die Grenze vom Macht- zum Gewaltverhältnis durchlässig, würde Macht in Gewalt übergehen. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass der Gewalt dadurch ihr Machtcharakter abginge. Im Gegenteil ist sie, mit Heinrich Popitz (1992) gesprochen, selbst »eine Machtaktion«, die sich aber dadurch auszeichnet, dass sie »zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat (als bloße Aktionsmacht) oder, in Drohung umgesetzt, zu einer dauerhaften Unterwerfung (als bindende Aktionsmacht) führen soll« (ebd.: 47). Die Körperlichkeit von Strafe manifestiert sich nun aber nicht nur in offensichtlicher Gewalt, sondern auch >Unterhalb< von Formen körperlicher Züchtigung. So können auch solche Strafen am Körper ansetzen, die ihrem Charakter nach nicht unmittelbar als Gewaltaktionen erkennbar sind. Denn wenn einem kippelnden Schü-
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ler angedroht wird, er müsse bei wiederholtem Kippeln den Rest der Stunde stehen, so ist auch hier der Körper Angriffspunkt von Strafe: durch Verordnung einer unangenehme(re)n Körperhaltung (des Stehens), sowie schließlich durch die Anweisung, den Raum zu verlassen, d.h. durch >körperlichen< Ausschluss (vgl. A. Langer 2008: 146ff.). Und dass die Bedeutung des Körperlichen auch den Apologeten einerneuen Strafkultur nicht verborgen bleibt, wurde oben bereits bei Bueb ersichtlich, wenn er in seiner Rechtfertigung der Strafe deutlich macht, dass jede Strafe auch eine körperliche Dimension aufweise (vgl. wie oben Bueb 2007: 109). Und zu guter Letzt basiert auch die konfrontative Pädagogik mit ihrer Methode des >heißen Stuhls< auf der Erzeugung von als unangenehm empfundener Körperlichkeit, die auch und vor allem durch die Verbindung potentiell demütigender Sprechakte und Zuschreibungen mit einer körperlich >engen< und beklemmenden Sitzkonstellation entsteht (analytisch vgl. wie oben Göppe12010: 103f.). Obschon sie im gesellschaftlichen Diskurs und im pädagogischen Sprechen ebenso tabuisiert wird, wie sie als Thema der Forschung bisher stark unterrepräsentiert ist (vgl. weiterführend auch Hafeneger 2014: 209ff.; Schubarth & Ulbricht 2015), bleibt die Gewalt in der Schule also weiter präsent. Unabhängig davon, ob es sich um Körperstrafen, um Gewalthandlungen um ihrer selbst willen, um >milde< Strafen mit direktem Körperbezug handelt und ebenso unabhängig davon, ob diese Form der Bestrafung als Disziplinar- oder als Erziehungsstrafe gedeutet wird oder gar als >natürliche Strafe< im Rousseau' schen Sinne auf den Plan tritt (vgl. Geißler 1975 : 150f.), die um den Körper kreisende Bestrafung ist in all ihren Ausprägungen und unabhängig von den sie stützenden Legitimationsdiskursen ein Mittel der Zurichtung, in dessen Zentrum das Kind/der Jugendliche als verletzliches Subjekt steht.
Demütigung und Beschämung Das Feld der Praktiken, die unter dem Begriff der >Gewalt< zusammengefasst werden, differenziert sich weiter aus, wenn ihm die vielfältigen Formen psychischer Zumutungen - beschämendes und beleidigendes Sprechen, Bloßstellen und verbalkommunikative Erniedrigungen - zugerechnet werden. Einschlägige Studien zeigen, dass demütigendes Verhalten im Kontext schulischer Praxis wesentlich weiter verbreitet ist, als die oben geschilderten Formen roher körperlicher Gewalt. So geben etwa in der Studie des KFI Niedersachsen mehr als 25% der befragten Schüler* innen an, durch eine Lehrkraft vor anderen Schüler*innen lächerlich gemacht worden zu sein. Ähnlich hoch liegen die Prozentzahlen derer, die angeben, von einer Lehrkraft gemein behandelt worden zu sein (vgl. Bai er et al. 2009: 57f.). Andere Studien haben konkrete Formen beschämenden Lehrer*innenhandelns rekonstruiert, wobei Schüler*innen, Student*innen und auch Eltern zu Erfahrungen mit herabwürdigendem Lehrkräftehandeln befragt worden sind. In diesen Studien sind vielfältige Praktiken der Abwertung dokumentiert, zu denen das (An-)Schreien und Beleidigen ebenso gehört, wie Formen der (klassenöffentlichen) Demütigung und des Bloßstellens z.B. hinsichtlich der Leistung, falsche Anschuldigungen, die Attribution unerwünschter Eigenschaften und Unterstellungen von Fehlverhalten. Dabei ist auffällig, dass verbale Herabsetzung in sehr verschiedenen Formen auftreten kann (vgl. Krumm 2003: 111 ff.; Krumm & Eckstein 2002: 3ff.). So sind Formen der klassenöffentlichen Demütigung durch das Zur-Schau-Stellen schlechter Leistungen, durch Prüfung von ängstlichen oder leistungsschwachen Schüler*innen
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an der Tafel oder durch die klassenöffentliche Kritik des Aussehens oder durch das Sich-lustig-Machen über die körperliche Erscheinung von Schüler*innen (Kleidung, Körperform, Gewicht etc.) ebenso dokumentiert, wie Formen der Ausgrenzung (Schüler* in muss sich in die Ecke stellen, darf nicht an einer Klassenfahrt teilnehmen), der Einschüchterungen und Demotivierungen durch herablassende Kommentare und Beleidigungen durch Schimpfworte oder durch Herabwürdigung der Herkunft oder das Ignorieren von Bedürfnissen (vgl. ebd.: 5f.). In der Auswertung von über 15.000 >Feldvignetten< bei Prengel (2013) ist dokumentiert, dass immerhin 16% der beobachteten Interaktionen als verletzend sowie 6% als schwer verletzend klassifiziert werden mussten. Demnach war im Durchschnitt mit jeder vierten beobachteten Interaktion »eine Verletzung verbunden« (ebd.: 103), während im Schnitt mit jeder sechzehnten die Missachtung einer Mitschüler*in einherging (vgl. ebd.). Die Virulenz von demütigender Praxis kommt auch in den Hauptschul-Ethnographien von Stephan Weilgraf plastisch zum Ausdruck. Verachtung gegenüber den Hauptschüler*innen zeigt sich dort auf vielfältigen Ebenen des schulischen Alltags (vgl. Wellgraf2012: 77-104, 165-200, s. auch Kap. 4.2.2). Die oben genannten Formen der Herabwürdigung von Schüler*innen durch Lehrkräfte können mit Hafeneger (2013) als Formen der Beschämung gedeutet werden. Im Gegensatz etwa zur Verlegenheit ist Scham »ein sozialer (peinlicher und unerträglicher) Affekt und eine spezifische Sozialbeziehung in diskriminierender und abwertender Form« ( ebd.: 72). Scham stellt sich als intensives Gefühl der Unzulänglichkeit dar, das zeitlich längerfristig überdauert. Beschämungen sind dann Formen der gezielten Hervorbringung von Scham, die auf unterschiedlichen Ebenen und vermittels unterschiedlicher Praktiken artikuliert sein können (s. oben), die sich aber letztlich darin gleichen, dass sie im Subjekt »Identitätskrisen« produzieren (ebd.: 73, mit Bezug auf Lietzmann 2007). Beschämung und Demütigung arbeiten sich dabei immer auch an Differenzkonstruktionen ab. Mit der Abwertung von Leistung, Herkunft, zugeschriebener >Intelligenzweicheninkludierende Exklusion< (Bohn 2001) abgelöst. Ihr geht es nicht mehr um »Distanznahme und Meidung«, sondern um eine »kontrollierte Form der Distanznahme und Überwachung« (Bohn 2008 : 179). Inkludierende Exklusion bedeutet Einschluss des Subjekts zum Zweck seiner Kontrolle. Sie wird zum Signum (spät-)moderner Separationspraxis, ftir welche das >Panopticon< mit seiner Grundlogik pausenloser Beobachtung Pate steht (vgl. Foucault 1994). Im Folgenden geht es um Praktiken des Ein- und Ausschlusses im schulischen Dispositiv. Die eigentümliche Spannung zwischen gouvernementalen Entgrenzungen einerseits und der Persistenz disziplinargesellschaftlicher Raumformationen andererseits tritt auch in diesem Kontext eindrücklich zutage.
3.4.1 Schulische Raumformationen zwischen Parzeliierung und Entgrenzung Die Bedeutung räumlicher Strukturen ftir die Organisation pädagogischer Machtverhältnisse ist gut belegt. Die schulische >Machtarchitektur< weist eine Reihe räumlicher Formprinzipien auf, welche die oben skizzierte, inkludierende Exklusion materiell vorstrukturieren. Die Prinzipien der Parzeliierung und des seriellen Raumes wurden bereits weiter oben in ihrer Bedeutung ftir die zellenf6rmige Mikrophysik der Macht herausgestellt (vgl. Foucault 1994: 191). Das dort beschriebene Muster der Disziplinarparzelle verleiht dem schulischen Raum dabei bis heute seine Struktur (vgl. Böhme 2012). In ihrer Subjektivierungslogik ist die Parzeliierung ambivalent. Sie betreibt einerseits die Anerkennung des Individuums mit seinen Eigenheiten und weist ihm einen eigenen Platz im Gesamtgefüge schulischer Machtarchitektur zu. Andererseits aber bleibt die Parzelle ein Instrument der effizienten Überwachung von Anwesenheiten und Verhalten. Sie verwickelt das Subjekt in eine Paradoxie von Anerkennung und Unterwerfung (vgl. ebd.: 221). Die Parzeliierung zeigt sich in der architektonischen Gestaltung von Schulgebäuden und Klassenräumen gleichermaßen. Schulbänke und Lehrerpulte wurden im
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19. Jahrhundert zu Kernelementen schulischer Machtarchitektur (vgl. Hnilica 2010), aber auch heutige Formationen von Klassenräumen strukturieren durch ihre Anordnungs- und Platzierungslogik asymmetrische Machtverhältnisse zwischen einem Sender und einer »Empfangermasse« vor (Böhme, Flasche & Herrmann 2016: 73 , vgl. auch ebd.: 68ff.). Die Organisation des (schulischen) Disziplinarraums basiert auch weiterhin auf der »Bildung von Parzellen, von kleinen, geschlossenen Einheiten« (Rieger-Ladich & Grabau 2014: 66), die auf Überblick und Kontrolle ausgelegt sind. Andererseits aber wird die Struktur von Ein- und Ausschluss auch irritiert. Wie oben gezeigt argumentiert Deleuze (1993), dass ein Prozess der >Auflösung der Einschließungsmilieus< (vgl. ebd.: 225) zu beobachten sei, dass die abgeschlossenen Disziplinarräume in der >Kontrollgesellschaft< an Bedeutung verlören, weil die Subjekte sich nunmehr selbstläufig den allgegenwärtigen Zwängen der Ökonomisierung unterwürfen. Und schließlich kann auch das gezielte In-Bewegung-Setzen der Subjekte eine Technologie der Macht sein. Nicht nur unterlaufen und durchbrechen Schüler*innen in ihrer Eigensinnigkeit das schulische Regime der Körperfixierung, sondern die Schule selbst kann Bewegung in Form einer gezielten, »top-down« initiierten Mobilität des Subjekts bef6rdern (Kajetzke 2010). Damit wird die Parzellenstruktur des schulischen Raums zwar nicht vollumfanglieh auflöst, wohl aber im Dienst der Aufrechterhaltung pädagogischer Machtverhältnisse flexibilisiert (vgl. ebd.: 604ff.). Insgesamt stehen sich bezüglich der Frage nach Ein- und Ausschluss im pädagogischen Feld damit zwei Diagnosen gegenüber, die sich jeweils gleichermaßen auf empirische Evidenz stützen. Die erste lautet, dass disziplinargesellschaftliche Formationslogiken persistieren. Die andere lautet, dass ebenjene Logik im Zuge der Herausbildung neuer Machtformationen zunehmend in den Hintergrund tritt und mithin verdrängt wird.
3.4.2 Heterotope Parzellen. Über den >Trainingsraum< Die Spannung zwischen disziplinargesellschaftlichen und gouvernementalen Raumpraktiken tritt exemplarisch in der >Trainingsraummethode< zutage, die bereits oben als eine jener >weichen< Machttechnologien beschrieben wurde, welche die schulische Disziplinierungslandschaft in spätmodernen Zeiten bevölkern (siehe Kap. 3.2.1). Unabhängig von der Programmrhetorik bedeutet der Verweis störender Schüler* innen in den Trainingsraum aber zunächst einmal die schlichte Auslagerung eines Handlungsproblems, um die unterrichtliche Ordnung aufrecht zu erhalten (Budde 2014: 107). Mit Foucault lässt sich der Trainingsraum als eine >Auslagerungsheterotopie< bezeichnen. Heterotopien sind gesellschaftlich hervorgebrachte Räume, die jeweils spezifische, eigene Logiken ausbilden (vgl. Foucault 2013b). Entlang dieser Eigenlogik können sie gesellschaftliche Ordnungen entweder suspendieren oder aber selbst im Dienste der Reproduktion und Stabilisierung gegebener Ordnungen stehen. Auf Abweichungsheterotopien trifft letzteres zu. Sie sind Räume, in welche das Abweichende eingelagert wird, um es nach erfolgter Modifikation wieder in das Herrschende einzugliedern (vgl. ebd: 12; Klass 2008: 265). Im Lichte seiner Raumpraxis ist das Trainingsraurn-Programm grundlegend paradoxal. Denn der räumliche Ausschluss aus dem Klassenzusammenhang bleibt
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grundlegendes Funktionsprinzip, das die Logik der sanften Führung, die im Programm zentral steht, grundlegend konterkariert. Die Parzellenstruktur des schulischen Disziplinarmums ist damit hier die notwendige Vorbedingung der >sanften< Machttechnologie. Der Exklusionscharakter des Raumes, der noch vor jedem pädagogischen Gespräch, vor jedem Reflexionsbogen und vor jeglicher Einsicht steht, erfüllt zudem die Funktion einer symbolischen Vorwarnung. Denn allein durch den räumlichen Ausschluss simuliert der Trainingsraum »unter abgestuftem Risiko, was dieStörerund Lernverweigerer später erwartet: soziale Exklusion« (Pongratz 2010a: 72). Die vordergründige Entwicklungs- und Reflexionsprogrammatik wird durch die implizite Anforderung der Unterwerfung unter schulische Ordnungsparameter gebrochen, die rhetorische Formel vom eigenständigen Handeln durch mechanistischbürokratische Abläufe unterminiert, welche den >Strafvollzug< letztlich an das Subjekt selbst delegieren (vgl. Heinze 2016: 180). Studien zur Implementation des Programms in der schulischen Praxis existieren nur wenige. Die quantitative Studie von Wollenweber (2013) kommt zunächst zu dem Ergebnis, dass keine Hinweise auf bedeutende Verbesserungen in Bereichen wie Aufmerksamkeit und Schulklima durch die Nutzung von Trainingsräumen bestehen. Es zeigt sich aber, dass vor allem die Entlastungsfunktion, die der räumliche Ausschluss bietet, einen Grund für die Einrichtung des Raumes an Schulen darstellt (vgl. ebd.: 133f.). Qualitative Studien wiederum dokumentieren die hoch ambivalente Nutzung des Trainingsraums im schulischen Alltag. Einerseits wird er als Strafraum in die pädagogische Praxis eingebunden. So beobachten etwa Richter & Friebertshäuser (2012), dass dem Trainingsraum durchaus der Charakter von Drohung und Sanktion anhaftet. Der Verweis in den Raum kommt einer >Quarantäne< für Störer*innen gleich, wodurch weitere Störungen präventiv verhindert werden sollen (vgl. ebd.: 77). Auch die Analysen von Jornitz (2004) zeigen, dass der Verweis in den Trainingsraum der einseitigen Entscheidung durch die Lehrkraft folgt - und nicht, wie im Programm vorgestellt (Bründel & Sirnon 20 13), eine Entscheidung der Schüler*in ist. Der Verweis in den Trainingsraum wird dabei durch einen Überweisungsbogen oder auch Laufzettel begleitet, auf welchem die Lehrkraft das Vergehen der Störer*in vermerkt. Die Formulierungen auf dem Bogen schwanken zwischen standardisierter Dokumentation und personalisierter Anklage. Durch den formalisierten Laufzettel kann aber nicht nur über den Verstoß Auskunft erteilt, sondern der Schüler effizient und »bürokratisch kontrolliert weitergeleitet werden« (Jornitz 2004: 104). Der Strafakt des Trainingsraumverweises wird damit durch ein Dokument ergänzt, welches die störende Schüler*in noch einmal qua offiziösem Akt etikettiert und so die institutionelle Fremdrahmung als Normabweichler*in unterstreicht. Einschlägige Studien zeigen nun, dass die Praktiken im Trainingsraum durchaus mit dessen Strafcharakter brechen können. So verdeutlichen etwa Richter & Friebertshäuser (2012), wie der in der von ihnen untersuchten Schule tätige >Trainingsraumlehrer< die Praxis der Störungsbearbeitung vor allem als Gesprächs- und Beratungssituation im Sinne der Schüler*in rahmt (vgl. ebd.: 75). Analysen aus dem Kontext der vorliegenden Arbeit deuten auf ein ähnliches Muster hin. So wird auch an der ersten Fallschule des hier zugrundeliegenden Sampies der Trainingsraum als Strafarrangement entworfen (s. Kap. 7.4, vgl. auch Fölker et al. 2013). Von den im Trainingsraum tätigen Pädagogen wird er hingegen als ein Ort der schüler*innenorientierten Arbeit konstruiert und verfangt sich in Spannungen zur Disziplinarkultur
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der untersuchten Schule insgesamt, ohne aber zu deren wirksamem Gegengewicht zu werden (vgl. Hertel 2015). Auch Jornitz (2004) zeigt, wie die Logik des Trainingsraums als Sanktionsinstrument mithin durch die Arbeit im Raum selbst unterwandert werden kann - nämlich dann, wenn die Trainingsraumlehrkraft den Deutungsrahmen des >devianten Subjekts< ernst nimmt (vgl. ebd.: 112ff.) und so schulische Fremdrahmungen dekonstruiert. Letztlich wird die Konfliktbearbeitung damit aber in den Klassenraum zurückverwiesen. Der Trainingsraum wird zum >Bumerang< (vgl. ebd.: 115f.) In der Gesamtschau ist der Trainingsraum damit ein ambivalentes Konstrukt. In seiner raumstrukturellen Anlage bleibt er der Logik der Disziplinargesellschaft und der Formstruktur der Disziplinarparzelle verhaftet. Er ist, ungeachtet aller Programmrhetorik, Manifestation disziplinargesellschaftlicher »Antivagabondage-, Antiagglomerationstaktik« (Foucault 1994: 183) und ihrer Aktualität im schulischen Dispositiv. Er fungiert als Mittel sozialer Kontrolle und pädagogischer Homogenisierung. Unterhalb physischer Exklusion und pädagogischer >Sortierung< können sich im Trainingsraum aber wiederum Potenziale widerständiger Praxis entfalten. Und hier zeigt sich dann die andere Seite des Trainingsraums als Heterotopie. Er ist nicht nur Auslagerungsstätte ftir das Abweichende und seine Normalisierung, sondern kann, wie Heterotopien generell (wie oben vgl. Foucault 2013b; Klass 2008), auch zu einem Widerlager des Bestehenden werden. Damit zeigt sich in der Gesamtschau, dass und wie auch schulische Raumstruktur im Dienste der Disziplinierung steht. Gleichzeitig werden die Risse und Widersprüche im Spannungsfeld gouvernementaler Entgrenzung und disziplinargesellschaftlicher Haltekräfte auch hier deutlich. Im nächsten und letzten Abschnitt soll es nun darum gehen, einen abschließenden Blick auf das Subjekt zu werfen. Nachdem Diskurse, Praktiken und materielle Strukturen in ihrer Bedeutung ftir Disziplinierungen betrachtet wurden, geht es um die Frage, wie sich Schüler*innen zu den Machtstrukturen des schulischen Dispositivs verhalten.
3.5 DISZIPLINARSUBJEKTE. ZWISCHEN SELBSTUNTERWERFUNG, DISTINKTION UND WIDERSTAND In den oben entfalteten machttheoretischen Überlegungen wurde herausgestellt, dass Subjekte Ausdruck von Machtwirkungen sind, an deren Zirkulation sie selbst aktiv teilhaben. Macht geht in die Subjekte über, wird durch sie verkörpert, gleichzeitig produzieren die Technologien der Macht immer auch einen >ÜberschussClassroom Management< etwa interessieren sich (auch) für die Wahrnehmung von Klassenführungsstrategien, Verhalten und Praktiken der Disziplinierung durch Schüler*innen (vgl. Montuoro & Lewis 2015). Studien aus dem Bereich der Kindheits-, Jugend- und Schulforschung wiederum untersuchen das Verhältnis von schulischer und peer-kultureller Ordnung (vgl. de Boer 2009a; de Boer & DeckertPeaceman 2009) und die Reibungen, die in der Vermittlung dieser Ordnungen entstehen, interessieren sich für die Dynamik zwischen schulischer >Vorder- und Hinterbühne< (J. Zinnecker 1978), fragen nach den Passungen schulischer Anforderungen und milieugebundener Habitusformationen (Helsper et al. 2008; Kramer & Reisper 2011) oder untersuchen aus praxeologischer Perspektive, wie schulische Ordnung(en) im Vollzug entstehen und welche aktive Rolle Schüler*innen dabei zuteil wird (Eckermann & Heinzel 2015; Kalthoff & Kelle 2000). Im Folgenden werden pointiert Ergebnisse solcher Studien dargelegt, die sich mit der Positionierung und Verhältnisbildung von Schüler*innen zu schulischer Ordnung auseinandergesetzt haben. Sie zeichnen ein komplexes Bild des pädagogischen Subjekts zwischen Selbstunterwerfung, Distinktion und Widerstand.
3.5.1 >Doing disciplinestraffes Klassenmanagement< (vgl. Dirton 2002: 280f.). Die Anerkennung und positive Beziehung zu klaren Regeln und straffen Führungsstrukturen im Klassenraum bleibt aber stets an Bedingungen geknüpft. Hierzu gehören insbesondere ein anerkennendes und sozial orientiertes Klassenklima (vgl. Cothran, Kulinna & Garrahy 2003: 439; Schönbächler 2006), die Authentizität der Lehrkraft bei gleichzeitig wertschätzendem Umgang (vgl. Mayr 2006) sowie eine souveräne Klassenführung bei gleichzeitig positiver Beziehungsarbeit (vgl. Neuenschwander 2006: 255). Die Durchsetzungsfähigkeit und Konsequenz von Lehrkräften wird durch Schüler*innen also positiv bewertet, bleibt jedoch an das Erfordernis einer fürsorglichen Beziehung gebunden (vgl. auch Egeberg & McConney 2017: 197ff.; Montuoro & Lewis 2015). Schüler*innen erscheinen somit als urteilende Subjekte, die ihre eigene Folgsamkeit von spezifischen Voraussetzungen abhängig machen. Regelbrüchigkeit und >Unterrichtsstörungen< erscheinen dann als Sanktionspraktiken der Schüler*innen gegenüber Anerkennungsverweigerungen. Ordnung im Klassenraum wird dabei in der Überschneidung unterschiedlicher Interaktionsebenen konstituiert, in welche auch die Schüler*innen umfassend verstrickt sind (vgl. wie oben Kalthoff & Kelle 2000: 696ff.). Nicht zuletzt rufen sie sich in ihren Adressierungspraktiken vor dem Hintergrund etablierter Ordnungen wechselseitig als schulische Subjekte an (vgl. Eckermann & Heinzel 2015). Schüler*innen >überwachen< einander, mahnen Regeleinhaltungen an und setzen sie
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durch (vgl. ebd.: 32). Kinder und Jugendliche eignen sich damit Subjektpositionen an und werden erst durch diese iterative Praxis zu handlungsfähigen Akteur*innen pädagogischer Ordnungen. Subjektpositionen werden somit nicht allein »sprachlichdiskursiv eingenommen« sie müssen »>verkörpertAmir< genannte Junge redet, wenn er nicht reden soll, trinkt verbotener Weise im Unterricht (vgl. ebd.: 30), überhört die Schulglocke am Ende der Pause (vgl. ebd.: 26) und erhält als erster negative Sanktionen für sein Verhalten (vgl. ebd.: 29). Die so vollzogene Markierung als Normabweichler lässt ihn nun sukzessive in eine Außenseiterposition rücken, die dann auch durch seine Mitschüler*innen gefestigt wird. Denn er wird zur negativen Kontrastfolie für seine Peers, die nun ihre eigene Regelkonformität - und damit: ihre Fähigkeit zum Schüler*in-Sein - in Abgrenzung zu Amir wirksam in Szene setzen können. Um den Abweichler herum spannt sich ein Netz negativer Differenzkonstruktionen auf, das zwischen institutioneller Norm, Lehrer*innenhandeln und Peer-Culture vermittelt. Es handelt sich um ein >doing peer while doing pupil< (ebd.: 35), in welchem sich schließlich die Diskriminierung Amirs verdoppelt: Er »ist nicht nur der unangepasste Schüler, sondern auch der ungeliebte Kamerad« (ebd.). Schüler*innen sind damit in einem Wechselspiel von Inkorporierung und Veräußerung der Ordnung in die Reproduktion schulischer Regelsysteme eingebunden. Die aktive (Selbst-)Einbindung in die Disziplinierung anderer Schüler*innen ermöglicht die performative Demonstration von Passungsverhältnissen, Regelkonformität wird zur peer-kulturellen Distinktionsquelle. Die Abweichler* innen werden institutionell als solche markiert und so zum >konstitutiven Außen< der Subjektivierung der Anderen. Es zeigt sich, dass das >doing pupil< - die Subjektivierung als Schüler* in in schulkonformen Praktiken - damit immer auch ein >doing the disciplinary subject< ist.
3.5.2 >Resistance is futileAnderen< der schulischen Ordnung: der Widerspenstigen, Resistenten und Widerständigen. Denn was bereits Foucault wiederholt herausgestellt hat - dass dort, wo Macht existiert, immer auch Widerstand entstehen kann -, gilt auch für die Schule. Der Begriff des >Widerstands< ist dabei hoch symbolisch aufgeladen. Er erinnert an Formen der geplanten, strategischen und gezielten sowie moralisch sanktionierten
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Gegenwehr angesichts der Zumutungen unterdrückender oder gewaltf6rmiger Herrschaft (vgl. Hechler & Philipps 2008: 8). In dieser Lesart kommt dem Widerstand nicht zuletzt auch in der Erziehung normative Bedeutung zu, soll doch Erziehung ihrem Anspruch an die Herausbildung autonomer Subjekte nach immer auch Erziehung zu mündigem Widerspruch sein (vgl. Adomo 2013). Eine solche, auf den intentionalen Widerstand eines mündigen Subjekts zielende Definition bleibt jedoch blind für eine Reihe widerspenstiger Praktiken, die sich alltäglich, aber unterhalb der Etikettierung als Widerstand vollziehen. Diese Praktiken der Irritation des Bestehenden rücken erst, so Hechler & Philipps (2008), entlang eines erweiterten Widerstandsbegriffs in den Blick. Ein solcher Blick auf >Resistenz< (ebd.: 8) im weiteren Sinne legt den Schwerpunkt auf eine stärker funktionalistische Betrachtung ordnungsbrüchiger Praktiken. In den Fokus gerät dann »tendenziell jede Form der Aufoder Ablehnung innerhalb einer asymmetrischen Herrschaftsbeziehung, die als Begrenzung und Abwehr zunehmend ausgreifender Machtansprüche wirkt, gleichgültig aus welchen Einflüssen, Motiven oder Gründen sie sich speist« (ebd.). Diese Unterscheidung von Widerstand im engeren und Resistenz im weiteren Sinne findet sich in der erziehungswissenschaftliehen Forschung zu widerständigen Praktiken Jugendlicher zwar nicht als explizite Leitdifferenz, sie kann aber entlang der Frage nach Intentionalität und subjektiver Absicht durchaus herangezogen werden, um zwei Pole dieser Forschungstradition zu markieren. Auf dem ersten Pol finden sich Studien, welche explizite Widerstandspraktiken durch Schüler*innen gegenüber schulischer Ordnung und schulischen Zumutungen thematisieren, auf dem zweiten Pol Analysen zu solchen Praktiken, die als Resistenz beschreibbar sind: habituell fundierte, in den alltäglichen Routinen der Akteur*innen verankerte Formen, schulische Ordnung(en) zu unterlaufen und zu brechen. Beide Formen sind im deutschsprachigen Raum insbesondere in den 1970er und 80er Jahren im Kontext der Jugendforschung herausgearbeitet worden (für einen Überblick vgl. Zinnecker 2008: 540ff.). So rekonstruiert Reisper (1989), ausgehend von modemisierungstheoretischen Grundannahmen, die Ambivalenzen einer schulkritischen Gruppe, der >Mensaszene< einer Gesamtschule. Diese, aus Jugendlichen unterschiedlicher Sozialschichten zusammengesetzte Gruppierung, zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihrer eigenen Schule sowie dem >System Schule< insgesamt kritisch-reflexiv gegenübertritt und dabei insbesondere die »systemisch-bürokratische Rationalität von Schule« und nicht zuletzt ihren Charakter als »Zwangsanstalt« anprangert (vgl. ebd.: 164). Die Positionierung der Widerständigen zur Schule bleibt aber letztlich zutiefst ambivalent. Denn die Jugendlichen beziehen ihre kritisch-reflexive Kompetenz allererst aus der Schule selbst, also aus jenem System, von dem sie sich absetzen. Hierin dokumentiert sich eine »Homologie von schulischer Lebensform und gegenkulturellem Milieu« (ebd.: 168), die schließlich in eine Kultur der Distinktion mündet, die ihrerseits Ausdrucksformen bürgerlicher Existenz im gegenkulturellen Milieu verfestigt (vgl. ebd.: 168f.). Machtanalytisch gewendet bedeutet dies, dass der Widerstand hier nicht umhinkommt, letztlich in den Gegenstand seiner Kritik zurück zu kippen. Objekt und Subjekt widerständiger Praxis fallen zusammen, was dem widerständigen Handeln selbst den Wind aus den Segeln zu nehmen droht. Ähnliches zeigt sich auch in den Rekonstruktionen zu einer oppositionellen Schülergruppe in einem Internatsgymnasium bei Böhme (2000). Die von ihr unter-
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suchte Schule verbürgt das Idealbild eines Schülers, der sich als >»reflexiver Traditionalistgemeinschaftsorientierter Leistungsasket< subjektiviert (ebd.) und seine Autonomie erst in der Unterwerfung und in der Übernahme schulischer Deutungsmuster erwirbt (vgl. ebd.: 98f.). Der Kampf der oppositionellen Gruppe ist ein Kampf um eine Position als »gleichberechtigte Interaktionspartner innerhalb der schulischen Gemeinschaft« (ebd.: 180). Er verläuft über mehrere Phasen und mündet schließlich in eine Phase des Rückzugs. Denn letztlich stehen ihre Ansprüche der Selbstverwirklichung und Autonomisierung immer schon »im Lichte einer Anpassung an das schulische Anspruchs- und Erwartungsprofil« selbst (ebd.: 181). Noch im Widerstands gegen die schulischen Entwürfe werden ebendiese Entwürfe also weiter verbürgt. Und somit zeigt sich eine ähnliche Struktur der Entkräftung von Widerstand, wie bei Helsper (1989): Widerstand in der Schule verbleibt im Raum des Schulischen und ist entweder Ausdruck des schulisch Geforderten oder wird durch es vereinnahmt. Zu den wegweisenden Studien über Praktiken der >Resistenz< muss auch die Arbeit von Paul E. Willis (1977) zum Alltag Jugendlicher aus der englischen Arbeiterklasse gezählt werden. Willis fokussiert auf eine Gruppe von Jungen, die eine Gegenkultur zur gesellschaftlich erwünschten, schulischen Ordnung entwickeln. Der Kern dieser Gegenkultur besteht in devianten und ordnungsbrüchigen Praktiken, zu denen die prinzipielle Ablehnung von Autorität in Gestalt von Lehrkräften und der Konsum verbotener Substanzen in der Schule ebenso gehören, wie verbale und körperliche Gewalt. Diese Praktiken werden unterflittert und stabilisiert, indem Normen männlicher Härte zitiert sowie die Aufwertung des Eigenen durch sexistische und rassistische Abwertungen Anderer geleistet wird. Willis argumentiert nun, dass dieses Verhalten einerseits Bildungsteilhabe erschwert, im Kontext kapitalistischer Produktionsverhältnisse jedoch keinesfalls dysfunktional ist. Denn in der vordergründigen Devianz und Widerspenstigkeit der >Lads< festigen sich Verhaltensformen, die den >KiassenhabitusArbeiterjugendliche< in den 1980er Jahren einem Habitus verhaftet bleiben, der sich wiederum durch die explizite Ablehnung des Schulischen bei gleichzeitiger Verbürgung traditionalistischer Ideale harter Männlichkeit und sexistischer Abwertung von Frauen und Mädchen auszeichnet. Die traditionellen »Werte familialer und arbeiterkultureller Erbschaft« (ebd.: 156) sind, unter Bedingungen gesteigerten >gesellschaftlichen Entwicklungsdrucks zu individuellen Karrieren< , nun aber kaum mehr als imaginäre Entwürfe (vgl. ebd.). Wo also die >Lads< in Willis' Ethnographie in ihren Widerstandspraktiken solche Subjektpositionen performieren, die in die gesellschaftlichen Reproduktionszyklen eingespannt werden können, ist dies in der Jungenclique, die Bietau untersucht, gerade nicht (mehr) der Fall. Die Inszenierung schuldistanter Haltungen durch marginalisierte Jugendliche scheint nun so etwas wie eine historische Konstante zu sein. Etwa zeugen die Ethno12 Auf diesen Befund verweist dann auch der Originaltitel der Arbeit von Willis: »Learning lo Labour. How Warking C/ass Kids Gel Warking C/ass Jobs« .
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graphienvon Wellgraf(2012, 2014b, 2018) an zahlreichen Stellen von Routinen devianter Verhaltensweisen, die bisweilen stark an das erinnern, was oben geschildert wurde. Denn auch die bei (insbesondere männlichen) Hauptschülern beobachteten Praktiken sind durchsetzt von routinisierten Brüchen der Ordnung. Formen der Ironisierung werden dabei ebenso beobachtet, wie Praktiken sexistischer Abwertungen und der aggressiven Inszenierungen von Männlichkeit. Weilgraf interpretiert diese Praktiken nun als Ausdruck eines ungerichteten Widerstands gegen die Institution Hauptschule, welche die sie besuchenden Jugendlichen immer schon auf die Position des Ausgeschlossenen verweist (Wellgraf2012: 83). In der Gesamtschau zeigt sich damit, dass widerständige Praktiken - ob explizit und reflexiv legitimiert oder ungerichtet und in habituellen Routinen verankert durch die Schule >entkräftet< werden können. Wo sich expliziter Widerstand in die Nähe zu schulisch gefordertem Verhalten begibt und so an Schlagkraft verliert, ist die habituell fundierte Widerspenstigkeit, die in den oben zitierten Studien (auch) als Ausdruck sozialer Klassenlagen erscheint, ihrerseits zwar vordergründig eine Irritation schulischer Routinen, fUhrt aber letztlich wiederum zu Reproduktion und Verfestigung subalterner Positionen. »Strategische Wiederaufftillung« hat Foucault (1978) den Prozess genannt, in welchem Dispositive die durch sie selbst produzierten, unbeabsichtigten Effekte und Nebenfolgen re-integrieren (vgl. ebd.: 12lf.). Widerstand, so ließe sich vor diesem Hintergrund formulieren, bleibt zwecklos.
3.6 ZUSAMMENFASSUNG. MÖGLICHKEITSRÄUME SCHULISCHER MACHTARTIKULATION In diesem Kapitel wurde der Stand der Forschung zum Themenkreis pädagogischer Disziplinierung auf den unterschiedlichen Ebenen des Machtdispositivs Schule aufgearbeitet. Im Durchgang durch historische Entwicklungen von Machtformationen und ihrer Verstrickung mit der Schule über die Gestalt jüngerer pädagogischer Disziplinierungsdiskurse bis hin zu den in der aktuellen Forschung dokumentierten Formen und Praktiken schulischer Regelbildung, Disziplinierung und Bestrafung sowie schließlich den räumlichen Strukturen schulischer Disziplin wurde deutlich, dass der eingangs markierte Spannungsbogen zwischen >hartenweichenGrammatik der Schulefreiwilligen Selbstkontrolle< (Pongratz 2004) zu werden scheint. Dies zeigt sich nicht nur in Diskursen und Programmen, sondern bisweilen auch in den Praktiken selbst. In der Gesamtschau ist
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damit nicht von einem basalen Prinzip der Macht zu sprechen, sondern von einem Fächer an Instrumenten, Techniken und Optionen, die dem Schuldispositiv zur Verfügung stehen. Die historisch gewachsenen Machtformationen scheinen sich nicht gegenseitig auszuschließen oder zu verdrängen, sondern haben im Zuge ihrer Entwicklungen ein Tableau von Verfahrensweisen etabliert, einen weit ausdifferenzierten Möglichkeitsraum der Macht eröffnet. Ob und wie dieser Möglichkeitsraum sich in schulischen Praktiken austariert, wird in den empirischen Analysen noch Thema sein. Zuvor muss allerdings die Frage nach dem Zusammenhang schulischer Marginalisierung und schulischer >Machtartikulation< beleuchtet werden, was im nächsten Kapitel geschieht.
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Machtverschärfung. Urbane Marginalisierung und schulische Disziplin
In den theoretischen Vorüberlegungen wurde bereits deutlich gemacht, dass die Gestalt einzelner Schulen nicht ohne den Bezug zu den sie umgebenden Sozialräumen zu denken ist. Der urbane Raum, um dessen Verhältnis zur Schule es im Folgenden geht, ist nun seinerseits weder beliebig noch ahistorisch. Im Gegenteil ist er unhintergehbar mit gesellschaftlichen Strukturen verwoben, die sich in ihm ebenso niederschlagen, wie er sie selbst mit hervorbringt. Dies hat Auswirkungen nicht nur auf die konkreten Lebensbedingungen der in den jeweiligen Räumen lebenden Menschen, sondern auch für die Struktur einzelner Schulen. Ausgehend von den vorangegangenen Ausführungen zur Gestalt des schulischen Machtdispositivs nähert sich dieses Kapitel dem Untersuchungsfeld der marginalisierten Schulen. Damit verfolgt es die Frage nach der Gestalt des schulischen Machtdispositivs in einen sozialräumlichen Kontext hinein. Jene Mechanismen und Auswirkungen sozioökonomischer Spaltung, um die sich die nachfolgenden Ausführungen drehen, treten spätestens seit dem 19. Jahrhundert in den sich zu dieser Zeit herausbildenden städtischen Räumen deutlich zutage. Es ist die Zeit, in der Arbeiterviertel, kleinbürgerliche Quartiere 1 und die Villenviertel der Oberschicht als eigene Lebensräume des Städtischen entstehen. Von nun an prägen Klassenverhältnisse das Gesicht der Städte (vgl. UHrich 2006: 138ff.). Der urbane Raum wird zum Aus-
Der Begriff des Quartiers verweist auf kleinräumige soziale Anordnungen. Mit Quartieren sind »abgegrenzte Stadträume [gemeint], die funktional und vielfaltig genutzt werden (Wohnen, Arbeit, Freizeit)« (Oehler & Drilling 2010: 205). Für Schnur (2008: 40) ist Quartier ein >Fuzzy Concept< und beschreibt eine räumliche Konfiguration mit unscharfen Grenzen. Ein Quartier ist demnach definierbar als »kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen konstruierter, jedoch unscharfkonturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individueller sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im räumlich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfelds abbilden« (ebd. : 40). Die wesentliche Bezugsgrößen ist damit in der Überschaubarkeil und im identifikatorischen Wert des Quartiers zu suchen (vgl. ebd.: 40f.). Quartiere sind dann zunächst auch Manifestationen ökonomisch unterfütterter (Wohn-)Raumproduktionen. Der Begriff stellt aber die symbolisch-emotionale Seite von Quartieren als Bezugsraum von Subjekten dar.
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druck ökonomischer, politischer und sozialer Prozesse, die sich in ihm kreuzen und überlagern (vgl. Noack & Oevermann 2010: 266). Entsprechend verweist der Begriff des Sozialraums darauf, dass Muster und Strukturen räumlicher Anordnungen selbst das Ergebnis sozialer Praktiken sind (vgl. Kessl & Reutlinger 2010: 249). Als solche sind Sozialräume dann zwar relational, nicht aber >relativ< oder beliebig. Sie sind Ausdruck sozialer Praxis im Kreuzungsfeld ökonomischer und kultureller Dynamiken und haben gleichermaßen Rückwirkungen auf soziale Handlungsmuster, also ihrerseits prägende Kraft für soziale Praktiken (vgl. ebd.: 250). Sie sind relationale (An)Ordnungen von Menschen und Dingen (vgl. wie oben Löw 2001 , 2007). Letztlich nehmen Sozialräume damit ihrerseits den Charakter eines Dispositivs an. Sie erscheinen selbst als >heterogene Ensembles< von Diskursen, Praktiken und materiellen Strukturen (Foucault 1978: 119), innerhalb deren Subjekte als sozialräumliche Subjekte hervorgebracht werden. Auf diese Weise konstituieren sie auch Verhältnisse der Macht, Unter- und Überordnung. Bildungsräume sind vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ebenfalls als dispositive Anordnungen definierbar, wobei der Akzent dann auf >bildungsrelevanten< Strukturen legt. Im Gegensatz zum Konzept der >Bildungslandschaft< mit seinem normativen Ideal der gegenseitigen Öffnung von lokalen Strukturen, Kommunen und Schulen (vgl. Bleckmann & Durdei 2009: 12), wird an dieser Stelle ein analytischer Blick aufBildungsräume eingenommen, der selbige als »Machträume« (Stosic 2011) versteht. Lokale Bildungsräume erscheinen aus dieser Perspektive als »Ürte gesellschaftlicher Aushandlungen, die geprägt sind von Macht- und Verteilungskämpfen« (ebd.: 288). Die einzelne Schule ist dann ihrerseits ein >Machtraum im MachtraumBrennpunktschulen< gelabelt werden, allererst entstehen. Nach einem abschließenden Blick auf den Zusammenhang von Segregation, Marginalisierung und diskursiven Stigmakonstruktionen, geht es in einem zweiten Schritt (4.2) um die marginalisierten Schulen selbst. Der Blick in die >Blackbox Brennpunktschule< führt hier von der Forschung zu pädagogischen Praktiken an solchen Schulen zur Frage nach den Prozessen der Stigmaproduktion im schulischen Kontext. Abschließend wird dann die internationale Forschung zu Disziplin(ierung) und Strafe an marginalisierten Schulen aufgearbeitet. Die marginalisierte Schule des segregierten Großstadtquartiers erscheint dann in der Gesamtschau als ein Kumulationspunkt von Ungleichheiten und Machtverhältnissen, als ein Ort sozialer wie pädagogischer >Machtverschärfungsegregiert< gelten, oder nicht (vgl. ebd.). In allen Fällen hängt Segregation aber mit sozialen Differenzen und in vielen Fällen mit sozialer Ungleichheit zusammen. Der Prozess der Segregation zeigt sich am deutlichsten in den modernen Großstädten, die ihm zugrundeliegende Logik der räumlich ungleichen Platzierung und sozio-geographischen Separation von Menschengruppen ist aber vermutlich so alt, wie die Geschichte der menschlichen Sesshaftigkeit selbst. Die >Judenghettos< des Mittelalters legen hiervon ebenso Zeugnis ab, wie die Arbeiterviertel der industrialisierten Großstädte, die historisch konstant zu beobachtende räumliche Konzentration stigmatisierter Gruppen ebenso, wie die >gated Communities< der Privilegierten (vgl. Wacquant 2004). Während aber der Rückzug der Wohlhabenden in abgeschottete Wohngebiete in der Regel die Konsequenz bewusster Entscheidung gepaart mit entsprechender Ressourcenausstattung ist, liegen die Dinge hinsichtlich der Entstehung solcher Gebiete, in denen mehrheitlich Menschen aus sozial marginalisierten Gruppen leben, in der Regel anders. Deren Wohnortwahl entspringt zum Gutteil ökonomischen Notwendigkeiten, allen voran der Notwendigkeit bezahlbaren Wohnraums, weshalb in der Segregationsforschung häufig zwischen freiwilliger und unfreiwilliger/erzwungener Segregation unterschieden wird (vgl. Farwick 2012: 384; Häussermann 2008: 336). Die Villenviertel der bürgerlichen Oberschicht und die sozial benachteiligten Stadtteile und >Ghettos< der Armen sind damit zwei Seiten derselben Medaille, nämlich Ausdruck von Ungleichverteilungen und Herrschaftsverhältnissen, die sich räumlich >materialisierenethnischer< oder auch >kultureller< Zugehörigkeit sowie drittens als demographische Segregation, d.h. als Ungleichverteilung entlang der Differenzkategorie des Alters (vgl. Häussermann 2008: 335; Terpoorten 2014: 26). Diese drei Formen der Segregation wirken zusammen, denn dort, »wo die meisten >Ausländer< leben, wohnen die meisten armen Leute und hier wachsen die meisten Kinder in den Städten auf« (Strohmeier 2010: 318). Internationale Studien zeigen, dass ethnische und soziale Segregation in Europa geringer ausgeprägt sind, als in US-amerikanischen Großstädten (vgl. Musterd 2005: 332). Zudem handelt es sich zumeist um Viertel, in denen Menschen unterschiedlicher nationaler/ethnischer Hintergründe wohnen (zusammenfassend vgl. Merten, Yildirim & Keller 2015: 5f.). Von ethnischen >EnklavenParallelgesellschaftenethnischen Kolonien< oder gar >GhettosArbeitermilieusAufstieg< schaffen, verlassen die ehemaligen Arbeiterquartiere, welche sich in der Folge weiter als Armutsviertel verfestigen (vgl. ebd.; vgl. auch EIMafaalani & Kurtenbach 2015: 257). Die neoliberale Transformation des Wohlfahrtsstaates mit ihrer Logik der Ökonomisierung bei gleichzeitigem Rückbau sozialer Sicherungssysteme tut hierzu ihr Übriges. Sie treibt soziale Prekarisierung voran oder nimmt sie »zumindest billigend in Kauf« (Butterwegge 2017: 161). Das neoliberale Prinzip verleiht dabei auch der Stadtpolitik sein Gepräge (vgl. Heeg & Rosol 2007: 494), was sich nicht zuletzt am Rückzug des Staates aus der Wohnraumversorgung zeigt (vgl. ebd.). Dies wird wiederum flankiert von Gentrifizierungsprozessen, die ihrerseits zur Verdrängung alteingesessener Bevölkerungsteile in weniger >attraktive< Wohngebieten beitragen (vgl. Farwick 2012: 385f.; Häussermann 2008: 341f.; zu Gentrifizierung vgl. Holm 2012). Auswirkungen urbaner Segregation auf die segregiert lebenden Bevölkerungsgruppen werden in der Forschung unter dem Begriff der >Nachbarschafts-< oder >Quartierseffekte< diskutiert. Die Hypothese der Quartierseffekte besagt, dass benachteiligte Quartiere einen eigenständigen Effekt auf die Reproduktion und Perpetuierung von Benachteiligung ausüben, der unabhängig von individuellen und strukturellen Ungleichheiten bleibt, der also über die Effekte sozio-ökonomischer Benachteiligung allein hinausgeht (vgl. Nieszery 2008: 108; Volkmann 2012: 19ff.). Trotz teils widersprüchlicher Forschungslage (vgl. Volkmann 2012) gilt der Befund, dass Kontexteffekte existieren, als gesichert (zum Überblick vgl. Friedrichs 20 14;
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Merten, Yildirim & Keller 2015: 6f.; Nieszery 2008). Neben der Frage nach der Übertragung von normabweichendem Verhalten zwischen den Bewohner*innen segregierter Quartiere (vgl. ausführlich Oberwittler 2018), werden negative Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Bewohner* innen marginalisierter Quartiere diskutiert (zum Überblick vgl. Friedrichs 2014: 304ff.; Nieszery 2008, hier 117f.). Ferner bestehen Hinweise darauf, dass die Qualität sozialer Netzwerke in marginalisierten Quartieren beeinträchtigt ist und dass insbesondere auch soziale Stigmatisierungen negative Effekte auf deren Bewohner*innen haben (vgl. Nieszery 2008: 118122). Andererseits macht die Forschung aber auch deutlich, dass sich Quartierseffekte nicht per se auf alle Bewohner* innen eines Stadtteils in derselben Form auswirken und dass sie nicht gleichförmig und linear sind (vgl. Friedrichs 2014: 309f.). Insbesondere aber bestehen Hinweise darauf, dass Startchancen und Lebensaussichten von Kindem maßgeblich durch ihre sozialräumliche Lage vorstrukturiert werden. So häufen sich gesundheitliche Probleme bei Kindem in deprivierten Quartieren ebenso (vgl. Strohmeier 2008: 496), wie die Aussichten auf Bildungsbeteiligung sinken. In den Städten ermöglichen »die Adresse einer Familie, der ethnische Hintergrund und das Einkommen (in dieser Reihenfolge) immer noch die beste statistische Vorhersage für den Gesundheitszustand eines Kindes und ftir seine Bildungschancen« (ebd.: 497). Städte und ihre sozialräumliche Gestalt sind damit nicht nur >gespaltenBrennpunktschulen< als Ausdruck lokalräumlicher Strukturdynamiken Die oben dargelegten Mechanismen urbaner Segregation schlagen sich in all ihren Facetten auch innerhalb lokaler Bildungsräume nieder. Sie haben weitreichende Folgen für deren Struktur und schließlich für die in ihnen situierten Schulen. Die die im öffentlichen Diskurs als >Brennpunktschulen< markierten Bildungseinrichtungen sind damit nicht etwa Ausgangspunkt, sondern Ergebnis dieser Prozesse. Dabei wurde die soziale Entmischung von Schulen in der Forschung bereits vor längerer Zeit beschrieben. So zeigen Analysen zur Hauptschule eindrücklich, wie sich eine ganze Schulform entlang der Kategorie sozialer Klassenzugehörigkeit entmischt hat. Auf diese Weise ist die Hauptschule zu einer >sozial verarmten< Schulform geworden (vgl. Solga & Wagner 2010). Die Gründe für schulische Entmischungsprozesse erschöpfen sich jedoch nicht im Verhältnis von Schulform und sozialer Lage ihrer Schüler*innen, sondern liegen auch in der räumlich ungleichen Verteilung von Bildungschancen und Bildungsressourcen. Die Forschung spricht hier von Bildungssegregation (vgl. Schönig 2008: 75; vgl. zusammenfassend Terpoorten 2014: 33f.). Die Zuspitzung urbaner Marginalisierung im Bildungsbereich lässt sich eindrücklich an der Berliner Grundschullandschaft verdeutlichen. Einschlägige Untersuchungen zeigen, dass der Anteil an Kindem mit Migrationshintergrund den Gesamtanteil im jeweiligen Bezirk an einigen Schulen um bis zu 75% übersteigt, während diese Gruppe an anderen Schulen unterdurchschnittlich vertreten ist (vgl. SVR
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2012: 8ff.; vgl. auch Baur 2013: 35-50). So wird bereits die Grundschule zu einem Ort sozialer Spaltung. Aber auch im Bereich der Sekundarschulen korrelieren erhöhte Sozialhilfeempfanger*innen-, Ausländer*innen- und Arbeitslosenquoten in einem Sozialraum mit erhöhten Übergangsquoten auf niedrig qualifizierende Schul formen, wie Hauf (2007, hier v.a.: 304) am Beispiel Mannheims zeigt. 3 Kongruent hierzu besuchen Berliner Schüler*innen mit Migrationshintergrund ebenso überdurchschnittlich häufig eine niedrig qualifizierende weiterführende Schulform (SVR 2013: llf.), was wiederum zu dem bereits älteren Befund einer ethnischen Segmentation des Schulsystems passt (vgl. hierzu Diefenbach 2004). An einzelnen Schulen kann diese Entmischung bisweilen extreme Ausmaße annehmen, wie Baur & Häussermann (2009) am Beispiel einer Haupt- und Realschule verdeutlichen, die zu 100% von Kindem mit Migrationshintergrund sowie zu 89% von Kindem aus armen Haushalten besucht wird, was die jeweiligen Anteile im Stadtteil massiv übersteigt (vgl. ebd.: 358). 4 Schließlich weisen auch Analysen zum Agglomerationsraum Ruhr auf starke Zusammenhänge zwischen segregierter Wohnlage und Bildungsbenachteiligung hin (Terpoorten 2014). Nicht nur verlaufen ungleiche Bildungschancen demnach »entlang der Grenzen sozialer und sozialräumlicher Ungleichheit« (ebd.: 269), sondern kommt der Bildungssegregation eine eigenständige Funktion bei der Aufrechterhaltung sozialer Distanzen zu (vgl. ebd.: 272). Eine wichtige Rolle in diesen Prozessen spielen basale Anordnungen von >Bildungsgütern< und Menschen im Raum ebenso wie der politische und administrative Zuschnitt von Räumen (vgl. wie oben Stosic 2011). Beispielsweise können bereits unterschiedliche räumliche Entfernungen zwischen Grund- und weiterführenden Schulen Bildungsdisparitäten begünstigen. So hat die Forschung gezeigt, dass höher qualifizierende Schulen insbesondere in sozial besser gestellten, niedrig qualifizierende Schulen insbesondere in benachteiligten Sozialräumen zu finden sind (für einen Überblick vgl. Terpoorten 2014: 239f. sowie dort Kap. 3). 5 Raumtheoretisch gesprochen haben die Prozesse der Anordnung unterschiedlicher Schulformen also eine Auswirkung auf räumliche (Bildungs-)Praktiken, die ihrerseits Segregation und Benachteiligung verstärken (können). Die verwaltungslogische Abgrenzung und mehr oder weniger willkürliche Dimensionierung von Schuleinzugsgebieten trägt ihrerseits auch im Primarbereich einen Teil zu schulischen Entmischungsprozessen bei. So kann der Schnitt von Ein3
Diese zeigt sich entsprechend auch an den Übergangsempfehlungen am Ende der Grundschulzeit, wobei Übergangsempfehlungen wiederum eher von solchen Familien >überboten< werden, die einen höheren sozio-ökonomischen Status aufweisen, während der Hauptschulempfehlung in den niedrigen >Sozialrängen< eher gefolgt wird (vgl. Hauf2007.: 307).
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Im Einzugsgebiet dieser Schule hatten im Jahr 2008 insgesamt 43% einen Migrationshin-
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Die Analysen bei Terpoorten (2014) zeigen zwar, dass in den durch ihn untersuchten Sozi-
tergrund, die Arbeitslosenquote lag bei 14, I% (vgl. ebd.: 358). alräumen alle Schulabschlüsse in einem erreichbaren Umfeld der jeweiligen Grundschulen angeboten werden (vgl. ebd. , Kap. 9.2), dennoch wird aber deutlich, dass die größere Nähe einer Schulform zum Wohnort der Schüler* innen die Wahrscheinlichkeit der Anwahl einer Schule steigen lässt (vgl. ebd. : 260). Hieraus entstehen zwei gegensätzliche Wirkungen, insofern die räumliche Nähe sowohl den Besuch einer niedrigen als auch einer höher qualifizierenden Schulform wahrscheinlicher machen kann (vgl. ebd.: 266ff.).
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zugsgebieten begünstigen, dass bestimmte Grundschulen ihre Schüler*innen primär aus den Wohnbereichen benachteiligter Bevölkerungsgruppen rekrutieren, während andere Schulen die sozial besser gestellte Quartiere >bedienen< (vgl. Radtke 2007a; Radtke & Stosic 2009; Stosic 2011). Hierdurch wird die Schüler*innenschaft der Grundschulen sozialstrukturell homogenisiert (vgl. Radtke & Stosic 2009: 43ff.). Auf diese Weise werden die >versäulten< Schullandschaften (Hauf 2007) und die kleinräumigen Differenzierungsprozesse, in denen bestimmte Schulen spezifische Rollen im Verhältnis zu anderen Schulen übernehmen (vgl. Sikorski 2007), bereits administrativ vorstrukturiert. Schließlich lenken dann die Grundschulen mit mehrheitlich marginalisierten Kindern ihre Schüler*innenströme eher in Richtung niedrig qualifizierender weiterführender Schulen (vgl. Radtke & Stosic 2009: 45 ; Stosic 2011: 291 ). Der Zuschnitt der Einzugsgebiete ist damit als ein Prozess administrativer Territorialisierung beschreibbar, der sich in der räumlichen Praxis als Entmischungsprozess von Schüler*innenschaften materialisiert. Es handelt sich hier um Vorgänge der >RaumproduktionRaumrepräsentationen< genannt hat - die Sphäre von Wissenschaft und Urbanistik, »der Technokraten« und »Raumplaner«, welche den Raum »zerschneiden und wieder zusammensetzen« (Lefebvre 2006: 336). Aber auch übergreifendere politische Steuerungslogiken können Segregation begünstigen. So zeichnet sich im Zuge der letzten Dekaden mit dem GovernanceModell des >New Public Management< (vgl. Ackeren & Brauckmann 2010: 46ff.) ein Paradigmenwechsel in der Steuerung von Bildungssystemen ab. Das neue Steuerungsmodell folgt einer Logik der Dezentralisierung und Deregulierung. Schulen werden Autonomiespielräume gewährt, sie werden aber gleichzeitig in einen Wettbewerb mit anderen Schulen gesetzt. Unter den Bedingungen von >choice policies< und Wettbewerbssteuerung ist der Fortbestand der einzelnen Schule zunehmend an >Leistung< und >Performance< gekoppelt, die ihrerseits nicht nur durch Mess- und Evaluationsinstrumente bewertet, sondern v.a. auch mit erhöhten oder verringerten Anmeldezahlen quittiert werden (vgl. Bellmann & Weiß 2009: 287f.). Auf diese Weise sollen gute Schulen gestärkt und schlechte zur Verbesserung der Leistung oder aber zum Schließen gebracht werden (vgl. Ackeren 2006: 303). Dieser Etablierung von Quasi-Märkten im Schulsystem liegt damit eine neoliberale Steuerungslogik zugrunde (vgl. ebd.): Die freie Hand des Marktes soll für >good governance< im Schulsystem sorgen. Mit der Stärkung von Wettbewerbslogiken ist ferner die Hoffnung auf desegregierende und damit Ungleichheiten reduzierende Wirkungen verbunden (vgl. Bellmann 2007: 58-61). Forschungsbefunde legen indes nahe, dass die Auflösung von Schuleinzugsgebieten im Grundschulbereich, die ihrerseits Teil von Wettbewerbslogik ist, entweder keinen Effekt auf ethnische Segregation hat (vgl. Makles & Schneider 2012; zur Diskussion vgl. auch Stosic 2015: 34) oder aber Tendenzen der Segregation weiter verschärft (vgl. Ackeren 2006: 303-307; Bellmann 2007: 61; Bellmann & Weiß 2009: 290ff.). Und nicht zuletzt können milieuspezifische Praktiken an die so geschaffenen Strukturen anschließen. Dabei versuchen insbesondere Familien aus der Mittelschicht, die marginalisierten Schulen zu meiden (vgl. Radtke 2007a: 206f.; SVR 2012: 9; 2013: 7, 14ff.). Diese bildungsaffine Mittelschicht ist es umgekehrt auch, die vom Angebot der freien Schulwahl gebraucht macht (vgl. Bellmann 2008: 254f.; Bellmann & Weiß 2009: 295). Indem Schulen wiederum versuchen, ihre Attraktivi-
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tät durch die zielgruppenorientierte Ausrichtung ihrer pädagogischen Programmatik zu steigern, wirken dann Wettbewerbslogik und Milieustruktur zusammen (vgl. Radtke 2007a: 207). Mithin nehmen die besser situierten Eltern auch aktiv Einfluss auf verwaltungspolitische Entscheidungen, wie Breidenstein & Voigt (2020) an einem plastischen Beispiel aus Halle an der Saale verdeutlichen.6 In der Gesamtschau zeigt sich, dass Dynamiken klassenspezifischer Distinktion zwischen urbaner Segregation und schulischer Wettbewerbslogik aufrechterhalten und klassenspezifische Grenzen bildungsräumlich mitproduziert und verschärft werden. Die Entmischung von Schüler*innenpopulationen ist dabei Ausdruck von Prozessen, die in der >Mitte< der Gesellschaft stattfinden. Sie geht nicht »von >integrationsunwilligenbildungsnahenVerlierer< des Wettbewerbs zurück - sie werden in diesem Sinne tatsächlich zu >RestschulenMach träume< (Stosic 2011) praktisch wahr gemacht - und entstehen allererst die >Brennpunktschulen< der urbanen Ballungszentren.
4.1.3 Ghetto-Diskurse. >Brennpunktschulen< als Orte verräumlichter Identitätsbeschädigung Neben den sozialstrukturellen Dynamiken, die zu ihrer Entstehung führen, sind marginalisierte Quartiere und ihre Schulen stets auch kulturelle und damit diskursive Konstrukte, was sich im Zusammenhang von Ghettoisierungsprozessen in den USA (vgl. Wacquant 2004) ebenso zeigt, wie an den Diskursen um segregierte Stadtteile in europäischen Metropolen (vgl. Best & Gebhardt 2001 ; Glasze & Weber 2014; Schultheis & Herold 20 10; Slater & Anderson 20 12). So entzündet sich der in Deutschland insgesamt abwertend und defizitorientiert geführte Integrationsdiskurs nicht zuletzt auch an den segregierten Quartieren der Großstädte (vgl. Ronneberger & Tsianos 2009). Die alarmistische Rede über marginalisierte Stadtteile mündet hier zu Beginn der 2000er Jahre in ein Anschwellen von Berichterstattungen, politischen Stellungnahmen und Debattenbeiträgen um die Entstehung >ethnischer KolonienProblemviertel< und >ParallelgesellschaftenBahnhofsviertel Belastung< der Schule konstruiert wurden (vgl. Breidenstein & Voigt 2020: 86).
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ligiöser Radikalisierung und weiteren wachsenden Bedrohungspotenzialen ftir Staat und Gesellschaft einhergehe und insgesamt als Anzeichen migrantischer >lntegrationsverweigerung< zu werten sei (vgl. Häussermann 2009). Ungeachtet der stadtsoziologischen Faktenlage wird ein moralpanisch aufgeladenes >Ghetto-Phantasma< erzeugt und so das urbane Krisenszenario >explosiver< städtischer Räume heraufbeschworen (vgl. Ronneberger & Tsianos 2009: 145). Es handelt sich um eine »>Veralltäglichung< des Ghettodiskurses« (E. YIIdtz 2006: 41), die über unterschiedliche Medienformate zirkuliert und auf diese Weise >ethnisierendes Wissen< zum gesellschaftlichen Alltagswissen werden lässt (vgl. ebd.: 42-46). Vom innerstädtischen Quartier bis zur Großwohnsiedlung am Rand der Stadt werden segregierte Stadtteile zu >gefährlichen Stadtteilen< stilisiert und avancieren so zum Symbolbild ftir vermeintlichen gesellschaftlichen Zerfall (vgl. Glasze et al. 2013; Yildiz & Preissing 2017: 159-165). Der Schule kommt im Netz urbaner Abwertungsdiskurse nun eine besondere Stellung zu. Sicherlich auch aufgrund der ihr anhaftenden Symbolik bürgerlicher, sicherlich auch nationaler Normalität, wird sie zur tragenden >DiskursressourceBrennpunktschule< im >Migrantenviertel< gehört, spätestens seit dem in der medialen Öffentlichkeit viel diskutierten >Brandbrief< des Kollegiums der Rütli-Schule (Rütli-Kollegium 2006; vgl. auch Karg 2014: 2llf.), zu den weit verbreiteten Topoi urbaner Krisenszenarios. Marginalisierte Schulen werden als Orte der Suspendierung von Bildungsnormalität, als Orte der Gewalt und Anomie gezeichnet. Dabei wird das territoriale Stigma ebenso auf die Schulen übertragen, wie die diskursive Konstruktion der >BrennpunktschuleGhetto-Diskursen< im Vergleich von Marseille zu Berlin bei Best & Ulrich (2001), wie Schulen zu diskursiv >umkämpften Orten< werden. Tragend ist hier die Konstruktion segregierter Schulen entlang der Differenzlinien Ethnizität und kulturelle (Nicht-)Zugehörigkeit. Der Ghetto-Diskurs arbeitet dabei auch mit der Figur einer »Exterritorialisierung« (ebd.: 135) dieser Schulen: mit Verweis auf den hohen Anteil an >ausländischen< Schüler*innen werden sie als micht-deutsche< Schulen porträtiert (vgl. ebd.: 135f.). Segregierte Schulen werden dabei in lokalen ebenso wie überregionalen Medien als Orte der Gewalt und der sozialen Dysfunktionalität dargestellt (vgl. Weilgraf 2012: 165-200). Nicht zuletzt nimmt der >BrennpunktschuldiskursSoziale Stadt< zur Anwendung gelangen (zusam-
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menfassend vgl. Zimmer-Hegmann 2014), denken die Stadtteile dabei nicht nur als >Behälter< und tragen damit selbst zur Verräumlichung sozialer Problemlagen bei (vgl. Kessl 2006b: 41 ; Stosic 2011: 275ff.; Werten 2005: 18ff.), sie können unter Umständen auch sozialräumliche Verdrängungsprozesse und stigmatisierende Effekte weiter befördern (vgl. Zimmer-Hegmann 2014: 124-129). Auch der verstärkte Einsatz von Kontrollorganen wie Polizei, Ordnungsamt und privaten Sicherheitsdiensten gehört zu jenen Machttechnologien, die an Gebietsstigmata ansetzen. Insbesondere in den USA ist die Methodik solcher verschärften Kontrollen beobachtet worden (vgl. Belina 2003 : 350ff.; Wacquant 2011). In Deutschland ist sie zwar bis dato weniger stark ausgeprägt, deutet sich aber in gebietsbezogenen Polizeistrategien (vgl. Wehrheim & Belina 2011) und Kriminalitätskartierungen ebenso an (vgl. Belina 2009), wie sie zunehmend auch die Alltagserfahrungen segregierter Menschen zu prägen scheint (vgl. z.B. Cudak 2015: 259f.; Preissing 2019: 230ff.). Gebietsbezogene Stigmatisierungen haben potentiell weitreichende Konsequenzen für Selbstbild und Identität der Subjekte. Denn Gebietsstigmata können systematische Identitätsbeschädigungen nach sich ziehen. Nach Lolc Wacquant (2007) können territoriale Stigmatisierungen eine Form tiefsitzender Scham für die eigene Wohn- und Lebenslage hervorbringen. Den dahinterliegenden räumlichen Prozess beschreibt Wacquant als eine »dissolution of >place«< (ebd.: 69). 7 Demnach löst sich in den marginalisierten Quartieren der Großstädte jedweder positive Bezug zum eigenen Wohngebiet auf (ebd.: 69f.) und werden diese zu Räumen nicht nur der strukturellen Marginalisierung, sondern der symbolischen Identitätszerstörung. Die Wacquant' sche These einer >strukturellen StarreInnenleben< ihres Stadtteils aufbauen (vgl. Slater & Anderson 20 12) und Praktiken des aktiven Umgangs mit verräumlichten Abwertungen und Diskriminierungsdiskursen finden können (vgl. Merten 2013; Yildiz & Preissing 2017). Mithin weiten sich Gegenstimmen zu gegenhegemonialen Diskursen aus, die sich in sozialen und politischen Bewegungen ebenso manifestieren, wie in alltags- und jugendkulturellen Kontexten (vgl. Diehl 2014: 113f.; Tije-Dra 2014: 99; zum Umgang Jugendlicher mit Marginalisierung vgl. auch Ganzert 2020). Aber auch die Gewaltausbrüche in den französischen Banlieues im Jahr 2005 können als ungerichteter Widerstand gegen die Zumutungen sozialer und urbaner Marginalität gelesen werden (vgi.Schultheis & Herold 2010: 248-252). Das diskursive >Wahrsprechen< über marginalisierte Stadtteile als >gefährliche Räume< zeichnet damit ambivalente Effekte zwischen Stigmatisierung, Kontrolle, Stigma-Internalisierung und Aufbegehren. Die diskursiven Verräumlichungen sozialer Probleme richten sich in ihren Zuschreibungen dabei gerade nicht an abstrakte topalogische Einheiten und Raumrepräsentationen, sondern an die Bewohner*innen 7
Mit dem Begriff >Place < wird in der Stadtsoziologie auf Bedeutungskonstruktionen mit Blick aufspezifische Orte rekurriert. Die Zuschreibungsprozesse an soziale Räume werden als >Place-MakingSense ofPlace< bezeichnet (vgl. Belina 2013: 107f.).
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der jeweiligen Gebiete. Es handelt sich um sozial hervorgebrachte, machtvolle Konstruktionen, die umso >wahrer< werden, je häufiger und umfanglicher sie sich wiederholen. Den Subjekten stellen sie sich als äußerliche Zuschreibungen dar, zu denen sie sich in ihren >Raumaneignungen< in Beziehung setzen müssen.
4.2 MACHT UND MARGINALISIERUNG. ÜBER PÄDAGOGISCHE PRAKTIKEN AN>BRENNPUNKTSCHULEN< Vor dem Hintergrund obiger Ausftlhrungen erscheinen segregierte Schulen als Resultat hoch komplexer Prozesse der sozialen Entmischung, die von der Ebene makrogesellschaftlicher Ungleichheiten über deren Manifestation in der Sozialstruktur urbaner Raume bis zu ihrem Niederschlag und ihrer Reproduktion in einzelnen schulischen Organisationen reichen. In dieser Hinsicht sind >Brennpunktschulen< einerseits ganz normale Schulen. Denn sie sind genauso Teil des Schulsystems, wie andere (öffentliche) Schulen auch, erftlllen dieselben Grundfunktionen wie andere Schulen auch und folgen denselben organisationalen Regeln wie andere Schulen auch. Auf der anderen Seite erscheinen >Brennpunktschulen< aber als besondere Schulen, da sich die bereits gegebenen sozialen Ungleichheiten und die mit ihnen einhergehenden Folgeerscheinungen zugespitzt in ihnen zeigen. In dieser Hinsicht sind die segregierten Schulen der Großstädte damit ebenso gewöhnlich, wie außergewöhnlich - sie sind, so ließe sich formulieren, >besonders normale< Schulen. Die folgenden Abschnitte fokussieren nun auf diese Schulen, auf ihr >Innenleben< , wobei der Zusammenhang von Ordnung, Disziplinierung und Strafe scharf gestellt wird.
4.2.1 Blackbox >Brennpunktschule