Moskau: Metropole zwischen Kultur und Macht 9783412219116, 9783412222635


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Moskau: Metropole zwischen Kultur und Macht
 9783412219116, 9783412222635

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Thomas Grob . Sabina Horber (Hg.)

Metropole zwischen Kultur und Macht

2015

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung Basel und der Stiftung Mercator Schweiz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung/Frontispiz: »Während des Regens«, 2012 (© Vladlen Abdullin / http://www.vladlenabdullin.ru) © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung  : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Dimograf, Bielsko-Biala Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22263-5

Inhalt

7 Vorwort 9

Moskau – Metropole zwischen Kultur und Macht. Eine Einleitung



Frithjof Benjamin Schenk

25

Moskaus Weg zur Metropole der Macht. Repräsentation von Herrschaft im städtischen Raum



Thomas Grob

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Zwischen Realität, Symbol und Phantasma. Das Moskau der russischen Literatur



Dorothea Redepenning

81

Musik in Moskau – Moskau in der Musik



Barbara Schellewald

97

Matisse in Moskau. Die Geschichte einer Begegnung



Alexander Honold

123 Moskau im Blick westlicher Schriftsteller der Zwischenkriegszeit

Dietmar Neutatz

153 Die Moskauer Metro als Verkörperung des Sozialismus

Jörg Stadelbauer

173 Wird Moskaus Peripherie zum neuen Zentrum  ? Die Metropole und ihr

Umland

Werner Huber

193 Moskau im architektonischen Wandel 1991–2013

Sabine Hänsgen

213 Der Moskauer Konzeptualismus. Eine künstlerische Topologie

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Inhalt

Tatjana Simeunović

233 Von der Avantgarde-Ikone bis zur Glam-Megacity. Moskau-Bilder im

post/sowjetischen Film

Tomáš Glanc

259 Das Verschwinden Moskaus. Literarisch-künstlerische Moskau-

Imaginationen der Gegenwart 275 Literaturverzeichnis 296 Bildnachweise 302 Register 317 Autorinnen und Autoren

Vorwort

Um die Einheitlichkeit der Schreibweisen und die Möglichkeit der Rückübersetzung zu gewährleisten, wird im gesamten Band – außer in zitierten Passagen  – die wissenschaftliche Transliteration des Russischen verwendet (zur Aussprache siehe nächste Seite). Dies ermöglicht auch die Erstellung eines Namensindexes. In der Bibliographie wie auch im Index wird von anderen Schreibweisen bekannter Namen auf diese verwiesen. In die gemeinsame Bibliographie zum Schluss des Bandes nicht aufgenommen wurden Quellen aus Archiven, einmalig zitierte Zeitungsartikel und Webseiten; diese Angaben finden sich in den lokalen Anmerkungen. Der vorliegende Band beruht auf einer Ringvorlesung, die im Herbstsemester 2012 an der Universität Basel stattfand. Auf dem Weg zur vorliegenden Publikation haben wir von unterschiedlicher Seite Hilfe erfahren. Unser besonderer Dank geht an das Kompetenzzentrum Kulturelle Topographien an der Universität Basel, an Ina Habermann, Elisabeth Maeder, Mirjam Müller, Sophia Polek, Roland Schmidt, Dorothea Trottenberg und Sebastian Wirz. Großzügige finanzielle Unterstützung leisteten die Berta Hess-Cohn Stiftung Basel, die Stiftung Mercator Schweiz sowie das Osteuropa-Forum Basel. Den Autorinnen und Autoren danken wir für die geduldige Umarbeitung der damaligen Beiträge, dem Verlag für die sorgfältige Arbeit an der Gestaltung des Bandes. Basel, im Januar 2015

Thomas Grob und Sabina Horber

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Vorwort

Hinweise zur Aussprache des Russischen in wissenschaftlicher Umschrift  : c [ts] wie in Zahn č [tsch] wie in Kitsch ë betontes [jo] ė offenes [e] wie in essen ’ bezeichnet die Weichheit (Jotierung) des vorangehenden Konsonanten s stimmloses [s] bzw. Doppel-[s] wie in reißen š stimmloses [sch] wie in rauschen šč zu langem [sch]-Laut verschliffenes [schtsch] z stimmhaftes [s] wie in reisen ž stimmhaftes [sch] wie frz. jour

Thomas Grob ∙ Sabina Horber

Moskau – Metropole zwischen Kultur und Macht Eine Einleitung

Die klassischen Zentrumsstädte entwickelten schon vor Jahrhunderten ihre eigene Semantik. Dies gilt zumindest, seit es Imperien gibt, für die metonymisch ihre Zentren stehen   : ›Rom‹ heißt die Stadt wie das ganze Reich, und beide sind so unlösbar verbunden, dass man das Prinzip zumindest rückblickend auch auf By- Abb. 1. Vasilij Kandinskij: »Moskau. Der Rote Platz« (1916). zanz – das sich selbst als Zweites Rom verstand  – übertrug. Als die neuzeitlichen Metropolen in ihrer Selbstdarstellung die Nachfolge Roms antraten, geschah dies oft unter expliziter Bezugnahme auf das große Vorbild. Die Bilder, die diese Städte von sich generierten, wurden oft wichtiger als die sicht- und begehbare Realität. Doch schon die Reichshauptstadt Rom, viel länger noch das byzantinische, dann osmanische Byzantion / Nova Roma / Konstantinopel waren für die meisten Reichsangehörigen – und erst recht für Außenstehende – ohnehin eher Orte von Legenden, mehr oder weniger phantastischen Berichten und Mythen als Städte, die sie aus eigener Erfahrung gekannt hätten. Zur Metropole wird eine Stadt durch Größe, durch eine Zentrumsfunktion in einem weiten oder sogar ›globalen‹ Umfeld. Zu einer ›Symbolstadt‹ aber wird keine Stadt nur durch eigene Absicht und Anstrengung, geschweige denn durch schiere Masse, sondern durch vielschichtige Konstellationen, die wenig planbar sind. Solche Städte werden gleichsam überschrieben  : durch semantische Operationen wie die genannte politische Metonymisierung, durch Verkehrslagen oder Stadtplanung, durch Symbolbauten, Kunst und Stadtarchitektur, Universitäten und Akademien. All dies würde aber kaum wirksam ohne die Beschreibungen und Erzählungen in Chroniken, Legenden und Reisebeschreibungen, ohne die Bilder in Literatur,

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Einleitung

Film oder Kunst. Die Individualität einer Stadt wird geschaffen nicht zuletzt durch ihre Tradition selbst, die ihr erst einen ›Charakter‹ verleihen kann und die zu löschen für jede Stadt fatal wäre. Stadtsemantiken oder Stadtmythen  – es gibt hier viele Schattierungen an zeichenhaften Überschreibungen – entstehen im Wechselspiel von Innen und Außen.1 Keine bedeutende Stadt wäre ohne den ›peripheren Blick‹2 geworden, was sie ist. Städte waren sich auch immer schon der Relevanz ihrer Selbstrepräsentation bewusst  : Bedeutung (im doppelten Sinne) will sichtbar werden. Die Konkurrenz zwischen Paris und London um die wahre Nachfolge Roms als geistig-kulturelles Zentrum Europas, um den Status als ›Hauptstadt der Moderne‹, als »modernes Rom«3 oder, nun auch mit Berlin im Wettbewerb, um die ›Hauptstadt des Wissens‹  – allein diese Konkurrenz zeigt, dass es Semantiken einer Stadt gibt, die auch ihre Bauweise und ihr Funktionieren beeinflussen und deswegen höchst real sind, dass es aber auch Zuschreibungen von außen sind, die eine Stadt prägen, und dies weit über den eigenen Einflussbereich hinaus. Kaum eine europäische Stadt, und das ist eine der großen Themenlinien dieses Bandes, wurde auf so üppige Weise von ihrer eigenen Symbolik überlagert wie Moskau. Auch diese Symboliken haben einen Rom-Bezug, wobei umstritten ist, wie relevant Aussagen aus dem 16. Jahrhundert sind, die Moskau – in Anspielung auf den Fall von Byzanz im Jahr 1453 – als »Drittes Rom« sehen wollten. Unbestritten ist, dass der langsame Aufstieg Moskaus4 mit einem wachsenden und immer monopolistischeren Anspruch einhergeht, in der Gruppe der ehemaligen Schwesterstädte der alten Rus’ und im stetig wachsenden Großfürstentum das ›Zentrum‹ darzustellen. Die retrospektiven, legendenhaften Chronikberichte um die Stadtgründung, die diese in die Mitte des 12. Jahrhunderts legen – wobei die Siedlung sicher älter ist –, nehmen dies auf. Doch die Ersterwähnung Moskaus in einer Chronik zum Jahr 1147 sagt wenig aus und dokumentiert im Grunde die Bedeutungslosigkeit des Ortes  ; auch die Festung wurde wohl nicht durch den heute als Gründer gefeierten Jurij Dolgorukij, sondern durch dessen Sohn Andrej Bogoljubskij begründet. Und noch als der Gründervater der späteren Moskauer Dynastie, Daniil Aleksandrovič, der jüngste Sohn Aleksandr Nevskijs, 1276 Moskau als Erbe erhielt, war dies der Anteil dessen, der seinen älteren Brüdern den Vorrang lassen und nehmen musste, was übrig blieb. Dass die Gründungslegenden in verschiedenen Varianten auf einem Mord beruhen, scheint einem Muster von Stadtgründung – russisch nennt man sie »na krovi«, wörtlich  : »auf Blut«  – zu folgen,5 wie man es nicht nur bei Kir-

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chen beobachtet, sondern schon in den Gründungsmythen Roms und Konstantinopels. Bereits Ivan Zabelin (1905, 38) deutete dieses Element in den Moskauer Gründungslegenden als beabsichtigte Parallele zur Gründung Roms. Bedenkt man die lange währende Bedeutungslosigkeit oder dass der erste Aufstieg Moskaus eng mit der Herrschaft der Tataren verbunden war, so ergab sich genügend Anlass, die Anfänge des mächtigen Moskau narrativ aufzuwerten. So wird oft etwa Folgendes prominent zitiert  : Fürst Jurij bestieg den Hügel, sah sich um, schaute nach allen Seiten, hierhin und dorthin, in beiden Richtungen den Moskau-Fluss und die Neglinnaja entlang  ; und er entzückte sich an ihren Dörfern und befahl, unverzüglich hier eine Stadt aus Holz zu errichten, und ihr Name sollte Moskau-Stadt sein (zit. nach Pross-Weerth 1980, 11).

Die Stelle wird fast immer ohne Quelle zitiert, als stamme sie aus einer zeitnahen Chronik. Sie findet sich aber in der in Chronikform verfassten Erzählung »Über den Anfang der großen Zarenstadt Stadt Moskau, wie sie von Beginn an anfing« (O začale carstvujuščego velikogo grada Moskvy, kako isperva začatsja), die wie die anderen ausführlichen Gründungslegenden Moskaus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand.6 Die in solchen Texten konstruierten Genealogien reichen zu Boris und Gleb, den ersten russischen Heiligen, gelegentlich auch über die Figur von Rjurik, dem legendenhaften Gründer Novgorods und letztlich der Rus’, zurück bis zu den römischen Kaisern. Die Gründerfürsten der Stadt selbst variieren lange, bevor sich eine Festlegung auf Jurij Dolgorukij durchsetzt. In der Erzählung von Andrej aus Suzdal’ ist die translatio des Herrschaftszentrums aus der Konkurrenzstadt Suzdal’, zu deren Einflussgebiet Moskau lange gehörte, gleich mit eingeschrieben  : Und am Morgen stand er auf und sah sich die schönen Dörfer und Weiler an und Gott legte in das Herz Fürst Andrejs einen Gedanken  ; diese schönen und guten Dörfer und Weiler gefielen ihm und er dachte in seinem Verstand daran, hier eine Stadt zu errichten. Und seufzend aus der Tiefe seines Herzens betete er mit Tränen zu Gott blickte gen Himmel und sprach  : »Gott, allmächtig und Schöpfer aller Dinge, segne diesen Ort, auf dass hier eine Stadt entstehe und Häuser Gottes  ; gib mir Hilfe, auf dass mein Wille sich hier verwirkliche.« Und seit dieser Zeit lebte Fürst Andrej in diesen schönen Dörfern und Weilern, in der Stadt Suzdal’ aber und in Vladimir hieß er seinen Sohn Georgij herrschen […]. 7

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Einleitung

Der Aufstieg Moskaus zum Großfürstentum wird in diesen späteren Legenden ex post als natur- bzw. gottgegeben begründet  : […] sah der Großfürst Danil Ivanovič ein großes und seltsames Tier mit drei Köpfen und bunten Federn verschiedener Farben, das sehr schön war. Und er fragte Vasilij den Griechen, was dieses seltsame Tier bedeute. Und Vasilij der Grieche sagte ihm  : »Großfürst, an dieser Stelle wird eine Stadt entstehen, die sehr groß sein wird, und von hier aus wird sich ein Reich erstrecken mit drei Enden. In diesem Reich werden viele verschiedene Menschen leben und sich vermehren, das symbolisiert das dreiköpfige Tier und die verschiedenen Farben an ihm das symbolisiert die verschiedenen Menschen. Darauf kam der Großfürst zu einer kleinen Insel im Sumpf und dort stand eine kleine Hütte und dort lebte ein Einsiedler und sein Name war Bukal. Und darum hieß die Hütte Bukalina. Und heute steht auf Gottes Befehl dort der Hof des Zaren.8

Für das Jahrhunderte zurückreichende Selbstverständnis Moskaus, Kopf, Herz und Hand der russischen Fürstentümer zu sein, war es ein traumatischer Moment, als der imperial denkende Peter der Große dem Land zumutete, das Zentrum an den nordwestlichen Rand zu verlagern. Das 1703 gegründete St. Petersburg, das zuerst noch fremder klingend »Sankt-Piter-Burch« hieß, war eine weitgehend von europäischen Architekten und im europäischen Geist erbaute Stadt, die auf barocke Weise von vornherein auf ihre Symbolik angelegt war und Moskau absichtsvoll in den Schatten stellte. Die Zarenstadt Moskau wurde dadurch zum Symbol eines rückständigen, von der Zeit überholten Russland. Dass es zweihundert Jahre später ausgerechnet der Antiimperialist Lenin sein sollte, der das für zwei Jahrhunderte in den Schatten der Geschichte geratene Moskau in ein faktisches wie symbolisches Machtzentrum zurückverwandelte, wie es im 20. Jahrhundert vielleicht weltweit kein anderes gab, ist eine seltsame Ironie der Geschichte. *** Der vorliegende Band will keine soziologische oder architektonische Bestandsaufnahme Moskaus oder seiner Geschichte sein, sondern zielt auf die wechselseitigen Dynamiken von Stadtrealitäten und Stadtsymboliken, dies in verschiedensten Bereichen der Kultur – Literatur und Film, Kunst, Musik9 –, aber auch in besonders aktiven Phasen des Städtebaus wie in der Stalinzeit oder in den postkommunistischen Jahrzehnten.10 Moskau stellt – dies im direkten Ge-

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gensatz zu St. Petersburg – das Musterbeispiel einer Stadt dar, an der politische Symboliken sichtbar werden. Petersburg wäre nicht mehr Petersburg, wenn man es zu radikal umbauen würde. Moskau hingegen kannte keine Resistenz gegen massive Eingriffe  : Seine Kontinuität scheint ganz im Gegenteil darin zu liegen, sich zu verändern und immer neu die Spuren von Macht- und Zeitverhältnissen zu spiegeln. Invariant bleibt dabei der symbolische Zentrumscharakter, zu dem als steinernes Zeichen überzeitlicher Beständigkeit der Kreml’ gehört  ; von der anliegenden Basilius-Kathedrale (Chram Vasilija Blažennogo) und dem Historischen Museum abgesehen schließt diese Gebundenheit an manifeste Bauten aber nicht einmal die nähere Umgebung ein. Der Bezug auf die Vergangenheit – wie im postsowjetischen »Moskauer Stil«11 – musste hier immer neu erfunden werden. All dies ist erstaunlich in einer Stadt, die paradoxerweise lange in die Moderne hinein beinahe dörfliche Spuren bewahrte. Über Jahrhunderte dominierte in Moskau das Holz als Baumaterial  ; sogar der Kreml’ wurde erst seit dem späteren 14. Jahrhundert zunehmend durch Anlagen aus Stein gegen die häufigen Brände geschützt. Der berühmte Reisebericht von Sigismund von Herberstein, der aufgrund von Besuchen in den Jahren 1517 und 1526 als erster westlicher Beobachter das noch junge Großfürstentum beschrieb, betont die Weite der Stadt und die Holzbauten außerhalb, aber auch innerhalb des Kremls, den er als Stadt in der Stadt sieht  ; für ihn scheint sonderbar gewesen zu sein, dass diese so spät mit einer steinernen Mauer anstelle von hölzernen Palisaden geschützt wurde (Herberstein 1966, 167f.). Die Geschichte der Stadt Moskau blieb noch sehr lange von Bränden geprägt – spontanen, aber auch, auf oft besonders zerstörerische Weise, durch Fremdeinwirkung.12 Schon dies schrieb dem Stadtcharakter Momente grundlegenden Wandels ein. Wenn Moskau im späten 19. und vor allem im 20. Jahrhundert radikal umgebaut wird, dann meist nicht von Moskauern. Der Charakter von Zentren erweist sich daran, dass sie auf besondere Weise äußeren Einflüssen und Rationalitäten ausgesetzt sind  ; selten aber galt dies so sehr wie im Moskau des frühen 20. Jahrhunderts. An allen Phasen von städtischer Architektur und Planung von den de-urbanisierenden Gartenstadtmodellen nach 1918 über die konstruktivistischen Projekte der zwanziger Jahre bis hin zu den hoch semantisierten Projekten für den Palast der Sowjets (1931/32), als sich die neoklassizistische Stalinsche Wende einleitete, waren ausländische Architekten stark präsent.13 Schon um 1933/34 aber verließen viele Ausländer das Land wieder, schließlich auch der deutsche, von der Gartenstadtbewegung beeinflusste Architekt Ernst May, der ein in kleinere Einheiten dezentralisiertes, aber modern-industrielles

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Einleitung

Stadtkonzept vertrat und nicht nur am Generalplan Moskaus von 1931–1932 mitarbeitete, sondern auch an der Planung von Magnitogorsk  ; dabei ließ er sich durchaus von russischen Kollegen beeinflussen. In der Folge wurde die Arbeit jedoch stark erschwert, Architektur und Stadtplanung wurden ›nationalisiert‹, und es setzte sich eine zentralisierte Stadtkonzeption durch.14 Von den Politikern, welche die Entscheidungen trafen, stammten nur wenige aus Moskau selbst. Der Georgier Stalin, der die Stadt kaum kannte, als er dort 1918, mit fast vierzig Jahren, in den obersten Zirkel der Sowjetmacht gelangte, trieb die Umbaupläne wie auch die symbolischen Dimensionierungen am weitesten  ; doch auch der aus dem südwestlichsten Zipfel Russlands stammende und eng mit der Ukraine verbundene Chruščev ging ungehemmt mit dem Stadterbe um. Allerdings war es mit Lužkov ein ›echter‹ Moskauer, der von 1992 bis 2010 als Bürgermeister für einen neuerlichen Kahlschlag an der Bausubstanz Moskaus verantwortlich war, während der rücksichtsvoller agierende Nachfolger Sergej Sobjanin aus dem sibirischen Tjumen’ stammt. Nicht in jedem Fall steht die Herkunft in direktem Verhältnis zum Umgang mit der Stadt.15 Dennoch ist es kaum ein Zufall, dass der Ausländer Le Corbusier in seinen Plänen zum Neubau Moskaus am weitesten ging  : To say that Le Corbusier proposed to deal with ancient Moscow with a ruthlessness that Baron Haussmann might have envied is an understatement. Upon the radial plan of the historic capital Le Corbusier imposed a roughly rectilinear organization of arteries that would have required the virtual destruction of most of the city (Starr 1980, 211).

Le Corbusier  – der sich von der Sowjetunion abwandte, als sein Projekt für einen Palast der Sowjets abgelehnt wurde  – bezeichnete Moskau als »Fabrik, Pläne zu machen«,16 und seine Überlegungen zu Moskau standen offenbar am Anfang seines Konzepts der Ville Radieuse. Wie immer man deren Bedeutung einschätzt  : Das bestehende Moskau, das er nicht kannte, sah er im Grunde nur als leere, wenn auch symbolisch aufgeladene Fläche. Auch die westlichen Schriftsteller der zwanziger und dreißiger Jahre besuchten Moskau weniger als konkrete Stadt denn als gigantischen Musterfall gesellschaftlicher Umwälzungen. Die russische Vergangenheit war für die meisten irrelevant und Moskau deswegen der ideale Ort für das gänzlich Neue, und so suchten sie dort einen in die Zukunft gerichteten Spiegel ihrer Herkunftsländer.17 Eine westliche Tendenz, Moskau nur als Machtzentrum und nicht als Stadt zu sehen, kann

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man bis heute beobachten. Immerhin rückte Moskau im ›Westen‹ gelegentlich schon an der Schwelle zum 20. Jahrhundert – also vor der hohen Resonanz der Avantgarde – auch im künstlerischen Bereich in den Fokus als Ort der Entdeckungen, und sei es als Brücke zum byzantinischen Erbe.18 Auch diejenigen, welche die Russlandbilder in der russischen Literatur oder im russischen Film prägten, waren sehr oft Zugereiste, nun fast durchwegs aus dem weiten sowjetischen Raum. Doch erhält bei ihnen der Stadtraum durch die ästhetische Belebung ein eigenes Gewicht.19 Das symbolische Moskau war immer ein Ort, der zum ›Monozeichen‹ neigte, der die große, geschlossene Bedeutung mehr betonte als den Raum des städtischen Lebens, erst recht des normalen Alltags. Die Stadt als komplexen Lebens- und Kulturraum in den Vordergrund zu stellen, wurde zur Aufgabe der Literatur und später des Films.20 Gerade weil die offiziellen Wandlungen der Stadt meist der »Schaffung eines Superobjekts« dienten, das »die Stadt symbolisch verwandeln soll« (so der Architekturkritiker Grigorij Revzin 2012), bildete sich im Falle Moskaus verschärft eine doppelte Linie der Wahrnehmung heraus  : eine symbolisierende, die gleichsam von außen kommt, und eine raum- und menschenbezogene von innen. Beide aber konnten von Moskauern wie von Zugereisten eingenommen werden. Die den ›Mythos‹ wie die Tendenz der Baumeister, in Moskau eine immer neu zu füllende Leere zu sehen, konterkarierende Linie beinhaltet eine lange Tradition der Rekonstruktion dieser Stadt als Raum, die auf das unmittelbare Erleben referiert. Dafür lassen sich in den Beiträgen dieses Bandes zahlreiche Belege finden. Diese Linie äußert sich in der Literatur wie in Musik, Kunst und Film und schaffte sich immer wieder äußerst produktive Nischen. Wenn Moskaus Recht, Stadt zu sein, bedrängt war von übergeordneten Absichten der politischen Führung – die in gewissen Fällen, man denke etwa an die Metro oder die repräsentativen Parks, durchaus auch zum Nutzen der Bewohner sein konnten –, dann konnte die Liebe zu dieser Stadt als Lebenswelt auch eine kritische bis oppositionelle Färbung annehmen. Was lange nur Aufgabe der Künste war, realisiert sich heute auch politisch  : Vor diesem Hintergrund erhalten etwa die Auseinandersetzungen um die Chimki-Autobahn, die einem für europäische Städte häufigen Schema der Auseinandersetzung zwischen Großplanung und ökologischen Anliegen folgte, einen besonders auffallenden Status.21 ***

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Einleitung

Der Charakter des Stadtraums und seiner Außengrenzen gehörte immer zur longue durée einer Stadtgeschichte, zumindest bevor sich die Unterschiede in der Moderne weitgehend aufzulösen scheinen. Die europäische Stadt an sich war als Konzept ein Ort der Begrenzung, der Trennung von Innen und Außen, und es scheint diese Begrenzung zu sein, welche die Ausstrahlung einer Stadt als Zentrum ganzer Imperien erst begründet. Wenn Romulus und Remus in der Legende ihr Rom bauen, beginnen sie mit einer Mauer, und es kostet Remus das Leben, dieser Grenze nicht den gebührenden Respekt zu zollen – und sei sie physisch auch noch so unbedeutend. In der Betonung dieser Grenze steckt ein höherer Anspruch an eine Stadt als derjenige an die Solidität von Stadtmauern und die Frage, ob diese überwunden werden können oder nicht. Für letzteres stehen in der Geschichte symbolisch-legendärer Städte Troja als europäisch-mythisches, Jericho als einschlägiges biblisches Vorbild. Doch stehen gerade sie stellvertretend für Städte, die verschwunden sind. Wenn es um künftige Zentrumsmetropolen geht, dann übertrifft die symbolische, rechtliche, kulturelle Stadtgrenze die physischen Mauern an Bedeutung bei weitem  : Nur sie begründet das Ewigkeitsversprechen Roms. Viele Fragen entscheiden sich im europäischen Stadtmodell an der Grenze. Eine echte Stadt kannte immer eigene Regeln der Selbstorganisation, des Umgangs mit der Außenwelt, der Unterscheidung von anderen Städten  ; Städte pflegen auch immer schon ihr eigenes, an den Raum gebundenes Gedächtnis. So hat jede Stadt etwas Unverwechselbares, solange sie nicht ganz ›gesichtslos‹ wird  : Es gibt ›die Stadt‹ nicht in dem Sinne, in dem es ›das Dorf‹ (russ. derevnja) gibt oder, im Zuge der modernen Verstädterung, die anonyme Agglomeration. Städte entwickeln sich auch dann rekursiv, d. h. in stetem Hinblick auf vorhergehende Zustände, wenn sie auf permanente Neuerung angelegt sind  : im permanenten Rückbezug auf die Sicht auf die eigene Geschichte und das eigene Wesen – oder das, was jeweils dafür gehalten wird. Die physische Stadtmauer verliert dabei historisch ihre Bedeutung. Sieht man von einem kleinen Festungskern ab, braucht schon das 1703 gegründete Petersburg, obwohl lange weitgehend Garnisonsstadt, keinen Kreml’ mehr, wie er traditionell das Zentrum der Fürstenstädte der alten Rus’ bildet. Petersburg ist auf barocke Weise auf eine offene Strahlenform ausgerichtet, in der sein Zentrumscharakter für das ganze Petrinische Reich betont wird, dessen Herrscher nun Imperator heißt. Petersburg war nicht nur – per Dekret – eine Stadt aus Stein, was den Namen als Programm bestätigte. Es war von Anfang an auf Zeichenhaftigkeit, ja Theatralität hin angelegt, und tatsächlich war es auch in der Raffinesse seiner Stadtmythen dem als rückständig und dörflich

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geltenden, hölzernen Moskau lange Zeit weit voraus. Erst im 19. Jahrhundert wurde Moskau neu entdeckt als vermeintlich ur-russischer Gegensatz zu Petersburg, das vielen als künstlich, bürokratisch, klimatisch ungünstig und zu westlich galt.22 Moskaus Begrenzung und Konstitution als Raum funktionierte ingesamt anders als in anderen europäischen Städten und sogar anders als in Petersburg. Im Gegensatz zur offenen Anlage Petersburgs prägten die Moskauer Kreml’­ mauern die Stadt durch alle Zeiten hindurch  – auch als sie keinen nennenswerten Teil der Stadtfläche mehr eingrenzten, keinen Schutz mehr boten und selbst zur Symbolik wurden. Moskau entwickelte sich über lange Zeit planloser, Petersburg-Kritiker werden sagen  : organischer als die nördliche Konkurrentin. Die Stadt wuchs lange durch Anlagerung von nach Berufsgruppen, Stand und Herkunft differenzierten Vorstädten um den Kreml’, die sloboda genannt wurden  ; die größeren Einheiten hießen auch posad und gorod.23 Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts waren solche teilweise sehr kleinen Einheiten mit Steuerprivilegien verbunden  ; einige behielten lange einen individuellen Charakter, mit der Zeit wurden sie aber zu reinen Flurnamen. Der deutsche Reisende Johann Georg Kohl, der Moskau 1841 besuchte und ausführlich beschrieb, sah in diesem Bauprinzip das Wesen der eben nicht radialen, sondern konzentrischen Stadt  : Der Plan von Moskau [zeigt], wenn man seine Zeich­nung in den Hauptlinien übersieht, eine Regelmäßigkeit der Entwickelung, wie man sie selten bei einer anderen Stadt ausgebildet finden mag, was denn auch ganz natürlich ist, da hier nie willkürlich ordnende Hände in den Gang des natürlichen Wachsthums der Stadt eingriffen, sondern vielmehr seit alten Zeiten her ohne polizeiliche Aufsicht Alles immer sich anbaute oder wegbrannte, wie es eben bauen und brennen mochte, und alle neuen Ansiedelungen sich so angelegt haben, wie sie es eben am bequemsten fanden. Ein solcher sich selbst überlassener Städtebau führt aber immer Das herbei, was wir bei dem Plane Moskaus bemerken, Regelmäßigkeit im Ganzen und Unregelmäßigkeit im Einzelnen, weil der Drang der Umstände schon immer von selbst Alles auf den rechten, ihm zukommenden Fleck führt. Die allerersten Anbauer Moskaus haben sich ohne Zweifel am Kremlberge befestigt und angesiedelt, und er wurde dadurch natürlich zum Mittelpuncte der Stadt gemacht, die sich späterhin um ihn rund herum anlegen sollte. An jenen befestigten Hügel lehnte sich nun zunächst Kitai-Gorod (die Chinesenstadt),24 der älteste Theil von Moskau. Um beide, Kreml und Kitai-Gorod, als den innersten Theil der Stadt, setzte sich als­dann der Ring von Beloi-Gorod (Weißstadt), welche völlig kreisförmig

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Einleitung

von dem Twer’schen und anderen Boulevards, die zusammen nur eine Straße bilden, umgeben wird. (Kohl 2005, 72f.)

Moskau blieb, darüber kann die lange bewahrte, beinahe dörfliche Hofstruktur nicht hinwegtäuschen, nicht nur räumlich auf den Kreml’ bezogen, sondern auch – vielleicht noch mehr als die anderen russischen Städte – auf die staatliche Macht. Modelle einer möglichen alternativen Entwicklung der politischen Stadtstruktur entfielen, als die Handelsstadt Novgorod, wie darauf auch Pskov, im 15. Jahrhundert vom Großfürstentum Moskau einverleibt und mit der Zerstörung durch Ivan IV. 1570 als Konkurrenz definitiv ausgeschaltet wurde.25 Der Moskauer Zentralismus implizierte eine stabile und starke Bindung an die Großfürsten, dann an die Gouverneure und letztlich an den Zarenhof, und verhinderte die Emanzipation der Stadt von zentrumsgebundenen aristokratischen Strukturen. Die von Katharina II. 1785 eingerichtete Stadtduma bezog zu kleine Kreise ein und war nicht hinreichend mit Machtbefugnissen ausgestattet, um dies zu ändern. Ohnehin waren in Russland die meisten Städte Gründungen durch den Staat, und auch in den großen Städten bildete sich kein städtisches Bürgertum als dominierende Schicht, wie das in vielen westlichen Städten der Fall war. Universitäten, die immer eine bedeutende gesellschaftliche Eigendynamik entwickelten, gab es erst seit dem frühen 19. Jahrhundert – obwohl gerade hier Moskau eine gewisse Ausnahme bildete, wurde doch seine Universität bereits 1755 gegründet, ein halbes Jahrhundert vor den Universitäten in Dorpat (Tartu), Wilna (Vilnius), Char’kov, Kazan’ und schließlich, erst 1819, in St. Petersburg. In sowjetischer Zeit war die Entwicklung einer städtischen Zivilgesellschaft nur höchst eingeschränkt möglich – das Modell wird hier eher, wie gleich noch anzusprechen sein wird, dasjenige abgeschlossener Nischen. Allgemein gilt  : »Russlands Machthaber fürchteten nichts so sehr wie den Verlust der Kontrolle über ihre Untertanen. Diese Angst zog allen städtischen Modernisierungsimpulsen seit dem späten 18. Jh. enge Grenzen, sogar denen, die der Staat selber von oben initiiert hatte« (Goehrke 2006, 402) – was, wie der Autor bemerkt, auch die westlichen Städte des Reichs, etwa die polnischen, betraf. Oder, wie es der Moskauer Spezialist für Stadtgeschichte A. S. Senjavskij formuliert  : Die Städte des russischen Imperiums entstanden in bedeutendem Maße nicht aus den Gegebenheiten des Territoriums heraus als dessen ökonomische, kulturelle und anderen Zentren, sondern aus den Bedürfnissen des Staates heraus. (Zit. nach Küntzel-Witt 2005, 4)

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Das Modell des Magdeburger Stadtrechts drang weit nach Ostmitteleuropa vor – bis nach Kiev, wo es aber nur sehr eingeschränkt galt –  ; bis nach Russland kam es nicht, und nach dem Ende der Eigenständigkeit Novgorods gab es auch keine Entwicklung zu ›republikanischen‹ Stadtorganisationen mehr. Dennoch partizipierten die großen Städte Russlands unzweifelhaft an gesamt­ europäischen Entwicklungen, die ja auch sehr unterschiedlich sein konnten. Besonders in Aspekten der Modernisierung orientierte man sich, wofür schon Petersburg als Ganzes steht, bewusst daran.27 Und auch in russischen Städten bildeten sich vor allem seit dem 18. Jahrhundert Schichten, die zentrale zivilgesellschaftliche Funktionen übernehmen. Auf besondere Weise gilt das für die Großstädte Moskau und Petersburg, die in den Jahrzehnten nach der Bauernbefreiung 1861 explosionsartig wuchsen, was gewaltige Probleme in verschiedenen Bereichen der Stadtentwicklung und insbesondere in den Wohnverhältnissen28 schuf und wie in westlichen Metropolen mit einer rasanten Modernisierung einherging. Dem gewaltigen Bevölkerungswachstum und einer enormen Verdichtung des Lebensraums standen eine massive Industrialisierung, Technisierung sowie eine Modernisierung der Architektur gegenüber, nicht zuletzt auch in derjenigen der Geschäftswelt. War die ökonomische Rolle der Städte in Russland lange Zeit viel geringer als im Westen, so bildete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein neuer Kaufmannsstand heraus  ; die Struktur der Stadt änderte sich zum Ende des Jahrhunderts grundlegend, als in großen Mengen ausländisches Kapital nach Russland floss und eine reiche, teilweise gebildete und kulturinteressierte Unternehmerschicht und ein blühendes Bankenwesen entstanden. Die staatlich geförderte urbane Modernisierung brachte neue Infrastrukturen (Straßen, Bahnhöfe, Theater etc.) ebenso hervor wie eine neue, repräsentative Architektur  ; sie reflektiert sich auch in einer vorher nie gekannten Blüte fast aller Künste in beiden Hauptstädten.29 Nach der Revolution übernimmt Moskau dann in verschiedener Hinsicht eine Vorreiterrolle in der gesteuerten, programmatischen Modernisierung. Die gegenüber den meisten westlichen Metropolen differente russische Stadt­ entwicklung hat ein städtisch-zivilgesellschaftliches Denken immer erschwert, und vielleicht liegt es daran, dass Moskau im 20. Jahrhundert auch kaum Pioniere der Stadtforschung hervorgebracht hat. Diese stammen mit Georg Simmel oder Walter Benjamin aus Berlin oder mit Roland Barthes (und zumindest teilweise Henri Lefèbvre) aus Paris, oder aus Chicago, wo nicht nur die soziologische Chicagoer Schule entstand, sondern woher ursprünglich auch Kevin Lynch (The Image oft the City, 1960) oder Richard Sennett (The Conscience of the

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Eye. The Design and Social Life of cities / dt. Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, 1990  ; Flesh and stone. The Body and the City in Western Civilisation / dt. Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, 1994) kamen. Doch wurden auch in Russland im 20. Jahrhundert in (proto‑) kulturwissenschaftlicher Zusammenschau Stadt und Gesamtkultur aufeinander bezogen  ; meist geschah dies allerdings über die Analyse von Literatur und am Gegenstand Petersburgs, nicht Moskaus.30 Die Betonung der komplexen, ja – so schon bei Georg Simmel – abstrakten Netzstrukturen und ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen,31 des sozialen Geflechts und des Zusammenspiels der verschiedensten Formen kultureller Praxis, der modernen Unübersichtlichkeiten und Multiplizität lag in vielem quer zur Herrschaftsstruktur, aber auch zur Rolle einer übergeordneten Semantik, zum Revzinschen ›Superobjekt‹. So wurde den Phänomenen, die im Gleichklang zur übergeordneten Semantik stehen, meist mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den internen Gegenbewegungen. Wenn es heute einen Aufschwung in der Forschung zur Geschichte der russischen Städte gibt, dann geschieht das im Rückgriff auf die Tradition lokaler Stadtgeschichten aus der späten zaristischen Zeit.32 In postkommunistischer Zeit, in der sich in Petersburg aktive, manchmal durchaus erfolgreiche Bewegungen zur Rettung von Bauwerken bildete, entstand auch in Moskau eine systematischere Betrachtung der Rolle des Städtischen, die dieses intellektuelle Feld nicht mehr nur technokratischen Beamtenkreisen überlassen wollte  ;33 Gebäude zu retten oder Neubauten zu verhindern war hier allerdings bis in die jüngste Zeit ein eher hoffnungsloses Unterfangen.34 Doch gab es ein lange vorbereitetes, ausgeprägtes Bewusstsein für den ›Organismus‹ einer Stadt. Moskau erlebte nach 1991 wie andere russische Städte einen lokaldemokratischen Aufbruch, so wie es in jüngster Zeit zum Zentrum kritischer politischer Bewegungen und zum Ort der größten Demonstrationen wurde.35 Auch die Tatsache, dass Jurij Lužkov, der zusammen mit seiner Ehefrau Elena Baturina eine geradezu extreme Praxis der Verquickung von (Bau-)Geschäft und Politik verkörperte, von der Macht verdrängt wurde und der Nachfolger als linientreuer Politiker, aber auch Vertreter einer ›anständigen‹ und pragmatischen Politik gesehen wird, löste offenbar eine urbanistische Debatte aus.36 Dass mit Sergej Kuznecov (geb. 1977) im August 2012 ein junger, als unbelastet geltender, international orientierter Architekt mit Planungserfahrung zum »Chefarchitekten« und damit obersten Stadtplaner Moskaus ernannt wurde – ein Amt, das breite Kompetenzen beinhaltet –, weckte ebenfalls neue Hoffnungen auf eine Stadtentwicklung, die sich mehr an den Bedürfnissen der Bewohner orientiert.37

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Für den westlichen Blick auf Moskau, der letztlich immer noch aus der Faszination des Halb-Exotischen schöpft, wären diese Tendenzen noch zu entdecken. Moskau erhielt als Ort künstlerischer Inspiration vor allem in und nach der Wende zum 20. Jahrhundert in Europa größere Aufmerksamkeit. Nach dem historischen Moment der Avantgarden und der großen Stalinschen Umbaupläne versank Moskau für den Westen in der Starre des kalten Machtzeichens, das es für seine Bewohner in der Art natürlich nie war. *** Die skizzierte doppelte Wahrnehmung der Stadt Moskau als Symbol und als Lebensraum führte dazu, dass die Eroberung und breit abgestützte, reflektierte Gestaltung des Stadtraums immer schon dem symbolischen, zentrierten, monologischen Moskau abgetrotzt werden musste.38 Paradoxerweise trifft dies auch auf das Erbe der chaotischen Verhältnisse der 1990er Jahre zu, in denen eine weitgehende Gesetzlosigkeit zum Gesetz des Stärkeren wurde, dessen Profiteure sich zwischen Politik und neuem Kapitalismus bewegten. Unter den Verhältnissen einer neuen, (über)stabilisierten Macht sind in der Hauptstadt, die auch einen großen Teil der neuen Ökonomie bindet, sowohl die Angst vor eigenständigen Bürgerbewegungen wie der Zwang zu gewissen Kompromissen am größten.39 Im ganzen 20. Jahrhundert, der Zeit der größten Machtentfaltung Moskaus, genauer seit Stalins Herrschaft war die offene Auseinandersetzung in der Entwicklung des kulturellen Lebens der Metropole kein Modell. Überraschenderweise aber ermöglichte gerade die Nähe zur Macht Dinge, die woanders kaum denkbar waren. So ist die Moskauer Bilanz an künstlerischer Produktion jedweder Provenienz durch das ganze Jahrhundert bis heute erstaunlich, und sie ist es in offiziell geförderten Bereichen – wie etwa dem Umfeld des Konservatoriums in der Musik  – ebenso wie in den Grauzonen zur politisch an sich unmöglichen Kritik im international beachteten Film oder teilweise in der Literatur. Nicht minder wichtig sind aber die gänzlich inoffiziellen Nischen, die sich in der späten Sowjetunion vor allem in Moskau bildeten. War das Dissidententum nicht übermäßig auf Moskau bezogen, waren es die sowjetischen kulturellen Nischen und die postsowjetischen Abarbeitungen des sowjetischen Erbes in hohem Maße. Einige der hier versammelten Beiträge widmen sich diesen Milieus, die sich entweder im Schatten der offiziellen Kulturpolitik (das Konservatorium, die Filmhochschule bzw. Filmstudios)40 oder dann auch ganz in einer scheinbaren Privatheit bildeten, immer mit gezielten Ausgriffen auf eine

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spezifische Art von Halb-Öffentlichkeit.41 Die Bilder der Stadt variieren dabei von der Suche nach einem politisch nicht kompromittierten Patriotismus über die konzeptualistische Verrückung offizieller Bildlichkeiten bis hin zu radikalen Gegenbildern, die sich postsowjetisch zunehmend ins Phantastisch-Groteske bewegen.42 Das hoch symbolisierte Moskau lädt ganz offensichtlich dazu ein, den Raum ins Phantastische, Irreale, Surreale zu öffnen, und gerade diese Bilder, sei es in Kunst, Film oder Literatur, scheinen in den letzten Jahren diejenigen zu sein, die am produktivsten die Auseinandersetzung mit der Individualität dieser Stadt führen. So trifft sich eine auch im neueren Film immer wieder fühlbare Sehnsucht nach urbaner ›Normalität‹ mit dem Bewusstsein, dass gerade dies der Stadt Moskau nicht gegeben ist, die sich  – das zeigen die Beiträge zu den spät- und postkommunistischen Moskau-Imaginationen noch einmal anschaulich – nur in hypertrophen Bildern wirklich zeigen und ihrer Tradition Rechnung tragen kann. Das zeichenhafte ›Wesen‹ der Stadt wird hier durchaus auch zur Last. Doch schlagen die gewaltigen zentripetalen Kräfte, die auf das Zentrum des Kreml’ gerichtet sind, immer wieder, und dies auf höchst produktive Weise, um in eine Zentrifugaliät, welche die Hyperzeichen dieser Stadt von innen sprengt. Wenn diese antinomische Dynamik tatsächlich zum ›Stadt-Charakter‹ Moskaus geworden ist, dann kann man weiterhin gespannt sein, was darin und daraus noch entstehen wird.

Anmerkungen 1 Vgl. zur Herleitung utopischer Konzepte aus der wechselseitigen Dynamik von Stadt und Land schon Henri Lefèbvre 1990 [1970], Kap. »Stadtmythen und Ideologien«, 113–124. 2 S. den Band –  leider ohne osteuropäische Beispiele –  von Buschmann / Ingenschay (Hg.), 2000. 3 So Henry James über London, vgl. Sennett 1995, 393 und folgende. 4 S. dazu wie zur Frage des »Dritten Roms« den Beitrag von Benjamin Schenk in diesem Band. 5 Vgl. Šambinago 1936, 68. 6 Vgl. z. B. Zabelin 1905, 22ff  ; Šambinago 1936, 59–98  ; zur »Erzählung vom Ursprung der Zarenstadt Moskau« auch Koch 2000. 7 Vgl. die Varianten der fast gleichnamigen Texte auf http://krotov.info/acts/17/2/moscow.htm (1.10.2014). 8 »Sage über die Gründung Moskaus und des Bistums Krutick« (Skazanie o začatii Moskvy i Krutickoj episkopii, s. http://old-ru.ru/08–11.html  ; 1.10.2014, eigene Übersetzung). Der Großfürst Daniil in diesem Text ist keine historische Figur. 9 Vgl. die entsprechenden Beiträge von Thomas Grob, Tatjana Simeunović, Tomàš Glanc, Sabine Hänsgen und Dorothea Redepenning zu den ›inneren‹ Perspektiven und Dynamiken.

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10 Vgl. zu ersterem den Beitrag von Dietmar Neutatz zur Moskauer Metro  ; letzteres behandelt auf der Basis von eigenen städtebaulichen Falldokumentationen der Architekturjournalist Werner Huber. 11 Genaueres dazu findet sich im Beitrag von Werner Huber. 12 Bereits lange vor dem Brand während der Besetzung durch Napoleon bot sich das aus Holz gebaute Moskau bei Angriffen für die Zerstörung durch Brände an. Als Adam Olearius 1634 nach Moskau kam, war offenbar die Zerstörung der Stadt mit Ausnahme der mit Stein befestigten Zonen des Kreml’ und von Kitaj-gorod noch in lebendiger Erinnerung, die das Resultat eines Angriffs der Krimtataren im Jahr 1571 gewesen war (Olearius 1959, 78) – nur ein Jahr nach der blutigen Strafaktion Ivans IV. und seiner Opričniki gegen Novgorod. Neben vielen Tausenden von Brandopfern waren damals nicht weniger für den Sklavenhandel verschleppte Stadtbürger zu beklagen. Olearius fügt auch an, dass Moskau 1611 »von den Polen bis auf das Schloss ganz abgebrannt« worden sei (ebd.). 13 Begonnen hatte diese Tradition schon beim Bau des ›modernen‹ Kreml’ und v. a. des Uspenskij sobor (Mariä-Entschlafens-Kathedrale) im späten 15. Jahrhundert, zu dem italienische Architekten – der erste war Aristotele Fioravanti – zugezogen wurden. 14 Vgl. zur Phase 1929–1935, aber auch zu der früheren sowjetischen Zeit, etwa zu den Gartenstadt-Konzepten, den Band Bodenschatz/Post 2003, die auch die politisch geförderte Zusammenarbeit mit westlichen Architekten und Planern thematisieren. 15 Vgl. auch die verschiedenen Fallstudien durch die Sowjetzeit hindurch bei Monica Rüthers (2007). 16 »Moscow is a factory for making plans, the Promised Land of technicians (without a Klondike). The country is being equipped  !« (Corbusier an Moisei Ginzburg, März 1930, s. http://thecharnelhouse.org/2010/10/02/le-corbusier-vs-ginzburg-on-deurbanization/ bzw. http://thecharnel house.org/2013/06/19/le-corbusiers-project-for-the-palace-of-the-soviets-1928-1931  ; 1.9.2014). 17 Vgl. zu Beispielen v. a. aus den Jahren 1926/27 und ausgehend von Walter Benjamin und Joseph Roth den Beitrag von Alexander Honold. 18 Dies zeigt am Beispiel der modernen Entdeckung der Ikone und von Henri Matisse der Beitrag von Barbara Schellewald. 19 Vgl. zu ersterem den Beitrag von Thomas Grob. 20 Nicht von ungefähr sind die großen Umbauphasen nach der Revolution so eng von filmischen Produktionen begleitet  ; s. zur Phase 1917–1941 im Film etwa Urussowa 2004. 21 S. zur Chimki-Autobahn den Beitrag der Herausgeberin in Kleman 2013, 146–199. 22 Vgl. insbesondere zu den Anfängen des Petersburg-Mythos Nicolosi 2002, zu seiner Bedeutung für die jüngere Semantisierung Moskaus den Beitrag von Thomas Grob in diesem Band. 23 Vgl. zur Entwicklung der Stadt Moskau und v. a. ihres Umlandes bis in die jüngste Zeit den Beitrag von Jörg Stadelbauer in diesem Band. 24 Dies ist ein bis heute verbreiteter Irrtum  : Chinesen gab es hier nie. Der seit dem 16. Jh. und bis heute »China-Stadt« (Kitaj-gorod) genannte Teil Moskaus, direkt am Roten Platz beginnend und ursprünglich von Handwerkern und Händlern bewohnt, wurde nicht nach »Kitaj« (China) bezeichnet, sondern – zumindest gemäß der verbreitetsten Hypothese – nach »kita«, das eine Flechtstruktur bezeichnete und wohl die Holzpalisaden meinte, die in den 1530er Jahren anstelle des vorherigen Grabens zur Befestigung errichtet wurden. 25 Vgl. zur dadurch unterbrochenen Möglichkeit einer alternativen Stadtentwicklung am Beispiel Novgorods z. B. Leffler 2006.

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27 Ausführlich dokumentiert neuerdings Alexander Martin (2013) den Modernisierungsprozess Moskaus zwischen 1762 und 1855, der dem Image Moskaus in der Zeit in gewisser Weise entgegenläuft. 28 Die damals größte russische Stadt, die Hauptstadt St. Petersburg, vergrößerte ihre Wohnbevölkerung in den fünf Jahrzehnten von 1863–1914 von ca. 540.000 auf über 2,1 Millionen (https://ru.wikipedia.org/wiki/Население_Санкт-Петербурга)  ; Moskau wuchs analog von gut 460.000 auf über 1,76 Millionen (https://ru.wikipedia.org/wiki/Население_Москвы)  ; die Zahlen beruhen auf Volkszählungen und scheinen einigermaßen verlässlich. 29 S. dazu den Band von John E. Bowlt (2008). 30 Eine diesbezügliche Pionierleistung war das essayistische, sich weitgehend auf Literatur stützende Buch über die Seele Petersburgs (Duša Peterburga, 1922) von Nikolaj Anciferov (1889– 1958  ; Anziferow 2003). Vladimir Toporov, des Erfinders des »Petersburger Textes« (Toporov 1984 / 1995), ist eigentlich ein Moskauer. 31 S. etwa Simmels Aufsatz »Die Großstädte und ihr Geistesleben« (1903  ; Simmel 1995)  ; vgl. dazu Müller 1988. 32 S. dazu den Überblick über die russische Stadtgeschichte vor der Revolution bei Küntzel-Witt 2005. Die Autorin beobachtet eine generelle Renaissance der russischen Stadtforschung nach 1991, die sie als »Suche nach einer in der Sowjetzeit beinahe zerstörten regionalen Identität« (2) deutet – was in spezifischer Weise auch auf Moskau zutrifft. 33 Einen Einblick in die internationale Stadtforschung mit der deutlichen Absicht der Übertragung auf russische Verhältnisse versucht Elena Trubina, Gorod v teorii. Opyty, osmyslenija, prostranstva. Moskva  : NLO 2013  ; s. zu »Forschungsansätze[n] nach 1991« auch Küntzel-Witt 2005, 7f. 34 Vgl. dazu die Fallbeispiele im Beitrag von Werner Huber. 35 Vgl. den bereits genannten Band von Karin Kleman (Hg., 2013) zu den neuen »städtischen Bewegungen«. 36 In diesen Kontext gehört die in Moskau situierte Internetzeitschrift Bol’šoj gorod (Großstadt  ; www.bg.ru)  ; vgl. die Übersetzung eines dort publizierten Gesprächs aus dem Jahr 2011 über Stadtplanung in Cooiman et al.: 2012, 44–57. Vgl. auch etwa die diversen Beiträge in einer interdisziplinären Sondernummer der Zeitschrift Otečestvennye zapiski (Nr., 3[48], 2012), die den Titel Der städtische Organismus (Gorodskoj organizm) trägt. Das Vorwort der Herausgeber verweist auf die urbanistische ›Welle‹, die man hier aufnimmt  : »Fast täglich erscheinen Artikel über die Stadt in der Presse, die Hochschulen eröffnen eine nach der anderen Studiengänge mit dem Profil ›Urbanistik‹, in Moskau existiert ein ganzes Institut ›Strelka‹, in dem junge Menschen verschiedenster Ausrichtung an die Urbanistik herangeführt werden« (ebd., 6). 37 Vgl. zum neuen Stadtarchitekten den Bericht »Das menschliche Maß« von Susanne Beyer und Matthias Schepp im Spiegel 2014/4, 98–101. 38 Wertvolle Skizzen solcher Phänomene bietet, meist an konkrete Orte der Stadt gebunden, der Band von Monica Rüthers und Carmen Scheide (Hg., 2003). 39 Die herausragende Rolle Moskaus in den neuen Protestbewegungen lässt sich ablesen bei Mischa Gabowitsch (2013). 40 Vgl. die Beiträge von Dorothea Redepenning und Tatjana Simeunović. 41 Vgl. den Beitrag von Sabine Hänsgen. 42 S. dazu v. a. die Beiträge von Tomáš Glanc und Thomas Grob.

Frithjof Benjamin Schenk

Moskaus Weg zur Metropole der Macht Repräsentation von Herrschaft im städtischen Raum

Die Stadt als Bühne der Macht

Im September 1997 feierte Moskau in großem Rahmen sein 850. Stadtjubiläum. Bewohner und Besucher der Stadt erlebten ein Fest der Superlative Abb. 1. Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz. mit Weltstars wie den Sängern Luciano Pavarotti und Montserrat Caballé sowie dem Magier David Copperfield. Moskaus Bürgermeister Jurij M. Luškov (*1937) setzte sich zu diesem Anlass gewaltige architektonische Denkmäler, die noch lange an das erste Stadtoberhaupt der postsowjetischen Zeit erinnern werden. Hierzu zählen der neugestaltete Manege-Platz mit unterirdischem Einkaufszentrum und Statuen des Bildhauers Zurab Cereteli (*1934), ein gigantisches Denkmal für Peter den Großen mitten in der Moskva und die neu errichtete Christ-Erlöser-Kathedrale1. Mit dem Versuch, ein Stadtjubiläum zu nutzen, um sich selbst dauerhaft in die Geschichte Moskaus einzuschreiben, griff Luškov eine Tradition auf, die 1947 Iosif V. Stalin (1878–1953) begründet hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man runde Stadtgeburtstage in Moskau nicht als staatliche Feste begangen. Weder 1847 noch 1897 wurde viel Aufhebens um das 700. bzw. 750. Gründungsjubiläum der Stadt gemacht (vgl. Klotchkov 2006). Nach dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg war der 800. Stadtgeburtstag im Jahr 1947 jedoch bereits »ein zentral organisiertes Jubelfest« mit »Volkstreiben« (narodnoe guljanie) und karnevalesken Umzügen (Kusber 2011, 83).2 Seitdem wird an der Moskva alljährlich am ersten Wochenende im September Stadtgeburtstag gefeiert. Die Spuren des 800. Stadtjubiläums unter Stalin prägen bis heute das bauliche Gesicht der russischen Hauptstadt. Neben umfangreichen Renovie-

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rungsarbeiten beschloss die sowjetische Regierung 1947, Moskau nach den Entwürfen des Stadtarchitekten Dmitrij N. Čečulin (1901–1981) umzugestalten.3 Čečulin, Chefarchitekt von 1945 bis 1949, schlug vor, die Stadtkulisse durch einige Neubauten »anzuheben« und die Skyline der Metropole durch »große Vertikale« zu strukturieren. Acht weithin sichtbare Hochhäuser sollten dabei helfen, sich in der Stadt zu orientieren und den Stadtraum als Ganzes wahrzunehmen. Die Lage der Neubauten im Stil des Stalinschen Klassizismus (»Zuckerbäckerstil«) wurde genau auf die Topographie der Stadt abgestimmt, wobei man an ältere Pläne aus den 1930er Jahren anknüpfen konnte (Schlögel 2000 [1984], 44–59). Bereits 1948 wurde mit der Umsetzung dieses gewaltigen städtebaulichen Projekts begonnen, in einer Zeit, als zahlreiche Städte im Westen der UdSSR noch in Trümmern lagen. Von den acht geplanten Hochhäusern wurden schließlich sieben realisiert, darunter zwei Wohnhäuser, zwei Verwaltungsgebäude (u. a. das Außenministerium), zwei Hotels und die staatliche Lomonosov-Universität auf den Sperlingsbergen im Süden der Stadt. In die konkrete Planung der Bauten mischte sich Stalin wiederholt persönlich ein. Als letztes Hochhaus wurde 1955 die Lomonosov-Universität eingeweiht. Im Volksmund gelten die Stalin-Hochhäuser (Stalinskie vysotki) noch heute als die ›Sieben Schwestern‹. Wie Luškovs Einkaufszentrum am Manege-Platz können die Gebäude aus der Zeit des Spätstalinismus als Monumente gelesen werden, mit denen der Parteiführer nicht nur den runden Geburtstag Moskaus feierte, sondern gleichzeitig sich selbst in der Topographie der Stadt verewigte. Die Bauwerke aus dem 20. Jahrhundert markieren dabei nur die jüngsten Entwicklungen in der langen Geschichte Moskaus als ›Metropole der Macht‹. Ziel des folgenden Beitrags ist, in einem kurzen historischen Abriss den Aufstieg Moskaus vom unbedeutenden Teilfürstentum im russischen Waldgebiet zum politischen Zentrum des größten Landes der Erde nachzuzeichnen. Dabei ist zum einen nach den historischen Rahmenbedingungen zu fragen, die diese erstaunliche Stadtkarriere begünstigten. Daneben wird diskutiert, an welche imperialen Traditionslinien die Moskauer Fürsten bei der baulichen und symbolischen Gestaltung ihrer Residenzstadt anknüpften und an welchen Orten sich der Anspruch Moskaus als ›Metropole der Macht‹ besonders augenfällig manifestiert(e). Abschließend wird nach den Folgen des Verlusts der Hauptstadtfunktion im frühen 18. Jahrhundert gefragt und die Position Moskaus in der imaginierten Städtekonkurrenz mit St. Petersburg bis zum Jahr 1918 analysiert.

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Der Aufstieg Moskaus

An das 800. Stadtjubiläum Moskaus erinnert bis heute neben den Sieben Schwestern das Denkmal für Fürst Jurij Dolgorukij am Tverer Platz. 1947 wurde der Grundstein des Monuments für den legendären Begründer der Stadt gelegt. Sieben Jahre später, am 6. Juni 1954, konnte es schließlich eingeweiht werden. Jurij Dolgorukij (1090–1157) spielt eine Schlüsselrolle in den sagenhaften Erzählungen von den Anfängen der Stadt an der Moskva. Die Hypatius-Chronik (Ipat’evskaja letopis’) berichtet im Eintrag zum Jahr 1147 (6655 nach by- Abb. 2. Denkmal für den ›Stadtgründer‹, Fürst Jurij Dolgozantinischer Zeitrechnung) von einer rukij auf dem Tverer Platz aus dem Jahr 1954. Beratung Jurijs mit anderen Fürsten über einen Festungsbau an der Mündung des Flüsschens Neglinnaja in die Moskva.4 Dieses erste schriftliche Zeugnis des Ortes »Moskov« gilt heute als Geburtsstunde Moskaus, wenngleich 1147 genau genommen nur als Jahr der Ersterwähnung in der altrussischen Chronistik anzusehen ist. Tatsächlich lassen sich Anfänge Moskaus als städtische Ansiedlung noch weiter zurückverfolgen. So konnten Archäologen bereits für das 11. Jahrhundert eine typische mittelalterliche Stadtanlage mit Herrschersitz (gorodišče) und Vorstadt (posad) am Zusammenfluss von Neglinnaja und Moskva nachweisen. Wie in der Hypatius-Chronik beschrieben, erfolgte die Befestigung der hölzernen Burg (kreml’) dann unter Fürst Jurij Dolgorukij Mitte des 12. Jahrhunderts.5 Die erste schriftliche Erwähnung Moskaus fällt in die sogenannte »Zeit der Teilfürstentümer« (udel’naja Rus’). Der Glanz des ersten ostslavischen Reiches der Kiever Rus’ war Mitte des 12. Jahrhunderts bereits am Verblassen. Konkurrierende Teilfürsten aus der Dynastie der Rjurikiden begannen um die Vorherrschaft und um das Erbe Kievs zu streiten (vgl. Fennell 1983). Jurij Dolgorukij aus Vladimir-Suzdal’, dem Chronisten seinen Beinamen ›Langer Arm‹ offenbar aufgrund seiner Einmischungspolitik verpassten, war ein solcher nach Ruhm und Macht strebender Teilfürst. Mit militärischer Unterstützung von Nomadenkriegern der Polovcer (Kiptčaken) eroberte er 1155 Kiev und konnte sich

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dort bis zu seinem Tod 1157 als Großfürst halten. Sein Sohn Andrej Bogoljubskij (1111–1174) ließ Kiev 1169 wie eine feindliche Stadt zerstören und verlegte den Großfürstensitz in den Nordosten der Rus’, nach Vladimir an der Kljazma. Hier, zweihundert Kilometer östlich von Moskau, baute er als Zeichen einer angestrebten translatio imperii ein Goldenes Tor und eine Mariae-­ Entschlafens-Kathedrale (Uspenskij Sobor), beides Zeichen der religiös begründeten altrussischen Hauptstadttradition (vgl. auch Philipp 1983  ; Woronin 1957). Moskau war in dieser Zeit noch eine unbedeutende Grenzfestung des Fürstentums Vladimir-Suzdal’. Die Stadt wurde hundert Jahre später (1237) ebenso von den Mongolen überfallen und zerstört wie zahlreiche andere Städte der Rus’ auch. Wie ist der beispiellose Aufstieg dieser kleinen und relativ unbedeutenden Grenzfestung zum Kristallisationskern der russischen Reichsbildung im 14. und 15. Jahrhundert zu erklären  ?6 Schließlich ist Moskau, Moskowien, das Moskowiterreich  – neben Rom bzw. dem Römischen Reich  – »der einzige große Flächenstaat der europäischen Geschichte, dem eine Stadt, seine Hauptstadt, den Namen gegeben hat« (Lemberg 1983, 105). Begünstigt wurde der Aufstieg Moskaus zum einen durch seine geografische Lage. Die Stadt lag am Schnittpunkt wichtiger Wasser- und Landwege und war so zum Beispiel an die Handelsrouten von Dnepr und Volga angebunden. Moskau war durch Sümpfe vor Angreifern geschützt und lag in sicherem Waldgebiet. Dadurch war sie weniger exponiert für Angriffe aus den Steppengebieten als andere, weiter südlich gelegene Festungen. Zum zweiten profitierte Moskau als Grenzfeste in frühen Jahren vom Zustrom von Flüchtlingen aus dem Süden. Dies trug deutlich zur Steigerung des Wohlstands der Stadt bei. Als dritter Faktor für den Aufstieg Moskaus wird in der Forschung die geschickte Politik der lokalen Machthaber genannt, die es verstanden, durch Eroberungen, Kauf und Heirat ihr Herrschaftsgebiet stetig zu vergrößern. Besonders wichtig war in diesem Kontext die Ausgleichspolitik der Moskauer Fürsten mit den mongolischen Fremdherrschern seit dem 14. Jahrhundert. Wie ihrem Ahnherren Aleksandr Jaroslavič (Nevskij) (ca. 1220–1263, Großfürst von 1252–1263) gelang es ihnen, sich mit dem Chan der Goldenen Horde zu verständigen und sich auf diese Art die Großfürstenwürde dauerhaft zu sichern.7 Die Mongolen waren bei der Ausübung ihrer Tributherrschaft über die Fürstentümer der Rus’ auf die Kooperation lokaler Fürsten angewiesen, die als Gegenleistung für ihre Loyalität vom Chan die Bestätigungsurkunde als Fürst oder Großfürst erhielten. Bei diesem Spiel des divide et impera der Mongolen erwiesen sich die Moskauer Fürsten als geschickte Taktiker. Anfang des 14. Jahrhunderts kam es dabei sogar zur einer

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ersten ehelichen Verbindung zwischen einem Sprössling der Daniloviči und der Schwester des Mongolenchans. Von mindestens ebenso großer Bedeutung für den Machtzuwachs Moskaus erwies sich viertens, dass sich seine Fürsten langfristig die Unterstützung der russisch-orthodoxen Kirchenleitung sichern konnten (Goehrke 2010, 240f  ; vgl. auch Fennell 1968). Bis Ende des 13. Jahrhunderts hatte der Metropolit von Kiev noch in der einstigen Hauptstadt der Rus’ ausgeharrt. Nach einer erneuten Verwüstung der Stadt im Jahr 1299 verlegte Metropolit Maksim (gest. 1305) den Sitz seiner Kirchenprovinz nach Vladimir an der Kljazma. Dorthin hatte, wie bereits erwähnt, Andrej Bogoljubskij im späten 12. Jahrhundert den Großfürstensitz verlegt. Mit der zunehmenden Verlagerung des Machtzentrums von Vladimir nach Moskau sollte sich Anfang des 14. Jahrhunderts auch der Metropolit von Kiev und der ganzen Rus’ umorientieren, sodass auch er um 1325 seinen Amtssitz an die Moskva verlegte. Dort regierte mittlerweile Ivan I. genannt ›der Geldbeutel‹ (Kalita) (1288–1341). Dieser hatte von den Mongolen den Titel ›Großfürst der ganzen Rus’‹ erhalten. Damit verbunden war die Aufgabe, den Tribut für alle Teilfürstentümer einzusammeln, eine Pflicht, die – von seinem Beinamen zu schließen – Ivan großen Reichtum einbrachte. Durch seine umsichtige Heiratspolitik und sein geschicktes Taktieren mit Mongolen und orthodoxer Kirchenleitung legte Ivan I. den Grundstein für die spätere Größe des Moskauer Reiches. Die ganze Geschichte von Moskaus Aufstieg zum neuen politischen Machtzentrum Russlands, welche natürlich nicht ohne Rückschläge verlief, kann an dieser Stelle nicht detailliert nachgezeichnet werden.8 Unterstrichen werden sollte jedoch, dass die Rolle des neuen politischen Machtzentrums auch anderen Städten und Fürstentümern der Rus’ hätte zufallen können. So zum Beispiel der Stadt Tver’, die zeitweise gute Chancen hatte, neues politisches Zentrum im ostslavischen Raum zu werden. Vermutlich hätte die Geschichte Russlands einen anderen Verlauf genommen, wenn sich anstatt Moskaus eine andere Stadt als Kristallisationspunkt der Geschichte des Landes etabliert hätte. Besonders deutlich wird dies beim Vergleich der politischen Verfassung Moskaus mit der mittelalterlichen Stadtrepublik Novgorod, das sich bereits 1136 vom Kiever Reich losgesagt hatte und seit 1156 auch seinen Bischof (bzw. später Erzbischof ) selbst wählte (vgl. Goehrke 1981, 431–483). Selbstbewusst strebte Novgorod nach politischer und kirchlicher Autonomie. So wurde hier Mitte des 11. Jahrhunderts mit dem Bau einer eigenen Sophienkathedrale begonnen. Diese war dem Stil der gleichnamigen Kirche in Kiev nachemp­funden. Eine Kirche mit dem Patrozinium der »gött-

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lichen Weisheit« gehörte zur symbolischen Ausstattung rus’ischer Hauptstädte, die als »Abbild« des »Urbilds« von Byzanz bzw. Jerusalem konzipiert und gedacht waren (Philipp 1983, 152–226). In Novgorod und dem ebenfalls an der Westgrenze des Kiever Reiches gelegenen Pskov konnte sich die burgstädtische Verfassung Altrusslands am längsten halten (Zernack 1967, 191–193). Kern dieser politischen Ordnung war das veče, die Versammlung der städtischen (männlichen) Bevölkerung, die bei Bedarf zusammengerufen wurde und das Forum der politischen Interessensgruppen der Stadt darstellte. Als zentrale Insti­tution bestellte und entließ das veče den Fürsten, wählte die Führungsins­ titutionen der Stadt und entschied über Krieg und Frieden. Die ausführende Gewalt lag in den Händen oligarchischer Führungsinstitutionen, die aus der Bojarenschicht besetzt wurden und die Stadtrepublik gegenüber dem Fürsten vertraten. Der Fürst schließlich stand nominell an der Spitze der Stadtrepublik, war jedoch durch einen Vertrag mit der Stadt, den er beeiden musste, in seinen Rechten eingeschränkt. Die Verfassungs- und Sozialstruktur Vladimir-Suzdal’s, die für die weitere Entwicklung der Geschichte des Moskauer Reiches bestimmend werden sollte, kannte derartige ›Freiheiten‹ und demokratische Institutionen nicht. Hier war die politische Ordnung bestimmt von der herausragenden Machtstellung des Fürsten über Bojaren und andere Gruppen der städtischen Bevölkerung (Goehrke 2010, 186–191). Aus dieser herausgehobenen Fürstenmacht sollte nicht nur das spätere System der russischen Autokratie erwachsen. Sie war auch eine wichtige Voraussetzung für die fortschreitende territoriale Expansion des Moskauer Reiches, der im späten 15. Jahrhundert mit der Eroberung und Zerschlagung der Stadtrepublik auch die Novgoroder Freiheiten zum Opfer fielen.

Moskau und das symbolische Erbe Kievs und Vladimirs

Die Politik der territorialen Expansion des Großfürstentums Moskau seit dem frühen 14. Jahrhundert durch Kauf, Heirat und Krieg wird in der Literatur meist euphemistisch als »Sammlung des russischen Landes« (sobiranie russkich zemel’) bezeichnet. Diese Formulierung spielt darauf an, dass sich die aufstrebenden Moskauer Großfürsten anschickten, politisch und symbolisch die Nachfolge des alten Kiever Reiches anzutreten und die zahlreichen orthodoxen Teilfürstentümer wieder unter einer Krone zu vereinigen. Wichtige Voraussetzung für diese translatio imperii war neben dem Großfürstenthron der Sitz des Metropoliten, d. h. des Oberhaupts der Kirchenprovinz der »ganzen Rus’«. Die

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Anknüpfung an das Erbe Kievs als sakrale und politische Hauptstadt erfolgte jedoch nicht direkt, sondern vermittelt durch die Stadt Vladimir, die sich mit seinem Goldenen Tor und seinem Uspenskij Sobor – wie bereits erwähnt – seinerseits als ›Abbild‹ des ›Urbildes‹ Kiev verstand. Da sich der Aufstieg Moskaus zur neuen Hauptstadt in dem vom Großfürstentum Vladimir vorgegebenen Rahmen entfaltete, war ein so explizites Aufgreifen der Tradition, wie es sich für Vladimir nachweisen lässt, hier jedoch ausgeschlossen. An zwei Stellen knüpften die Moskauer Herrscher jedoch deutlich an die Urbild-Abbild-Tradition älterer Hauptstädte der Rus’ an. Zum einen veranlassten sie im frühen 14. Jahrhundert den Bau einer neuen Mariae-Entschlafens-Kirche (Uspenskij Sobor) innerhalb der Festungsmauern des Kreml’ (vgl. Kempgen 1994, 70–78). Diese Kirche, so der damalige Metropolit Petr (gest. 1326) werde nicht nur die Verherrlichung des Fürsten und seines Geschlechts, sondern auch diejenige Moskaus auf Ewigkeit sichern. »Die Stadt wird hochberühmt sein unter allen russischen Städten«, so die Weissagung des Kirchenführers, wie sie im so genannten »Stufenbuch« (Stepennaja kniga) überliefert ist (Philipp 1983, 235). Die Kirche, die im 15. Jahrhundert durch den bis heute erhaltenen Bau ersetzt wurde, war und blieb das Hauptheiligtum Moskaus sowie des Moskauer und später der Russländischen Reiches. Hier wurden die Moskauer Großfürsten eingesetzt und später die Zaren gekrönt.9 Zugleich diente die Kirche als Grablege der Moskauer Kirchenführer, zunächst der Metropoliten, später der Patriarchen. Metropolit Pëtr wurde bereits in der neuen Kathedralkirche beigesetzt. Die symbolische Übertragung der geistlichen Macht von Vladimir nach Moskau kam auch in jenem Neubau der Uspenskij-Kathedrale zum Ausdruck, den Großfürst Ivan III. (der ›Große‹, 1440–1505, Großfürst ab 1462) in den 1470er Jahren in Auftrag gab. Nachdem die Kirche aus dem 14. Jahrhundert baufällig und ein daraufhin errichteter Sakralbau 1474 kurz vor der Vollendung wieder eingestürzt war, wurde der italienische Baumeister Aristotele Fioravanti (ca. 1415–1486) aus Bologna engagiert, der in den Jahren 1475–1479 eine neue Kathedralkirche nach dem Vorbild des Uspenskij Sobor in Vladimir schuf. Die Mariae-Entschlafens-Kathedrale war nicht nur die prächtige neue Krönungskirche (ab 1498) der Moskauer Herrscher. Wie die Sophienkathedrale in Novgorod oder die Dreifaltigkeits-Kirche von Pskov verkörperte der Bau auch den Anspruch Moskaus, geistiges Zentrum zu sein. In seiner »Lehre vom Dritten Rom«, von der später noch ausführlicher die Rede sein wird, beschrieb der Pskover Mönch Filofej (1465–1542) im frühen 16. Jahrhundert die Moskauer Uspenskij-Kathedrale als Verkörperung der »heiligen ökumenischen

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apostolischen Kirche«. Nach dem Fall der römischen und der konstantinopolitanischen Kirche habe die orthodoxe Christenheit in der »gotterlösten Stadt Moskau« ein neues Zentrum gefunden. Hier leuchte die Kirche der »berühmten und heiligen Entschlafung der allereinsten Jungfrau«, eine Kirche, die »allein in der Welt mehr als die Sonne leuchtet« (Philipp 1983, 236). In diesen Zeilen wird die Kirche in Moskau zum Zentrum der orthodoxen Welt erhöht, entsprechend der Bewertung des Moskauer Fürsten als des einzig verbliebenen rechtgläubigen Herrschers nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen. Der zweite Akt, mit dem die Moskauer Herrscher versuchten, ihre Stadt der vormaligen Hauptstadt Vladimir anzugleichen, war die Überführung der Muttergottesikone aus Vladimir (Vladimirskaja ikona Božiej materi) nach Moskau.10 1395 ließ Vasilij Dmitrievič (1371–1425, Großfürst ab 1389) das Heiligenbild in seine Residenz überführen, um sie in einer Schlacht gegen den zentralasiatischen Heerführer Tamerlan / Timur (1336–1405) als schützendes, wunderwirkendes Bildnis mit sich zu führen. Endgültig ging die Ikone im Jahr 1529 in Moskauer Besitz über. In der Hauptstadt fand sie in der Kathedralkirche des Uspenskij Sobor einen würdigen Platz. Im Moskauer Russland galt die Gottesmutter von Vladimir als eines der größten Heiligtümer des Landes. Abbilder dieses Ikonentyps finden sich heute in fast allen russisch-orthodoxen Kirchen. Die Ikone galt als Unterpfand der politischen Macht, die sich Moskau im späten 14. Jahrhundert angeeignet hatte. Rückblickend hielten Chronisten aus dem 16. Jahrhundert fest  : »Gott gewährte, dass das wundertätige Bild seiner allerreinsten Mutter zur Befestigung und zum Schutz des ganzen russischen Landes aus der Stadt Vladimir in die hochberühmte Stadt Moskau übertragen wurde« (Philipp 1983, 236).

Moskau und das byzantinische Erbe

Spätestens seit dem frühen 15. Jahrhundert war den Moskauer Großfürsten diese symbolische Anknüpfung an Vladimir bzw. die Kiever Rus’ nicht mehr genug. In einer Zeit, als der Stern des Byzantinischen Reiches immer schneller sank, zeigten sich in Moskau deutliche Tendenzen, sich vom kirchenpolitischen Einfluss des Patriarchen von Konstantinopel zu lösen und – nach dem Fall Konstantinopels – die Stadt am Bosporus als Hauptstadt der orthodoxen Christenheit zu beerben (Nitsche 1987, 321–338). Die Ablösungstendenzen zeigten sich in erster Linie auf dem Gebiet der Kirchenadministration. Wie

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in Zeiten des Kiever Reiches war auch der Metropolit der russisch-orthodoxen Kirche, der ungeachtet seines Amtssitzes in Moskau den Titel ›Metropolit von Kiev und der ganzen Rus’‹ (Mitropolit Kievskij i vseja Rusi) trug, im frühen 15. Jahrhundert auf die Bestätigung des ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel angewiesen. Immer wieder kam es zu Streitigkeiten zwischen der russischen Kirchenhierarchie und dem Patriarchat, wer den Metropoliten-Thron in Moskau besteigen dürfe. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 hatte sich das Machtge- Abb. 3. Muttergottesikone von Vladimir. füge jedoch spürbar verändert, sodass eine Synode russischer Bischöfe im Jahr 1459 nicht nur die Wahl eines eigenen Metropoliten gegen den Widerstand von Konstantinopel durchsetzen konnte. Selbstbewusst wurde auch die kirchenpolitische Eigenständigkeit beschlossen und die ›Metropolie von Moskau und der ganzen Rus’‹ aus der Taufe gehoben. Die logische Konsequenz dieses Schritt wäre dann die Einrichtung eines eigenen Moskauer Patriarchats gewesen. Doch da eine solche Entscheidung der Zustimmung aller orthodoxen Patriarchen bedurfte, mussten die Moskauer auf diesen Schritt noch bis zum Jahr 1589 warten. Während sich auf dem Gebiet der russischen Kirchenpolitik nach dem Fall Konstantinopels deutliche Tendenzen einer Abnabelung der Moskauer Metropolie vom ökumenischen Patriarchat zeigten, schmückten sich die Moskauer Herrscher in zunehmendem Maße mit Zeichen byzantinisch-imperialer Größe. 1472 heiratete Großfürst Ivan III. die byzantinische Prinzessin Zoë bzw. Sophia Palaiologa (um 1448–1503), eine Nichte des letzten oströmischen Kaisers, was den internationalen Status der Rjurikiden-Dynastie erheblich aufwertete. Dies kam beispielsweise darin zum Ausdruck, dass sich Ivan III. 1473/74 in einem Waffenstillstandsvertrag zum ersten Mal »Zar« nannte – in Analogie zum oströmischen Caesaren- bzw. Kaisertitel.11 Auch die Verwendung des Titels Auto­ krator (samoderžec, wörtl. Selbstherrscher), die ab dem späten 15. Jahrhundert üblich wurde, lässt sich auf byzantinische Wurzeln zurückführen. Des Weiteren orientierte man sich am Moskauer Hof auch beim Krönungszeremoniell ab

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dem späten 15. Jahrhundert an byzantinischen Vorbildern. Seinen Abschluss fand diese Entwicklung, als sich Ivan IV. Vasil’evič (›der Schreckliche‹, 1530– 1584) im Jahr 1547 zum ersten Zaren des Moskauer Reiches krönen ließ und im Jahr 1589 die Einrichtung eines eigenen Moskauer Patriarchats vollzogen werden konnte. In welchem Maße sich Moskauer Herrscher von der Vorstellung leiten ließen, ihre Stadt stehe als »drittes Rom« in direkter Nachfolge von Rom und Konstantinopel, ist in der Forschung umstritten.12 Besonders prägnant formulierte die Ideologie von Moskau als drittem Rom der Pskover Mönch Filofej, der Anfang des 16. Jahrhunderts die Regenten Vasilij III. Ivanovič (1479–1533) und Ivan IV. warnte  : »Zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben  !« (Schaeder 1953, 209). Aller Wahrscheinlichkeit nach sollte diese Botschaft jedoch nicht als Appell an den Großfürsten gelesen werden, sich in Moskau als legitimer Erbe des West- und des Oströmischen Reiches zu begreifen. Vielmehr kommen hier damals herrschende Endzeiterwartungen zum Ausdruck, die sich mit Vorstellungen vom gottgewollten Niedergang von Rom und Konstantinopel vermischten  : Die Kirche des Alten Rom fiel durch die apolinarische Ketzerei. Die Tore der Kirche des Zweiten Rom, der Stadt Konstantins, zerbrachen die Hagar-Enkel mit Äxten und Beilen. Heute aber ist die heilige allgemeine apostolische Kirche des Dritten Neuen Roms die deiner Herrschaft und deines Zarentums, das bis an die Enden der Welt über alles unter dem Himmel im orthodoxen Glauben heller als die Sonne leuchten wird. (Jähne 1997, 101)

Rom, daran bestand nach den schmerzvollen Erfahrungen des Schismas von 1054 oder des vierten Kreuzzugs gegen Konstantinopel (1202–1204) in orthodoxen Kreisen kein Zweifel, war schon lange vom rechten Glauben abgefallen und das Weströmische Reich gerechterweise untergegangen. Konstantinopel hatte die Sache der Orthodoxie auf dem Unionskonzil von Ferrara/Florenz von 1438/39 verraten und hatte dafür 1453 seine gerechte Strafe erhalten. Nun sei es Aufgabe des Moskauer Regenten, den wahren Glauben und die rechtgläubige Kirche zu schützen und vor Angriffen von außen sowie vor Häretikern im Inneren zu bewahren. In dieser Lesart war die Lehre von Moskau als drittem Rom kein Aufruf, dem Vorbild von Rom und Byzanz nachzueifern  : Im Gegenteil. Es war eine deutliche Mahnung an die russischen Herrscher, mit der Macht über das letzte rechtgläubige Großreich verantwortungsvoll umzugehen. Sonst drohe der gesamten Christenheit der Untergang.

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Das Erbe der Goldenen Horde

Ende des 16. Jahrhunderts hatten Moskau und das nach ihm benannte Reich einen ersten Höhepunkt seiner Macht erlangt. Moskau war die unumstrittene Hauptstadt eines Landes, das nicht nur an das Erbe von Kiev, Vladimir und Byzanz anknüpfte. Mit der Eroberung der mongolischen Chanate von Kazan’ und Astrachan (1552–54) hatte Ivan IV. auch mit der »Sammlung der Länder der Goldenen Horde« begonnen (Kappeler 1992, 22–56). Inwiefern das Moskauer Zartum damit auch das Erbe des mongolischen Weltreichs antrat und tatarische Institutionen und Praktiken das Moskauer Herrschaftsmodell prägten, wird in der Forschung kontrovers diskutiert.13 Sicher ist, dass die enge Kooperation mit den Mongolen den Aufstieg der Moskauer Teilfürsten im späten 13. und 14. Jahrhundert stark begünstigte. Wichtig für den Ausbau der Moskauer Macht war zudem der Sieg von Dmitrij Ivanovič (Donskoj  ; 1350–1389, Großfürst ab 1359) im Jahr 1380 über ein Heer der mongolischen Fremdherrscher. Dieser erste militärische Erfolg eines russischen Heeres gegen die Mongolen in einer offenen Feldschlacht war ein gewaltiger Prestigegewinn für das Moskauer Herrscherhaus, auch wenn das »Tatarenjoch« (tataro-monol’skoe igo) erst etwa hundert Jahre endgültig »abgeschüttelt« werden konnte. In den 1470er Jahren begann das Herrschaftsgebiet der Goldenen Horde in einzelne Teilreiche zu zerfallen. Unter ihnen waren u. a. die Chanate von Kazan’ und Astrachan, die Ivan IV. Mitte des 16. Jahrhunderts in sein Reich inkorporierte. An diesen Sieg erinnert in Moskau bis heute die vermutlich berühmteste russische Kirche und Wahrzeichen der Stadt, die Basilius-Kathe­ drale (Chram Vasilija Blažennogo) auf dem Roten Platz.14 In Auftrag gegeben hat den Bau Ivan IV. nach seiner Eroberung von Kazan’. Sie war gedacht als eine ›Hymne an die Freude‹ und als ein weithin sichtbares Monument für den Sieg über die Mongolen. Die Erinnerung an die Kämpfe des 16. Jahrhunderts ist in dem Kirchenbau an mehreren Stellen präsent. So sind beispielsweise sechs Kapellen Heiligen geweiht, deren Feiertage in den Tagen der Eroberung Kazans begangen wurden. Eine weitere erinnert an die siegreiche Rückkehr des Zaren von seinem Feldzug. Die Basilius-Kathedrale führt offiziell eigentlich ein anderes Patrozinium. Sie ist dem Fest des Schutzmantels der Gottesmutter (Sobor Pokrova Presvjatoj Bogorodicy čto na Rvu) geweiht, das im orthodoxen Kirchenkalender am 1. Oktober begangen wurde. Auch dies erinnert an die militärischen Erfolge Ivans IV. Schließlich gelang seinem Heer im Jahr 1552 an diesem Tag die endgültige Eroberung der Stadt Kazan’.15

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Moskau als gebaute Hauptstadt

Moskaus Aufstieg zur Metropole der Macht, zum Mittelpunkt eines gewaltigen Reiches, wirkte deutlich auf die Stadt und seine bauliche Gestalt zurück. Die Stadt hatte politische Zentrumsfunktion. Hier residierte der weltliche Herrscher (Großfürst / Zar) und das Kirchenoberhaupt (Metropolit / Patriarch). Hier konzentrierten sich Handel und Kapital. Hier saßen die Zentralbehörden (prikazy) des Moskauer Reiches. Hier wirkten westliche Fachkräfte (Baumeister, Ärzte, Handwerker), die in der »deutschen Vorstadt« (nemeckaja sloboda) untergebracht waren. Nicht zuletzt aber war Moskau ein gewaltiges Symbol der Macht, das von der eigenen Bevölkerung und von ausländischen Besuchern und Diplomaten gelesen und gedeutet werden sollte. Diese Schaufenster-Funktion kam besonders deutlich an der Festungs- und Palast-Anlage des Kreml’ zum Ausdruck. Das russische Wort ›Kreml’‹ ist die allgemeine Bezeichnung für die Burgfestung altrussischer Städte in den mittleren und nordwestlichen Gebieten der Rus’ (Schalhorn 1985, 215f ). Oftmals an einer erhobenen Stelle an einem Fluss oder am Zusammenfluss von zwei Wasserläufen gelegen, war die Festung durch Wälle und Mauern gegen Angriffe gesichert. Neben der militärischen Schutzfunktion wuchsen der Burgfestung Funktionen zu, die sich aus dem Herrschaftsanspruch und der Lebensweise der Fürsten ergaben. So ließen die Moskauer Herrscher in ihrem Kreml’ nicht nur Paläste für sich, ihr Gefolge, Bojaren-Familien und die Kirchenführung, sondern daneben zahlreiche Verwaltungsgebäude und Sakralbauten errichten.16 Aufgrund der zunehmenden Machtkonzentration in den Händen seiner Fürsten entwickelte sich der Kreml’ in Moskau zu einer besonders prächtig und reich ausgestatteten Bühne der Macht. Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts gab sich der kaiserliche Gesandte und Russlandreisende Siegmund von Herberstein (1486–1566) tief beeindruckt von der Anlage, die sich ihm als »eigene Stadt« darbot  : Die Burg könnte ihrer Größe wegen ein Städtchen genannt werden, denn darin sind nicht allein die weit gebauten, prächtigen Häuser des Fürsten, sondern auch der Metropolit, ebenso des Großfürsten Brüder, vornehme Räte und sehr viele andere haben große Holzhäuser dort, dazu sind viele Kirchen darin. […] In dieser Burg sind die Bollwerke und Hauptkirchen wie das Schloß des Fürsten aus Ziegeln, von welschen Meistern, die der Fürst um großen Lohn aus Italien gerufen hatte, in welschem Stil [d. h. im Stil der italienischen Renaissance, FBS] erbaut. Viele Kirchen sind aber, wie ich gesagt habe, auch darin, fast alle aus Holz, außer von zwei vornehmsten,

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die aus Ziegeln gemauert sind  ; davon sind die eine Unsrer Frau und die andere [dem Erzengel] Sankt Michael geweiht. In der Frauenkirche sind die Leichname der zwei Erzbischöfe begraben, die das erwirkt haben, daß die Fürsten ihr Reich hierher gesetzt und hier die Metropole errichtet haben  ; und vor allem deswegen verehrt man sie als Heilige. In der andern Kirche begräbt man die verstorbenen Fürsten. (Herberstein 1984 [1549], 168f.)

Die letzte von Herberstein erwähnte Kirche im Moskauer Kreml’, die Erzengel-Kathedrale (Archangel’skij sobor), legt  – neben der Uspenskij-Ka- Abb. 4 . Bildnis von Fürst Aleksandr Nevskij (1220–1263) thedrale, dem Facettenpalast und den im Archangel’skij Sobor. Die dargestellte Kopfbedeckung Kreml’mauern  – Zeugnis vom Ein- (Monomachkappe) gehörte zu den Insignien der russischen Zaren aus dem 17. Jahrhundert. fluss italienischer und Tessiner Baumeister ab, die Ivan III. im späten 15. Jahrhundert an seinen Hof geholt hatte. Hier ist vor allem der Neubau der Erzengel-Kathedrale durch den Mailänder Architekten Alovisio Nuovo (1505–1508) von Interesse (Kempgen 1994, 79–84). Ihr Äußeres zeigt sich dem Betrachter als eine Mischung aus russischer Bautradition und oberitalienischer Renaissance. Der Archangel’skij Sobor war die Grablege der Rjurikiden-Dynastie und später der Romanovs, bevor Peter I. (1672–1725) mit der Peter-und-Paul-Kathedrale in der neuen Hauptstadt St.  Petersburg einen neuen Begräbnisort der Zarenfamilie erbauen ließ. Als Grablege der Dynastie wertete die Erzengel-Kathedrale den Kreml’ als symbolisches Machtzentrum des Moskauer Reiches weiter auf. Besuchern der Kirche präsentiert sich der gesamte Stammbaum des Herrscherhauses an den Wänden als gemalte Genealogie. Die Freskengemälde aus dem 17. Jahrhundert zeigen Bilder von Großfürsten aus der Teilungszeit und der Zeit der »Sammlung der Länder der Rus’«. Das Bildprogramm hebt dabei den Anspruch der Moskauer Zaren hervor, als legitime Erben der Großfürsten von Kiev und Vladimir zu regieren. Um die eigene Herrschaftstradition zu unterstreichen, schreckte man auch nicht davor zurück, Herrscher aus dem 13.  Jahrhundert mit Insignien und Ornat aus der Gegenwart des 17. Jahrhunderts zu schmücken.

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Neben den erwähnten Sakralbauten kam natürlich auch dem Herrscherpalast eine herausragende Stellung im Moskauer Kreml’ zu. Der bis heute erhaltene Große Kreml’palast (Bol’šoj Kremlevskij Dvorec) stammt aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist ein Werk des Architekten Konstantin A. Ton (1794–1881), der später auch die Christ-Erlöser-­Kathedrale in Moskau entwerfen sollte (vgl. Slavina 1989). Wie kaum ein anderes Gebäude symbolisiert der Herrscherpalast den Anspruch auf Tradition und Kontinuität der Macht  : vom Sitz des Großfürsten bzw. Zaren hin zur Residenz der russländischen Kaiser im 18. und 19. Jahrhundert, die hier bei Aufenthalten in der alten Hauptstadt Quartier nahmen. In der UdSSR tagte hier der Oberste Sowjet im Sitzungssaal des Großen Kreml’palastes. Die dafür zusammengelegten Säle (Andreas- und Alexander-Saal) erstrahlen heute wieder im Glanz imperialer Macht und dienen dem Präsidenten der Russländischen Föderation in seiner Residenz als eindrucksvolle Bühnen politischer Repräsentation.

Moskau im Schatten St. Petersburgs

1712 verlegte Reformzar Peter I. die Hauptstadt Russlands per ukaz in das neu gegründete St. Petersburg. Der von Peter bewusst vollzogene Bruch mit der Moskauer Tradition sollte auch mit Blick auf das symbolische und politische Zentrum des Landes deutlich werden. Neben der Herrscherresidenz ließ der erste russländische Kaiser (imperator) auch die Grablege der Dynastie an die Neva verlegen. Der russländische Adel wurde dazu verpflichtet, im unwirtlichen St. Petersburg neue Paläste zu errichten. Da Peter I. nach dem Tod von Patriarch Adrian I. (um 1637–1700, Kirchenoberhaupt ab 1690) das Amt des Patriarchen abgeschafft und die Kirche der staatlichen Verwaltung unterstellt hatte, entfiel beim Umzug der Hauptstadt die Notwendigkeit, auch die Residenz des Kirchenoberhaupts zu verlegen. An die Stelle des Patriarchats trat der Heiligste Synod, eine staatliche Behörde, die topographisch und räumlich in Petersburg neben dem Senat (als oberster Verwaltungs- und Gerichtsbehörde), jedoch nicht neben dem Herrscherpalast angesiedelt wurde. Während St. Petersburg zur neuen Haupt- und Thronstadt, zum »ceremonial center of administration« (Wortman 1985, 244–271) und zur neuen Bühne für die Szenarien der Macht (scenarios of power) des verwestlichten Hofes aufstieg, blieb Moskau die ›alte Hauptstadt‹ (pervoprestol’naja stolica) und diente dem Kaiserreich weiterhin als Krönungsstadt. Mit seiner langen ehrwürdigen Tra-

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Abb. 5 (l.o.). Alexander-Saal 1849, Aquarell von Konstantin Uchtomskij. Abb. 6 (r.o.). Sitzungssaal des Obersten Sowjets, nachdem der Alexander- und der Andreas-Saal zusammengelegt wurden. Fotografie aus den 1950er Jahren. Abb 7 (r.). Alexander-Saal mit Blick in den Andreas-Saal nach der vollständigen Restauration in den 1990er Jahren.

dition hatte Moskau im 18. und 19. Jahrhundert eine besondere Funktion. Es eröffnete den Kaisern die Möglichkeit, an diesem Ort immer wieder an ihren eigenen Herrschaftsanspruch zu erinnern und den höheren symbolischen und politischen Rang St. Petersburgs zu inszenieren. Bis zuletzt wurden zwar die russländischen Kaiser und Kaiserinnen in Moskau an den traditionellen symbolischen Orten (im Uspenskij sobor des Kreml’) gekrönt. Die Zeremonie wurde hier jedoch nach den neuen Petersburger Regeln durchgeführt. So ka-

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men dabei beispielsweise bereits im 18. Jahrhundert die nach westlichen Vorbildern gestalteten Herrscherinsignien zum Einsatz. Auch nach ihrer Krönung reisten alle Petersburger Kaiser und Kaiserinnen regelmäßig nach Moskau. Seit dem 18. Jahrhundert nutzten die Herrscher  – insbesondere die Thronfolger – Reisen im eigenen Land, um durch die physische Präsenz an bestimmten Orten den Herrschaftsanspruch im eigenen Land zu unterstreichen.17 Auf diesen Itinerarien der russländischen Kaiser hatte Moskau einen herausragenden Platz. Anlässe für solche zeremonielle Fahrten in die ehemalige Hauptstadt boten zum Beispiel Siegesfeiern, Jubiläen, die Einweihung von Denkmälern oder religiöse Feste. Im 19. Jahrhundert galt vielen national gestimmten Zeitgenossen St. Petersburg als die fremde, westliche und männliche Metropole, Moskau indes als die russische, authentische und weibliche Stadt.18 Sinnfälligen Ausdruck fand diese imaginierte Dichotomie und Städtekonkurrenz im (angeblich von Napoleon formulierten) Bild von Petersburg als ›Kopf‹ und Moskau als ›Herz Russlands‹.19 Für viele ausländische Beobachter blieb Moskau indes das wahre Zentrum des Russländischen Reiches. Manche konnten sich Mitte des 19. Jahrhunderts sogar bereits wieder vorstellen, dass Moskau in Zukunft erneut zur Hauptstadt des Reiches aufsteigen werde. So zum Beispiel der deutsche Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl (1808–1878), der 1841 in seinen Reisen im Inneren von Rußland und Polen festhielt  : Moskau wird vermöge einer juridischen Fiction noch immer eben so gut wie Petersburg als Residenzstadt angesehen. Allein nur selten wird diese Fiction auf flüchtigen Reisen, welche die Kaiser hierher machen, zur Wirklichkeit, und gewöhnlich stehen die Paläste leer, sind die kaiserlichen Logen im Theater finster. Dennoch aber ist auf dem Kreml immer in jedem Augenblick Alles zum Empfange des Kaisers bereit und Alles so eingerichtet, als wenn der Kaiser hier fortwährend residire und nur jetzt eben abwesend sei. Wenn man die Lage Moskaus bedenkt, wie es so im Herzen von ganz Rußland liegt, wie alles Leben, Handeln und Treiben, welches vom weißen, schwarzen, caspischen und baltischen Meere hereinwärts wogt, so natürlich seinen Centralpunct bei den schönen Hügeln der Moskwa findet, – wenn man erwägt, wie aus diesem Mittelpuncte heraus sich das Ganze bildete und wie wir eigentlich weniger ein russisches als ein moskowitisches Reich haben, so ist es offenbar, daß Moskau immer, sowohl von der Natur, als von der Geschichte, zur Haupt- und Residenzstadt Russlands bestimmt ist und es dereinst auch einmal wieder werden wird. (Kohl 2005 [1841], 95)

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Kohl hatte sich gewiss nicht träumen lassen, unter welchen Umständen seine Prophezeiung im Jahr 1918 Wirklichkeit werden sollte.

Anmerkungen   1 Vgl. dazu den Beitrag von Werner Huber in diesem Band.   2 Vgl. auch Michael Thumann. »Zum 850. Jubiläum soll Moskau leuchten.« Die Zeit (Nr. 33) vom 8.8.1997.   3 Vgl. Noever 1994, 91–118  ; Vaskin und Nazarenko 2006  ; Huber 1998  ; Huber 2007, 151–169 sowie in diesem Band.  4 Polnoe sobranie russkich letopisej, Bd. 2  : Ipat’evskaja letopis’. (Nachdruck der 2. Ausgabe St. Peter­burg 1908), Moskva 1962, Sp. 339.   5 Zu den Anfängen und zum Aufstieg Moskaus vgl. u. a. Knackstedt 1975.   6 Einen knappen Überblick bietet Goehrke 2010, 75–82.   7 Aleksandr Jaroslavič (Nevskij) überließ seinem jüngsten Sohn Daniil (1261–1303) Moskau als Patrimonium (vererbbares Eigentum). Später würdigten die Moskauer Fürsten den Sohn Alexanders als Begründer ihrer Dynastie der Daniloviči. Zur Bedeutung Alexander Nevskijs im russischen kulturellen Gedächtnis siehe auch Schenk 2004.   8 Ausführlich dazu  : Haumann 2003, 12–31 (mit hilfreicher Bibliographie)  ; Pross-Werth 1980  ; daneben auf Russisch  : Istorija Moskvy. 3 Bde. 1997–2000  ; Istorija Moskvy v šesti tomach 1952– 1959  ; Zabelin 1995 [1905].   9 Zur Krönungszeremonie des Zaren siehe Kusber 2013, 122–126  ; zu den byzantinischen Wurzeln  : Uspenskij 2012, 153–174. 10 Zur Entstehung und Bedeutung dieser Ikone siehe Lasarew 1957, insbes. 280–282  ; Onasch 1961, 341f. (mit weiterführender Literatur). 11 Zur Geschichte des Zarentitels siehe Torke 1985, 418f. 12 Siehe dazu Schaeder 1953  ; Kämpfer 1989, 63–83  ; Rowland D. 1996, 591–614  ; Poe 2001, 412–429  ; Roll 2012, 291–298. 13 Siehe dazu Cherniavsky 1959, 459–476  ; Halperin 1985  ; Kotkin 2007, 487–531  ; Goehrke 2010, 71–75 und 186 (dort mit Hinweis auf weitere Forschungsliteratur). 14 Zur Baugeschichte, Architektur und Ausstattung der Basilius-Kathedrale siehe Kempgen 1994, 121–125. 15 Kempgen zufolge lässt sich das Patrozinium darauf zurückführen, dass sich Ivan IV. im Pokrovskij-Kloster in Suzdal’ befand, als er nach der Einnahme Kazan’s von der Geburt des Thronfolgers erfuhr (Kempgen 1994, 122). 16 Zur Geschichte des Kreml’ und seiner Bauten überblicksartig Kempgen 1994, 51–65, sowie stellvertretend für eine umfassende Forschungsliteratur Tichomirov und Ivanov 1966. 17 Zur Geschichte der Herrscherreise in Russland siehe Wortman 1990, 745–771. 18 Vgl. den Beitrag von Thomas Grob in diesem Band. 19 Zur Konkurrenz der Kapitalen siehe Lemberg 1983, 103–111  ; Ziegler 1974  ; Schlögel 2000 (1984), 60–65  ; Gritsai 2000 33–45  ; Kusber 2013, 117–140, insbes. 117f.

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Zwischen Realität, Symbol und Phantasma Das Moskau der russischen Literatur

Vorbemerkung  : Literatur und die ›gelesene‹ Stadt

Das ›Lesen‹ einer Stadt in ihrer äußeren Erscheinung und das Textgeflecht, das sich um eine Stadt bildet, sind auf enge und komplexe Weise miteinander verbunden. Es gibt keine Lesbarkeit einer Stadt, der nicht eine Abb. 1. Aristarch Lentulov  , »Moskau«, 1913. Vertextlichung vorangegangen wäre  – eine der Stadt an sich wie eine der individuellen Stadt. Jeder Stadttext ist dabei ebenso Lektüre wie Entwurf, Imagination, Potentialität. So erstaunt wenig, dass weit über Rechtsakte, Architektur oder Stadtplanung hinaus jede bedeutende europäische Stadt von einer symbolischen Aura umgeben ist, die aus Texttraditionen kommt, die im Idealfall bei den Gründungsurkunden beginnen. So werden zeichenhafte, in einem Textfeld verankerte Orte der Erkennung, der Erinnerung oder der Repräsentation zum Teil eines symbolischen Stadtbildes, ohne das Städte stumm blieben. Karlheinz Stierle, mit seinem Paris-Buch ein Pionier der Erforschung literarischer Stadttexte, bestimmt deren Rolle zweifach. Einerseits würden sie die Stadt lesen, andererseits selbst als Zeichen der Stadt gelesen. Als gewichtiger Teil von Stadt-Diskursen wird in ihnen »die Semiose der Stadt reflexiv«  ; sie bilden »eine Gestalt des Stadtbewusstseins«, einen für die Stadt essentiellen Ausdruck der Selbstreflexion, und sie sind Orte der »Verdichtung der urbanen Zeichenwelt« (Stierle 1993, 50). Jede textliche Stadt-Aura drängt zu einem Allgemeinen, einem ›Sinn‹, der in einer Rolle oder einem Schicksal der Stadt liegen kann, wie auch zu einem Spezifischen, Charakteristischen, das diese Stadt gegenüber anderen Städten auszeichnet. Jede Be-Schreibung einer Stadt nimmt dabei auf andere Texte implizit oder explizit Bezug, und es wäre

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müßig, die Anfänge dieser Verweise suchen zu wollen. Im Beginn der wohl im frühen 12. Jahrhundert verfassten Nestorchronik (Povest’ vremennych let) wird noch vor der Jahreszählung vom vorbeiziehenden Apostel Andreas – dem »Bruder des Petrus«, der geistigen Gründerfigur des christlichen Roms – berichtet, der auf den Anhöhen am Dnepr ein Kreuz aufstellt und eine große Stadt mit vielen Kirchen prophezeit (Nestorchronik 1931, 4). Fürst Oleg dann erklärt in der Chronik Kiev zur »Mutter aller Städte der Rus’«  ; er war der Stellvertreter des verstorbenen Rjurik, des Gründungsvaters der Rus’, der Kiev zum Zentrum des ersten Fürstentums der Rus’ machte (ebd., 13). Dieser vielschichtigen Legitimations- und Gründungslegende geht eine reiche Kulturgeschichte von Erzählungen über Stadtgründungen, über Legitimation und Sinn von Städten voraus, so wie spätere Städte und Stadttexte auf diese Legende Bezug nehmen müssen – allen voran Moskau, als es sich nachmongolisch zum neuen Zentrum der Rus’ erklärt. Schon die Kiev-Legende setzt an bei einem individuellen Bezug – hier sind es die Landschaft, der Dnepr, die als Zeichen des unverwechselbar wahren Ortes fungierten. Dass die gelesene, erst recht die erfahrene Stadt mit der geschriebenen und der imaginierten kaum je ganz zusammenfallen werden, bildet einen Spannungsbogen in allen Stadttexten bis heute. Die Tradition symbolisierender Stadttexte und -lektüren ist alt. Aus den Gründungsmythologien setzt sie sich etwa fort in die mittelalterliche Hermeneutik eines mehrfachen Schriftsinns, in welcher der exemplarische Sinn der Stadt Jerusalem weit über das Sichtbare hinausreicht und doch sichtbar wird. Lange dominieren die bildlichen Stadtdarstellungen in Holz-, dann Kupferstichen und Lithographien, und diese Stadtbilder sind meist Reisenden von außen zu verdanken. Jedem Lesemodus in einer neuzeitlichen oder gar modernen Stadterfahrung dann gehen aber im weitesten Sinne literarische Stadttexte voraus, die es v. a. seit dem früheren 19. Jahrhundert und gesteigert seit Victor Hugos Notre Dame de Paris gibt  ; sie ragen aus der zunehmenden Flut von Berichten, Dokumenten oder Erinnerungen heraus. Literarische Texte prägen in gewissen Fällen, zu denen neben Paris (s. Stierle 1993) oder London (s. Robinson 2004) auch Moskau gehört, ganz entscheidend die Bilder und damit in gewisser Weise auch die Erfahrung dieser Städte. Walter Benjamins Flaneur, der »Priester des genius loci« (Benjamin III 1991, 196),1 den die Bilder der Stadt ebenso in eine überindividuelle Vergangenheit wie in die moderne Gegenwart führen,2 ist nicht nur ein Verhaltens- und Wahrnehmungsmodell, sondern ebenso ein literarisches Verfahren – der »Rausch« des Flanierens nährt sich für Benjamin aus dem »bloßen Wissen« ebenso wie aus dem Sinnlichen, und es ist verbunden mit einer »fast unübersehbaren Litera-

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tur« (Benjamin V.1 1991, 525). Ohne die ›Literarisierung‹ der Städte, die sich im 20. Jahrhundert in den Film fortsetzt, wäre auch das ›Lesen‹ von Städten nie zum Thema geworden. Moskaus Bedeutungsgewebe allerdings, dies wird sich im folgenden zeigen, ist kaum eines von denen, die sich dem Flanieren erschließen würden, obwohl auch das ein Thema ist.

1. Petersburg als Stadt der Zeichen  : Der ›Petersburger Text‹

Moskau übernahm nach der Mongolenzeit in einem bewussten Akt der translatio imperii politisch wie symbolisch das Erbe Kievs, auch wenn es sich später als Erbin Roms und Konstantinopels zu definieren suchte. Aufgrund der angestrebten politischen Rolle als Zentrum der wieder geeinten russischen Fürstentümer, welche die Verdrängung der Konkurrenz, etwa Novgorods, notwendig machte, erfuhr die Stadt ihre ersten Symbolisierungen.3 Auch diese fußten auf Texten  – etwa hagiographischen –, doch entstand ein Stadttext im neuzeitlichen literarischen Sinn nicht über Moskau, sondern erst im 18. Jh. über Zar Peters Hauptstadt St. Petersburg. Dass man gar von einem Petersburger ›Mythos‹ spricht, geht auf den Autor Nikolaj Anciferov zurück, der in der Umbruchzeit um 1920 in einer Neubelebung der Vorstellung eines genius loci die »Seele Petersburgs« beschrieb. Anciferov versteht die Stadt als Organismus, in dem Gegenwart und Vergangenheit sich verbinden  ; vor allem Architektur und Literatur ergänzen sich dabei in ihrer Bedeutung für das organische Ganze der Stadt (Anziferow 2003). Im Gegensatz zu Benjamin sucht Anciferov das Wesen der Stadt idealistisch jenseits ihrer Materialität, und er schöpft dabei seine Deutungen vorwiegend aus der Literatur. Die Übertragung seines Anliegens in die Literatur- und Kulturwissenschaft vollzog der Semiotiker Vladimir Toporov, als er 1984 einen zu vielen Studien anregenden Aufsatz über »Petersburg und den Petersburger Text in der russischen Literatur« publizierte (Toporov 1984/1995/2003). Anciferov ging aus vom Peter-Denkmal des Ehernen Reiters als Kern des genius loci (Anziferow 2003, 63), Toporov nun benutzt Puškins Versgedicht Der Eherne Reiter (Mednyj vsadnik, 1833) als Ausgangspunkt einer literarischen Tradition, in welcher die Stadt Petersburg mit Bedeutungen überschrieben wurde, die untrennbar mit der Wahrnehmung der realen Stadt verschmolzen. Den dabei entstehenden Komplex nennt Toporov den ›Petersburger Text‹. Dessen erstaunliche Kohärenz beruht darauf, dass die einzelnen Texte intensiv auf sich beziehungsweise auf ihre Vorläufer Bezug nehmen und damit ein identifizierbares Gewebe bilden. Auf dieses Gewebe baut auch die kultur-

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historisch viel breiter angelegte Arbeit von Julie Buckler (2005) auf, in der sie die exklusive Literaturbezogenheit Todorovs aufzubrechen versucht. Für Toporov wuchsen das literarische und das reale Petersburg zu einem sinnhaften Komplex zusammen  ; gemäß einer späteren Erweiterung seines Textes kann sogar nur die Kenntnis des Petersburger Texts die Stadt selbst retten. Von Puškin führt Toporov die literarische Linie v. a. über Nikolaj Gogol’s Peters­burger Erzählungen und Fëdor Dostoevskij in die Moderne weiter  ; man kann diese Linie aber bereits in der Panegyrik des 18. Jahrhunderts beginnen lassen (Nicolosi 2002). Der ›Petersburger Text‹ fußt nicht zuletzt darauf, dass Petersburg wie kaum eine andere Stadt in vieler Hinsicht bereits als Zeichen gebaut war  : als gesteigerte europäische Architektur, als in Stein gebaute Ewige Stadt, als Zeichen der Unterwerfung der Natur, der militärischen Bedeutung als nördliche Hauptstadt, als radial zentriertes barockes Sinnbild vollkommener Ordnung  – oder, wie Peter der Große selbst meinte, als »Paradies« oder »Neues Jerusalem«.4 Die russische Literatur thematisiert an vorzugsweise Petersburger Stadtbildern das Schicksal von ganz Russland, das Verhältnis von Individuum und Ordnung, von Natur und gesellschaftlicher Organisation, die Folgen der Modernisierung und den Bezug zu Europa, die Stellung zwischen Ost und West. So verschmolz die Literatur mit den anderen zeichenhaften Schichten der Stadt, mit Anlage und Architektur, mit Lage und Funktion. Die Amalgamierung des Diskurses von Wesen und Schicksal des Landes mit dem Petersburger Stadtbild gipfelt in Andrej Belyjs Roman Petersburg (Peterburg, 1913–14 / 1922), und es verwundert nicht, das der spätere, aus zwei Teilen bestehende Roman »Moskau« (Moskva, 1926) an dessen Bedeutung bei weitem nicht herankommt.

2. Im Schatten Petersburgs  : Das literarische Moskau vor 1918

Die symbolischen Schichten Moskaus kann man nur aus dem Gegensatz zu Petersburg verstehen. Renate Lachmann sieht die Dichotomie der ›beiden Hauptstädte‹ in der Literatur des 19. Jahrhunderts mit Bezug auf Anciferov vor allem im Kriterium des Organischen  : »Moskau ist die gewachsene Stadt, die ihre heterogenen Schichtungen organisch verbindet, sie wird als weiblich (Moskva), atmend, lebendig verstanden […]. Petersburg dagegen ist männlich, kalt, ein Konstrukt, das Dostoevskij als den ›ausgedachtesten und abstraktesten Ort der Welt‹ und Belyj als ›Hirnspiel‹ bezeichnen wird« (Lachmann 2002, 244). Auf die grammatikalische Genusdifferenz des weiblichen ›Moskva‹ bzw.

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männlichen ›Peterburg‹, die mit großer Konsistenz eingesetzt wird, werden wir noch mehrmals stoßen. Schon Nikolaj Gogol’ meint in seinen Petersburger Notizen aus dem Jahr 1836  : »Moskau ist weiblichen, Petersburg männlichen Geschlechts. In Moskau gibt es nur Bräute, in Petersburg Bräutigame« (Gogol’ PSS VIII, 178  ; vgl. 1981, 108)  ; der Romantiker Lermontov beschreibt nicht anders als der Gegenwartsautor Vladimir Sorokin Moskau als imposante Frauen­figur. Die von Lachmann skizzierte Gegenüberstellung bildet sich seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts heraus und wird nicht zuletzt durch Aleksandr Gercen (Herzen) in die Diskussion eingeführt. Petersburg ist bei ihm – dies war auch ein Grundelement von Gogol’s Diabolisierung der Stadt – der Ort der Bürokratie, der Hocharistokratie bzw. des Dienstadels, des Geldes, des falschen Scheins und der Lüge, somit auch des Fehlens von Substanz und kultureller Verwurzelung. Moskau findet seine Rolle vorwiegend als Gegenpol dazu. Ganz im Gegensatz zum schon sehr alten westlichen Bild Moskaus als Zentrum des ›barbarischen‹ Moskowiterreiches oder ›Moskowiens‹ wird in dieser russischen Gegenüberstellung Moskau, die Stadt der alten Kirchen und der Holzbauten, zum Symbol des ›eigentlich Russischen‹, des Traditionsgebundenen und Unkompromittierten. Besonders slavophile Kreise erklären sie zur eigentlichen und einzig denkbaren Hauptstadt und zum ›Herz‹ Russlands.5 Die Auseinandersetzung um die Bedeutung der beiden russischen Hauptstädte wird gerade von Literaten heftig geführt, wenn auch oft eher essayistisch als literarisch. Sie prägt auch die literarischen Bilder Moskaus. Zu beobachten ist das etwa in Lev Tolstojs Krieg und Frieden. Tolstoj war weder ein ›Slavophiler‹, noch ein ›Westler‹ im engeren Sinne, aber ein Kritiker der modernen Großstadt und ihrer sozialen Probleme. Sein in den 1860er Jahren geschriebener Roman über die napoleonischen Kriege dreht sich nicht zuletzt um die Frage, wer Russland gerettet hat, und darum, wer Russland eigentlich repräsentiert. Dies wird im Roman topographiert, indem es – neben dem Feld und dem brennenden Moskau – drei soziale Raumtypen gibt  : den Petersburger Salon, bei Tolstoj Inbegriff der Selbstsucht, des Standesdünkels und der Intrige, die positiv besetzten, naturnahen Landgüter – insbesondere dasjenige der Moskauer Adligenfamilie Rostov – und schließlich das Moskauer Adelsmilieu, das wir wiederum über die Rostovs kennenlernen und das mit der Moskauer Ständeversammlung6 einen Grundstein zur Einigung des Landes und zum russischen Sieg liefert. Nur Moskau kann hier, im Widerstand gegen das tendenziell ›ausländische‹ Petersburg, der Ort der Selbstfindung Russlands sein.

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Abb. 2. Zamoskvoreč’e (d. h. die »Gegend hinter der Moskva«), 1801. Zeichnung des Gouvernementsarchitekten Kalaškin.

Moskaus kulturelle Stadtsemantik blieb lange weniger differenziert als diejenige Petersburgs, obwohl sich auch in Moskau bald ein literarischer Kristallisationsprozess von Symboliken abzeichnet. Während aber die modernen Stadtthemen von Industrialisierung, Bevölkerungswachstum oder Wohnungs­not trotz einer vergleichbaren Stadtentwicklung vor allem in Petersburg Stadtbilder hervorbrachten und dabei – man denke nur an die Romane Dosto­evskijs – auch einzelne Viertel, Winkel, Wohnungen oder Plätze profilierten,7 war das Bild Moskaus stark an einzelne Zeichen wie die Vielzahl der Kirchen oder den Kreml’ als symbolisches Zentrum gebunden. Im letzten großen Portrait vor dem Brand von 1812, im »Spaziergang durch Moskau« (Progulka po Moskve) des Dichters Konstantin Batjuškov, wird zuerst der Kreml’ präsentiert, dann geht der »Spaziergang« durch verschiedene Straßen, und es werden feilgebotene Handelswaren ebenso thematisiert wie die zurückgebliebene Buchkultur oder der Gegensatz von Arm und Reich. Der Ton ist patriotisch, denn dem Auge bietet sich ein Bild, würdig der größten Hauptstadt der Welt, vom größten Volk der Welt am allerschönsten Ort geschaffen. Wer im Kreml steht und die riesigen Türme, die alten Klöster […] betrachtet, wer nicht stolz ist auf sein Vaterland, […] den hat die Natur in bemitleidenswerter Weise benachteiligt  ; der soll nach Deutschland fahren, dort in einer Kleinstadt leben und sterben, im Schatten des Gemeindekirchtums unter friedlichen Deutschen […]. (Zit. nach Press-Werth 1980, 152)8

Im Vergleich zu diesem eher horizontalen, wenig hierarchisierenden Portrait steigert sich später der Akzent auf die Symbolkraft Moskaus und auf gewisse

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Orte, unter denen der Kreml’ eine besondere Rolle einnimmt. Der Gegensatz zu Petersburg wirft auf Moskau immer ein Licht des Nicht-Urbanen, Traditionellen, Menschlichen und Gemeinschaftlichen  ; gleichzeitig präsentieren historische Erzählungen, Romane und Dramen Moskau als das alte, vorpetrinische Machtzentrum eines einigen Russland, wobei die entsprechenden Orte der Stadt profiliert werden. Bereits der erste russische historische Roman im Geiste Walter Scotts dreht sich um Moskau. Er erzählt die Befreiung von den Polen 1612 (Michail Zagoskin, Jurij Miloslavskij oder die Russen im Jahr 1612, 1829)  ; auf den Autor komme ich noch zu sprechen. Eine besondere Bedeutung erhält die Stadt in Darstellungen von Ivan IV., dem ›Schrecklichen‹, die immer mit der Frage der zentralisierten Macht befasst sind.9 Und bereits in Aleksandr Puškins 1825 verfasstem Drama »Boris Godunov«, das in der Zeit zwischen dem Tod Ivans IV. und den Ereignissen um 1612 und dabei teilweise in den Kreml’gemächern spielt, sagt Kurbskij zum falschen Dmitrij  : »Da liegt die Rus’  : die deine ist’s, Zarewitsch. / Die Herzen deiner Russen warten schon  ; / Dein sind der Kreml’, die Hauptstadt und die Herrschaft.«10 So prägt das Wissen um die symbolische Funktion des Gesamten die Wahrnehmung der realen Stadt und ihrer Elemente, und die einzelnen Orte stehen durchwegs in einem synekdochischen Licht der pars pro toto. Diese semiotische Grundtendenz der Moskaubilder wird sich, wie noch zu zeigen sein wird, auch unter ganz anderen Verhältnissen nie ganz verlieren, ja sie kommt mit der neu-alten Rolle der Stadt nach der Revolution wieder voll zum Tragen.

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3. Die literarische Entdeckung Moskaus nach der russischen Revolution

Die große Zeit Moskaus als Zentrum und Objekt einer literarischen Textkultur ist das zwanzigste Jahrhundert, genauer die Zeit nach 1918. Noch die urbanistischen Stadtbilder aus dem Umfeld des russischen Futurismus vor dem Ersten Weltkrieg entstehen vorwiegend in Petersburg bzw. Petrograd, auch bei Vladimir Majakovskij, der eigentlich eher ein Moskauer als ein Petersburger war. In dieser Zeit vollzieht sich die Neuerfindung Petersburgs, damit aber auch der modernen russischen Stadt an sich  : der Künstlerkreis »Mir iskusstva« (auch »Le Monde de l’Art«) um Alexandre Benois verleiht Petersburg, das jahrzehntelang als düsterer, menschenfeindlicher Moloch gezeigt wurde, in bewusster Abhebung von dieser Tradition etwas Poetisches, Intimes. Moskau allerdings sehen Benois und andere intellektuell wie künstlerisch als wesentlich provinzieller an, wenn nicht sogar als »großes Dorf« (Benua 2000, 341). Zwar hatte sich die Realität der beiden Städte in ihrer rasenden Modernisierung auch in Bezug auf Kunst und Architektur um die Jahrhundertwende weitgehend angenähert,11 doch behielt Moskau seine ›ländlichen‹ Spuren bis weit ins 20. Jahrhundert. Mit der Revolution wird Moskau wieder zur Hauptstadt, damit bald auch zum Zentrum eines beinahe in alten Dimensionen restituierten Imperiums. Moskau, die auch früher schon mehrmals neu aufgebaute Stadt, wird nun vor allem zur Symbolstadt einer neuen, nie dagewesenen Gesellschaftsordnung, zum Modell für eine künftige (Welt‑)Gesellschaft. Diese Rolle beinhaltet eine weitgehende Missachtung des Bestehenden und Gewachsenen, und sie bestimmt zunehmend Moskaus Aussehen. Die großartigen Umbaupläne gehen in das neue Stadtbild ein.12 Damit kehrt sich das rückwärtsgewandte Moskaubild der letzten beiden Jahrhunderte gewissermaßen um, und die frühere Vergangenheit rückt wieder näher  : Anstatt für das natürlich Gewachsene und ursprünglich Russische, für ein nobles Abseitsstehen in der Moderne, steht Moskau nun für das projizierte Künftige, das die Moderne geradezu überholende Neue, und vor allem  : für das Zentrum aller Zentren. Es wird – neben der Photographie und dann besonders dem Film13 – nicht zuletzt die Literatur sein, die das Bild der Stadt Moskau im 20. Jahrhundert neu erschafft. Moskau musste als literarisches Sujet, ja als Beschreibungsobjekt neu entdeckt werden. Dies geschieht durch einen Zugereisten, nämlich durch Vladimir Giljarovskij (1855–1935) aus Vologda, der in jungen Jahren mit verschiedensten Gelegenheitsarbeiten durch das ganze Land zog und sich dann in Moskau als Journalist und Autor von Skizzen einen Namen machte. Mit seinem Buch Moskau und die Moskauer14 entwickelt der literarisch talentierte

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Feuilletonist mit so realistischem wie liebevollem Blick das Moskauer Stadtbild in reportageähnlichen Geschichten gleichsam von unten und in ganz unterschiedlichen Facetten  ; die Stadt als Ganzes erscheint hinter dieser Zusammenstellung als großer, vielfältiger Lebensraum. Im Gegensatz zur ursprünglichen Garnisonsstadt Petersburg mit ihren klaren radialen Prospekten bietet das ringförmig gewachsene Moskau immer schon ein Bild der Unübersichtlichkeit. Giljarovskijs Beschreibungen fokussieren auf das Lokale, aber immer mit Blick auf die Summe des Stadtcharakters  ; seine besondere Vorliebe galt der ›Unterwelt‹, den Orten der untersten Schichten weitab von offiziellen Selbstbildern der Gesellschaft. Giljarovskijs Erfolg übertraf noch den seines großen Vorbildes Michail Zagoskin (1789–1852), dessen Buch aus den Jahren 1842 bis 1850 schon »Moskau und die Moskauer« hieß. Der patriotisch gesinnte Zagoskin war ein Initiator des historischen Romans und damit der romantischen Prosa in Russland ebenso wie ein Komödienautor. Als er seine Moskaubilder verfasste, wurde gerade die betont nichtfiktionale ›Skizze‹ nach französischem Vorbild zum zen­ tralen postromantischen Genre  ; die betonte Horizontalität seines Skizzenpano­ ramas war Teil der Überwindung romantischer Vertikalität. Schon Zagoskin beschreibt verschiedenste Orte, Typen und Aspekte des für Moskau als typisch angesehenen sozialen Lebens weit über den Adel hinaus  ; bereits bei ihm fällt die Betonung der starina, der alten Zeiten, auf, mithilfe derer ein impliziter Gegensatz zu Petersburg aufgebaut wird. Giljarovskijs Sammlung dann entstand erst nach der Revolution und erschien 1926, doch beschreibt er darin das Leben vor der Revolution. Ein sozialkritischer Akzent gegenüber den vorrevolutionären Zeiten gehörte zur Konvention, doch durchdringt das Buch nicht nur die genaue Beschreibung von einzelnen Vierteln, Häusern, Familien oder Berufszweigen, sondern auch ein unüberhörbarer nostalgischer Ton. Niemals zuvor, sieht man von Zagoskin ab, war Moskau mit solch feinem Lokalpatriotismus, aber auch mit solcher Detailtreue beschrieben worden  ; die Moskauer danken es dem Autor bis heute mit einem gewissen Kultstatus, der sich nun auch in einem eigenen kleinen Museum in seinem langjährigen Wohnhaus niederschlagen soll. Giljarovskijs Portraits prägten nachhaltig den Fundus der Bilder zum ›alten‹ Moskau, gehe es nun um das Leben der Moskauer Studenten, Bettler, Kaufleute oder Bäcker, um gewisse Orte oder um Raumtypen wie Banjas, Kneipen und Gefängnisse  ; das Buch gilt heute noch als stadthistorische Quelle. Zu Anfang seines Buches macht Giljarovskij deutlich, dass es der Anreisende ist, der Fremde, der die Stadt am besten sieht, da keine Gewohnheit ihn blind

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für die Details macht. Es verblüfft, wie wenig das Moskau, das er beim ersten Besuch antraf, ein Ort der Moderne war  : Wir kamen an Bahnhöfen vorüber, krochen über einen Schneehaufen und schritten wieder durch schmale Gassen an Zäunen entlang, die von Holzhäuschen und festverschlossenen Toren unterbrochen wurden. Durch die kleinen Fenster schimmerte hier und da das gelbrote Licht eines Öllämpchens, das vor einem Heiligenbild brannte … Dunkelheit, Stille – alles lag in tiefem Schlaf. […] Plötzlich krähte ein Hahn. […] Da antworteten ihm, zuerst von einem und danach auch von den anderen Nachbarhöfen, die aufgewachten Hähne. Die über das allzu frühe Gekräh erstaunten Hunde begannen erst erschrocken, dann aber erbost zu kläffen. Die Gegend erwachte. Hier und da leuchteten Fenster auf, wurden auf den Höfen Riegel zurückgeschoben, Türen zugeschlagen, und man hörte verwunderte Stimmen  : »Wie seltsam  ! Um zwei Uhr nachts krähen die Hähne  !« […] So empfing mich Moskau zum erstenmal im Oktober des Jahres 1873. (Giljarowski 1988, 12f.)

4. Moskau als Vogelschau-Panorama  : Perspektiven auf die (weibliche) Symbolstadt

Zur dominierenden literarischen Perspektive auf die Stadt wird allerdings im Zeitalter einer neuen politischen Moskauzentrierung  – und überhaupt der Zentrierung des sowjetischen Systems  – nicht die ›horizontale‹ Methode Zagoskins und Giljarovskijs. Zunehmend dominiert ein hierarchisierter Blick auf das Ganze und auf die dafür repräsentativen Stellen. Moskau ist zuallererst ein großes, kompaktes Zeichen, damit ein ›Ort‹, und erst in zweiter Linie ein vielgestaltiger, dynamischer ›Raum‹. Für Texte wie für viele Filme gilt noch lange nach der Stalinzeit, dass sie nie die aus dieser Zeit stammenden symbolischen Zentren aus den Augen verlieren15 – sogar ihre Missachtung wird selbst zum Zeichen. Nicht zur häufigsten, aber zur repräsentativsten Ansicht Moskaus wird, was schon im 19. Jahrhundert angelegt ist, die Vogelperspektive.16 Der Panoramablick gehörte immer schon zum basalen, ja klassischen Repertoire von Stadtbeschreibungen  : »Die Ekphrasis von oben lässt die Stadt als gegliederten regelmäßigen oder unregelmäßigen Körper in liegender, ruhender Stellung vor den Blick treten, als teils gewachsene, teils geplante Figur« (Lachmann 2002, 243)  ; Renate Lachmann verweist dabei auf Hugo oder Zola und in Bezug auf Mos-

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Abb. 3. Vasilij Polenov »Kleiner Hof in Moskau«, 1878. Der Hof liegt ganz in der Nähe des heutigen Arbat.

kau auf Tolstoj. In Moskau erhält dieser Panoramablick allerdings zunehmend eine totalisierende Konnotation. Einer der ersten Dichter, die ein Moskau-Panorama zeichneten, war Michail Lermontov (1814–1841), ein etwas verspäteter, aber umso begeisterter romantischer Geist, der 1834, zwanzig Jahre alt und noch Kavallerieschüler, in einem Aufsatz zur rhetorischen Übung das »Panorama Moskaus« als Thema wählte. Der junge Lermontov organisiert dieses Panorama über den Blick vom Ivan Velikij-Turm im Kreml’, der damals höchsten Erhebung der Stadt. Das Bild selbst dominieren, ganz dem damaligen Moskaubild entsprechend, Kirchen und Klöster. Doch das Wesentliche seines Portraits liegt darin, dass er Moskau eine Seele zuschreibt, eine Stimme »wie der Ozean« – »stark, klangvoll tönend, heilig« . Die »harmonische Hymne« ihrer zahlreichen Kirchenglocken wird mit einer »wunderbaren, phantastischen Ouvertüre von Beethoven« verglichen, die Stadt mit einem Orchester, das eine »Musik nicht von dieser Welt« hervorbringe (Lermontov 1979–1981, 4  : 335).17 Doch neben den herausragenden

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Gebäuden machen sich in dieser Stadt der Türme sozial definierte Orte bemerkbar, insbesondere die »schmutzige Menge« und die fliegenden Händler auf dem Roten Platz (ebd., 337). Das musikähnliche Moskau – ich erinnere an die feminine Form des Wortes Mosvka – ist in seiner Gestalt weiblich, eine »Schönheit, die erst am Abend ihre prächtigste Toilette anlegt« (338). In der Verserzählung Saška wird Lermontov das lyrische Ich sagen lassen, es liebe diese Stadt »wie ein Sohn, ein Russe – stark, flammend und zärtlich« – während man als junger Moskauer ein »Feind Petersburgs und des Nevanebels« sei (ebd., 2  : 277). Spätere literarische Panoramablicke auf Moskau sind allerdings häufig mit äußerer Aggression und Eroberung, zumindest mit Bedrohung assoziiert. Dies lässt sich zurückverfolgen bis zu Lev Tolstoj, der wiederum in Krieg und Frieden – auf diese berühmte Passage spielt Renate Lachmann an – Napoleon vor dem Einzug in die Stadt von der Poklonnaja gora, in Erwartung der Übergabe der Stadtschlüssel, auf Moskau blicken lässt  ; damals lag diese höchste Erhebung Moskaus noch außerhalb der Stadt. Moskau liegt Napoleon zu Füßen, er fühlt sich als Eroberer und weiß nicht, dass er es niemals definitiv besiegen wird, dass die Stadt sich eher zerstört, als sich ihm zu ergeben. Beim Anblick dieser seltsamen Stadt mit ihrer noch nie gesehenen, sonderbaren Architektur empfand Napoleon jene ein wenig neidische und unruhige Neugier, die man wohl beim Anblick fremder, einem unbekannter Lebensformen empfindet. Offenbar lebte diese Stadt mit allen Kräften ihr eigenes Leben. Vom Poklonnaja-Berge aus sah Napoleon an jenen unbestimmbaren Anzeichen, die schon von ferne mit Sicherheit erkennen lassen, ob man einen lebenden oder toten Körper vor sich hat, das Leben der Stadt zittern und schwingen und spürte den Atem dieses großen und schönen Körpers. Jeder russische Mensch, der Moskau sieht, fühlt, dass er seine Mutter vor sich hat  ; jeder Ausländer, der Moskau sieht und von der Mutterbedeutung dieser Stadt nichts weiß, muss doch das Weibliche ihres Charakters empfinden, und das empfand auch Napoleon. »Cette ville asiatique aux innombrables Eglises, Moscou la sainte  ! La voilà donc enfin, cette fameuse ville  ! Il était temps  ! […] Une ville occupée par l’ennemi ressemble à une fille qui a perdu son honneur, dachte er jetzt. […] Und unter diesem Blickwinkel betrachtete er jetzt die vor ihm liegende, nie zuvor erblickte östliche Schöne. […] Im klaren Vormittagslicht schaute er bald auf die Stadt, bald auf den Plan, orientierte sich über einzelne Punkte, und in der sicheren Gewissheit des Besitzes beschlich ihn ein erregendes und beängstigendes Gefühl. (Tolstoj 1967, 2  : 357f.)

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Immer wieder werden sich Machtphantasien über diese Stadt legen, und immer wieder werden diese insbesondere in der Literatur ihren Ausdruck finden. Selten wird das so direkt an Moskaus feminine Semantik gebunden, die noch Napoleons fremden Blick durchdringt, obwohl er die mütterliche Komponente übersieht (und die Tolstoj nachträglich, offenbar dem Druck einer Konvention gehorchend, als Erzählerkommentar einfügte).18 Napoleons Allmachts­ phantasien finden eine innere Verlängerung in den Projekten zur fast völAbb. 4. Vasilij Verešcˇagin, »Vor Moskau. In Erwartung der ligen Rekonstruktion der Stadt nach Deputation der Bojaren« (1891–92). der Revolution und in der Stalinzeit  : Moskau verändert sich – im Gegensatz zu Petersburg – immer wieder aufgrund neuer Machtkonstellationen, so wie die früher aus Holz gebaute Stadt über Jahrhunderte immer wieder durch Brände zerstört wurde. Moskau wird zur Stadt, die insbesondere in der Sicht ihrer Herrscher eine zweite Realität als Projektionsfläche, als Objekt grandioser, symbolisch determinierter Stadtpläne und Zukunftsentwürfe gewinnt. Dass diese radikalen Pläne  – im Gegensatz etwa zur Zerstörung der meisten Kirchen – kaum je in dieser Form umgesetzt wurden, wurde selbst zum Teil der ›Natur‹ Moskaus, der Stadt der unrealisierten Großprojekte. Dies ändert aber nichts daran, dass Moskau im Gegensatz zu Petersburg bei jeder größeren politischen Wende – wie noch einmal nach 1991 – einen massiven Teil seiner Substanz verliert und massive Umgestaltungen erfährt.19 Die Parallelen zwischen Tolstojs Napoleonszene und Lermontovs Panorama sind erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Tolstoj Lermontovs Text kaum gekannt haben konnte  – er wurde erst 1891 veröffentlicht. Schon Lermontov erwähnt Napoleon auf der Poklonnaja gora, auch wenn er an dieser Stelle nicht die Weiblichkeit der Stadt, sondern den mächtigen Kreml’ betont, der Napoleon Unheil verheiße (Lermontov 1979–1981, 4  : 338)  ; und auch er unterstreicht »die eigene Seele, das eigene Leben« dieser Stadt (ebd., 335). So sind beide Passagen Ausschnitte aus einem viel weiteren Gewebe von Moskaubildern. In der Moderne dann war Lermontovs Jugendwerk allbekannt, und

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die Referenzen auf ihn sind fast so offensichtlich wie die auf Tolstojs Napoleon-Szene. Mit erstaunlicher Konsequenz suchen Beschreibungen Moskaus den bei beiden angelegten erhöhten Punkt, um die Stadt von oben in den totalisierenden Blick zu nehmen. Der aus Kiev stammende Michail Bulgakov entwickelt sein Stadtportrait eines Zugereisten in vier »Panoramen«, vier Momentaufnahmen zwischen September 1921, den »nackten Zeiten« von Kälte und Hunger, bis zum Frühling 1923, als sich die Stadt mit Lichtern füllt und Zeichen eines modernisierten Lebens erkennbar werden. Im zweiten und im dritten Panorama sucht der Portraitist die erhöhte Perspektive  : Auf den allerhöchsten Punkt im Zentrum Moskaus stieg ich an einem grauen Apriltag. Es war der höchste Punkt – die obere Plattform auf dem Flachdach des ehemaligen Nierensee-Hauses, heute das Haus der Räte in der Gnesdnikowskij-Gasse. Moskau lag unten, sichtbar bis zu seinen äußersten Grenzen. Rauch oder Nebel hatte sich über die Stadt gelegt, und doch schauten unzählige Dächer, Fabrikschornsteine und die Zwiebeltürme der vierzig mal vierzig Kirchen durch die Rauchwölkchen. Der Aprilwind wehte über das Dach […]. Und es schien, als blase er von unten, als steige er warm auf aus Moskaus Leib. Noch knurrte er nicht wie der Leib der großen, lebendigen Städte, bedrohlich und freudig, doch von unten, durch den dünnen Schleier des Nebels, stieg ein Laut auf. Er war undeutlich, schwach, aber allumfassend. […] »Moskau scheint zu klingen«, sagte ich unsicher. (Bulgakow 1994, 62f.)

Wiederum führt der Blick über die Einzelheiten der Stadt zu ihrer Gesamtheit, die sich wiederum als Ton zu erkennen gibt. Als der Begleiter einwirft, das sei nur die NĖP, die ›Neue Ökonomische Politik‹, erwidert der Erzähler energisch, das sei »das Leben selbst« (63). Den Blick von oben auf die Stadt gibt es bis in die jüngste Zeit, doch kann sich die in ihm implizierte Totalität und Verwundbarkeit im späten 20. Jahrhundert auch ganz anders zeigen. Im 1997 in einer Zeitschrift publizierten Roman »Nach uns die Sintflut« (Posle nas potop, 1997/2010  ; dt. erschienen als Vögel über Moskau) des in Berlin lebenden Boris Chazanov erleben verschiedene Figuren den Untergang des sowjetischen Imperiums. Der »Prolog« beginnt folgendermaßen  : In den ersten Septembertagen des für uns alle denkwürdigen Jahres geschah etwas Ungewöhnliches. […] Einige große Straßen längs der West-Ost-Achse unserer Stadt waren plötzlich zusammen mit den Nebenstraßen und Durchgangshöfen von einer

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klebrigen, grünlichen Masse verschmutzt, die einen ekelerregenden Geruch verströmte  ; sie war, wie die Analyse ergab, tierischen Ursprungs und enthielt Salpeter. Die anläßlich des Schulbeginns festlich gekleideten Buben konnten ihre Schule nicht erreichen, an verschiedenen Kreuzungen waren die Straßenbahnen steckengeblieben, manche sogar entgleist. […] Die Hausverwaltungen meldeten, daß man auf den Dächern große, graugrüne Fladen entdeckt habe  ; die Fassaden der öffentlichen Gebäude waren verunstaltet, die teigartige Masse hing von den Simsen herab und fiel klatschend auf die Gehsteige  ; die Führerdenkmäler erfuhren eine unerhörte Schändung. Über der ganzen Stadt waberten Schwaden üblen Gestanks. (Chasanow 1998, 11)

Der Gestank ersetzt hier den Klang. Es handelt sich bei der Masse um den Kot fremdartiger Vögel, derer die Stadtverwaltung nicht Herr wird. Ihre mythoide Zeichenhaftigkeit wird spätestens da deutlich, wo die roten Sterne auf den Kreml’türmen mit Kot beladen einbrechen. Angst, Nervosität, Streit und Fluchtbewegungen verbreiten sich, und die Bürger verlieren ihren Respekt vor den Behörden. Was von oben auf diese Stadt kommt, lässt nichts Gutes ahnen, und es erhält eine apokalyptische Note. Vielleicht hat es eine tiefere symbolgeschichtliche Bedeutung, wenn bis heute in Moskau zu den Paraden anlässlich der großen politischen Feiertage Regenwolken in sicherer Distanz künstlich entladen werden, um den Himmel über der Stadt freizuhalten. Wenn Moskau seine Macht zeigt, soll nichts von oben auf diese Stadt kommen, denn was von oben kommt, kann nicht kontrolliert werden  : und nichts könnte ihrer Bestimmung mehr widersprechen als das, was sich ihrer Kontrolle entzieht.

5. Die Entdeckung der Nischen

Paradoxerweise sind es dann aber doch die Räume, in denen Totalität und Zentralisierung ihre Grenzen finden, und die die Moskauliteratur des 20. Jahrhunderts am meisten faszinierten. Das literarische Moskau wird zur Stadt nicht der Peripherien, sondern der Nischen im Zentrum selbst. Die politisch-symbolische Überterminierung Moskaus bringt besonders ab den späten 1950er Jahren in Literatur und Film eine Gegentendenz hervor, die ein individuelles, menschliches, lokales, von der Macht scheinbar unberührtes Moskau profiliert. Dabei werden gewisse Orte aus dem Ganzen herausgelöst und antithetisch in ihrem lebensnahen, ja intimen Charakter für die Bewohner dargestellt. Besonders deutlich wird das im Falle des Arbat, der alten Straße im Zentrum, die Elemente ganz verschiedener Bauepochen verbindet  ; auffallend sind etwa die Jugendstil-­

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Wohnhäuser und kulturelle Institutionen wie das Vachtangov-Theater (ein erstes Theater gab es hier schon ab 1806). Seit dem frühen 20. Jahrhundert galt der Arbat, nahe an der alten Universität gelegen, als Refugium der Moskauer Intelligenz. Seit 1972 gab es Pläne, den sog. Alten Arbat zur Fußgängerzone zu machen  ; umgesetzt wurde dies aber erst Mitte der 80er Jahre. Heute ist er Touristen- und Souvenirzone ebenso wie Flaniermeile für die Einheimischen.20 Der Ruhm des Arbat ist eng mit dem Dichter und Barden Bulat Okudžava verbunden, der dort aufgewachsen war. In seinem »Kleinen Lied über den Arbat« (Pesenka ob Arbate, 1959), das berühmteste einer ganzen Reihe von Arbat-Texten Okudžavas, wird der Arbat als Straße der Fußgänger und gewöhnlichen Menschen beschrieben. Der zentrale Gestus ist ein betont persönlicher Bezug  ; der variierte Refrain benennt den Arbat apostrophisch als »mein Bekenntnis«, »meine Religion«, »mein Vaterland«.21 Damit wird ›Heimat‹ demonstrativ nicht mit dem großen, symbolischen Moskau, stellvertretend für das ganze Land, assoziiert, sondern mit dem Überschaubaren, Eigenen und semantisch doch Offenen  : »nie kann man bis zu seinem Ende gehen« (ebd.). Heute steht auf dem Arbat eine auffallend unpathetische, ›menschliche‹ Okudžava-Statue. Im enormen Erfolg der Arbat-Lieder Okudžavas – eines handelt etwa von der Trolleybuslinie 39, die später umgeleitet wurde – kam die wachsende Nostalgie der spätsowjetischen Zeit gegenüber dem engeren Lebensraum und seiner Geschichte zum Ausdruck. Diese Texte signalisierten eine Abkehr von der herrschenden Ideologie der Modernisierung um jeden Preis  ; sie wandten sich gegen die Anonymisierung der Stadt und plädieren für den Respekt gegenüber gewachsenen Strukturen. Okudžavas Texte wurden zum Plädoyer für städtischen Bürgersinn, für lokale Verwurzelung und gegen die Undurchschaubarkeit der politischen Macht  : die kulturelle ›Nische‹ war ein Mikrokosmos jenseits des machterfüllten, von ›großer‹ Geschichte geprägten Moskau. Doch bleibt so auch der lokale Gegenmythos von der großen Moskausymbolik abhängig. Wie eng die beiden Seiten verflochten sein konnte, zeigt sich in einer der interessantesten Mikrokosmos-Beschreibungen, in Jurij Trifonovs Roman Das Haus an der Uferstraße (Dom na naberežnoj, 1976  ; dt. auch als Das Haus an der Moskwa). Trifonov (1925–1981), ein Autor an den Randzonen der zugelassenen Literatur, war Moskauer und ein eigentlicher Moskau-Autor  ;22 zu seinen bevorzugten Themen gehörten die Jugend und ihre Hoffnungen, aber auch die Schwierigkeiten des sowjetischen Alltags. Der Sohn eines Revolutionärs und hohen Funktionärs lebte in seiner Kindheit bis zur Verhaftung des Vaters, der in den Repressionen von 1938 erschossen wurde, selbst in dem legendären, 1927–31 gebauten Haus, das im Zentrum des Romans steht

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und ursprünglich »Haus der Regierung« (bzw. »Erstes Haus der Räte« u. a.) hieß, bis heute aber »das Haus am Ufer« genannt wird.23 Trifonovs Roman über Freundschaften und Beziehungen in einem Umfeld von Einschüchterung, Ungewissheit und Verrat ist aus einem Rahmen der frühen siebziger Jahre heraus erzählt und leistete einen mutigen Beitrag zur Aufarbeitung der Stalinzeit. Aus der Begegnung der zentralen Figur, des Literaturwissenschaftlers Vadim Glebov, mit seinem Schulkollegen Lev Šulepnikov werden zwei Zeit- und Erinnerungsschichten aufgerollt  : die späten dreißiger Jahre und die direkte Nachkriegszeit. In der verwickelten Geschichte werden Kindheitsbeziehungen durch die Erwachsenenwelt überschattet. Die Kindheit spielt in zwei Welten, in dem großen Funktionärshaus einerseits, den ganz bescheidenen Verhältnissen von Glebovs Familie andererseits. Die Wohnung, die durch ihre »gigantischen Ausmaße verblüffte« (Trifonow 2010, 28), und die Dinge Levs, von denen andere nicht einmal träumten, faszinieren die Mitschüler. Beides wirft auf die elterlichen Wohnverhältnisse ein anderes Licht  : Glebow gewöhnte sich auch an die elterliche Wohnung, als er nach seinen Besuchen im Großen Haus dorthin heimkehrte. Eine Zeitlang war ihm irgendwie trist zumute gewesen, wenn er, wie von der Seite, sein schiefes Häuslein mit dem rotbraunen Putz plötzlich wieder vor sich sah  ; wenn er die dunkle Treppe hinaufstieg, die man vorsichtig begehen mußte, denn an einigen Stellen fehlten Stufen  ; wenn er auf die Wohnungstür zutrat, die, wie eine alte geflickte Bettdecke, mit einer Vielzahl von Namenschildern, Zetteln und Klingeln bestückt war  ; wenn er in den vielschichtigen Petroleumgeruch der Wohnung eintauchte, wo stets irgendwas im Kessel kochte und immer irgend jemand Kohl zubereitete  ; wenn er seine Hände im ehemaligen Badezimmer wusch, wo es eng war, wegen der Bretter, die die Badewanne abdeckten, in der niemand mehr badete […]. (Ebd., 30f.)

In Trifonovs Roman wurden vielleicht zum ersten Mal latent kritisch die verschiedenen sozialen Räume im sowjetischen Sozialismus kontrastiv gegenübergestellt. Er zeigte aber auch, wie komplementär diese Räume aufeinander bezogen waren und den Stadtraum Moskau bildeten.

6. Vergangenheit und Zukunft zwischen Realität, Mythos und Phantasmagorie

Moskau, ehemals Metropole der gigantischen Umbaupläne, wird zunehmend zur Stadt, die niemals das ist, was sie zu sein scheint. Es ist zudem eine Stadt,

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die für alle Formen der Apokalypse geeignet erscheint – denn wenn Moskau untergeht, geht die Welt unter. Angelegt ist in ihr beides schon sehr lange. Für die Autoren des 19. Jahrhunderts war die Scheinhaftigkeit noch positiv besetzt  : Moskau war ein gebautes Sinnbild der Vergangenheit und einer russischen Wesenhaftigkeit sogar dann, wenn die Realität dem nicht genügen konnte. Für Tolstojs Napoleon ist Moskau eine täuschende Phantasie, auch wenn sie real brennen wird. Für die nachrevolutionären Politiker (und oft bis in die jüngste Zeit) ist sie ein Gebilde, das umzubauen oder erst noch zu schaffen ist. Vielleicht haben sich auch deshalb ›realistische‹ Moskaubilder kaum je etablieren können – sogar bei Trifonov ist die Moskauer Welt des Heranwachsenden ein täuschender Ort der dunklen, bedrohlichen Geheimnisse. Der Romananfang Chazanovs ist ein Hinweis darauf, wie sehr die Moskaubilder nach dem Wegfall des sozialistischen Realismus in den späten achtziger Jahren zu phantasmatischen Bildern geraten. Nicht selten kehrt in diesen Phantasmagorien die große Geschichte zurück. Das ›mythogenste‹ historische Motiv des 20. Jahuhunderts, die russische Revolution, schien noch eher in die Stadtsymbolik Petrograds / Leningrads zu gehören  ; dort wird sie auch ein Jahr später in Massenaufführungen theatralisch nachgespielt, wobei die Stadt die Bühne ist und die Bevölkerung, revolutionär überhöht, sich selbst spielt. In Moskau, gleichsam noch im Halbschatten der Ereignisse, entsteht ein Revolutionsbericht ganz anderer Art. Der Schriftsteller Ivan Bunin macht sich zum protokollierenden Beobachter der Geschehnisse  ; sein Tagebuch überarbeitet er später in der französischen Emigration. In seinen Verfluchten Tagen (Okajannye dni, als Feuilletons 1925–1927, zum Buch überarbeitet 1935) notiert Bunin detailversessen seine Beobachtungen, weil gerade die Einzelheiten ihm eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes anzuzeigen schienen. Hinter dem für ihn nicht grund-, aber sinnlosen Gewaltausbruch zeichnet sich der Untergang der russischen Kultur ab  : 20. Februar Fuhr zum Nikolajewski-Bahnhof. Sehr sonnig, sogar zu sehr, und leichter Frost. Vom Hügel hinter dem Mjasnizki-Tor graublaue Weite, ein Meer von Häusern, die goldenen Kuppeln der Zwiebeltürme. Ach, Moskau  ! Auf dem Platz vor dem Bahnhof taut es, der ganze Platz glänzt golden, spiegelnd. Mächtige Lastfuhrwerke, mit Kisten schwer bepackt. Hat wirklich all diese Stärke, dieser Überfluß ein Ende  ? Eine Vielzahl von Bauern, Soldaten in unterschiedlichen Mänteln, irgendwo zusammengesucht, und mit allerlei Waffen […]  … Jetzt sind sie die Herren über all dies, die Erben dieser kolossalen Hinterlassenschaft …

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[…] Um sechs gingen wir hinaus. Trafen M. Er sagt, er habe gerade gehört, der Kreml werde vermint, man wolle ihn beim Einmarsch der Deutschen in die Luft sprengen. In dem Moment blickte ich auf den wunderbaren grünen Himmel über dem Kreml, auf die goldene Patina seiner alten Kuppeln … Großfürsten, der Terem­ palast, die Kirche des Erlösers am Walde, die Erzengel-Kathedrale – wie lieb und vertraut ist das alles, und erst jetzt richtig empfunden und verstanden  ! Sprengen  ? Alles ist möglich. Heutzutage ist alles möglich. (Bunin 2005, 30–32)

Bunin war kein Moskauer, auch kein eigentlicher Städter, und ein Teil des Tagebuchs spielt in Odessa und damit im Bürgerkrieg im Süden. Dennoch steht Moskau im Zentrum, als Prisma und kulturelles Zentrum eines riesigen Landes, das sich in Revolution und Bürgerkrieg aufzulösen scheint. Moskau wird damit schon hier, wie wir es bei Chazanov gesehen haben, zur Metonymie für das Reich im Moment seines Untergangs. In den Jahren, als Bunin das Tagebuch veröffentlichte, arbeitete Michail Bulgakov (1891–1940) an seinem Roman Der Meister und Margarita (Master i Margarita). Er variiert das Zerstörungsmotiv in Moskau auf andere Weise, etwa indem er es verschiedentlich brennen lässt. Bulgakov schrieb an seinem Roman seit 1929 bis kurz vor seinem Tod  ; erscheinen konnte er in der Sowjetunion erstmals 1966, unzensiert sogar erst 1990. Der Meister und Margarita beginnt mit der berühmten Szene, als Voland, die als eleganter Fremder verkleidete Mephisto-Figur, sich in einem Moskauer Park, an den Patriarchenteichen, in ein Gespräch zwischen dem proletarischen Dichter Bezdomnyj (wörtl. derjenige »ohne Haus«) und seinem Redakteur Berlioz über die Existenz Gottes einmischt. Der ganze Roman ist in Moskau lokalisiert, in dem sich die neue Welt am deutlichsten manifestiert. Der Roman wird zur furiosen Abrechnung mit den neuen Verhältnissen, mit dem Anpassertum und Egoismus der neuen Moskauer, mit der Arroganz der kulturbürokratischen Elite und dem neuen Spießbürgertum, die von Voland düpiert werden. Das Motto des Romans zitiert Goethes Faust (»Nun gut, wer bist Du denn  ? […] Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«), doch übertrifft Voland die Goethesche Mephisto-Vorlage und wird zum wohl am wenigsten ›bösen‹ Teufel der europäischen Literatur. Eher noch entlarvt er eine Welt, die selbst teuflisch entstellt ist und aus der er – oder vielleicht eher der Autor – zum Schluss Margarita, den Meister und dessen Roman rettet. Bei aller historischen Unschärfe – der Roman amalgamiert Stadtbilder der späten 1920er und der 1930er Jahre – ist die Stadt topographisch präzise eingesetzt. Am Anfang irrt der verstörte Dichter nach dem Ableben des Literatur-

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funktionärs durch Moskau und kommt schließlich zum Haus der Literaten an der Sadovaja, im Roman Griboedov-Haus genannt. Vorbild für dieses Haus war das Gercen-Haus am Tverskoj bul’var 25, ein Zentrum für Literaturfunktionäre  ; gegen dieses richtet sich Bulgakovs besonderer Spott, da es mehr der privilegierten Versorgung der angepassten Autoren als dem Geist der Literatur dient. Der naive Dichter wiederum wird in eine Anstalt eingeliefert, wo er auf den ›Meister‹ – den Autor eines Pilatus-Romans oder auch dieses Romans selbst – trifft und später eine Wandlung erlebt. Das ›Irrenhaus‹ wird so zur Heterotopie eines scheinbar monolithischen Moskau, zu einer der komplementären, aber doch antinomischen Nischen in der ›totalen‹ Stadt. Bulgakov lässt mit offensichtlicher Genugtuung verschiedene Handlungsorte und auch das Haus Griboedov durch zwei Teufel aus Volands Gefolge in Flammen aufgehen  – wohl nirgendwo sonst sind Brände in Moskau derart lustvoll beschrieben. Als schließlich auch die Wohnung des Meisters in Flammen aufgeht, treffen sich die Vorlieben der Teufel (»Feuer, mit dem alles begann und mit dem wir alles zu beenden pflegen«, Bulgakow 2006, 461) mit der Stimmung des Meisters (»Verbrenne, verbrenne, früheres Leben«, ebd.) und dem symbolischen ›Wesen‹ Moskaus. Die Stadt kommt denn auch gleich darauf aus der Vogelperspektive des Abschiedsflugs in den Blick (ebd., 462). Der Schluss des Romans, in dem sich die Stränge durch die Hand Volands auflösen, findet zuerst auf der Terrasse eines erhöhten Hauses statt,24 von wo aus Voland und sein Helfer die Stadt »bis fast an ihre Grenzen überschauen« können (446)  ; auf Volands Bemerkung, dies sei doch eine höchst »interessante Stadt«, antwortet Azazello, ihm gefalle Rom besser, was Voland als Geschmacksfrage bezeichnet (ebd.). Damit ist immerhin die Vergleichsmarke gesetzt. Die letzte Szene auf den Sperlingsbergen (Vorob’evy gory) dann, die der Poklonnaja gora Napoleons analog sind und ebenfalls einen Blick über die Stadt bieten, erweitert noch den panoramischen Blick, der wiederum derjenige eines Eroberers ist. Das Verhältnis des Meisters selbst zu seiner Stadt ist ambig  : Sie ist der Ort seiner Leiden, sie ist gleichsam vom Bösen besetzt, und doch sieht er sie auf beinahe pathetische Weise nostalgisch. Das Feuerelement übernimmt hier in der Metaphorik des Glühens die frühere Metapher des Klangs  : Das Gewitter zog spurlos ab, ein bunter Regenbogen überspannte ganz Moskau und trank Wasser aus der Moskwa. […] »Nun denn«, sagte er [Voland, Th.G.] nur zum Meister, »nehmt Abschied von der Stadt. Für uns ist es Zeit.« Mit der Hand im schwarzen Stulpenhandschuh wies er über den Fluß, wo unzählige Sonnen Glas

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Abb. 5. Jurij Pimenov , »Das neue Moskau« (1937).

schmolzen und wo über den Sonnen Nebel, Qualm und Dunst der tagsüber durchglühten Stadt hing. Der Meister sprang aus dem Sattel, ließ die andern stehen und lief zum Bergrand. Der schwarze Umhang schleifte hinter ihm her. Der Meister blickte auf die Stadt. Im ersten Moment stahl sich beklemmende Traurigkeit zum Herzen, doch sehr bald traten an ihre Stelle süße Unruhe und unstete zigeunerhafte Erregung. »Für immer  ! Das muß man richtig erfassen«, flüsterte er und leckte sich die trockenen, rissigen Lippen. Er horchte in sich hinein und fing genau auf, was in seiner Seele vorging. Seine Erregung wandelte sich, so schien ihm, in ein Gefühl tiefen und blutigen Beleidigtseins. Aber auch dieses Gefühl war nicht von Dauer, es wurde abgelöst von selbstbewußtem Gleichmut und schließlich von einer Vorahnung beständiger Ruhe. (466)

Bereits im Flug löst sich das Panorama der Stadt auf  :

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[…] Als die schwarze Decke für einen Moment zur Seite wehte, drehte sich die dahinstürmende Margarita um und sah, daß hinter ihr nicht nur die bunten Türme mit dem darüber kreisenden Flugzeug verschwunden waren, sondern längst auch die Stadt, die in die Erde gesunken war und nur Nebel zurückgelassen hatte. (468f.)

Es ist wohl Bulgakov selbst, der hier bildlich Moskau, das längst zur Heimatstadt des Kievers geworden war, im Nebel zurücklässt. Voland hat seine Form der Eroberung erfolgreich abgeschlossen, und damit rückt die Perspektive von der Stadt ab, die ihrem Schicksal überlassen wird. Auch in Boris Pasternaks Roman Doktor Živago wird Moskau zum Ort und Symbol eines historischen Dramas.25 Pasternak (1890–1960) zeichnet anhand relativ weniger Figuren um den Arzt und Dichter Jurij Živago ein historisch breites Panorama von den Arbeiterunruhen und der ersten Revolution von 1905 bis ins Jahr 1929  ; der Epilog schlägt eine Brücke in die Entstehungszeit. Obwohl weite Teile des Romans nicht dort spielen, stellt Moskau den zentralen Schauplatz dar, auf den hin die Geschehnisse ausgerichtet sind. Die Stadt selbst erscheint in den Eisenbahnerstreiks im ersten Teil oder in der Beschreibung der kalten, schneereichen Hungerwinter des Bürgerkriegs nach der Revolution. Dann verlässt Živago sie für einige Jahre  ; in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik kehrt er in ein anderes Moskau zurück. Moskau erscheint in diesem Roman eher in geschlossenen sozialen Innenräumen und in einer individuell fokussierten Wahrnehmung  ; als Räume fungieren einzelne Häuser, Wohnräume und eher punktuell Straßenbilder.26 Übergreifende, objektivierte Stadtbeschreibungen gibt es kaum, und die klassischen Identitätsorte Moskaus fehlen auffallend. Es ist symptomatisch, wenn nach Živagos zeitweiliger Rückkehr sein innerer Ausruf »In Moskau  ! In Moskau, hallte es bei jedem Schritt in ihm wider« in die Betrachtung der leeren Wohnung und der Ratten darin übergeht (Pasternak 2006, 532). Die Stadt zeigt sich  – wie es besonders in Stadtbildern der russischen Literatur in den 1920er Jahre häufig gewesen war – in ihrer Zersplitterung, in der Auflösung des großen Raums. Retrospektiv allerdings wird die zentrale Rolle der Stadt Moskau für Živago und damit für den Roman explizit. Von Živagos hinterlassenen Papieren, die auch seine Gedichte enthalten – nur sie konnten in der Sowjetunion gedruckt werden – heißt es, dass sie »nur ein Thema  : die Stadt« kannten (668f.). Živago erinnert sich an ein Moskau, das für ihn Bild wie generierende Kraft der Moderne war und ihn zum Dichter werden ließ  :

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Als ich im Jahre zweiundzwanzig nach Moskau zurückkehrte, fand ich die Stadt leer und halb zerstört. So war sie aus den Prüfungen der ersten Revolutionsjahre hervorgegangen, so ist sie geblieben bis auf den heutigen Tag. Die Bevölkerung hat sich gelichtet, neue Häuser werden nicht gebaut, die alten nicht erneuert. Aber auch in diesem Zustand bleibt Moskau eine moderne Großstadt, eine einzigartige Inspiratorin für eine wahrhaft moderne neue Kunst. […] So wie sie die Bilderfolgen durch ihre Verszeilen jagen, jagt die Stadt am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts ihre Menschenmengen, Kutschen und Equipagen durch ihre geschäftigen Straßen an uns vorbei  ; im darauffolgenden Jahrhundert sind es dann die Waggons der städtischen Straßen- und Untergrundbahnen. […] Die lebendige, lebendig entstandene und dem heutigen Zeitgeist entsprechende Sprache ist die Sprache des Urbanismus. Ich wohne an einer belebten städtischen Kreuzung. Das von der Sonne geblendete sommerliche Moskau mit seinen Hitze verströmenden Asphalthöfen, den gleißenden Fenstern der oberen Stockwerke und den blühenden Gewitterwolken und Boulevards wirbelt um mich herum, verdreht mir den Kopf und will, daß ich zu seinem Ruhm anderen den Kopf verdrehe. Dazu hat es mich erzogen und mir die Gabe der Kunst verliehen. (ebd.)

In diesem Bild werden die Stadt und die urbanistische moderne Dichtung, aus der Pasternak kommt, zu parallelen, sich ergänzenden und bereichernden Phänomenen von Kultur, ja Bewusstsein. In späteren Generationen jedoch trennen sich die reale und die poetische Stadt zunehmend wieder, und in den Moskauer Phantasmagorien kollidiert eine ins Surreale gesteigerte Zeichenhaftigkeit mit der realen Stadt. Dies ist auch im Kontext einer (Macht)Politik zu sehen, für die Moskau stand und deren Realitätsgehalt schwer zu fassen war. An die Oberfläche tritt dies nur in der inoffiziellen Literatur – bereits Bulgakovs lustvolle Moskauer Zerstörungsphantasien, die auf ihre Weise eine der Stadt eigene Semantik ins Phantastische überhöhen, konnten ebensowenig publiziert werden wie Pasternaks ambige Revolutionsbilder. So konnte paradoxerweise der wohl wesentlichste Aspekt der literarischen Moskau-Mythologie nur jenseits der offiziellen Literatur Gestalt finden – im samizdat, der Verbreitung handgetippter Manuskripte, und, was nicht weniger untersagt war, im Ausland. 1970 publizierte ein anonymer Autor im Westen eine satirische Erzählung, die als Wirren aus neuester Zeit oder Die erstaunlichen Abenteuer des Wanja Tschmotanow (Smuta novejšego vremeni ili Udivitel’nye pochždenija Vani Čmotanova) erschien. Nikolaj Bokov, ansonsten ein nicht sehr bekannter Autor, emigrierte einige Jahre später nach Paris. Sein Buch überdreht die Zen-

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trierung Moskaus, ausgehend vom symbolischen Zentrum schlechthin, dem Lenin-Mausoleum, ins Surreale. Vanja, ein Dieb und Lebenskünstler, sieht Lenin zum Verwechseln ähnlich. Als er den Kopf der präparierten Lenin-Leiche stiehlt, bricht politische Nervosität aus. Lenin muss durch einen Schauspieler ersetzt werden, was zur allgemeinen Anarchie führt, als dieser einmal niesen muss. Ausgerechnet der Dieb selbst wird dann als neuer toter Lenin engagiert. Ausgangs- und Kernpunkt dieser Groteske, die sich äußerlich sehr realitätsnah gibt, ist der Befund, dass das Zentrum des gigantischen Symbolsystems, das die sowjetische Macht begründete, leer war – leer und beliebig  : Tschmotanow […] hatte sich auf ein dreifach gesichertes japanisches Patentschloß gefaßt gemacht. Statt dessen fand er ein ganz gewöhnliches Schloß wie an Büroschreibtischen. »Mehr war wohl nicht drin  !« lachte der Meisterdieb und öffnete das Schloß mit einer Stecknadel. Dann hob er den gläsernen Deckel des Sarkophags wie die Karosserie eines Wagens mit Schlaufen an und kroch hinein. Er kniete neben Iljitsch nieder und zog seine Säge hervor. Mit einer Behutsamkeit, als habe er es mit einer Mine zu tun, richtete er den Kopf des Toten von der mit der Zeit durchgelegenen Unterlage auf und – hatte ihn auch schon in der Hand. Er legte ihn neben sich, langte mit der fiebrigen Hast eines Goldgräbers in die Vertiefung, die bisher der Kopf ausgefüllt hatte, und stieß auf etwas Klumpig-Weiches. Was er hervorholte, war eine Handvoll ganz gewöhnlicher Korkkrümel. (Bokow 1983, 20)

Im symbolischen Zentrum des Zentrums des riesigen Reichs liegt ein gefälschter toter Körper, der zudem schlampig bewacht wird. Der Machtraum, für den Moskau steht, ist innerlich hohl geworden, und die Stadt selbst wird zum Ort des Unsichtbaren, des Geheimen, des Irrationalen. Sie ist ein Gespinst, dem auch die strikteste Macht letztlich nicht Herr werden kann, da es sich jedem ›realen‹ Zugriff entzieht. Dies jedenfalls suggerieren, jeweils auf andere Weise, auch die jüngeren Beispiele, von denen noch die Rede sein wird. Der legendärste Moskautext aus der Sowjetzeit ist der Roman Moskau-Petuški von Venedikt Erofeev (1938–1990)  ; er ist mit 1969 datiert und erschien 1973 in Israel. In dieser wunderbaren ›Legende eines heiligen Trinkers‹ – deren Autor aber Joseph Roth wahrscheinlich nicht kannte  – unternimmt die erzählende Figur, die ihren Namen Venička mit dem Autor teilt, eine Reise von Moskau nach Petuški mit dem Moskauer Vorortszug. Das gierige Moskau Veničkas verlangt nach einem Gegengift, und das können nur der Vodka und seine Surrogate leisten. Nur das Trinken ist dieser Stadt angemessen, und die-

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ses wird nicht nur im Übermaß, sondern vor allem rituell und philosophisch gepflegt. Es will dem Helden nicht gelingen, Moskau zu verlassen, doch absurderweise kann er in dieser maximal zentrierten Stadt auch nicht ins Zentrum vorstoßen, das sich der physischen Begegnung entzieht  : Alle sagen  : der Kreml, der Kreml. Von allen habe ich das gehört, ihn selbst aber habe ich kein einziges Mal gesehen. Wieviele Male schon (tausend Male), betrunken oder verkatert, bin ich durch Moskau gegangen, von Nord nach Süd, von Ost nach West, kreuz und quer, und wie es sich gerade traf – den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen. Auch gestern habe ich ihn nicht gesehen, dabei bin ich gestern den ganzen Abend in dieser Gegend herumgelaufen, und nicht, daß ich sehr betrunken gewesen wäre  : kaum war ich am Savelover Bahnhof ausgestiegen, trank ich fürs erste ein Glas Zubruvka,27 weil ich aus Erfahrung weiß, daß in seiner Eigenschaft als morgendlicher Decoct die Menschen noch nichts Besseres erfunden haben. So. Ein Glas Zubruvka. Und dann  – auf der Kaljaevskaja  – ein zweites Glas, nur nicht mehr Zubruvka, sondern Koriander. Einer meiner Bekannten sagt immer, Koriander wirke auf den Menschen antihuman, das heißt, er stärke alle Glieder und schwäche die Seele. Bei mir war es aus irgendeinem Grunde umgekehrt, das heißt, meine Seele war im höchsten Grade gestärkt und die Glieder geschwächt, aber einverstanden, auch das ist antihuman. Deshalb schickte ich dort, noch auf der Kaljaevskaja, zwei Krüge Ziguli-Bier hinterher und einen Schluck Alb-de-Dessert aus der Flasche. […] Und dann ging ich ins Zentrum, weil es mir immer so geht  : wenn ich nach dem Kreml suche, lande ich unweigerlich auf dem Kursker Bahnhof. Zum Kursker Bahnhof mußte ich ja eigentlich auch, und nicht ins Zentrum, trotzdem ging ich ins Zentrum, um wenigstens einmal den Kreml zu sehen  : sowieso, denke ich, werde ich den Kreml nicht sehen, sondern direkt auf dem Kursker Bahnhof landen. (Erofeev 2005, 7f.)

Erofeevs eigentliches Moskau hinter dem scheinbar realen und der destillierten Moskauer Existenzweise ist nicht nur Ort des Deliriums, sondern ebenso des literarischen Zitats, findet sich doch in Veničkas Bewusstseinsstrom eine breite intertextuelle Palette an Zitaten und Verweisen. Venička wird den Kreml’ doch noch sehen, allerdings erst, als er ihn nicht sucht, und in einer Begegnung, die zu seiner persönlichen Apokalypse wird. Die Phantastik der Moskauer Stadtbilder behält nach dem Ende des Sozia­ listischen Realismus ihren Bezug zum ›Untergrund‹, der sich besonders in

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Moskau seit den siebziger Jahren zu einer inoffiziellen Gegenkultur ausweitet. Dmitrij Prigov (1940–2007) ist eine der zentralen Figuren des Moskauer Konzeptualismus, der nachhaltigsten Erscheinung dieser inoffiziellen Kultur.28 Prigovs postsowjetischer Roman Lebt in Moskau (Živite v Moskve, 2000) ist eine phantastische Autobiographie des Moskauers, die eine faktisch nicht dokumentierbare Wahrheit aus den Erinnerungen zu destillieren versucht. Die erinnerte Kindheit spielt in einem Raum, in dem sich die Realitäten von Erleben und Phantasie, Traum und Alptraum überlagern. Was das Kind hört, weiß, oder ahnt, entstammt den allpräsenten ideologischen Bruchstücken ebenso wie realen Erlebnissen. Aus dieser kindlichen Perspektive beschreibt Prigov in einer langen Passage den Tod Stalins, in dem sich eine ›Realität‹ mit der Unermesslichkeit des Mythos verbinden, der es zur Überraschung macht, dass der Alltag weitergehen soll. Die Volksmassen werden in der phantastischen Wahrnehmung des Kindes immer gewaltiger, elementarer, und die kindliche Mythisierung bringt ihren ganz eigenen, keineswegs psychologischen Duktus hervor  : Ich erstarrte. Blieb stehen. Bemerkte ebenso verwirrte Mitschüler unterschiedlichen Alters, die ebensowenig wußten, was jetzt zu tun war. Als sie einer nach dem anderen nach Hause gingen, folgte ich ihrem Beispiel. Auf dem Heimweg erregte die merkwürdig belebte, normalerweise halbleere Mytnaja Straße meine Aufmerksamkeit. Das Volk schwieg, sprach kein Wort untereinander, ging nur die Straße entlang, alle in eine Richtung – vom Danilow-Markt auf den Gartenring zu. […] Der Zufluß dieses Stromes war gleichmäßig und gewaltig. Es sah so aus, als wäre alles erstarrt, als rührte die Bewegung allein von der inneren Erregung her. Diese gewaltigen Fluten saugten die Luft auf, oder genauer gesagt, sie zogen die Luft mit sich fort, die Luft, die ohnedies nicht mehr zirkulieren konnte. Die Leute gingen und zogen immer neue Leute an sich. […] Die Menge hatte längst alle vorstellbaren Grenzen überschritten. Im Zentrum, hieß es später, war der Druck unglaublich angestiegen. Es bildete sich eine ungeheure, geradezu kritische Masse, die von der einen zur anderen Seite torkelte – einen Kilometer hierhin, einen Kilometer dorthin –, zwar überschritt sie dabei nicht die Grenze des Gartenrings, aber sie begann allmählich zu kollabieren. Schließlich preßte sie sich in ein unteilbares Nichts zusammen, das keine Grenzen mehr kannte, sie wurde entgegenständlicht, zu absolut schwerer Masse, ohne alle Grenzen, ohne Entgrenzung und ohne ein Jenseits der Grenzen. Es bildete sich ein in schwarzes, schweigendes, gähnendes Loch, ein Punkt. (Prigow 2003, 114f.)

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Wie so oft strebt das mentale Moskau in dieser Szene auf einen Punkt zu. Wieder ist es leer, doch wird es gleichzeitig zum undurchdringlichen, nicht zu ordnenden Phantasma, zum Ort, wo Realität und Phantasie, Oberfläche und unterirdische Existenz schwer zu unterscheiden sind, wo sich starre Ordnung und absolutes Chaos begegnen.

7. Neue Gegenwart und Zukunft als phantasmagorische Katastrophe  : postsowjetische Moskaubilder

Nach 1991 verlieren die zentralen Orte Moskaus ihre Ordnungskraft, und sie werden zum Geflecht gleichsam verirrter Orientierungspunkte aus der Vergangenheit. Moskau fällt auseinander, und doch arbeiten sich die zunehmend phantastischen Moskautexte an diesen Orten ab, sei es der Kreml’, wie bei Chazanov, oder die Metro, das verbindendste Element der Stadt und gleichzeitig das nachhaltigste Denkmal des Stalinschen Moskau-Umbaus.29 In einer noch harmlosen Variante wird Moskau zum historischen Ort des Verbrechens, so wie in den literarisch recht raffinierten Fandorin-Romanen Boris Akunins (eigtl. Grigorij Čchartišvili, geb. 1956), die Moskau trotz der historisch-topographischen Details allerdings eher als Kulisse einsetzen. Auffallend viele Texte seit der Perestrojka und der Wende tragen den Namen Moskaus im Titel. Moskau wird darin zum Schauplatz der historischen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, insbesondere des Stalinismus, wie in Anatolij Rybakovs Die Kinder vom Arbat (Deti Arbata, geschrieben in den 1960er Jahren, publ. 1987) und den Fortsetzungen, oder in Vasilij Aksenovs ebenfalls verfilmter Moskauer Saga (Moskovskaja saga, 1993ff.). Moskau wird als große Gewinnerin der ökonomischen Veränderungen auch zum symbolischen Ort der neuen Zeiten. So reflektiert sich die chaotische, paradoxale Übergangssituation mit ihren ökonomischen, gesellschaftlichen, ethischen Umwälzungen etwa in Aksenovs Moskva Kva-Kva (2007, nicht ins Deutsche übersetzt), Vjačeslav P’ecuchs Die neue Moskauer Philosophie (Novaja Moskovskaja filosofija, 1989) oder Viktor Erofeevs Skandalroman Russkaja krasavica (1990), der nach Angabe des Autors bereits 1980–1982 geschrieben wurde und in den Übersetzungen meist Die Moskauer Schönheit heißt. Hier will sich ein Mädchen vom Lande mit ihren erotischen Fähigkeiten in Moskau behaupten und wird dabei zur tragischen Heldin des Vaterlandes. Die Welt dieser Romane ist noch durchzogen von sowjetischen Prägungen. Dass Moskau dabei zunehmend als Kosmos imaginiert wird, der vom Rest

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Russlands und der Welt abgeschlossen ist, verbindet die neuen Stadtbilder der verschiedenen Genres. Einen ersten Höhepunkt zwischen Realismus und phantastischem Stadtbild erreicht dies etwa in Viktor Pelevins Roman Generation ›P‹ (1999). Dort geht der Dichter Vavilen Tatarskij, der aus der Intelligenz der sechziger Jahre stammt und den in der neuen Zeit keiner mehr braucht, in die Werbung, wo er dank einem ungebremsten Zynismus immer höher aufsteigt. In diesem Roman über die neuen ökonomischen Verhältnisse vermischen sich Realitäten mit Virtualiät, Halluzination, Zynismus und Betrug. Diese neue Welt kann nur in Moskau ihre Verkörperung finden, das hier weniger zum Ort der Globalisierung wird als zum abgeschlossenen Kosmos, der seine eigenen, täuschenden Realitäten hervorbringt. Die literarischen Bilder konzentrieren sich zunehmend auf die abgründigen Seiten der Entwicklung. Die Texte bleiben oft fasziniert von Zukunftsvisionen, für die sich Moskau anbietet – pars pro toto für das Land, von dem die Stadt paradoxerweise dann doch meist abgeschnitten ist. Diese Narrative lösen sich zunehmend von der satirischen Rückbindung an die alten Folien und lassen dem Phantasma gleichsam freien Lauf. Das Resultat ist auffallend oft apokalyptisch gefärbt  : Die Reflexion auf den allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenbruch vor allem der 1990er Jahre scheint in Moskau eine ideale Plattform zu finden. Dies sieht man etwa in zwei Romanen Vladimir Makanins (geb. 1937), ein eher ethisch als experimentell orientierter Autor, der aber einen auffallenden Hang zu allegorisierenden, manchmal ins Surreale gleitenden Räumlichkeiten zeigt. Makanin stammt aus der Region Orenburg am Rande des Ural und des europäischen Russland  ; sein Geburtsort Orsk liegt beinahe an der kasachischen Grenze, der Schulort Ufa in der baškirischen Republik. Wie so viele kam er zum Studium nach Moskau, und vielleicht sind seine surrealen literarischen Stadträume auch seinem Blick von außen geschuldet. In Das Schlupfloch (Laz, 1991) erscheint vielleicht zum ersten Mal ein postapokalyptisches Moskau, und es braucht nicht genannt zu werden  : es ist einfach »die Stadt«. Diese bildet keinen zusammenhängenden Lebensraum mehr  : die Metropole ist zersplittert, die meisten Bewohner haben sich verschanzt, denn die Straßen werden von Banden und surrealen wandernden Massen dominiert – ansonsten ist sie verödet, das Leben ist reiner Überlebenskampf. Der Protagonist Ključarev findet seinen Weg in eine unterirdische, privilegierte Welt, in der sich die Intelligencija versteckt hält, der er selbst angehört, und ihre alten Gespräche weiterführt. Ihre Lage ist allerdings illusorisch, denn sie wird nicht von Dauer sein. Das Thema des städtischen Untergrunds nimmt Makanin 1998 in seinem sehr viel umfangreicheren Roman Underground oder ein Held unserer Zeit (Un-

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Abb. 6. Vladimir Manjuchin aka mvn78, ohne Titel (2012).

degraund ili Geroj našego vremeni, 1998) wieder auf.30 Dieser Roman handelt weitgehend von Angehörigen intellektueller Untergrund-Kreise aus sowjetischer Zeit, von Schriftstellern, die nicht mehr schreiben und von den neuen Verhältnissen an den Rand gedrängt wurden. Die zentrale Figur, Petrovič, erzählt ihre Geschichte  ; er führt eine Existenz zwischen einem Wohnheim, in dem er keinen eigenen Wohnraum hat, einem Obdachlosenasyl und einer psychiatrischen Anstalt, zwischen Gesprächen derjenigen, für die er nur Zuhörer ist, und dem Alkohol. Letzterer fließt fast ebenso wie in Moskva-Petuški, was übrigens kein Zufall sein dürfte, ist doch auch dieser Roman voller literarischer Bezüge, unter denen die Figur des genialen Bruders Venedikt herausragt. Die Handlung spielt weitgehend in Innenräumen, die mit ihren labyrinthischen Korridoren ein kafkaeskes Bild räumlicher Unübersichtlichkeit bieten. Seltsamerweise ist es im Gang in immer neue Tiefen nur die Metro, die etwas von ihrem immer schon utopischen Wesen behält  : Wie hässlich wurde in diesen Jahrzehnten in Moskau gebaut, oben, auf der Erde, und wie gelungen […] hatte man die Metro gestaltet, Station um Station, unten,

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unter der Erde. Emotionale Geborgenheit unter der Erde empfinde nicht nur ich. Viele zieht es innerlich hierher, unter die Gewölbe […]. (Makanin 2003, 374)

Das hindert den Erzähler nicht, als »Triumph der Ästhetik« mit anderen einen Betrunkenen aus dem Zug zu stoßen (ebd.), so wie überhaupt seine Selbstfindung an der Rändern der Existenz auch Todesopfer kostet. Eine ganze Gruppe von Texten entwirft deutlicher in die Zukunft projizierte Realitäten. Im Jahr 1986 veröffentlichte der damals bereits in München lebende Satiriker Vladimir Vojnovič (geb. 1932) seinen satirisch-antiutopischen Roman Moskau 2042 (Moskva 2042). Der noch in sowjetischer Zeit entstandene Zukunftsroman spielt in einem künftigen Stadtstaat Moskau mit Namen »Moskorep«, der geprägt ist von einem neuen, religiös untermauerten Kommunismus unter dem Diktator »Genialissimus«. Die Erzählfigur ist ein dissidentischer Schriftsteller, der einige Ähnlichkeiten zum Autor aufweist und eine Zeitreise unternimmt. Der monarchistische Gegenspieler dieses neuen Moskauer Kommunismus, Sim Simyč Karnavalov, ist eine offene Parodie auf den berühmtesten aller Dissidenten, nämlich auf Aleksandr Solženicyn. Die Republik Moskorep hat sich abgeschottet  ; die Außenwelt, so wird versichert, begegne ihr mit Neid. Intern ist sie in Ringe organisiert, die sich nach den alten Ringen – Boulevardring, Gartenring, Autobahnring – richten und hierarchische Stufen der Zugehörigkeit darstellen  : innen wohnen die Menschen mit »gehobenen Bedürfnissen«, in der Mitte diejenigen »mit allgemeinen Bedürfnissen«, weiter außen die »Kommunaner-Selbstversorger« (234). Vojnovičs Roman ist noch stark geprägt vom dissidentischen Widerstand gegen den Sozialistischen Realismus. Seine Parodie präsentiert eine Zukunft, von der angenommen wird, sie könnte der Vergangenheit verblüffend ähnlich sehen  : Obwohl der Hauptberufsverkehr offensichtlich abgeebbt war, wimmelte es auf dem Karl-Marx-Prospekt (der hieß übrigens immer noch so) von Menschen. Es war wie in einem Traum  : viele erinnerten mich an Bekannte von früher, die Ähnlichkeit war zum Teil so groß, dass ich versucht war, ihnen mit offenen Armen entgegenzustürzen. (190)

Allerdings wurden Symbolorte wie die Basilius-Katheadrale, das Minin-undPožarskij-Denkmal und das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz längst an Ausländer verkauft, und der Rubinstern am Spasskij-Turm war nur noch aus Blech (189f.). Die Zukunft der Zukunft, die aus einer Art Revolution ent-

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steht, sieht nicht viel besser aus  : Der zwischenzeitlich eingefrorene und nun wiederbelebte Schriftsteller Karnavalov reitet, begeistert empfangen, auf einem Schimmel in Moskau ein, übernimmt die Macht, erweitert das Reich zu bisher nie erreichter Größe und will alles Kommunistische ausrotten  ; gleichzeitig will er die technische Fortbewegung ebenso abschaffen wie die Wissenschaft, führt die Prügelstrafe wieder ein, schreibt den Männern einen Bart und den Frauen gottesfürchtiges Verhalten und lange Röcke vor (425f.). Dass er alle kommunistischen Orts- und Straßennamen eliminiert, ändert wenig daran, dass ›Moskau‹ in diesem satirischen Blick Moskau bleibt, schon dadurch, dass es immer noch das Zentrum einer eigenen Welt darstellt – oder darstellen will. Weitgehend parallel zu Makanins Untergrund-Roman entstand der Roman Kys (Kys’, 2000) von Tat’jana Tolstaja (geb. 1951), die aus einer angesehenen Leningrader Intellektuellenfamilie stammt und erst nach ihrem Studium nach Moskau kam. Ihr weitgehend im Ausland geschriebener Roman entwirft eines der markantesten apokalyptischen Zukunftsbilder aus der Zeit nach dem Ende des Kommunismus. Die Handlung spielt etwa zweihundert Jahre nach einer nicht genauer genannten Atomkatastrophe  ; die Welt am Ort des früheren Moskau wurde gleichsam in einen vorzivilisatorischen Zustand zurückgeworfen, sieht man von den Mutanten – auch die Menschen zeigen solche Merkmale – ab. Die Menschen, die sich weitgehend von Mäusen ernähren, leben in einer mythologisch umstellten Welt unter einem autoritären Führer  ; sie haben fast alle Zivilisation verloren, nur bruchstückhaft und verzerrt tauchen Überbleibsel der alten Kultur auf, die auf einzelne eine große Faszination ausüben. Der Stadt, von den Bewohnern »das Städtchen« genannt, geht alles Urbane ab  : »[…] auf sieben Hügeln liegt das Städchen Fjodor-Kusmitschsk, und rund um das Städtchen ziehen sich Felder, so weit das Auge reicht, und Länder, die keiner je gesehen« (Tolstaja 2003, 9). Die aufgestellten Pfähle mit Ortsnamen haben nur noch symbolische Bedeutung  : »Dort hat Nikolaj Iwanytsch einen Pfahl aufgestellt  : ›Gartenring‹. Einen Ring gibt es da natürlich nicht, bloß Reihen von Isbas. Grade hier endet das Städtchen« (55). Diese ehemalige Stadt heißt nach dem gegenwärtigen Diktator Fedor-­Kuz’­ mičsk. Was sie einmal war, ist zusammen mit dem ehemaligen Namen für die meisten ins Dunkel der Legenden gerückt  : Und es nennt sich unser Städtchen, unser heimatliches Fleckchen Fjodor-Kusmitschsk, und davor, sagte Mütterchen, nannte es sich Iwan-Porfiritschsk, und wieder davor Sergeï Sergeïtschsk, und noch früher war sein Name Südliche Magazine, und ganz früher lautete er Moskau. (21)31

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Diese Zukunftsvisionen, in denen sich ein allgemeiner Zerfall mit einer atavistischen Diktatur verbindet, steht in maximalem Kontrast zu Zukunftsromanen aus der Sowjetzeit, etwa bei den Brüdern Strugackij, in deren Romanwelten der Zukunft in der Regel eine vernunft- und wissenschaftsbasierte Weltregierung angenommen wird. In den jüngeren Generationen hat sich der Akzent im literarischen Einsatz der Stadt Moskau noch weiter in die ›phantasmagorische‹ Richtung verlängert. Zum literarischen Welterfolg, wenn auch etwas abseits der etablierten Literaturinstitutionen, brachten es die in Moskau spielenden sogenannten ›Wächterromane‹ von Sergej Luk’janenko (geb.1968). Die Verfilmung von Wächter der Nacht durch Timur Bekmambetov (Nočnoj dozor bzw. Night watch, 2004), dann Wächter des Tages (Dnevnoj dozor / Day watch, 2005) trug stark zur Bekanntheit dieser Romane bei und setzte die Stadt Moskau in all ihren Schichten und Nischen und mit rasanten Wechseln der Dimensionen, immer vor dem Hintergrund der ›klassischen‹ Symbolorte, effektvoll ein. Ein Gesamtpanorama ergibt sich daraus jedoch in keiner Weise mehr. Der Autor Luk’janenko, dessen literarischen Anfänge in der Science Fiction liegen, wuchs in Kasachstan auf  ; nach Moskau zog er erst mit fast dreißig Jahren. Der Regisseur Bekmambetov ist Kasache – er studierte kurz in Moskau und lebte dann längere Zeit im usbekischen Taschkent, um mit 36 nach Moskau zu gehen, wo er sich v. a. mit Werbefilmen finanzierte. Luk’janenkos Wächterromane spielen in einer fast hyperreal gezeichneten Stadt, doch alles Wesentliche geschieht in der für Normalbewohner unsichtbaren Doppelwelt der ›Anderen‹. Diese sind gemäß einem uralten Vertrag auf die ›dunkle‹ und die ›helle‹ Seite verteilt, wobei die Gruppen keineswegs einer einfachen Gegenüberstellung von Gut und Böse entsprechen. Moskau wird für diese Handlung zum geschlossenen Kosmos, gleichzeitig zu einer Bühne, deren Handlungen die normale Sicht auf die Stadt nicht erkennen oder gar verstehen kann, obwohl sie sich in der Realität abspielen und das Schicksal der Stadt davon abhängt. Gogol’s Bild von Petersburg als Ort der großen Täuschung hat sich längst auf Moskau übertragen, und dies scheint im russischen Kontext assoziativ an den Ort der zentralen Macht gebunden zu sein. In phantasmagorischen Raum der Wächterromane löst sich das Zentrum gleichsam in permanente Schauplätze des Kampfes auf. Das Magnetfeld der Stadt als Raum ist wesentlich stärker als etwa im Roman Tolstajas, die Symbolorte sind wieder zentral eingesetzt – doch haben sie jede Verlässlichkeit und Stabilität verloren. Deutlicher noch hat Dmitrij Gluchovskij – ein 1979 geborener Moskauer, der als Journalist einige Jahre im Ausland lebte – in seinem fantasyhaften Ro-

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man Metro 2033, zu dem es auch eine Fortsetzung gibt, alle positiven Utopien hinter sich gelassen. In dieser Zukunftsphantasie wird der Raum Moskau einerseits abgeschlossen, andererseits zerschnitten. Die Stadt ist für Menschen wegen einer Atomkatastrophe an der Oberfläche unbewohnbar geworden, und die Überlebenden haben sich in den Untergrund verzogen, wo sie in verschiedene, teilweise kriegerisch verfeindete Gruppierungen zersplittert sind. Im Metroraum, bedroht von den Mutanten an der Oberfläche, entwickeln sich – nicht unähnlich der Welt in Kys’ – neue Kulturformen, die nur noch eine schwache Verbindung zur beinahe vergessenen ehemaligen Zivilisation haben  ; der Ort ist weitgehend reduziert auf den Überlebenskampf und auf rudimentäre Versuche sozialer Organisation. Die Moskauer Metro als ideale, utopische Stadt unter der Stadt,32 als gebaute Utopie, hat ihren mythoiden Charakter nie ganz verloren. Ganz im Gegenteil wird er hier, grotesk verkehrt, in neuer Weise wiederbelebt. Keine andere der Untergrundbahnen der ehemaligen Sowjetunion weist auch nur annähernd dieses imaginative Potential auf, das auf einer langen Geschichte von Texten und Bildern beruht. Gerade die Metro bildet eine der Voraussetzungen, dass Moskau zur Stadt der dunklen Phantasien wird.33

8. Das zu entdeckende intime Moskau. Ein Ausblick

Walter Benjamin bemerkte 1929, unter den »Städteschilderungen« seien die »von Einheimischen verfassten sehr in der Minderzahl«. Er verdächtigt die »Fremden« eines oberflächlichen Blicks auf das »Exotische, Pittoreske« (Benjamin III 1991, 194) und stellt dem äußeren Blick den wahren Flaneur entgegen. Sich selbst wird der Autor nicht nur des Passagen-Werks, sondern auch eines interessanten Moskau-Portraits (Benjamin IV.1 1991, 316–348) nicht gemeint haben. Überhaupt scheint Benjamin an dieser Stelle unrecht zu haben, und die Tatsache, dass eine erstaunlich hohe Zahl wirkmächtiger und auch kenntnisreicher literarischer Moskaubilder von Zugezogenen geschaffen wurde, ist keineswegs nur dem Umstand zu verdanken, dass es an solchen nicht mangelte. Dass der Blick immer auch von außen kommt, ist maßgebend für das Zeichensystem Moskau, dessen Grundmarkierung im 20. Jahrhundert die Zentrumssymbolik als Stadt und die Zentriertheit der Stadt bleiben  ; besonders letzteres kann sich aber wiederum nur in einem Blick von innen entfalten. Die Stadt ist symbolisch wie historisch überfrachtet, doch gerade aus dieser reibungsvollen Konstellation wird Moskau ein so spannender wie »unerschöpflicher Generator der Zeichen« (so Stierle über Paris, 1993, 38).

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Der doppelte Blick von außen und innen zugleich ist, wie schon das Beispiel Giljarovskijs zeigt, durchaus nicht nur typisch für Autoren, die sich aus der Vogelperspektive und mit Fokus auf die übergeordneten Zeichen der Stadt annähern. Schon dass Moskau zwar früh symbolisiert wurde, als ›Text‹ aber lange nur vor der Folie Petersburgs sichtbar wurde, zeigt diese Doppelung des Moskau-Bildes. Es bleibt ein wesentliches Element vieler Moskautexte des 20. Jahrhunderts, dass sie die nach außen gerichtete bzw. von außen wahrgenommene repräsentative Zeichenhaftigkeit der Stadt – die von ausländischen intellektuellen Besuchern oft als einziges gesehen wurde –34 und deren Symbole ebenso im Blick haben wie den lokalen Lebensraum  ; ähnliches gilt übrigens für den Film.35 Oft werden dabei die Moskautexte zu eigentlichen Gegentexten, die das ›große‹, allzu kohärent, ja monolithisch erscheinende Bild Moskaus als Zentrum eines Imperiums und Machtsystems ebenso subvertieren wie seine scheinbare Geschlossenheit als Kosmos.36 Sie tun dies durch die Profilierung lokaler Gegenwelten und Nischen oder durch phantasmagorische Verlängerungen ins Absurde. In diesen Spannungsfeldern entwickelt die scheinbar so kompakte, ja starre Moskau-Symbolik eine Dynamik, die sich manchmal geradezu unkontrollierbar zu entwickeln scheint. So wird ausgerechnet Moskau, mehr als offener lesbare Metropolen, zum Ort politischer und kultureller Phantasma­gorien, ein Ort auch des Unsichtbaren, Geheimen, Irrationalen. Dennoch bleibt die individuelle Eroberung der Stadt, die Entdeckung auch des Individuellen in ihr, immer eine Auseinandersetzung mit ihrer symbolischen Überformung. Viele der erwähnten Texte – und es gäbe noch viele andere, von Filmen ganz zu schweigen – wären im Anschluss an den Arbat Okudžavas, die kleinen Räume Trifonovs oder Erofeevs Orte des Trinkens genauer auf das Bedürfnis nach einem lokalen, menschlichen oder gar intimen Moskau hin zu untersuchen. Dieses Moskau erschließt sich weder dem flüchtigen, noch dem fremden Blick  – es muss gesucht und entdeckt werden, in der Realität der Stadt ebenso wie in den Texten, wo es sich meist erst einer selbst intimen Lektüre erschließt. Vladimir Sorokin, der bedeutende Gegenwartsautor, der aus einem Moskauer Vorort stammt und in dessen Textwelten sich durchaus auch das phantasmagorische Moskau findet, hat in einem Essay unter dem Titel »Moskaus Eros« (Ėros Moskvy, 2001) die Orte seiner Heimatstadt beschrieben, die ihm ein persönliches, intimes Verhältnis zur Stadt eröffnen. Es werden dabei keineswegs versteckte, nur Insidern bekannte Ecken beschrieben, sondern die persönliche Inanspruchnahme durchaus offizieller Orte, darunter die Universität MGU auf den Sperlingsbergen, der Boulevardring, das Ausstellungsgelände

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VDNCh oder ein Friedhof, eine Metrostation und ein Markt. Diese Begegnungen werden als männliche erotische Annäherungen an das – wie könnte es anders sein – weibliche Moskau vorgeführt, doch erscheint dieses anders als bei Lermontovs herausgeputzter Dame oder Tolstojs Eroberungsobjekt Napoleons. Sorokins weiblich-erotische Stadt verlangt Neugierde und Entdeckungsfreude. Dieser ›Eros‹ der Stadt ist selbst eine Form der Lektüre, eine, die dem semiotischen Charakter der Stadt ebenso Rechnung trägt wie der Individualität jeder Begegnung. Laut Sorokin gibt es »für jeden Moskauer seine eigene zärtliche Stellen auf dem Körper der Hauptstadt. Aber man muss es sehr wollen, sie zu finden« (Sorokin 2000/2001, 4).37 Dabei geht es weniger um die Wahl der Orte als um ihre Entdeckung und die Form der Berührung. Auch dieses Moskau ist ein Kosmos, aber einer, der sich öffnet, wenn man ihn zu lesen weiß  : Moskau ist für mich keine Stadt. Auch kein Land. Es ist nicht einmal Inneres Russland. Moskau ist eine schlafende Riesin. Mitten in Russland liegt sie auf dem Rücken und schläft einen schweren russischen Schlaf. Um in sie einzudringen, müssen Sie ihre erogenen Zonen kennen. Nur wenn Sie diese verborgenen zarten Stellen wirklich finden wollen, wird die Riesin sich Ihnen hingeben – andernfalls wird sie Sie brüsk zurückweisen und Ihnen für immer verschlossen bleiben. (ebd.)

Anmerkungen 1 Benjamins »Wiederkehr des Flaneurs« ist eine Rezension auf Franz Hessels Spazieren in Berlin [1929], der wiederum das Flanieren bereits als »Lektüre« der Stadt versteht (Hessel 2011, 121). 2 »Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. […] Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist« (Benjamin V.1 1991, 524). 3 Vgl. dazu den historischen Beitrag von Benjamin Schenk in diesem Band. 4 S. zu den utopisierenden Stadtbestimmungen Petersburgs Nicolosi 2002, 109ff. u. passim  ; vgl. Heller / Niqueux 2003, 74. 5 Dies ist breit dokumentiert im Band Isupov (Hg.) 2000  ; vgl. zu den Wurzeln der »Resemiotiserung« Moskaus und dessen Entwicklung zum »zweiten Zentrum« im späteren 18. Jh. Nicolosi 2002, 101ff. 6 Tolstoi 1965, 102ff. (Buch 3, Teil 1, Kap. 22–23). 7 Vgl. die Bilder des Chaos der Großstadt und ihrer Nischen in Vsevolod Krestovskijs erfolgreichem Unterhaltungsroman Petersburger Enthüllungen. Buch über Satte und Hungrige (dt. Berlin o.J.; Peterburgskie truščoby [eigtl.: Elendsviertel, Th.G.]. Kniga o sytych i golodnych, 1864–1867). Der handlungsreiche Roman war von Eugène Sues Les mystères de Paris inspiriert. 8 Der undatierte Text blieb bis 1869 unpubliziert  ; der Titel stammt von den ersten Herausgebern. Die deutsche Übersetzung findet sich in Pross-Weerth 1980, 148–158  ; sie stammt offenbar von der Herausgeberin.

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  9 Wegweisend wurde diesbezüglich der Roman Fürst Serebriany bzw. Der silberne Fürst von A. K. Tolstoj (Knjaz’ serebrjanyj, 1863  ; dt. auch als »Iwan der Schreckliche«). 10 Zit. nach der zweisprachigen Ausgabe Puschkin 2013, 111 (Szene »Litauische Grenze«). 11 Vgl. den hervorragend illustrierten Band von John Bowlt (2008), der Moskau und Petersburg als einen gemeinsamen Raum der russischen Moderne versteht. 12 Vgl. etwa Papernyj (2011) sowie die Beiträge von Werner Huber, Dietmar Neutatz und Benjamin Schenk in diesem Band. 13 Vgl. den Beitrag von Tatjana Simeunović in diesem Band. 14 Die deutsche Ausgabe erschien erstmals als  : Wladimir Giljarowski, Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen. Sittenbilder aus dem alten Moskau. Aus d. Russ. v. M. Denecke. Berlin 1964. 15 Ein näheres Hinsehen zeigt eine erstaunliche Präsenz von Stalingebäuden oder des Kreml’s auch in keineswegs linientreuen Moskaufilmen sowie, erstaunlicher noch, viele Kirchen im Hintergrund (vgl. die verstreuten Bsp. auf der DVD Mosvka v kino, Moskva  : Respublikanskij mul’timedia centr, 2007). 16 Analoges findet man auch in der Kunst und ganz besonders in derjenigen der Stalinzeit. Es wäre lohnend zu prüfen, wie sehr visuelle Moskau-Bilder in Kunst und Film mit der Kontrastierung der Horizontalen mit einem oder mehreren betont vertikalen Elementen arbeiten. 17 Vgl. die Übersetzung bei Pross-Weerth 1980, 192–200, hier S. 193. 18 Die Urfassung der Romans ist hier wie so oft unverblümter  : Der Hinweis auf die Mütterlichkeit fehlt, Napoleon vergleicht das gefallene Moskau mit einem »Mädchen […], das seine Unschuld verloren hat«, und er selbst wird mit einem »Räuber« verglichen, der eine Frau vergewaltigen will (Tolstoi 2003, 1174). 19 Vgl. zu den neuesten Großprojekten den Beitrag von Jörg Stadelbauer, zu letzterem den Aufsatz von Werner Huber in diesem Band. 20 Der russische Eintrag auf Wikipedia zum Arbat (http://ru.wikipedia.org/wiki/Арбат  ; Nov. 2013) beschreibt zahlreiche Häuser mit ihrer Geschichte. 21 Okudžava 1985, 52f.; vgl. http://www.bokudjava.ru/P_18.html. Einige deutsche Übersetzungen, wenn auch ungenaue, finden sich auf www.ekkemaass.de/bulat_okudshawa.html (Okt. 14). 22 Vgl. auch Trifonovs (auch russisch als Zyklus erschienenen) Moskauer Novellen, dt. v. E. Thiele, Leipzig  : Reclam 1976, bzw. dt. v. A. Kaempfe, H. v. Ssachno u. a., Darmstadt-Neuwied  : Luch­­terhand 1980. 23 Das Haus direkt gegenüber Kreml’ hat heute noch Symbolkraft  ; so wurde im Nov. 2011 der riesige Mercedes-Stern auf dem Dach entfernt, der zu deutlich an die Verhältnisse der 90er Jahre erinnerte. 24 Die Kommentatoren identifizieren das Gebäude übereinstimmend als das ehemalige Rumjancev-Museum (Paškov-Haus) aus dem spätem 18. Jh.; heute gehört das auffallende hohe Palais im Zentrum zur Russischen Staatsbibliothek. 25 Der historisch-philosophische Roman passierte in der Sowjetunion die Zensur nicht und erschien 1957 in Italien. Der im Lande geschmähte und kranke Dichter erhielt für ihn 1958 den Nobelpreis, den er nicht annehmen durfte. Mit Bulgakovs Meister und Margarita verbindet Pasternaks Roman, dass beide Autoren lange an die Möglichkeit einer Veröffentlichung glaubten. 26 Vgl. dazu eingehend Sazontchik 2007, 85ff. Die Autorin thematisiert die Möglichkeit eines ›Moskauer Textes‹ anhand von Bulgakov und Pasternak, dann aber auch V. Erofeev, J. Trifonov und V. Aksenov. 27 Im russ. Original »Zubrovka«, vom polnischen Żubrówka, d. h. mit »Büffelgras« – ein polnischer Name für das Duftende Mariengras – aromatisierter Vodka.

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28 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Sabine Hänsgen in diesem Band. 29 Vgl. dazu den Beitrag von Dietmar Neutatz in diesem Band. 30 Der Titel spielt auf Michail Lermontovs gleichnamigen Kaukasusroman Ein Held unserer Zeit (Geroj našego vremeni, 1840) an und exotisiert damit die Stadt Moskau in den neuen Verhältnissen. 31 Vgl. dazu und zu Umbenennungen der Stadt in anderen Texten den Beitrag von Tomáš Glanc in diesem Band. 32 Vgl. auch den Beitrag von Dietmar Neutatz in diesem Band. 33 Vgl. zu ähnlichen Beispielen wie auch zum Moskauer Thema des Untergrunds den Beitrag von Tomáš Glanc in diesem Band. 34 Vgl. zu Walter Benjamins Moskau-Bild den Beitrag von Alexander Honold in diesem Band. 35 Im Film stehen dafür große Namen, allen voran Marlen Chuciev (Mne dvadcat’ let / Ich bin 20 Jahre alt, 1962/64  ; Ijul’skij dožd’ / Juliregen, 1966), aber auch Georgij Danielja (Ja šagaju po Moskve, dt. auch als Zwischenlandung in Moskau, 1964) oder Vladimir Men’šov (Moskva slezam ne verit / Moskau glaubt den Tränen nicht, 1979)  ; vgl. zum Moskaufilm den Beitrag von Tatjana Simeunović in diesem Band. 36 Diesen Aspekt beleuchtet mit Bezug auf den Konzeptualismus Sabine Hänsgen in ihrem Beitrag. 37 Der Text ist auch enthalten im Sorokin-Band Moskva (2001), neben dem Roman Marinas dreißigste Liebe sowie dem Drehbuch zum Film Moskva (Reg. Aleksandr Zel’dovič, 2000). Die deutsche Übersetzung (Sorokin 2001) ist leicht gekürzt.

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Musik in Moskau – Moskau in der Musik Seit jeher sind Metropolen  – Paris, London, Wien, New York  – Schauplätze von literarischen Werken, Filmen, Opern und Operetten, von Kunstwerken, die auf die jeweilige Stadt zurückstrahlen und ihr ein spezifisches Flair verleihen. Zugleich Abb. 1. Bol’šoj-Theater mit Festbeleuchtung zum achten manifestieren sich in ihnen wie in Jahrestag der Revolution. Bild  : Aleksandr Rodčenko (1925). allen Metropolen der Welt permanent sichtbare Symbole der Macht, des kulturellen und nationalen Stolzes in Gestalt von Gedenkstätten, Denkmälern, in der Architektur, in besonderen Repräsentationsbauten und in der Stadtplanung. Vergleichbare Symbole gewinnen ebenso auch in weniger materiellen Künsten Gestalt, wobei der Musik insofern eine besondere Rolle zukommt, als sie auch in großen Freiluft-Events eingesetzt werden und Menschenmassen emotional ergreifen kann – das wussten schon die französischen Revolutionäre.1 Die Bedeutung der Lokalität – als Ort der Handlung in einem Kunstwerk und als Ort, in dem ein Kunstwerk inszeniert wird  – hat in jüngster Zeit verstärktes Forschungsinteresse gefunden. Das gilt auch für die Musikwissenschaft, die historische Schlösser, Höfe, Parks und Gärten als Rahmen für Musikdarbietungen entdeckte, aber auch als Faktoren, die die Gestaltung der für sie bestimmten Kompositionen prägten.2 Ebenso sind moderne Großstädte und das Phänomen des Urbanismus, wie es etwa in den Filmen Berlin, Sinfonie der Großstadt oder Metropolis anschaulich inszeniert wird, erneut ins Blickfeld auch der Musikwissenschaft geraten.3 Was die beiden russischen Hauptstädte anbelangt, so verbindet sich mit Sankt Petersburg nicht nur westliche Ausrichtung und westlicher Geist, sondern auch das Dunkle, Gespenstische, Unheimliche und Verschrobene, was vor allem Nikolaj Gogol’s Petersburger Novellen und später Andrej Belyjs Roman Petersburg veranschaulichen und was zahlreiche Opern in Szene setzen.4 Michail Bulgakov hat dieses Zwielichtige auch für das Moskau der Stalin-Zeit lebendig werden lassen in seinem Roman Der Meister und Margarita (Mas-

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ter i Margarita), der gleichfalls mehrfach als Vorlage für Vertonungen gedient hat.5 Anders als mit Petersburg aber verbindet sich mit Moskau vor allem die Vorstellung des Russisch-Seins, der ausdrücklichen Distanz zum Westen  ; den Rahmen für nationale Selbstvergewisserung und Selbstinszenierung bietet Moskau, nicht Petersburg.6 Davon künden nicht nur der Regierungssitz am historischen Ort, die sowjetischen Leistungsschauen und Militärparaden auf dem Roten Platz sowie die Metro als in Stein gemeißelte für jedermann täglich sichtbare heroische Geschichte  ;7 davon künden auch zahlreiche Musikwerke. Fragt man nach Musik in Moskau und Moskau in der Musik, so erscheint die Stadt (nicht anders als andere Metropolen) als Zentrum der Musikkultur  ; so wird sie auch inszeniert als Schauplatz in der Oper, gleichsam als steinerner Zeuge der Geschichte, auch als Heimat im emotionalen Sinne, wenn sie in Liedern thematisiert wird wie den allbekannten Moskauer Nächten (Podmoskovnye večera) oder als klingende Metapher für Macht und Größe wie in Oleg Gazmanovs Popsong Moskau (Moskva, 1996). Im Folgenden geht es zunächst um eine knappe Darstellung der Geschichte der musikalischen Institutionen  ; in einem zweiten ausführlicheren Abschnitt wird an Beispielen aus Oper, Film und Lied herausgearbeitet, mit welchen musikalischen Mitteln Moskau als reales und emotionales Zentrum des russischen nationalen Gedächtnisses inszeniert wird.

Musik in Moskau

Mit der Gründung St. Petersburgs 1703 und seiner Ernennung zur neuen Hauptstadt zog 1711 der gesamte Hof um, mit ihm auch die Musiker und vor allem die sogenannte Hofsängerkapelle (Prodvornaja pevčeskaja kapella), die für die Kirchenmusik, die Musik bei Hof und für die Musikerausbildung zuständig war. Um die Zeit, als der Petersburger Hof sich etablierte, gelangten die neuen Ideen der Aufklärung auch nach Russland. Die Zarinnen Anna Ioannovna, Elizaveta Petrovna und vor allem Ekaterina II. (Katharina »die Große«) – die Männer hatten alle zu kurze Regierungszeiten – trieben die Kulturpolitik voran. Dass Katharina II. und Voltaire im Briefwechsel standen, ist allgemein bekannt. Diese Zarin setzte besonderen Nachdruck auf Kulturpolitik, sie beförderte unter anderem die Gründung der Moskauer Universität 1755 und die Gründung der Kunstakademie 1757 in Petersburg. Am 30. August 1756 verfügte sie per Ukas die Einrichtung von Theatern  ; damit war die Sammel­ institution der »Kaiserlichen Theater« geschaffen. Für ihre Theater holte sie

Musik in Moskau – Moskau in der Musik 

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Abb. 2. André Durand, »Moscou. Le Grand Théatre Impérial (15 octobre 1839)«.

Ensembles aus Westeuropa  – aus Italien primär, aber auch aus Deutschland und Frankreich, sie engagierte ausländische Komponisten und schickte ihre Musiker zum Studium nach Italien. Sie etablierte in Petersburg das, was man um die Zeit international unter Musikkultur verstand. Die Impulse kamen vom Hof aus Petersburg, Moskau folgte ihnen, wobei das Musikleben hier vor allem von den großen Adelshäusern – Šeremet’ev, Jusupov, Naryškin – getragen wurde, die große Orchester und Sängerensembles aus Leibeigenen unterhielten und die ihre Musiker an andere Veranstalter und an die öffentlichen Theater ausliehen. Auch das Petersburger Bol’šoj-Theater, das wir heute als Mariinskij-Theater und zwischenzeitlich als Kirov-Theater kennen, wurde 1783 per Ukas Katha­ rinas II. ins Leben gerufen. Das Moskauer Bol’šoj-Theater geht auf einen Erlass der Zarin von 1776 zurück. Durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen  – mehreren Bränden, der Belagerung durch Napoleon  – wurde das Bol’šoj-Theater aber erst 1825 eröffnet und 1842 der Direktion der Petersburger Kaiserlichen Theater unterstellt. Für die Sprechtheater und die Häuser, die von ausländischen Ensembles bespielt wurden, gilt ähnliches. Diese wenigen Daten und Fakten zeigen  : Bis weit ins 19. Jahrhundert prägte Petersburg die Musikkultur. Kennzeichnend ist ein kompliziertes Geflecht aus den kulturellen Interessen des Hofes und der politischen und finanziellen Macht und Aktivitäten einzelner Personen, die als Mäzene und Förderer auf-

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traten oder als Künstler Initiative ergriffen. Hinzu kommt, dass die ästhetische Ebene sich auf ebenfalls komplexe Weise mit Interessen des Hofes, etwa der Repräsentation, und mit dem Aufblühen nationaler Ideen verknüpfte. Das sei am Beispiel der Gattung Oper veranschaulicht  : Zum Petersburger Hof gehörte die Opera seria, die klassische italienische Oper des 18. Jahrhunderts, die zumeist mythologische Sujets als Allegorien auf gute Herrscher auf die Bühne brachte und die alle europäischen Königs- und Fürstenhöfe zu Repräsentationszwecken unterhielten. In Moskau war die Opera seria nicht institutionalisiert, hier pflegte man musikalische Komödien, Vaudevilles nach französischem Vorlagen, die ins Russische übersetzt und inhaltlich den Verhältnissen angepasst wurden, sowie Singspiele, Opern mit gesprochenen Dialogen nach deutschen Vorbildern. Seit dem frühen 19. Jahrhundert aber gehörte die Idee des Fortschritts den durchkomponierten, also durchweg gesungenen Opern ohne gesprochene Dialoge, auf der Grundlage von historischen Sujets, bald auch vorzugsweise von Stoffen aus der jeweils eigenen nationalen Geschichte. Beispiele sind etwa Gaspare Spontinis Fernand Cortez (1809), Carl Maria von Webers Euryanthe (1823),8 Daniel-François-Esprit Aubers Muette de Portici (1828) und Giacomo Meyerbeers Robert le Diable (1831). Michail Glinkas Leben für den Zaren (Žizn’ za carja), das erste russische Werk dieser Ausrichtung, das die unmittelbare Vorgeschichte der Romanov-Dynastie und den Heldentod des Bauern Ivan Susanin auf die Bühne bringt, erlebte 1836 im Petersburger Bol’šoj-Theater seine Uraufführung. 1835, ein Jahr zuvor, kam in Moskau Aleksej Verstovskijs Oper Askolds Grab (Askol’dova mogila) heraus. Zugrunde liegt Michail Zagoskins gleichnamiger historischer Roman, der zur Zeit der Kiever Rus’ unter Vladimir I. spielt. Verstovskij setzte in seiner Vertonung auf volkstümliche Elemente – Chöre, Tänze, Gudok-Spieler –  ; vor allem aber blieb er bei gesprochenen Dialogen. Die Petersburger Erstaufführung von Askolds Grab fand 1841 statt, die Moskauer Erstaufführung von Glinkas Leben für den Zaren 1842, wobei man wissen muss, das Verstovskij um diese Zeit als Inspektor für das Repertoire der Moskauer Kaiserlichen Theater fungierte. Beide Komponisten gehen in die nationale Geschichte zurück  ; Verstovskij verbindet damit eine Opernform, die, international betrachtet, der Vergangenheit angehört, und kombiniert diese mit ausgeprägten Folklorismen. Glinka orientiert sich am italienisch-französischen Opern-Modell der Gegenwart und bemüht sich auch in der kompositorischen Durchführung, volkstümliche Anklänge in international gebräuchliche Formen zu integrieren. Wenn man tiefer ins Detail geht, kann man an diesen und den folgenden Opern russischer Komponisten eine Dialektik zwischen nationaler und inter-

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nationaler Ausrichtung herausarbeiten, eine Dialektik, in der sich – nicht geradlinig ausgedrückt  – Oppositionen ausprägen wie etwa die zwischen Fremdem und Eigenem, zwischen westlicher und russischer (östlicher) Ausrichtung, die sich später zu Slavo­ philie und Westlertum zuspitzte, auch zwischen Weltläufigkeit und Provinzialität, wobei sich bis ins späte 19. Jahrhundert das musikalische Petersburg eher weltläufig, das musikalische Moskau eher provinziell zeigt. Ein äußeres Zeichen dafür sind Gastspiele westeuropäischer Musiker Abb. 3. Nikolaj und Anton Rubinštejn, 1862. in Russland  : Clara und Robert Schumann, Franz Liszt, Hector Berlioz, Richard Wagner – sie alle reisten in erster Linie nach Petersburg, danach nach Moskau und weiter ins russische Reich. Das Spannungsfeld zwischen der Ausrichtung nach Westen und derjenigen nach Osten schlug sich – mit allen ideologischen Verwerfungen – auch in der Gründung der beiden Konservatorien nieder. Das Petersburger, das im September 1862 eröffnet wurde, verdankt sich der unermüdlichen Initiative Anton Rubinštejns, dem es gelungen war, den Hof für das Projekt zu gewinnen, und der Lehrprogramme und auch Dozenten selbstverständlich aus dem westlichen Ausland holte. Die Petersburger Komponisten um Milij Balakirev, die autodidaktisches Vorgehen als Originalität verklärten, vermochten den Wert einer soliden handwerklichen Ausbildung nicht zu erkennen und bekämpften Rubinštejn. Pëtr Čajkovskij war einer der ersten, der das Petersburger Konservatorium 1865 mit dem Diplom und dem Titel eines »Freien Künstlers« verließ. Nikolaj Rubinštejn, der jüngere Bruder Anton Rubinštejns, war der Initiator des Moskauer Konservatoriums, das 1866 eröffnet wurde und Čajkovskij als Dozenten berief. Den Petersburger Konflikt, bei dem eine fortschrittlich orientierte, tendenziell slavophile Komponistengruppe das Konservatorium bekämpfte, gab es in Moskau nicht. Čajkovskij verachtete zwar ihren freizügigen musikalischen Satz, dessen handwerkliche Mängel er mit fehlender Routine und mit den spezifischen Bedingungen russischer Großgrundbesitzer am Beispiel Glinkas 1890 rückblickend in einem Brief darlegte  :

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Abb. 4. Moskauer Konservatorium in den 1920er Jahren.

Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann haben ihre unsterblichen Werke gerade so geschaffen, wie ein Schuster Stiefel zu machen pflegt, das heißt, täglich arbeitend und größtenteils auf Bestellung. Im Resultat ergab sich Kolossales. […] Ich könnte weinen vor Ärger, wenn ich daran denke, was Glinka uns gegeben hätte, wäre er nicht in einer herrschaftlichen Familie der Voremanzipationszeit geboren. (Tschaikowsky 1903, 2: 582 f.)

Ästhetisch aber verfolgte Čajkovskij nicht grundsätzlich andere Ziele als seine Petersburger Kollegen  ; er bekannte sich ausdrücklich zu Glinka, den er – wie sie – zum Vater der russischen Musik erklärte. Vor solchem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass Čajkovskij auch Gattungen pflegte, von denen sich die Petersburger eher fernhielten – die Symphonie ohne programmatische Titel, das Instrumentalkonzert, programmsymphonische Werke nach Sujets aus der westeuropäischen Literatur – wie Manfred, Francesca da Rimini oder Romeo und Julia –, und vor allem Kammermusik aller Art, in die er gezielt auch »russische« Intonationen, etwa Anklänge an Volkslieder oder gar Zitate, einbezog. Damit öffnete er der russischen Musik Gattungen der Instrumentalmusik, die die Petersburger als »akademisch«, »westlich« und »spießbürgerlich« verschmäht hatten. In den wenigen Jahren, die er lehrte – 1866 bis 1878 –, zog er einen Schülerkreis heran, den die rus-

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sischsprachige Musikwissenschaft als »Moskauer Schule« bezeichnet (vgl. Lobanova 1997). Streng genommen greift das zu kurz  ; denn seit sich Nikolaj Rimskij-Korsakov in Petersburg zur handwerklichen Ausbildung bekannt und 1871 eine Professur am dortigen Konservatorium angenommen hatte, bestand ein reger Austausch auch insofern, als seine Absolventen als Lehrer nach Moskau berufen wurden. Spätestens mit der Institutionalisierung der Musikerausbildung stand Moskau Petersburg als Musikstadt nicht mehr nach. Von hier aus sei ein kurzer Blick auf das Moskauer Konservatorium in sowjetischer Zeit geworfen, in der Moskau (seit 1918) wieder Hauptstadt und Machtzentrum war. Die Verlagerung der Hauptstadt bedeutet, dass die Proletarisierung der Hochschulen und auch die stalinistischen Säuberungen hier stärkere Spuren hinterlassen haben  : Der aus einer polnischen Familie stammende Boleslav Pšibyševskij, Musikwissenschaftler und Parteimitglied seit 1920, erhielt die Leitung des Moskauer Konservatoriums, um die von den Bol’ševiki angestrebte politische Erziehung gegen den Widerstand der Professoren und der Mehrzahl der Studierenden durchzusetzen. Pšibyševskij wurde dann selbst ein Opfer der Säuberungen. Von seinem Nachfolger Heinrich Neuhaus (Genrich Nejgauz) ist bekannt, dass er Jugendlichen, deren Eltern den Säuberungen zum Opfer gefallen waren, das Studium ermöglichte und sie auf diese Weise schützend unter seine Fittiche nahm. Die jüngste Entwicklung in der Liste der Direktoren zeigt, wie eng die Konservatoriumsleitung  – wieder  – mit der Macht verknüpft ist  : so war der gegenwärtige Direktor des Konservatoriums, Aleksandr Sokolov, von 2004 bis 2008 Kulturminister Russlands.

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Moskau ist Gegenstand – Ort der Handlung oder Thema – in diversen Opern, Filmen und Liedern. Die Stadt erscheint hier auch als ideeller Rahmen, als Metapher für Größe, für nationale Selbstversicherung und Selbstbestätigung. Das erwähnte Lied ›Moskauer Nächte‹ ist zu einer weltweit bekannten klingenden Ikone geworden. Es fungiert bis heute als Pausenzeichen von Radio Majak und als Erkennungsmelodie des englischsprachigen Radio Moscow. Der Text stammt von Michail Matusovskij (1915–1990), einem sowjetischen Lyriker, dessen Ruhm sich vor allem diesem Gedicht verdankt. Die Musik verfasste Vasilij Solov’ëv-Sedoj (1907–1979), einer der prominentesten und höchstdekorierten Komponisten von Massenliedern. Der Text deutet die verliebten Ge-

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fühle eines unbestimmt bleibenden lyrischen Ichs in einer Sommernacht an  ; die Musik ist eingängig, die schwermütige Melodie in Moll wird allgemein, auch in Russland, als »typisch russisch« wahrgenommen. Das Lied galt ursprünglich (1955) den Leningrader Weißen Nächten und lief unter dem Titel ›Leningrader Nächte‹ (Leningradskie večera). Die Übernahme in den Film In den Tagen der Spartakiade (V dni Spartakiady, 1956)9 machte Umbenennung und Textänderungen notwendig. Entscheidend ist nicht diese Vorgeschichte, sondern die Tatsache, dass das Lied mit dem Film zum unionsweiten, dann auch international bekannten Schlager und schließlich zu so etwas wie einer Moskau-Hymne wurde. Von diesem Stellenwert im kulturellen Gedächtnis der Stadt und auch des Landes kündet eine Gedenktafel, die man dem Haus anbrachte, in dem das Lied entstand. Ein zweites Moskau-Lied, das in diesem Zusammenhang genannt werden soll, ist Oleg Gazmanovs Popsong ›Moskva‹ (1996), der laut der russischen Wikipedia zur inoffiziellen Hymne der Stadt geworden ist. Gazmanov (geb. 1951), ein inzwischen mit höchsten Auszeichnungen geehrter Autor und Sänger aggressiv-patriotischer Lieder, ist auch ein Sprachrohr von Vladimir Putins Russland. Das Lied ›Moskva‹ besingt die glorreiche militärische Geschichte des Landes am Beispiel der Stadt und vollzieht im Refrain mit dem Hinweis auf die goldenen Kuppeln und dem Schlusssatz »Po zolotu ikon / Prochodit letopis’ vremën« (Durch das Gold der Ikonen zieht die Chronik der Zeiten vorüber) den Brückenschlag zur orthodoxen Kirche. Dass dieses Lied ein weithin akzeptiertes Moskauer und russisches Selbstbild widerspiegelt und tatsächlich eine kollektive identitätsstiftende Funktion zu erfüllen vermag, bestätigt seine Präsenz auf zahlreichen russischen Internetseiten und auch in YouTube.10 Die Vorstellung von Moskau als ideeller Heimat und Metapher für Russlands Pracht und Größe ist kein Phänomen der Gegenwart und der Popkultur. Modest Musorgskij reiste 1859 erstmals von Petersburg nach Moskau und berichtete Milij Balakirev, seinem Freund und Mentor, ausführlich seine Eindrücke  : Endlich ist es mir gelungen, Jericho zu sehen. Ich will Ihnen meine Eindrücke beschreiben. Schon wie ich mich Jericho näherte, fiel es mir auf, wie originell es ist. Die Glockentürme und Kirchenkuppeln riechen förmlich nach Altertum. Das Rote Tor ist ergötzlich und gefiel mir sehr  ; von dort bis zum Kreml fällt nichts Besonderes auf. Dafür aber der Kreml, der wunderbare Kreml  – ich näherte mich ihm unwillkürlich mit Ehrfurcht. Der Rote Platz, auf dem sich so viele bedeutsame Ereignisse abgespielt haben, verliert etwas an der linken Seite, vom Kaufhof her.11 Die

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Basilius-­Kathedrale und die Kremlmauer lassen indes diesen Mangel vergessen – das ist die heilige alte Zeit. Die Basilius-Kathedrale hat so anziehend und gleichzeitig so eigentümlich auf mich gewirkt, dass es mir schien, gleich würde ein Bojar in langem Kittel und hoher Pelzmütze vorbeigehen. Unter dem Erlösertor12 nahm ich den Hut ab, dieser Volksbrauch gefiel mir. Der neue Palast ist großartig. Von seinen Gemächern ist der schönste Raum der einstige Facettenpalast,13 wo unter anderem Nikon14 verurteilt worden ist. Die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale,15 die Kirche des Erlösers im Walde16 und die Erzengelkathedrale17  – das sind neben der Basilius-Kathedrale die Repräsentanten der Vergangenheit. In der Erzengelkathedrale besichtigte ich mir Ehrfurcht die Grabstätten  ; dabei befanden sich solche, vor denen ich mit Ehrfurcht verweilte, wie die von Iwan III., von Dmitri Donskoi, und sogar die der Romanows, – bei den letzteren dachte ich an das Leben für den Zaren und blieb daher unwillkürlich stehen. Ich kletterte auf den Glockenturm ›Iwan der Große‹,18 von dem man einen wunderbaren Rundblick auf Moskau hat. Vom Kreml­ palast aus bietet sich ein schöner Blick auf den jenseits der Moskwa gelegenen Teil der Stadt. Noch besser ist der Blick vom Fluss her auf den Kreml an dieser Stelle. […] Überhaupt hat Moskau mich in eine andere Welt versetzt  – in die Welt der Vergangenheit (eine zwar schmutzige, aber dennoch, ich weiß nicht, weshalb – mich angenehm berührende Welt) – und auf mich einen sehr angenehmen Eindruck gemacht. Wissen Sie, ich war Kosmopolit, und jetzt erlebe ich so etwas wie eine neue Geburt. Alles Russische wird mir vertraut, und es würde mich verdrießen, wenn man mit Russland gegenwärtig ohne viel Federlesen umspringen dürfte. Ich fange geradezu an, es zu lieben. Ach, ich vergaß noch  : in der Rüstkammer befindet sich eine riesengroße Karosse des Zaren Alexej Michailowitsch, die im Ausland angefertigt worden ist. Im Inneren ist auf dem eingebauten Sitz noch ein Sessel (eine Art porte-chaise) angebracht. Als ich hineinschaute, stellte ich mir die Gestalt des Zaren Alexej Michailowitsch vor, wie er den in der Ukraine entsandten Heerführern seine Befehle erteilt. (Musorgskij, 18f.)

Auf den ersten Blick ist dieser Brief ein Reisebericht, der den Adressaten an den Eindrücken teilhaben lassen soll. Zugleich aber gibt es eine Reihe von Hinweisen, wie Musorgskij Moskau »liest«  : Jericho – die alttestamentarische Stadt, deren Mauern der Bibel zufolge (Jos 6,4) durch das Blasen von Trompeten (Schofar) zum Einsturz gebracht wurden – verstand man im Kreis der Petersburger Komponisten als eine Metapher für Moskau, wobei die hohen Kreml’mauern zu der Assoziation beigetragen haben mögen. Moskau ist »originell«, Glockentürme und Kirchenkuppeln, die weithin sichtbaren Zeichen der orthodoxen Kirche »riechen nach Altertum« und evozieren eine »heilige alte Zeit«, die Mu-

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sorgskij beim Gang durch das »Rote Tor« (heute eine U-Bahn-Station), über den Roten Platz und schließlich in den Kreml’ durch seine Paläste und seine Kathedralen sinnlich erfährt. Dem Erlöserturm entbietet er, dem Volksbrauch folgend, einen Gruß mit entblößtem Haupt. Der junge Komponist erlebt hier Geschichte, die er bislang aus Schulbüchern kannte, in eigener Anschauung. Er verknüpft seine Wege, die Kirchen, Türme und Palasträume mit historischen Personen  – Ivan III., Dmitrij Donskoj, der Romanov-Dynastie, deren Grab­ stätten ihn erschauern lassen und die vielleicht in seiner regen Fantasie wieder zum Leben erstehen. Die leibhaftige Begegnung mit Moskau erfährt Musorgskij als das Lebendig-­ Werden der alten, nationalen und heroischen Geschichte, die es in Peters­burg in dieser Form nicht gibt. Der Eindruck ist so heftig, dass er sich »in eine andere Welt – in die Welt der Vergangenheit« versetzt sieht, die ihn ungeachtet ihrer Schmutzigkeit »angenehm« berührt. Diese Welt ergreift ihn so sehr, dass er ein nationales  – ja nationalistisches Bekenntnis anschließt  : Bislang sei er »Kosmopolit« gewesen, nun erlebt er eine »neue Geburt« und ist bereit, Russland zu lieben und für es zu kämpfen. Musorgskij war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 20 Jahre alt  ; der Brief ist an seinen Lehrer adressiert, dem er sicher auch eine Freude machen will. Ob aufrichtig empfunden oder für den Adressaten stilisiert – für den militärisch erzogenen Sprössling einer Großgrundbesitzerfamilie, der französisch sprach, eine durch und durch gepflegte Erscheinung war und vorzüglich Klavier spielte (bis in seine späten Jahre war er ein ausgezeichneter Pianist und Begleiter) – für diesen jungen Mann wird das leibhaftige Erlebnis von Moskau zu einer Erweckung. Fortan erarbeitet er sich einen musikalischen Stil, der diese »Welt der Vergangenheit« in ihrer Urwüchsigkeit und ihrem Russisch-Sein für die Gegenwart als Mahnung veranschaulicht. Der nationalistische Unterton dieses Jugend-Briefes findet in den Werken aber keine geradlinige Entsprechung. Die beiden historischen Opern von Musorgskij – Boris Godunov und Chovanščina – spielen im Zentrum Moskaus. Die hohen Kreml’mauern, der Erlöserturm, die Basilius-Kathedrale – auch die Kirchen und Paläste im Innern des Kreml’ – sind stumme Zeugen der historischen Tragödien  ; sie wissen von Boris Godunovs Verbrechen und der Wahrheit der Gottesnarren, von Ivan Chovanskijs Intrigen, vom Niedermetzeln der Strelitzen, vom Raskol, dem russischen Schisma, und der Selbstverbrennung der Altgläubigen. Als Zeugen der historischen Ereignisse legen die Gebäude für die Menschen der Gegenwart Zeugnis ab, sie sind gleichsam Speicher der kollektiven nationalen Erinnerung, und Moskau ist in diesem Zusammenhang eine Metapher für diese Gemengelage.

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So gesehen sind historische Opern, und für die beiden historischen Opern Musorgskijs gilt das mit Sicherheit, immer auch eine Vergegenwärtigung der Geschichte, einer Geschichte, die bei Musorgskij alles andere als heroisch ist. Kadja Grönke hat Moskau als Schauplatz von Opern eine detaillierte Studie gewidmet und die Eingangs- und Schlussszene aus Boris Godunov eingehend analysiert, indem sie Glockengeläut und Massenaufgebot der Krönungsszene mit dem Schlussbild, der leeren Bühne, auf der der Gottesnarr allein zurückbleibt, während das Volk dem falschen Demetrius nachläuft, als konträre Bilder gegenüberstellt (Grönke 2002, 33–36). Hier soll jene Szene genauer betrachtet werden, in der der Zar aus der Kirche tritt und auf den Gottesnarren trifft. Dieser beschuldigt den Zaren, den rechtmäßigen Thronfolger ermordet zu haben. Boris Godunov schützt ihn vor den eigenen Wachleuten und bittet ihn, für ihn zu beten. Die Antwort des Jurodivyj lautet  : »Für den König Herodes darf man nicht beten. Die Gottesmutter verbietet es«, und der Zar schweigt zu dieser Anschuldigung. Dies ist insofern eine Kernszene, als sie eine genuin russische Tradition zur Anschauung bringt  : In Fragen der Moral steht ein Narr in Christo über dem Zaren – der mächtige Boris, dem sich alle angstvoll unterordnen, schweigt zur Anschuldigung des Jurodivyj und bekennt sich damit indirekt des Mordes am Zarensohn schuldig. Die Inszenierung dieser Begegnung hat auf russischen Bühnen eine lange Tradition, die auch in sowjetischen Zeiten überlebt hat und die das im Westen längst etablierte Regie-Theater ablehnt. Charakteristisch ist die Überzeugung, dass historische Authentizität auf der Bühne angestrebt, wenn nicht gar erreicht werden kann  : Die Kirche, aus der der Zar tritt, ist die Basilius Kathdrale  ; entsprechende Bühnenbauten und Drapierungen deuten die Konturen dieser Kathedrale an. Der Jurodivyj ist üblicherweise der Figur aus Vasilij Surikovs Gemälde Die Bojarin Morozova (Bojarina Morozova, 1887) nachgebildet, die als Altgläubige in die Verbannung geschickt wird und die zum Zeichen ihres alten Glaubens zwei Finger zum Kreuz erhebt, genauso wie der in Lumpen gekleidete und freiwillig eine Eisenkette tragende, mit einem kleinen Tellerchen um Geld bettelnde Gottesnarr.19 In Inszenierungen dieser Art konserviert sich der Blick, den Künstler des 19. Jahrhunderts, also auch Musorgskij selbst, auf die Geschichte hatten. Zahllose szenische Werke mit Musik haben Moskau als Schauplatz – das beginnt mit den Werken, die den Sieg über Napoleon in Szene setzten wie etwa eine Klavierfantasie mit dem Titel Der Brand Moskaus (Sožženie Moskvy), verfasst von dem aus Berlin stammenden Komponisten Daniel Steibelt (1813),20 es gilt für einen Ivan Susanin mit gesprochenen Dialogen, vertont von dem

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gebürtigen Italiener Catarino Cavos (1815), die Tradition geht weiter über Glinkas Leben für den Zaren, die genannten historischen Opern von Musorgskij, ebenso Čajkovskijs Opričnik (1874), Anton Rubinštejns Kaufmann Kalašnikov (Kupec Kalašnikov, 1880) und Rimskij-Korsakovs Zarenbraut (Carskaja nevesta, 1899), bis hin zu sowjetischen Opern, die die Zerstörung des Landes durch Hitlers Wehrmacht am Beispiel Moskaus veranschaulichen, wie Dmitrij Kabalevskijs Im Feuer – Bei Moskau (V ogne – Pod Moskvoj, 1942) und Sergej Prokof ’evs große Oper Krieg und Frieden (Vojna i mir, 1941/42, überarbeitet 1946–1953) nach Lev Tolstojs Roman über Napoleons Russlandfeldzug, bis hin zu Andrej Petrovs Oper Peter der Erste (Pëtr Pervyj, 1975) mit der extravaganten Gattungsbezeichnung »Musikalisch-dramatische Fresken«, bis hin auch zu Dmitrij Šostakovičs Moskau, Čerëmuški (Moskva, Čerëmuški, 1958), einer Operette über Chruščëvs Wohnungsbauprogramm, aus dem die kleinen, uniform gestalteten und in Rekordzeit aufgebauten Plattenbau-Siedlungen stammen, ein Wohnungsmodell, das im Volksmund bis heute als chruščëvka oder – negativ akzentuiert – als chruščëba bezeichnet wird. Stefan Weiß hat dieser Operette und der in ihr inszenierten Moskauer Lebenswelt eine überaus erhellende Studie gewidmet (Weiß, 161–188). Einen Gang durch Moskau, wie Musorgskij ihn Balakirev gegenüber als patriotisches Erweckungserlebnis geschildert hat, inszenierte Leo Arnštam 1944 in seinem Propaganda-Film Zoja. Die junge Zoja Kosmodemjanskaja, die 1941 als Partisanin von den Deutschen brutal gefoltert und hingerichtet wurde, ist Gegenstand des Films. Natürlich ist der Film nicht an Fakten interessiert, sondern daran, die junge Frau zu verklären. Ihr ganzer Lebensweg wird im Lichte ihrer Bestimmung gezeigt, sich der Sache des Volkes zu opfern. Diese teleologische Perspektive ist so stark ausgebaut, dass die junge Zoja als profane, im atheistischen und kommunistischen Glauben erzogene weibliche Christusgestalt erscheint. Sogar die Versammlungen der Partisanen, bevor sie zu ihren Sabotageakten ausschwärmen, sind den Versammlungen von Christus und seinen Jüngern nachempfunden. Die Musik, die Dmitrij Šostakovič zu dem Film geschrieben hat, unterstützt diese suggestive Perspektive nachdrücklich. Bevor Zoja in den Krieg ziehen muss, spricht sie mit ihrem Freund über die hohen Ziele ihrer Generation, ihren Plan, Lehrerin zu werden, von der moralischen Pflicht gegenüber der Heimat. Das junge Paar sitzt in einer Parklandschaft auf den Sperlingsbergen, damit wird zugleich klar, dass sie Studenten sind oder sein werden  ; die Landschaft lässt außerdem den Garten Gethsemane assoziieren. Dann gehen die beiden durch die Stadt – entlang der Kreml’mauer, zum Fluss, auf dem man

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industrielle Aktivität sieht, mit Blick auf neue Bauten und Hochhäuser  – alles Insignien der schönen neuen sowjetischen Welt, von der Zoja zuvor gesprochen hatte. Mit dem Erreichen des historischen Museums treten sie auf den sonnenbeschienenen Roten Platz hinaus. Der Zuschauer sieht mit ihnen das Museum, der Blick weitet Abb. 5. Szene aus Leo Arnštams Zoja (1944) in der das sich auf die Kreml’mauer, dann wird Paar zu Šostakovičs Zitat von Glinkas Finale auf den Roten er weitergelenkt auf den Turm der Platz tritt. Basilius-Kathedrale und das Standbild für Minin und Požarskij, das an die Niederschlagung der polnischen Invasion 1612 erinnert. Die Einstellung verweilt lange auf den beiden und auf der Uhr der Basilius-Kathedrale, bevor nationalsozialistische Kampfflugzeuge diese heile Welt zerstören.21 Šostakovičs Musik zu der Szene beginnt in allerhöchster Lage mit Streichern, die Zojas Leitmotiv anklingen lassen. Das geht über in einen Orchestersatz, der den weiten Gang der beiden begleitet. Hier sind Zojas Leitmotiv und die Melodie aus dem Finale von Glinkas Leben für den Zaren dezent ineinander verflochten. Diese Oper war im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem nationalen Repräsentationswerk ersten Rangs avanciert und wurde bevorzugt zu feierlichen Anlässen von nationaler Bedeutung aufgeführt, denn der Schlusschor »Slavsja, slavsja, naš Russkij Car’‹  !« fungierte als inoffizielle Zarenhymne. Mit Beginn der Sowjetmacht verschwand diese Oper von den Bühnen, rückte aber im Zuge von Stalins Sowjetpatriotismus wieder ins Bewusstsein und erhielt 1939 von Sergej Gorodeckij, dem einstigen symbolistischen Dichter, ein neues Libretto ohne royalistische Bezüge.22 Den Titel änderte er in Ivan Susanin, und damit rückt der Bauer ins Zentrum, der die polnischen Aggressoren in die Irre führte, wohl wissend, dass er dabei den Tod findet. Zur Hauptsache wird hier also die heroische und geschichtsbewusste Tat des Susanin, nicht die Rettung des jungen Michail Fëdorovič, der die Romanov-Dynastie begründete. Die Rolle des zukünftigen Zaren23 wird in diesem Libretto Kuz’ma Minin zugewiesen, einem Novgoroder Kaufmann, der eine Bürgerwehr gegen die Usurpatoren aus Polen aufbaute. Mit Gorodeckijs Text konnte aus Glinkas Zaren-Hymnus ein patriotischer Hymnus für sowjetische Festlichkeiten werden. In dieser sowjetisierten Gestalt war er den Zuschauern von Arnštams Film über Zoja Kosmodemjanskaja vertraut  ; viele von ihnen werden die Melodie

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auch in ihrer noch nicht expliziten Vorform erkannt haben. Šostakovič lässt das Zitat erstmals in dem Moment anklingen, wenn die Kamera die Kreml’­ türme von weitem zeigt. Je mehr sich Zoja und ihr Freund dem Roten Platz nähern, umso klarer zitiert Šostakovič Glinkas Melodie, indem er daraus einen klanglich mächtigen symphonischen Orchestersatz macht. Die Musik erreicht ihren Höhepunkt mit dem Kamera-Schwenk auf Minin und Požarskij  ; dabei ist die Perspektive so gewählt, dass die beiden Figuren und die Kathedrale eine Einheit bilden, die noch durch einen Blick auf den Erlöserturm ergänzt wird. In dieser Einheit, so legt die Kameraführung nahe, ruht die Vergangenheit des Volkes  ; zugleich suggeriert sie Kampfbereitschaft und geistigen Trost und ruft pars pro toto die große russische Geschichte in ihrer Gesamtheit wach. Die Blickrichtung von unten lässt Minins ausgestreckten Arm wie eine schützende Geste erscheinen. Die beiden jungen Leute sind in diesem Bild in ihrer Geschichte aufgehoben  ; insbesondere Zoja, der der gleiche Weg beschieden ist, den Ivan Susanin einst ging und an den das Denkmal für Minin und Požarskij erinnert, erscheint auf diese Weise in der Geschichte, im Volk, in der Tradition, in der Nation geborgen und wohl aufgehoben. Die Bilderfolge sagt auch  : Zojas Selbstopfer wird einen vergleichbaren Stellenwert im nationalen Bewusstsein erlangen wie das des Ivan Susanin. Die Konnotation Zoja Kosmodemjanskaja – Ivan Susanin wird in dem Film vor allem durch Šostakovičs subtilen Einsatz von Glinkas Hymne erreicht.

Fazit und Nachbemerkung

Moskau stand im Schatten Petersburgs, solange der Hof dort seinen Sitz hatte. Dessen ungeachtet hat sich in Moskau ein eigenes musikalisches Profil herausgebildet, wie an der Entwicklung des Konservatoriums abzulesen ist. Zu zeigen wäre dies ebenso am privaten Operntheater Savva Mamontovs, eines Kunstmäzens, der durch Eisenbahnbau reich geworden war, oder an der Moskauer Musikwissenschaft, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit wissenschaftlichen Editionen profilierte und mit Übersetzungen westlicher Schriften zum internationalen Dialog beitrug. Ein spezielles Augenmerk hätte die Moskauer Synodalschule verdient, die vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die sowje­ tische Zeit eine weit über die Landesgrenzen hinausstrahlende Blüte erlebte.24 Topographische Aspekte werden in musikalischen Werken im Zusammenspiel von Notentext und Libretto beziehungsweise Liedtext und Inszenierung greifbar. Dieses Zusammenspiel dient, wie die hier exemplarisch herausgegrif-

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fen Werke zeigen, einem Gemenge aus patriotischen, nationalen und machtpolitischen Botschaften. Es wird deutlich, dass eine Stadt, ein Ensemble von Bauten – sakralen wie hier die Basilius-Kathedrale, memorialen wie hier das Denkmal für Minin und Požarskij, historischen wie hier der Kreml’ und seine Mauern, und profanen wie im Film die Insignien des sowjetischen Fortschritts  – dass ein solches Ensemble mit anderen Künsten, mit Musik, Text, Szene und Bild in eine sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkung tritt. Der aufmerksame Blick in die umgebende Topographie kann also eine Bereicherung für die Musikwissenschaft, die Literaturwissenschaft und die Kunstgeschichte bedeuten. Welch ein herausragender national-patriotischer Stellenwert dem Ensemble aus Geschichte, Denkmal und Musik in der Gegenwart zugeschrieben wird, erhellen folgende Fakten  : Das Denkmal für Minin und Požarskij, das den Sieg über Polen 1612 in Erinnerung hält, wurde im Lichte des Sieges über Napoleon 1812 konzipiert (Enthüllung 1818)  ; Glinkas jubelndes Finale gehört auch heute noch zu den offiziellen Festmusiken. 2004 hat man den 200. Geburtstag des Komponisten mit einem Ensemble aus Gedenkbriefmarken gefeiert – mit Glinkas Porträt, dem Anfang des Hymnus in Noten und signifikanten Szenenbildern aus dem Leben für den Zaren und Ruslan und Ljudmila.25 2005 hat die Regierung Putin den »Tag der Volkseinheit« (Den’ narodnogo edinstva) installiert. Er wird am 4. November gefeiert an Stelle der sowjetischen Feiern zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Gedacht werden soll der Einheit, die 1612 durch Minin und Požarskij errungen wurde. 2005 enthüllte man in Nižnij Novgorod, von wo Minin und Požarskij stammten, im Beisein des Oberhaupts der Kirche ein neues Denkmal für die beiden  ; am Moskauer Minin-Požarskij-Denkmal legte Putin Blumen nieder. Anmerkungen 1 Vgl. dazu z. B. Coy 1978, Boydn 1992 und die umfangreiche Notenausgabe von Constant Pierre 1899. 2 Vgl. etwa Baumont 2007  ; Plunger und Hidemark 1993  ; Leopold und Pelker 2004. 3 Vgl. etwa Kaden 2002  ;. Weiss und Schebera 2006. 4 Zum Beispiel Dmitrij Šostakovič Die Nase (Nos), Oper UA 1930  ; Jurij Bucko Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen (Zapiski sumasšedšego), Monolog-Oper UA 1964  ; Aleksandr Cholminov Der Mantel (Šinel’) und Die Kutsche (Koljaska), einaktige Opern UA 1975  ; Mieczysław Weinberg (Moishei Vainberg) Das Porträt (Portret), Oper UA 1980. 5 Der Meister und Margarita (Master i Margarita)  : Kammeroper von Sergej Slonimskij (vollendet 1972, UA 1989), Ballett von Andrej Petrov (UA 1987), Musical von Valentin Ovsjannikov

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(UA 2003), Musical unter dem Titel Eine Handschrift des Meisters (Rukopis’ Mastera) von Andrej Pronin (UA 2010).   6 Karl Schlögel geht in seinem Buch Moskau lesen, Neuauflage München 2011, allen erdenklichen Aspekten nach, die diese Stadt charakterisieren – ihre Bauten, Institutionen und Gedenkstädten ebenso wie die in ihr beheimateten Künste.   7 Vgl. den Beitrag von Dietmar Neutatz in diesem Band.   8 Webers Freischütz (Berlin 1821), der als die deutsche Nationaloper gilt, ist ein Singspiel mit gesprochenen Dialogen.   9 Der genaue Titel des Dokumentationsfilms lautet V dni Spartakiady (Spartakiada narodov, SSSR 1956), Musik von Solov’ëv-Sedoj, Texte von Boris Laksin und Matusovskij. 10 Das Lied selbst findet sich unter http://www.youtube.com/watch?v=PSAgNXoRLSY (25.9. 2013). 11 Gemeint ist das GUM, nach dem großem Brand 1812 wieder aufgebaut von Joseph Bové. 12 Eingang zum Kreml’ durch den Erlöserturm (Spasskaja bašnja). 13 Der Facetten-Palast (Granitovaja palata) ist der älteste Profanbau Moskaus, 1491 unter Ivan III. abgeschlossen. 14 Gemeint ist Patriarch Nikon (1605–1681), Reformator der orthodoxen Kirche  ; seine Reform führte zur Abspaltung der Altgläubigen. 15 Gemeint ist der Uspenskij sobor. 16 Gemeint ist Sobor Spasa (Preobražanija) na Boru (errichtet 1330). 17 Archangel’skij sobor. 18 Kolokol’nja »Ivan Velikij«, Turm der Erzengelkathedrale  ; die Turmspitze entstand unter Boris Godunov. 19 Exemplarisch für diese Inszenierungstradition siehe die Szene in einer Moskauer Inszenierung von 1978 unter der Leitung von Boris Čajkin, mit Evgenij Nesterenko als Boris Godunov und Aleksej Maslennikov als Gottesnarr (www.youtube.com/watch  ?v=iDxwSm1EfI8  ; 25.9.2013). 20 Weitere Werke dieser Art sind  : Lied der russischen Krieger in Frankreichs (Pesn’ russkich voinov v predelach Francii) von Stepan Davidov und ein Patriotisches Konzert, veranstaltet von Daniil Kašin (beides 1814 in Moskau)  ; auch Bühnenwerke gehören dazu wie etwa das »Divertissement« Das Fest der Russen, oder Biwak unter dem Roten (Siegesfest) (Toržestvo rossijan, ili Bivak pod Krasnym [Toržestvo pobedy]) von mehreren Autoren, 1816 in Moskau aufgeführt. 21 Der Film findet sich in YouTube unter www.youtube.com/watch  ?v=zCiiqPuJeyY, die Szene mit Glinkas Schlusschor etwa nach einer Stunde. 22 Dazu ausführlich Gaub 2003, 101–134. 23 Er tritt nicht auf  ; denn es war bis an das Ende der zaristischen Zeit Regel, dass Mitglieder der Romanov-Dynastie nicht auf der Bühne gezeigt werden dürfen. 24 Die Öffnung nach Westen, die sich um die Wende zum 20. Jahrhundert vollzog, hat Karl Schögel im Kapitel »Wilder Boom« am Beispiel des Einflusses des Jugendstils auf die Architektur eindrücklich geschildert (Schlögel 2011, 53ff.). 25 S. http://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Russia_stamp_M.Glinka_2004_4x4r.jpg?uselang=ru (25.9.2013).

Barbara Schellewald

Matisse in Moskau Die Geschichte einer Begegnung »[…] il faut venir ici pour s’instruire« (Henri Matisse)

Die Reise nach Moskau

Im Jahre 1911 reist Henri Matisse in Begleitung seines Sammlers Sergej Ščukin (1854–1936) nach Moskau.1 Es ist seine erste Reise in ein ihm unbekanntes Terrain. Es gilt jedoch, den zeitlichen wie auch personellen Kontext dieser Reise zu erfassen, um zu erkennen, inwieweit Matisse mental längst disponiert war, um aus dieser Reise für die eigene Arbeit mehr als Abb. 1. Henri Matisse, »Portrait de Sarah Stein« (1916). bloße Eindrücke zu gewinnen. Die Begegnung mit dem Sammler Ščukin geht bis in den Herbst 1906 zurück, in dem dieser Matisse in seinem Pariser Atelier besuchte (Kostenewitsch 1993, 65). Ščukin entstammte einer erfolgreichen Tuchhändlerfamilie, deren Mitglieder sich als Kunstsammler mit unterschiedlichen Schwerpunkten auszeichneten. Seit 1909 war Pëtr Ščukins Sammlung auch für ein Publikum zugänglich, bis 1911 enthielt sie schon etliche Werke von Matisse. Die beiden großformatigen Bilder »Danse« und »Musique« schmückten das Treppenhaus des Moskauer Palais seit Dezember 1910.2 Die umfassende Sammlung muss betont werden, da Matisse in Paris mit seinen Bildern nicht nur auf eine positive Resonanz stieß. Ganz im Gegenteil waren seine Arbeiten im Herbst 1910 gerade skandalisiert worden.3 Die Reise nach Russland dürfte ihm allerdings in mehrfacher Hinsicht willkommen gewesen sein. Seine Bilder wurden auch von Michail Morozov (1867–1903) geschätzt, ein erster Ankauf erfolgte 1907.4

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Im Vorfeld seiner Moskauer Reise war Matisse 1910 wie viele seiner Künstlerkollegen aus aller Herren Länder nach München zu der umfangreichen Ausstellung »Meisterwerke muhammedanischer Kunst« gepilgert, deren Bedeutung in der Forschung längst diskutiert ist.5 Die, wie Troelenberg zu Recht formulierte, »unhistorische und unethnografische Präsentation« war in gewisser Hinsicht eine optimale Voraussetzung, diese Objekte für die eigene künstlerische Arbeit zu rezipieren. Während die Gegenstände einer anderen Kultur dort ohne ihren ursprünglichen Kontext präsentiert worden waren, ergreift Matisse auf seiner Russlandreise die Chance, nicht allein Sammlungen, sondern gerade die authentischen Orte der Objekte aufzusuchen. Der Verlust ihres liturgischen oder extraliturgischen Bezugsfeldes ist Matisse offenkundig bewusst gewesen. Denn auch die Ikonen in der Tret’jakov-Galerie waren auf ihren neuen Bestimmungsort zugerichtet worden, da sie z. B. ihrer Verkleidungen entlehnt worden sind. Sie waren längst zum Bestandteil eines ästhetischen Diskurses avanciert. Sankt Petersburg wurde auf der Reise nur kurz gestreift, die Eremitage war geschlossen. In Moskau hingegen kam Matisse unmittelbar mit einer Ikonensammlung in Kontakt, als er den ersten Abend bei Il’ja Ostrouchov (1858–1929) verbrachte, der von 1905–13 die Tret’jakov-Galerie leitete. Ikonen als Kunstobjekte in Augenschein zu nehmen, hatte freilich auch in Russland noch keine lange Tradition, Ostrouchov, der seit 1902 sammelte, zählt zu den Pionieren (Labrusse 2007, 64). Ihm verdankt Matisse auch das Geschenk einer Publikation des renommierten Kunsthistorikers Nikodim P. Kondakov, dessen grundlegende Studien zur byzantinischen Kunst umfassend rezipiert worden sind. Der erste Eindruck von den Ikonen scheint nachhaltig gewesen zu sein  ; die Quellen berichten über eine folgenreiche, schlaflose Nacht (Sémionova 1993, 24). Auch in den nächsten Tagen sollten weitere Sammlungen diesen Eindruck verstärken. So verzeichnete die Sammlung von Pavel Charitonenko eine Vielzahl Novgorodoer Ikonen des 15. und 16. Jahrhunderts.6 Für den 23. Oktober hatte Ostrouchov unter anderem das Tagesprogramm für Matisse mit einem Besuch der Kathedrale des Kreml’ wie auch der Sakristei des Patriarchats vorgesehen. Besonders dürfte auch der Besuch zum Tee bei der Familie der Botkins gewesen sein.7 Der Petersburger Michail Petrovič Botkin (1839–1914) hatte in diesem Jahr seine langjährig zusammengetragene Sammlung von »byzantinischen« Emails in einer großformatigen Publikation vorgestellt (Botkin 1911).8 Ob Matisse dieses Mappenwerk kannte, muss an dieser Stelle offenbleiben. Emails waren Matisse jedoch längst aus anderen Sammlungen bekannt. Es war nicht zuletzt deren besondere Materialität, die ihn faszinierte.

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Mit welchem Enthusiasmus sich Matisse dieser Kultur annäherte, äußert sich in den Interviews, die er mit der dortigen Presse führte  : Les Russes ne soupçonnent même pas de quels trésors artistiques ils disposent. Je connais l’art religieux de plusieurs pays, mais nulle part je n’ai vue une telle révélation du sentiment mystique, parfois même de l’effroi religieux […] (Sémionova 1993, 25)9

Matisse’ meistzitierte Aussage bezogen auf die Moskau-Reise ist jedoch fraglos jene  : Les icônes, quant à elles, sont un échantillon des plus intéressants de la peinture primitive […]. Il faut venir ici pour s’instruire, car c’est chez les primitifs qu’il convient de chercher l’inspiration. (ebd., 26)

Neben privaten Sammlungen war es die Tret’jakov-Galerie, in der sich Matisse ausschließlich Zeit für die ausgestellten Ikonen nahm.10 Nur für ihn wurden Vitrinen geöffnet, damit er diese aus der Nähe inspizieren konnte. Großformatigere Objekte, wie etwa Deesis-Ikonen, konnte er hingegen zum Beispiel an der Ikonostase der Uspenskij-Kathedrale studieren. Am 10. November verließ der Künstler Moskau, nicht ohne Souvenirs in seinem Gepäck  : Photoalben mit Ikonen und zwei Ikonen.11 Zwei Phänomene sollen an dieser Stelle festgehalten werden  : Da ist zum einen die grundsätzliche Tatsache, dass Matisse zu einem Zeitpunkt in Moskau war, als die orthodoxe Bildkultur in eine ästhetische und kulturhistorische Wahrnehmung rückte, sie in Sammlungen aufgenommen wird und ihre Gegenstände zu Ausstellungsobjekten werden. Zum anderen jedoch gab es nach wie vor die Chance, die Objekte in ihrem originären rituellen Kontext aufzusuchen. Soweit es die Informationen zu der Reise von Matisse zulassen, hat ihn gerade letzteres Phänomen fasziniert. Zeitgenössische Bildproduktion lag nicht in seinem Fokus. Es steht jedoch außer Frage, dass just in dieser Zeit eine Reihe russischer Künstler der Avantgarde ebenso die Vergangenheit zum Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung machten, und der Ikone wächst hier eine besondere Relevanz zu. Namen wie Natal’ja Gončarova, Kazimir Malevič, aber auch Vladimir Tatlin sollen stellvertretend genannt sein.12 Inwiefern Matisse von derartigen Tendenzen Notiz genommen hat, ist bislang nicht bekannt.

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Die Konditionierung des Blicks  : Begegnungen mit byzantinischer oder russischer Kunst

Schon 1907 war Matisse nach Ravenna und Venedig gereist (Labrusse 2007, 75). Im Austausch mit Ščukin erfuhr diese Reise eine Aktualisierung. Im September 1911 ist von der Idee einer gemeinsamen Italienreise die Rede, wobei Mosaiken und Wanddekorationen Erwähnung finden (Kosténévich/Sémionova 1993, 170).13 Nach heutiger Einschätzung sind es unterschiedliche Phasen, in denen Matisse ein deutlicheres Interesse für die Kunst der Vergangenheit, und hier auch für Byzanz hegte.14 Im Vorfeld der Moskauer Reise dürften es vermutlich zwei Personen sein, denen eine direkte vermittelnde Rolle zuwächst  : Matthew Stewart Prichard (1865–1936) und Thomas Whittemore (1871–1950). Der englische Museumskurator und Byzanz-Interessierte Prichard ließ sich nach ­einem längeren Boston-Aufenthalt 1908 in Paris nieder und verkehrte dort in Künstlerkreisen, ab 1909 kannte er Matisse durch Sarah und Michael Stein. Zu Prichards unmittelbaren Gesprächspartnern zählte auch Roger Fry, einer der zentralen Künstler, Kunstkritiker und führender Kopf der Bloomsbury-Group. Mit diesem besuchte er 1908 den Louvre (Nelson 2004, 161). Ab diesem Jahr hat Fry an verschiedensten Stellen das Verhältnis zwischen (s)einer Moderne und der Kunst der Vergangenheit reflektiert. Der Rekurs auf Vergangenheit ist dabei durch höchst unterschiedliche Facetten bestimmt. Vorausgegangen waren bei ihm erste Überlegungen während einer Italienreise 1891, die ihn nach Rom, aber auch nach Ravenna führte.15 In den folgenden Jahren, 1894 und 1897, sollten weitere Reisen seine Kenntnisse der Monumente maßgeblich erweitern. Im Kontrast zu einer historistischen Perspektive werden die in seinen Schriften ins Auge gefassten Beispiele von Kunst der Vergangenheit (Byzanz) nicht als potentielle Vorbilder im strengen Sinne diskutiert, sondern sie dienen unter anderem als Legitimation eigener Konzeptualisierungen zeitgenössischer Kunstproduktion. Dabei kann und soll grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass eben aus diesem Studium Anregungen erwachsen, die durch ­einen komplexen Prozess in ein genuin »Anderes« überführt werden. Die Frage nach der Funktion dieses Fluchtraumes »Byzanz« wäre freilich in eine umfassendere Untersuchung einzubetten. Eine direkte Verbindung zwischen der Gegenwartskunst und der byzantinischen Kultur stand zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht zur Disposition. Erst im Vorfeld der von Fry initiierten Ausstellung der französischen »Post-Impressionisten« sollte sich dies geradezu schlagartig ändern.16 In seinem 1908 im Burlington Magazine veröffentlichten

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Aufsatz zur letzten Phase des Impressionismus konstatiert Fry, etwas Analoges habe schon zuvor in römischer Zeit existiert und sei durch eine ähnliche Bewegung wie diejenige des Neo-Impressionismus abgelöst worden  : »we may call it for convenience Byzantium« (Fry 1996 [1908], 73). Was hier allerdings mit dem Schlagwort »Byzantium« gezeichnet wird, erweist sich im folgenden Satz als ein römisches Mosaik, S.  Maria Maggiore, für das er auf die Studie von Richter und Taylor (1904) verweist.17 Fry sucht in der Beobachtung historischer Prozesse, Legitimationsstrategien für die zeitgenössische Kunst zu gewinnen. »Byzantinism« ist seiner Auffassung gerade nicht das Ergebnis eines Verlustes technischer Versiertheit. Im Osten habe es diesen Verlust gar nie gegeben, »nothing could surpass the perfection of some Byzantine craftsmanship.« (Fry 1996 [1908], 73). Festzuhalten bleibt, dass Fry unter »Byzantinism« erst einmal ästhetische formale Prinzipien subsumiert, ohne diese präzise historisch zu konturieren. »Modernismus«, so formuliert Christopher Reed, wird als eine Form des Byzantinismus imaginiert (Reed 2004, 71). Frys Position an dieser Stelle kurz zu charakterisieren, ist von doppelter Relevanz. Zum einen war sein Engagement für Matisse in England groß, zum anderen war er derjenige, der die Relation zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit theoretisch zu fassen suchte. Sein Freund Prichard hingegen hat sich durchaus intensiv mit Byzanz auseinandergesetzt, scheute jedoch eine explizite Publikation seiner Position. Einzig in Briefen oder später als »Ghostwriter« vermögen wir seine Stimme zu identifizieren. In einem Brief schreibt er  : I look at an object of Byzantine art with affection. As a student of art I am pleased by its evocative character. The action which suggests Christianity under the guise of love and not of dogma appeals to me also. But there is no justification for me to possess it. Our action-to-day must find other symbols and we must remember that our psychology has changed […]. We cannot react to Byzantine art as did the Byzantine. We feel the slight psychological insufficiency of its constitution as well as our estrangement from its meaning. Art must always be modern. (Zitiert bei Peers 2010, 92  ; Labrusse 1999, 104–5)18

Während Fry den Blick auf die Vergangenheit nutzt, um die eigene Zeitgenossenschaft zu konturieren, betont Prichard erst einmal die zeitliche Distanz, die eine unmittelbare Rezeption hindert. Zugleich wird damit ein Blick legitimiert, der auf den Bedürfnissen der eigenen Zeit ruht und damit in der Rezeption substantielle Transformationsprozesse erfordert.

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We are beginning to learn that a relation exists between one aspect of this modern movement and the spirit that endowed the world with Byzantine architecture, Byzantine music and ceremony  […] On the threshold of a new art, of a new vision, perhaps indeed of a new action and understanding of life, we are encouraged to enter undaunted into the temple of the future with the knowledge that we are following the footsteps of inspired explorers. (Zitiert bei Nelson 2004, 169)

Ebenfalls mit Prichard befreundet ist der Amerikaner Thomas Whittemore, dessen Lebenslauf ihn auf verschiedensten Ebenen immer wieder mit Matisse in Verbindung bringt.19 Whittemore bewegte sich nicht nur in französischen Künstlerkreisen, sondern spielte ebenso in zahlreichen Hilfsprojekten (russische Flüchtlingshilfe) eine tragende Rolle (Nelson 2004, 165).20 Byzanz und deren Kunst stand ebenso in seinem Interesse.21 Es war die Empfehlung von Matisse, die Whittemore auf seiner Reise nach Moskau 1908 in einzelne Privatsammlungen führte, vor allem diejenige von Sergej Ščukin. Im Dezember diesen Jahres ist er in Berlin, flaniert begeistert durch die erste Matisse-Ausstellung bei Cassirer und schickt dem Künstler Matisse einen mit einem roten Band umwickelten Lorbeerkranz, der den Empfänger jedoch eher beschämt  : »Enfin pourtant, je ne suis pas encore mort«.22

Spuren eines Aufenthaltes – Moskau und Matisse

Es sind nicht mehr als Spuren, die sich in dem nachfolgenden Œuvre von Matisse ausmachen lassen. Ein von Ostrouchov angeregtes Projekt für einen von Matisse verfassten Artikel zu Ikonen ist nicht zustande gekommen.23 Matisse hat ganz augenscheinlich für seine eigenen Arbeiten spezifische Bildkonzepte als attraktiv angesehen, ohne diese gleichsam allzu offensiv als aus einer anderen kulturellen Herkunft stammend zu markieren. So missverständlich der Begriff Einfluss wäre, so unschlüssig mag man sich gelegentlich sein, überhaupt einen unmittelbaren Widerhall zu identifizieren. Die Kennzeichen byzantinischer / russischer Kunst, wie sie im Umkreis von Matisse formuliert worden sind, korrelieren auffällig mit Charakteristika, die für die Arbeiten von Matisse in Anspruch genommen werden. Die Kunst der Vergangenheit wird für diejenige der Gegenwart zum Legitimationsfaktor.24 Ein erstes Bild allerdings drängt sich in mehrfacher Hinsicht auf, um diese Referenz zu überprüfen  : »La conversation« (Abb. 2) wird im Dezember 1911 von Ščukin kommentiert, 1912 wird es auf der von Fry initiierten zweiten

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Abb. 2. Henri Matisse, »La Conversation« (1909[?]–1912).

Post-Impressionismus Ausstellung in der Londoner Galerie Grafton präsentiert (Kosténévich/Sémionova 1993, 119–123).25 1913 kommt es schließlich in die Moskauer Sammlung. Es zeigt vor einem intensiven blauen Hintergrund das Ehepaar Matisse. Er steht seitwärts, die Hände in den Taschen seines Schlafanzugs verborgen, sie hingegen sitzt ihm gegenüber in einem Sessel. Zwischen ihnen bietet ein Fenster den Blick in einen parkähnlichen Garten, blaue Büsche sind mit roten »Früchten« besetzt. Der russische Sammler merkt nicht von ungefähr über dieses Bild an  : Je pense beaucoup à votre tableau […], je le trouve comme une émaille byzantine, tellement riche et profond de couleur. C’est un des plus beaux tableaux qui reste maintenant dans ma mémoire. (22.08.1912, zitiert bei Kosténévich/Sémionova 1993, 172)

Prichard hatte angesichts der großformatigen, aus Goldemails gefertigten Pala d’Oro in San Marco, Venedig, (Abb. 3) einen begeisterten Brief an Isabella

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Steward Gardner geschrieben. Die Stimmen weiterer Künstler und Theoretiker fügen sich in die Reihe der Begeisterten (Prichard bei Labrusse 2007, 166). Auch der Londoner Aussteller Fry setzt sich just in diesem Jahr intensiver mit byzantinischen Emails auseinander. Höchst aufmerksam studiert er eine Reihe von Objekten, anhand derer er seine Vorstellung des Byzantinischen in Hinblick auf die eigene Kunst überprüft (Fry 1912, 290–294). Das Repetitive dieser Kunst, das Schematische ist nicht Verlust, sondern gleichsam Zuwachs an Stärke  : More and more the general idea of these type-characters of the Virgin and the Apostles had to be condensed, intensified and purified of all that was superfluous and redundant in order that they might admit of perfect execution within the hard limits of the material. […] It is only now, when we have begun to learn the meaning of pure design, the effectiveness for the imagination of certain abstract relations of form and colour, that we are prepared to see how complete and definite these figures are. […] all these are fixed in lines of unrelenting certainty and by an art of drawing which the greatest of modern masters might envy. (Fry 1912, 293)

Abb. 3. Salomon. Venedig, San Marco, Pala d’Oro (11. Jh.).

Das auf Emails gerichtete Augenmerk mag jedoch in einem ganz grundsätzlichen Sinn keinem Zufall geschuldet sein. Die Bilder von Gauguin und anderen Künstlern, die von Fry in London präsentiert wurden, waren schon zuvor mit den ästhetischen Prinzipien des Emails in Verbindung gebracht worden. Unmittelbaren Niederschlag findet dies in dem Terminus »cloisonisme«, der auf einen Aufsatz von Edouard Dujardin zu den Arbeiten von Louis Anquetin zurückgeht.26 Der Bezug auf Emails, der dabei auf die ausgeprägten Konturlinien zurückgeführt wird, steht in der französischen Malerei allerdings direkt mit dem Japonismus in Zusammenhang, rekurriert also nicht primär auf byzantinische Emails. Fry dürften die das Erscheinungsbild der Emails mitbe-

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stimmenden Stege, die die einzelnen Farben umgrenzen, besonders fasziniert haben. Darüber hinaus gewinnt die nicht geschlossene Oberfläche erst im Wandel des Lichtes ihre eigene Qualität. Auch für Matisse dürften die klar umgrenzten Farben von Interesse gewesen. Ins Auge fällt jedoch vor allem die außerordentliche Leuchtkraft der von ihm verwendeten Farben  ; ihre Intensität nähert sich der Farbpalette byzantinischer Emails an.27 Erwähnt werden sollen auch die blauen mit roten Tupfern besetzten Büsche, deren Ausgestaltung der Ornamentik byzantinischer Emails nahekommt. Matisse dürfte ebenfalls die Pala d’Oro Abb. 4. Henri Matisse , »Portrait de Yvonne Landsberg« schon 1907 in San Marco gesehen (1914). haben, aber auch die Pariser oder Berliner Sammlungen hielten etliche Emails bereit. Es geht mir freilich nicht darum, eine unmittelbare Rezeption zu behaupten, aber dass Matisse Interesse für derartige farbintensive Bildtechniken hegte, steht außer Frage. Auch Frys überaus positive Resonanz auf Matisse dürfte unter anderem von eben diesen gemeinsamen Interessen getragen sein. Noch ein Hinweis ist geboten  : Die aus dem 17. Jahrhundert stammende Malerei der Uspenskij-Kathedrale in Moskau ist im Hintergrund durch Grundtöne gekennzeichnet, die von Grün nach Blau changieren. Ich würde nicht ausschließen, dass Matisse derartige Farbspiele intensiv studiert hat. Den Analogien zwischen dem Farbspektrum russischer Ikonen und der Farbwahl von Matisse wird auch in Hinblick auf Ščukins Engagements für das Œuvre von Matisse eine gewisse Relevanz eingeräumt.28 Unabhängig von chronologischen Erwägungen sollte in Hinblick auf die von Matisse formulierte Faszination für Ikonen auch das auf 1916 datierte Portrait von Sarah Stein (Abb. 1) Erwähnung finden.29 Nicht allein die strenge Frontalität, sondern vielmehr der augenscheinliche Verzicht, das Bildnis in einen definierbaren Kontext zu situieren, sprechen für diesen Rekurs. Das Gesicht der Sarah Stein erscheint gleichsam in, vor oder aus einem blauen Grund. Die fest den Kopf wie einen Helm umschließenden schwarzen Haare erinnern

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nicht zuletzt an einen Nimbus. Dem Bild wohnt eine auffällige Ambiguität zwischen Präsenz und Unentschiedenheit einer Verortung inne, die sich durchaus im Sinne einer spezifischen Transformation einer Ikone lesen lässt. Während jene auf eine im Bild indizierte Präsenz setzt, die zum Heiligen selbst eine Art Kanal bietet, dieses wie eine Art Repositorium heiliger Präsenz anmutet, übersetzt Matisse diesen Modus in seiner Malerei ins Profane. Mittels seiner künstlerischen Lösung gewinnt Sarah Stein eine im Moment des Malprozesses sich herstellende Präsenz. Im Bild wird eine Entkörperlichung bei gleichzeitiger Präsenz der Person erzeugt. Die künstlerische Arbeit wird damit in gewisser Weise nicht allein mit dem materiellen, sondern geistigen Schaffensprozess der Ikonen parallelisiert. Als direkteres Vergleichsobjekt, das Matisse in Moskau im Original studieren konnte, bietet sich etwa die berühmte doppelseitige Ikone mit dem Mandylion aus der Uspenskij-Kathedrale im Kreml’ an (Abb. 5). Dieses auf den Kopf Christi konzentrierte Tuch-Bildnis ist als Acheiropoieton von besonderem Interesse  : Die Ikone bezieht sich auf das berühmte Mandylion, das in Konstantinopel im kaiserlichen Schatz bewahrt wurde und dessen besondere Wirkkraft auf die Tatsache zurückzuführen war, dass es durch die Berührung Christi mit einem Tuch entstanden war.30 Es war gerade das Gegenteil von dem, was Matisse als Künstler kennzeichnet  ; anders gesagt, demonstriert Matisse seine ihm eigene Kompetenz als Künstler, indem nun er das Bildnis der Sarah Stein buchstäblich zur Erscheinung bringt.31 Die Reise nach Moskau hat im Zusammenschluss mit der darauffolgenden nach Tanger, im Januar 1912, zu einer deutlichen Überlagerung der Erfahrungen in Moskau und Marokko geführt. So wurde für das Bild »Zorah debout« auf die Deesis der Ikonostase in der Kreml’-Kathedrale hingewiesen.32 Auch die Werke »Riffain debout« und »Riffain assis« sind in Bezug auf seine marokkanische Reise wie zugleich den Aufenthalt in Moskau diskutiert worden.33 Während das zeitgenössische Modell jeweils dem marokkanischen Umfeld entstammt, nähert sich Matisse formal einer ikonischen Präsentation an. Zitiert wird zudem aus einem Gespräch mit Prichard, in welchem Matisse auf eine für ihn maßgebende byzantinische Münze von Kaiser Johannes Tzimiskes aufmerksam macht.34 Der Rekurs auf die Münze birgt aus meiner Sicht einen doppelten Verweis  : Das Gesicht des Kaisers in absoluter Frontalität ist aufgrund des Bildträgers auf wenige Merkmale reduziert. Darüber hinaus jedoch wird auf ein profanes (kostbares) Bildformat Bezug genommen. Wiewohl die Münze ein auf wenige Zeichen reduziertes Bildnis zeigt, unterliegt es dem Anspruch, den Kaiser zu vergegenwärtigen. Dieser mit dem Münzbildnis vertretene Anspruch bei gleichzeitiger formaler Reduktion dürfte für das Interesse

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des Malers ausschlaggebend gewesen sein. Wie in einem anderen Fall (dem Kelch, s. u.) ist die formulierte Referenz an die Münze innerhalb des intellektuellen Kreises offenbar von Bedeutung. Für die Zeitgenossen jenseits dieses Zirkels dürfte dieser Bezug, der sich allein angesichts des Bildes nicht vermittelt, augenscheinlich kaum auf der Hand gelegen haben. Eine solche Bezugnahme auf die Ikone oder andere byzantinische Objekte existiert bei Matisse in unterschiedlichen Facettierungen.35 Bei Abb. 5. Mandylion, doppelseitige Ikone, 12. Jahrhundert. dem Bild »Riffain debout« vermag man sich zudem erneut angesichts des zweifarbenen Hintergrunds an die Tonigkeit der in Moskau wahrgenommenen Wandmalerei erinnern.36 Das strenge Bildformat hingegen ist wiederum an Ikonen angelehnt, wie sie in den Sammlungen in Moskau zu sehen waren. Von Labrusse ist auch das 1914 entstandene Portrait der Yvonne Landsberg (Abb. 4) mit Ikonen in Bezug gestellt worden. Hier betrifft es die sich gleichsam aus dem Hintergrund herauslösende und von einer Lichtaura umfangene Figur (Labrusse 1999, 108–115).37 Folgt man der Beschreibung von Labrusse, seiner »expansion spatiale« der Figur, so drängt sich darüber hinaus eine zweite Referenzebene auf, die die räumliche Verortung der byzantinischen Ikone betrifft. Diese kann im Sakralraum im Gewölbe oder auf der Wand so situiert sein, dass ihr Raum mit dem des Betrachters übereingeht (Abb. 6).38 Der »espace plastique« bei Matisse, ein Raum, der sich zwischen Bild und Betrachter konstituiert, korreliert mit der Beziehung zwischen dem figurierten Heiligen im Raum und seinem Gegenüber (Labrusse 1999, 201–203). Versteht man das Bild im Sinne einer Inkarnation, operiert es auf einer der Ikone entsprechenden Ebene. Labrusse stellt zu Recht die Unabgeschlossenheit des Bildes bei Matisse heraus. Es ist Beginn und Wiederbeginn, da es gleich der Ikone auf eine Zusammenarbeit mit dem Rezipienten angelegt ist (Labrusse 1999, 245–248). Konkrete Objekte, die als Bildelemente in die Gemälde aufgenommen ­wurden, sind allerdings nur sehr bedingt als solche byzantinischer Provenienz zu entdecken. So wird wiederholt auf einen Kelch in »Nature morte aux

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Abb. 6. Hosios Loukas, Mosaik, Taufe Christi, Katholikon, 11. Jahrhundert.

­ Oranges« von 1915 verwiesen, da dieser auf einen berühmten byzantinischen Kelch verweise, der, aus Syrien stammend, von Royall Tyler bei Joseph Brummer 1912 erworben wurde und nach Amerika gelangte (Labrusse 2007, 80 u. 165). Das mit Orangen gefüllte Gefäß bei Matisse zeigt eine eher einfache Form, die die Eigenheiten des byzantinischen Objektes kaum spiegelt. So fehlt der Nodus in der Mitte des Fußes, so wie insgesamt die Form eher geglättet scheint. Aber nicht nur diese hat sich gewandelt. Das Silbergefäß ist zu einer eher einfachen Schale mutiert, die kaum jenseits eines Insider-Kreises als byzantinisch wahrgenommen werden dürfte. Welchen Zweck erfüllt dann überhaupt diese Bezugnahme  ? Der byzantinische Kelch war als Entdeckung von der kleinen Gruppe gefeiert worden, innerhalb dieser hatte er eine hohe Wertigkeit eingenommen. Indem Matisse ihn vermeintlich zum Zentrum eines Stilllebens erklärt, nimmt der Kelch innerhalb dieser Bildrhetorik eine durchaus zwiespältige Position ein  : Er ist nur noch ein Schatten des genuinen Objektes, für die meisten Rezipienten ist der Bezug zu seinem Ursprung nicht ersichtlich. Die Frage, inwieweit die Moskau-Reise als Auslöser gewisser Bildkonzeptionen anzuerkennen ist, muss zuletzt jedoch erneut kritisch reflektiert werden. Während für das Bildnis von Sarah Stein dieser Befund wohl zutreffen mag, kann in anderen Fällen eine derartige einfache Herleitung durchaus fragwürdig sein.

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Schon vor der Moskau-Reise, aus dem Sommer 1909 stammt das Gemälde »La dame en vert« (Abb. 7).39 Es wurde noch im gleichen Jahr von Ščukin gekauft und zeigt eine Dame vor oder in einem grünen Grund  ; ein schwarzer Kontur umfasst die nur leicht aus der Frontale gedrehte Figur, die sich in ihrer Flächigkeit wie auch im Farbspiel der Kleidung, insbesondere ihrer Arme, dem Hintergrund annähert. Das Inkarnat des Gesichts und der Hände sticht hervor. Im Prinzip darf man auch dieses Bild neben eine der vielen Ikonen stellen. Was das Abb. 7. Henri Matisse, »Dame en vert« (1909). Inkarnat allerdings anbelangt, so wäre man versucht, erneut die Nähe zu byzantinischen Emails zu unterstreichen.40 Es gilt also an dieser Stelle zu differenzieren  : Matisse war längst vor seiner Reise mit malerischen Konzepten beschäftigt, die eine virtuelle oder auch direkte Nähe zu byzantinischen Objekten kennzeichnete. So mag einerseits Ščukin diese Referenz besonders interessant gefunden haben, andererseits sich der Enthusiasmus von Matisse gegenüber den russischen Ikonen in Moskau durch eine länger währende Beschäftigung verstärkt haben. Die Reise nach Moskau war demnach nicht Auslöser, sondern bestätigte Matisse, sich dieser anderen Kultur für seine Kunst anzunehmen. Die Beziehungskonstellation zwischen Matisse und Byzanz ist jedoch auch durchaus kritisch reflektiert worden. Sie fungiert eben nur auf der einen Seite als ein »model of formal splendor and spiritual wholeness« (Lewis 2009, 51–60). Eine auch zeitgenössische Gegenposition markiert byzantinische Kunst als steif und unlebendig. Eben diese Kritik wird sodann auf Matisse übertragen, dessen Kunst als Teil einer »mechanical and geometrical world« (Lewis 2009, 51–60) kategorisiert wird.41

Die Restaurierung der Hagia Sophia durch Thomas Whittemore, das Studium des Lichts und die Rolle von Georges Duthuit

Thomas Whittemore verdanken wir die (zweite) Aufdeckung der Mosaiken in der Hagia Sophia und die damit direkt in Zusammenhang stehende Um-

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wandlung von einer Moschee in ein Museum.42 Zu seinen Aktivitäten in diesem Bereich zählt auch die 1930 erfolgte Gründung des Byzantine Institute of America in Boston, das zum damaligen Zeitpunkt eine Niederlassung in Paris und eine in Istanbul hatte. Seine gesellschaftliche Position kam ihm in diesen Aktivitäten entgegen, da er für diese diversen Projekte erhebliche finanzielle Mittel zusammentragen konnte (Labrusse/Podzemskaia 2000  ; Major 2010). Das intensive Interesse Whittemores für die byzantinische Kultur dürfte letztlich auf Prichard zurückzuführen sein. Wiewohl die Verbindung zwischen beiden bis zum Tod Prichards 1936 nicht abbrach und er für Whittemores erste Publikationen zu den Mosaiken der Hagia Sophia die Funktion eines »ghost writers« einnahm, irritierte ihn letztlich Whittemores Lebensstil.43 Die Arbeiten an der Hagia Sophia hatte Whittemore nach einer längeren Auftaktphase im Dezember 1931 aufnehmen können. Die Anteilnahme von Prichard in dieser ersten Phase war groß. Zudem formulierte er, wie oben zitiert, wie auch andere Intellektuelle seiner Zeit, dass die zeitgenössische Kunst einen ihrer unmittelbaren Bezugspunkte in der byzantinischen Kunst habe. Als die Beziehung zwischen beiden nach 1936, dem Todesjahr von Prichard, noch enger wird, bittet Whittemore Matisse um ein Porträt aus dessen Hand, das dieser unverzüglich ›liefert‹.44 Es bleibt hier zu fragen, inwieweit die seit dem Jahr 1908 andauernde Freundschaft sowohl auf der Seite der Künstlers wie auf derjenigen Whittemores Folgen gezeigt hat. Das Interesse für eine spezifische, durch das Licht dominierte Atmosphäre spielt zwischen beiden offenkundig eine substantielle Rolle. Das Lichtthema hat Matisse Zeit seines Lebens intensiv begleitet. Es scheint, als hätten die Gespräche der beiden just im Kontext der Beschäftigung mit der Hagia Sophia einen verifizierbaren Nachklang hervorgerufen. Ein deutlicher Widerhall ist das von Matisse geprägte Diktum »Santa Sophia is a sphere of light« (Nelson 2004, 170), zitiert aus einem Brief an Isabella Stewart Gardner vom 6. Juli 1920. Whittemores Blick auf die Hagia Sophia scheint geradezu durch Matisse konditioniert gewesen zu sein. Seine in dieser Zeit ungewöhnliche Initiative zu extensiven Lichtstudien darf auf den Austausch beider Freunde zurückgeführt werden. Diese Geschichte erfährt insofern eine Fortsetzung auf der Seite des Künstlers, als dieser sich nunmehr mit dem konkreten Bau der Hagia Sophia konfrontiert und die durch die Lichtchoreographie erzielte Raumwirkung in den von Whittemore inszenierten Aufnahmen studiert. Die wichtigsten Etappen seien an dieser Stelle kurz aufgeführt  : Auch während des Zweiten Weltkrieges werden die Arbeiten in der Hagia Sophia fortgesetzt, das prominente Forschungszentrum Dumbarton Oaks wird 1940 eröff-

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net. Die fortschreitenden Arbeiten in der Hagia Sophia werden in den Reports dokumentiert (Whittemore 1933  ; 1936  ; 1942  ; 1952). Das Interesse für die Oberflächentextur der Mosaiken lässt sich schon im ersten Bericht ausmachen. So heißt es dort  : No photograph can convey the power of the appeal of this succession of images (Hervorh. d. Verf.). They constitute no trivial repetition of a single shape  ; but each meets the vision as if charioted on a billow of light, each with an appeal as thrilling […]. The effect as you move past them has the cumulative power of a rising flood, and they engulf you in the religious enthusiasm of Byzantine conviction. (Whittemore 1933, 14)45

Wir sind jedoch gehalten, diese Sichtweise nur vorsichtig mit derjenigen Whittemores unmittelbar in Verbindung zu bringen. Wiewohl dieser als Autor zeichnet, so war sein »ghostwriter«, wie bereits angemerkt, Prichard (Labrusse / Podzemskaia 2000, 52).46 Ein Exemplar dieses ersten Berichtes widmete Whittemore Matisse (ebd., Abb. 11). Der zweite Bericht, ebenfalls mit Hilfe des bekannten Ghostwriters entworfen, enthält ähnliche Beobachtungen. So heißt es über das Apsismosaik  : »[…] a source of light, not a mere reflecting object  ; the light seems to emanate from the body of the mosaic itself […]« (Whittemore 1936, 15). Am Ende des Textes werden Licht und Architektur in ihrer Relation beschrieben  : […] the organization of light effects  ; light for him was visual music  ; thus, he recognized that architecture as an art is composition in terms of light  ; […] yet he was well aware that the immediate evocative appeal of a somewhat flat but largely translucent surface, such as a mosaic, was also enhanced by the organic incorporation of light. (ebd., 33)

Im dritten Bericht verweist Whittemore auf ein mit Matisse 1937 in Nizza geführtes Gespräch (Whittemore 1942, 23, Anm. 54, 37).47 Whittemore ließ in der Hagia Sophia Lichtstudien – und dies mag auf eine Inspiration durch Matisse zurückzuführen sein – von Végléry anfertigen, die die unterschiedliche Choreographie festhielten. Die Photographien wurden um 8.30, 10.30 und 11.00 Uhr aufgenommen. Das Album sowie weitere 21 filmische Aufnahmen von Pierre Iskender (in Zusammenarbeit mit R. Gregory) werden heute in Dumbarton Oaks Center verwahrt, größtenteils sind sie inzwischen im Internet zugänglich gemacht.48 Filme wie Photographien vermitteln eindrucksvoll, welches Interesse der Relation Architektur, Mosaik und Licht entgegengebracht

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Abb. 8a. »Studies of Light« im Auftrag von Thomas Whittemore (Hagia Sophia 1948).

worden ist.49 Es ist bekannt, dass Matisse von Whittemore Photographien der Hagia Sophia übergeben worden sind. Diese haben ihn während seiner Entwurfszeit der Gestaltung der Kapelle in Vence begleitetet. Sie waren, so Labrusse, im Atelier aufgehängt. Zu diesen Aufnahmen zählten auch jene spektakulären »Studies of Light« (Abb. 8a u. 8b) (Labrusse 2007, 82).50

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Abb. 8b. »Studies of Light« im Auftrag von Thomas Whittemore (Hagia Sophia 1948).

Aufschlussreich ist überdies ein bislang nur auszugsweise publizierter Text von Whittemore, der sich ausschließlich dem Phänomen Licht in der Hagia Sophia zuwendet (Whittemore 1945). Zum Auftakt stimmt der Autor uns ein, indem er betont, dass unsere Reaktion auf byzantinische Kunst nicht mit derjenigen der damaligen Zeitgenossen korreliere. Licht wird als ein den Raum

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konstituierendes Moment erfasst  : »Light is one of the building materials as, in Byzantine mosaic painting, it is a pigment« (ebd., 3). Die Wanddekorationen avancierten dadurch nicht nur als »pictures of reflection«, sondern als »forms of evocation«, die eine vereinheitlichende Wirkung haben (ebd.). Abgüsse sowie Photographien der Kampagne zur Hagia Sophia wurden 1944 einem größeren Publikum im New Yorker Metropolitan Museum in einer Ausstellung gezeigt. Der Schwiegersohn von Matisse, Georges Duthuit, initiierte wenige Jahre darauf im Rahmen seiner Bemühungen, die Arbeiten von Matisse in Amerika bekannt zu machen, in New York eine neue Zeitschrift mit dem Titel Transitions.51 Von der Zeitschrift erschienen vier Jahrgänge mit unterschiedlichen Beiträgen, die darauf zielten, die Rezeption französischer Kultur mittels unterschiedlicher Texte (Essays, Gedichte etc.) zu lenken. Für Transition verfasste er 1949 einen programmatischen Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel »Matisse and Byzantine Space«. Whittemores Aktivitäten in der Hagia Sophia sind das Fundament, auf dem Duthuit seine Ausführungen zu stützen vermag (Duthuit 1949, 20–37). Es ist also kein Zufall, dass Duthuit in diesem Text Aufnahmen von Whittemores »Studies in Light« einfügt. Später sollten diese erneut sowohl in der französischen Übersetzung des Aufsatzes von Duthuit wie auch in seinem Buch Le feu des signes eine prominente Rolle spielen.52 In der Person des Georges Duthuit (1891–1973), mit der Tochter von Matisse seit 1923 verheiratet, verbinden sich also erneut die Fäden zwischen Byzanz und Matisse.53 Duthuit hat eine Reihe von Publikationen zur byzantinischen Kunst vorgelegt, so wie er sich andererseits um das Œuvre von Matisse verdient gemacht hat. Beide Rollen sollen in diesem Zusammenhang nur skizziert werden. Sein kleiner Band Byzance et l’art du XIIe siècle erschien 1926, das Jahr, in dem er mit Matisse nach Sizilien reiste.54 Seine Texte zu Byzanz sind weitgehend phänomenologisch orientiert. Im Fokus von Duthuits Ausführungen stehen eher allgemeine Phänomene als einzelne Objekte. Da ist zum einen die erkennbare Zustimmung zu Joseph Strzygowskis These einer orientalischen Herkunft der byzantinischen Kunst (Strzygowski 1901).55 Wiewohl Duthuit sich der Tatsache bewusst ist, dass Strzygowskis Position seit dem Erscheinen des ersten Aufsatzes Kontroversen ausgelöst hatte, sieht er sich grundsätzlich einer derartigen Perspektive verpflichtet (Duthuit 1974, 121–125).56 Eine kritische Sichtung damaliger Diskussionen findet man bei ihm nicht. Labrusse schreibt zu Recht, dass die zeitgenössische Wissenschaft dieses »Label« orientalisch tolerierte. Gegenpositionen, in denen die Genese aus der griechischen Kultur betont wurde, lassen sich in diesem Zeitraum ebenso verifizieren.

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Insgesamt mag das von Duthuit verbreitete Byzanz-Bild kaum einen damaligen durchaus differenzierteren Wissensstand von Byzanz spiegeln. Vielmehr konstruiert der Autor, analog zu den Zeitgenossen von Matisse ein Byzanz, das mit der damaligen Gegenwart in Einklang steht. So wird ein indirekter Bezug zu Matisse konstruiert  : »[…] que les mosaïques des XI et XIIe siècles diffèrent autant des prototypes héllenistiques qu’une transposition de Matisse, par exemple, d’une nature morte de Davidz de Heem […]« (ebd., 136). Die historische Distanz wird mittels einer geschickten Selektion innerhalb der byzantinischen Kunst überbrückt, der Referenzraum Byzanz etabliert. Angesichts einer Orientierung von Matisse nicht nur an der byzantinischen, sondern ebenso der islamischen Kunst kann es kaum verwundern, dass Duthuit die Kategorie »orientalisch« für Byzanz bevorzugt.57 Doch kehren wir zu Duthuits Aufsatz von 1949 zurück, der seinem Titel »Matisse and Byzantine Space« gemäß exakt die Beziehung von Matisse zu Byzanz reflektiert. Der Ausgangspunkt für Duthuit ist der historische Ort, von dem aus er seine Ausführungen entfaltet, die unmittelbare Situation nach der großen Tragödie des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus. Als Utopie wird nach einem Modell gegriffen, das Byzanz heißt  : »In Byzantium we may trace the lineaments of a social structure where every genius, every talent, mingling with peoples of every race and land, could find expression« (Duthuit 1949, 21). Bild und Ritus sind auf eine Gemeinschaft stiftende Funktion angelegt.58 Byzanz entwickelte keine Kunst, sondern Geschichte. Für die Kunst hingegen lässt sich aus seiner Sicht eine Perspektive gewinnen, da byzantinische Objekte nicht auf die messbaren Erscheinungen gerichtet, sondern von der Außenwelt getrennt sind. Die spirituelle Funktion der Kunst wird betont. Als Monument für seine Ausführungen bezieht er sich allerdings auf die Grabkapelle der Galla Placidia in Ravenna, die als eine Art Übergangsphänomen zwei Bildsysteme offeriert.59 Dasjenige eines »klassischen Bildes« und das eines Gewölbes, in dem die Dinge einer anderen Logik verpflichtet sind  : »They produce a kind of semi-consciousness, where the details of the forms which have helped to create it scarcely exist, or disappear altogether« (Duthuit 1949, 25). San Marco avanciert zu einem »House of fluid crystals, of liquids and of flames« (ebd., 27). »Byzantine art, contrary to all that has been said about it, achieved the complete liberty of him who sought its influence« (ebd., 28). Die entscheidende Passage ist diejenige, die direkte Referenzen auf die inzwischen von Otto Demus erschienene Studie »Byzantine Mosaic Decoration« (1948) aufzeigt. Der Textgattung entsprechend vermisst man diesen Hinweis

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an dieser Stelle. Dort heißt es  : »Byzantine space left no loophole for a spectator. […] To the Byzantine, space is unseen, interacting extension of persons and things and the air in which they are steeped« (Duthuit 1949, 30). Später, in seinem Buch Le feu des signes, nimmt Duthuit diesen Faden wieder auf. Neben der Hagia Sophia und den Licht-Photographien gilt sein Augenmerk anderen Indizien, die nicht allein räumliche Konstellationen byzantinischer Bildinszenierungen betreffen, sondern Inschriften und Quellen, in denen dem Licht eine besondere Bedeutung zuwächst (Duthuit 1962, z. B. 55f.).60 Der Text sticht durch Passagen hervor, die teilweise bis in die Wortwahl für Byzanz und für Matisse Anwendung finden.61 Diese intellektuelle »Gemengelage« scheint in der Tat der Kontext zu sein, innerhalb dessen Matisse’ Planungen für die Dominikanerkapelle in Vence situiert werden müssen. Mit den Aufnahmen der Hagia Sophia, insbesondere den Lichtstudien von Whittemore im Atelier, vollzogen sich die Ausstattungskonzepte für die Kapelle in Vence. Während dieser Zeit führte Matisse zahlreiche Gespräche mit dem Dominikaner L.-B. Rayssiguier, in denen auch die Frage nach Byzanz, der Lichtführung in der Hagia Sophia thematisiert worden ist (in  : Matisse 2013). So zitiert der Dominikaner aus dem Gespräch vom 9. Dezember 1947  : I say there’s a reason God has spoken and has become incarnate in this cultural cycle  : the Oriental richness of materials and colors. I speak of the Byzantine tradition. He shows me a book on Oriental art which, he says, he often looks at. He admires how, in very simple designs, they play with the sun and use it to highlight things (to illuminate mosaics, delicately chiseled openings which cause the sun to shimmer). (Matisse 2013, 44).62

Am 13. April 1948 wird von Matisse der Geist der Entwurfszeichnungen mit demjenigen byzantinischer Fresken gleichgesetzt (ebd., 54).63 Zur Konzeption des Kreuzes vermerkt sein Diskussionspartner am 16. April 1948  : »[…] he likes the Byzantine cross at Saint Sophia.« (ebd., 58).64 Byzanz scheint ein ständiger Begleiter zu sein, ohne dass allzu starke formale Analogien gesucht werden.65 Die Marienfigur soll einer byzantinischen Maria gleichen  : »[…] she’s very Byzantine.« (ebd., 64).66 Am 21. Juli 1948 avanciert sie sogar zu einer byzantinischen Ikone (ebd., 79).67 Mit dem Wunsch, die Kapelle als in einer dauerhaften Bewegung zu initiieren, scheint Matisse etwas nachzuvollziehen, dass die Hagia Sophia in ihrem Kern vor allem durch die Inszenierung des Lichts bestimmt. Aus dem Gespräch vom 27. April 1949 mit Rayssiguier und dem Architekten Milon de Peillon wird notiert  : »[…] the importance of By-

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zantine art to the Greeks, which prompts Matisse and Milon to talk about the lighting in Santa Sophia.« (ebd., 177). Die Funktion des Lichts nimmt somit eine zu der von Whittemore skizzierten für die Hagia Sophia analoge Funktion ein. Die Evokation des im Bild Vergegenwärtigten passt sich in die an Byzanz geschulte Vorstellungswelt ein. Sucht man hingegen nach formalen Analogien, so wird man vielleicht beim einen oder anderen Detail fündig, zentraler aber bleibt die Idee eines vom Licht beherrschten Raumes, in dem die Bilder ihre Gegenwärtigkeit unter Beweis stellen.68 Der Nachklang der Reise nach Moskau muss Matisse während dieses Planungsprozesses präsent gewesen sein  : Am 10. April 1949 wird erörtert, dass der Fußboden der Kazaner Kathedrale Inspiration für den Kapellenboden in Vence geboten habe.69 Die Reise nach Moskau hat fraglos deutliche Spuren hinterlassen, es waren aber wohl vor allem jene intellektuellen Kreise, in denen sich Matisse bewegte und von denen er sich auch inspirieren ließ, die dafür Sorge getragen haben, dass Byzantinisches ein Wegbegleiter bis nach Vence blieb. Vielleicht aber dürfen wir Matisse unterstellen, dass er den Blick von Thomas Whittemore auf die Lichtinszenierung der Hagia Sophia zu einem Zeitpunkt gelenkt hat, als die Kunstgeschichte die Frage nach Raum und Licht nur sehr verhalten stellte.

Anmerkungen 1 Zum Sammler, seiner Familie wie auch den diversen Sammlungen und der Reise von Matisse grundlegend: Kostenewitsch 1993, 65–70; Rusakov/Bowl 1975, 284–291; Kosténévich 1990, 27–43; Kostenević 1992, 82–95; Kosténévich/Séminova 1993; Labrusse 2007, 65–66. Leider erst nach Redaktionsschluss wurde mir der Aufsatz von G. Leardi (2010) bekannt. 2 Die Geschichte der Bilder ist insofern besonders, als der Sammler genaue Vorgaben für diese Bilder machte. Die Entstehungsgeschichte reicht bis 1908 zurück (Kostenewitsch 1993, 66– 70). »Danse II« ist auf die Erstfassung gegründet, die der Sammler 1909 im Atelier sah. Die erste Fassung ist heute im Metropolitan Museum, New York. Zu der Geschichte der Ausstattung des Treppenhauses vgl. Kostenevich 1990, 30–43 mit einer Reihe von wichtigen Quellen. Das Treppenhaus mit den beiden Bildern von Matisse bezeichnete der Sammler als seine »Visitenkarte« (ebd., 41). Die Möglichkeit zu einer präzisen Rekonstruktion der Hängung wird von dem Autor allerdings als unsicher eingeschätzt. 3 Neben den Steins, den russischen Sammlern, war es der Hagener Karl Ernst Osthaus, der schon 1908 einen ersten Bildankauf betätigt hatte. 4 Während man bei Ščukin in dieser Zeit eine Konzentration auf Matisse konstatieren darf, ist dies bei Morozov nicht der Fall. Vgl. auch Kostenewitsch 1993, 97–117. Demnach ist das Interesse für Matisse durch Ščukin ausgelöst worden. 5 Vgl. dazu Dercon/Krempel/Shalem (Hg.) 2010; Lermer/Shalem (Hg.) 2010; Troelenberg 2011.

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  6 Die Sammlung dieses Zuckerindustriellen ist leider nicht überliefert, so dass wir über die definitiven Objekte keine Aussagen mehr treffen können.   7 Die Mutter von Ščukin entstammte der Familie Botkin.   8 In jüngerer Zeit wurden Teile der Sammlung sorgfältig inspiziert und als zeitgenössische Fälschungen identifiziert.   9 Sein Besuch in Moskau fand große Aufmerksamkeit in der dortigen Presse  ; hier im Gespräch mit dem Korrespondenten der Russkie vedomosti am 27. Oktober 1911. 10 Diese hatte seit 1903 ca. 60 Ikonen in ihre Sammlung aufgenommen (Labrusse 2007, 64). Labrusse spricht zu Recht davon, dass diese »desacraliées« seien, »pour rêvetir le statut d’œuvres d’art.« 11 Matisse hatte bei Ščukin seine eigenen Bilder einer Hängung unterzogen, vgl. Kostenewitsch 1993, 133 Anm. 45. 12 Vgl. hierzu Krieger 2006; Spira 2008; Gatrall/Greenfield 2010. Gončarova, Larionov, Malevič, Tatlin u. a. besuchten z. B. die Sammlung von Ščukin (Kostenević 1992, 92). 13 Der Brief vom 3. September lautet  : »Votre idée de visiter Ravenna me plaît beaucoup. Pour l’art mosaïques, pour la décoration des murs, c’est une ville admirable.« 14 Grundlegend ist die Arbeit von Labrusse 1999, in der er die Beziehung von Matisse zu anderen Kulturen und damit auch zur byzantinischen beleuchtet  ; s. spezifisch zu Prichard 94–115. 15 Vgl. zu Frys früher Beschäftigung mit Byzanz die Ausführungen von J. B. Bullen 1999, 666– 668. Bullen legt zudem dar, über welche Kontakte Fry seine Position entwickelt hat, wie etwa seine Begegnung mit Prichard. Grundlegend zu Fry  : C. Reed 2004, 65–107. Vgl. zudem die umfassende Studie von J. B. Bullen 2003, 178–185. 16 Nelson (2004, 64) erwägt, dass Prichard Fry und Matisse für Byzanz begeistert habe. Für Matisse mag dies zustimmen, für Fry vermutlich jedoch nicht, da er Byzanz längst wahrgenommen hatte. 17 Es wäre durchaus lohnenswert, die Interdependenzen zwischen dieser Studie und Fry differenzierter zu diskutieren. 18 Das Zitat entstammt dem im Archiv des Isabella Stewart Gardner Museums (ISGM) in Boston aufbewahrten Heft 26 aus dem Jahr 1913. 19 Grundlegend zu diesem Verhältnis R. Labrusse u. N. Podzemskaia 2000, 46–56. 20 Ganz ausführlich zu diesem Bereich mit zahlreichen Archivalien Labrusse / Podzemskaja 2000 sowie B. Major 2010. Ein Teil des Nachlasses, insbesondere zu den Restaurierungsarbeiten in Istanbul, ist in Dumbarton Oaks archiviert (Image Collections and Fieldwork Archives, Dumbarton Oaks Research Library and Collection, Washington D.C., ICFA Stacks, MS.BZ.013, Thomas Whittemore Papers ca. 1875–1966). 21 Man mag darüber spekulieren, zu welchem Zeitpunkt sich dieses Interesse besonders manifestierte. Nelson (2004, 63) bringt es mit der Münchener Ausstellung 1910 zur islamischen Kunst in Zusammenhang. Doch hatte Whittemore schon 1905 in Amerika die Bekanntschaft von Fry gemacht, der zum damaligen Zeitpunkt am Metropolitan Museum in New York arbeitete. Nelson räumt denn auch ein, dass Prichard ab der Zeit um 1907 mit den unterschiedlichsten Personen über Byzanz kommuniziert habe. 22 Diese Erzählungen dokumentieren sehr plastisch das Verhältnis von Whittemore gegenüber Matisse. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen. 23 Am 10. Januar 1913 wird Matisse in einem Brief zu einem derartigen Artikel aufgefordert. Dieser soll in einem Journal »Sophia« erscheinen (Kosténévich / Sémionova 1993, 173). 24 S. u. meine Anmerkungen zu Georges Duthuit, für den die byzantinische Kunst eine »porte

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ouverte à la création« ist (Duthuit 1974, 143). Verschiedene Autoren (Labrusse 1992 u. 2007 z. B.) sind diesen Spuren nachgegangen. Hierzu zählt auch eine Ausstellung in Rom unter dem Titel  : Matisse – »La révelation m’est venue de l’Orient«, Roma, Musei Capitolini, Rom 1997. 25 St. Petersburg, Eremitage, Inv.-Nr. 6521  ; 177x 217 cm (Henri Matisse, Katalog 1978, 2. Aufl. 1990, Katalog-Nr. 28). Die Datierung des Bildes ist in der Forschung umstritten, einige sind der Auffassung, es sei schon 1909, vor der Reise nach Moskau begonnen worden, andere plädieren für eine Datierung in die Zeit danach. Für unseren Zusammenhang ist diese Frage nicht allzu entscheidend, da wir davon ausgehen, dass das Interesse von Matisse für byzantinische Emails weitaus früher datiert als die Reise von 1911 (vgl. Schneider 1975, 76–82  ; s. auch den Ausstellungskatalog Paris 1993, Nr. 95, Abb. 307, datiert auf 1909 bis Anfang Sommer 1912, Auszüge aus Texten zum Bild 482f.). 26 Der Aufsatz erschien in La revue indépendante am 1. März 1888, im Untertitel war von »Le Cloisonnisme« die Rede (vgl. Welsh-Ovcharov 1981, 19–41). Der Rekurs auf mittelalterliche Emails setzt schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein, als einzelne Objekte auf der Weltausstellung in Paris gezeigt wurden. Für Frankreich ist neben der Publikation von Philip Burty (Les Emaux cloisonnés anciens et modernes, Paris 1868) auch die schon 1856 erschienene Studie von J. Labarte (Recherches sur la peinture en émail dans l’antiquité et au moyen-âge, Paris 1856) bedeutsam. Größere Aufmerksamkeit dürfte die Sammlung Swenigorodskoj auf sich ziehen, auf die sich der Aufsatz von Fry bezieht. Die grundlegende Untersuchung hatte der schon erwähnte N. P. Kondakov (Histoire et monuments des émaux byzantins, Frankfurt a. M. 1892) vorgelegt. Im selben Jahr erschien eine deutsche Ausgabe (Geschichte und Denkmäler des byzantinischen Emails, Frankfurt a. M. 1892). Da aus dem Nachlass in Cambridge hervorgeht, dass Fry eine andere Publikation von Kondakov gelesen hat, können wir die Kenntnis des Buchs zu den Emails nicht ausschließen. Vgl. auch Labrusse 2007, 80. 27 Der Formatunterschied soll dabei nicht unterschlagen werden. Das intensive Blau von Matisse gemahnt überdies an ein anderes Phänomen  : Blau wird im Mittelalter, wie etliche Beispiele bezeugen, auch anstelle von Gold eingesetzt. Kostbare Blaupigmente (Azurit, Lapislazuli) fanden in der Wandmalerei eben da Verwendung, wo man im Mosaik mit einem Goldgrund operierte. Das Blau verliert wie Gold gerade nicht seine strahlende Intensität bei eintretender Dunkelheit (vgl. Schellewald 2012, 2  : 363–381). 28 So wird auf die »blutroten Flächen der altrussischen Ikonen« verwiesen (Spurling 2007, 424). Die Aussage bezieht sich allerdings auf andere Bilder von Matisse. 29 San Francisco Museum of Modern Art, Sarah and Michael Stein Memorial Collection, 72,4 x 56,5 cm. Vgl. Ausstellungskatalog Paris 1993, Katalog-Nr. 139, Abb. auf 393, 392 u. 511. 30 Es existieren verschiedenste Legendenversionen. Für unseren Zusammenhang ist allein entscheidend, dass die Bilder nicht mittels einer (künstlerischen) Hand entstanden sind. Die Ikone mit den Maßen 76,4 x 70,5 cm befindet sich heute in der Tret’jakov-Galerie, Moskau. 31 Auch weitere Ikonen in der Tret’jakov-Galerie (z. B. Inv.-Nr 048138) zeigen vergleichbare Konzeptionen. 32 Das Bild ist auf Ende 1912 datiert (St. Petersburg, Eremitage, 146 x 61 cm)  ; vgl. den Ausstellungskatalog Paris 1993, Katalog-Nr. 106, Abb. auf 329, 328 u. 491. 33 Wo immer diese Bilder genannt sind, wird dieser Bezug hergestellt, z. B. im Ausstellungskatalog Matisse 1997, Nr. 31, 148–151. Die beiden dort als Vergleichsobjekte abgebildeten Ikonen stellen allerdings kaum einen Bezug zum Bild her. Das auf 1912 datierte Bild »Le Riffain debout« (145 x 96,5 cm) befindet sich in der Eremitage, St. Petersburg (Inv.-Nr. 9155), vgl. den Ausstellungskatalog Paris 1993, Katalog-Nr. 107, Abb. auf 331, 330 u. 491 wie auch

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den Katalog Matisse 1990, Katalog-Nr. 47, 179  ; vgl. Kosténévich 1993, 150–153. Zu dem in diesem Kontext auch erwähnten Bild »Zorah debout« (Eremitage, St. Petersburg, Inv.-Nr. 10044), auch als »La Marocaine« bezeichnet, vgl. den Katalog Matisse 1990, Katalog-Nr. 40, 170. 34 Labrusse (1999, 106–108) weist auf die Entdeckung byzantinischer Münzen durch Prichard hin. Dieser sammelte Münzen und gab wohl einige an Matisse weiter. Die der Münze inhärente »aura de pouvoir« faszinierte Matisse. Labrusse betont zu Recht die gewisse Anonymisierung, die das Bild von Matisse kennzeichnet (Labrusse 2007, 79). 35 G. Duthuit (1992, 112) zieht z. B. eine Analogie zu byzantinischen Ikonen insofern, als die Betrachter zu Teilhabern werden. Die Figuren von Matisse sollen eine analoge Haltung kennzeichnen. 36 Das ist insofern zu betonen, als die russischen Ikonen durch eine andersartige Farbpalette gekennzeichnet sind. Labrusse (2007, 80) weist auf die Farben byzantinischer Emails hin, er bezieht sich dabei auf ein Medaillon, das 1911 von Pierpont Morgan dem Louvre übereignet worden ist und den Heiligen Demetrios zeigt. Dem mag man grundsätzlich gerne zustimmen, jedoch in der Großflächigkeit der Farbpartien ist die Wandmalerei eine direkterer Bezugspunkt. 37 Das Bild befindet sich heute in Philadelphia (Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection, 147,3 x 97,8 cm  ; vgl. den Katalog Paris 1993, Katalog-Nr. 120, Abb. auf 355, 354 u. 499 f.). 38 Duthuit wird dieses Raumverständnis später thematisieren und sich dabei auf die Studie von O. Demus, Byzantine Mosaic Decoration. Aspects of Monumental Art in Byzantium, London 1948, beziehen. 39 Eremitage, St. Petersburg, Inv.-Nr. 6519, 65x54 cm  ; Kat. 1990, Katalog-Nr. 25, 149. Das Bild wird dort mit »Dame en vert à l’œillet rouge« bezeichnet. Hier ist auch eine Photographie wiedergegeben, auf dem Matisse unterhalb seines Bildes Platz genommen hat. Vgl. auch Ausstellungskatalog Paris 1993, Katalog-Nr. 68, Abb. auf 259, 258 u. 459  ; Kosténévich 1993, 97. 40 Es gibt gerade im Schatz von San Marco etliche Objekte, die in dieser Hinsicht das Interesse von Matisse geweckt haben könnten. 41 Diese andere Seite beleuchtet etwa D. Lewis 2009, 51–60  ; es wäre durchaus sinnvoll, dies stärker in das Blickfeld zu rücken, an dieser Stelle muss eine Vertiefung aber leider unterbleiben. 42 Am 24. November 1934 wurde die Hagia Sophia als Museum eröffnet, nachdem Whittemore mit seinem Team schon mehr als 3 Jahre intensiv gearbeitet hatte (Nelson 2004, 57f.). 43 So ist von ihm die Aussage über Whittemore überliefert  : »Had he lived at the time, he would have dined constantly with Dives, have called regularly on Pilate, have had conversations with John the Baptist and been in front row at the Crucifixion« (zit. bei Labrusse / Podzemskaia 2000, 49). 44 Eine Porträtzeichnung von Matisse vom Januar 1937 findet sich im Fogg Art Museum (Harvard University Art Museums, Cambridge, Mass., Inventar-Nr. 1951.37.7). Zwei weitere Zeichnungen sind in Privatsammlungen (vgl. die Abb. bei Labrusse / Podzemskaia 2000, Abb.13 u. 14 u. 54 f.)  ; vgl. auch Labrusse 2007, 82. 45 Es gilt an dieser Stelle zu betonen, dass Whittemore bzw. Prichard von Bildern sprechen, d. h. die Oberfläche von Mosaiken produziert mit und im Licht nicht ein Bild, sondern eine kontinuierliche Abfolge von differenzierenden Bildern. 46 Der Nachweis dieser Autorschaft gestaltet sich insofern eindeutig, als das Originalmanuskript

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in Paris erhalten ist. Es trägt die Handschrift von Prichard (vgl. Labrusse/Podzemskaia 2000, 52, Abb. 8). 47 Das Zitat von Matisse ist nur indirekt auf den Herstellungsprozess von Mosaiken zu beziehen  : »I have finished a picture when I no longer need the model – the model is in me, the object is absorbed, subject and object are one. I then express myself.« Das »model« wäre in diesem Fall die Unterzeichnung für die Auslegung der Tesserae. Die dürftige Vergleichbarkeit dieser Phänomene lässt einen anderen Schluss zu  : Der Kerntext stammt von Anton Frolow (Teriatnikov 1998, 49). Diese Ergänzungen sind auf Whittemores redaktionelle Ergänzungen zurückzuführen. Es scheint ihm daran gelegen, seine Freundschaft mit Matisse zu dokumentieren. Dass es ihm an einem Bezug zwischen der mittelalterlichen und der zeitgenössischen Kunst gelegen war, lässt sich auch an anderen Beispielen belegen. 48 Teteriatnikov 1998, 64  : Archivalien zu den Lichtstudien  : Dumbarton Oaks, Byzantine Photograph and Fieldwork Archives, T. Whittemore, »Notes on Light in Haghia Sophia, Istanbul, maschinenschriftliches Manuskript, 26 January1945, MSBZ 004-02-02-02–309_194501–26.; T. Whittemore and A. Végléry, »Preliminary Materials for Report, Lighting in Hagia Sophia« 1949–50. Bilder unter  : icfadumbartonoaks.wordpress.com, Filme unter  : http://www. doaks.org/icfah/truthful-record. 49 Die Thematik kann hier nur angerissen werden. Eine größere Untersuchung ist geplant. 50 Eine dieser Lichtstudien aus dem Nachlass von Matisse (Archives Henri Matisse) ist bei Labrusse / Podzemskaia 2000, Abb. 20 wiedergegeben. 51 Transitions 1948–1952, Herausgeber waren  : George Duthuit, Georges Batailles, René Char u. a. Zu Transitions und dessen zeitgenössischer Rezeption vgl. Peers 2010. 52 Der Aufsatz ist nicht nur ins Französische (Duthuit 1992, 74–106) übersetzt worden, sondern im Ausstellungskatalog Matisse 1997 auch ins Italienische, dort 322–335. Die beiden dort wiedergegebenen Abbildungen mit den Lichtstudien Whittemores aus der Hagia Sophia entsprechen denjenigen, die in seiner Schrift Le feu des signes (Genf 1962) publiziert worden sind. 53 Rémi Labrusse hat sich intensiv mit Duthuit auseinandergesetzt (vgl. Duthuit 1992, 9–40). 54 Zwei Studien sind wieder abgedruckt in Duthuit 1974  : »Byzance et l’art du XIIe siècle« von 1926 (104–159) sowie »Art Byzantin« von 1933 (255–275). Labrusse (2007, 81 u. 87) betont, dass Duthuit auf die orientalische Herkunft byzantinischer Kunst setzt. So richtig der Verweis auf Strzygowski ist, so sehr dürfte eben diese Zuschreibung auch Matisse selber genehm gewesen sein. Byzanz wurde unter »Orient« verbucht. 55 Inzwischen hat sich die Forschung intensiver mit der von Strzygowski ausgelösten Kontroverse beschäftigt und vor allem deren politische Implikationen offengelegt (s. z. B. Olin 2000, 151–170, bes. 164f.; Elsner 2002, 358–379, 419–420  ; Jäggi 2002, 91–111). 56 Er bedauert z. B., dass die Publikationen nicht ins Französische übertragen worden sind. 57 Die Rhetorik des Aufsatzes ist in großen Partien so verfasst, dass sich eine Analogie zur gegenwärtigen Kunst herstellen lässt. 58 So wird auch Whittemore in seinem Text (1945) schreiben  : »The sun is brought to the nave […] in its collective function in the essence of an act of prayer.« 59 Peers (2010, 83) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Bezug auf dieses Beispiel insofern problematisch ist, als der Raum keiner liturgischen Nutzung zugeführt gewesen ist. 60 Duthuits Interesse richtet sich z. B. auf eine Inschrift in der Erzbischöflichen Kapelle, die in der Forschung kaum Beachtung findet. Auch Paulos Silentiarios’ Ekphrasis zur Neueinweihung der Hagia Sophia findet Erwähnung. Die Abbildungen der Hagia Sophia sind in einer

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spezifischen Reihenfolge arrangiert  ; es wäre zukünftig zu untersuchen, welche Rhetorik dieses Arrangement birgt. Wenn es heißt  : »[…] mais en tant que lumière, au-delà de la surface travaillée, dans toute la profondeur aérienne ou elle baigne« (75), dann vermag man diese Beobachtung auch auf die Kapelle in Vence zu projizieren. 61 Diese Korrelation ist der Grund, auf dem die historische Distanz von Duthuit auch in weiteren Texten außer Kraft gesetzt wird. Um ein Beispiel zu nennen  : die »ponts d’animation« bei Matisse (Duthuit 1962, 176) haben ihren historischen Gegenpart in »d’animation supérieure«. In denselben Zeitraum gehört ein Text, in dem es heißt  : »[…] espace et cette lumière engagent entre eux et avec la peinture même un dialogue élémentaire presque enfantin« (Duthuit 1992, 125). Ich werde diese Aspekte in einer separaten Untersuchung wieder aufnehmen. 62 Auf Seite 48 erfolgt der Hinweis auf das von Leger entworfene Mosaik für die Fassade von Notre-Dame de Toute-Grace in Assy. 63 »[…] the spirit of the Chapel drawings […] recall Byzantine frescoes.« 64 In der Anm. 1 heißt es, Matisse habe selber in Aragons Matisse-en-France annotiert  : »The Byzantine cross  : imagination and reason«. In seinem Besitz war eine Photographie von einem der Mosaikkreuze der Hagia Sophia, vgl. Labrusse / Podzemskaia 2000, Abb. 10. 65 Unter dem Stichwort Byzanz sind vermutlich ganz unterschiedliche Phänomene subsumiert. Am 29. Juni 1949 heißt es  : »When I ask him what tradition I should mention for this type of Christian art, he says the Ravenna mosaics or the Cathedral of Palermo, both of which he’s seen« (Matisse 2013, 211). 66 20. April 1948 (Gespräch mit dem Dominikaner). 67 In diversen Studien (ebd., 168, 178 u. 179) sieht man, welcher Art die Entwürfe waren. 68 Vgl. z. B. Percheron / Brouder 2002, Kap. 2  : »Peintures et papiers découpés, vitrail et architecture« (48–174). Innerhalb dieses Kapitels folgt sodann  : »Aux origines de la chapelle de Vence« (59–63)  ; »L’aventure de la chapelle« (108–122). Auf Seite 116 wird das Baptisterium in Ravenna als Inspirationsquelle gezeigt, auf Seite 118 folgen weitere Mosaiken. Siehe auch Kap. 3  : »La chapelle du rosaire pas à pas« (174–264). Dort finden sich z. B. Ausführungen zu dem aus Byzanz adaptierten Segensgestus. Die Wahl der Medien, so z. B. die Art der farbigen Glasfenster, unterliegt freilich einem westlichen Konzept. 69 »Russian churches  : the church of Kazan, where people of all social classes were queuing up to kiss the icon that cured illnesses. The chapel in the Kremlin with the four pillars and iron pavement (with Genoese gold), which Matisse says was probably his inspiration for the Vence pavement« (Matisse 2013, 174). An anderer Stelle (11. Mai 1949, ebd., 184) ist die Rede von einem Buch über russische Ikonen  : »It would have been useful to have, he says. He has it brought to me and tells me to notice particularly the tiny hands of some of the figures.«

Alexander Honold

Moskau im Blick westlicher Schriftsteller der Zwischenkriegszeit

»Schneller als Moskau selber lernt man Berlin von Moskau aus sehen« (Benjamin IV.1 1991, 316). Dies der Auftakt, unter welchen Walter Benjamin, zurück von einer zweimonatigen Moskaureise unter winterlichsten Bedingungen, die zusammenfassende Darstellung seiner Eindrücke und Erkenntnisse aus der sowjetischen Hauptstadt rückt. Im Streckenplan Berlin-Moskau-Berlin scheint die Retour-Richtung das Entscheidende. Benjamins 1927 in Martin Bubers Zeitschrift Die Kreatur unter dem schlichten Titel Moskau veröffentlichte Studie ist ein Musterexempel jener selbstinduzierten Dialektik, in die westeuropäische Intellektuelle Abb. 1. Arbeitsplatz des Architekten Moisej Ginzburg im und Schriftsteller mit ihren Versu- Narkomfin Haus. Bild  : Aleksandr Rodčenko, 1929. chen gerieten, Moskau und die Revolution nach nur wenigen Wochen des Aufenthaltes zu verstehen. Berlin von Moskau aus sehen  : Sollte das etwa schon alles, oder auch nur das Wichtige und deshalb Voranzustellende sein  ? Hatte der Berliner Philosoph, Kulturhistoriker und Literaturwissenschaftler Walter Benjamin, der nach dem Scheitern seiner Habilitationspläne an der Universität Frankfurt vorwiegend von Übersetzerhonoraren und Aufträgen als freier Kritiker lebte, seine aufwendige und strapaziöse Reise in die Metropole der Sowjetunion im Winter 1926/1927 denn nur deshalb unternommen, um hernach einen anderen Blick auf Berlin werfen zu können  ? Und um, wenig überraschend, in seinem Bericht als Erstes

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zu konstatieren, dass Berlin im Vergleich mit Moskau »wie frisch gewaschen« wirke, weil »kein Schmutz« und »auch kein Schnee« auf den Berliner Straßen liege  ? Der Berliner Asphalt, er kommt dem aus Moskau Zurückgereisten »so trostlos sauber und gekehrt vor«, dass schon bei diesem ersten, desillusionierenden Blick auf die wiedererlangte Geburts- und Heimatstadt das Tage zuvor verlassene Moskau in elegischer Verklärung erstrahlen muss. Stadt und Menschen, aber auch die »geistigen Zustände« zu Hause erscheinen dem Rückkehrer durch eine »neue Optik« in verschärfter, kritischer Perspektive. Sie sei, so behauptet Benjamin nochmals und mit dem Gestus nachdrücklicher Entschiedenheit, »der unzweifelhafteste Ertrag eines russischen Aufenthaltes«. Und weitergehend folgert er  : »Man mag auch Rußland noch so wenig kennen – was man lernt, ist, Europa mit dem bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland abspielt zu beobachten und zu beurteilen« (Benjamin IV.1 1991, 316f.). Damit ist, was als Städtebild nach dem Muster von Benjamins vorausgegangener Reiseskizze »Neapel« (und der späteren über »Marseille«) angelegt schien, auf der Ebene großflächiger kulturgeographischer Verallgemeinerungen angekommen  : Russland versus Europa lautet nun die Gegenüberstellung. Ganz rasch, und noch ehe der Essay in die Vergegenwärtigung seines Gegenstandes wirklich einsteigt, hat der Autor gegenüber dem Lesepublikum empfindliche Stiche androhende Stacheln aufgestellt, die den schlichten Genuss eines pittoresken Reiseeindruckes verwehren. Eine Lektüre des Reiseberichtes soll, wie schon der ihm zugrundeliegende Aufenthalt des Berichtenden ebenfalls, nur unter erschwerten Bedingungen stattfinden können, und sie soll im steten Bewusstsein erfolgen, dass dieses hier mit angesprochene westliche Europa nicht nur Teil, sondern eigentlicher Fluchtpunkt der angestellten Betrachtungen ist. »Darum«, so Benjamin energisch, ist in diesem Moskau des Jahres 1926 und 1927 »der Aufenthalt für Fremde ein so sehr genauer Prüfstand« (Benjamin IV.1 1991, 317). Es ist für den Besucher ein Ort der Selbsterkundung, die zur Rückwendung führt  ; nicht zuletzt, weil diese Moskaureise selbst (wie vorweggenommen sei) in einer bitteren Abweisung endete, von der das unterwegs geführte Moskauer Tagebuch Benjamins Zeugnis ablegt. Moskau zu erkennen heißt, in der fernen, unnahbar großen Stadt mit ihren fremden Schriftzügen die eigene Geschichte zu lesen. Auch wenn die Namen anders lauten, der Gegenstand weit entfernt zu liegen scheint, so handelt dieser Moskaubericht eigent­lich vom Gegenwartspunkt des Autors und seiner westlichen Leser  : de te fabula narratur, so hieß dieser plötzliche Erkenntnisschock einst bei Horaz – von dir handelt eigentlich die Geschichte.

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Diese von Moskau aus, und vielleicht sogar nur von dort her zu erzählende Geschichte, in der Benjamin sich selbst als den Gemeinten wiedererkennt, spitzt sich für den Berliner Linksintellektuellen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zu auf die Frage nach der eigenen politischen Position und nach der gesellschaftlichen Bedeutung seines Tuns als Schriftsteller und Kritiker. Ein längerer, bewusst unternommener Aufenthalt im gegenwärtigen Moskau »nötigt« jeden, so glaubt Benjamin, »seinen Standpunkt zu wählen«. Oder sich vielmehr längst schon entschieden zu haben. »Im Grunde freilich ist die einzige Gewähr der rechten Einsicht, Stellung gewählt zu haben, ehe man kommt« (Benjamin IV.1 1991, 317). Nochmals verstärkt der Autor mit solchen Bemerkungen die stachlige Abwehr seines Städteporträts gegen vermeintliche Fehldeutungen. Standpunkt und Stellung  ; das klingt nach befestigter, unbeweglicher Haltung  ; zumindest dem Wollen nach. Der Text spricht sich selbst die Autorität einer gefassten, klaren Positionierung zu, indem er apriorisch statuiert  : »Sehen kann gerade in Rußland nur der Entschiedene« (Benjamin IV.1 1991, 317). Damit aber ist zugleich ausgedrückt, dass diese vorab gefasste eigene Positionierung zum politischen Zeitgeschehen aus dem auf der Reise Erfahrenen selbst keineswegs abgeleitet, mit ihm vielleicht sogar nur schwerlich vereinbart werden kann. Womit die dann folgende Beschreibung des Gesehenen und Erlebten nur durch die vorab erfolgte Rahmung ihren vom Autor beglaubigten Wahrheitswert erhielte und, das der naheliegende Umkehrschluss, durch gegenteilige Reiseerfahrungen auch nicht zu entkräften wäre. Im Kontext einer ganzen Serie von veröffentlichten Reiseeindrücken, persönlichen Erfahrungsberichten und Stellungnahmen, die ab der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre von Moskau-Interessierten (und/oder solchen der russischen Revolution) nach kurzer beziehungsweise mittlerer Aufenthaltsdauer oder auch nur per Ferndiagnose abgegeben wurden, macht Benjamins spröder Auftakt des eigenen Berichtes klar, dass jede dieser literarisch-publizistischen Äußerungen in einem stark polarisierten Kräftefeld erfolgt, welches die jeweilige Sicht auf die Dinge schon massiv prädeterminiert und auch bei den tatsächlichen Erfahrungen vor Ort an der Auswahl und Bewertung der Eindrücke immer schon mitschreibt. Diese Vorab-Instruiertheit der Moskau-Reisenden rührt daher, dass keiner von ihnen abstrahieren kann von der politisch und kulturell extrem aufgeladenen Bedeutung, die dieses Reiseziel für die mittel- und westeuropäische Öffentlichkeit schon seit den Anfangszeiten der sowjetischen Revolution erlangt hat und angesichts derer eine Haltung des unbeteiligten Beobachtens sine ira et studio gegenüber dem Phänomen bzw. Super-Zeichen »Moskau« gar nicht mehr vorstellbar ist.

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In den zwanziger Jahren, nach dem Ende des äußeren wie auch des inneren Krieges, nimmt das Interesse an den Aufbauleistungen der Revolution und an dem Erscheinungsbild der neuen Sowjetmetropole auch im Westen spürbar zu (Schlögel 2011 [1984]  ; Schlögel 2010 [2008]). Parallel und kontrapunktisch hierzu tragen auch die Emigrationswellen der vor den Revolutionswirren in die westlichen Zentren geflüchteten ehemaligen Oligarchie, aber auch namhafter Teile des russischen Bürger- und Künstlertums, zu einer Belebung des Interesses an russischen wie auch an sowjetischen Themen bei. Sichtbar werden dadurch auch jene Bruchlinien einer formal radikalisierten ästhetischen Moderne, die bereits vor den Einschnitten des Weltkriegs und der Revolution das künstlerische Leben Russlands durchzogen und erschüttert hatten (Ingold 2013). In Bildender Kunst, Musik, Ballett, Theater und Film, in Lyrik und Roman sind die Exil-Künstler nicht weniger modern und tonangebend als jene mit den neuen Kräften verbundenen Protagonisten der Avantgarde, die sich von innen in das zeitgenössische Moskauer Kulturleben einschalten. Paris und Frankreich bedeuten weiterhin ein maßgebliches und attraktives künstlerisches Sammelbecken, neu aber wird Berlin in den zwanziger Jahren zu einer noch bedeutsameren Anlaufstelle (vgl. Schlögel 2007),1 und zwar sowohl für exilrussische Künstler und Intellektuelle wie auch für solche, die im Dienste der Partei und der Verbände für die verbesserte Außenwirkung der Sowjetunion und ihres kulturellen Lebens sorgen sollen. Zunehmend werden ab Mitte der zwanziger Jahre gerade deutsche und deutschsprachige Autoren nach Moskau und an andere Orte eingeladen oder sogar um offizielle Zusammenarbeit gebeten. Das sog. Kameneva-Institut (offizieller Titel  : VOKS, Allrussische Gesellschaft für Kulturverbindungen mit dem Ausland, geleitet von Ol’ga Kameneva, der Schwester Leo Trotzkis) mit Sitz im Hotel Metropol übernimmt die Einladung und Betreuung der westlichen Besucher. Unter anderem organisierte dieses Institut in den dreißiger Jahren die offiziellen Besuche von  – um nur einige wenige Namen zu nennen – George Bernard Shaw, Henri Barbusse, Romain Roland, Martin Andersen Nexø, André Gide und Lion Feuchtwanger. Internationale Beziehungen werden zunehmend zur Chefsache  ; Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle sollten, so die Idee, als Botschafter zwischen Ost und West fungieren und für die Sache der Sowjetunion als glaubwürdige, bürgerlich geprägte und von der Öffentlichkeit im Westen akzeptierte Augenzeugen eintreten. Der Moskau-Essay Walter Benjamins war zu seiner Zeit bei weitem nicht der auffälligste unter den Berichten der aus Moskau und anderen Orten der Sowjetunion zurückgekehrten Reisenden. Unter den Zeugnissen des politi-

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schen Journalismus dürften die Reportagen Egon Erwin Kischs, entstanden während einer Reise vom Dezember 1925 bis Mai 1926 und dann 1927 zu einem großen Russlandbuch verbunden, in den zwanziger Jahren wohl mit die größte Wirkung erzielt haben. Kaum mehr bekannt aus derselben Zeit sind hingegen heute Autoren und Bücher wie René Fülöp-Miller (Geist und Gesicht des Bolschewismus, 1926), Emil Julius Gumbel (Vom Rußland der Gegenwart, 1927), Otto Friedländer (Hammer, Sichel, Mütze, 1927), Erich Mäder (Zwischen Leningrad und Baku, 1926), Max Tobler (Moskauer Eindrücke, 1927) oder F. C. Weiskopf (Umsteigen ins 21. Jahrhundert, 1927), deren überwiegend aus sympathisierender Perspektive verfasste Reiseberichte und Schilderungen, gerade in solch summarischer Aufzählung, eindrucksvoll das vehemente öffentliche Interesse an Berichten aus erster Hand belegen. Zu den literarisch ambitionierten Texten deutschsprachiger Moskaureisenden zählt wiederum das (später verschiedentlich wieder aufgelegte) Buch Egon Erwin Kischs Zaren. Popen. Bolschewiken. Daneben finden im selben Zeitraum (wenn wir bei den deutschsprachigen Texten bleiben) die Reiseberichte von Ernst Toller und Joseph Roth in der Öffentlichkeit hohe Beachtung, etwas später auch der Bericht Oskar Maria Grafs von seiner Delegationsreise zum 1. Allunions-Schriftstellerkongress von 1934.2 Zu einem zweiten markanten Höhepunkt im Korpus der literarischen Moskau-Reisen kommt es dann ziemlich genau zehn Jahre nach jener ersten Welle mit André Gides Buch Retour de l’U.R.S.S., dem ernüchterten Bericht von dessen im Sommer 1936 unternommener Reise in die Sowjetunion. Das anfangs 1937 erschienene Werk wurde auch in der deutschsprachigen Welt mit höchstem Interesse aufgenommen und löste eine heftige Debatte aus, in der Gides kritische Bemerkungen zur Zensur und zum Konformismus von einigen orthodoxen Marxisten als Renegatentum abgestempelt, auf der anderen Seite wiederum von den eingefleischten Gegnern der Linken für ihre ideologischen Zwecke vereinnahmt wurden. André Gide ließ seinem kontrovers aufgenommenen Bericht noch im selben Jahr eine Ergänzung folgen unter dem (etwas missverständlichen) Titel Retouches à mon retour de l’U.R.S.S.; dieser erschien auf deutsch als Retuschen an meinem Russlandbuch, wie jenes selbst (Zurück aus Sowjet-Russland) in der Übersetzung Ferdinand Hardekopfs, noch im Jahr 1937 in Zürich. In der Zwischenzeit schaltete sich sodann Lion Feuchtwanger ein mit seinem auf einer zehnwöchigen Reise Ende 1936 und Anfang 1937 basierenden Bericht Moskau 1937, den er mit dem Untertitel Ein Reisebericht für meine Freunde versah. Was Feuchtwanger, Gide und andere im Moskau des Jahres 1937 vorfinden – freilich ohne dies in seiner ganzen abgründigen Widersprüchlichkeit wirklich

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erfassen und wahrhaben zu können –, das ist, wie etwa Karl Schlögel in seinem einschlägigen Werk Terror und Traum. Moskau 1937 eindrücklich dargestellt hat, eine bizarre Mixtur aus techno-phantastischen urbanen Großprojekten und der allumfassenden Präsenz eines paranoiden stalinistischen Machtapparates. Hatten sich die Haltungen der Besucher zehn Jahre zuvor noch innerhalb eines vielfältigen Spektrums von zurückhaltender Skepsis über sympathisierende Parteilichkeit bis hin zu offener Unterstützung bewegt, so engte die volle Entfaltung des stalinistischen Unterdrückungsapparates und seiner theatralen Selbstinszenierung in Aufmärschen und Schauprozessen die Optionen der als Besucher eingeladenen westlichen Intellektuellen nunmehr ganz massiv ein. Für die Schriftsteller spitzt sich die Problematik der einzunehmenden Haltung nun fast ausschließlich auf die Kernfrage zu, wie sie sich zur Macht, und konkret  : zum von und mit Stalin betriebenen diktatorischen Personenkult und seinem mit terroristischen Methoden operierenden Repressionsapparat, stellen. Der alte Traum von einer neuen Welt, von einer Gesellschaft befreiter und tatkräftiger Menschen nimmt im Moskau der späten dreißiger Jahre megalomane urbanistische Dimensionen an, in denen gleichwohl noch die Energien der Avantgarde zu verspüren sind  ; für einen kurzen geschichtlichen Moment scheint es wieder einmal fast so, als könne Phantasie in Architektur und Stadtplanung überführt werden. Zugleich aber und ineins damit trägt die äußere und innere Umgestaltung Moskaus als pars pro toto die Züge einer gleichschaltenden Mobilmachung, in der (um das Mindeste zu sagen) kein Platz mehr ist für intellektuelle Differenzierungen und kulturelle Abweichung. Man merkt es den literarischen Schilderungen und Stellungnahmen an, dass nun von einem offenen Verlauf der Geschichte, von Spielräumen gesellschaftlicher Ausgestaltung nicht mehr die Rede sein kann. Eine Moskau-Reise in den Jahren 1925, 1926 oder auch noch 1927 bedeutete für deutsche und andere westliche Intellektuelle nicht nur den Eintritt in die kulturelle Topographie einer faszinierend fremden europäischen Metropole, sondern zugleich die direkte, teils riskante Tuchfühlung mit dem Zeitgeschehen der jüngstvergangenen und noch nachbebenden Revolution. In rasanter Rhythmik hatten die Ereignisse in Russland Europa und die Welt in Atem gehalten, schreckensstarre und bewundernde Blicke aus der Ferne auf sich gezogen. Keine zehn Jahre waren vergangen seit der Oktoberrevolution selbst und dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918, keine fünf nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Gründung der Sowjetunion 1922, noch kürzer zurück lagen der Tod Lenins 1924 und seine anschließende Mumifizierung und Glorifizierung. In der Zeit kurz nach Mitte der zwanziger Jahre, als sich die Besuche

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westlicher Schriftsteller häufen, scheint ein in sich zwiespältiger, sowohl nach rückwärts wie in die Zukunft lesbarer Moment der Schwankung erreicht  ; viele der Besucher registrieren die widersprüchlichen Tendenzen einer Übergangsgesellschaft. Schon war der Aufstieg Stalins vom KP-Generalsekretär (1922) zum Lenin-Nachfolger mittels der Ausschaltung innerparteilicher Gegner weitgehend vollzogen (der eigentliche Beginn der »Stalin-Ära« wird 1929 mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und dem ersten Fünfjahresplan markiert), und noch war die durch Lenin und Trotzki 1921 eingeführte Neue Ökonomische Politik (NĖP), die gewisse privatwirtschaftliche Spielräume geschaffen und den in den westlichen Reiseberichten meist skeptisch beschriebenen Typus des NĖP-Mannes hervorgebracht hatte, nicht wieder abgeschafft worden (das geschieht erst ab 1928). Eine der vielfach gestellten Fragen war  : Würde die Dynamik der grundstürzenden Veränderungen noch fortbestehen, oder war sie schon zugunsten des Machterhalts der Parteifunktionäre erkaltet  ? Eine andere  : Was konnte unter den aktuellen Mängelerscheinungen noch den Verlusten der Kriegsjahre und den Schwierigkeiten des Übergangs zugerechnet werden, und welche der augenscheinlichen Probleme waren vielmehr durch die Missstände oder gar durch die systematischen Ziele der neuen Ordnung bedingt  ? Ernst Toller beispielsweise, der sich von März bis Mai 1926 in Moskau und anderen Orten aufgehalten hatte und davon in einer Serie von russischen Reisebildern in Briefen berichtete, skizziert die aktuelle Entwicklung anhand des Einstellungswandels jener russischen Schriftsteller der jüngeren Generation, die als Parteigänger der Revolution begonnen hatten, dann aber in eine Phase allmählicher Ernüchterung und schließlich sogar der Resignation eingetreten waren. Am Anfang waren sie alle Hymniker und Sänger der proletarischen Revolution, ihre besten Gedichte wurden Marschlieder der Rotgardisten, ihre Titel Propagandalosungen der Agitation. In der Zeit der Nep-Politik kamen die ersten Enttäuschungen. Dann die Desillusion durch den Menschen. In den Feiertagen der Revolution war oder schien wenigstens der Mensch gut, war der Proletarier der sittlich Höhere, der Künder und Verkünder einer neuen Zeit, der Gott auf Erden. Der Alltag lehrte sie sehen, und nicht viele fanden die Beziehung zur Wirklichkeit. (Toller 1978 [1930], 235)

Den massiven Konflikten mit Zensur und Anpassungsdruck verleiht der auswärtige Betrachter hier die Façon eines fast naturwüchsigen Unterschiedes zwischen früher und später, zwischen heiß und kalt. Indem Ernst Toller hier den revolutionären Elan der Anfangsjahre zu einer Art quasireligiöser Heilsge-

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wissheit überhöht, kann er im Gegenzug die Enttäuschung dieser Generation als schwierige Ankunft im Alltag und damit im Realitätsprinzip interpretieren  ; demzufolge sind es dann wohl die Träumer und Utopisten, die ihre Vorstellungen der Wirklichkeit anpassen müssen. Der Besucher hat damit vielleicht weniger von der inneren Dynamik der politischen Schriftsteller in der Sowjetunion selber gesprochen als vielmehr einen Einblick in die Gemüter mancher westlicher Moskaureisender gegeben, in deren Entwicklungsgang sich genau die hier beschriebene Dramaturgie einer fortschreitenden Erkaltung abformt. Denn es waren gerade die vor dem Krieg und während des Krieges aktiven Künstlerbewegungen des Expressionismus und Futurismus gewesen, die mit dem Pathos des neuen Menschen angetreten waren, einem Pathos, das sich im Laufe der zwanziger Jahre dann immer weniger aufrecht erhalten ließ. Die Moskauer Verhältnisse erscheinen insofern als ein Katalysator, der vergleichbare Veränderungen innerhalb der westlichen Gesellschaften im Jahrzehnt nach dem Kriege durch ihre Verstärkung oder Verfremdung auf drastische Weise zum Ausdruck bringen konnte. Die Besucher tragen Eindrücke zusammen, halten Indizien fest, werten Symptome aus, mit denen sich eine Art geschichtliche Standortbestimmung zwischen der Umwälzung von gestern und der Ordnung von morgen vornehmen lässt  ; doch haben diese Zwischendiagno­ sen Mitte der zwanziger Jahre bzw. kurz danach selbst noch etwas Flackerndes, Unstetes an sich. Fast jeder der westlichen Reisenden scheint beständig hinund hergerissen zwischen Befremdung und Sympathie, zwischen tiefer Skepsis und bewunderndem Staunen, in das sich freilich auch die sinnliche Überwältigung durch die schiere Größe der Stadt und des Landes hineinmengt. Die auf Wirkung angelegte Fakten-Aufbietung, die Egon Erwin Kisch in seinen Russland-Reportagen betreibt, steht ganz im Zeichen dieses Staunens vor gewaltiger Größe, als könne die Unermesslichkeit des riesigen Reiches und der nochmals enormen Dramatik seiner revolutionären Umwälzung nur in einer superlativischen Ästhetik eine angemessene Gestaltung erhalten. Die Stadt Moskau liegt, wie der Ankömmling sogleich zu lernen gezwungen wird, im Schnittpunkt gesteigerter Dimensionen von Raum und Zeit. Die erste der Reportagen versetzt den Leser wie einen solchen Ankömmling direkt ins Umsteigegeschehen an einem der großen Fernbahnhöfe. In Moskau kommt der Petersburger Zug auf dem Nikolajewskij Woksal an und fährt vom Kurskij Woksal weiter, die beiden Bahnhöfe sind einander nahe, eine Viertelstunde genügt, um mit dem Schlittenkutscher handelseins zu werden, und zehn Minuten währt die Fahrt. (Kisch 1927, 7)

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»Rußland in der Eisenbahn« (so der Titel dieses Artikels)  : Kaum ein Gegenstand wäre besser geeignet, die Themen von räumlicher Unermesslichkeit und gesteigerter technischer Dynamik, die im Selbstverständnis der Sowjetunion in der Tat eine geradezu prägende Rolle spielen, kraftvoller anzuschlagen als das atmosphärisch einzigartige Szenario der Eisenbahn. Die fauchende, mechanisch unerbittliche Vorwärts-Bewegung auf schienengerader Strecke hat nicht erst für das revolutionäre Reich eine emblematische Funktion, wenn man etwa an Tolstoi und die kraftvollen Eisenbahn-Schilderungen in Anna Karenina oder in der Kreutzersonate denkt. Egon Erwin Kisch nimmt ganz betont die Perspektive des Passagiers auf der Durchreise an, der in Eile und Unrast vom Endpunkt der einen Bahnlinie zum Ausgangspunkt der nächsten sich durchkämpfen muss. Eine vorab besorgte »Platzkarte (russisch  : Platzkarta)« muss mit Waggon- und Sitz-Nummer vom Schalterbediensteten nochmals schriftlich bestätigt werden, und das braucht beunruhigend viel Zeit. »Bedrohlich naht die Minute der Abfahrt, der Mann im Fenster läßt nicht ab von seiner Gemächlichkeit, und die Leute, die Queue stehen, werden nicht nervös, alle Menschen haben hier Zeit und Geduld, unfaßbar viel Geduld« (Kisch 1927, 7). Der Berichterstatter selbst, das wird deutlich, gehört nicht zu jenen Geduldigen. Kischs Buch, für das der Autor ursprünglich den imperiale Erhabenheit schaffenden Titel Das rote Reich vorgesehen hatte, zielt auf zweierlei zugleich  – es möchte die Effekte von Größe und Tempo erzeugen. Dem imperialen Gedanken der Größe und Unermesslichkeit dienen die spöttischen Understatements, mit welchen der Ankömmling die exotischen Destinationen der Zuglinien kommentiert  : ›Moskau-Sewastopol‹, ›Moskau-Rostow‹, ›Moskau-Nishnij Nowgorod‹ steht auf einigen Waggons, dort nehmen nur Reisende kurzer Fahrt Platz, sie haben bloß eine Strecke zurückzulegen, die etwa so lang ist wie von Rom nach Stockholm.« (ebd.)

Vergesst, so soll das heißen, als eingefleischte Mitteleuropäer alle eure Vorstellungen von räumlicher Weite und zeitlicher Dauer, denn hier, im riesigen Reiche der Sowjetunion, greifen sie alle auf geradezu lächerliche Weise viel zu kurz. Denn die wahren Langstrecken, das sind die folgenden  : »Imposantere Kennzeichnungen  : ›Moskau-Baku‹, ›Moskau-Tiflis‹ oder gar ›Moskau-Wladiwostok‹, das heißt vierzehn Tage, wenn es gut geht  ; und dann steigt man um, Kleinbahn, Rentierschlitten, Schneeschuhe« (ebd.). Die unverbundene Reihung am Ende der vom Reisenden lustvoll ausgemalten Mega-Fahrt an die fernsten Grenzen gibt einen treffenden Eindruck von Kischs journalisti-

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schem Stilideal eines möglichst ungebremsten Fakten-Stakkatos. Dazu passt, dass sein Buch dann letztlich doch nicht den Titel des Roten Reiches trug  ; die gesammelten Reportagen erschienen vielmehr unter dem Titel Zaren. Popen. Bolschewiken, in einer knappen, energischen Drei-Wörter-Rhythmik, die nicht nur den rasenden Reporter heraustönen ließ, sondern sich damit auch einer zeittypischen, charakteristischen Triaden-Sequenz bediente. Denn alles Wichtige war in seiner zeitraubenden Vielfalt fast nur noch als eine solche atemlose Reihenbildung zur Anschauung zu bringen, im Dreisprung sozusagen. Die Fahrt mit der Bahn ermöglicht dem Besucher, auf eng begrenztem Raum und ohne umständliche Recherchen eine komplette Sozioskopie der postrevolutionären Bevölkerungstypen vorzunehmen. Jede Bahn-Klasse entspricht dabei einer gesellschaftlichen Klasse, und der schönen Ordnung halber sind sie auch noch durch farbliche Unterschiede klar markiert. »Blau gestrichen sind die internationalen Schlafwagen, in erste und zweite Klasse eingeteilt, in ihnen sitzen englische Kaufleute und deutsche Diplomaten.« Schon etwas weniger komfortabel, nämlich in gelben Waggons der weichen Klasse, reisen die »NEP-Männer«, so weiß Kisch, »die Trockenwohner der ›Neuen Ökonomischen Politik‹, […] man sieht ihnen an, daß sie von unten stammen, aber sie haben Fettpolster, rötliche Glanzpunkte über den Backenknochen, sind mit Handel und Wandel zufrieden, mit Essen und Trinken dito« (ebd.). Ein nochmaliger Farbwechsel bringt den Reporter schließlich zu den Abteilen in waldigem Dunkelgrün und damit in die Mitte des russischen Volkes. Die interessantesten Fahrgäste, weitaus die interessantesten benützen die harte Klasse  ; wer das Glück hat, einige Tage oder gar einige Wochen im dunkelgrünen Waggon fahrend zu wohnen, der sieht und hört das alte und das neue, das nördliche und das südliche, das begeisterte und das empörte Rußland, der lernt die Urbilder aller Typen aus der Literatur kennen, von Gorkis Barfüßlern bis zu Tolstois Fürsten […]. (Kisch 1927, 8)

Als ein grandioser Übertreibungskünstler liebt Kisch die harte Fügung der Kontraste. Dementsprechend kommentiert er auch die langsame Vorbeifahrt des Zuges an den Wahrzeichen Moskaus und dessen weniger repräsentativen Kehrseiten als ein Schwelgen in größtmöglicher Ungleichzeitigkeit. Moskau kriecht vorbei, Orgie der Kontraste, asiatisches Dorf mit Häusern in amerikanischem Wolkenkratzerstil, Kistenschlitten und Autobus, Barockpalast und Holzhütte, Stanislawskij und Meyerhold, Presseaufschwung und Diktatur. (Kisch 1927, 8)

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Die Mechanik der Gegensätze ersetzt die grammatische Durchführung eines Satzverlaufs, schon wieder kommt dabei der Telegrammstil zum Zuge, für länger ausholende Erklärungsversuche bleibt angesichts des weiterrollenden Zuges gar keine Zeit. Doch die wie in Reporter-Kurzschrift hingeworfenen Bemerkungen haben es in sich, sie tragen die untergründig ausgeformte Theorie einer monumentalen Kontinuität in sich, die vom orthodoxen Zarenreich durch eine kleine optische Überblendung geradewegs zur Bastion des roten Revolutionsimperiums führt  : Von den Turmknäufen des Kreml leuchten goldene Zarenadler unversehrt herüber, zwischen ihnen weht Tag und Nacht die rote Fahne von der Kuppel. Vierzigmal vierzig goldene Kreuze mit je acht Enden […] richten sich fromm zu Gott empor, vierzigmal vierzig blutrote Sterne mit je fünf Enden richten sich trotzig gegen Gott empor. (ebd.)

Die christliche Symbolik der Zarenherrschaft und das revolutionäre Bildsymbol des roten Sterns treten zwar markant gegeneinander an bei ihrem Versuch, den Himmel über Moskau zu beherrschen, doch zeigen sie sich, zumindest im Blick des vorbeisausenden Reporters, genau in dieser Geste auch auf augenfällige Weise miteinander verwandt. In solchen Passagen folgt Egon Erwin Kisch dem Programm seines ursprünglich vorgesehenen Buchtitels, der Formulierung vom »roten Reich«. Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Autoren wie Kisch und auch Joseph Roth, die beide in der Spätzeit der Habsburger-Ära des ewigen Kaisers Franz Joseph aufgewachsen waren, zwar eher in der Peripherie der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, aber durchaus geprägt von deren Symbolen und Insignien, dass diese beiden Reisenden fast unwillkürlich in ästhetische Analogien zu Österreich-Ungarn verfallen, wenn sie die imperiale Prunkentfaltung des roten Moskau zu beschreiben versuchen. Kisch freilich steuert gegen, sobald es zu heimelig wird, indem er im Akzent seiner Metaphorik sogleich auf das orientalisch-exotische Moskau überwechselt  : Und die Türme selbst  ! Es war dafür gesorgt, daß goldene Zwiebeln in den Himmel wachsen – an einer Straßenecke hat man mit einer Ananas Fußball gespielt, und sie blieb in der Luft hängen –, am Roten Platz steckt eine buntgewürfelte Gesellschaft von beturbanten Emiren, Scheichs und Großwesiren die Köpfe zusammen und flüstert sich, o heiliger Basilius  !, pikante Geheimnisse aus dem Harem zu. (ebd., 9)

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Eine vergleichbare Darstellungsweise lässt sich in Kischs Kapitel »Verkehr in Moskau« beobachten, das ebenfalls lustvoll in politischen Farbcodes und karikierenden Kontrast-Zuspitzungen schwelgt. Dort schildert Kisch anschaulich die Drangsale einer Stadt, »die über Nacht ihre Bevölkerungszahl verdoppelt hat« und in der deshalb Autobusse und Straßenbahnen während des Berufsverkehrs eine »lebensgefährliche Überfüllung« (ebd., 36) aufweisen. »Von neun bis zehn Uhr morgens, wenn die Leute zur Arbeit fahren, von halb fünf bis sieben Uhr abends, wenn die Leute von der Arbeit fahren, ist der Anblick einer Straßenbahn zum Steinerweichen« (ebd., 35). Um die massiven Transportprobleme der Stadt zu lösen, wäre eine Untergrundbahn »dringend notwendig«, weiß Kisch, und fällt sich selbst sogleich ins Wort  : »doch was wäre nicht alles notwendig  : zehntausend Häuser, neue Fabrikbauten, landwirtschaftliche Maschinen – vorläufig muß man eben mit der Hand arbeiten und zu Fuß gehen« (ebd., 36). Die Umgestaltung hat zwar zu neuen Dimensionen gesellschaftlicher Mobilität geführt, doch längst noch nicht zu den Ressourcen und Hilfsmitteln, welche dem damit geschaffenen Bedarf auch nur annähernd gerecht werden könnten. Lange aber hält sich Kisch nicht mit Struktur-Überlegungen auf, viel lieber kommentiert er die pittoresken Erscheinungen des Straßenlebens wie etwa den konsequent in Rot gekleideten Leichenzug, mit dem die kommunistische Travestie einer klerikalen Kleiderordnung ihren nahezu karnevalistischen Ausdruck findet. Ist jemand von der Jugendorganisation gestorben, zieht der Kondukt, Mädchen mit rotem Kopftuch und Knaben mit roten Halsbinden, hinter einem roten Sarg auf rotem Leichenwagen, die Pferde tragen rote Schabracken, die Kränze sind aus roten Nelken mit roten Schleifen, und der rote Zug bewegt sich mit roter Musik über den Roten Platz der roten Stadt  ; […] die Passanten bleiben stehen, die Pietät wird von der roten Draperie ebenso wachgerufen wie einst von der schwarzen. (ebd., 37)

Was zu beweisen war  : die revolutionäre Umwertung ändert zwar die Art und Anmutung der religiösen Symbolik  – ihre ›Farbe‹ –, nicht aber beseitigt sie deren Funktionsweise selbst. Mit vergleichbar spitzer Feder zeichnet der Reise-Reporter die vielen Märkte und Verkaufsstände in ihrem bunten Gewimmel, die »handgestickte Hemdblusen, Heiligenlämpchen, alte Ikonen, Filzstiefel«, mit anderen Worten  : »Russisches« und »Allzurussisches« (ebd., 39) feilbieten, als eine schroffe Mixtur von einst und jetzt, die in ihrer provisorischen Anmutung zugleich etwas sehr Zähes und Dauerhaftes zu haben scheint. An den Verkaufsstellen für

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Abb. 2. Straßenbahn auf dem Sverdlov-Platz (Theaterplatz).

Branntwein und für Kleiderstoffe bilden sich die größten Menschenmengen  ; dort konzentriert sich die wirtschaftliche Betriebsamkeit der Menschen, die gerade das Viertel des Kitaj-gorod seit jeher ausmacht  : »Sechshundert Jahre lang herrschten in dem Stadtteil, den der chinesische Wall umgibt, die Handelsleute so absolutistisch, wie im Nachbarbezirk die Bojaren herrschten und der Zar« (ebd., 48). Nur im ehemaligen Zentrum des kommerziellen Lebens, in den Räumen der Warenbörse, ist vom Puls des Wirtschaftslebens kaum noch etwas zu spüren. »Zur Börsenzeit, von zwölf bis zwei, herrscht auf der Zentralwarenbörse des warenreichsten Landes eine unglaubliche Ruhe, ja Langeweile« (ebd., 46). Auf die Frage, wie die Geschäfte gehen, wird man kaum einer Antwort gewürdigt  : gibt man sich nicht zufrieden, will man wissen, warum der betreffende Genosse unter besagten […] Umständen hierherkommt, so erfährt man  : ›Sehen Sie, ich habe mich mein ganzes Leben lang geplagt, habe gehandelt und geschachert, und jetzt, als alter Mann, will ich eben meine Ruhe haben und meinen Frieden. Deshalb gehe ich jeden Tag von zwölf bis zwei zur Börse‹. (ebd., 48)

Die Börse als Refugium einer Entspannungs- und Entschleunigungskur  – schlagender ist die Abkehr vom Kapitalismus kaum zu belegen. Mit sicherem

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Gespür für witzige Kontraste spießt Kisch dieses flagrante Veränderungsindiz bei seinen Moskau-Erkundungen auf. Durch ein nicht minder charakteristisches Detail wird die etwas behelfsmäßige, improvisiert wirkende Atmosphäre im Innern der großen, völlig überbelegten Wohnhäuser eingefangen. Denn sofort fällt Kischs Aufmerksamkeit auf die Allgegenwart des Primuskochers, der auf allen Etagen für Heißwasser und warme Mahlzeiten sorgt  : Im Inneren der Häuser hört man das Surren und Fauchen des Primusbrenners, das Brodeln des Wassers oder der Suppe in dem Topf, der ihn krönt […]. Die schwedische Primusfabrik veröffentlichte vor kurzem eine Statistik, laut der sie seit Anfang 1918 nicht weniger als eine Million Apparate nach Moskau geliefert hat. (ebd., 51)

Nun also ist klar, wo, wie und wodurch die Flamme der Revolution tatsächlich befeuert und am Brennen erhalten wird. Der schwedische Gaskocher ist in seiner unkomplizierten Aufstellung und universellen Verwendbarkeit geradezu der Inbegriff eines Gesellschaftsmodells, in dem sich Kollektiv und Individualität miteinander arrangiert zu haben scheinen – wenn auch nur der ersten Not gehorchend. Aufgeteilt sind die Wohnungen, um zwölfhunderttausend Zuwanderern Platz zu schaffen, gemeinsam geblieben ist die Küche, und dort bereitet man auf dem Herd die Einheitsmahlzeit zu  ; die Menschen sind gleich, die Mägen aber sind verschieden, und als primus inter pares steht der Benzinkocher da. (ebd., 52)

Kischs keckes Wortspiel umschmeichelt ein zentrales Element des Alltagslebens, das sowohl für die höchste Gefahrenquelle steht (die Liste tödlicher Unfälle mit dem Brennkocher ist lang) als auch eine neue Art der Anbahnung von Liebesbeziehungen eröffnet  : Heiraten kann ein Paar zum Beispiel dann, wenn bei den zwei Personen etwa ein Primuskocher auf einen Samowar trifft (ebd.). An spielerischer Leichtfüßigkeit können es die Reisebilder Joseph Roths mit den turbulenten Impressionen Kischs wohl nicht aufnehmen, doch sind auch bei Roth Bestrebungen erkennbar, die Fremdheit des in Russland Erfahrenen sowohl durch einordnende Vergleiche wie durch verstärkende Kontrastbildungen effektvoll hervorzuheben. Als Reise in Russland hat der Autor 1926 zum Buch versammelt seine Berichte herausgebracht, die zuvor in einzelnen Lieferungen, von den jeweiligen Stationen seiner Erkundungstour abgesandt, in der Frankfurter Zeitung abgedruckt worden waren.

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Wie andere Reiseerzähler vor und auch nach ihm eröffnet Roth den Reigen seiner Impressionen vor Ort mit der Beschreibung des Transportweges und der Eisenbahn. Es beginnt mit dem Zwischenaufenthalt für den Grenzübertritt, dem umständlichen Zeremoniell der Zollrevisoren und dem Wechsel der Zugmaschine. Der Reisende bemerkt  : »Die russische Lokomotive pfeift nicht, sondern heult wie eine Schiffssirene, breit, heiter und ozeanisch« (Roth II 1990, 595). Schon ist der Tonfall auf die abenteuerliche, ganz ins Weite sich öffnende Erkundung eines neuen Kontinentes gestimmt. Das alte und enge westliche Europa ist durch die Erfahrung des weiten östlichen Raumes und die Erscheinungsformen der Revolution mit ihrer immense Menschenmassen erfassenden gesellschaftlichen Kollektivierung in gleich zweifacher Weise herausgefordert. Um seinen Erlebnissen und Eindrücken eine gewisse Form zu geben, notierte sich Roth auf einem Konzeptpapier die verschiedenen Schauplätze und Problemfelder, die sich ihm unterwegs aufdrängen, in einer stichwortartigen Liste, die übrigens der tatsächlichen Gliederung und Abfolge seiner Reportagen schon recht genau entspricht.3 Das Spektrum der Themen reicht von eher atmosphärischen Impressionen zum Moskauer Straßenleben über eine allgemeinere, fast schon philosophische Positionierung Russlands und der Sowjetunion innerhalb der aktuellen geistigen Situation bis hin zu einzelnen Praxisbereichen des sozialen Lebens wie Industrie, Ausbildung und Kultur. Eine besondere Rolle spielt einerseits der an mehreren Stellen sich einmengende Vergleich mit dem zeitgenössischen Amerika, der zweiten großen Fluchtlinie des europäischen Blicks auf die Weltkarte, und den gleichfalls in untergründiger Weise immer wieder mitschwingenden Vergleichen zum Untergang der imperialen Vorkriegsordnung in den Metropolen des Westens, etwa in Wien und Berlin, aber auch in Paris. In Joseph Roths Russland-Buch zeigt sich, nicht anders als kurz darauf auch bei Benjamin, eine Doppelrichtung des Blicks, nach Moskau hin und von dorther zurück. Bezeichnenderweise eröffnet Roth die Reihe seiner russischen Artikel mit einem noch vor der Reise selbst spielenden Porträt der Emigranten-Szene, jener Gemeinde von Exilrussen, die vor der Revolution geflohen waren und sich anfangs der zwanziger Jahre in Paris, in Berlin und in anderen großstädtischen Sammelbecken des Westens wiederfanden. Lange bevor man noch daran denken konnte, das neue Rußland aufzusuchen, kam das alte zu uns. Die Emigranten trugen den wilden Duft der Verlassenheit, des Bluts, der Armut, des außergewöhnlichen, romanhaften Schicksals. (Roth II 1990, 591)

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Diese »Vertriebenen« und »Wanderer durch die Welt ohne Ziel« passten nur allzugut zu den westlichen Klischeevorstellungen über die »russische Seele« und ihre Leidensbereitschaft. »Europa« (das westliche Imaginarium, in welchem die Russen nur als Kosaken oder in Form von bühnenreifen Bauernhochzeiten auftraten) »erfuhr« insofern auch anhand dieser Emigrantenschar nicht, »wie sehr französische Romanciers […] und sentimentale Dostojewski-Leser den russischen Menschen umgelogen hatten zu einer kitschigen Gestalt aus Göttlichkeit und Bestialität, Alkohol und Philosophie, Samowarstimmung und Asiatismus« (ebd.). Roth knüpft, vor eigentlichem Reisebeginn, an die Erfahrungen und Vergleichsmöglichkeiten seines westlichen Publikums an  ; auch wer selbst keine Gelegenheit zu Kontakten mit Vertretern der russischen Emigrantenszene hatte, kann sich mithilfe dieser pointiert gezeichneten Skizze lebhafte Vorstellungen von diesen unzeitgemäß gewordenen, im Klischee erstarrten Protagonisten des alten Russland machen. In dem kleinen Hotel im Pariser Quartier Latin, in dem ich wohnte, lebte einer der bekannten russischen Fürsten, mit Vater, Frau, Kindern und einer ›bonne‹. Der alte Fürst war noch echt. Er kochte seine Suppe auf einem Spirituskocher, und obwohl er mir bekannt war als eine antisemitische Kapazität und eine Leuchte in Bauern-Schinden, erschien er mir dennoch rührend an feuchten herbstlichen Abenden, durch die er frierend kroch, ein Symbol, kein Mensch mehr, ein Blatt, abgeweht vom Baum des Lebens. Aber sein Sohn, in der Fremde erzogen, elegant von Pariser Schneidern eingekleidet, von reichen Großfürsten erhalten – wie anders war er  ! Im Telephonzimmer konferierte er mit gewesenen Leibgardisten […]. Zu zaristischen Kongressen eilte er in Automobilen […]. Wahrsager, Popen, Kartenleser, Theosophen kamen zu ihm, alle, die die russische Zukunft kannten […]. Alle verloren sich. Sie verloren das Russentum und den Adel. […] Unsere Augen wurden müde, ein Elend zu betrachten, das sich selbst so billig gemacht hatte. (ebd., 593  ; »Die zaristischen Emigranten«, 14. 9. 1926)

Roth zeigt hier auf ein abgehalftertes, ein dekadent gewordenes und verbohrtes Restpersonal, das von früherer Größe nur mehr die Prätention und das Ressentiment beibehalten konnte. Wie angelesen oder eingebildet solche Klischees auch sein mochten, sie schaffen doch eine gewisse Vorab-Sympathie für das neue, das sozusagen richtige und lebendige Russland unter den neuen Auspizien des Sowjetsterns. Vor der Revolution, so Roth, sei der Unterschied zwischen der europäischen und der russischen Bourgeoisie »gewaltig« gewesen. Im russischen Kaufmann

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habe eine »ritterlich-aristokratische Tradition« (ebd., 690) noch von den Zeitläuften unbeeindruckt fortbestanden, während in den westlichen Großstädten längst die differenzierten Verkehrsformen von Wirtschaft, Wissenschaft und politischen Institutionen Einzug gehalten hätten. Demzufolge habe die Revolution zunächst als eine nachholende Verbürgerlichung geschichtlich wirken müssen, glaubt Roth. »Ja, es sieht beinahe so aus, als hätte die bürgerlich-europäische Zivilisation den Marxismus mit der Aufgabe betraut, in Rußland ihr Schrittmacher zu sein.« (ebd.) Kultur und Gesellschaft stehen ganz im Banne der Technik, sind auf eine »allgemeine Mobilisierung« ausgerichtet. Traktoren  ! Traktoren  ! Traktoren  ! – ruft es im ganzen Land. Zivilisation  ! Maschinen  ! Abc-Bücher  ! Radio  ! Darwin  ! – man verachtet ›Amerika‹, das heißt den seelenlosen großen Kapitalismus, das Land, in dem Gold Gott ist. Aber man bewundert ›Amerika‹, das heißt den Fortschritt, das elektrische Bügeleisen, die Hygiene und die Wasserleitung. Man will die vollkommene Produktionstechnik. Aber die unmittelbare Folge dieser Bestrebungen ist eine unbewußte Anpassung an das geistige Amerika. Und das ist die geistige Leere. (ebd., 631)

Vom ›alten Europa‹ aus gesehen, verkörpern die amerikanische und die sowjetische Welt zwei zwar gegenpolige, aber in ihrer energischen Zukunfts-Ausrichtung und in ihren schier unbeschränkten Ressourcen auch wieder vergleichbare Formen von Herausforderung. Diese extremen ›Anderwelten‹ veranschaulichen auf faszinierende und zugleich bedrohliche Weise, was einmal werden könnte, wenn die engen bürgerlichen Verhältnisse und ihre alteuropäischen Traditionsbestände nun bald nicht mehr den Nabel des Globus bedeuten. Das alte Russland mit seinem »Mystizismus«, seiner »Slavophilie«, seiner »Romantik des Bauerntums« sei zutiefst und »selbstverständlich reaktionär« gewesen, urteilt Roth (ebd.). Von diesen Entwicklungsrückständen her müsste, so glaubt der Besucher, die zivile und bildungsbürgerliche Vielfalt des europäischen Westens erst einmal in ihren Errungenschaften ergriffen und angeeignet, nicht aber sogleich zugunsten eines superlativischen Amerikanismus überboten oder einfach nur übersprungen werden. Ganz ähnliche Beobachtungen und Erfahrungen konnte Walter Benjamin zur selben Zeit anstellen, als er in Moskau um Verständnis für die innere Differenziertheit seines Blicks auf die Literatur der deutschen Klassik warb, vergebens allerdings, wie sich zeigen sollte. Im Bildungswesen sieht Roth zwar bemühte und lobenswerte Ansätze sowohl an den Schulen als auch an den Universitäten, hält aber ein Umsteuern gegen die Austreibung des Individualismus für unbedingt notwendig. Er setzt

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auf die »Einsicht, daß auf die Dauer die Erziehung zum ›Kollektivismus‹ die Ausbildung zum wissenden, also freien Menschen behindert« (ebd., 665). Irri­ tierend auf seine Leser wirkte vermutlich auch die Beobachtung, dass in der neuen sowjetischen Gesellschaft die Beziehungen der Geschlechter weitgehend ohne die verdeckte oder offene Thematisierung von Sexualität auszukommen schienen. »Im nachrevolutionären Rußland hat man weder Zeit noch Lust, noch Sinn für eine erotische Kultur« (ebd., 647). So eine der Erkenntnisse Roths in seinem Artikel »Die russische Frau von heute« (19. 12. 1926). Die Experimente in Richtung einer revolutionären Kunst quittiert Roth hingegen mit Skepsis  ; insbesondere die Theater-Avantgarde eines Mejerchol’d gilt ihm als elitäre und doktrinäre Veranstaltung, ihr Besuch als durchaus unerfreuliche Strapaze, schon der höchst unbequemen Bestuhlung wegen  : Mit ehrlichem Entsetzen denke ich an des berühmten Meyerholds Theater  – ich meine den Zuschauerraum. Meyerholds politischer und künstlerischer Charakter kommt in der Inszenierung des Zuschauerraums stärker zum Ausdruck als in der revolutionären Regiemethode, mit der der Dramatiker meyerholdisiert. Dieser Meyerhold, Lokomotivführer auf dem Zug der Zeit, ist mit Erfolg auf die Unbequemlichkeit des Zuschauers bedacht. […] Der Zuschauerraum ist häßlich, kahl und kalt […]. Es liegt nicht an der Heizung, sondern am Prinzip. (ebd., 674  ; »Russisches Theater  : Im Parkett«, 5. 2. 1927)

Auf die große öffentliche Kontroverse um Mejercholds Inszenierung des Revisors, an der auch Walter Benjamin als Zuschauer und Berichterstatter Anteil nahm, geht Roth eher beiläufig ein  ; sie gilt ihm als Symptom eines auf Verblüffung und auf Provokation ausgerichteten Regietheaters, das nur eine schmale kulturelle Schicht von Eingeweihten anspricht. »Die sich für Meyerhold interessieren – o bittere Wahrheit  ! –, sind die Intellektuellen, Lunatscharski inbegriffen. Dem Proletariat muß man schon Freibillette geben« (ebd., 675). Der westliche Theaterbesucher mokiert sich über modernistische Zumutungen, die bald schon tatsächlich nicht mehr gefördert und auch nur geduldet würden. Dass die Weichenstellung innerhalb des sowjetischen Kulturbetriebs in Richtung Gleichschaltung und Tilgung solcher intellektuellen Provokationen gehen würde, sieht Roth hier offenbar nicht kommen. Der Journalismus – als derjenige Kulturbereich, der dem leidenschaftlichen Zeitungsmenschen Roth besonders nahegeht – krankt unter den Sowjet-Bedingungen nach Ansicht des Besuchers gleich an mehreren gravierenden Defiziten  : er wird zu stark von staatlichen Stellen getragen und gelenkt, er muss sich

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nicht dem Geschmack und den Kaufentscheidungen eines wählerischen Publikums unterwerfen, und die Zeitungsleute haben keinerlei internationale Vergleichsmöglichkeiten oder Vorbilder mehr, an welchen sie lernen könnten. Es ist also dreierlei, was der russischen Presse fehlt  : »die Unabhängigkeit von der Regierung, die Abhängigkeit vom Leser und die Kenntnis der Welt« (ebd., 659  ; »Öffentliche Meinung, Zeitungen, Zensur«, 28.12.1926). Hier liefert Roth, ex negativo, eine Quintessenz seines eigenen journalistischen Selbstverständnisses in der demokratischen Öffentlichkeit. Faktengläubigkeit und Zeugenberichte, wie sie in den russischen Zeitungen dominieren, vermitteln als solche eben noch kein perspektiviertes, kritisch durchdrungenes Bild der Lage. Weiß diese junge Presse, weiß diese junge Regierung noch nicht, daß man zur Spiegelung des Lebens der Spiegel bedarf  ? […] Es ist eine physische Unmöglichkeit, sich selbst zu photographieren, das Objekt kann sich nicht durch die Linse betrachten. Deshalb gibt es in den russischen Blättern fast lauter richtige Tatsachen und fast lauter falsche Berichte  ; Geständnisse und keine Aufklärung  ; Angaben und keine Bilder. Deshalb weiß der ausländische Journalist, der die Augen aufmacht, von Rußland mehr als sein einheimischer Kollege. (ebd., 658)

Der Reisende gibt hier eine höchst plausible Begründung ab dafür, warum das neugierige, erkundende Reisen, vor allem die dabei stattfindende Erfahrung und Verarbeitung kultureller Differenz, eine Erkenntnisform eigener Art darstellt. Zwischen die scheinbar so objektiven Phänomene selbst und ihre literarische Wiedergabe macht sich nämlich die vermittelnde Instanz eines besonderen, individuellen Temperamentes bemerkbar, das aus Mitgebrachtem und Wahrgenommenem etwas Drittes zu schaffen in der Lage ist. In der Sensibilität und Phantasie eines aufmerksamen, geistreichen Beobachters liegt die Möglichkeit begründet, in kurzer Zeit und sogar ohne sehr tief reichende Sprachkenntnisse in der Stadt Moskau oder auch bei den Reiseerlebnissen unterwegs einige Merkmale des sozialen Lebens zu erhaschen, die den Einheimischen so nicht erkennbar sind (und denjenigen, die sich gar nicht nach Moskau trauen, erst recht nicht). Der herumreisende Betrachter hat dabei die Lizenz, selektiv und emotional zu verfahren, solange er die subjektive Perspektivierung seiner Darstellung nicht verleugnet oder zugunsten von scheinbar gesicherten Verallgemeinerungen verdrängt. Was der individuelle Reisende zu bieten, hat, sind seine Eigenwilligkeit und Spontaneität. Und gerade, was diesen Punkt betrifft, bleiben spätere Moskau-Berichte wie derjenige Feuchtwangers und auch die Bilanz André

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Gides an ästhetischer Prägnanz, Eigenständigkeit und geistiger Freiheit weit hinter den Darstellungen früherer Jahre zurück, hinter den Beobachtungen von Kisch, von Roth und von Benjamin. Die subjektive und bisweilen geradezu spielerische Seite der Gattung Reiseliteratur kommt bei Joseph Roth, einem Stilisten von hoher Eleganz, vor allem dort zur Entfaltung, wo er Szenen schildert, die selber eine gewisse Theatralität aufweisen. So kann man als Gegenbild zum traurigen Schicksal des im Exil dahin dämmernden russischen Fürsten das prachtvolle öffentliche Schauspiel des Revolutionsfeiertages in Betracht ziehen, von dem der Besucher eine furios mitgehende Vergegenwärtigung bietet. Der siebente November 1926 ist der neunte Feiertag des revolutionären Rußland. Am sechsten abends ist Illumination. Sie fällt diesmal sparsamer aus als in den letzten Jahren. […] Mit dem Nebel kämpfen silbern und rot leuchtende Inschriften. Porträts und Büsten von Lenin stehen in den Schaufenstern, etwas streng drapiert. Die Kaufläden werden geschlossen. Man hört diesen ganz bestimmten Tschinellenklang der Schlüssel, der nur am Vorabend der Feiertage ertönt.

Und weiter  : Am nächsten Morgen, Sonntag um neun Uhr früh, beginnt die berühmte, schon historisch gewordene Parade der Roten Armee auf dem Roten Platz im Kreml. Diese Szenerie und diese Parade hätte Shakespeare dichten können. Der Rote Platz ist so groß, daß er mindestens drei moderne breite Großstadt-Boulevards in sich fassen könnte. Ein Tor eröffnet ihn, eine vielkupplige Kirche schließt ihn ab. Vor der gezackten Kremlmauer steht das hölzerne Grabmal Lenins. Es ist eine ungewollte, aber symbolisch wirkende Mischung von Denkmal und Rednertribüne. (ebd., 626  ; »Der neunte Feiertag der Revolution«, 14. 11. 1926)

Roth verfolgt das Zeremoniell in sichtlicher Faszination, er schildert es in seinen Einzelheiten mit Kennerschaft und Genauigkeit. »Auf diesem Platz stehen in breiten dichten Karrees die Soldaten  : gelbgraue Mäntel, Gewehrläufe, gelbe Riemen, russische Mützen mit stumpfer, niedriger Scheitelspitze  ; Gewehre, Mäntel, Mützen  ; Mützen, Mäntel, Gewehre.« »Im Hintergrund warten  : Kavallerie […], die Artillerie und die Tanks. Nichts rührt sich. Man hört aus der Ferne heranziehende Musik. Ein nasser Novembermorgen geht über den Platz in leisen Galoschen« (ebd.). Schlag neun klingt die Turmuhr mit metallenem Tönen, »präzise und etwas kirchlich«. Die Regie des Erzählers tut alles, um die

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Abb. 3. Parade auf dem Roten Platz, 1920er Jahre.

der Darbietung inhärente Choreographie möglichst wirkungsvoll zu vergegenwärtigen, wenn nicht noch zu überbieten. »In diesem Augenblick wird es noch stiller als vorher. Ein Kommando knallt plötzlich, ganz unerwartet, obwohl alle es erwartet haben.« Die dem Geschehnis selbst innewohnende Spannung zwischen dem schon ritualisierten Zeremoniell dieses Erinnerungskults und dem Anspruch an die Performanz seiner alljährlich wiederkehrenden Feier, diesmal erst recht in einem Ereignis eigenen Rechts und dringlicher Gegenwart sich zu zeigen, gewinnt in Roths Schilderung an Brisanz. Drei Reiter sprengen vor. Galopp. Lange Mäntel wehen. Der Kommandeur der Armee und zwei Begleiter. Vor jedem Soldaten-Karree reißen sie die Pferde nach rechts. Jede Abteilung ruft  : ›Hurra  !‹ Eine Minute Galopp, eine Sekunde Hurra. Rings um den Platz  ! Wendung  ! Zurück  ! Musik spielt die Internationale. (ebd., 627)

Der Beobachter schwelgt hingerissen in der akkurat einstudierten Choreographie des militärischen Spektakels. Fast wie einst in höfischen Turnieren, feiert sich hier eine Elite durch einstudierte Reiterspiele  ; das zeitliche Missverhältnis aber zwischen dem zeremoniellen Vorlauf und seiner eruptiven Entladung  – Eine Minute Galopp, eine Sekunde Hurra – ist Roth eine ausdrückliche Erwäh-

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nung wert. Auch die Revolution ist eigentlich nicht mehr als ein solcher Kairos, der Moment, in dem eine Ordnung ins Wanken gerät und alles anders wird. Noch hat die neue Ordnung nicht den Grund zu einem stabilen Zusammenwirken von Wirtschaft und Gesellschaft zu legen vermocht, und schon deckt sie mit Anleihen an die imperiale Selbstrepräsentation vergangener Dynastien ihren inneren Widerstreit zwischen Stillstand und Bewegung zu. Doch wie verdächtig diese auftrumpfenden Reiterspiele auch sein mögen  – der k. u. k. erfahrene Besucher wohnt ihnen nicht ohne Anteilnahme bei. Es mag schon etwas daran sein, wenn Walter Benjamin nach einem Treffen mit Roth in dessen noblem Moskauer Hotel am 16. Dezember den Eindruck gewinnen konnte, der »auf großem Fuße« lebende Roth sei »als (beinah) überzeugter Bolschewik nach Rußland gekommen« und verlasse es nun wieder »als Royalist«. Und mit beißendem Spott fügt Benjamin hinzu  : »Wie üblich, muß das Land die Kosten für die Umfärbung der Gesinnung […] tragen« (Benjamin VI 1991, 311). Für Walter Benjamin selbst wiederum steht, unter den bislang betrachteten Moskaureisenden, persönlich am meisten auf dem Spiel. Man bemerkt dies etwa daran, wie auf wenigen Zeilen die (markant bellizistisch konnotierten) Begriffe der Stellung und des Standpunktes kollidieren mit dem historisch ungleich zutreffenderen des Wendepunktes. Denn der Autor situiert seine Arbeit und Reiseerfahrung ausdrücklich an »einem Wendepunkt historischen Geschehens, wie ihn das Faktum ,Sowjet-Rußland‹ wenn nicht setzt, so anzeigt.« (Benjamin IV.1 1991, 317) Die Vokabel des Wendepunktes verweist auf ein Geschehen, das sich akut an einem Punkt instabiler Lage befindet und eine neue Richtung einzuschlagen im Begriff ist, von der höchstwahrscheinlich wenig Gutes zu erwarten steht. Von dieser wie auf der Kippe stehenden gesellschaftlichen Situation geben jene Alltagsbeobachtungen, kleinen Begegnungen und persönlichen Erlebnisse am meisten zu erkennen, in denen nicht der offizielle Sprachduktus durchdringt, zu dem Benjamin, wie die anderen westlichen Besucher, immer dann seine Zuflucht nimmt, wenn es ideologisch heikel zu werden droht. Moskau bringt den durchaus reisegewohnten, kosmopolitisch gesonnenen Autor an den Rand seiner Möglichkeiten. Wohl kaum irgendwo in Europa bewegt sich Benjamin auf derart schwankendem Grund, so unsicher bezüglich seiner persönlichen und sozialen Rolle. Diese offene Empfindlichkeit eines Suchenden und Schwankenden bestimmt, auf weitere Sicht genommen, die literarische Qualität und ästhetische Wahrhaftigkeit von Benjamins Moskau-Schilderung und belegt, dass sich der Autor keineswegs nur mit den Berliner Verhältnissen

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Abb. 4. Autobus in den 1920er Jahren.

oder mit der eigenen politischen Positionierung beschäftigt. Überwiegend geht es in dem Städtebild indes um den Vorgang eines interkulturellen Lernens, bei welchem der Reisende das unbekannte Moskau mit den Augen eines westlichen Bildungsbürgers, eines aus Deutschland kommenden, die Last seines Gepäcks erst allmählich abstreifenden Besuchers betrachtet. Benjamins mehrere Dutzend Seiten umfassender Essay gibt, auf zwanzig Unterkapitel verteilt, eine durchaus vielfältige, kaleidoskopartige Reihe von Eindrücken und Szenen des Moskowiter Lebens unter dem roten Stern wieder. Anschaulich schildert er zunächst die vorsichtigen, schlängelnden Bewegungen des mit der Eisschicht unerfahrenen Fußgängers (»Gehen will auf dem dicken Glatteis dieser Straßen neu erlernt sein«  ; ebd., 318)  ; sodann die Heraus­ forderungen des Benutzens von engen, zugigen Schlitten (ebd., 331) und von überfüllten Straßenbahnen mit vor Kälte durchwegs blinden Scheiben. Beförderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung schicken. […] Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. […] Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann

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man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. Erfährt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil verrammelt. […] Meist spielt sich die Beförderung freilich schubweise ab  ; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz geräumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein Massenphänomen. (ebd., 330f.)

Der Berichtende unternimmt selbst einige Streifzüge durch das bunte Angebot der vielen Marktstände und Straßenverkäufer. In staunenswerter Mannigfaltigkeit drängen die Waren mit ihren Anbietern auf die »offene Straße« (ebd., 320), was den Reisenden an vergleichbare Eindrücke aus Italien erinnert, damals allerdings hatten nicht 25 Grad unter Null geherrscht, sondern »voller neapolitanischer Sommer« (ebd.). Von den Garküchen und Ständen in Moskau ist, ganz anders als im Süden, kaum ein lautes Wort zu vernehmen. Die Menschen sind zurückhaltender, und der Schnee dämpft zusätzlich die Geräusche, Autos als Lärmquellen fallen ebenfalls nur sehr spärlich ins Gewicht, denn es gibt kaum welche. Stattdessen ist das Auge um so stärker gefordert, es ist »unendlich mehr beschäftigt als das Ohr«, findet Benjamin (ebd., 319). In leuchtender Buntheit tritt ihm das Leben auf den Straßen und Plätzen entgegen, als eine Vitalitätsbekundung der Stadt, die sich auf elementarer sinnlicher Ebene abspielt  : »Die Farben bieten ihr Äußerstes gegen das Weiß auf« (ebd.). Bei seinen wiederholten Erkundungsgängen über die Märkte und durch die kleinen Läden entdeckt Benjamin u. a. Bilderbücher, papierne Fächer und handgefertigtes, solides Holzspielzeug. »Wagen und Spaten« kann der faszinierte Besucher in den Körben erspähen, er notiert  : »gelb und rot sind die Wagen, gelb und rot die Schaufeln der Kinder«. Und wieder mischt sich der Vergleich mit dem von Berlin her Gewohnten ein, wenn Benjamin feststellt  : »All dies geschnitzte und gezimmerte Gerät ist schlichter und solider als in Deutschland, sein bäuerlicher Ursprung ist deutlich sichtbar.« (ebd., 320) Umsichtig nimmt der Betrachter Proben des öffentlichen Farbenspek­ trums, in welchem sich Rot mit anderem paart, hier mit Gelb, in anderen Fällen mit Grün. Zum Echo dieses Farb-Zweiklanges wird die an späterer Stelle mitgeteilte Beobachtung einer »Frau, die Baumschmuck verkaufte« (ebd., 332), ein Indiz für die unübersehbare Fortgeltung der hier gleich doppelt lang, weil nach zweierlei Kalendern gefeierten Weihnachtszeit. Benjamins Reisebild deutet diese Hartnäckigkeit religiöser Symbolik freilich komplett säkular und versteht dieses russische Weihnachten als »ein Fest des Waldes« (ebd., 331).

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Abb. 5. Der alte Markt am Sucharev-Turm, Mitte der 1920er Jahre.

Die Glaskugeln, gelbe und rote, funkelten in der Sonne  ; es war wie ein verzauberter Apfelkorb, wo Rot und Gelb sich in verschiedene Früchte teilen. Tannen durchfahren die Straßen auf niedrigen Schlitten. Die kleinen putzt man nur mit Seidenschleifen  ; blau, rosa, grün bezopfte Tännchen stehen an den Ecken. Den Kindern aber sagt das weihnachtliche Spielzeug auch ohne einen heiligen Nikolaus, wie es tief aus den Wäldern Rußlands herkommt. (ebd., 332)

Die liebevolle Beschreibung des alten, handgefertigten Kinderspielzeugs, von der sich in den zugrundeliegenden Aufzeichnungen Benjamins sogar noch etliche weitere Stellen finden lassen, kontrastiert nun wiederum eigentümlich mit den Eindrücken beim Besuch einer Weihnachtsschmuck-Fabrik, wo dem Beobachter die unproduktiven, doppelt geführten Arbeitsabläufe auffallen. In seinen privaten Aufzeichnungen spricht Benjamin anlässlich der Fabrikbesichtigung sogar von einem »Zeugnis des Tiefstands in der industriellen Differenzierung« (Benjamin VI 1991, 347). Er nimmt die auf solche Mängel das Augenmerk legende Schilderung der Produktionsabläufe in jener Fabrik dann allerdings nicht in seinen Artikel auf. Auch an anderen Stellen übrigens zeigen sich signifikante Abweichungen zwischen seinen im privaten Tagebuch festgehaltenen Notizen und der für die Publikation bearbeiteten Fassung der entsprechenden Passagen.

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Im veröffentlichen Bericht wiederum gehört manches unter den erwähnten Sehenswürdigkeiten und Museen zum erwartbaren Pensum der touristischen Pflichtstrecke, so auch »die berühmte Tretjakoff-Galerie«, die Benjamin als Demonstration der russischen Genremalerei würdigt, wobei er die ländliche Malerei des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff der Genreszene überhaupt erklärt (Benjamin IV.1 1991, 323). Mit warmer Begeisterung hebt Benjamin das Spielzeugmuseum hervor (ebd.), das er während seines Aufenthaltes mehrfach besuchte und wo er sich von einigen Spielsachen eigens Photographien anfertigen ließ (und sie in der Folge für einen weiteren Artikel verwandte). Seine eigene Faszination für alte Kindersachen, Kinderbücher und Spielzeug des neunzehnten Jahrhunderts, die eine (auch aus anderen seiner Texte bekannte) veritable Sammlerleidenschaft darstellt, begründet Benjamin im Zusammenhang des Moskau-Porträts mit der besonderen Stellung, die den Kindern dort im gesellschaftlichen Leben zukomme. »Tagaus, tagein ist man auf Kinderfeste eingerichtet« (ebd., 320).4 Auch zur Kindererziehung auf den öffentlichen Moskauer Kinderplätzen und in Kinderheimen kann sich der Besucher einen Einblick verschaffen. Beflissen wird dem Leser erklärt, das schon die »kleinen Babys« die Bezeichnung »›Oktjabr‹ (›Oktobers‹)« erhalten, und zwar »vom Augenblick an, wo sie aufs Lenin-Bildnis deuten können« (ebd., 322). Andere Episoden handeln von den beengten, grotesk überbelegten Woh­ nun­ gen und dem ständigen Ausnahmebetrieb der vielerlei Reparaturen, Umstellungen und Umgruppierungen, die mit dem allgegenwärtigen Wort »Remonte« zusammengefasst werden. Eine geradezu szenisch ausgestaltete, besonders skurril wirkende Anekdote erzählt vom Versuch des Hotelgastes, sich zu früher Morgenstunde durch das Hotelpersonal wecken zu lassen. Der hierfür zuständige Bedienstete (im Russischen »Schweizer« genannt) beantwortet das Ansinnen mit einer geradezu grotesk entwaffnenden Unverlässlichkeit. In weiteren Abschnitten wird über das aktuelle Filmschaffen und von Thea­ ter­­ aufführungen der russischen Avantgarde-Regisseure berichtet. Vsevolod Mejer­chol’d und das von seiner Truppe seit 1923 bespielte Theater stellen dabei den wichtigsten Bezugspunkt dar. Über Verlauf und Ergebnis einer (am 3.  ­Januar 1927 geführten) öffentlichen Diskussion zu Mejercholds Inszenierung des Revisors (die Benjamin am 19. Dezember 1926 gesehen hatte) berichtet der Besucher während seines Aufenthaltes in einem Beitrag für die Literarische Welt, der dort nach seiner Rückkehr am 11. Februar erschien und dessen Darstellungsweise zuvor, im Stadium der Niederschrift, heftige Streitgespräche mit Benjamins Moskauer Freunden ausgelöst hatte.

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Walter Benjamin fühlt sich in der Moskauer Winterkälte überraschender­ weise gesund wie selten  ; zwar durchlebt er zwischenzeitliche Phasen der Erschöp­fung und Niedergeschlagenheit, zeigt sich jedoch meist erstaunlich unternehmungslustig trotz mancherlei äußerer Widrigkeiten. Sein eigenes Zeitkorsett ist nicht weniger drückend geschnürt als jenes, dem die Stadtbewohner ihrerseits unterworfen sind. Denn das öffentliche Leben steckt überall voller Pflichten und Funktionen. Im dichtgedrängten Betrieb der gesellschaftlichen Ordnung legt sich ein formelles, administratives Programm von lauter Sitzungen, Kommissionen, Behörden- und Ämter-Besuchen auf das alltägliche Leben, dessen massierte Anforderungen im Tageslauf dann allerdings in flagranten Widerstreit zur Insuffizient der Verkehrsmittel und zum nachlässigen Umgang mit vereinbarten Terminen und Arbeitszeiten geraten. »Im Zeitgebrauche« werde »der Russe am allerlängsten ›asiatisch‹ bleiben« (Benjamin  IV.1 1991, 329), notiert Benjamin – zwar mit einfachen Anführungsstrichen um das Epitheton des Asiatischen, aber nichts desto weniger dicht am Stereotyp. An solchen Aspekten stößt nicht nur die Treffsicherheit des Beobachters, sondern letztlich auch die Gattung des Reisebildes an ihre Grenzen, gerade weil der Berichtende es sich und seinem Publikum schuldig zu sein glaubt, seine Eindrücke und Informationen zu Bildern runden zu müssen. Für das Auseinanderklaffen von institutioneller Ordnung und gelebter Wirklichkeit im protostalinistischen Moskau wären die phantastischen Teufeliaden (D’javoljada) eines Bulgakov indessen womöglich doch die angemessenere Darstellungsform. So wurde zum Beispiel dem Neuankömmling Benjamin schon zu Beginn seines Moskau-Aufenthaltes die Geschichte eines Generals und Parteifunktionärs zugetragen, der »angeblich gegen seinen Willen und auf Stalins Befehl sei operiert worden« (Benjamin VI 1991, 293), mit tödlichem Ausgang. Dieser reale Vorgang (der »Fall Frunze«) einer Zwangsbehandlung ist wiederum Gegenstand einer Erzählung bzw. »Schlüsselnovelle« von Boris Pil’njak, die Benjamin in seiner Moskau-Studie lobend erwähnt, nun aber ohne den namentlichen Verweis auf den tatsächlichen Vorgang. »Am Ende«, so kommentiert Benjamins publizierter Bericht mit unverhohlenem Sarkasmus, sei auch die »Gesundheit der Genossen […] kostbarstes Besitztum der Partei, die, im gegebenen Fall über die Person hinweg, veranlaßt, was zu deren Konservierung ihr erforderlich scheint« (Benjamin IV.1 1991, 326). Wer beim Stichwort der Konservierung erstens den feinen semantischen Unterschied zur heilenden oder mindestens lebenserhaltenden Therapie mithört, und zweitens sich erinnert fühlt an die bildhafte Vorstellung des einbalsamierten, öffentlich zur Schau gestellten Lenin, dürfte bei dieser abgründigen Formulierung Benjamins durchaus richtig liegen.

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Befindet sich die Parteiraison, der jener Genosse (und unzählige andere, von denen Benjamin auch weiß oder ahnt) geopfert wurde, womöglich selbst bereits im Stadium der Mortifikation  ? Für die dann wiederum der tote Revolutionsführer das Sinnbild abgibt  ? Wohl nicht zufällig stellt der Reisende den Todestag Lenins, der sich am 21. Januar 1927, also noch während Benjamins Moskauer Aufenthalt, zum dritten Male jährte, ans Ende seines Stadtporträts, das damit ähnlich symbolhaft aufgeladen wird wie durch den Berlinvergleich zu Beginn. Immer deutlicher werde in der Sowjetunion »das revolutionäre Wesen echter Technik […] herausgestellt«, und dies durchaus »mit Grund«, so Benjamin, ausdrücklich »in Lenins Namen«. Der technische Zugriff der Partei auf das sterbliche Substrat des menschlichen Lebens fällt in Benjamins Bericht ebenso unter den Befund des hier omnipräsenten Willens zur Mobilität (»unbedingte Mobilbereitschaft« lautet das Stichwort  ; Benjamin IV.1 1991, 326) wie der im publizierten Aufsatz gleichfalls nur mit leisem Spott kommentierte Umstand, dass eines der großen Moskauer Theater von einem unfähigen Ex-General geleitet wird. Wo sonst als hier sei derlei überhaupt denkbar, so der staunende, aber vielleicht doch nicht ganz ernstgemeinte Ausruf, mit dem Benjamin diesen Skandal kommentiert. Zu fragen ist  : Enthält sich der Beobachter in solchen Fällen jenes entschiedenen Urteils, wie es seine eigene Präambel gefordert hatte, oder versteckt er es in den eleganten Mantelfalten einer maliziösen Ironie  ? Gegenüber dem toten Revolutionsführer und dem um ihn betriebenen Bilderkult jedenfalls bleiben Benjamins ironische Pointierungen auffallend stumpf. Selbst wenn er bemerkt, das landauf, landab omnipräsente Lenin-Bildnis hänge im Kreml’ selbst, »wie an einem ehemals gottlosen Ort von bekehrten Heiden das Kreuz erstellt wurde« (Benjamin IV.1 1991, 348). Gewiss sind es solche, durchaus naheliegenden magisch-religiösen Erklärungsmuster, die zu der These vom Kommunismus als Religion einladen, wie sie der russische Benjamin-Forscher Michail Ryklin (2008) ausgearbeitet hat. Doch ist für Benjamin mit der beobachteten Heiligsprechung Lenins in Rednerpose der Fall nicht abgetan, ganz im Gegenteil. Er liest die kultische Verehrung Lenins vielmehr als Indiz einer trotz der Kürze der revolutionären Ereignisgeschichte darin schon eingetretenen epochalen Zäsur, die den Gründerheros geschichtlich schon weit entrückt und gerade deshalb ins Gloriose überhöht habe  : Die Trauer um Lenin ist für die Bolschewisten zugleich die Trauer um den heroischen Kommunismus. Die wenigen Jahre, die er zurückliegt, sind für das russische Bewußtsein eine lange Zeit. Das Wirken Lenins hat den Ablauf der Geschehnisse

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Abb. 6. Demonstration vor dem ersten Lenin-Mausoleum.

in seiner Ära so beschleunigt, daß sein Erscheinen schnell Vergangenheit, sein Bild schnell fern wird. Jedoch bedeutet in der Optik der Geschichte – darin das Gegenbild der räumlichen – Bewegung in die Ferne Größerwerden. (ebd.)

Die Verwandlung Lenins zur monumentalen Ikone bedeutet demzufolge nichts anderes als die Diagnose und Anerkennung des Umstandes, dass der geschichtliche Kontinuitätsstrang des Revolutionsgeschehens schon längst durchtrennt worden ist und das Neue demzufolge aus dieser Revolutionsemphase nicht mehr ableitbar. Damit aber verlassen wir den Schauplatz und Zeitraum der Moskau-Reisenden von 1926 und 1927. Andere Reisende und Reiseberichte folgten, so unter anderem diejenigen André Gides und Lion Feuchtwangers. Ihre Arbeiten, die durchaus einen zweiten literarischen Höhepunkt der schriftstellerischen Auseinandersetzung mit Moskau unter dem Sowjetstern bedeuten, führten in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in das Moskau der stalinistischen Schauprozesse – eine Phase, in der fast nichts mehr von jenen zwiegesichtigen kulturellen Phänomenen und Entwicklungen zu verspüren war, die in den Berichten Kischs, Roths oder Benjamins für eine so spanungsvolle, widersprüchliche Tiefenschärfe gesorgt hatten.

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Anmerkungen 1 Vgl. zur russischen Schriftsteller-Kolonie Mierau 1991, Urban 2003. Aufschlussreich ist, gerade in seinen idiosynkratischen Zügen, auch der langjährige Berlin-Aufenthalt Vladimir Nabokovs (vgl. Urban 1999 und Zimmer 2001). 2 Grafs Erinnerungen an die Sowjetunion-Reise wurden, vermutlich auf Basis von während der Reise selbst angefertigten Aufzeichnungen, bereits in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre niedergeschrieben. Im Zusammenhang mit der Arbeit an seinen autobiographischen Schriften (Gelächter von außen, 1966, als Fortsetzung von Wir sind Gefangene) Mitte der sechziger Jahre wollte der Autor dieses Material in einen weiteren Memoirenband integrieren, zu dem beim Tode Oskar Maria Grafs am 28. 6. 1967 in New York »ein Arbeitsplan, einige Entwürfe und Teilstücke« vorlagen (Hans-Albert Walter 1974, hier 230). 3 Dieses Notizblatt ist wiedergegeben in Lunzer / Lunzer-Talos (Hg.) Köln 2009, 150f. 4 Dieser Passus findet sich so nicht im Moskauer Tagebuch.

Dietmar Neutatz

Die Moskauer Metro als Verkörperung des Sozialismus

»Wir bauen die beste Metro der Welt«, verkündeten die Bol’ševiki 1934 auf dem Höhepunkt der Arbeiten an den ersten beiden Linien der Moskauer Untergrundbahn. Schon vor ihrer Inbetriebnahme im Mai 1935 wurde die Metro im Sinne des Aufbruchs in den Sozialismus ideologisch aufgeladen. Abb. 1. »Wir begrüßen den ersten Zug auf der Pokrovskaja-­ Die Bolschewiki inszenierten sie als Linie«, 1938. einen unterirdischen Mikrokosmos, als eine räumlich begrenzte Kostprobe dessen, wie einst das gesamte Leben in der Sowjetunion sein werde. In ihrer Eigenschaft als schnelles und modernes Fortbewegungsmittel stand die Metro für Tempo, Zielstrebigkeit, Disziplin, Enthusiasmus und die Bewältigung modernster Technik. In Wirklichkeit war der Bau von allerlei Pannen und Friktionen gekennzeichnet gewesen, aber das tat der Propaganda keinen Abbruch (vgl. Neutatz 2001). Die Eröffnung der ersten beiden Linien war ein sorgfältig ausgedachtes Spektakel, das sich über vier Monate hinzog, um maximale Wirkung auf die Menschen zu zeitigen. Noch bevor die ersten Strecken offiziell dem Verkehr übergeben wurden, wurden ausgewählte Gruppen der Bevölkerung zu Probefahrten eingeladen. Die ersten waren eine Gruppe von Bauarbeitern, gefolgt von den Delegierten des 7. Sowjetkongresses im Februar 1935. Einige Tage später durften die Delegierten des in Moskau tagenden Kolchoskongresses fahren. Die Zeitungen berichteten, wie die aus der gesamten Sowjetunion versammelten Kolchosbauern das Wunderwerk bestaunten. Im April 1935 durften 500.000 Stoßarbeiter als Belohnung für ihre Leistung mit ihren Familien Besichtigungsfahrten mit der Metro unternehmen. Zwischendurch waren ausländische Diplomaten eingeladen, fuhr Stalin mit seinen engsten Gefolgsleuten, unternahmen Schulen Exkursionen in die Metro. Die Zeitungen waren wo-

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chenlang voll mit begeisterten Zuschriften von Arbeitern und Berichten über »Meetings« in Fabriken, die anlässlich der Fertigstellung der Metro abgehalten wurden. In den Kinos lief ein Dokumentarfilm an, Schriftsteller und Laienkünstler feierten die Metro mit enthusiastischen Elaboraten. Die offizielle Inbetriebnahme erfolgte im Mai 1935 im Rahmen eines dreitägigen Volksfestes. 350.000 Menschen fuhren am ersten Betriebstag mit der Metro. Viele waren in Festtagskleidung und mit ihrer Familie gekommen. Der Moskauer Parteichef Lazar’ Kaganovič resümierte in seiner Eröffnungsrede den Unterschied zu den Ingenieursbauten des Kapitalismus  : Die Untergrundbahnen in kapitalistischen Städten werden dunkel, einförmig, trostlos gebaut. Der Mensch kommt müde von der Arbeit, steigt hinunter in das Düster der Gruft, setzt sich in den unterirdischen Zug und spürt keine Erholung, sondern wird noch müder. Wir haben eine andere Gesellschaft. […] Der sozialistische Staat kann sich ein Bauwerk für das Volk erlauben, das mehr kostet, aber dafür Bequemlichkeit gibt, besseres Befinden, künstlerischen Genuss für die Bevölkerung. Wir wollen, dass dieses Bauwerk, das größer ist als irgendein anderer Palast, ein Theater, Millionen Menschen bedient, dass dieses Bauwerk den Geist des Menschen beflügelt, sein Leben erleichtert, ihm Erholung und Vergnügen verschafft. Unser Arbeiter, der in der Metro fährt, soll sich in diesem Bauwerk munter und froh fühlen […]. Darum, Genossen, haben wir solch eine Untergrundbahn gebaut, wo der Mensch, der sich in die Station begibt, sich wie in einem Palast fühlt.1

Ein Bild der Station »Palast der Sowjets« (heute Kropotkinskaja) illustriert, was Kaganovič meinte  : Diese Station wirkt auf den Betrachter tatsächlich wie ein Palast bzw. wie ein Sakralbau  : eine für eine U-Bahn-Station ungewöhnlich hohe Decke, aufstrebende Säulen wie in einer Kirche, dazu viel Licht – das sah anders aus als die U-Bahn-Stationen in Paris, London oder Berlin. Nun war diese Station eine besondere, denn sie sollte den Zugang zu einem besonderen Bauwerk bilden  : dem Palast der Sowjets, der damals projektiert wurde und das symbolische Zentrum Moskaus und der ganzen Sowjetunion bilden sollte. Um Platz für diesen Bau zu schaffen, wurde 1931 die Christerlöserkathedrale gesprengt. Der Palast der Sowjets wurde Mitte der dreißiger Jahre in Angriff genommen, gelangte aber nie über die Baugrube hinaus. (Man machte schließlich ein Freiluftschwimmbad daraus und nach dem Ende der Sowjetunion wurde die Christerlöserkathedrale wieder rekonstruiert.)2 Die Architektur der Metro und die Art und Weise, wie man das Bauwerk und seine Errichtung in Szene setzte, repräsentierten die sozialistische Utopie und

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den neuen Menschen. Hier wurde ein unterirdischer Mikrokosmos des Lebens im Sozialismus zelebriert – zu einer Zeit, in der das reale Leben der Menschen in der Sowjetunion weit vom dem entfernt war, was die Architektur der Metro suggerierte. Vergegenwärtigen wir uns die Umstände  : Wir befinden uns in den stalinistischen dreißiger Jahren. Während die Metro gebaut wurde, verhungerten in der Sowjetunion sechs Millionen, vielleicht sogar zehn Millionen Menschen, kämpften Hunderttau- Abb. 2. Station ›Palast der Sowjets‹, heute Kropotkinskaja. sende deportierte Bauern in Arbeitslagern und Sondersiedlungen ums Überleben. 1935, als die Metro eröffnet wurde, befand sich die Sowjetunion am Vorabend des stalinistischen Massenterrors, in dessen Verlauf allein im Jahre 1937 700.000 Menschen erschossen wurden. Das sollte man nicht vergessen, wenn man über die Ästhetik der Metro spricht. Aber umgekehrt sollte man die Heilsbotschaft, die über die Metro transportiert wurde, als Ausdruck der Zeit ernst nehmen.

Baugeschichte

Der Bau der Moskauer Metro begann 1931 nach einem Beschluss des Zentralkomitees, hatte aber eine längere Vorgeschichte, die bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurückreicht und von der sowjetischen Propaganda und Historiographie zu Unrecht als bedeutungslos abqualifiziert wurde. Erste Überlegungen in Richtung einer Stadtschnellbahn oder Untergrundbahn hatte man in Moskau schon um die Jahrhundertwende angestellt. Zwischen 1897 und 1913 wurden mehrere Projekte vorgebracht. 1914 waren die Überlegungen weit gediehen, wurden aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen (Neutatz 2001, 25–44). 1923 knüpfte die Moskauer Stadtverwaltung an die Vorkriegsplanungen an und bemühte sich, die durch Krieg und Revolution abgerissenen Verbindungen Drähte zu ausländischen Baufirmen und Geldgebern wieder aufzunehmen. Man verhandelte mit AEG, Siemens sowie mit französischen und britischen

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Firmen, konnte aber die Finanzierungsfrage nicht lösen. Die Regierung und die Parteiführung zeigten in den zwanziger Jahren kein Interesse. Erst 1931 gelang es dem Moskauer Parteichef Lazar’ Kaganovič, das Thema auf die politische Tagesordnung zu setzen. Kaganovič bediente sich geschickt des Politbüros, wo er großen Einfluss hatte, um im Interesse der Stadt Moskau Bewegung in die Kommunalpolitik zu bringen. Am Ende stand der Beschluss des Zentralkomitees vom Juni 1931 über den Bau der Metro. Gebaut werden sollte eine Linie von Sokol’niki im Nordosten der Stadt, wo viele Arbeiter wohnten, durch das Zentrum, vorbei am Palast der Sowjets, bis zum Kulturpark, sowie eine Abzweigung über den Arbat Richtung Kiever Bahnhof (Neutatz 2001, 45–85). Im Herbst 1931 erhob die Regierung den Metrobau in den Rang einer »Stoßbaustelle«, womit die hohe Priorität und bevorzugte Versorgung des Unternehmens gesichert waren. Die Arbeit verlief von Anfang an unter gewaltigem Zeitdruck und in einer aktionistischen Form, aber gleichzeitig äußerst ineffektiv. Ursprünglich wollte man in völlig unrealistischer Einschätzung bis Ende 1933 die ersten beiden Linien fertig stellen. Tatsächlich ging die Metro erst im Mai 1935 in Betrieb. Es gab immense Schwierigkeiten bei der Lösung technischer Probleme und bei der Versorgung der Baustellen mit Arbeitskräften. Zwar strömten zu dieser Zeit Millionen Menschen vom Land in die Städte und auf die Großbaustellen, weil die Lage in den Dörfern aufgrund der Kollektivierung der Landwirtschaft katastrophal war, doch gerade wegen dieses massenhaften Zustroms waren die Lebens- und Arbeitsbedingungen auch in den Städten miserabel. Die Wohnungsnot und die prekäre Versorgung mit Lebensmitteln trugen zu einer gigantischen Fluktuation der Arbeitskräfte bei. Die Baustellen waren von einem ständigen Kommen und Gehen von Arbeitern gekennzeichnet, weil die meisten nach wenigen Wochen schon wieder davon liefen, auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen. Dementsprechend niedrig war die Produktivität (vgl. Neutatz 2001, 147–236). Die Parteiführung reagierte 1933/34 auf die Probleme mit der Mobilisierung von Jungkommunisten (Komsomolzen) aus Moskauer Fabriken zu Metrostroj und mit der Etablierung eines strengen Disziplinarregimes. Die Komsomolzen bildeten einen harten Kern von Arbeitern, die den Rest vor sich her trieben. Auf diese Weise gelang es, bis 1935 die ersten beiden Linien fertig zu stellen. Danach wurde kontinuierlich weiter gebaut. Bis heute erweitert die Firma Metrostroj das Netz der Untergrundbahn. Die aktionistische, kämpferische Art, wie man bis 1935 baute, wich in den Folgejahren einer normaleren und zugleich effektiveren Art. War die Errichtung der Metro 1935 eine Sensation

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gewesen, so wurde sie bald zur Routine. Die Gestaltung der Stationen und oberirdischen Eingangsvestibüle blieb aber bis in die fünfziger Jahre prestigeund symbolträchtig.

Schmiede des neuen Menschen Während ich bei der Metro arbeitete, vergaß ich nicht eine Minute mein kulturelles Wachstum. Die Schicht arbeitete ich im Schacht, dann ging ich in die Arbeiterfakultät studieren. […] Die Arbeiterfakultät habe ich noch nicht abgeschlossen, aber dafür habe ich die große Universität Metrostroj durchlaufen, die mich viel gelehrt hat. Ich kann jetzt unter beliebigen Bedingungen arbeiten.3

So schrieb der Arbeiter Pavel Sizikov am 1. Mai 1935 unter der Überschrift »Bei der Metro bin ich gewachsen« in der Betriebszeitung seiner Baustelle. Derartige Aussagen waren typisch für die Charakterisierung der gesellschaftlichen Rolle, die man den Baustellen der Moskauer Untergrundbahn zuschrieb. Rund um diesen Bau entfaltete sich ein aus heutiger Sicht eigentümlicher Diskurs mit gesellschaftsutopischen Inhalten. Dass der Metrobau, bei dem am Höhepunkt der Arbeiten rund 76.000 Menschen im Einsatz waren, von der Propaganda zu einem Großereignis inszeniert wurde, verwundert nicht. Schließlich handelte es sich um eine Pionierleistung. Die Moskauer Untergrundbahn entsprach in technischer Hinsicht den westlichen Vorbildern und stellte diese mit ihrer künstlerisch-architektonischen Ausgestaltung sogar in den Schatten. Die Propaganda beschränkte sich jedoch nicht darauf, das Werk an sich zu preisen, sondern sie schrieb der Arbeit an diesem Werk besondere gesellschaftliche Transformationskräfte zu. Die Großbaustellen galten generell als Durchlaufstationen für ehemalige Landbewohner, die sich hier an die neuen Produktionsverhältnisse gewöhnen sollten, bevor sie Industriearbeiter wurden. Der Metrobau sollte jedoch mehr sein, nämlich eine »Schule«, eine »Universität« oder eine »Schmiede des neuen Menschen«.4 Dieser Diskurs vom Metrobau als »Schmiede des neuen Menschen« beschränkte sich nicht auf die Propagandaebene, sondern wurde von vielen am Bau beteiligten Funktionären und Arbeitern übernommen. Besonders deutlich kommt er in den Texten zum Ausdruck, die im Rahmen des Projekts »Geschichte der Metro« entstanden. Dieses Projekt war Teil der von Maksim Gor’kij initiierten Aktion »Geschichte der Fabriken und Werke«. In deren Rahmen wurde der Bau der Metro – so wie zahlreicher anderer Unter-

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nehmen der ersten Fünfjahrespläne – von einer Redaktion aus Schriftstellern und Funktionären begleitend dokumentiert. Diese Redaktion führte unter anderem einige hundert Interviews mit am Bau Beteiligten durch. Ihre Arbeit mündete 1935 in mehreren Publikationen. Die Akten der Redaktion und die stenographisch festgehaltenen Interviews sind in auffälliger Weise von dem beschriebenen Diskurs durchdrungen. »Bei uns wuchsen neue Menschen heran, Menschen der Arbeit, für die die Arbeit eine Frage der Ehre, des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums wurde«, schwärmte ein Parteisekretär.5 In ­einem Sitzungsprotokoll der Redaktion vom März 1934 hieß es  : Es ist daher ganz natürlich, dass der Bau der Untergrundbahn nicht bloß eine technische Errungenschaft unseres Landes darstellt, sondern eine gigantische menschliche Maschine, die neben materiellen Werten auch einen Wert erzeugt, der in der Umformung der Menschen besteht. Ein vierzigtausendköpfiges Kollektiv, das sich in einem lebendigen Produktionsstrudel befindet und als eine Schmiede dient, die neue Menschen herstellt. Diese Baustelle hebt unsere Technik auf ein ungeahntes Niveau und hebt andererseits auch die menschliche Aktivität auf ein ungeahntes Niveau.6

Verfolgt man diesen Diskurs, so tritt darin der Metrobau als »Schmiede« oder »Schule« in vielerlei Gestalt auf  : Ungelernte Arbeiter erhielten nicht nur eine Berufsausbildung, sondern sie »wuchsen« in kultureller Hinsicht, sie entwickelten eine von Grund auf andere Einstellung zur Arbeit. Aus ehemaligen Straßenkindern, Alkoholikern, Hooligans und »rückständigen« Dörflern wurden vorbildliche Stoßarbeiter, die in ihrer Freizeit politische Abhandlungen lasen oder gar Gedichte schrieben. Zum Selbstverständnis der interviewten Metrobauer gehörte der Verweis darauf, dass sie nicht bloß eine Ausbildung zum Bauarbeiter erhalten, sondern innerhalb kürzester Zeit gleich mehrere Berufe erlernt hatten, zwischen denen sie flexibel hin- und herwechseln konnten. Wichtiger noch als die Berufsausbildung und die Flexibilität waren für die Schaffung des »neuen Menschen« die Veränderung seines Bewusstseins und die Hebung seines kulturellen Niveaus. Nicht nur in den Interviews mit den Metrobauern, auch in Stenogrammen von Parteiversammlungen und in den Betriebszeitungen stößt man häufig auf Wendungen wie »er arbeitete an sich«, oder »ich arbeite an mir« oder »ich bin gewachsen« (Neutatz 2001, 338–341). Die Frage, ob solche Aussagen lediglich getroffen wurden, um gesellschaftlich erwünschtes Verhalten zur Schau zu stellen und den Erwartungen der Ge-

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sprächspartner zu entsprechen, oder ob sie ernst gemeint und verinnerlicht waren, muss differenziert beantwortet werden  : Die in den Interviews zu Wort kamen, waren nicht die durchschnittlichen Arbeiter, sondern eine Auswahl von Stoßarbeitern und von Jungkommunisten (Komsomolzen). Man hatte sie aus Moskauer Fabriken auf die Baustellen abkommandiert (nach damaligem Sprachgebrauch  : »mobilisiert«), um das Tempo zu forcieren, die Planerfüllung zu verbessern und das Gros der Arbeiter zu kontrollieren. Die »Mobilisierung« war stockend verlaufen, viele Komsomolzen hatten sich dem Aufruf verweigert oder waren kurz nach ihrer Ankunft wieder von den Baustellen »desertiert«. Diejenigen, die auf ihren zugewiesenen Posten blieben, bildeten somit eine Auswahl, einen harten Kern. Von ihnen entwickelten viele tatsächlich den Ehrgeiz, Vorbilder zu sein und sich auf das Niveau des »sozialistischen Menschen« zu heben. Sie arbeiteten nicht selten bis zur Erschöpfung und bemühten sich, die übrigen Arbeiter mitzureißen und einzuspannen. Was diese Leute über ihre Arbeit und ihr eigenes Verhalten berichteten, ist durchaus glaubwürdig, zumal es auch von anderen Quellen bestätigt wird. Was sie über den Erfolg ihrer Maßnahmen bei den übrigen Arbeitern, über deren »Wachstum« und häufig spektakuläre Verhaltensveränderungen erzählten, erweckt einen stark stereotypen Eindruck. Man sagte offenbar das, was der Interviewer hören wollte – und das waren eindrucksvolle Erfolgsgeschichten von der Transformationskraft der »Universität unter der Erde« (vgl. Neutatz 2001, 249–273). – Fragt man nach der hinter diesem Diskurs stehenden Praxis, so stellt man fest, dass es nicht nur ein Reden von Transformation war, sondern tatsächlich auf verschiedene Weise versucht wurde, das Programm »Metrobau als Schule« in die Realität umzusetzen  : Hinsichtlich der Berufsausbildung klafften Diskurs und Realität weit auseinander. Die mangelnde Qualifikation des Personals war eines der Hauptprobleme beim Bau der Untergrundbahn. Erst im Laufe der Arbeit konnten Facharbeiter und technische Spezialisten ausgebildet bzw. umgeschult werden. Nur ein kleiner Bruchteil der Arbeiter erhielt eine reguläre Berufsausbildung. Die große Mehrheit wurde entweder gar nicht ausgebildet oder in Schnellkursen während der Arbeit angelernt und verfügte über keine adäquaten Kenntnisse. Was als flexibles Wechseln zwischen bis zu zehn verschiedenen Berufen gepriesen wurde, war ein ständiges Improvisieren, aber keine wirkliche Berufsausbildung (ebd., 341–344). Für die Formung des »neuen Menschen« stand ohnehin weniger die fachliche Ausbildung als die Umerziehung und Verhaltensmodifikation im Vordergrund. Eine wichtige Methode zur Umerziehung der Arbeiter war der soge-

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nannte »sozialistische Wettbewerb«. Dieser sollte nicht nur die Produktivität der Arbeit steigern und aus den Arbeitern mehr Leistung herausholen, sondern auch ihre Einstellung zur Arbeit verändern. Der sozialistische Wettbewerb, während des Bürgerkriegs entstanden und seit 1929 eine Massenerscheinung, fand auf unterschiedliche Weise statt  : Einzelne Arbeiter, Brigaden oder die Belegschaften ganzer Fabriken forderten andere zum Wettbewerb auf, der meistens in einem schriftlichen Vertrag fixiert und publiziert wurde. Eine weitere Variante war das Erstellen von »Gegenplänen«  : Arbeiter erhöhten am Monatsanfang den vorgegebenen Plan und verpflichteten sich, »verborgene Ressourcen« besser auszuschöpfen. Eine der verbreitetsten Formen war die »Stoßarbeit«  : Einzelne »Stoßarbeiter« oder ganze »Stoßbrigaden« verpflichteten sich, besonders hohe Arbeitsleistungen zu erbringen, wobei oft schwierig festzustellen war, ob sie den Anspruch einlösten, da die Arbeitsnormen in vielen Bereichen recht willkürlich festgelegt waren. Häufig wurden Stoßbrigaden proklamiert, ohne dass sich an der Arbeit der Mitglieder etwas änderte (Straus 1991, 333). Bald wurde der sozialistische Wettbewerb zu einer Massenroutine. Man konnte schnell Stoßarbeiter werden, den Titel aber auch wieder schnell verlieren. Eine Brigade brauchte nur einen Vertrag aufzusetzen, den Plan überzuerfüllen und war damit Stoßbrigade, bis man irgendwann feststellte, dass sie gar nicht überdurchschnittlich arbeitete. Frisch vom Land gekommene Arbeiter konnten auf diese Weise schnell zu besserem Verdienst und Ansehen gelangen. Zweifellos veränderte der sozialistische Wettbewerb die Arbeitsorganisation und das Verhalten vieler Arbeiter. Eine neue Einstellung zur Arbeit zu erzeugen und damit einen Beitrag zur Schaffung des »neuen Menschen« zu leisten, war er jedoch nur bedingt geeignet. Er beruhte zum einen schlichtweg auf materiellen Anreizen, wie Akkordlohn, bevorzugte Zuteilung von Wohnraum, Konsumgütern und Lebensmitteln sowie verschiedenen Privilegien. Zum anderen war er mit massiven moralischen Zwängen und einem hemmungslosen Bloßstellen leistungsschwacher oder unwilliger Arbeiter verbunden. Auf Anschlagtafeln wurde das Arbeitstempo der einzelnen Arbeiter und Brigaden publik gemacht. Namen und Fotos der besten und schlechtesten Arbeiter wurden auf Plakaten und in den Zeitungen veröffentlicht.7 Der sozialistische Wettbewerb umfasste allerdings auch Elemente der Stimulation intrinsischer Motivationen, zum Beispiel durch die Inszenierung der Arbeit als gesellschaftliches Ereignis. Ständig fanden Versammlungen statt, auf denen die Leistung einer Brigade oder eines besonders exponierten Brigadiers verherrlicht wurde, um ihre Erfolgsrezepte in einer kollektiven Feierstunde für

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die Allgemeinheit nutzbar zu machen.8 Inwieweit solche Inszenierungen den Beteiligten das Gefühl gaben, nicht einfach dumpf Erde zu schaufeln, sondern »Helden« zu sein, im Einsatz für den Aufbau einer neuen Arbeitskultur und des Sozialismus zu stehen, lässt sich nicht messen. Ein weiterer zentraler Ansatzpunkt bei der Formung des »neuen Menschen« war die sogenannte »politische Massenarbeit«. Die Basisorganisationen der Partei, der Gewerkschaft und des Komsomol hatten die Aufgabe, die Arbeiter nicht nur am Arbeitsplatz zu kontrollieren, sondern sich auch um ihre Freizeitgestaltung zu kümmern und sie durch geeignete Aktivitäten in ihrer Persönlichkeit zu verändern.9 Die »politische Massenarbeit« umfasste die Erziehung der Arbeiter zu »kultiviertem« Leben, Maßnahmen zur Alphabetisierung sowie zur allgemeinen und politischen Bildung. Hinzu kamen im Kollektiv wahrzunehmende kulturelle und sportliche Freizeitangebote. Bei Metrostroj wie bei anderen Großbaustellen wurde der Zugriff auf die Leute dadurch erleichtert, dass die meisten Arbeiter in Barackensiedlungen wohnten. Die Idealvorstellung war, niemanden sich selbst zu überlassen, sondern die persönliche Entwicklung jedes einzelnen zu beeinflussen. Der »neue Mensch« hatte »kul’turno« zu leben. »Kul’turno«, also »kultiviert«, war in erster Linie als Gegenbegriff zur traditionellen bäuerlichen Lebensart definiert. Auch beim Metrobau war man mit der Tatsache konfrontiert, dass die vom Land zugewanderten Arbeiter alle möglichen als »rückständig« geltenden Verhaltensweisen an den Tag legten. Bis Mitte 1933 war die Parteiorganisation bei den Metrobaustellen zu schwach, als dass sie sich um das Treiben in den Barackensiedlungen hätte kümmern können. Im Sommer 1933 änderte sich das im Zusammenhang mit der Mobilisierung der Komsomolzen und Kommunisten. Obwohl diese in Moskau über Wohnraum verfügten, wurden sie den Baracken zugeteilt, um dort Gespräche zu führen, Vorträge zu halten und den Arbeitern zu zeigen, wie man »kul’turno« lebt.10 Da die Kultiviertheit nicht nur von den Bewohnern, sondern auch vom baulichen Zustand und der Ausstattung der Baracken abhing, kümmerte man sich in dieser Hinsicht um Verbesserungen, veranlasste die Renovierung und bessere Ausstattung der Baracken sowie die Einrichtung von Sportplätzen und sog. »Roten Ecken« mit Zeitungen, Schach- und Damespielen, Lesestoff und Musikinstrumenten.11 Im Mittelpunkt der »Kulturmassenarbeit« stand die Einwirkung auf die Arbeiter. Die Komsomolzen und Kommunisten führten einen Kampf gegen die bis dahin in den Baracken blühenden Trinkgelage, Raufereien und das Kartenspiel. Sie brachten den Arbeitern bei, sich zu waschen, Unterwäsche zu tragen, die Stiefel beim Schlafengehen auszuziehen und nicht auf den Boden zu spu-

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cken. Sie führten mit den Sorgenkindern persönliche Gespräche, stellten sie vor anderen zur Rede oder leiteten Disziplinarmaßnahmen in die Wege.12 »Kul’turno« zu leben bedeutete unter anderem, Lesen und Schreiben zu können. Die Gewerkschaft organisierte sogenannte »Zirkel zur Liquidierung des Analphabetentums«, die aber nur einen Teil der Leseunkundigen und Leseschwachen erfassen konnten.13 Diese machten 1934 ein Viertel bis ein Drittel der Belegschaft aus.14 Der Gewerkschaft oblag auch die übrige Bildungsarbeit. Man entsandte »Kulturbrigaden« in die Barackensiedlungen, richtete Leseecken und Büchereien ein, abonnierte Zeitungen und Zeitschriften, installierte Radiolautsprecher und organisierte Arbeiterklubs.15 Der eigentliche Kern der Bildungsarbeit, der politische Unterricht, war die größte Schwachstelle. Er erfasste nur wenige Arbeiter, und außerdem erwiesen sich die eingeteilten Gesprächsführer häufig als zu schwach und ließen sich von bauernschlauen Arbeitern in die Enge treiben (Starostin et al. 1935, 38). Politische Zirkel und Lektionen wurden selbst von den Parteimitgliedern und Komsomolzen nur schlecht besucht, weil sie als langweilig galten.16 Die meisten Teilnehmer der politischen Zirkel und Kurse waren Partei- und Komsomolmitglieder. Die parteilosen Arbeiter zeigten wenig Interesse. Um auch sie zu erreichen, verordnete man ihnen die Teilnahme am kollektiven Zeitungvorlesen und Radiohören.17 Von den Partei- und Komsomolmitgliedern erwartete man politisches und kulturelles Interesse, regelmäßige Lektüre von Zeitungen und Büchern und aktive Teilnahme an Veranstaltungen. Bei einer im Juli 1934 von der Betriebszeitung durchgeführten Umfrage unter Parteifunktionären gaben allerdings die meisten an, dass sie keine Zeit zum Lesen hätten.18 Das schlechte Gewissen, aus Zeitmangel zu wenig für ihr »kulturelles Wachstum« zu tun, war ein immer wiederkehrendes Thema in den Interviews mit den Metrobauern und in der Betriebszeitung. Großen Zuspruch erfuhren Laienkunst- und Literaturzirkel. Im Frühjahr 1935 waren bis zu 2.000 Metrobauer in solchen Zirkeln tätig, diskutierten dort über literarische Werke, schrieben Gedichte, spielten Theater, machten Musik, tanzten, malten oder spielten Schach. Metrostroj hatte ein eigenes Symphonieorchester, mehrere Jazzbands, zahlreiche Instrumentalensembles, ein Puppentheater, ein dramatisches Theater, Chöre und ein Ballettensemble (Osipov et al. 130). Allerdings wurden die meisten dieser Zirkel erst relativ spät, besonders im Winter 1934/35, ins Leben gerufen, also zu einem Zeitpunkt, als die Hauptbauarbeiten schon abgeschlossen waren. Die Partei kümmerte sich nie sonderlich um diese Bewegung, und auch von der Gewerkschaft wurde sie

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anfangs vernachlässigt.19 Am erfolgreichsten waren die Literaturzirkel, die seit dem Sommer 1933 entstanden, und an denen prominente Schriftsteller mitwirkten. Regelmäßig druckten die Betriebszeitungen Gedichte von Arbeitern ab  ; 1935 erschienen zwei Sammelbände mit literarischen Erzeugnissen von Metrobauern.20 Wenn man von den Besuchern der Aufführungen absieht, betrafen die Laien­ kunstaktivitäten, auch wenn sie an sich durchaus beeindruckend waren, nur eine kleine Minderheit der Metrobauer. Quantitativ bedeutender war das kulturelle Angebot in Form von Theater-, Konzert-, Kino- und Museumsbesuchen. Bis zum Ende des Jahres 1934 verfügten alle großen Arbeitersiedlungen von Metrostroj über ein eigenes Kino (Osipov et al., 131). Die Gewerkschaft hatte darüber hinaus mit den Moskauer Theatern und Kulturparks Abkommen über Freikarten für die Arbeiter getroffen. Trotzdem klagte die Betriebszeitung Ende Mai 1934, die meisten Arbeiter seien an ihrem freien Tag sich selbst überlassen, in den Baracken fänden weiterhin Trinkgelage statt.21 Das lag aber nicht am mangelnden Interesse der Arbeiter, sondern am immer noch zu geringen Angebot. Auch die sportlichen Aktivitäten entwickelten sich nach schwachen Anfängen erst im Laufe des Jahres 1934 in größerem Maßstab. Der Sport war – ähnlich wie im na­tionalsozialistischen Deutschland – nicht Selbstzweck, sondern hatte die Arbeitsproduktivität und die Verteidigungsbereitschaft zu fördern. Darüber hinaus wollte man über den Sport die Bevölkerung zu mehr Hygiene und Körperpflege erziehen und die Massen um die Partei-, Sowjet- und Gewerkschaftsorganisationen scharen. Daher wurde der Sport nicht in eigenen Sportverbänden, sondern im Rahmen der bestehenden Massenorganisationen betrieben (Mehnert 1933/34, 361–363). Im Vordergrund der sportlichen Betätigungen bei Metrostroj stand der Erwerb des Abzeichens »Bereit zur Arbeit und Verteidigung«. Die Anforderungen für das Abzeichen waren stark militärisch ausgerichtet. Daneben wurden aber auch die Bedürfnisse der Arbeiter nach Mannschaftsspielen berücksichtigt. 1933 begann man mit der Einrichtung von eigenen Sportplätzen und gründete Sektionen mit Instruktoren für einzelne Sportarten.22 Im Winter 1933/34 verlegte das Sportbüro sein Schwergewicht auf die Förderung von Hygiene und Sauberkeit. Die Sportaktivisten inspizierten die Baracken, klärten die Bewohner über den Nutzen täglicher Körperpflege, kalter Abreibungen und Morgengymnastik auf, kümmerten sich um rechtzeitigen Wäschewechsel, das Vorhandensein von heißem Wasser und Heizung. Im Frühjahr 1934 wurde der Sportbetrieb in größerem Maßstab aufgenommen. Nun beteiligte sich Metrostroj auch mit einer Mannschaft an der Moskauer

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Fußballmeisterschaft. Metrostroj hatte inzwischen vier Volleyballplätze, zwei Basketballplätze und einen Fußballplatz eingerichtet, zusätzlich zwei Stadien sowie die Ruderstation des Moskauer Gewerkschaftsrates angemietet. Im Herbst 1934 wurden Schulen für eine ganze Reihe von Sportarten errichtet. Stolz der Metrobauer war der im Sommer 1934 gegründete Aėroklub. Er hatte im Mai 1935 600 Mitglieder und stellte sich die Aufgabe, im Laufe des Jahres 90 Piloten, 1.000 Segelflieger und 700 Fallschirmspringer auszubilden (Neutatz 2001, 379–387). Schlagen wir den Bogen zurück zum Ausgangspunkt, so lässt sich festhalten, dass eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Diskurs von der Metro als »Schmiede des neuen Menschen« und der Realität bestand. Versuche, den Metrobau auf diese Weise zu instrumentalisieren, wurden zwar unternommen, ihre Ergebnisse standen aber in keinem Verhältnis zu den an sie gestellten Ansprüchen, auch wenn in Teilbereichen durchaus Erstaunliches geleistet wurde. Die massenpolitischen Maßnahmen, die kulturellen und sportlichen Aktivitäten erreichten tausende Metroarbeiter und wurden  – mit Ausnahme des politischen Unterrichts – als Freizeitangebote gerne angenommen. Gemessen am Anspruch des Systems auf eine totale Kontrolle der Menschen und die weitestgehende Eliminierung der Privatsphäre zugunsten der Öffentlichkeit und des Kollektivismus gelang die Umsetzung des Konzepts jedoch sowohl qualitativ als auch quantitativ nur mit Abstrichen. Das Umerziehungsprogramm erfasste auch auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung nur einen Teil der Belegschaft, und die Belege über seine Wirksamkeit sind jenseits der Selbstzeugnisse von Komsomolzen und Kommunisten nicht überzeugend. Selbst wer nun tatsächlich Zeitung las, Museen besuchte und Fußball spielte wurde dadurch noch lange nicht zum »neuen Menschen«. Die eingangs zitierten Aussagen waren nicht die Beschreibung der Realität, sondern die Projektion stereotyper Idealvorstellungen. Die Quellen belegen recht eindeutig, dass sich die Masse der Metrobauer nicht so verhielt, wie es in diesem Diskurs beschrieben wurde. Es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass sie den Diskurs übernahm. Sie praktizierte vielmehr das, was man als Eigen-Sinn beschreiben kann. Die angeblich so gewaltigen Transformationskräfte des Metrobaus entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Wunschvorstellungen und Wahrnehmungsfehler  : Die Fälle, in denen sich normale Arbeiter tatsächlich dramatisch wandelten, können nicht als typisch bezeichnet werden. Diejenigen, die das erwünschte Verhalten an den Tag legten, gehörten in der Regel dem harten Kern der aus den Fabriken auf die Baustelle abkommandierten Komsomolzen an.

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Was der Metrobau bewirken konnte, war eine besondere Motivation. Nach übereinstimmenden Quellen nahmen viele Arbeiter beim Bau der Metro Bedingungen in Kauf, die sie anderswo nicht akzeptiert hätten. Das taten sie aber nicht, weil sie inzwischen zu »neuen Menschen« umgeformt worden wären, sondern weil sie sich mit diesem speziellen Bauvorhaben, das im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand und eine gewisse Gruppendynamik erzeugte, identifizierten (Neutatz 2001, 311f.). Es lässt sich im Übrigen zeigen, dass die Mobilisierung aller Kräfte selbst unter diesen Bedingungen nur für wenige Monate gelang und darüber hinaus im selben Zeitraum tausende Arbeiter davonliefen. Der Diskurs von der Transformation erweckt den Eindruck, dass man eine nicht vorhandene Realität herbeizureden versuchte. Während man vom »neuen Menschen« sprach, war der Großteil der Bevölkerung in Wirklichkeit durch die Kollektivierung und die Industrialisierung entwurzelt und desorientiert. Die Utopie des »neuen Menschen« erscheint vor diesem Hintergrund weniger als Vision denn als Instrument der Krisenbewältigung.

Kostprobe des Sozialismus

Bezogen auf die übergeordnete Utopie des Lebens im Sozialismus wurde die Metro schon während des Baus, besonders aber nach der erfolgreichen Fertigstellung der ersten Linien im Frühjahr 1935 massenwirksam instrumentalisiert. Sie verkörperte in der Propaganda ein Symbol der neuen, im Aufbau begriffenen Gesellschaft, eine exemplarische Antizipation des Sozialismus  : die erste reale Kostprobe dessen, was bald im ganzen Land geschaffen werde, nämlich ein wohlgeordnetes Gemeinwesen, auf dem neuesten Stand der Technik, sauber und gleichzeitig ein ästhetischer Genuss. Der U-Bahnbau wurde von der Propaganda als ein entscheidender Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft und als Demonstration des Potentials der Sowjetunion stilisiert. Die Metro symbolisierte die Fähigkeit der aufstrebenden Sowjetunion, dank der erfolgreichen Industrialisierung nun schon komplizierteste Technik mit eigenen Kräften nutzbar zu machen, während gleichzeitig die kapitalistischen Länder in der Wirtschaftskrise stagnierten. Der Metrobau stand für »bolschewistisches Tempo«, Tatkraft, Zielstrebigkeit, Lebensfreude, die unaufhaltsame Überwindung von Hindernissen durch einen starken Willen, verbunden mit dem Anspruch auf Disziplin, militärische Ordnung und straffe Führung.

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Typischer Bestandteil jeder Broschüre über die Metro, der sich auch noch später in historische Darstellungen hinüberrettete, war der Hinweis darauf, dass sich Moskau aus der »alten, schwerfälligen Kaufmannsstadt« in eine dynamische sozialistische Industriestadt verwandelt habe. Das vorrevolutionäre System sei unfähig gewesen, ein derartiges Bauvorhaben zu verwirklichen. Erst die Bol’ševiki hätten den Bau in Angriff nehmen können. Kaganovič pries in seiner Ansprache zur Inbetriebnahme die Metro als Sieg des sozialistischen Aufbaus und als Beweis dafür, dass die Bol’ševiki nun auf dem Weg seien, den Westen zu übertreffen (Neutatz 2001, 531f.). Die Schwelle einer neuen, besseren Epoche, die nun mit dem Metrobau eingeleitet wurde, impliziert ein historisches Bewusstsein. In der Tat beobachten wir in der damaligen Publizistik – nicht nur am Beispiel der Metro, aber hier besonders deutlich – eine auffallende Häufung der Begriffe »Geschichte« und »historisch«. Die Propaganda vermittelte den Beteiligten das Gefühl – und in den Äußerungen der Akteure spiegelt sich das wider  – Geschichte zu machen, ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung mitzugestalten. Folgerichtig setzte man auch gleich die erwähnte Redaktion »Geschichte der Metro« ein, die den Bau begleitend für die Nachwelt dokumentieren sollte (Neutatz 2001, 545–552).23 Die Propaganda inszenierte das Unternehmen Metrostroj als einen Aufbruch des ganzen Landes in eine bessere, schönere Zukunft. Mit Losungen wie »Das ganze Land baut die Metro«, »Wir bauen die beste Metro der Welt«, »Die beste Metro für die Rote Hauptstadt« suggerierte man der Bevölkerung, hier entstünde als gemeinsames Werk aller Sowjetbürger etwas Einzigartiges, etwas, auf das man stolz sein könne und auf das die Welt blicke. Man baute nicht einfach eine Untergrundbahn, sondern man baute die schönste und beste Untergrundbahn der Welt für die Hauptstadt des Weltproletariats, die in wenigen Jahren die schönste und menschengerechteste Stadt der Welt zu werden versprach. Im alltäglichen Leben waren die Friktionen des Wirtschaftsaufbaus nicht zu übersehen. Um die mit dem Anlaufen des ersten Fünfjahresplans entfachte Aufbruchsstimmung nicht abreißen zu lassen, feierte die Propaganda einzelne herausragende Großprojekte als Flaggschiffe des Fortschritts in groß aufgemachten Kampagnen. Die propagandistische Hervorhebung einiger weniger Unternehmen, die jedes auf seine Weise einen Weltrekord darstellten, sollte für das Publikum eine Scheinwelt erzeugen, vor deren Hintergrund die vielen alltäglichen Misserfolge wie vernachlässigbare Schönheitsfehler aussahen (vgl. Hildermeier 1998, 376–377).

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Das Prestigeprojekt der dreißiger Jahre schlechthin war der Bau der Moskauer Untergrundbahn. Das Unternehmen war einige Jahre hindurch fast allgegenwärtig  : Die Zeitungen berichteten täglich über den Baufortschritt, auf den großen Plätzen Moskaus kündeten Plakate, Spruchbänder und Modelle von dem Vorhaben. Man zeigte Ausstellungen, schrieb Theaterstücke, malte Bilder und drehte Filme über die Untergrundbahn. Abordnungen der Metrobauer wurden bei politischen Großveranstaltungen empfangen, ausländische Besucher auf die Baustellen und in die fertig gestellten Stationen geführt. Bekannte Schriftsteller erwiesen den Metrobauern ihre Aufwartung oder arbeiteten selbst eine Zeitlang auf der Baustelle und verfassten pathetische Gedichte (vgl. Neutatz, 513–533). Die Untergrundbahn bot sich aus mehreren Gründen als Objekt für die Projektion der sozialistischen Utopie an  : (1) Die Bewältigung eines technisch derart komplexen Bauwerks unter extremen Arbeitsbedingungen und gleichzeitig mit einem im internationalen Vergleich damals einzigartigen architektonisch-künstlerischen Anspruch eignete sich hervorragend, um der eigenen Bevölkerung und dem Ausland den inzwischen erreichten Entwicklungsgrad bei der Industrialisierung eindrucksvoll zu demonstrieren. (2) In ihrer Eigenschaft als schnelles und modernes Fortbewegungsmittel war die Untergrundbahn ein Symbol für das Sich-Fortbewegen des Landes in Richtung auf den Sozialismus. Die Parallele zum nationalsozialistischen Deutschland drängt sich geradezu auf  : Auch dort war es nicht zufällig ein Projekt der Mobilität, nämlich die Reichsautobahn, das in durchaus vergleichbarer Weise von der Propaganda inszeniert wurde. (3) Als unterirdisches Bauwerk, mit seinen als unterirdische Paläste konzipierten Stationen gleichsam eine eigene Stadt unter der Erde, war sie von der übrigen Welt in räumlicher Hinsicht deutlich getrennt, ein Mikrokosmos, der durch Ein- und Ausgänge abgegrenzt war und nach eigenen Gesetzen funktionierte. Dadurch, dass sich der Passagier unter der Erde befand und von allen anderen Sinneseindrücken abgeschnitten war, konnten ihm die hellen und schönen Metrostationen die Illusion einer völlig anderen Welt vermitteln. Das Betreten dieser Welt und die Fahrt mit der Metro kamen einer Zeitreise in die bevorstehende Epoche des Sozialismus gleich (vgl. Groys 1995, 159–160). Bestandteil dieser von der Untergrundbahn verkörperten Utopie war ein hoher Anspruch an Präzision und Perfektion. Ganz im Gegensatz zu der Realität des Alltags in der Sowjetunion und zu den hastig in Betrieb genommenen Produktionsanlagen der ersten Fünfjahrespläne ließ man sich nach der Fertigstellung mit der Inbetriebnahme Zeit, um alles genau vorzubereiten, Baumängel nachzubessern, die technischen Einrichtungen zu erproben und alle

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Abb. 3. Station Kievskaja (Ringlinie, fertiggestellt 1953).

Abläufe ein­zuüben. Das Betriebspersonal wurde sorgfältig ausgewählt, monatelang ausgebildet und hatte am Eröffnungstag in gebügelten Uniformen, glatt rasiert, ordentlich gekämmt und natürlich nüchtern anzutreten.24 In den ersten Tagen und Wochen nach der Eröffnung priesen Zeitungsberichte die Einzigartigkeit des neuen Verkehrsmittels. Reportagen suggerierten dem Leser, dass in diesem Mikrokosmos »Metro« nun das sozialistische Zeitalter begonnen habe. Enthusiastische Berichterstatter wollten sogar im Verhalten der Passanten Veränderungen beobachtet haben. Mit dem Betreten des Mikrokosmos benahmen sie sich angeblich so »kul’turno«, wie man es vom »neuen Menschen« erwartete  : Sie waren plötzlich höflich und zuvorkommend, drängelten nicht und strahlten gleichzeitig Fröhlichkeit und Optimismus aus. »Hier zeigen sich schon solche Ordnung und kristallisieren sich solche Verhaltensnormen heraus, die völlig frei sind von groben Sitten, die in unserem oberirdischen Leben noch lange nicht abgelegt sind«, konnte man in der Zeitung Rabočaja Moskva lesen, und die Komsomol’skaja Pravda zitierte einen Passagier mit den Worten  : »Hier rauchst du dir keine an, hier spuckst du nicht aus«.25 Integraler Bestandteil des Mikrokosmos war die Ästhetik der Stationen und der oberirdischen Zugangsvestibüle. Die Parteiführung beauftragte die besten Architekten und Designer und machte ihnen klar, dass sie etwas Besonderes er-

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Abb. 4. Station Krasnye vorota, erbaut 1935.

wartete. Die sozialistische Untergrundbahn sollte sich von den dunklen, stickigen und engen Untergrundbahnen der kapitalistischen Großstädte positiv abheben. Die Vorgaben an die Architekten lauteten daher  : viel Licht, viel Raum, ausreichende Belüftung, ästhetische Gestaltung innen und außen im Sinne von öffentlichen Repräsentativbauten. Die Grundforderung an die Architekten bestand darin, die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus zu zeigen und mit Hilfe der Architektur dem Betrachter das Gefühl zu nehmen, sich unter der Erde zu befinden (Neutatz, 610  ; Kuhlmann 1995, 43–61).26 Auf der Grundlage dieser Vorgaben entstanden wahre unterirdische Gesamt­ kunstwerke. Die Stationen waren weiträumig ausgelegt, mit breiten Bahnsteigen und hohen Decken. Der Beleuchtung wurde große Aufmerksamkeit gewidmet. Die Stationen sollten hell sein, der Übergang vom Tageslicht zum künstlichen Licht behutsam erfolgen. Bei der Ausgestaltung der Stationen wurden in großem Umfang polierter Marmor, Granit und andere edle Materialien verwendet. Jede Station hatte ihr eigenes architektonisches Gesicht, um den Passagieren das Wieder­erkennen und damit die Orientierung zu erleichtern. Die oberirdischen Vestibüle wurden ebenfalls individuell gestaltet. Ihre Architektur stimmte man auf die vorhandene und künftige Bebauung der Umgebung ab. Die klimatischen Verhältnisse erlaubten in Moskau nicht den Typus

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Abb. 5. Vestibül der Station Arbatskaja, erbaut 1935.

offener Treppenabgänge von der Straße, wie sie im westlichen Ausland üblich waren, sondern die Eingänge mussten in Gebäude integriert werden. Manche wurden in existierenden Gebäuden untergebracht, für die übrigen mussten eigene Pavillons errichtet werden (Neutatz, 608–610). Dabei ist jedoch festzustellen, dass die prunkvollen Metropaläste, die heute bei vielen Besuchern den Eindruck der Moskauer Untergrundbahn bestimmen, erst eine Erscheinung der Nachkriegsjahre sind. Bestes Beispiel dieser typischen Siegesarchitektur ist die in den fünfziger Jahren gebaute Ringlinie mit den beinahe schon barocken Gewölben. Die erste Baufolge hatte noch einen vergleichsweise schlichten Charakter. »Ethik der Stoßarbeit« wurde der Stil der Vorkriegs- und Kriegsjahre treffend genannt (Schlögel 1992, 342f.). Die Stationen atmen eine eindrucksvolle, strenge Schönheit mit dem Willen zu einer eigenen Ästhetik, wobei die architektonischen Konzepte der einzelnen Stationen große Unterschiede aufweisen und auch innerhalb der Stationen Stilelemente aus verschiedenen Epochen kombiniert wurden  : Schmucklose klassizistische Kassettendecken (Krasnye vorota, Ochotnyj Rjad), konstruktivistisch beeinflusste geometrische Linien und ägyptische Tempelarchitektur

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(Sokol’niki), Sakralarchitektur (Palast der Sowjets), sozialistischer Realismus (Majolika-Paneels in der Station Komsomol’skaja) oder der »sozmoderne« Stil des Vestibüls am Arbatplatz, das wie ein Tempel auf dem Grundriss des fünfzackigen Sowjetsterns wirkt.

Schlussbemerkung

Was ist von der beschriebenen ideologischen Aufladung der Metro geblieben  ? Die Architektur der Metro beeindruckt heute noch zahllose Besucher und Benutzer. Die Moskauer Metro ist keine gewöhnliche Untergrundbahn, sie hat auch heute noch ihre besondere Ästhetik. Zu jeder Reise nach Moskau gehört obligatorisch eine Fahrt mit der Metro. Da man nur beim Betreten des Systems einmalig den Fahrpreis entrichtet, kann man stundenlang auf den Linien herumfahren, solange man beim Umsteigen innerhalb des Systems bleibt. Besonders beliebt ist die Ringlinie, denn sie hat optisch am meisten zu bieten. Man sollte aber gerade beim Bewundern der besonders prunkvollen Stationen daran denken, in welcher Zeit sie entstanden, nämlich unter Stalin, und was diese Zeit insgesamt für die Sowjetbürger bedeutete. Die Metro ist ein Denkmal der Sowjetunion, aber sie ist in erster Linie ein Denkmal des Stalinismus.

Anmerkungen  1 Toržestvennoe zasedanie, posvjaščennoe pusku Metropolitena. Moskva 1935, 22–23.   2 Siehe auch den Artikel von Werner Huber in diesem Band.   3 Pavel Sizikov  : »Na metro ja vyros.« Ventiljator 11, 1.5.1935, 2.   4 Vgl. die Überschriften in dem anläßlich der Eröffnung der Metro herausgegebenen Sammelband »Erzählungen der Metrobauer« (Rasskazy stroitelej metro 1935).   5 Stenogramm des Gesprächs mit dem Parteisekretär Kopejkin, 28.3.1935. Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (GARF) f. R-7952, op. 7, d. 303, Bl. 31, 36.   6 Redaktion »Geschichte der Metro«. Äußerung des Vorsitzenden Kulagin bei der Erörterung eines Manuskripts, 8.3.1934. GARF f. R–7952, op. 7, d. 269, Bl. 1.   7 Vgl. Stenogramm des Gesprächs mit dem Brigadier Katamadze, GARF f. R–7952, op. 7, d. 302, Bl. 2.   8 Vgl. z. B. Stenogramm des Treffens der Brigade Jaremčuk mit Stoßarbeitern des Schachtes 9, 4.9.1934. GARF f. R-7952, op. 7, d. 243, Bl. 25–77.   9 Vgl. z. B. Stenogramm des Treffens der Brigade Jaremčuk mit Stoßarbeitern des Schachtes 9, 4.9.1934. GARF f. R-7952, op. 7, d. 243, Bl. 25–77. 10 Stenogramm des Gesprächs mit dem Parteisekretär Vlasov, 10.4.1934. GARF f. R-7952, op. 7, d. 242, Bl. 89.

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11 Stenogramm des Gesprächs mit dem Parteisekretär Vlasov, 10.4.1934. GARF f. R-7952, op. 7, d. 242, Bl. 89. 12 Stenogramm des Gesprächs mit dem Parteisekretär Vlasov, 10.4.1934. GARF f. R-7952, op. 7, d. 242, Bl. 89. 13 Stenogramm des Gesprächs mit dem Parteisekretär Vlasov, 10.4.1934. GARF f. R-7952, op. 7, d. 242, Bl. 89. 14 Udarnik Metrostroja Nr. 29, 4.2.1934, 4. 15 Zentralkomitee der Gewerkschaft der Eisenbahn- und Straßenbauarbeiter. Material über den Zustand der Kulturarbeit auf den Baustellen, 1932. GARF f. R-5475, op. 18, d. 139, Bl. 12–43. 16 Udarnik Metrostroja Nr. 36, 26.3.1933, 3. 17 Vgl. Stenogramm des Gesprächs mit dem Parteisekretär Rybakov, Schacht 31–32. GARF f. R-7952, op. 7, d. 307. 18 Udarnik Metrostroja Nr. 172, 26.7.1934, 3. 19 Udarnik Metrostroja Nr. 135, 26.7.1933, 2. 20 Literaturnoe tvorčestvo rabočich avtorov Sojuza rabočich železnodorožnogo stroitel’stva i metropolitena SSSR. Bd. 1–2. Moskva 1935  ; Kazin, V. (Hrsg). Sbornik litkružkovcev Metrostroja. Moskva 1935. 21 Udarnik Metrostroja Nr. 121, 27.5.1934, 4. 22 Udarnik Metrostroja Nr. 82, 23.5.1933, 3. 23 Zum Geschichtsprojekt siehe auch Aris 2005. 24 Komsomol’skaja Pravda Nr. 110, 15.5.1935, 4. 25 Ebd., Nr. 111, 16.5.1935, 1. 26 Zur Interpretation der Architektur siehe Bouvard 2005.

Jörg Stadelbauer

Wird Moskaus Peripherie zum neuen Zentrum  ? Die Metropole und ihr Umland

Moskau war wie jede Stadt immer in ein Umland eingebettet, das ­ einen ländlichen Kontrast zur Urbanität herstellte, wie auch immer diese aussah. Der deutsche Gesandte Sigmund von Herberstein, dem wir die verlässlichsten frühneuzeitlichen Informationen verdanken, berichtet  :

Abb. 1. Immobilienwerbung entlang der Autobahn, 2012.

Moskau ist in seinem Kern ganz aus Holz gebaut. Es ist sehr groß und sieht von ferne noch umfangreicher aus. Die Häuser besitzen auch noch weite Gärten und Höfe, und dies verleiht der Stadt den Anschein von Größe. Am äußersten Stadtrand haben die Schmiede und alle Handwerker, die mit Feuer zu tun haben, ihre Häuser. Diese wiederum stehen, jeweils von Äckern und Wiesen getrennt, in einer langen Zeile. Auch das vermehrt das Stadtgebiet. Unweit der Stadt liegen weitere Häuser. […] Außerhalb von Moskau liegen verschiedene Klöster  ; jedes von ihnen gleicht von ferne selbst wieder einer Stadt. (Herberstein 1966, 167)

Schon zur Zeit von Herbersteins Gesandtschaftsreise war der Kreml’ das Zentrum der Stadt. Zunehmend wurden später die daran anschließenden Handwerker-, Händler- und Ausländerviertel, die Sloboden, von neuen Mauern umgeben und in die Stadt einbezogen. Seit der Zeit der Mongoleneinfälle und während des spätmittelalterlichen Aufstiegs Moskaus zur führenden Stadt Russlands hatte sich ein radial-konzentrisches Grundmuster herausgebildet  : Wie Speichen in einem Rad strahlten vom Zentrum Straßen in alle Himmelsrichtungen, und wie beim Rad wurde jede Wachstumsphase später von einer mehr oder weniger ringförmigen Befestigung umschlossen, der nach der Entfestigung zum Verkehrsring wurde (Marx/Karger 1997, 28).1 In der Neuzeit

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schrieb die Planung dieses Muster fort  : Auch als die Hauptstadtfunktion nach St. Petersburg abgewandert war, änderte die absolutistische und klassizistische Stadttransformation nichts daran. Ende des 19. Jahrhunderts stieß die Stadt­ entwicklung an die Grenzen der bisherigen Perimeter und dehnte sich in das damalige Umland aus. Im 20. Jahrhundert waren der innere Eisenbahnring, die Ringlinie der Metro und schließlich die Moskauer Ringautobahn (Moskovskaja kol’cevaja avtomobil’naja doroga, MKAD) entsprechende Ergänzungen und Anpassungen im Verkehrssystem. Ältere strukturelle Bezüge Moskaus zu seinem Umland zeigen sich in den Klöstern und Adelssitzen. Die Klöster, ursprünglich  – wie Herberstein berichtet  – weit vor den Toren der Stadt angelegt, dienten nicht nur der Kontemplation, sondern sie hatten auch eine sehr weltliche Schutzfunktion  : Von den befestigten Klöstern aus sollten Feuersignale zum Kreml’ gegeben werden, wenn der Feind die Stadt bedrohte, seien es die Litauer von Westen oder die Mongolo-Tartaren von Süden und Südosten. Musterbeispiele hierfür sind das Neue Jungfrauen-Kloster im Südwesten (Novodevičij monastyr’) und das Danilevskij-Kloster, die heute vollkommen im Stadtkörper aufgegangen sind (Schlögel 2011, 317). Als ehemalige Sommerresidenz des Zaren in gebührendem Abstand vom Kreml’ sei Kolomenskoe genannt, bei seiner Entstehung noch weit außerhalb der Stadt, heute im Südosten des Stadtgebiets gelegen. Damit wird deutlich, dass das historische Umland bereits funktionaler Ergänzungsraum war  : der Schutz der Hauptstadt und die Sommererholung von Zar und Adel standen im Vordergrund. Welche Aufgaben bis zur Gegenwart hinzukamen und wie sich das Umland heute darstellt, soll im Folgenden untersucht werden. Dabei sei in einem ersten Abschnitt zunächst die Entwicklung der äußeren Stadtgrenze betrachtet, ehe auf die jenseits der Stadtgrenze gelegenen, aber funktional zu Moskau gehörenden dača-Siedlungen und Künstlerkolonien eingegangen wird. Der sowjetischen Zeit gilt der zweite Abschnitt, in dem eine Suburbanisierung einsetzte, bei der das Umland auch Sonderfunktionen für die Hauptstadt übernahm, ehe mit der Transformation nach 1990 und der Bodengesetzgebung Anfang des 21. Jahrhunderts ein Immobilienboom begann, der bis in die Gegenwart anhält. Das Wachstum der Metropole ließ schließlich in der Gegenwart den Gedanken einer erneuten administrativen Ausweitung zu Lasten des Moskauer Verwaltungsgebietes (Moskovskaja oblast’) aufkommen, wodurch mit der Planungsidee »Groß-Moskau«, Anfang August 2011 von westlichen Medien noch als »Geheimaktion« dargestellt, eine neue Entwicklung eingeleitet wurde, die selbst aus dem weiter entfernt gelegenen Umland Stadtgebiet macht. Hierauf wird im dritten Abschnitt eingegangen.

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1. Historisches Erbe

Die Entwicklung der Stadtgrenze Die administrative Abgrenzung der Stadt gegen ihr Umland wurde immer wieder geändert, wie eine jüngst veröffentlichte Kartenserie allein für das 20. Jahrhundert zeigt.2 Der Generalplan für Moskau von 1935 bestätigte und verfestigte das gewachsene radial-konzentrische Grundmuster, einige Ausfallstraßen wurden begradigt und für den modernen Verkehr oder für Repräsentationszwecke ausgebaut. 1960 legte man die Ringautobahn (MKAD) als administrative Grenze fest  ; der Generalplan von 1971 hielt daran fest (Lappo et al. 1976, 135  ; Colton 1995, 456 ff.). Bis zu dieser Ringautobahn sollte Moskau wachsen – noch Anfang der 1970er Jahre gab es ausgedehnte Agrarflächen innerhalb dieses äußeren Ringes –, jenseits sollte ein Grüngürtel für die nötige Frischluftzufuhr sorgen. Doch schon nach wenigen Jahren wurden kleinere Areale jenseits des Autobahnrings der Stadt zugewiesen, und auch die Bebauung machte seit den 1980er Jahren nicht mehr Halt vor dieser äußeren Stadtgrenze. Das Gebiet jenseits der jeweiligen Grenze, das Stadtumland aus administrativer Sicht, hatte vor allem drei Aufgaben  : 1. Das Umland diente der Versorgung der Stadtbevölkerung mit Agrargütern. Dazu wurden in sowjetischer Zeit spezialisierte Staatsgüter (sovchozy) mit ausgedehnten Treibhäusern eingerichtet, nachdem alle Versuche, die Versorgung über Transporte aus klimatisch begünstigten Agrarzonen im Süden der Sowjetunion zu sichern, an organisatorischen Mängeln gescheitert waren. 1989 konnten 62% der Frischmilch, 60% der Kartoffeln und 70% des Gemüses für Moskaus Bedarf aus dem Umland bezogen werden – allerdings nicht nur von den Sovchosen, sondern auch aus den privaten Nebenerwerbsbetrieben der ländlichen Bevölkerung (Lappo, Hönsch 2000, 136). 2. Als Grüngürtel mit hohem Waldanteil erfüllte das Umland bei zunehmender Verstädterung der Region eine ökologische Ausgleichsfunktion. Noch während der Planung zeigte sich allerdings, dass die Wälder nicht unangetastet blieben, sondern dass immer wieder kleinere Waldflächen für Siedlungszwecke geopfert wurden. 3. Gerade mit diesen Wäldern aber wurde das Umland in seiner Bedeutung als stadtnaher Erholungsraum der Moskauer Bevölkerung bestätigt. Ein Beispiel bietet die Verteilung der Pionierlager im Moskauer Umland, mit denen Kindern und Jugendlichen mit relativ geringem finanziellem Auf-

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wand ein Aufenthalt abseits der ständig wachsenden Metropole ermöglicht wurde.3 Die Dača als Element russischer Stadtkultur seit der späten Zarenzeit Dienten die älteren Anlagen, die von Moskau aus jenseits der Stadtgrenzen errichtet wurden, noch überwiegend dem Schutz der Hauptstadt, verschob sich die Motivation im 18. und 19. Jahrhundert. Repräsentation trat nunmehr im konsolidierten Russischen Reich, das keine mongolo-tartarischen oder polnisch-litauischen Einfälle zu befürchten hatte, in den Vordergrund, als neue Adelssitze im weiteren Umland als stadtnahe Wohnsitze gegründet wurden, kleinere oder größere Schlossanlagen, für die sich die Sammelbezeichnung usad’ba einbürgerte. Diese Anlagen sind teilweise sehr weitläufig gestaltet, in der Regel inmitten ausgedehnter Wälder. Ein Beispiel hierfür ist Valuevo, unweit der Kalugaer Chaussee. Der Gebäudekomplex, der heute ein Kindersanatorium beherbergt, ist seit dem frühen 18. Jahrhundert nachgewiesen (Vse Podmoskovskoe 1967, 35). In die usad’ba zog sich der Adel im Sommer zurück, um der Unwirtlichkeit der Stadt während der Sommerhitze zu entgehen (Lovell 2002, passim). Bei St. Petersburg waren bereits im 18. Jahrhundert erste Sommerhaussiedlungen des Adels entstanden, Moskau zog nach. Was der Adel vormachte, griff das Bürgertum auf, wenn auch meist in bescheidenerem Maße. Der Begriff dača, ursprünglich die Übereignung von Land für einen Landsitz,4 dann der ländliche Sommerwohnsitz, umfasste daher am Ende des 19. Jahrhunderts die gesamte Spannbreite vom Adelssitz bis zum kleinen Sommerhäuschen im Garten (Lovell 2002, Rumjanzewa 2009). Die dača wurde damals zum sichtbaren Ausdruck des sozialen Aufstiegs einer Mittelschicht, die nicht hinter dem früheren Leben des nach den Reformen der 1860er Jahre teilweise verarmten Adels zurückstehen und ebenfalls der Stadt in der Sommerhitze den Rücken kehren wollte. In einer regen Bautätigkeit, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielt, entwickelte sich eine Vielfalt von Formen und Typen  : Die Bauweise reicht von einfachen Holzhäusern mit gerade zwei Räumen zu villenähnlichen Häusern mit zwanzig oder mehr Räumen, die Rechtsform von Anmietung bis zu vollem Eigentum, die Nutzung von der reinen Sommerfrische bis zum Gemüseanbau als Vorsorge für den Winter. Damit wurde die dača gerade in ihrer Vielfalt zu einem Spiegel der Differenzierung in der russischen Gesellschaft. Bevorzugt für die Anlagen von dača-Siedlungen auf ehemaligem Gutsbesitz waren im Falle Moskaus die westlichen und südlichen Umlandbereiche, wobei man schon im

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ausgehenden 19. Jahrhundert weite Wege für die saisonale Übersiedlung in Kauf nahm. Die Erschließung des Umlandes durch die Eisenbahn erleichterte den Besuch der dača. Für 1917 schätzt man die Zahl der dači im Moskauer Umland auf 20.000 (Nefedova 2013, 32). In vielen Fällen wurde die dača seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zum Treffpunkt der intelligentsia, wenn sich Schriftsteller dort zur Diskussion über neue Werke oder Maler zur Entwicklung neue Stilrichtungen trafen. Anton Čechov beispielsweise erwarb 1892 das verwahrloste Landgut Melichovo südöstlich von Moskau nahe Lopasnja, um dort im Sommer ungestört arbeiten und gleichzeitig als Arzt im ländlichen Raum wirken zu können (Solncev 1967, 173). Beschrieben wird das Anwesen als »niedriges Holzhaus mit Veranda und Blumenbeeten mitten in einem Wäldchen« (Marx 1969, XIX).5 In der russischen Literatur spielt die dača und das mit ihr verbundene Leben seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine nicht unerhebliche Rolle.6 In der Sowjetzeit wurde dieses bürgerliche Element nicht aufgegeben  ; Peredelkino westlich von Moskau entwickelte sich in alter Tradition als Zentrum von Schriftstellern. Die sich Ende der 1920er Jahre während der Massenkollektivierung rapide verschlechternde Versorgungslage der Stadtbevölkerung erzwang einen Funktionswandel der einfachen dača und eine Lösung, die allerdings eher an einen Schrebergarten mit Holzhütte als an einen Adelssitz erinnerte.7 Gegen Ende der Sowjetzeit wurden Regelungen getroffen, die einer drohenden Zersiedelung im Umland entgegenarbeiten sollten. Das kleine Gartenhäuschen und eine Garage für die sichere Unterstellung des Privatautos waren gestattet, was bisweilen dazu führte, dass der Garage ein überdimensioniertes Dachgeschoss aufgesetzt wurde, in dem die Familie ausreichend Platz zum Wohnen finden konnte. Die Verbindung der Gesellschaft mit dem Ländlichen wurde geradezu mystifiziert. Es entstand eine urbane Ruralität, eine spezifische Lebensform  : Der der Natur entfremdete Städter wollte auch Landbewohner sein, wie es in der politischen Richtung der narodniki am deutlichsten hervortrat. Die dača wurde für den Städter zum Inbegriff des Ländlichen, wobei das Milieu ländlich, die alltägliche Lebensweise aber durchaus städtisch war. Peredvižniki und Künstlerkolonien Neben Schriftstellern waren es vor allem Maler, die die intellektuelle Verknüpfung von ländlichem und urbanem Leben pflegten. Die Gruppe der peredvižniki, der »Wanderer«, fühlte sich dem ländlichen Raum und ihren Menschen

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besonders verbunden. Als prominente Vertreter seien Grigorij Mjasoedov, Vasilij Perov, Aleksej Savrasov und Nikolaj Ge beispielhaft genannt. Ihren Ursprung nahmen die peredvižniki im romantisierenden Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie fühlten sich nicht an einen individuellen Platz gebunden, schon gar nicht an Moskau, sondern zogen mit Wanderausstellungen im ländlichen Raum herum, sicher jedoch nicht beliebig. Im Umkreis von Moskau entwickelten sich dabei einige Künstlerkolonien, unter denen Abramcevo in der Richtung von Sergiev Posad am bekanntesten wurde. Aber auch westlich von Moskau bot die naturnahe Uferlandschaft der Moskva bei Zvenigorod einen beliebten Hintergrund. Dieser Bereich im Moskauer Umland wurde prägend für einige spätere Vertreter des russischen Realismus wie etwa Savrasovs Schüler Isaak Levitan. Zugleich wurde durch die intellektuelle Aufwertung ein raumbezogenes Prestige geschaffen, das sich bis heute in den Immobilienpreisen, etwa entlang der Rublëvo-Uspenskoer Chaussee, ebenso niederschlägt, wie es in Peredelkino der Fall ist. Adlige, bürgerliche Städter auf der dača und Künstler in ihren Kolonien waren nicht eigentlich rurale Bevölkerungsgruppen. So sehr das Landleben von einzelnen Intellektuellen verherrlicht wurde (man denke an den Gutsherrn Lev Tolstoj in Jasnaja Poljana, oblast’ Tula), blieb doch immer die soziale Distanz und Differenz zum mužik erhalten, dem bildungsfernen, wirtschaftlich und sozial abhängigen Bauern. Die dačniki lebten ihren eigenen urbanen und freien Lebensstil. Doch auch aus der Tradition der abhängigen Landbewohner reichen Siedlungselemente in Moskaus Umland bis in die Gegenwart  : Die Dorfsiedlungen, in denen sich entlang der geradlinigen Dorfstraße Holzhäuser mit kleinen Gärten aufreihen, sind bis heute ein Element der Kulturlandschaft im Moskauer Umland geblieben. Blieben sie in der Sowjetzeit wegen der generell geringen Beachtung des ruralen Raumes relativ unverändert, so unterliegen sie in der Gegenwart auch beginnenden Veränderungen – bis hin zur Auflösung des dörflichen Kontextes. Ziehen wir ein kurzes Zwischenfazit  : Vor allem im 19. Jahrhundert war das Stadtumland Moskaus – ebenso übrigens wie dasjenige St. Petersburgs – der Raum, in dem sich Ideologie und Mythos des Ländlichen für die Stadtbevölkerung herausbildete, eine genuin russische Form der Übertragung von Lebensformen in einen anderen Raum, nur sehr entfernt der italienischen villegiatura vergleichbar. In weitaus höherem Maße als im alten Rom oder im neuzeitlichen Italien wollte in Russland die urbane Bevölkerung einer Entfremdung von ihrem ruralen Ursprung entgegenwirken und verlorene Ruralität wiedergewinnen. Diese ideologische Verklärung wirkt in verschiedene Lebensbereiche

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hinein, von der Politik bis zur Kunst, und auch die Literaturentwicklung ist ohne die Zusammenkünfte auf der dača kaum vorstellbar. Die dača als Ausdruck ruralisierter Urbanität ist damit ein wichtiges Element der russischen Gesellschaft  ; das städtische Umland ist beides, Ort des Stadtlebens und Teil des ländlichen Raumes  ; es ist der Ort, an dem sich rurale Urbanität oder urbane Ruralität verwirklicht.8

2. Sowjetzeitliche und postsowjetische Suburbanisierung  : Die Expansion der Stadt und der Druck auf das Umland

Expansion des Städtischen ins Umland Das 20. Jahrhundert fügte neue Umlandstrukturen hinzu. Zugleich wurde durch die Expansion städtischer Strukturen bis zur MKAD und darüber hinaus der Dačengürtel ausgeweitet, nach Süden über das Moskauer Verwaltungsgebiet bis ins benachbarte Gebiet von Kaluga hinein. Bei der Verstaatlichung von Grund und Boden, die mit Lenins erstem Dekret O zemle politisch durchgesetzt wurde, verschwanden Adelsbesitz und großbürgerlicher Grundbesitz, die Wälder aus adligem Besitz wurden dem Goslesfond übertragen, die Adelsgüter erhielten neue Aufgaben. Es zeigt sich aber, dass die kulturlandschaftlichen Strukturen zwar einem sozioökonomischen, nicht jedoch unbedingt einem strukturellen Wandel unterlagen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche urbanistische Modellvorstellungen entwickelt, wie die in ihr Umland wachsende Metropole organisiert werden könnte. Die frühen 1930er Jahre riefen sowjetische und internationale Spezialisten auf den Plan  : Der deutsche Städtebauer Ernst May erwog die Entwicklung gruppierter Werkssiedlungen außerhalb des städtischen Zentrums, Le Corbusier dachte an einer strenge funktionale Trennung von Industrie, Wohnsiedlungen und Verwaltung, und Nikolaj Ladovskij entwickelte ein Schema, nach dem Moskau beiderseits einer von allgemeinen städtischen Funktionen besetzten Hauptachse beliebig weit nach außen mit Wohngebieten und davon getrennten Industriearealen sowie Erholungsräumen wachsen könnte – ganz so, wie es dem Modell der sozialistischen Stadt entsprach, das lineares Wachstum und Funktionstrennung vorsah (Moskovskij stoličnyj region 1988, 30ff. und 190ff.; Colton 1995, 238ff.). Wenn von Moskau als Hauptstadt gesprochen wurde, stand schon in den 1980er Jahren nicht nur die Stadt an sich zu Debatte. Die Planung ging wesent-

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lich weiter, wenn sie von der Moskauer Hauptstadtregion (Moskovskij stoličnyj region) sprach und dabei außer dem unmittelbaren Umland (Podmoskov’e) das gesamte Moskauer Verwaltungsgebiet (Moskovskaja oblast’) einbezog und darüber hinaus Verflechtungen mit den angrenzenden oblasti berücksichtigte.9 Damit ging man weit über die Stadt und ihr eigentliches Umland hinaus, band weitere Städte, auch Provinzhauptstädte, in den Agglomerationsraum ein und schuf die Chimäre eines gewaltigen Entwicklungsraumes. Zugleich veränderte sich die Kulturlandschaft des Moskauer Umlands durch neue Elemente. Die ideologische Betonung von Verstädterung und Industriearbeitertum erlaubte Industriebetriebe im ländlichen Raum, die oft ohne Sensibilität für Raumbezüge oder Kulturlandschaftsgefüge entstanden. Vielfach handelte es sich um Auslagerungen aus Moskau, dessen Bedeutung für die reine Industrieproduktion seit den 1960er Jahren rückläufig ist. Der Stadtraum innerhalb des MKAD füllte sich gleichzeitig durch Großwohngebiete mit industrieller Plattenbauweise auf, und bald griff die Wohnbebauung über den MKAD auf die bereits in der Moskauer oblast’ gelegenen Gebiete über. Dort bestand eine beträchtliche Eigenentwicklung mit Industriebetrieben von großer Produktionsbreite und – mitbedingt durch die Nähe der Moskauer Ausbildungsstätten – von hohem Innovationspotential. Bei allen Veränderungen der Verwaltungsgrenzen und bei den genannten Aufgabenzuweisungen, zu denen später noch regional begrenzte traten, musste sich das Moskauer Verwaltungsgebiet damit abfinden, dass wesentliche Entwicklungen von der Hauptstadt aus gesteuert wurden und die Gebietskörperschaft in eine immer größere Abhängigkeit geriet. Als hinderlich erwies sich, dass eine kohärente Raumordnungspolitik fehlte und die Raumentwicklung auf der Basis nicht gegenseitig abgestimmter Einzelentscheidungen erfolgte (Lappo, Hönsch 2000, 138). Dass nicht alle planerischen Maßnahmen der Sowjetzeit sinnvoll waren, wird in fast jedem Sommer deutlich, wenn sich trockengelegte Torflager entzünden, wie es vor allem 2010 in katastrophaler Weise der Fall war. Für den Ökologen sind Torfe Kohlenstoffsenken  ; in den Ablagerungen von Pflanzenresten ist Kohlenstoff aus dem geochemischen Vorrat der Erde gebunden. Bei ihrer Schädigung wird dieser Kohlenstoff als CO2 freigesetzt  ; dieses gelangt in die Atmosphäre, wo es den Treibhauseffekt und damit die Erderwärmung verstärkt. Unmittelbare gesundheitliche Auswirkungen haben die Rußpartikel, die in die Atmosphäre gelangen und das Atmen zusätzlich zu den zunehmenden Autoabgasen erschweren. Die Kultur der dača erlebte während der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP-Periode) der 1920er Jahre, die kurzfristig eine neue Mittelschicht ent-

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stehen ließ, einen gewissen Aufschwung, doch behielt sich das Regime zunehmend eine Selektion vor. So entstand in Žukovka bei Zvenigorod an der Moskva eine ausgedehnte Siedlung im Wald, in der die intellektuelle Elite des Sowjetstaates ihr Landhaus erhielt, Akademiemitglieder und Künstler, die international bekannt waren und Reisemöglichkeit besaßen oder auch solche, die dem Regime kritisch gegenüberstanden  ; Dmitrij Šostakovič, Andrej Sacharov und Mstislav Rostropovič seien beispielhaft genannt (Rumjanzewa 2009, 84). Für Literaten wurde Peredelkino zum intellektuellen Treffpunkt (ebd., 89ff.). Die Generation der Kinder dieser Intellektuellenschicht hatte in postsowjetischer Zeit die Möglichkeit, auf den großzügig bemessenen Grundstücken ein eigenes Haus zu errichten. Nachdem die Freiflächen zwischen dem Moskauer Stadtzentrum und der MKAD Ende der 1980er Jahre weitgehend aufgesiedelt waren, breitete sich großstädtische Bebauung auch im Umland aus. Einerseits wuchsen die Mittelstädte rings um Moskau wie Chimki, Mytišči, Balašicha, Reutov oder Ljubercy durch den Bau neuer Häuserblocks, andererseits entstanden, vor allem in den 1990er Jahren, begünstigt durch die Schwächung administrativer Eingriffsmöglichkeiten, Großwohnsiedlungen, die kostengünstigeres Wohnen unter den neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen erlaubten. Hauptstädtische Sonderfunktionen Das Moskauer Umland blieb auch über diese Wohnfunktion und die allgegenwärtige Bedeutung der Wälder als Naherholungs- und, mit ihren Pilzen und Beeren, auch als Versorgungsraum mit Moskau verbunden. Es musste zusätzlich Aufgaben übernehmen, für die entweder auf dem administrativen Areal der Hauptstadt kein Platz war oder die einer mehr oder weniger großen Geheimhaltung unterlagen. Als wichtigste Beispiele seien die Flughäfen der Metropole und die mit Akademieinstituten oder Ministerien verbundenen Forschungsstätten genannt, einige davon in »geschlossenen« Städten, die auf keiner für die Öffentlichkeit bestimmten Karte verzeichnet waren und eine eher in die Irre führende Postleitzahl hatten, deren Bewohner aber meist besondere Privilegien genossen.10 Von staatlicher Seite hatte die Anlage von Flughäfen jenseits der MKAD groß­ flächige Infrastruktur in den ursprünglich ländlichen Raum getragen, nachdem der bisherige Moskauer Flughafen im Nordwesten beim heutigen Aėrovokzal sich als zu klein und nicht mehr ausbaufähig erwiesen hatte. Šeremet’evo, Domodedovo und Vnukovo markieren raumgreifende Nutzflächen-

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veränderungen, die eine neue Qualität von Urbanität, in neuester Zeit von Globalität in das Umland tragen. In Orechovo und Bekasovo beansprucht die Güterverladung größere Flächen, Teststrecken für Automobile und landwirtschaftliche Maschinen stellen die Verbindung zum Bereich von Forschung und Entwicklung her. Mehrere Forschungsstätten wurden schon in der Sowjetzeit aus Sicherheitsgründen nicht in der Hauptstadt selbst, sondern in ihrer nächsten Umgebung angesiedelt. Mit ihnen war ein erheblicher Prestigegewinn der gesamten Region verbunden.11 Als Beispiel sei Korolëv (183.000 Einwohner  ; zwischen 1928 und 1996  : Kaliningrad) genannt, das von der dača-Siedlung zunächst zum Standort der Rüstungsindustrie wurde und sich dann seit 1946 zu einem Zentrum der Raumfahrtforschung und -industrie entwickelte, weshalb es seinen aktuellen Namen nach dem Raketenkonstrukteur Sergej Korolëv erhielt. Ein weiteres, jüngeres Beispiel für die Überwindung der monozentrischen Stadtstruktur bietet Skolkovo, das 2010 vom damaligen russischen Präsidenten Medvedev zum Standort eines Innovationszentrums unmittelbar westlich der MKAD bestimmt wurde (Argenbright 2013, 32). Die Entwicklung des neuen Immobilienmarktes Die wichtigste Voraussetzung für den postsowjetischen Wandel im Moskauer Umland ist die in zwei Schritten erfolgende Aufhebung der Bestimmungen des Dekrets über Grund und Boden. Zunächst wurde es schon in den letzten Jahren der Sowjetzeit möglich, Boden im ländlichen Raum zur Nutzung zugewiesen zu bekommen  ; damit wurde teilweise die Auflösung der Kolchose und Sovchose vorbereitet, ein individualwirtschaftliches Bauerntums eingeführt, aber auch die Möglichkeit individueller Wohnnutzung vorbereitet. Mit der generellen Einführung privaten Bodeneigentums 2001 gab der Staat seine bisherigen Ausschließlichkeitsrechte auf Grund und Boden auf. Dadurch entstanden in kürzester Zeit nochmals andere Strukturen  : Im Anschluss an frühere dača-Siedlungen, in Erweiterung ländlicher Dorfsiedlungen oder auf isolierten Siedlungsflächen wurden Eigenheime gebaut, die den Grüngürtel um die Stadt mehr und mehr durchbrachen. Zugleich entwickelte sich ein äußerst dynamischer Immobilienmarkt, der in der regelmäßigen Berichterstattung in den Medien nachvollziehbar ist. Hochglanzprospekte werben für prestigeträchtige Bauprojekte, und entlang der Ausfallstraßen preisen Werbetafeln die neuen Projekte an. Sie entstehen voneinander isoliert, oft wenig einheitlich an den übergeordneten Verkehr angebunden und  – bei kleineren Eigenheimsiedlungen – in der Regel ohne jegliche geplante Infrastruktur.

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Die Werbung greift das Muster früherer Jahrzehnte auf und arbeitet mit Stereotypen der Ruralität  : Land und Wald, freie Natur, Park und Erholung, das Haus im Grünen … werden dem Städter angepriesen. Selbst prestigemächtig erscheinende, geradezu exotische Ortsnamen greift man auf  : Im Südwesten wird am Rand des Moskauer Erweiterungsgebietes ein neues Baugebiet Bremen beworben.12 Tatsächlich setzen viele Häuser in diesen Siedlungen die alte dača-Tradition fort  : Es sind Wochenend- und Sommerwohnhäuser der »neuen Russen«, der im Transformationsprozess zu Geld gekommenen neuen Mittelund Oberschicht, die sich diese kottedž (cottage) genannten Einfamilienhäuser leisten kann. Verfolgen wir einzelne Erscheinungsformen etwas genauer. Bei den Bodenund Immobilienpreisen lassen sich vor allem zwei Einflussgrößen feststellen, die simplen Bodenrentenmodellen entsprechen  : Mit der Entfernung von Moskau, genauer von der MKAD, nimmt der Preis ab, wobei Wege von einigen -zig Kilometern in Kauf genommen werden. Zum anderen ist das überkommene Prestige entscheidend, das wesentlich vom landschaftlichen Reiz (Nähe zum naturnahen Moskva-Oberlauf ) und der geringen Beeinträchtigung durch Industriebauten bestimmt wird. Die höchsten Preise werden an der Rublëvo-Uspenskoer Chaussee erreicht, gefolgt von der Novorižskoe. Geringere Bodenwerte finden sich südöstlich von Moskau. Die Nähe zu Moskau (bis zu 30 km Entfernung von der MKAD) spielt an der Novorižskoer Chaussee und an der Leningrader Chaussee (dort wegen der Nähe zum Flughafen Šeremet’evo) eine große Rolle (näher an Moskau gelegenes Bauland hat den dreifachen Wert). Bei den anderen Richtungen sind die Bodenpreisunterschiede etwas geringer  ; bei größeren Entfernungen müssen noch zwei Drittel des Preises bezahlt werden. Im September 2011 betrug das Verhältnis zwischen höchsten und niedrigsten Werten (jeweils für 100 m², eine sotka) etwa 3 zu 1. Für viele Moskauer steht das Eigenheim in der Tradition der dača  : Man nutzt es am Wochenende oder in den Ferien, hat jedoch für den wöchentlichen Arbeitsalltag noch eine oft bescheidene Wohnung in Moskau. Damit wird dem Problem des übergroßen Verkehrsaufkommens und der langen Staus Rechnung getragen. Andererseits ist mit diesem Phänomen eine enorme Bevölkerungsverlagerung in der sommerlichen Ferienzeit verbunden  : Die Bevölkerung des ländlichen Raumes der Moskauer oblast’ wächst in dieser Zeit von 1,4 auf wenigstens 3 bis 4 Millionen (Nefedova 2013, 418). Der neu entstandene Immobilienmarkt und die wachsende Nachfrage nach Baugrund und Wohnraum veränderten massiv das Nutzungsgefüge. Ein Beispiel bietet die Stadt Moskovskij (17.400 Einwohner) im Südwesten von

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Moskaus Umland. Dort waren im Zug der sowjetischen Agrarprogramme der 1970er und 1980er Jahre zur Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung der sowjetischen Hauptstadt große Sovchose mit ausgedehnten Treibhäusern entstanden. Der Nachfolgebetrieb der Sovchose von Moskovskij hat inzwischen einen Teil der Flächen dieser Treibhäuser an ein Wohnbauunternehmen verkauft, das die Treibhäuser abriss und an ihrer Stelle Wohnhochhäuser errichtete. Diese Flächenumwidmung reduziert zwar die landwirtschaftliche Nutzfläche nur in geringem Maß, verändert aber die sozioökonomische Struktur. dača – kottedž – taunchauz Einen flächenmäßig wesentlich massiveren Eingriff brachte die Erschließung von Land für den Eigenheimbau. Die als cottages (russ. kottedž) beworbenen Einfamilienhäuser unterliegen nicht mehr den baulichen Restriktionen der frühen Transformationsphase. Da die Flächenausweisung für neue Siedlungsflächen nicht planmäßig und koordiniert vor sich ging, entstanden unzählige kleine Siedlungsinseln in unterschiedlicher Entfernung von den Durchgangsund Ausfallstraßen, bisweilen schlecht angeschlossen und nicht untereinander vernetzt. Angesprochen wurde vor allem der wieder entstandene Mittelstand  ; für die obere Mittelschicht wurden abgeschirmte Siedlungen (gated communities) mit kontrolliertem Zugang errichtet. Seit etwa 2011 registriert man einen Wandel in der sozialen Stellung der Bewohner der neuen Siedlungen  : Waren die preisgünstigen Großwohngebiete fernab des Zentrums eher für die untere Mittelschicht und die neuen Eigenheime zunächst meist als Zweitwohnsitze für Angehörige der besser verdienenden Schichten gedacht, die auf ihren Wohnsitz in der Stadt nicht verzichten wollten, so sind neue Reihenhaussiedlungen (russ. taunchauzy von engl. townhouse) als Dauerwohnsitze für Angehörige der wieder etablierten Mittelschicht konzipiert. Den geringer Verdienenden hatte man den langen Pendelweg zugemutet, die »neuen Russen« wünschten die Bilokalität des Wohnens in und außerhalb der Stadt, während die neuen Umlandbewohner durch eine gute infrastrukturelle Anbindung (ėlektrička, die Vorortbahn mit Elektrotraktion) oder die oftmals erst geplante Metroverlängerung angezogen werden (Kommersant 27. 2. 2013, Beilage Dom, 4). Damit tritt die Suburbanisierung in ein neues Stadium, das durch administrative Veränderungen noch verstärkt wird, denn die Einbeziehung neuer Wohngebiete in das Moskauer Stadtterritorium belässt den Bewohnern das Moskauer Wohnrecht, das angesichts der noch immer bestehenden Zuzugsbeschränkungen einen bedeutenden Wert darstellt.

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Die Standortüberlegungen dieser neuen urbanen Umlandbewohner, oft junge Paare oder Familien mit Erwachsenen mittleren Alters, sind mit abnehmender Priorität die gute Verkehrsanbindung an das Moskauer Zentrum, die Bildungsmöglichkeiten für die Kinder, die Erreichbarkeit medizinischer Versorgung und die Ausstattung mit Einzelhandelseinrichtungen. Die sowjetzeitliche Expansion Moskaus, so ein weiteres Zwischenfazit, setzt den vorherigen Entwicklungsgang beschleunigt fort und bezieht das Umland in ähnlicher Weise ein. Seit den 1980er Jahren, verstärkt seit Beginn der Transformation, entstehen Wohnsiedlungen einer Suburbanisierung, die die zunehmende soziale Stratifizierung der Bevölkerung abbildet. Einem globalen Entwicklungstrend entspricht es, wenn »sperrige Infrastruktur« in das Umland verlagert wird. Dagegen ist die Entwicklung geschlossener Städte ein systembedingter Vorgang, der dem Sicherheits-, Kontroll- und Verwaltungsdenken der sowjetischen Führung entspricht. Das Nebeneinander verschiedener Stränge einer immer komplexer werdenden Machtvertikale findet darin auch einen räumlichen Ausdruck. Das neue Bodenrecht der postsowjetischen Zeit begünstigt eine Zersiedlung in einem breiten Gürtel um die Metropole.

3. Groß-Moskau

Die neuen Stadtgrenzen und die Planung für eine Stadterweiterung Im Juli 2011 wurde ein Beschluss der russischen Regierung veröffentlicht, die administrativen Stadtgrenzen zu verändern. Durch eine massive Eingemeindung im Südwesten der Moskauer oblast’ sollte das Stadtgebiet von 1070 auf 2530 km² anwachsen, d. h. etwa auf die Fläche des Saarlands. Die Moskauer Stadtduma stimmte im Frühjahr 2012 erwartungsgemäß zu  ; mögliche Opposition im Moskauer Verwaltungsgebiet, das bisher die Stadt Moskau ringförmig umschloss, wurde durch die Steuerung der Gouverneurswahl Anfang April 2012 ausgeschaltet. Am 1. Juli 2012 war die Erweiterung rechtlich vollzogen. Nachdem der im April gewählte Gouverneur Sergej Šojgu, der auch den wenig populären Vorschlag gemacht hatte, die Hauptstadt der Russländischen Föderation nach Sibirien zu verlegen, zum Verteidigungsminister aufgestiegen war, ernannte Putin am 8. 11. 2012 den Fraktionsvorsitzenden der Kreml’-Partei Einiges Russland Jurij Vorob’ev zum interimistischen Gouverneur des Moskauer Verwaltungsgebietes bis zur nächsten Wahl im September 2013.

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Der Plan für ein Groß-Moskau ist nicht neu. Schon die Vorschläge der städtebaulichen Moderne 1930–1932 zielten auf ein Groß-Moskau mit Wachstum in das Umland ab. Als 1960 die administrativen Grenzen Moskaus bis zur MKAD vorgeschoben wurden und sich das Territorium von 285 auf 875 km² vergrößerte  – also etwa um denselben Faktor wie bei der aktuellen Ausweitung –, ging die Planung bereits darüber hinaus und bezog in Groß-Moskau auch den Grüngürtel um die Stadt mit den Nachbarstädten sowie die Flughäfen ein.13 Die aktuelle Planung des Erweiterungsgebietes verweist auf Grand Paris, einen unter Nicolas Sarkozy initiierten Plan, der vor allem auf eine Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs in der Île de France abzielt, aber auch städtebauliche Projekte umfasst, mit deren Verwirklichung Paris zu den größten Metropolen der Welt aufschließen will. Mit der Ausweitung, die so gar nicht dem bisherigen Wachstum Moskaus in konzentrischen Kreisen entspricht, aber einen enormen Flächenzuwachs bringt und sie unmittelbar an das von Auslandsinvestitionen besonders bevorzugte Gebiet Kaluga angrenzen lässt, sind städtebauliche Vorstellungen verbunden. Die russische und Moskauer Führung erhoffen sich einen Zugewinn an Prestige durch internationale Beteiligung bei Planung und Gestaltung. In einem international ausgelobten Wettbewerb sollen zunächst Grundzüge der städtebaulichen Anlage festgelegt und dann in einem zweiten Schritt von konkurrierenden Konsortien Gestaltungspläne entwickelt werden. Allerdings ist es in den Medien inzwischen etwas ruhiger um die Gestaltung Groß-Moskaus geworden. Für eine Bewertung des Vorhabens ist es noch zu früh. Die Hauptakzente der Stadtentwicklung liegen derzeit bei der Fertigstellung des neuen Bürozentrums Moskva-Siti am Rand der Innenstadt und  – nach der Ablösung des langjährigen Bürgermeisters Jurij Lužkov durch Sergej Semenovič Sobjanin – bei der Lösung von Verkehrsproblemen. Ein neues Zentrum  ? Mit der Ausweitung Moskaus nach Südwesten verband man zunächst die Vorstellung, auch ein neues Verwaltungszentrum zu schaffen, um die Innenstadt zu entlasten. Als möglicher Standort für den Neubau des russischen Parlaments wurde die Siedlung Kommunarka vorgesehen, die sich an Gazoprovod anschließt, wo der Energiekonzern Gazprom bereits ein großes back office-Gebäude errichtet hat. Der mögliche Umzug des Parlaments an diesen Standort rief jedoch Proteste hervor. Obwohl Putins und Medvedevs Regierungspartei Einiges Russland über eine überwältigende Mehrheit in der Staatsduma ver-

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Krasnopakhorskoye

Novofyodorovskoye

Podolsk Mikhallovo-Yartsevskoye

Shchepovskoye

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Ka luz hsk oye Mo tor wa y

Kievsky Voronovskoye

Klimovsk

Lagovskoye Smaller Ring Road

Klenovskoye Lvovsky

Varsha vskoye

Stolbovaya

Rogovskoye

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Abb. 2. Stadterweiterung 2012.

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fügt, sprachen sich im Frühjahr 2012 vier Fünftel der Abgeordneten gegen den Umzug aus. Nicht nur die periphere Lage jenseits des Autobahnrings und damit die räumliche Regierungsferne werden kritisiert, sondern auch die Tatsache, dass der vorgeschlagene Standort durch Massengräber von 14.000 Opfern aus der Zeit von Stalins Repressionen emotional belastet ist.14 Ein weiteres Mal schien eine geringe Sensibilität bei der Durchsetzung staatlicher Interessen zu bestehen, wie auch bei der Erweiterung des Moskauer Stadtgebietes die »gelenkte Demokratie« und das System Putin dominierten. In diesem Fall lenkte jedoch die russische Regierung im Oktober 2012 ein  : Putin gab die Anweisung, nochmals über Verbleiben oder Verlagerung nachzudenken, und der Leiter der Präsidialverwaltung, Vladimir Kožin, teilte mit, dass neue Pläne ausgearbeitet würden, alle Ministerien in der Nähe des Kreml’ zu konzentrieren, um die Wege zu minimieren.15 Derzeit scheint es, als seien die Persistenzen stark genug, eine Abkehr von bisherigen Traditionen zu verhindern. Auf dem Weg zur städtebaulichen Gestaltung von Groß-Moskau Der Wettbewerb zur städtebaulichen Gestaltung des Erweiterungsgebietes wurde international ausgeschrieben. Anfang September 2012 fiel die Entscheidung zugunsten des französischen Architekturbüros Antoine Grumbach et Associés, das bereits beim Entwicklungsplan Grand Paris erfolgreich gewesen war. Dass das US-amerikanische Konsortium Urban Design Associates den Wettbewerb für die Gestaltung des neuen Föderalen Regierungszentrums gewann, fällt angesichts der neuesten Entscheidungen nicht mehr ins Gewicht. Der französische Gestaltungsvorschlag lässt eine Rückkehr zum radial-konzentrischen Grundmodell erkennen  : Das Erweiterungsgebiet wird zwischen zwei Entwicklungsachsen an der Kalugaer und Warschauer Chaussee von einer Grünzone durchzogen, die das Gebiet gliedert, aber auch städtebauliche Entwicklung erlaubt. »Eine Stadt im Wald – Wald in der Stadt« ist die leitende Idee, mit der man einer ungehemmten Verstädterung entgegenarbeiten will. Dabei hat sich das französische Team auch Überlegungen zu den gewachsenen Strukturen zu eigen gemacht. So soll Troick (40.000 Einwohner) als Wissenschaftsstadt weiterentwickelt werden.16 Den Individualverkehr auf der MKAD soll ein Schnellbahnsystem ergänzen, das an dem Kreuzungspunkt (»Moscow Gates«) mit einer neuen, radial verlaufenden Schnellbahnlinie verknüpft wird. Der Entwurf von Urban Design Associates konzipierte ein großzügig angelegtes, in den Naturraum eingepasstes Regierungsviertel und Wohngebiete,

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bei deren Layout die innerstädtische Maßstäblichkeit der großen Baublocks aufgegriffen wird. Die Grundideen des Entwurfs17 sind  : 1. Fortentwicklung bestehender Strukturen durch Einbindung in Moskaus gewachsene Grundstruktur, 2. Verknüpfung der Erweiterung mit dem Naturraum des Waldes, 3. Konzeption einer »Bandstadt des 21. Jahrhundert«, 4. Förderung von Massentransportmitteln und deren Beschleunigung. Die Umsetzung in den kommenden 30 bis 50 Jahren würde nach heutigen Preisen etwa 187 Mrd. Euro kosten. Dabei wird ganz wesentlich auf das Engagement ausländischer Investoren gesetzt, die bereits jetzt Moskau zu einem ihrer wichtigsten Investitionsziele gemacht haben. Die Vorgaben waren aber noch von der Verlagerung hoher staatlicher Einrichtungen in das Erweiterungsgebiet ausgegangen  ; verzichtet man darauf, dann erscheint eine prominente städtebauliche Aufwertung auch eher fraglich. Tatsächlich realisiert wird daher derzeit vor allem Wohnungsbau  : Im Juli 2013 werden die ersten Baulandflächen unter den geänderten administrativen Bedingungen verkauft. An der Kiever Chaussee ist ein Wohngebiet angedacht, das etwa 250.000 m² Wohnfläche bereitstellen wird  – halb so teuer wie vergleichbarer Wohnraum innerhalb des MKAD.18

4. Schlussfolgerungen

Mit dem Plan einer Stadterweiterung nach Südwesten erfahren die Stadt-Umland-Beziehungen eine neue Qualität. Wieder einmal wird das Umland zur Stadt, weil man meint, dass das bisherige Moskau die Belastungen der weiterhin wachsenden Megastadt nicht mehr tragen kann. Das Entscheidungsmuster entspricht russischen Traditionen, die unter anderem auf einem äußerst großzügigen Umgang mit der Fläche beruhen. Ein unbegrenztes Höhenwachstum mit zahlreichen »Wolkenkratzern« möchte man in Moskau offensichtlich vermeiden  ; hier soll es zumindest vorläufig bei den bisherigen Akzenten (Hochhäuser aus der späten Stalinzeit, der diesen stilistisch nachempfundene Triumf Palas im Nordwesten der Stadt, Moskva Siti) bleiben. In welchem Maße mit der räumlichen Expansion auch eine auf Moskau bezogene Identitätsbildung verbunden sein wird, wird man erst in einigen Jahren sehen können. Bisher zeigte sich, dass das »Moskau-Gefühl« der Wohnbevölkerung in den früher

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industriell geprägten Stadtteilen und am Stadtrand besonders ausgeprägt war (Vendina 2012, 32f.). Die Expansion in die Fläche ruft aber auch weitere Probleme hervor. So soll der bereits überlastete Autobahnring durch eine weitere Ringautobahn, die Moskau in noch größerer Entfernung vom Zentrum umgeht, entlastet werden  ; nach dem »dritten Ring« der 1990er Jahre und dem derzeit im Ausbau befindlichen »vierten Ring« wäre dies jenseits der MKAD als fünftem Ring ein sechster Ring, der die neue Qualität des städtischen Wachstums kennzeichnet. Vom radialkonzentrischen Modell hat man sich also auch jetzt nicht verabschiedet. Wie der flächenmäßige Zugewinn durch die Stadterweiterung tatsächlich integriert wird, bleibt noch abzuwarten. Die Pläne einer Verlagerung von Regierungsstellen in das Erweiterungsgebiet sind wohl erst einmal vom Tisch. Offensichtlich bleibt Moskau seinen Traditionen treu  : Die persistenten zentripetalen Kräfte sind doch stärker als die zentrifugalen, und der Kreml’ wird auch in Zukunft das Zentrum Moskaus bleiben.

Anmerkungen   1 Eine Sammlung historischer Karten, die teilweise auch das Umland einbeziehen, legt Kusov (2008) vor.   2 Kartenbeilage zu Osteuropa 62 (6–8), 2012  ; vgl. Kudrjavcev 2012.   3 Eine eingehende Darstellung der Bedeutung des Umlandes für die Naherholung findet sich bei Preobraženskij 1986.   4 Das Wort geht etymologisch auf russ. dat’ = geben zurück und bezog sich zunächst auf das Grundstück, das für den Bau der ersten Sommerhäuser vom Zaren unentgeltlich vergeben wurde  ; später wurde das Begriff auf das Gebäude übertragen (Rumjanzewa 2009, 11ff.).   5 Die Erzählung »Das Haus mit dem Giebelzimmer« (1898) lässt Čechovs Wahrnehmung des ländlichen Lebens deutlich werden. Čechovs engen Bezug zu dača stellt Rumjanzewa (2009, 53ff.) dar.   6 Belege bei Rumjanzewa 2009, 32ff. et passim sowie die Textauszüge 131ff.   7 Vgl. die Typologie bei Nefedova 2013, 32ff.   8 In ähnlicher Weise sieht auch die russische Geographin T.G. Nefedova (2013, 43) eine enge Verbindung des Städters mit dem ländlichen Raum.   9 Vgl. z. Bsp. Moskovskij stoličnyj region, 1988  ; Lappo et al. 1988  ; Lappo u. Hönsch 2000, 135ff. 10 Zu den geschlossenen Städten vgl. Rowland, R. 1996. 11 Lappo u. Hönsch 2000, 137, nennen u. a. Einrichtungen für die Atomphysik, Biologie und Physik der Atmosphäre, ferner »Projektierungsinstitute der Luft- und Raumfahrt, der optischen Mechanik, der Elektrotechnik und Elektronik sowie der Tieftemperaturtechnik«. 12 www.bremen.ru. Den Hinweis hierauf verdanke ich Frau Katja Bruisch, Historisches Institut Moskau, die in ihrem Blog dieses Beispiel aufgegriffen hat (ww.katjaite.blog.com). 13 »Bol’šaja Moskva«, in  : Pravda 19.8.1960, 3.

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14 Süddeutsche Zeitung 30.4.2012, 8, unter Berufung auf einen Bericht in Moskovskij Komsomolec. 15 Russland-Aktuell 18.10.2012 16 Hinweise zur Geschichte von Troick als Industrie- und Wissenschaftsstadt in Goroda Podmoskov’ja, t. 3, 1981, 337ff. 17 Weitere Einzelheiten bei http://www.antoinegrumbach.com/actualite/index.asp (25.11.2012). 18 Kommersant 29.5.2013, 12.

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Moskau im architektonischen Wandel 1991–2013 Wer gegen Ende der Sowjetära das erste Mal nach Moskau fuhr, hatte die bei uns bekannten Bilder der Stadt im Kopf  : den Kreml’ mit seinen goldglänzenden Kuppeln, den Roten Platz  – aus dem Fernsehen in riesigen Dimensionen bekannt –, breite Straßen mit hohen Gebäuden und schließlich die »Zuckerbäckerhochhäuser« aus der Stalin-Zeit. Wer jedoch keck genug war, die touristischen Trampelpfade zu verlassen, entdeckte hinter den Fassaden der Hauptstadt des bröckelnden kommu- Abb. 1 Rekonstruktion der Christ-Erlöster-Kathedrale, nistischen Imperiums ein anderes Anfang 1996. Moskau  : eine durch und durch russische, provinziell anmutende Stadt – und zwar nur einen Steinwurf vom Kreml’, dem Zentrum der Macht, entfernt. Wer bloß ein paar Schritte durch einen monumentalen Torbogen ging, fand sich in einer ganz anderen Welt mit zweibis dreigeschossigen Häusern, krummen Straßen, viel Grün und einem weit verzweigten Netz an Wegen und Pfaden durch Höfe und Gärten. Welcher Kontrast  ! Damals war offensichtlich, dass Moskau seinen letzten Entwicklungsschub in den sechziger und siebziger Jahren erlebt hatte. In den Achtzigern beschränkte sich die Bautätigkeit fast ausschließlich auf den Bau von ­Plattensiedlungen, um zu Anfang der neunziger Jahre beinahe ganz zu versiegen – Sanierungen beschränkten sich auf Pinselrenovationen. Die Bautechnik war in den sechziger Jahren stehen geblieben, so dass auch Isolierverglasungen nicht existierten. Die Fenster in der Zehnmillionenstadt waren so undicht, dass es im Winter unerbittlich hereinzog und die Moskauerinnen jeden Herbst ihre Fenster mit Papierstreifen zukleben mussten. Einzig ein kleiner Lüftungs-

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Abb. 2. Smolenskaja ulica mit Außenministerium, 1990.

blieb offen – und der war auch nötig  : Die Raumtemperatur ließ sich nämlich nur über dieses Fensterchen regeln, da es an den Heizkörpern keine Regulierungsventile gab. Als Ende 1991 die Sowjetunion zerfiel und die fünfzehn Unionsrepubliken zu souveränen Staaten wurden, änderte sich für die Moskauer in Bezug auf ihre Wohnsituation und die Stadtplanung zunächst wenig. Im Radio war zwar fortan vom byvšij SSSR, der ehemaligen UdSSR, zu hören, doch richtig fassbar war die neue Situation nicht. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis sich die Konturen eines »Neuen Russland« herauskristallisieren konnten, bis die Menschen realisierten, dass jetzt Grenzen sind, wo früher keine waren. Die teilweise Liberalisierung der Preise stürzte das Land Anfang 1992 in eine schwere Versorgungskrise, nachdem die sowjetische Planwirtschaft schon nach 1989, mit dem Wegfall der europäischen Satellitenstaaten und dem schleichenden Zerfall der UdSSR, zerbrochen war. Der Handel verlagerte sich aus den Geschäften auf die Straße und in die zahlreichen Kioske, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Bald füllten sich zwar die Regale in den staatlichen Geschäften wieder, doch wuchsen die Zahlen auf den Preisschildern täglich, manchmal stündlich. In dieser Zeit lebte ein Großteil der Bevölkerung von der Hand in den Mund, während einige wenige mit der legalen, halb-legalen oder illegalen Privatisierung von Staatseigentum die Basis für einen enormen Reichtum legten.

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Abb. 3. Ulica Pokrovka, Zemljanoj gorod, Anfang der 1990er Jahre.

Auf der politischen Ebene kamen die Reformen nicht vom Fleck. Das aus der Sowjetzeit stammende Parlament torpedierte die Regierungsarbeit regelmäßig. So löste Präsident Boris Jelzin im Herbst 1993 den Obersten Sowjet auf. Dieser ließ sich das nicht gefallen, installierte eine Gegenregierung und verschanzte sich im Weißen Haus, dem damaligen Parlamentssitz. Jelzin ließ das Gebäude mit Panzern beschießen  ; der Tiefpunkt in der politischen Auseinandersetzung war erreicht. Diese »Oktoberereignisse« markierten aber auch das Ende der größten Krise. Die politische und vor allem auch wirtschaftliche Entwicklung fand zunächst fast ausschließlich in Moskau statt, wo rund 80 Prozent der Finanzströme Russlands zusammenlaufen (Reitschuster 2006, 196  ; Stadelbauer 2001, 133). Die Hauptstadt wurde zur Boomtown  – die vermeintliche wirtschaftliche Blüte basierte allerdings hauptsächlich auf dem Import und dem Weiterverkauf ausländischer Waren. Im August 1998 stürzte Moskau jäh auf den Boden der Realität  : Banken kollabierten, und die Zentralbank wertete den schlanken Rubel, dem erst wenige Monate zuvor drei Nullen gestrichen worden waren, ab. Dank steigender Energiepreise gewann die russische Wirtschaft bald wieder an Fahrt. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends entwickelte sich Moskau rasant. Täglich öffneten neue Läden und Restaurants ihre Türen. Wer heute durch die glitzernden, stark befahrenen Straßen schlendert, kann sich kaum

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vorstellen, wie leer die Stadt noch vor wenigen Jahren war. Diese Dynamik erfasste auch das Bauwesen. Noch Mitte der Neunzigerjahre konnte man an einem Tag bequem die drei, vier Neubauten in der Stadt besichtigen. Heute ist es schwierig, den Überblick auch nur über das Wichtigste zu behalten. Die Stadt ändert ihr Antlitz in einem Tempo und Ausmaß wie letztmals in den dreißiger oder in den fünfziger Jahren. An der Peripherie setzte dieselbe Entwicklung ein wie in allen Großstädten  : Entlang des Autobahnrings schießen die Verbraucherzentren aus dem Boden, und noch weiter draußen entstehen Einfamilienhaus- und Villenviertel für die »Neuen Russen«. Als Geburtsjahr Moskaus gilt 1147. 850 Jahre später wurde dieser Geburtstag mit einem Stadtfest gebührend gefeiert.1 Das Jubiläumswochenende vom 5. bis 7. September 1997 wurde von einem Rahmenprogramm mit Weltgrößen des Unterhaltungsbusiness begleitet. Nach dem großen Stadtfest kehrte zwar der Alltag schnell wieder ein. Dennoch hinterließ die 850-Jahr-Feier zahlreiche und deutliche Spuren  : Die Fassaden ganzer Straßenzüge waren aufgefrischt und die Hauptverkehrsstraßen auf weiten Strecken neu asphaltiert worden. Vor allem aber war das Stadtjubiläum für Bürgermeister Jurij Lužkov ein geeigneter Anlass, die Fertigstellung einer Reihe von Projekten zu forcieren. In den Medien fiel der Vergleich mit den Grands Projets von Präsident François Mitterrand in Paris.2 Der Volksmund bezeichnete die zahlreichen Großbaustellen oft als die »Pyramiden Lužkovs«.3 Das Gesellenstück des Bürgermeisters, der 1992 ins Amt gekommen war, war die Vollendung des Zentralen Museums des Großen Vaterländischen Krieges auf der Poklonnaja Gora, die mit Mitteln aus der Stadtkasse zum 8. Mai 1995 gelang – pünktlich zum 50. Jahrestags des Kriegsendes (Hoffmann 2002, 254). Die Bauvorhaben, die zum Stadtjubiläum fertig gestellt wurden, liegen jedoch alle in der Innenstadt. Hier sollte der sowjetische Grauschleier verschwinden und dem Gesicht einer Weltstadt weichen. Oft begannen große Operationen unspektakulär. Als im Frühjahr 1993 auf dem Manegeplatz archäologische Grabungen begannen, war man sich weit herum einig, dass dies der Anfang einer jahre- oder jahrzehntelangen Baustelle sein würde. Viele sahen den Hauptzweck der Baustelle darin, den Manegeplatz für Demonstrationen unzugänglich zu machen. Doch schließlich wurde tatsächlich der Abschluss der Grabungen gemeldet und das Projekt vorgestellt  : ein unterirdisches Einkaufszentrum mit Parkhaus. Kurz darauf fuhren Baumaschinen auf, um die Arbeiten rund um die Uhr voranzutreiben. Was zunächst niemand für möglich gehalten hatte, gelang tatsächlich  : Pünktlich zum Stadtjubiläum 1997 wurde der Handelskomplex Ochotnyj Rjad fertiggestellt.

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Abb. 4. ›Peter der Große‹ von Zurab Cereteli.

Das Ergebnis hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Die Neugestaltung des Manege- und des angrenzenden Revolutionsplatzes gab den Fußgängern mitten in der Stadt eine ehemalige Asphaltwüste zurück. Die architektonische Gestaltung (Mosproekt-2, Studio 11 unter Dmitrij Lukaev) zeigt wohl weitgehend den persönlichen Geschmack des Bürgermeisters. Das erste Untergeschoss ist im Stil des 19. Jahrhunderts gehalten, das zweite repräsentiert das 18. Jahrhundert, und die dritte und unterste Ladenebene steht für das 16. und 17. Jahrhundert. Für die künstlerische Ausgestaltung des Komplexes unter dem Manegeplatz und den Außenanlagen zog Bürgermeister Lužkov einen engen Freund, den umstrittenen Bildhauer Zurab Cereteli4 bei. Nicht ohne Grund sprachen Kritiker schon Ende der neunziger Jahre von einer »Zeretelisierung«5 Moskaus, weil an so vielen Stellen der Stadt die Werke des gebürtigen Georgiers aufgestellt wurden. Um ein anderes Werk Ceretelis, dem wohl umstrittensten Künstler der Lužkov-Zeit, entbrannte im Vorfeld der 850-Jahr-Feiern eine heftige Kontroverse  : das Denkmal für Peter den Großen in der Moskva. Es heißt, die 90 Meter hohe Skulptur aus Stahl und Bronze sollte 1992 ein Geschenk an die USA zum 500-jährigen Jubiläum der Entdeckung des Kontinents werden und zeige Kolumbus als Seefahrer. Da die Amerikaner aber dankend abgelehnt hätten, musste ein neuer Verwendungszweck für das teilweise fertige

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Monument gefunden werden. Dass es in Moskau bis dahin noch kein Denkmal für Peter den Großen gab, ist kein Wunder  : Peter hatte aus seiner Abneigung gegen Moskau nie einen Hehl gemacht, und er war es, der 1712 die Verlegung der Hauptstadt in »sein« St. Petersburg angeordnet hatte (Brooke 2006, 52f.). Heute braucht sich Moskau weder vor Peter noch vor St. Petersburg zu fürchten. Als sich 1996 die Gründung der russischen Flotte durch Peter den Großen zum 300. Mal jährte, befand der Bürgermeister, dass Moskau ein Denkmal des Zaren gut anstehen würde. Doch als das Ausmaß des Kolosses – des umgearbeiteten Kolumbus – sichtbar wurde, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Trotz Bürgerprotesten steht Peter bis heute an seinem Ort (Hoffmann 2002, 256). Ein Projekt ganz eigener Dimension war der Wiederaufbau der Christ-Erlöser-Kathedrale. 1883 war der gigantische Bau eingeweiht worden. Geplant wurde er als Wahrzeichen für den Sieg im »Vaterländischen Krieg« gegen Napoleon von 1812. Stalin ließ die Kathedrale 1931 sprengen, um an ihrer Stelle den über 300 Meter hohen Palast der Sowjets zu errichten. Doch Probleme beim Bau, der zweite Weltkrieg und schließlich Stalins Tod führten zur Aufgabe des Vorhabens. Im Fundament des Palastes ließ Chruščev 1962 ein Schwimmbad anlegen. Bereits in den achtziger Jahren wurde von verschiedenen Seiten der Wiederaufbau der Kathedrale angeregt – was damals als reine Utopie abgetan wurde. Doch 1993 schloss das Bad seine Tore und im folgenden Jahr gab Bürgermeister Lužkov grünes Licht zum Bau. Tatsächlich gelang es, die Kathedrale bis zum Stadtjubiläum 1997 zu errichten, mit einer Betonkonstruktion, die von Angehörigen der Armee erstellt wurde. Im Jahr 2000, pünktlich zum Millennium, war auch das Innere fertig. Es mag erstaunen, in welchem Umfang sich die Stadt in den neunziger Jahren veränderte, kam die Wirtschaft nach der Wende doch nur langsam auf Touren und die russische Staatskasse war weitgehend leer. Nicht so in Moskau, denn die Stadt war mittels Joint-Ventures an einer Reihe gewinnbringender Privatunternehmen beteiligt. So hielt sie lange Zeit wesentliche Anteile an McDonald’s Moskau, gründete aber gleichzeitig als Konkurrenz zum Hamburgergiganten das Russische Bistro (Russkoe bistro). Auch im Bankensektor herrschte ein enges Geflecht von gegenseitigen Abhängigkeiten mit der Stadt. Wie zur Sowjetzeit kam dem persönlichen Einvernehmen eine viel größere Bedeutung zu als personenunabhängigen Pflichtenheften. Dadurch konnte unter Umständen schneller gehandelt werden, als wenn man buchstabengetreu den – oft verworrenen – offiziellen Instanzenweg beschritten hätte. Gerade in diesem

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Abb. 5. Mosėnka Plaza (Architekt M. Fel’dman) kurz nach der Fertigstellung 1994.

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Abb. 6  : Mosėnka Plaza 1996.

geschickten Agieren dürfte einer der Gründe für den frühen Erfolg Moskaus liegen, so dass es sich die Stadt sogar leisten konnte, die mageren staatlichen Renten aus der Stadtkasse etwas zu erhöhen. Hinter den imposanten Fassaden der kommunistischen Welthauptstadt rotteten zur Sowjetzeit zahlreiche Altbauten vor sich hin. Der Unterhalt beschränkte sich aufs Minimum, da die entsprechenden Ressourcen und wohl auch das Interesse für eine Sanierung fehlten. In den Neunzigerjahren stellte die Stadt die vom Gartenring begrenzte Innenstadt unter Schutz. Das alte, oft bloß zwei- oder dreigeschossige Moskau sollte nun erhalten werden. War die Bausubstanz so marode, dass es nichts mehr zu erhalten gab, wurde die Rekonstruktion der Fassaden oder zumindest ein stilechter Neubau in potemkinscher Manier gefordert. Ein erstes Beispiel dieser von Bürgermeister Jurij Lužkov geförderten Tendenz war die Rekonstruktion zweier Bauten am Roten Platz, der Kazaner Kathedrale und der Toranlage der Iverskie Vorota, die Stalin in den dreißiger Jahren abreißen ließ. Bei Vorhaben privater Bauherren konnten die Behörden jedoch nicht einfach die Rekonstruktion der zweigeschossigen Häuser fordern, die Rechnung der Investoren wäre sonst nicht aufgegangen. In den neunziger Jahren wurde es deshalb zur gängigen Praxis, die Straßenfassade

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mehr oder weniger originalgetreu zu rekonstruieren und ein mehrgeschossiges Bürohaus aus dem Dach des Altbaus wachsen zu lassen. Das nach wie vor zentralistisch und hierarchisch strukturierte Bauamt – der Chefarchitekt hat praktisch ein Vetorecht  – ermöglicht es den Behörden, direkten Einfluss auf Projekte auszuüben. War die Stadt Moskau gar an der Bauherrschaft beteiligt, nahm die Verflechtung mitunter groteske Züge an. Für den Neubau Mosėnka Plaza am Cvetnoj bul’var, der sich sechsgeschossig über der rekonstruierten Fassade erhebt, entwarf der Architekt M. Fel’dman 1994 eine Verkleidung aus verspiegeltem Glas, die den Bau maßstabslos erscheinen ließ. Als Bürgermeister Jurij Lužkov auf einer Fahrt durch die Stadt den Neubau sah, war er entrüstet. Mosproekt lancierte einen Architektenwettbewerb zur »Verbesserung der Fassade«, und das Gebäude erhielt ein neues Kleid. In den sechziger und siebziger Jahren musste eine ganze Architektengeneration in »modernen« Formen vorfabrizierbare Massenware vor allem gegen die Wohnungsknappheit produzieren. Als dieser Druck zum Ende der achtziger Jahre nachließ, begann das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen – bei den Architekten, aber auch bei den Behörden. So verlangten letztere in den neunziger Jahren für Bauten in der Innenstadt den sogenannten »Moskauer Stil«. Was genau darunter zu verstehen war, wusste im Grunde niemand. ­Während die einen an ihren Entwürfen ausschließlich Elemente der Moskauer Architektur des 18. und 19. Jahrhunderts verwendeten, leisteten sich andere durchaus die Extravaganz von verspiegelten Treppenhäusern. Nach Möglichkeit sollte ein Turmaufsatz nicht fehlen. Die Angst, vom Westen  – nicht nur in der Architektur  – vereinnahmt zu werden, unterstützte diese Rückbesinnung auf die Vergangenheit. Kein Wunder, dass viele Entwürfe im »Moskauer Stil« frappierende Ähnlichkeiten mit den Bauten der Stalin-Ära aufweisen. Einer der prominentesten Bauten, denen das Prädikat »Moskauer Stil« zukommt, ist das Wohnhaus Patriarch von Architekt Sergej Tkačenko (2002). Der aus Kuben und Zylindern zusammengesetzte Bau enthält Wohnungen für die ganz Reichen der Stadt und wirkt mit seinem Zierrat eher wie das Werk eines Konditors als das eines Architekten. Die Spitze des zylindrischen Bauteils wird gekrönt mit einem Zitat aus Tatlins Turm der III. Internationalen, freilich ist das Gerüst hier nicht dynamisch schräg gestellt, sondern es steht senkrecht. Das Gerücht, Präsident Putin besitze in dem Haus eine Wohnung, entbehrte zwar jeder Grundlage, doch es zeigte die Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Gebäude  : bewundernd und ablehnend zugleich.

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Abb. 7. Wohnhaus Patriarch (Architekt Sergej Tkačenko).

Abb. 8. Triumf Palas (Architektur  : APB Tromos).

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Abb. 9. Wohnhaus am Prečistenskij pereulok (Architekt Il’ja Utkin).

Sergej Tkačenko war auch der verantwortliche Architekt für das Bürohaus am Paveleckaja-Platz, das auf den ersten Blick aussieht wie eine der Sieben Schwestern, wie die sieben Stalinschen Zuckerbäckerhochhäuser genannt werden  – einfach ohne Turmspitze. Eine zumindest vordergründig veritable »achte Schwester« baute der Investor Don Stroj am Čapaevskij pereulok in der Nähe der Metrostation Sokol. Mit 265 Metern ist der seiner Klientel angemessen Triumf Palas (von englisch ›Triumph Palace‹) genannte Turm das höchste Wohnhaus Europas. Doch der weit verzweigte Komplex mit 1000 Wohnungen steht weder an einer städtebaulich relevanten Stelle, noch weist er die hochstehende gestalterische Qualität der Sieben Schwestern auf. Aber auch der Triumf Palas demonstriert eine Macht  : die des Kapitals. Der Bauboom in der russischen Hauptstadt bot auch den als Papierarchitekten der früheren Jahrzehnte bekannten Architekten neue Möglichkeiten. War in den achtziger Jahren ihr Betätigungsfeld ausschließlich der Zeichentisch, konnten sie nun ihre Ideen weiterentwickeln, verfeinern – und in die Realität umsetzen. Was zunächst aussieht wie der von Lužkov portierte »Moskauer Stil«, hat mit diesem nur wenig gemein. Nicht so sehr die russische Architektur ist das Thema, als vielmehr die Auseinandersetzung und Verarbeitung der Architekturgeschichte insgesamt. So verwendete Il’ja Utkin an einem Wohnhaus am

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Abb. 10. Wohnhäuser am Moločnyj pereulok (Architekt Sergej Skuratov).

Prečistenskij pereulok Elemente des Klassizismus und des Art-Déco. Vom platten Moskauer-Stil-Patchwork manch anderer Neubauten sind diese Beispiele gestalterisch und bautechnisch weit entfernt. Wurde das Baugeschehen in Moskau nach 1991 zunächst fast ausschließlich vom »Moskauer Stil« und seinen Blüten bestimmt, ist das Spektrum später breiter geworden. Architekturbüros wie ABD, Sergej Kiselev und Partner oder das Büro Ostoženka von Aleksandr Skokan, die Ende der achtziger Jahre als kleine Kooperativen begannen, sind zu Garanten für architektonische und bautechnische Qualität geworden. Zudem rückte eine junge Architektengeneration nach, die von der Reisefreiheit ausgiebig Gebrauch machte und über das Internet mit der Welt kommunizierte. Diese Leute wussten genau, was sich auf dem internationalen Architekturparkett abspielt, und sie wollten sich nicht durch ein Stildiktat einschränken lassen. Allmählich drangen die jungen Architekten und die aufstrebenden Büros mit ihren Werken auch ins Stadtgebiet innerhalb des Gartenrings ein. Ein erstes solches Zeichen setzte bereits 1994 der Neubau der Internationalen Moskauer Bank an der Kropotkinskaja naberežnaja. Das Gebäude ist ein Gemeinschaftswerk von Aleksandr Skokans Büros Ostoženka und des Finnen Juhani Pallasmaa, und es war, wie man hörte, in den Augen von Bürgermeister Lužkov

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einer der Schandflecke Moskaus. Doch zur Überraschung aller erhielt der Bau 1996 den russischen Staatspreis für Architektur. Skokan war auch maßgeblich am Aufschwung des Ostoženka-Viertels beteiligt, das seinem Büro den Namen gab. Bereits ab Ende der achtziger Jahre, als die Bauwirtschaft am Boden lag, befasste er sich mit der Zukunft des Viertels. Um die Jahrtausendwende entdeckten die Projektentwickler für ihre gut betuchte Klientel die Qualitäten des äußerst zentral, aber dennoch ruhig gelegenen Viertels zwischen der Erlöserkathedrale und dem Gartenring. Der Moločnyj pereulok wurde zu einem Brennpunkt der zeitgenössischen russischen Architektur. Sergej Skuratov projektierte ein Ensemble aus insgesamt fünf Wohnhäusern. Der eine Teil der Überbauung besteht aus mit grünem Kupfer verkleideten Bauten über einem Jurakalk-Sockel, der andere Teil ist in braunen Ziegelstein gehüllt. Zwischen den beiden Teilen verläuft eine öffentliche Gasse – was angesichts der auf Sicherheit und Abgrenzung bedachten reichen Bewohner erstaunlich ist. Im Frühjahr 1993 tauchten an den damals noch spärlichen Plakatwänden der Stadt Affichen auf, die dafür warben, Aktien für die Moskva-Siti – auch dies ein englischer Ausdruck  : Moskva City  – zu zeichnen. Die Skizze einer Handvoll Hochhäuser und der Erläuterungstext erklärten, worum es ging  : Im Westen des Stadtzentrums sollte ein neues Geschäftsviertel für Moskau entstehen. Wie in Paris das Hochhausviertel La Défense oder in London die Docklands, sollte in Moskau die neue »City« den Hunger nach Büroflächen stillen – ein Hunger, der sich Anfang der neunziger Jahre freilich erst am Horizont abzeichnete (Stadelbauer 2001, 133, 135ff.). Die Wirtschaft lag am Boden, die Inflation war auf dem Höchststand und die politische Lage war instabil. Doch die Promotoren meinten es ernst  : Am 1. Dezember 1995 legte der damalige Premierminister Viktor Černomyrdin den Grundstein für die Überbauung, und bis zum 850-Jahre-Jubiläum Moskaus entstand der zweigeschossige Most Bagration, eine Fußgängerbrücke mit Ladenstraße vom Kutuzovskij prospekt über die Moskva. Das Moskovskij meždunarodnyj delovoj centr (MMDZ) »Moskva-Siti« (Internationales Moskauer Geschäftszentrum »Moskau-City«), wie das Projekt mit vollem Namen heißt, umfasst eine Fläche von 90 Hektar. Das Ausstellungsgelände Ėkspocentr, das in den siebziger Jahren entstand, zeichnete zusammen mit dem benachbarten Internationalen Handelszentrum eine Richtung der Stadtentwicklung vor, die mit der Siti ihre Fortsetzung in Richtung Westen findet. Im Endausbau sollte eine Geschossfläche von 2,5 bis 3 Millionen Quadratmetern entstehen, davon allein 2 Millionen Quadratmeter für 150.000 Büroarbeitsplätze.

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Abb. 11. Moskva-Siti, 2013.

Das erste Objekt auf dem eigentlichen Siti-Gelände war die Bašnja na Naberežnoj (Turm am Ufer), geplant von einer Architektengruppe unter Aleksandr Kuz’min und Sergej Tkačenko. Die Überbauung besteht aus drei unterschiedlich hohen Türmen mit 17, 27 und 58 Geschossen (243 Meter) auf einer kreisrunden Basis. Baubeginn war 2004, drei Jahre später konnte die letzte Etappe bezogen werden. Parallel dazu entstand die Überbauung Severnaja Bašnja (nördlicher Turm) nach Plänen des Projektinstituts Nr. 2. Ebenfalls zu den Pionieren der Moskva-Siti gehört auf Grundstück 13 das Geschäftshaus Federacija mit zwei im Grundriss dreieckigen Türmen von 240 und 350 Metern, die einen 430 Meter hohen Mast flankieren. Der Investor des höchsten Gebäudes des MMDC, des Turms Rossija, sollte die ST Group von Šalva Čigirinskij sein. Dass beide Objekte den Namen Russland führten, ist ein Zufall – aber nachvollziehbar  : Schon zu Sowjetzeiten erhielten nur Produkte der Superlative die Bezeichnung »Rossija«, woran sich bis heute nicht viel geändert hat. In den sechziger Jahren war das Rossija das größte Hotel der Welt, im neuen Jahrtausend sollte der Turm Rossija das höchste Gebäude der Welt werden. Architekt des pyramidenförmigen, im Grundriss dreieckigen Baus war Norman Foster, unterstützt von Mosproekt-2. Mehrmals wurde das Projekt angepasst, die Höhe des Turms reduziert. Während der

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Abb. 12. Armeekaufhaus Voentorg, um 1993 (Architekt Sergej Zalesskij).

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Finanzkrise nach 2008, die auch das Moskauer Bauwesen erfasste, wurde der Baubeginn herausgeschoben, schließlich wurde das Projekt aufgegeben. Die Moskauer beklagen oft, dass die Kommunisten das alte Moskau zerstört haben. In der Tat fielen nach 1917 und vor allem auch während der Chruščev-Zeit unzählige Kirchen dem Abbruchhammer zum Opfer oder wurden ihrer Kuppeln beraubt, alte Straßenzüge wurden auf das Mehrfache verbreitert und mit monumentalen Fassaden versehen. Es war aber eine Eigenart des staatlich gesteuerten Bauwesens, dass sich die Eingriffe in die bestehende Struktur auf ausgewählte Punkte und Achsen konzentrierten. Im Schatten der sozialistischen Fassaden hat das alte Moskau die Jahrzehnte unbeschadet überstanden. Die wirtschaftliche Erholung und der damit verbundene Bauboom in der russischen Hauptstadt hätten die idealen Voraussetzungen für eine umfassende Sanierung des alten Baubestandes bilden können. Viele dieser unscheinbaren Bauten erstrahlen nach einer Renovation denn auch in ihrem alten Glanz. Der Nachholbedarf an zeitgemäßen Geschäftsräumen ist jedoch so groß, dass die Liegenschaftspreise im Stadtzentrum ins Astronomische stiegen. Diesem massiven Druck kann die alte Bausubstanz Moskaus nicht widerstehen. Unzählige Häuser sind schon abgerissen worden. Zwar gibt es einen Denk-

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Abb. 13. Neubau Voentorg, 2010 (Architekt Vladimir Kolosnicyn, Mosproekt 2).

malschutz, auf dessen Liste zahlreiche Objekte figurieren. Doch die Denkmalpflege ist zu schwach, als dass sie dem Abbruchfieber wirksam Einhalt gebieten könnte. Mit Blick auf die russische Bürokratie, die ebenso stark auf persönlichen Beziehungen beruht wie auf den Paragraphen des Gesetzes, erstaunt das nicht. Zudem ist die Stadt direkt oder indirekt an zahlreichen Unternehmen beteiligt. In der vom Ökonomen und Politiker Boris Fëdorov bezahlten und herausgegebenen »Chronik der Vernichtung des alten ­Moskau  : 1990–2006« (Chronika uničtoženija staroj Moskvy. 1990–2006) werden die Bauten aufgelistet, die seit 1990 zerstört wurden. 650 Objekte sind darin verzeichnet. Moskau wächst und verändert sich, und es liegt auf der Hand, dass sich die alte Stadt nicht einfach konservieren lässt. Tragisch ist jedoch, wie leichtfertig mit der historischen Substanz umgegangen wurde und wird. Es gibt zweifellos Objekte, an denen es kaum mehr etwas zu retten gibt und der Abriss gerechtfertigt ist. Aber zu oft werden die Altbauten als reine Baumasse gesehen, an der beliebig moduliert werden darf. So ließ die Stadt den Gästehof in Kitaj-gorod, einen imposanten Bau für Handelsreisende von 1830, zu einer Ausstellungshalle umbauen. Die historischen Teile hat man sorgfältig restauriert und den Innenhof mit einem riesigen Glasdach überspannt. Für das Dach errichtete man aber nicht etwa eine eigenständige Tragstruktur, sondern legte es auf die

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Fassaden des Innenhofs, wobei ein großer Teil des historischen Gemäuers ersetzt, angepasst und ergänzt werden musste. Beliebt war auch die Formel von Abriss und anschließendem »verbessertem« Neubau. Diese kam beim ehemaligen Armeekaufhaus Voentorg zur Anwendung. Das Gebäude entstand 1911–13 nach Plänen von Sergej Zalesskij als Kaufhaus der Gardeoffiziersgesellschaft und war bis zum Zerfall der Sowjetunion der Ort, an dem die Armeeangehörigen Uniformen und anderes Militärmaterial kaufen konnten. Die vertikal strukturierte Fassade war typisch für die Übergangszeit zwischen Historismus und Moderne, und im Innern überdauerte bis zuletzt der originale Lichthof. Vorübergehend war das Gebäude auf einer Denkmalliste verzeichnet, was die Behörden nicht daran hinderte, das Haus zum Abbruch freizugeben. Die Proteste dagegen waren heftig wie nie zuvor, selbst der damalige russische Kulturminister soll Bürgermeister Lužkov angerufen haben und den Abbruch als »Akt staatlichen Vandalismus‹« bezeichnet haben.6 Geholfen hat es nicht  : 2003 fuhren die Abbruchmaschinen auf. Der im 2007 fertiggestellte Neubau zählt acht oberirdische und fünf unterirdische Geschosse, und seine Fassaden sind eine wenig überzeugende Mischung aus dem alten Voentorg-Gebäude und den in den letzten Jahren weit verbreiteten neo-neoklassizistischen Zutaten  : »Eine schreiende Geschmacklosigkeit und provinzielle Ekelhaftigkeit«, wie David Sarkisjan, der damalige Direktor des gegenüberliegenden Architekturmuseums, in einer Zeitung meinte.7 Nach dem gleichen Muster verlief das Schicksal des Hotels Moskva, das am Manegeplatz 1935 die neue Zeit der Sowjetarchitektur eingeläutet hatte. In regelmäßigen Abständen war in der Presse von internationalen Hotelketten zu lesen, die das Moskva übernehmen und sanieren wollten. Dann hieß es plötzlich, das Haus sei zu baufällig, um überhaupt saniert werden zu können  ; der einzige Weg sei der Abriss mit anschließendem Neubau. Dabei werde das Äußere selbstverständlich nach den alten Vorlagen rekonstruiert, ja sogar verbessert – ein Satz, der Schlimmes befürchten ließ. Auch hier nützten die Proteste gegen den Abbruch des Architekturdenkmals nichts  : 2004 begann der Abriss. Die einzige Konzession an die Denkmalpfleger war, dass man die Fassaden des ältesten Teils gegen den Manegeplatz und den Ochotnyj Rjad exakt rekonstruieren und im Innern einige Räume wieder einbauen sollte. Das rekonstruierte Gebäude sieht auf den ersten Blick tatsächlich aus wie das abgerissene Moskva – aber eben nur auf den ersten Blick. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die Fenster etwas größer geschnitten sind – wohl gemäß dem Grundsatz des »verbesserten Neubaus« –  ; anstelle des einstigen Innenhofs wurde eine düstere Shopping-Mall angelegt.

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Den spektakulärsten Abriss erlebte Moskau jenseits des Roten Platzes  : den Abbruch des Hotels Rossija (Brooke 2006, 46). Seit langem war der Riesenbau dem Bürgermeister ein Dorn im Auge gewesen, und auch viele Moskauer weinen dem einst größten Hotel der Welt keine Träne nach. Dabei ließ allein die Größe des Gebäudes, dessen Lage vorzüglich war, die Gäste staunen, und auch der Standard wurde durch die schrittweise Renovation angehoben. Ende 2005 schloss das Haus seine Türen trotzdem für immer. Die Bauarbeiter begannen den Plattenbau zu demontieren. An Stelle des Rossija sollte ein neues Stadtviertel entstehen, das an das längst verschwundene Zarjad’e-Viertel erinnern soll. Für 830 Millionen Dollar erhielt der Immobilien- und Energie­mogul Šalva Čigirinskij Ende 2004 den Zuschlag für das 13 Hektar große Grundstück. Mitbewerber rekurrierten gegen diesen Handel, weil das Areal mindestens 1,2 Milliarden Dollar Wert gewesen sei. Das Schiedsgericht folgte dieser Argumentation und annullierte die Vergabe. Derweil gingen die Abbrucharbeiten weiter, und Norman Foster, der den Auftrag für einen Teil des Areals erhalten hatte, präsentierte seine Entwürfe vor der städtischen Baukommission. Schließlich annullierte ein Gericht den Landhandel, das Grundstück fiel zurück an die Stadt. Die zuvor hervorragenden Beziehungen Čigirinskijs zur Elena Baturina, Bauunternehmerin und Ehefrau von Bürgermeister Lužkov, waren ruiniert. Ende September 2010 veröffentlichte der Kreml’ den Erlass des Präsidenten Dmitrij Medvedev »Über die vorzeitige Beendigung des Mandats des Bürgermeisters von Moskau«. Die Begründung hätte schärfer nicht formuliert sein können  : »Wegen des Verlusts des Vertrauens.«8 Lužkov hatte sein Amt 1992 von Gavriil Popov, dem ersten demokratisch gewählten Stadtpräsidenten seit der Oktoberrevolution, übernommen. 18 Jahre lang hatte er die Geschicke der Hauptstadt bestimmt, doch in den letzten Monaten hatten sich die Gerüchte um die baldige Ablösung verdichtet. Kritisiert wurde sein oft selbstherrliches Gebaren, aber auch immer mehr seine Projekte – nicht zuletzt die Moskva-Siti. Zum Nachfolger Lužkovs bestimmte Medwedew den Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Sobjanin. Die Moskauerinnen und Moskauer wussten nicht, was sie von ihm erwarten konnten – außer der Annahme, dass bald eine Reihe von Köpfen in der Stadtverwaltung rollen würde, was dann auch tatsächlich geschah. Der verbalen Kritik Sobjanins an der Amtsführung seines Vorgängers insbesondere in architektonisch-städtebaulichen Fragen folgten bald erste Zeichen des Handelns – etwa beim Haus Kol’be an der Bol’šaja Jakimanka-Straße in Moskau  : Als das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert zu zwei Dritteln abgebrochen war, zog der neue Bürgermeister im Mai 2011 die Notbremse. Er ließ die

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Arbeiten stoppen, und die Stadt erklärte sämtliche Abbruchbewilligungen in Moskaus historischem Zentrum für ungültig. 
Die Investorin Capital Group beteuerte, dass sie alle notwendigen Bewilligungen eingeholt habe, und außerdem sei das Gebäude einsturzgefährdet gewesen. Die Denkmalschutzbehörde betonte jedoch, dass der Abbruch 2005 verweigert worden war. »Angebliche Briefe einzelner ehemaliger Mitarbeiter von Moskomnasledie haben keine Rechtskraft«, schrieb die Behörde in einem Communiqué.9 Einen Quantensprung machte die Stadt Moskau am 1. Juli 2012  : Über Nacht wuchs die Fläche der Stadt auf über das Doppelte an. Mit der Eingemein­ dung von zwei Verwaltungsbezirken – initiiert vom früheren Präsidenten Medvedev – will man das Verkehrsproblem in der Innenstadt lösen. Auf dem neuen Stadtgebiet sollten unter anderem staatliche Verwaltungsabteilungen, die zurzeit in der Innenstadt residieren, angesiedelt werden. In der Innenstadt ließe sich damit der Verkehr vielleicht reduzieren – die enorme Verkehrswelle aus der Stadt, die dadurch ausgelöst würde, war jedoch kein Thema. Autobahnen und Bahnzubringer sollten es richten.10 Zehn internationale Architekten- und Planerteams skizzierten die Entwicklung des erweiterten Stadtgebiets und auch ein Konzept für ein neues Regierungszentrum. Die Vorschläge, die im Oktober 2012 der Öffentlichkeit präsentiert wurden, waren schnell Makulatur  : Bereits als Premierminister war Vladimir Putin von der Idee Dmitrij Medvedevs wenig begeistert  – von den Beamten, die natürlich keineswegs an die Peripherie ausgesiedelt werden wollten, ganz zu schweigen. Der neue alte Präsident Putin setzte zumindest dem Spuk des ausgelagerten Verwaltungszentrums offenbar ein schnelles Ende. Die Idee zur Verlegung sei spontan entstanden und zu wenig durchdacht gewesen, hieß es. Das Vorhaben sei zu teuer und am Ende ohne Effekt, denn die leeren Regierungsbüros würden einfach von Firmen belegt, die noch mehr Verkehr generierten. Die Präsidialverwaltung schlug deshalb vor, das neue Regierungsviertel nicht außerhalb des Autobahnrings im erweiterten Moskau zu bauen, sondern in der Nähe des Kreml’  : auf dem Grundstück des einstigen Hotels Rossija. Ein solches war hier bereits in den vierziger Jahren geplant gewesen, und man hatte auch schon mit dem Bau begonnen. Doch nach Stalins Tod wurden die Bauarbeiten eingestellt und auf den Fundamenten des Verwaltungshochhauses das Hotel errichtet. Doch auch diese Idee war schnell Makulatur. In einer Unterhaltung mit dem Stadtpräsidenten Sergei Sobjanin soll Staatspräsident Putin 2012 gefunden haben, dass es eigentlich ganz schön wäre, auf dem Areal des

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Abb. 14. Abbrucharbeiten am Haus Kol’be, 2011.

Hotels einen Park anzulegen. Des einen Wunsch schien dem anderen Befehl zu sein. Jedenfalls lancierte die Stadt die Idee, hier einen Park »für alle Moskauerinnen und Moskauer« anzulegen und lediglich einen Konzertsaal zu bauen.11 Städtebauliche oder stadtgeschichtliche Argumente – das Areal gehört zu den am längsten besiedelten der Stadt  – spielten bei diesem Entscheid offenbar keine Rolle. Auch hier zählte in erster Linie das Argument, dass neue Bauten nur neuen Verkehr anziehen würden. Dieses Beispiel illustriert, wie stark heute die Stadtentwicklung wieder von der staatlichen Planung abhängt. »Form follows power«  – auf diese Formel brachte der Moskauer Architekt, Architekturkritiker und Architekturprofessor Evgenij Ass vor über zwanzig Jahren das Bauwesen in einem totalitären Regime. Wie demokratisch der russische Staat heute ist und welchen Weg er gehen wird, ist umstritten. Die Formel »Form follows power« hat ihre Gültigkeit jedoch nicht verloren.

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Anmerkungen   1 Siehe auch der Beitrag von Frithjof Benjamin Schenk in diesem Band.   2 Vgl. z. B. Goldhoorn 1997, 25, oder Michael Thumann, »Mit Säge, Beil und Spaten«, Die Zeit 8/1997.   3 Vgl. z. B. »Personalien«, Die Zeit 11/1997, oder Sarah Carton de Grammont, »Un objet de pouvoir à Moscou«, EspaceTemps.net, http://www.espacestemps.net/en/articles/un-objet-depouvoir-a-moscou-en/ (2.7.2014).   4 Ausführlicher zu Zurab Cereteli siehe Hoffman 2002, 255f.   5 Vgl. z. B. »Personalien«, Die Zeit 11/1997, oder Carton de Grammont.   6 Vgl. http://www.vesti.ru/doc.html?id=32588&tid=17165 (2.7.2014).   7 Vgl. http://izvestia.ru/news/320767 (2.7.2014).  8 http://kremlin.ru/news/9052 (2.7.2014).   9 Siehe http://dkn.mos.ru/about/news/detail/713760.html (2.7.2014). 10 Siehe dazu auch den Artikel von Jörg Stadelbauer in diesem Band. 11 Vgl. http://www.aktuell.ru/russland/news/moskau_kein_parlamentszentrum_statt_hotel_rossija_ 31328.html (7.7.2014).

Sabine Hänsgen

Der Moskauer Konzeptualismus Eine künstlerische Topologie

Anfang der 1970er Jahre bildete sich der Moskauer Konzeptualismus als künstlerische und philosophische Strömung in der alternativen sowjetischen Kulturszene heraus. Jenseits des staatlichen Kulturbetriebs und jenseits einer strikten Zensur wurden vor allem in Wohnungen, Ateliers Abb. 1. Erik Bulatov, »Ich lebe – ich sehe« (1999). und im Naturraum um die Metropole Moskau andere Formen der ästhetischen Selbstrepräsentation entwickelt. Die Schriftsteller und Künstler des Moskauer Konzeptualismus zeigten dabei ein besonderes semiotisches Interesse an dem ideologischen Milieu, in dem sie lebten, an den Symbolen, Mythen und Ritualen der sowjetischen Massenkultur. Eine solche Haltung bedeutete eine prinzipielle Umorientierung innerhalb der vorwiegend moralisch, politisch, psychologisch oder religiös-philosophisch argumentierenden dissidentischen Intelligenz in der Sowjetunion  : Die Zeichensysteme, die das Funktionieren einer Kultur gewährleisten, ihre Sprachen, Texte und Bilder rückten in das Zentrum der Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang richteten die Konzeptualisten ihren Blick nicht nur auf die Sphäre der offiziellen politischen Artikulationen (Losungen, Plakate, Massenaufmärsche etc.), sondern auf das gesamte Spektrum der Massenkultur – insbesondere auch auf das Design des Lebensalltags in kommunalen Einrichtungen und Wohnungen. Diese künstlerische semiotische Forschung soll im Folgenden als Beitrag zu einer Stadtsemiologie (vgl. Roland Barthes 1985/1988) der Metropole Moskau betrachtet werden. Die Grundlagen für eine stadtsemiologische Forschung wurden in der Sowjet­union durch die wissenschaftliche Disziplin der Kultursemiotik geschaffen. In der Moskau-Tartuer Schule, die mit Namen wie Jurij Lotman, Boris

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Uspenskij und Vladimir Toporov verbunden ist, war die Gegenüberstellung der Metropolen Moskau und St. Petersburg von entscheidender Bedeutung. Ausgehend von dieser Gegenüberstellung konzentrierte sich die akademische kultursemiotische Forschung auf den Petersburger Text, der vor allem auf der Grundlage literarischer Beispiele aus dem 19. Jahrhundert (Puškin, Gogol’, Dostoevkij etc.) analysiert wurde.1 Diese Parteinahme für die Stadt auf dem nördlichen Außenposten Russlands, die als Brücke zum Westen angesehen wurde, hatte offensichtlich auch eine politische Motivation  : Es ging den Kultursemiotikern sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht um eine Distanzierung von der sowjetischen ideologischen Kultur. Das führte bei Vladimir Toporov sogar so weit, dass er Moskau aus dem Diskurs der literarischen Stadttexte ausschloss, da er Merkmale der textuellen Geordnetheit – eine feste Semantik, Topik und Syntax – lediglich im Petersburger Text erkennen konnte.2 Im Gegensatz dazu wandten sich die künstlerischen Semiologen des Moskauer Konzeptualismus ganz dezidiert der eigenen kulturellen Gegenwart zu. Sie widmeten sich der Erforschung der Metropole Moskau, der sozialistischen Hauptstadt als einem aus Bild und Schrift sich wie ein architektonisches Ensemble zusammensetzenden Textgebäude.3 Sie interessierten sich dafür, welche Auswirkungen auf das wahrnehmende Bewusstsein mit den sowjetischen massenkulturellen Repräsentationen verbunden waren. Besonders in der Metropole Moskau, im politisch-ideologischen Zentrum des sowjetischen Reiches wurde dabei der machtvolle Charakter eines über die alltägliche Lebenswirklichkeit gestülpten Zeichengebäudes sichtbar. Was die Haltung der Schriftsteller und Künstler betrifft, die sich mit diesem Zeichengebäude auseinandersetzten, so bezogen sich die Moskauer Konzeptualisten selbst in ihre Kulturforschung mit ein  : Sie verstanden sich als Bestandteil der von ihnen beschriebenen und analysierten Kultur. Ihr Vorgehen kann als Methode der »teilnehmenden Beobachtung«, als »Semiotik von innen« beschrieben werden. Die konzeptualistischen Künstler spielten gegenüber dem sie umgebenden Milieu ein Doppelspiel zwischen einer elitären Abgrenzung und der ironischen Unterwerfung einer künstlerischen Randkultur unter den Absolutheitsanspruch des kulturellen Zentrums. Zunehmend behandelte die konzeptualistische Forschung auch komplexe gesellschaftliche und soziale Mikrokosmen der Stadt, wie etwa die Kommunalwohnung, das Wohnviertel oder den Stadtrand. Indem man die verschiedenen Bereiche miteinander in Beziehung setzte, wurde in der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie eine künstlerische Topologie4 der Kultur entwickelt.

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Der Barackenvorort Lianozovo als Keimzelle der Moskauer alternativen Kulturszene

Die Erschließung anderer kultureller Entfaltungsräume an der Peripherie der Metropole Moskau lässt sich bis in die Zeit des Tauwetters unter Nikita Chruščev zurückverfolgen, als man in der sowjetischen Kultur nach den Tabuisierungen der Stalinzeit wieder Anschluss an die Traditionen der Moderne und Avantgarde sowie an die Strömungen der zeitgenössischen westlichen Kunst suchte. Nach den Enthüllungen über die stalinistischen Verbrechen auf dem 20. Parteitag der KPdSU (1956) entwickelte sich ein kulturpolitisches Tauwetter  : Das Moskauer Weltjugendfestival von 1957 etwa ermöglichte vielen der damals jungen Künstler einen ersten direkten Kontakt mit der westlichen Gegenwartskunst, und die vor großen Auditorien auftretenden jungen Dichter und Liedermacher wie Evgenij Evtušenko, Andrej Voznesenskij und Bulat Okudžava feierten erste bahnbrechende Erfolge einer liberalen Literatur. Bald darauf setzten jedoch wieder Restriktionen ein  : Es kam zu Ausstellungsverboten (»Manege«-Skandal 1962) und zu Prozessen gegen Schriftsteller (Iosif Brodskij 1964  ; Andrej Sinjavskij, Julij Daniel’ 1966). Diese Ereignisse führten zu einer Aufspaltung des kulturellen Lebens in zwei einander entgegenstehende Blöcke  : eine offizielle und eine inoffizielle Kultur. Die sich als inoffiziell verstehenden Dichter und Künstler vollzogen den bewussten Bruch mit dem sowjetischen Kultur-Establishment, sie lehnten die zum offiziellen Dogma erhobene Methode des sozialistischen Realismus ab und nahmen ästhetische Positionen ein, die vom offiziellen Standpunkt aus als »formalistisch«, »abstrakt«, »dekadent« und »von bourgeoiser Ideologie durchtränkt« verunglimpft wurden. Eine der Keimzellen der inoffiziellen Kultur Moskaus war der Dichter- und Künstlerkreis von Lianozovo. Lianozovo – so hieß die Haltestelle des Vorortzugs, in deren Nähe Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre der Künstler Oskar Rabin lebte. Gemeinsam mit seiner Frau Valentina Kropivnickaja und seinem Sohn bewohnte er ein Zimmer in einer Baracke, in einer jener einfachen Holzbauten, die damals den Anblick der Moskauer Vororte prägten. Hier in Lianozovo, in dieser Barackensiedlung am Rande Moskaus, wurden in der intimen Öffentlichkeit eines familiären Kreises im Medienverbund von bildender Kunst und Poesie Ansätze einer grenzüberschreitenden Ästhetik entwickelt, die für die folgenden Generationen der alternativen Moskauer Kultur wegweisend waren. Jeden Sonntag war in Oskar Rabins Baracke ›Tag der offenen Tür‹. In Form von Wohnungsausstellungen wurden Bilder gezeigt und im Rahmen

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Abb. 2. Evgenij Kropivnickij, ohne Titel (1958).

häuslicher Lesungen Gedichte vorgetragen. Hier, am Rande der Metropole, entwickelten sich Formen der gegenkulturellen Öffentlichkeit, die bis zum Ende der Brežnev-Ära ihre Bedeutung behalten sollten. In Rabins Baracke trafen sich zunächst dessen Familie und engste Freunde. Als Lehrerfigur gab sein Schwiegervater Evgenij Kropivnickij dem Kreis erste Impulse. Er war ein Vertreter der alten, vorrevolutionären Intelligenz und stellte für die Jüngeren eine lebendige Brücke zu den Kunstströmungen der klassischen Moderne dar. Um sich eine eigene künstlerische Existenz am Rande der Metropole aufzubauen, bedurfte es sozialer Infrastrukturen. In dieser Situation wurden so gewöhnliche Erscheinungen wie das Treffen im Freundeskreis oder die Ausstellung und Lesung im privaten Rahmen als Ausdruck einer Suche nach alternativen Kommunikationsformen wahrgenommen. Es ging dabei weniger um die Ausarbeitung verbindlicher, eine bestimmte Richtung charakterisierender ästhetischer Programmatiken als vielmehr um die Schaffung eines Raums, in dem sich ein Gefühl der Befreiung nach dem Koma der Stalinzeit in der Begegnung unterschiedlichster Vorstellungen und Temperamente artikulieren konnte  :

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Abb. 3. Oskar Rabins Zimmer in Lianozovo. Abb. 4. Igor’ Cholin in Lianozovo.

Die Freiheit der Wahl auf dem kleinsten Stückchen Raum – das ist schon Freiheit. So wie eine lebendige Zelle schon ein Organismus ist. Es ist eine neue Qualität. Die sechziger Jahre  … Und so eine Urzelle eben dieser Freiheit war Lianozovo  : ein Privatraum mit einem für das Jahr 1958 beispiellosen Status einer allgemein zugänglichen Gemäldegalerie. Ein Zimmerchen in einer Baracke, zu dessen freiem Besuch ganz offen eingeladen wurde. Eine frei zugängliche Zone, wie man heute sagen würde. Ein Besuchsraum. Wenn Sie wollen – kommen Sie  ! (Nekrasov 1996, 356–57)

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Lianozovo war einer der Räume, in dem sich vom offiziellen Kanon des sozialistischen Realismus abweichende ästhetische Positionen entwickeln konnten. Es wurden die bislang ausgegrenzten Themen der Lager- und Kriegserfahrung, des tristen Lebensalltags der Vorstadt behandelt. Die künstlerischen Mittel als solche, die Visualität des Bildes und die Sprachlichkeit der Sprache wurden wiederentdeckt. Lianozovo war sowohl eine künstlerische als auch eine literarische Keimzelle. Die Dichter von Lianozovo entdeckten die alltägliche Redewirklichkeit und begründeten eine poetische Tradition des gesprochenen Wortes. Barackenpoesie wurde zum Begriff für die Dichtung aus Lianozovo, die in ihrer gesamten Einstellung eine Konfrontation mit dem barocken Glanz der stalinistischen Paradeästhetik anstrebte. In seinem frühen Zyklus »Die Bewohner der Baracke« (Žiteli baraka, ca. 1956–1965) schildert Igor’ Cholin mit einer lakonischen, beinahe stenografischen Diktion das Alltagsleben der Wohnsiedlungen, eine von Aggressivität, Alltagskriminalität und Armut geprägte Atmosphäre. Es waren merkwürdigerweise gerade Gedichte, die zum hervorragenden Medium dieser ganz und gar unpoetischen Welt des Moskauer Vorortes wurden  : Дамба. Клумба. Облезлая липа. Дом барачного типа. Коридор. 18 квартир. На стене лозунг: МИРУ – МИР! Во дворе Иванов Морит клопов, Он бухгалтер Гознака. У Романовых пьянка. У Барановых драка. Ein Damm. Ein Beet. Eine Linde ohne Blätter. / Ein Haus aus Brettern. / Ein Flur. 18 Türen. / Auf der Wand eine Losung: »Für den Frieden marschieren  !« / Auf dem Hof ist Ivanov / Der Buchhalter von Goznak / Auf Wanzenjagd. / Bei Romanovs ist Krach. / Bei Baranovs ist Krieg (Hirt/Wonders [Hg.] 1992, 82–83).

Igor’ Cholin kann, vergleichbar mit der Rolle Oskar Rabins in der Malerei der Gruppe, als Chronist der Welt von Lianozovo gelten. Rabins Bilder konfrontieren den Betrachter mit den Realia der sowjetischen Gesellschaft. Den optimistischen Losungswelten stellt er mit dem Bild des »Müllhaufens« den tabuisierten Bereich des niedrigen, schmutzigen Alltags entgegen. Er zeigt bau-

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Abb. 5. Oskar Rabin  : »Müllhaufen« (1958).

fällige, windschiefe Baracken, und seine Stillleben sind um Wodka- oder Weinflaschen arrangiert. In seinem Werk konzentrieren sich die düsteren Themen, schwarze Konturlinien sind ein markantes grafisches Element seiner Malerei. Rabins Bilder erschöpfen sich jedoch nicht in einer sozialkritischen Intention  ; seine menschenleeren und von einem geheimnisvollen Licht durchstrahlten Landschaften sind Ausdruck einer halluzinatorisch-somnambulen Sicht, einer latenten visionären Energie.

Dmitrij Prigov – Literarische Mythologisierungen der Stadt Moskau

Dmitrij Prigov gehört zu der nächsten Generation einer literarischen und künstlerischen Gegenöffentlichkeit, die sich in Moskau jenseits des staatlichen Kulturbetriebs formierte und eigene ästhetische Existenzformen herausbildete. Als selbsternannter »Dichter des gesunden Menschenverstandes« machte Prigov in den 1970er Jahren seine Wohnung in Beljaevo, einer am äußersten Rand

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Moskaus neu erbauten Schlafstadt, zur Kontaktbasis zwischen dem Dichter und »seinem Volk«. Die niedrige und schmutzige Alltagsrede und die poetischen Stiltraditionen verschiedener Jahrhunderte, die ideologischen Jargons der totalitären und nachtotalitären Epoche, religiöse und philosophische Diskurse aus Asien und Europa wurden hier zu flüchtigen Gemischen verdichtet, und der Autor wurde zum schillernden Medium für all diese Stimmen und Stile. Bei einer Wohnungslesung vor der Videokamera beschreibt Dmitrij Prigov in der Aneignung sowjetischer Lobrede geradezu hymnisch seinen Stadtteil Beljaevo, diese aus gleichförmigen Hochhausblöcken bestehende Plattenbausiedlung. Sein Kommentar ist dabei durch eine ironische Verkehrung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie gekennzeichnet  : Im Sommer ist es hier schön, alles blüht und grünt, man kann sich an der frischen Luft erholen. Meine Gedichte sind von diesem Stadtteil beeinflusst, praktisch sind 90% meiner Gedichte angehaucht von meinem Leben hier in Beljaevo, von den Spaziergängen in der herrlichen Umgebung, von den Gesprächen mit den Menschen. In Beljaevo kommen einem so gute und hohe Gedanken. Darum kann ich nie lange von Moskau fort sein, und wenn ich dann wieder nach Moskau komme, zieht es mich unwiderstehlich nach Beljaevo. Wir befinden uns jetzt im Zentrum Beljaevos. Dieses Haus ist die Hauptstadt Beljaevos. Man kennt mich in Beljaevo. Die Leute winken mir zu, wenn ich am Fenster sitze, Demonstrationen bleiben vor meinem Fenster für gewöhnlich kurz stehen. Es ist eine gegenseitige Liebe. Ich liebe die Menschen von Beljaevo.« (zitiert nach Hirt/ Wonders 1987)

In seinem bekannten Textzyklus »Apotheose des Milizionärs« (Apofeoz Milicanera) schlüpft der Autor des literarischen Underground in die Rolle eines staatlichen Ordnungshüters. Der Dichter-Milizionär, diese doppeldeutig inszenierte Kultfigur, wird in der provozierenden poetischen Selbstverkörperung zum Zentrum, zur allgegenwärtigen, immer wiederkehrenden überindividuellen Instanz inmitten einer Welt von mythischen Dimensionen. Diese Welt ist ewig und universal, und sie hat einen unverrückbaren Mittelpunkt  : Moskau als Maßstab aller Länder und Epochen. »Moskau und die Moskauer« (Moskva i moskviči)  – dieser Zyklus reproduziert das ideologisch noch eindeutig und antagonistisch geordnete Weltbild im sowjetischen gesellschaftlichen Bewusstsein vor der Perestrojka. Die ver-

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Abb. 6a, 6b, 6c. Dmitrij Prigov liest aus seinen Textzyklen »Apotheose des Milizionärs« und »Moskau und die Mos­ kauer«. Videostills (1987).

schiedensten, durch Sprache und Literatur geschaffenen Mythologisierungen sind hier vereint  : Moskau als Drittes Rom, Moskau als himmlisches Jerusalem,5 Moskau als sozialistische Welthauptstadt, Moskau als Untergrund. Moskau erscheint als modellhaftes Konzentrat einer archaischen Weltordnung, die sich – horizontal und vertikal – zwischen gegensätzlichen Polen erstreckt  : zwischen Zentrum und Peripherie, Innen und Außen, Eigenem und Fremdem, Himmel und Hölle. Die fremde und feindliche Umwelt wird sprachlich kartographiert und als Teil der eigenen Welt vereinnahmt. Когда бывает москвичи гуляют И лозунги живые наблюдают То вслед за этим сразу замечают На небесах Небесную Москву Что с видами на Рим, Константинополь На Польшу, на Пекин, на мирозданье И с видом на подземную Москву Где огнь свирепый бьется, колыхаясь Сквозь трещины живые прорываясь И москвичи вприпрыжку, направляясь Словно на небо – ходят по Москве

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А вот Москва эпохи моей жизни Вот Ленинский проспект и Мавзолей Кремль, Внуково, Большой театр и Малый И на посту стоит Милицанер Весной же здесь цветут сады и парки Акацьи, вишни, яблони, сирени Тюльпаны, розы, мальвы, георгины Трава, поля, луга, леса и горы Вверху здесь– небо, а внизу– земля Вдали– китайцы, негры, мериканцы Вблизи у сердца– весь бесправный мир Кругом же– все Москва растет и дышит До Польши, до Варшавы дорастает До Праги, до Парижа, до Нью-Йорка И всюду, коли глянуть беспристрастно – Везде Москва, везде ее народы Где ж нет Москвы– там просто пустота Уж лучше и совсем не жить в Москве Но просто знать, что где-то существует Окружена высокими стенами Высокими и дальними мечтами И взглядами на весь окрестный мир Которые летят и подтверждают Наличие свое и утверждают Наличие свое и порождают Наличие свое в готовом сердце – Вот это вот и значит– жить в Москве (Prigov 1996, 22, 23, 26) Wenn dann und wann die Moskauer spazieren / Und sich die Losungen vor Augen führen / Dann können sie dahinter etwas spüren / Das Himmelsmoskau in dem hohen Himmel / Mit weitem Blick auf Rom, Konstantinopel / Auf Polen, Peking und das Weltgebäude / Und auf das Moskau tief unter der Erde / Wo Feuersbrünste toben, Flammen grimmig / Durch Risse und durch Spalten züngeln / Die Moskauer sie hüpfen dann und springen / Durch Moskau ziehen sie gleichsam in den Himmel.

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Und hier das Moskau der Epoche meines Lebens / Das ist der Leninskij Prospekt, das Mausoleum / Der Kreml’, Vnukovo, Bol’šoj-Theater und auch Malyj / Auf Posten steht der Milizionär / Im Frühjahr blühen hier die Parks und Gärten / Akazien, Kirschen, Apfelbaum und Flieder / Und Tulpen, Rosen, Malven, Georginen / Das Gras, die Felder, Wiesen, Wälder, Berge / Ganz oben ist der Himmel – und die Erde unten / Ganz fern sind die Chinesen, Neger und Amerikaner / Ganz nah am Herzen alle Menschen ohne Rechte / Und rundherum wächst Moskau, atmet schwer / Bis Polen, bis nach Warschau, wächst es an / Bis Prag und bis Paris und bis New York / Und überall, wenn an nur richtig hinsieht / Ist Moskau, überall sind seine Völker / Wo Moskau nicht ist – ist es einfach leer. Am besten gar nicht erst in Moskau leben / Nur wissen, dass es irgendwo wohl existiert / Von seinen hohen Mauern ganz umgeben / Von seinen hohen Wünschen, fernen Träumen / Und von den Blicken auf die ganze Welt ringsum / Die fliegen weit, und sie bestätigen / Dass es besteht, und sie bekräftigen / Dass es besteht, und sie bewirken erst / Dass es besteht im Herzen, das bereit ist – / Das ist es, was es heißt – in Moskau leben (Prigow 1992, 54, 55, 64).

Prigov untersucht in den Mythologisierungen der Stadt Moskau bestimmte Archetypen des Denkens. Er demonstriert die mythenbildende Kraft einer magischen Sprachverwendung, die Sein setzt und behauptet, die Ordnung schafft im umgebenden Chaos, die füllt, was sonst leer wäre. Doch all diese Versuche, sich durch Sprache die Welt zu ordnen, all diese Bemühungen um gültige und endgültige Interpretationen werden in ihrer Beschränktheit und Absurdität vorgeführt.

Erik Bulatov – Politisch-ideologische Zeichenwelten der sozialistischen Hauptstadt

In der bildenden Kunst wurde die konzeptualistische Forschungshaltung, die sich mit den in der Metropole Moskau konzentrierten politisch-ideologischen Zeichenwelten auseinandersetzte, auch unter dem Etikett ›Soz-Art‹ bekannt. Die Bezeichnung Soz-Art, ein Begriffszwitter aus ›Pop-Art‹ und ›Sozialistischem Realismus‹, verweist auf ein spannungsvolles Verhältnis zu der entsprechenden westlichen Kunstströmung. So wie die amerikanische Pop-Art reproduzierte diese Kunst das Design der umgebenden Lebenswelt. Doch während die Pop-Art auf die spätkapitalistische Warenkultur reagierte, die einen Überfluss an schönen Dingen hervorgebracht hatte, setzte sich die Soz-Art mit der

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Abb. 7. Erik Bulatov, »Herzlich willkommen« (1973–1974).

sowjetischen ideologischen Kultur auseinander, als einer Kultur der Manifeste, Parolen und Losungen, die eine Inflation der Texte zur Folge hatte. Il’ja Kabakov charakterisierte die Situation folgendermaßen  : Popart-Objekte im Museum zeigen Werbung, und dieser Werbung, diesen »Schaufenstern« entspricht etwas »im Innern« des Geschäfts, diese Objekte versprechen also »etwas Reales«, »tatsächlich« Existierendes. Unsere Werbung hingegen, unsere Aufrufe, Erläuterungen, Instruktionen, Pläne, all das hat – wie allgemein bekannt ist – keinerlei Entsprechung in der Realität, niemals, nirgends. Das ist das Objekt der reinen, sich selbst genügenden Aussage des »TEXTES« im genauen Sinn dieses Wortes. Dieser TEXT, der an niemanden gerichtet ist, der nichts bedeutet und dem nichts entspricht, bedeutet nichtsdestoweniger »für sich selbst« sehr viel […]. (Kabakov 1995, 79f.)

Im Unterschied zur erotisch besetzten Warenwelt der Reklamefotos orientierten sich die russischen Künstler an den literarisierten Bilderwelten des sozialistischen Realismus, die eine ideologisch-propagandistische Funktion erfüllten. Erik Bulatov reflektiert die sowjetische Plakat- und Losungsästhetik im auratischen Medium des klassischen Tafelbildes. In seinen Gemälden beschäftigt er sich mit formalen Problemen des Bildaufbaus und analysiert insbesondere das komplexe Zusammenwirken von Oberfläche und räumlicher Tiefenillusion. Die Bildoberfläche bezeichnet bei ihm häufig ideologische Erstarrung, beispielsweise in dem Gemälde »Herzlich willkommen« (Dobro požalovat’, 1973– 74). In einer paradoxalen Spannung zu ihrer Semantik ist die Begrüßungsformel »Herzlich willkommen« wie ein Buchstabengitter über die fotorealistisch anmutende Darstellung der »Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR« (VDNCh) gelegt  : An einem zentralen Platz dieser der ideo-

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Abb. 8. Erik Bulatov  , »Krasikov Straße« (1976).

logischen Selbstrepräsentation dienenden Ausstellung befindet sich der »Brunnen der Völkerfreundschaft«, der die Sowjetunion als einen Vielvölkerstaat symbolisieren soll. Entgegen der Blickblockade, der Versperrung der Sicht im ideologischen Kontext ist bei Bulatov der vom Licht modellierte Raum mit dem Entwurf einer authentischen individuellen Perspektive verbunden  : »Der Raum aber ermöglicht erst die Existenz jener Welt, welche sich sonst in eine bloße Fläche verwandeln würde. Der Raum schafft den Gegenständen Platz, erfüllt sie. Er ist in und um uns. Er ist überall. Er ermöglicht das Atmen, ist Weite und schließlich Freiheit. Wenn man den Raum überhaupt definieren kann, dann würde ich ihn als die Möglichkeit begreifen, sich in der Welt zu bewegen« (Bulatov 1988, 31f.). In dem Gemälde »Ich lebe – ich sehe« (Živu – vižu, 1982/1999) leiten die Zeilen des befreundeten Dichters Vsevolod Nekrasov den Blick in die Tiefe des Raums und verstärken dadurch die räumliche Perspektive (siehe Abb. 1). Hier handelt es sich um einen Blick aus dem Fenster im Atelier des Künstlers am Čistoprudnyj Boulevard  : Es ist ein individueller, existentiell aufgeladener Blick auf das Moskauer Zentrum, auf den Kreml’. Bulatovs Soz-Art zeichnet sich durch eine lyrische Intonation aus, der Text erscheint auf einige Worte redu-

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ziert, die in einer an die avantgardistische Typographie erinnernden grafischen Form in den Bildzusammenhang integriert sind. Das Gemälde »Krasikov Straße« (Ulica Krasikova, 1976) zeigt wiederum eine ganz gewöhnliche Straße in einem Außenbezirk Moskaus. Der Verkehr bewegt sich in die Tiefe des Bildraums hinein, und die Passanten sind von hinten als Rückenfiguren zu sehen. Von einer Plakatwand auf einem Grünstreifen scheint eine übergroße Leninfigur in gegenläufiger Richtung voranzuschreiten. Das ideologische Straßendesign des späten Sozialismus wirkt bei Bulatov eher wie eine Dekoration, die keinerlei Beachtung mehr findet, was sich in der Beziehungslosigkeit der Blickrichtungen zwischen Lenin und den Passanten manifestiert. Und das suprematistische weiße Hintergrundsfeld des Plakats funktioniert erneut als Blockade des Blicks  : Es versperrt die Perspektive in den illusionistischen Tiefenraum in Richtung auf eine »lichte Zukunft«.

Il’ja Kabakov – Sowjetischer Alltag / Kommunale Wohneinrichtungen

Il’ja Kabakov interessiert sich in seinen Zeichnungen, Bildern, Alben und Installationen im Unterschied zu Erik Bulatov nicht so sehr für die »hohen« Formen der ideologischen Darstellung, sondern vielmehr für die »niedrigen« Formen der Ideologie im sowjetischen Alltag, für die bürokratische Sprache in den staatlichen Behörden und für die Alltagskommunikation in den Küchen der Kommunalwohnungen.6 In einer Serie von Wandtafel-Gemälden reproduziert Kabakov in ironisch-übertreibender Form die Muster des sozialistischen Alltagsdesigns. Zuweilen verzichtet er bei seiner malerischen Wiederholung von bürokratischen Anordnungen, Formularen und Listen fast vollständig auf bildnerische Darstellungsverfahren und trägt mit schwarzer Farbe fiktive tabellarische Texte auf die Leinwand auf, etwa einen Plan für das Heraustragen eines Mülleimers in der Bardin-Straße im Moskauer Bauman-Bezirk von 1979 bis 1984 im Gemälde »Hinaustragen des Mülleimers / Für die Sauberkeit« (1980). Das Gemälde ist allerdings mehr als eine Parodie der sowjetischen Planwirtschaft bzw. des staatlichen Versuches einer bürokratischen Steuerung. Durch die Schriftzeichen wird hier – ähnlich wie in Prigovs literarischen Mythologisierungen der Stadt Moskau – eine Wirklichkeit behauptet und eine Ordnung gesetzt gegenüber dem durch den Müll symbolisierten Chaos. Für Kabakovs ästhetische Haltung ist entscheidend, dass er selbst die Schriftwelten aus dem sowjetischen bürokratischen Alltag künstlerisch nachschafft. All diese Schriftbilder sind mit Geduld und Hingabe nachgeschrieben

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Abb. 9. Il’ja Kabakov  , »Hinaustragen des Mülleimers / Für die Sauberkeit« (1980).

und nachgezeichnet. Und wenn wir weiter in die Geschichte zurückblicken, entdecken wir, dass sich Kabakov auch in die Tradition der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts einschreibt. Er stilisiert sich als Nachfahre der kleinen Beamten, der Schreiber und Abschreiber à la Akakij Akakievič aus Nikolaj Gogol’s Erzählung »Der Mantel«. In seinem nachvollziehenden Schreiben und Zeichnen identifiziert sich Kabakov mit den kleinen Leuten, mit den gewöhnlichen Menschen. Es handelt sich nicht um eine rein äußerliche, technische Reproduktion, sondern um ein Wiederholen all dieser Papiere aus der bürokratischen Welt von innen heraus. Da Kabakov seine soz-artistischen Gemälde in der Sowjetunion offiziell nicht ausstellen konnte, schuf er sich auf verschiedene Weise fiktive Situationen der Ausstellung und Präsentation seiner Bilder – so etwa in dem Künstlerbuch »In unserem ŽĖK«. Ein ŽĖK (žiliščno-ėkspluatacionnaja kontora) ist ein Büro für Wohnungsverwaltung, das mit der Administration eines kleinen städtischen Wohnbereichs von einigen Dutzend Häusern betraut ist, sich um Reparaturen kümmert und den Bewohnern verschiedene Bescheinigungen ausstellt. Das im Jahr 1982 als Samizdat-/Selbstverlag-Typoskript erschienene Künstlerbuch »In unserem ŽĖK« ist eine Art Kompendium von Kabakovs Auffas-

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sung der Soz-Art.7 Kabakov betreibt in dieser fiktiven Propagandabroschüre für einen künstlerischen Laienzirkel im ŽĖK, Nr. 8, Bauman-Bezirk, Stadt Moskau ein Rollenspiel, indem er sich selbst in die Position eines Laienkünstlers versetzt, der im »Sammlerklub« Postkarten, Zeitungsbilder und andere massenkulturelle Bildproduktionen in Schachteln und Alben ordnet und im »Sektor für kulturelle Massenarbeit« Stelltafeln (für Hausordnungen, Ehrentafeln usw.) fertigt. Die Reproduktionen der Kabakovschen Werke werden zum Teil als Arbeiten von Mitgliedern eines künstlerischen Laienzirkels vorgestellt. In der ŽĖK-Abteilung des Buchs erscheint die Abbildung seines Gemäldes »Hinaustragen des Mülleimers / Für die Sauberkeit« (1980) mit folgender Unterschrift  : Die Sorge um Sauberkeit, Pünktlichkeit, um unsere Alltagskultur befindet sich im ständigen Zentrum der Aufmerksamkeit unseres Kult-Mass-Sektors. Die Bewohner beteiligen sich nach Kräften am Malen und Aufstellen von schön gestalteten Aufschriften und Tafeln, die die Bedeutung der Sauberkeit an öffentlichen Plätzen erläutern. Kontrollstreifgänge werden unternommen, und streng wird auf die Alltagskultur an Plätzen gemeinschaftlicher Nutzung geachtet  : auf Treppenabsätzen, auf speziell für die Müllaufbewahrung vorgesehenen Plätzen, auf Wegen, Grünanlagen usw. Es ist jetzt eine Freude, die sorgfältig sauber gehaltenen Gärtchen vor den Häusern anzuschauen. Grün und Blumen sind dort angepflanzt. Daran hat die Arbeit des Kult-Mass-Sektors unseres ŽĖK Nr. 8 keinen geringen Anteil. (Kabakov 1982, 36)

Die Wohneinheit ŽĖK war für Kabakov ein konkreter sozialer Mikrokosmos in der Metropole Moskau, ein Mikrokosmos jenes Soziums, in das sich der Künstler auch selbst verstrickt sah. Il’ja Kabakov nahm nicht einfach satirische Distanz zu der ihn umgebenden Alltagskultur ein. Er zeigte sich nicht über diese erhaben, sondern verstand sich als Teil der Kultur, die er beschreiben und analysieren wollte. Aus dem Selbstverständnis des eigenen Durchdrungenseins von dem alltäglich-ideologischen Kosmos ergab sich eine komplexe Verbindung von Innen- und Außenstandpunkt, eine ›Semiotik von innen‹.

Kollektive Aktionen – Reisen aus der Stadt

Das intermediale Genre der Performance spielte seit den 1970er Jahren bei der Herausbildung alternativer Kommunikationsräume an der Peripherie

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der Metropole Moskau eine große Rolle. Performances wurden zu wichtigen Treffpunkten einer inoffiziellen Kulturszene, sie stimulierten den Austausch zwischen Kulturschaffenden aus verschiedenen Medien – zwischen bildenden Künstlern, Musikern, Schriftstellern, Theoretikern und Kritikern. Die Performance, die die Grenzen des traditionellen Kunstwerks überschreitet und ästhetische Situationen in der Lebenswirklichkeit schafft, war im Westen eine prominente Ausdrucksform des Ausstiegs aus dem Kunstmarkt, in Russland dagegen berührte sie eines der neuralgischen Felder in der Geschichte der sowjetischen Kultur, und zwar das Verhältnis von Kunst und Leben in der Epoche der Avantgarde und in der totalitären Kultur der Stalinepoche. Die Metropole Moskau, dekoriert mit ideologischen Symbolen  – überlebensgroßen Plakaten und Losungen, Insignien von Macht und Stärke  – bildete das Zentrum für aufwändige Masseninszenierungen  : Roter Platz und Kreml’ wurden zum Mittelpunkt öffentlicher Zeremonien, Demonstrationen und Paraden. Die inoffizielle Performance kann als eine Reaktion auf diese ideologisch bestimmte Synthese von Kunst und Leben und auf die verschiedenen damit verbundenen Formen einer Ästhetisierung des politischen Alltags verstanden werden. Die polemische Auseinandersetzung mit den ritualisierten Kommunikationsformen der sowjetischen Kultur klingt bei der Performance-Gruppe »Kollektive Aktionen« (Kollektivnye dejstvija) bereits im Namen an. Verbindendes Sujet der seit 1976 stattfindenden Aktionen sind die so genannten »Reisen aus der Stadt« (Poezdki za gorod). Die gemeinsame Fahrt einer Gruppe von Teilnehmern, die von den Organisatoren in der Regel vorher zu dem Ereignis eingeladen werden, führt zumeist in die ländliche Umgebung Moskaus, auf ein leeres, weites Feld, d.h. aus dem mit Zeichen und Texten gesättigten Raum der Metropole in einen unbezeichneten »leeren« Naturraum. Es ist häufig ein unberührtes Schneefeld, das die Bühne für minimale Handlungen bildet, die durch ihre Rätselhaftigkeit auf verschiedene mögliche Bedeutungen verweisen und unterschiedliche Interpretationen provozieren. Das weiße Feld, das in der suprematistischen Tradition Kazimir Malevičs, Martin Heideggers »Lichtung« oder der buddhistischen Konzeption des »shunyata« steht, wird zum Demonstrationsraum für die handelnden Akteure und zum Raum der Wahrnehmung und Reflexion für die Teilnehmer.8 Der Minimalismus dieser Aktionen entfaltet eine ironische Wirkung im Spannungsfeld zur Großartigkeit und Machtrhetorik der offiziellen politischen Rituale, die sich im symbolbesetzten Architekturraum der Stadt vollziehen. In der Komposition der Aktionen steht der Aufwand des vermeintlichen

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Abb. 10. Kollektive Aktionen, Losung 1977.

­ Rahmens – die physischen Anstrengungen der An- und Abreise per Vorortzug, Bus und Fußwanderung, die mehrere Stunden oder einen ganzen Tag umfassende Zeitdauer – in einem disproportionalen Verhältnis zu der verschwindenden Geringfügigkeit der stattfindenden Ereignisse. Die Auseinandersetzung mit den Zeichenwelten der Metropole Moskau lässt sich noch einmal in besonderer Weise an einer programmatischen Reihe von »Losungsaktionen« verdeutlichen  : Am 26. Januar 1977 wurde von der Gruppe ein erstes Losungstransparent aufgehängt. Das Transparent trug die Aufschrift  : »Ich beklage mich über nichts und mir gefällt alles, ungeachtet dessen, dass ich noch nie hier war und nichts über diese Gegend weiß« (A. Monastyrskij, V. Miturič-Chlebnikova, N. Alekseev, G. Kizeval’ter, N. Panitkov, M. K., A. Abramov). Nach einem Intervall von einem Jahr folgte am 9. April 1978 eine weitere Losungsaktion, die sich auf die erste bezog. Diesmal trug das Transparent die Aufschrift  : »Seltsam, warum habe ich mich selbst belogen, dass ich niemals hier war und nichts über diese Gegend weiß – denn eigentlich ist es hier so wie überall – nur dass man das hier noch deutlicher spürt und noch tiefer nicht versteht« (A. Monastyrskij, N. Alekseev, I. Javorskij, V. und L. Vešnevskij, G. Kizeval’ter). Die Losungstransparente sind hier ihrer sozialen und ideologischen Funktionalität entledigt, zum einen durch ihre räumliche und zeitliche Deplatzierung und zum anderen durch die Beschriftung mit eigenen lyrischen Texten in der Tradition von Koan-Sprüchen,

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Abb. 11. Kollektive Aktionen, Losung 1978.

die eine Überschreitung der symbolischen Ordnung intendieren. In dem Spannungsverhältnis zwischen der ersten und der zweiten Losung wird darüber hinaus noch ein weiteres Strukturmerkmal der »Kollektiven Aktionen« deutlich  : Der Hinweis auf einen Selbstbetrug lässt sich als Verfahren der Ent-Täuschung, der Sinnverunsicherung und der Illusionsdurchbrechung beschreiben. Hier äußert sich ein Widerspruch zu den Ästhetisierungsstrategien der ideologischen Kultur, die der Vortäuschung einer allgemeinen Harmonie dienen, und ebenfalls zu einer propagandistischen Losungswelt, die eine Situation schafft, in der Wahrheit und Lüge, Fakt und Fiktion ununterscheidbar werden. Bei den »Reisen aus der Stadt« wird die Stadtgrenze, an der das »Außerhalb« der Stadt auf die Stadt zurückbezogen bleibt und eine Wechselbeziehung zwischen Stadt und Nicht-Stadt hergestellt wird, als Aktionsort gewählt. Diese Selbstpositionierung verdeutlicht noch einmal wesentliche Merkmale der stadtsemiologischen Forschung des Moskauer Konzeptualismus. In seiner künstlerischen Topologie der Metropole entwerfen die Schriftsteller und Künstler von der Peripherie aus eine Reflexionsperspektive auf das Zentrum der sowjetischen ideologischen Kultur, die in einer komplexen Verbindung von Innen- und Außenstandpunkt auch die Involviertheit des eigenen Bewusstseins in den umgebenden kulturellen Zeichenkosmos erkennen lässt.

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Anmerkungen 1 Vgl. dazu auch die Beiträge von Tomáš Glanc und Thomas Grob in diesem Band. 2 Zur sowjetischen Stadtsemiotik vgl. Toporov 1984 und Lotman 1992, für eine kritische Würdigung Koschmal 2001. 3 Vgl. dazu auch den Begriff »Kulturpalast« in Hirt/Wonders 1984. 4 Zur Topologie als eines relationalen Konzepts vgl. Günzel 2007. 5 Vgl. zum Neuen Jerusalem etwa den Eintrag von Sergej Gončarov in  : Franz, Norbert (Hg.) 2002, 303f. 6 Vgl. allgemein zu Formen des kommunalen Wohnens in der Sowjetunion Pott 2009 und Evans 2011. 7 Il’ja Kabakovs Künstlerbuch V našem ŽĖKe kursierte Anfang der 1980er Jahre lediglich als Typoskript im russischen Samizdat (Selbstverlag). Eine russische Buchausgabe mit demselben Titel ist erst vor kurzem erschienen (2011). 8 Vgl. Kollektivnye dejstvija [Kollektive Aktionen]  : Poezdki za gorod [Reisen aus der Stadt], Moskau 1998.

Tatjana Simeunović

Von der Avantgarde-Ikone bis zur Glam-Megacity Moskau-Bilder im post/sowjetischen Film

Von einer engen Verbindung von Kino und Stadt zu sprechen, scheint selbstverständlich zu sein. Diese Selbstverständlichkeit ist zugleich eine Vereinfachung, denn Städte sind sehr lange ohne das Kino ausgekommen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Stadtverständnis. Die Städte Abb. 1. Marlen Chuciev  : Szene aus Ich bin zwanzig Jahre funktionierten nicht mehr durch alt 1965 (Ausschnitt). »räumliche Verdichtung und Exklusivität«, sondern im Gegenteil durch »Expansion und Öffnung« – sie vervielfachten ihre Fläche und zogen in einem bis dahin einzigartigen Ausmaß Zuwanderer an (Schwarz 2003, 12). Das Auftauchen der neuen Filmkunst fällt in diese Phase des städtischen Wachstums. Am Anfang seines Bestehens ist das Kino ein für die urbane Bevölkerung geschaffenes, ein großstädtisches Phänomen. Wie die Großstadt, so spiegelt auch das Kino die Formen des modernen Lebens. Die Behauptung, dass das Kino und die moderne Metropole zur selben historischen Stunde geboren seien, dass sich der Film seit jeher für die Stadt interessiert habe und ein an sich städtisches Medium sei, ist somit legitim. Zudem scheint die Ästhetik der Großstadt eine natürliche Anziehungskraft auf das Kino auszuüben  : Wie kaum ein anderes Objekt galt und gilt gerade die moderne Metropole als besonders fotogen. Sie wird im Kino »zum sinnlichen Erfahrungs- und Erzählraum, in dem vieles möglich scheint, alles scheitern kann« (Brunner et al. 2009, 7). Viele Filmemacher zelebrieren sie als Inbegriff des Großen und Neuen und widmen sich ausschließlich der Megapolis, während die Skeptiker und Kritiker auch über ihre weniger attraktiven Seiten nachdenken und ihr Augenmerk auf die urbanen Randzonen legen. Die Stadt wird oft nur als attraktiver Hintergrund, als setting oder mise en scène genutzt. Ihre Prachtgebäude, ihre Boulevards und Parkanlagen, ihre Ka-

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nalisationssysteme, ihre Vorstadtsiedlungen und ihre Luxuslofts können aber auch zu bedeutungstragenden Schauplätzen werden – ob neu oder wiederkehrend prägen sie Genres und Stilrichtungen. Der Stadt begegnen wir bereits im Titel unzähliger Filme. Trotz der engen Verbindung zwischen Stadt und Kino können wir aber nicht von einem homogenen Genre des Stadtfilms sprechen, da die Stadtfilme stofflich-motivlich, dramaturgisch, formal-strategisch, stilistisch und ideologisch vielgestaltig sind und über kein festgelegtes Figureninventar verfügen (Faulstich 2002, 28f.). Die Hauptstadt der ehemaligen Sowjetunion und der Russischen Föderation bzw. ihre filmischen Repräsentationen im fast hundertjährigen historischen Wandel stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Kein anderes Medium spiegelt/e so präzise wie das Kino die faszinierende (Bilder‑)Welt der Metropole in ihrem ständigen Um- und Aufbruch. In den ausgewählten Spielfilmen des reichen Moskau-Film-Textes stellt die Megacity nicht nur Drehort und Schauplatz der Filmerzählung dar, sondern sie trägt auch wesentlich zur filmischen Inszenierung bei. Moskau ist eine kinematographische Stadt, eine für die Filmdramaturgie wichtige Figur.1 Mein Interesse konzentriert sich auf die im ständigen Wandel begriffene filmische Stadt samt ihrer Lebensräume und Lebensformen  ; ein besonderes Augenmerk gilt dabei den unterschiedlichen Wohnkonzepten und -situationen sowie ihrer starken Prägung durch politische, soziale und gesellschaftliche Diskurse im sowjetisch-russischen Alltag. In vielen Moskau-Filmen der letzten hundert Jahre wird die Wohnsituation der Protagonisten nicht nur detailliert illustriert, sondern auch thematisiert, teilweise auch zum Kern des Filmsujets gemacht.2 Ausführlicher werden im Folgenden sowjetische Filme analysiert  ; die Werke der postsowjetischen Ära, insbesondere die der letzten Jahre, werden hingegen eher kaleidoskopisch präsentiert. Zur filmischen Protagonistin wurde die Metropole Moskau insbesondere in den 1920er Jahren  : Es war die Zeit, in der sich die Stadt in ihrer modernen, konstruktivistischen Gestalt im Alltag und parallel dazu auf der Leinwand neu konkretisierte. Im Zuge der zunehmenden Urbanisierung und Technisierung entstand eine neue Filmform – die Stadtsinfonie. Die Rede ist von künstlerischen, meist nach musikalischen Gesichtspunkten gestalteten Dokumentarfilmen, avantgardistisch-visuellen Chroniken und Großstadtvisionen, in welchen Menschenmassen, Verkehrsströme, Lichteffekte und eine imposante Architektur aufeinandertreffen und ein dynamisches Stadtbild vermitteln. Sie porträtieren einerseits das Leben in der modernen Metropole im Verlauf eines Tages und reflektieren andererseits das eigene filmische Medium. Das berühmteste, weil »ästhetisch herausragendste und konzeptionell überzeugendste« Beispiel

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(Binder 2009, 182) ist Dziga Vertovs Großstadtvision Der Mann mit der Kamera (Čelovek s kinoapparatom, 1929), in welchem eine aus verschiedenen Städten zusammengesetzte sowjetische Idealstadt sich vor und mit der Kamera rasend bewegt. Zwei Jahre zuvor drehten Vertovs Bruder Michail Kaufman und Il’ja Kopalin die Stadtsinfonie Moskau (Moskva, 1927), die sich ausschließlich der sowjetischen Metropole widmet – Moskau wird hier zur Hauptdarstellerin, zum Handlungssubjekt.3 Die sowjetische Avantgarde war stets am Experiment und an der Erfindung interessiert. Ihren neuen ästhetischen Formen lagen auch kunstexterne Faktoren zugrunde  – die Filmemacher versuchten auf die Modernisierung der sowje­tischen Gesellschaft, vor allem auf die industrielle Revolution, Einfluss zu nehmen und eine intensive Beziehung zum wissbegierigen Publikum aufzunehmen. So tauchten in der Beziehung der revolutionäreren Künstler zum neuen Massenpublikum weitere privilegierte Objekte auf, die primär städtisch waren  : die Maschinen, die Kommunikationsapparate oder schlicht die modernen Medien. Am Reisebeginn durch die dichte Moskau-Filmlandschaft4 steht ein Spielfilm aus der sowjetischen Stummfilm-Ära, der das Genre der Science Fiction in Film und Theater maßgeblich geprägt hat  : Aėlita (oder Aelita  : Queen of Mars, 1924) von Jakov Protazanov (1881–1945), einem der ersten professionellen russischen Filmregisseure. Hier wurde der Versuch unternommen, eine hochmoderne Stadt zu modellieren. Dies trifft vor allem auf den Nebenhandlungsstrang auf dem Mars zu, für welchen die Kubo-Futuristin und Konstruktivistin Aleksandra Ėkster (Alexandra Exter) Kostüme und Bühnenbildentwürfe gestaltete. Im Gegensatz zu diesem utopischen marsianischen Stadtentwurf dominieren zeitgenössische Alltagsbilder den Haupthandlungsstrang des Films. Im wunderbaren Wechselspiel zwischen Dokumentation und Fiktion fokussieren diese Alltagsbilder auf die chaotischen Verhältnisse nach 1921 und zeigen Elemente der herrschenden Ideologie in Moskau. Viele der Alltagsszenen, wie zum Beispiel die Ankunft der Einwanderer auf dem Kursker Bahnhof, wurden im Grunde dokumentarisch aufgenommen. Solche authentische Aufnahmen machen diesen Spielfilm stellenweise zum einem einmaligen Zeitdokument.5 Die Protagonisten, der Ingenieur Loss und seine Frau Nataša, wohnen in einer großen Moskauer Wohnung. Er arbeitet an einer Maschine, die ihn zum Mars bringen soll (und dies in seinem Tagtraum tatsächlich auch tut), sie – die wahre Revolutionärin – arbeitet am Kursker Bahnhof, der zugleich als Notunterkunft für tausende Flüchtlinge oder Deportierte dient. Am Ende des russischen Bürgerkriegs, in einer Zeit, die von Armut, Hunger und Wohnungsnot

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geprägt ist, weigert sich Nataša trotz gekürzter Rationen, die Nahrungsmittel des korrupten Herrn Ėrlich anzunehmen. Diesem gelingt es aber, die zuständigen Behörden zu bestechen und in Loss’ Arbeitsstudio als Untermieter einzuziehen. Damit thematisiert der Film eine neue Tendenz der postrevolutionären Gesellschaft, nämlich das gemeinsame Wohnen verschiedener Personen unter einem Dach und die damit verbundenen zwischenmenschlichen Probleme (hier insbesondere Eifersucht und Liebeskummer). Vom Mars aus, dem zweiten Schauplatz des Films, wird das Leben auf der Erde mit einem Teleskop beobachtet. Die utopische Gesellschaft kennt zwar keine Wohnungsnot, aber Königin Aėlita auch nicht die Liebkosungen, die sie  – nach einem visuellen Abstecher nach New York, in eine Wüste, nach Rom und in eine Militäranlage – Loss und Nataša in Moskau austauschen sieht. Aėlita beginnt von solch romantischem Glück zu träumen. Während New York und Rom in diesem kurzen Ausschnitt höchst ernüchternd gezeigt werden, wird Moskau als romantische Stadt der Liebe präsentiert. Diese Charakterisierung, die auch in anderen Filmen beobachtet werden kann, stellt die russische Metropole anderen »filmischen Liebesorten« wie Rom, Venedig, Wien und insbesondere Paris nicht nur zur Seite  : nach den kritischen Bildern aus den westlichen Städten erscheint Moskau idyllisch und lebenswert. Somit ist Aėlita ein Science-Fiction-Film, zugleich aber ein Liebes- oder Eifersuchtsdrama mit vielen Elementen der (sowjetischen) Filmkomödie. Für einen weiteren Liebesfilm  – Die Dritte Kleinbürgerstraße (Tret’ja Meš­ čans­kaja, 1927) – von Abram Room (1894–1974) schrieb der Formalist Viktor Šklovskij das Drehbuch.6 Hier wird – neben Themen wie freie Liebe, Ehe, Mutterschaft, die Rolle der Frau im Wandel vom Männerbesitz zur Befreiung und Selbstständigkeit – die Wohnungsnot in Moskau zum Hauptthema. Während der ›Neuen Ökonomischen Politik‹ (NĖP, 1921–1928) ist Moskau von einer starken Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität geprägt  : Die Großstadt, die neue Arbeitskräfte braucht, bietet den Zuwanderern zwar Arbeitsstellen, aber keinen Wohnraum. Die Protagonisten sind ein Ehepaar, er ist Bauführer, sie Hausfrau. Ein ehemaliger Kriegskamerad des Ehemannes, ein Bauzeichner und Grafiker, wird zu ihrem Zimmergenossen. Die katastrophale Wohnsituation führt zu einem Dreieck, in welchem die Männer nacheinander im Bett oder auf dem Sofa übernachten.7 Diese Beziehung resultiert in der Schwangerschaft der Frau mit unklarer Vaterschaft. Die Frau widersetzt sich dem männlichen Diktat nach einer Abtreibung, entscheidet sich dafür, selbst über ihr Leben und ihren Körper zu bestimmen, und verlässt als Folge dieser Entscheidung zuerst ihre Partner und die Wohnung, dann sogar die Stadt.

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Abb. 2. Moskau als Stadt der Liebe in Aėlita von Jakov Protazanov (1924).

Dieser Film war als typische Stadtsinfonie konzipiert (er zeigt den Querschnitt eines Tages von den frühen Morgenstunden an), wurde aber zu einer außergewöhnlich gelungenen Alltagsstudie über das Leben in einem ›Kellerloch‹. Room zeigt einige Moskau-Schauplätze, wie zum  Beispiel die in der Totalen gehaltene Stadt-Aufnahme am Anfang des Films oder die Szene, in der der einfache Brigadeleiter auf dem eisernen Pferd auf dem Bol’šoj-Theater sitzt und die durch avantgardistische Montage verfremdete Stadt erblickt. Die oft entfesselte Kamera fängt unterschiedliche Ansichten des sich im Bau befindenden neuen Moskaus ein – die Straßen, Plätze, Häuser, Kinos sind aber nur Kulissen zur Filmhandlung. Die männlichen Protagonisten tragen mit ihrer Tätigkeit wesentlich zur Entstehung der neuen Stadt bei, erleben aber vor allem die Kleinbürgerstraße, die sich außerhalb der positiv konnotierten Stadt befindet. Mit einer starken chiaroscuro-Metaphorik wird die kleine Kellerwohnung zum Schauplatz einer kammerspielartigen Milieuschilderung, in der Room sein besonderes Augenmerk auf die freie Liebe im Licht einer neuen, revolutionären Moral richtet. Die dunklen Stellen und Seiten der NĖP-Stadt, wie Room sie in seiner realitätsnahen Straße mitsamt der Kellerwohnung zeigt, werden jedoch

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sehr bald, wenigstens filmisch, ausradiert und unter dem homogenen weißen Firnis der sozialistisch-unrealistischen Stadt verschwinden. Die Moskauer Stadtbilder der Zeit stehen im Kontext der Wohnungsnot nach der Oktoberrevolution und der als Lösung dieses Problems entstandenen Gemeinschaftswohnung oder ›Kommunalka‹.8 Kurz nach der Macht­ übernahme begannen die Bol’ševiki mit der Sozialisierung großer städtischer Wohngebäude, die zu einer massiven Veränderung der Wohnverhältnisse in Russland führte. Davon waren insbesondere die (Miets-)Häuser der ehemaligen bürgerlichen und aristokratischen Oberschicht im Zentrum der Großstädte Moskau und St. Petersburg betroffen. Die Privatheit des bürgerlichen Konzeptes wurde aufgehoben und der enteignete Wohnraum zugunsten des Proletariats umverteilt. Man sprach nicht mehr von ›Wohnung‹ und ›Haus‹, sondern von ›Wohnfläche‹ und ›Quadratmeter pro Kopf‹. Die ehemaligen Alleinmieter oder -besitzer, falls sie in ihrer nun sozialisierten Wohnung bleiben durften, erhielten einen oder selten mehrere Räume. Die neu einziehenden Arbeiterfamilien erhielten meistens ebenfalls nur ein Zimmer  ; Küche, Gang, Bad und Toilette wurden gemeinsam genutzt. So entstand ein neuer Wohnungstyp, eine neue Form des Lebens  : die Kommunalwohnung (kommunal’naja kvartira), umgangssprachlich Kommunalka genannt. Der utopische Charakter des kollektiven Wohnens zeigte sich bereits bei der Umsetzung des Ansatzes  : Auf engstem Raum (bis 1940 betrug der durchschnittliche Pro-Kopf-Wohnraum in Moskau 4,2 m2) lebten fremde und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus stammende Menschen zusammen. Das Leben im begrenzten Raum wurde sehr schnell festen Regeln und Verhaltensmustern unterworfen. Mit der Zeit erwies sich, dass die Kommunalka keinesfalls eine Übergangslösung auf dem Weg zum Wohnen im Kommunismus darstellte, sondern im Gegenteil zu einer bleibenden Institution im städtischen Alltag wurde. Der überwiegende Teil der Moskauer Bevölkerung lebte bis in die 1960er Jahre in Gemeinschaftswohnungen,9 die ab Ende der 1950er Jahre, im Zuge der wohnungspolitischen Offensive unter Nikita Chruščev, von einem alternativen Wohnkonzept abgelöst wurden  : Es begann die Ära der massenhaften Übersiedlung in die neu gebauten Einfamilienwohnungen  – meist fünfstöckige Plattenbauten, sog. chruščëvki. Das Ende der NĖP im Jahr 1928 bzw. die Zeit des Ersten Fünfjahresplans (1928–1932) markiert den Übergang der Kultur der zwanziger zur stalinistischen Kultur der dreißiger Jahre, ein Übergang, der eine grundlegende Veränderung der Weltsicht mit sich brachte. Die vielfältigen Innovationen und Experimente der Stummfilmzeit wurden zurückgedrängt und mit dem Ver-

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dacht des ›Formalismus‹ belegt. Der Doktrin des ›Sozialistischen Realismus‹ entsprechend wurde die Zukunft nicht mehr als Utopie, sondern als Gegenwart propagiert. So auch in der Filmkunst, die Stalin zwar als Illusion verstand, aber dennoch als eine, die dem Leben ihre Gesetze diktiert. Auf der Leinwand bewegte man sich in Richtung einer filmischen Idealstadt, die sich parallel zum realen Moskau auf den Stalinschen Stadtbaustellen entwickelte. In der nun einsetzenden Zeit des Tonfilms richtete sich das Kino nach dem Geschmack des Millionenpublikums und verband wie nie zuvor die sowjetische Ideologie mit der Unterhaltung. Die Ära Stalins war geprägt von den Volkskomödien, die von der Kulturpolitik offiziell gefördert wurden.10 Gestützt auf die neue Verfassung von 1936, in welcher der Klassenkampf für beendet erklärt wurde, behauptete Stalin den Sieg des Sozialismus und propagierte ein vom Glück erfülltes Leben der siegenden Arbeiterklasse.11 Dementsprechend sind die Figuren dieser Komödien stereotypisierte, perfekte Menschen der Zukunft, die ihre Vollkommenheit auf allen Gebieten demonstrieren. Die sowjetischen Musicals mit ihren ›positiven Helden‹ erfreuten sich großer Beliebtheit bei einem Millionenpublikum, welches diese Filme offenbar nicht am eigenen, schweren und oft bedrückenden Alltag maß. Zudem waren den Zuschauern ähnlich prototypische Helden aus dem sowjetischen Alltag bekannt  – man konnte sie bei Festivitäten und Ordensverleihungen sehen, mit ihnen sprechen und sie sogar anfassen. Reale Begegnungen mit sowjetischen Helden wie auch die filmischen Darstellungen unterstützten bei vielen UdSSR-Bürgern den Glauben an eine bessere eigene Zukunft. Im zentralisierten staatlichen Filmwesen setzten vor allem zwei Regisseure das Komödiengenre beispielhaft um  : Grigorij Aleksandrov (1895–1966) mit Stadtkomödien und, als Pendant dazu, Ivan Pyr’ev (1901–1968) mit Landbzw. Kolchosen-Musicals. Aleksandrovs Der Zirkus (Cirk, 1936) gehört zu den wichtigsten und beliebtesten sowjetischen Filmkomödien. Die Ästhetik lehnt sich zwar an die amerikanische an, die Inhalte sind aber rein sowjetisch.12 Die Szene mit der amerikanischen Zirkusartistin Marion Dickson und dem sowje­ tischen Akrobaten Martynov am Flügel etwa zieht sich nach einer wunderbaren, von oben gefilmten Totalen des Roten Platzes mit einem cut in in ein Zimmer im zehnten Stock des Hotels Moskva zurück. Dieses Hotel gehörte 1935 neben der Gor’kij-Straße, dem Gebäude des Gosplan und der Metro zu den Vorzeigefassaden des neuen Moskau.13 Das sowjetische Hotel im Hochhaus, ein Zeichen von Luxus und Wohlstand in der neuen Sowjetarchitektur und -kultur, ist das Zuhause der Amerikanerin. Durch das Fenster sieht man

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den Kreml’, das Historische Museum, die US-Botschaft und das Lenin-Mausoleum, und aus dem Off erklingen die Zeilen des hymnischen ›Liedes von der Heimat‹ (Pesnja o Rodine) von Lebedev-Kumač/Dunaevskij  : »Von Moskau bis zu den äußersten Grenzen / von den südlichen Bergen bis zu den nördlichen Meeren  / Schreitet der Mensch einher wie ein Herr  / seiner unermesslichen Heimat.« Das Lied zieht sich leitmotivisch durch den Film – hier, in der melodramatischen Klavierszene, bringt der sowjetische Held es der Amerikanerin bei. Das Lied führt zu zweierlei Transformationen. Einerseits wird Moskau sakralisiert, also zum »heiligen Zentrum einer Weltordnung von mythischen Dimensionen«  ;14 andererseits wird die Liebe zwischen Mann und Frau symbolisch zur Liebe des gesamtsowjetischen Volkes zur Heimat. Die Unruhe der Amerikanerin, gespielt vom großen, blonden, blauäugigen sowjetischen Star Ljubov’ Orlova, resultiert aus der Angst, ihr schwarzes, uneheliches Kind könnte vom Akrobaten Martynov (in den sie sich verlieben wird) entdeckt werden. Wegen diesem Kind musste sie aus dem rassistischen Amerika flüchten, aber in der großen Familie der UdSSR-Völker wird sie samt Sohn freudig aufgenommen. Diese Willkommensgeste bewegt die Amerikanerin dazu, in Moskau zu bleiben. Die hellen, lichtdurchfluteten, idealisierten Stadtbilder und die Darstellung der Töchter und Söhne der neuen, großen Familie Stalins als Helden – wie z. B. bei der Parade-Szene auf dem Roten Platz – werden das sowjetische Kino bis in die Mitte der fünfziger Jahre, bis zum Beginn der sowjetischen Neuen Welle, dem ›Tauwetter-Kino‹, prägen.15 Das sowjetische Tauwetter-Kino (1957–1967)16 wurde zu einer der erstaunlichsten Epochen17 der internationalen Filmgeschichte. Das neue Kino brach mit dem Stalinismus und befreite die Filme von den früheren ideologischen und ästhetischen Klischees. Insbesondere formal wurde ein atemberaubender Erzählstil eingeführt, der oft bis an die Grenzen der reinen Abstraktion ging. Das Tauwetter-Kino entdeckte mit den theoretischen und filmischen Werken der russischen Avantgarde der 1920er Jahre das eigene filmische Erbe wieder und ließ sich gleichzeitig von der englischen und polnischen Schule sowie vom italienischen Neorealismus inspirieren. Die inhaltliche wie auch formale Erneuerung durch das Tauwetter-Kino brachte kleinere oder größere Probleme mit sich  : Filme mussten umgeschnitten, teilweise sogar neu gedreht werden. Der berühmteste Fall ist der Film Ich bin zwanzig Jahre alt (Mne dvadcat’ let) von einem der wichtigsten Vertreter dieser Schlüsselepoche, Marlen Martynovič Chuciev (geb. 1925)  ; er arbeitete daran von 1959 bis 1964.18 Zwei Jahre später folgte eine Art Fortsetzung mit Juliregen (Ijul’skij dožd’, 1966). Das zweiteilige Moskau-Epos bildet einen der

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Abb. 3. Klavierszene aus Der Zirkus von Grigorij Aleksandrov und Isidor Simkov, 1936.

Höhepunkte der sogenannten »dokumentarischen Ästhetik der 60er Jahre, die sich der schwarz-weiß Darstellung zuwandte« (Binder/Engel 2002, 111). Mit ihm schuf Chuciev ein Monument insbesondere für seine eigene Generation.19 Chucievs fragmentarischer Erzählstil und das episodenhafte Sujet kann man als Versuch einer filmischen Annährung an die Authentizität, an die Lebenswirklichkeit und die Wahrheit interpretieren. Wie auf einem Karussell dreht sich das eintönige Leben der jungen Erwachsenen, denen ihre Elterngeneration keine zuverlässige und befriedigende Orientierung mehr vermitteln kann. Dabei erfährt man vieles über die Tauwetter-Bewegung, über die Zeit und ihre Protagonisten.20 Auf unübertroffene Weise zeigen diese Filme junge Moskauer, ihre Interessen und Gespräche, ihr unheroisches Alltagsleben, ihre Hoffnungen und Vergnügungen und ihre Musik. Ihre Sehnsucht und Suche nach Idealen und Vorbildern sowie ihre Bemühungen, einen Platz im sowjetischen Leben zu finden, wird so intensiv im Kontext des lebendigen Moskaus gezeigt, dass die Stadt zum Akteur wird und nur sekundär Schauplatz ist. Die faszinierende Kamera in den Filmen des ›russischen Antonioni‹ wird einerseits zu einer

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Abb. 4. Sergej, Nikolaj und Slava in Marlen Chucievs Ich bin zwanzig Jahre alt (1965).

­ nauffälligen Beobachterin des alltäglichen, ungekünstelten Lebens, andereru seits  – dank häufigem Wechsel zur subjektiven Perspektive  – zum lyrischen Instrument für die Wiedergabe von Stimmungen. Charakteristisch für Chuciev sind zeitgeschichtliche Aufnahmen von Massenszenen wie öffentlichen Lesungen oder 1. Mai-Demonstrationen, die er in einer ›lebendigen Tiefe‹ inszeniert, indem er seine Protagonisten meisterhaft darin integriert. Chucievs künstlerisches Credo ist das »Pathos des Faktischen« (pafos fakta, Aninskij 1991, 29), und in der Verbindung mit aktuellen Ereignissen entsteht in den von wechselnden Kamerabewegungen und -perspektiven und insbesondere von Großaufnahmen der Protagonisten unterstützten Dialogen und Liedern eine starke Emotionalisierung. Der genannte junge Arbeiter Sergej kehrt nach seinem Armeedienst zurück nach Moskau in seinen Stadtteil Zastava Il’iča, wo ihn seine Mutter und seine Schwester sowie seine Freunde Nikolaj und Slava erwarten. Hier ist die Wohnung ein Raum der Familie, ein mit Vergangenheit, Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die Stalinzeit beladener Ort. Sergej wird sich bald in Anja, eine junge, bereits verheiratete Frau aus besserem Haus, verlieben.

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Abb. 5. Straßenszene in Marlen Chucievs Ich bin zwanzig Jahre alt (1965).

Chuciev fängt präzise die unterschiedlichen Nuancen der Wohnverhältnisse der klassenlosen Gesellschaft auf, lässt aber seine Protagonisten aus dem engen Raum ins Freie flüchten. Sie treffen sich oft im Innenhof, sie schlendern durch die Stadt, durch die Straßen und Parks, sie feiern Feste. Die Stadt Moskau wird – abgesehen von den mythologisch aufgeladenen Orten der Sowjetmacht, etwa in der Maidemonstration am Roten Platz  – als Schauplatz einer dynamischen Jugendkultur dargestellt. An Stelle der sowjetischen Kulisse tritt ein Moskau mit authentischen Straßenbildern und natürlichen Interieurs, welches dank des geschickten Montageverfahrens zu einem Idealstadtbild der sechziger Jahre wird. Die Hervorhebung des Individuellen geschieht sowohl auf der inhaltlichen wie auch auf der ästhetischen Ebene über die Subjektivierung der Stadtansichten.21 Chucievs Filme sind so einerseits stethoskopisch-visuelle Chroniken ihrer Zeit und der Tauwetter-Bewegung, andererseits aber auch lyrische Porträts der sowjetischen Metropole, deren poetisch-stimmungsvolle Bilder bis heute nichts an Attraktivität verloren haben. Nach dem Tauwetter-Kino folgt im sowjetischen Film eine lange Ära der Stagnation. Für ihr Ende sorgt Moskau glaubt den Tränen nicht (Moskva slezam

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ne verit, 1979) von Vladimir Men’šov (geb. 1939). Einen Riesenerfolg feiert dieser erste sowjetische Blockbuster nicht nur im eigenen Land, sondern auch auf der internationalen Bühne  : Als erst zweiter sowjetischer Film (nach Krieg und Frieden von Sergej Bondarčuk, 1968) wurde er 1980 mit einem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Men’šovs Film ist ein Melodram über das Spannungsverhältnis zwischen Berufs- und Privatleben der drei Freundinnen Tonja, Ljudmila und Katja. Die drei Frauen ziehen um die Mitte der fünfziger Jahre aus der Provinz nach Moskau und teilen sich ein Zimmer im Arbeiterheim. Alle drei Arbeiterinnen sind mit großen Erwartungen nach Moskau gekommen, und im Unterschied zu den drei jungen Männern aus Chucievs Film wissen sie, wonach sie streben. Sie verkörpern drei unterschiedliche Figurentypen  : Ljuda ist die lebenslustige, oberflächliche Abenteurerin, die einen reichen Mann heiraten möchte, Tonja möchte eine Familie gründen und Hausfrau werden, Katja ist die kluge, zielstrebige Karrierefrau, die studieren möchte. Das Zimmer im Arbeiterheim wird insbesondere Ljuda zu eng, und der Wunsch, ihm zu entfliehen, ist für sie die treibende Kraft – dies umso mehr, als sie weiß, dass in Moskau auch bessere Wohnmöglichkeiten existieren, wie z. B. die Wohnung von Katjas Onkel, einem Professor, in einem der Hochhäuser im Stalinschen Zuckerbäckerstil. Wider Erwarten endet aber Katjas erste und große Liebe tragisch, als der TV-Kameramann Rudol’f erfährt, dass sie von ihm ein Kind erwartet und vor allem, als ihre Lüge auffliegt  : Sie ist nicht Tochter des Professors und wohnt nicht in dessen toller Wohnung, in die der Kameramann vorhatte einzuziehen. So scheint hier wegen knapper Wohnverhältnisse ein Frauenschicksal zugrunde zu gehen. Doch glaubt Moskau, wie der Filmtitel sagt, nicht an Tränen – sondern an Taten. Mit einem match-cut (von der weinenden Katja im Bett des kleinen Zimmers zur aufwachenden Katja im Bett der neuen Wohnung) versetzt uns der Regisseur in die Zeit der siebziger Jahre. Nun wohnt die alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter in einer großen Wohnung in einer der neuen Wohnsiedlungen, und fährt mit dem eigenen Auto zur Arbeit. Dies sind deutliche Zeichen des Wohlstands, den sie ihrer Zielstrebigkeit und harter Arbeit zu verdanken hat  : Die ehemalige Stoßarbeiterin wird Direktorin einer Fabrik. Ihr Glück wird vollständig, nachdem sie in einem Vorortszug Goša kennenlernt, der bald aus seiner Kommunalka in Katjas Wohnung einzieht und die Funktion des Beschützers für Mutter und Tochter übernimmt. Wenn sie glücklich bleiben möchte, muss sich Katja aber der Rangordnung im Geschlechterverhältnis anpassen und Gošas Anspruch akzeptieren  : Er beruft sich diskussionslos auf seine »natürliche« männliche Autorität. So scheint Moskau

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Abb. 6 und 7. Zimmer im Arbeiterheim (links) und Eingangshalle des Wohnhauses des Professors (rechts) in Moskau glaubt den Tränen nicht von Vladimir Men’šov (1979).

vor allem an die Liebe zu glauben, und zeigt, wie eine sowjetische Frau in den 1970er Jahren auf die vollkommene Emanzipation verzichten muss. Der Mythos von Moskau als Hauptstadt der (fast) unbegrenzten Möglichkeiten findet hier seine Fortsetzung. Die Stadt wird zum Schauplatz eines modernen Märchens, welches das gesellschaftliche Verlangen nach materiellem Wohlstand und Konsum reflektiert. Der Film oszilliert zwischen der positiven Darstellung des einfachen Lebens auf kleinstem Raum (inklusive des Hochzeitsfests Tonjas im engen Zimmer des Arbeiterheims) und der dabei entstehenden unersetzbaren Freundschaft zwischen den Protagonistinnen, und dem Drang nach größerem Wohnraum und materiellen Gütern, die für den gesellschaftlichen Aufstieg stehen. Anders werden die Moskau-Bilder am Ende der Perestrojka-Zeit, etwa im Filmdebüt Taxi Blues (Taksi-Bljuz, 1990) von Pavel Lungin (geb. 1949). Dank ihm richtete sich das Interesse der internationalen Filmwelt erneut, wenn auch nur für kurze Zeit, auf das sowjetische Kino.22 Die Aufnahme während einer Autofahrt am Filmanfang vermittelt ein nächtlich-leuchtendes Bild der Metropole mit Feuerwerk, roten Fahnen und feiernden Menschen. In der Eingangssequenz deutet nichts darauf hin, dass wir sehr bald die prachtvolle Kulisse des kommunistischen Paradieses verlassen und uns im Dickicht der schmutzigen Hinterhöfe, der Abfallhalden und der verkommenen Kommunalwohnungen der Metropole befinden werden. Lungin erzählt die Geschichte einer Hassliebe zweier äußerst unterschiedlicher Männer, die sich in dieser Nacht per Zufall begegnen. Taxi-Blues folgt dem wesentlichen Anliegen des Perestrojka-Kinos, der Aufdeckung gesellschaftlicher Missstände. Lungins Film ermöglicht einen Einblick in den Alltag heruntergekommener Menschen, deren Dasein nur noch durch Alkohol einigermaßen erträglich zu sein scheint. Viele der Stadt-Sequen-

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zen sind mit der Handkamera gedreht, auf Totalen und ruhige Panorama-Aufnahmen wird verzichtet. Die typischen Perestrojka-Bilder, die einen Gegensatz zu Ordnung und Normalität markieren, vermischen sich mit Elementen aus dem amerikanischen Action- und dem europäischen Großstadt-Kino. Moskau wird zum Pflaster für Schwarzmarkt, Prostitution und Gewalt  – eine triste Stadtlandschaft im Zentrum der erodierenden sowjetischen Gesellschaft. In dieser Welt, in der nichts mehr zu retten zu sein scheint, bleibt einzig der Blues. Auch im postsowjetischen Russland ist die filmische Stadt Moskau ein wichtiger Indikator für gesellschaftliche und politische Veränderungen. Die schon während der Perestrojka sichtbare Orientierung am westlichen Mainstreamund Genre-Kino findet hier ihre Fortsetzung im Actionfilm, im Krimi oder im Mafia- und Fantasythriller.23 In diesen Filmen, die verstärkt die materiellen anstelle der ideellen Werte thematisieren, ist die Stadt ein Ort der auseinanderklaffenden sozialen Unterschiede und neuer, für das sowjetische Kino untypischer Filmschauplätze. Beispielhaft für die neue Mischung der Genres von Psychodrama, Thriller und Gangster-Film steht an der Schwelle des neuen Jahrhunderts der Film Moskau (Moskva, 2000) von Aleksandr Zel’dovič (geb. 1958), in dessen Drehbuch der Schriftsteller Vladimir Sorokin einige Motive aus Čechovs Drama Drei Schwestern integriert hat. Hier aber träumen die drei Protagonistinnen nicht vom unerreichbaren Moskau, sie (die Mutter Irina und ihre Töchter Olga und Maša) befinden sich bereits im Zentrum der depressiv-lasziven Metropole der neunziger Jahre, deren Lebenstempo von Gewalt, Sex, Sucht, Nachtklubs und Männer-Geschäften geprägt ist. Bei Zel’dovič scheint die lange Tradition der Moskauer Kinoerzählung weggewischt oder gar ausradiert zu sein, die reiche Geschichtskultur der Stadt nimmt man, wenn überhaupt, nur anhand der präsenten Bauten wahr, die aber wie eine Kulisse in einem leeren Filmstudio wirken.24 Hier herrscht »Referenzlosigkeit«  : Die Stadt und ihre Bewohner erscheinen als »glamourös-verkommene Oberflächenphänomene, die jeder Tiefe entbehren, die weder Vergangenheit noch Zukunft haben und die keinerlei politische Projektionen mehr erlauben«.25 Die Leere dominiert ihr Gefühlswie auch ihr Sexleben. In einer Szene im Nebenzimmer der Bar wirft der Protagonist Dart-Pfeile auf eine Europakarte – bewusst auf die Schweiz –, schneidet dann aber mit einem Taschenmesser an der Stelle ein Loch, an der Moskau liegt, und dringt durch dieses in die Protagonistin ein. Die Hauptstadt der »neuen Russen« wird so zu einem Nichts, zu einem Loch, zu einer Leerstelle die zur körperlichen Befriedigung und Entleerung genutzt wird. Man möchte dieser Welt der neuen Moskowiter am liebsten fern bleiben.

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Abb. 8. Moskau von Aleksandr Zel’dović (2000).

Im städtischen Märchen Rusalka  – die Meerjungfrau (Rusalka, 2007) von Anna Melikjan (geb. 1976) tritt anstelle von Sehnsucht nach Moskau ein eher pragmatischer Gedanke  : »Wenn man nicht weiß wohin, dann geht man nach Moskau.« So die innere Rede der jungen Alisa, die früher in der Nähe des Azovschen Meeres lebte und vor allem von der Rückkehr ihres Vaters träumte. Ihre bemerkenswerte Eigenschaft – sie kann Wünsche in Erfüllung gehen lassen – führt zu Katastrophen, wie zu Beginn des Films, als sie ihren Heimatort von einem Hurrikan hinwegfegen lässt. Mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter landet sie dort, wo es die Heimatlosen hintreibt  : im boomenden Moskau. Melikjans Moskau wirkt groß und abstrakt, insbesondere in der eindrucksvollen Szene, in der mittels kaleidoskopischer Highspeed-Montage ein touristischer Blick auf die Sehenswürdigkeiten der pulsierenden Metropole imitiert wird. Moskau erscheint als Bilderrausch, als beinahe fantastische Stadt, in der über die sowjetisch-sozialistische Vergangenheit eine dicke Schicht Kapitalismus aufgetragen zu sein scheint. Die letzten Spuren der alten, grauen Welt, die Fassaden der Hochhäuser, werden mit riesigen Werbebannern verdeckt  : Welche Ironie, wenn einem als Bewohner eben dieser Häuser der Blick nach draußen durch den Slogan »Es ist schön, zu Hause zu sein« versperrt wird. Alisa gewinnt aber ihren freien Ausblick wieder, findet in der Stadt der aufdringlichen Werbeslogans einen Job und begegnet dem Businessman der neuen Sorte. Saša lebt in einem Luxusloft, feiert rauschende Partys und verkauft Grundstücke auf dem Mond – die russische Metropole,

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Abb. 9, 10, 11. Szenen aus Rusalka von Anna Melikjan (2007).

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die das größte Glück verspricht, scheint den reichen Moskowitern zu eng und unattraktiv geworden zu sein. Trotz des erreichten Wohlstands sind viele weder zufrieden noch glücklich. Immer wieder träumt Alisa von einer anderen, mit starken Farben gemalten Welt und rennt durch die Stadt, was wiederum ein positives und freies Lebensgefühl vermittelt. In einer dem Glamour und Konsum verfallenen Großstadtgesellschaft hat eine kleine Märchenfrau aber keine Chance – sie muss ihr zum Opfer fallen. Aus dem Off erklingt als abschließender Kommentar Alisas Stimme, die den eigenen, überraschenden Tod als üblich für eine Megapolis bezeichnet. In der Zeit der patriotischen Kriegs-Blockbuster und Celebrity-Comedies entsteht auch eine Art russische Version von Grease (1978),26 mit dem wesentlichen Unterschied, dass im preisgekrönten Musical Hipsters (Stiljagi, 2008)27 von Valerij Todorovskij (geb. 1962) viel mehr Geschichte und Politik steckt. Formal greift Todorovskij auf die Musicals der Stalin-Ära zurück, porträtiert aber anstelle der hellen, weißgekleideten eine graue Gesellschaft, die mit ihrem Zustand ganz zufrieden zu sein scheint. Die Handlung konzentriert sich auf die Metamorphose eines Jungen  – aus dem braven Komsomolzen Mels (der Name, eine Zusammensetzung von Marx-Engels-Lenin-Stalin, ist Programm) wird die amerikanisierte Transformation des stiljaga Mel.28 Er teilt sich ein Zimmer zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder in einer großen Gemeinschaftswohnung. Stiljagi ist nicht zuletzt ein wunderbares Beispiel für die positive Verklärung der Kommunalka-Vergangenheit  : Hier scheint weder die Enge des Wohnraumes, noch die geraubte Privatsphäre jemanden zu stören. Im Gegenteil leben alle wie in einer großen glücklichen Familie, was die Sequenz einer Kamerafahrt durch die ganze Wohnung am besten zeigt. Todorovskijs Musical ist kein historischer Film, wie ihn der Regisseur selbst gerne bezeichnet, sondern ein Film, der die Moskauer Subkultur der fünfziger Jahre auf eine bunte und lebendige Art und Weise porträtiert. Viele der Stiljagi wurden aus dem Komsomol oder der Universität ausgeschlossen (auch hier gibt es eine solche Szene), viele waren aber Kinder der kommunistischen Nomenklatur und machten später diplomatische Karriere im Westen. Im Film ist dies Fëdor bzw. Fred, der aus den USA seinen Freunden die ernüchternde Botschaft mitbringt, dass sie in Moskau, hinter dem eisernen Vorhang, stärker als ihre westlichen Vorbilder das Hipstertum leben. Im Anklang an die Komsomolzen-Interpretation des Mottos »schneller, höher, stärker« (sil’nee, bystree, vyše) übertrafen die Stiljagi mit ihrem Lebensstil sogar die Teddy Boys. In Todorovskijs Stiljagi wird eine Botschaft aus Aleksandrov’s Zirkus – die Offenheit und Großzügigkeit der UdSSR gegenüber anderen Ethnien, ihre Ak-

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zeptanz des Fremden – wieder aufgenommen, wenn auch ironisch-­sarkastisch gewendet  : Der Großvater nennt sein schwarzes Enkelkind »unseres« und akzeptiert dadurch den Seitensprung seiner Schwiegertochter und ihr uneheliches Kind aus der Affäre mit einem US-Musiker.29 Nachdem der Film über weite Strecken die Segregation einzelner Gesellschaftsschichten und Jugendgruppen thematisiert hat, versetzt Todorovskij seine Protagonisten Mel und Poly am Ende des Films in einer bunten Massenszene auf einer Straße ins Moskau des Jahres 2008, und suggeriert, dass die Akzeptanz des Andersseins offenbar gar nicht mehr in Frage gestellt wird. Der sowjetischen Jugend und der Stiljagi-Bewegung widmet sich auch der Film Gleichgültigkeit (Bezrazličie, 2011) von Oleg Fljangol’c (geb. 1965), der in der Manier des Tauwetter-Autorenkinos gefilmt ist.30 Der Film besteht zu je einem Drittel aus Moskauer Dokumentaraufnahmen der sechziger Jahre und aus Spiel- und Animationsfilm-Szenen. Gleichgültigkeit ist ein Liebesund Banditendrama, zugleich eine Liebeserklärung an die Moskauer Architektur, an das Tauwetter- sowie das italienische neorealismo-Kino. Er ist eine Zusammensetzung aus unterschiedlichen schwarz-weißen Vignetten aus dem Leben unbedeutender junger Menschen, die sich in den Hinterhöfen treffen, durch Moskau schlendern, sich nach Liebe sehnen und in einer Stimmung der Gleichgültigkeit leben. Die Frage nach der konkreten Handlung ist nicht einfach zu beantworten, aber von geringerer Bedeutung – primär sind hier die Stimmung, die Jazzmusik, und vor allem die Stadt selbst.31 So fährt der Protagonist Petja durch die Stadt, um herauszufinden, wo ein Mädchen wohnt. Die Suche nach der Adresse, filmisch auf die Straßenschilder reduziert, ist zugleich eine Topographie der wichtigsten Stiljagi-Orte. Gleichgültigkeit ist ein hoch stilisiertes Bilddokument vergangener Epochen, ein filmisches Palimpsest der sechziger und achtziger Jahre des letzten und der zehner Jahre dieses Jahrhunderts. Aus dem gleichen Jahr stammt auch der Film von Nikolaj Chomeriki (geb. 1975) Des Herzens Bumerang (Serdca bumerang, 2011). Im ständigen Wechsel zwischen dem ober- und unterirdischen Moskau porträtiert er die Moskauer Metro, ihre Passagiere und Angestellten, deren Verbindung der 23jährige Kostja ist. Sein Dasein ist unspektakulär und geordnet  : Er arbeitet als Metrofahrer-Assistent, wohnt bei seiner Mutter, hat eine feste Beziehung und ab und zu trifft er Freunde. Panoramaaufnahmen Moskaus umrahmen die Handlung und vermitteln ein kaltes Bild einer zeitlosen Stadtlandschaft. Die Zukunft scheint ungewiss zu sein, und teilweise fällt es schwer, sich die ausgesprochen statischen, an freeze frames erinnernden Bilder anzusehen. Die wiederholt ein-

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Abb. 12. Massenszene in Hipsters von Valerij Todorovskij (2008).

Abb. 13. Szene aus Gleichgültigkeit von Oleg Fljangol’c (2011).

geblendeten Schneelandschaften widerspiegeln den inneren Zustand des Protagonisten, unterstreichen seine Apathie und Gleichgültigkeit. Die Stadt- und die Naturaufnahmen, in denen die Grenze zwischen schwarz und weiß oft verschwommen ist, erinnern an das Ultraschallbild zu Beginn des Films, als Kostja von seiner unheilbaren Krankheit erfährt. Eine unangenehme Nachricht, die er nur mit uns, dem Filmpublikum, teilt. Die weitgehend monochrom gehaltenen Bilder und die Verschlossenheit Kostjas lassen so einen von Kälte und Leere geprägten Eindruck Moskaus entstehen, der beim Betrachter ein Gefühl des Unbehagens hinterlässt.

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Unangenehm wird es dem Zuschauer auch im cinematographisch tadellos inszenierten Drama Elena (2011) von Andrej Zvjagincev (geb. 1964). Schon zum Beginn des Films wird mittels einer statischen Kamera und langen Einstellungen auf der Bild- sowie auf der Tonebene suspense aufgebaut. Elena ist ein Selbstjustizdrama, das die soziale und die kulturelle Entfernung zwischen den Protagonisten im heutigen Moskau nachzeichnet. Ihre Wohnorte spiegeln ihre soziale Zugehörigkeit  : Es sind zwei entgegengesetzte Wohn- und Weltkonzepte, die Elena miteinander verbindet. Die Vertreterin der (ehemaligen  ?) Mittelschicht lebt zusammen mit ihrem zweiten Mann Vladimir, einem erfolgreichen Geschäftsmann, in einer exklusiven Wohnung in Glam-Downtown-Moskau, besucht aber regelmäßig die Familie ihres Sohnes aus erster Ehe, die in einer chruščevka in einer Industriezone am Rande der Stadt lebt. Der ganze Film spielt fast nur an diesen beiden Orten, die die unterschiedlichen Konzepte von Wohlstand einerseits, von Arbeitslosigkeit und Not andererseits reflektieren. Elena ist ein Film über Klassen- und Generationskonflikte im heutigen, vom Geld regierten Moskau. Universeller und typisch für Zvjagincev als Vertreter des zeitgenössischen russischen Autorenkinos ist das Thema der Familie und die über die Familie legitimierte Gewalt. Düster und hoffnungslos ist auch Vladimir Kotts (geb. 1973) Reflexion über Russland in Gromozeka (2011). Im Sumpf der zeitgenössischen Metropole, insbesondere an ihren Rändern sehnen sich drei langjährige Freunde nach einem Quäntchen Normalität. Als Jugendliche spielten die mittlerweile Vierzigjährigen – Polizist Gromov, Taxifahrer Mozerov und Arzt Kaminiski – in der Band »Gromozeka«.32 Heute treffen sie sich in regelmäßigen Abständen vor einem Karaoke-Großbildschirm oder in der Banja. An einem dieser Erholungsorte, eingerichtet nach zeitgenössischen architektonischen Maßstäben und ausgerüstet mit trendigen Accessoires, treffen sie sich zum Reinigungsritual und versuchen mindestens für eine kurze Zeit, die Tristesse der Außenwelt zu vergessen und Hoffnung auf Normalität zu schöpfen.33 Die Metropole Moskau ist einer der privilegiertesten Orte der sowjetisch-­ russischen Kinoerzählung und schrieb mit ihren facettenreichen Repräsentationen eine hundertjährige Filmgeschichte. Sie ist einerseits das Zentrum der Filmproduktion, andererseits einer der beliebtesten Schauplätze zahlreicher sowjetisch/russischer und ausländischer Filme. Moskaus Karriere als Filmprotagonistin beginnt mit den Stadtsinfonien der 1920er Jahre, die den Alltag illustrieren und den gesellschaftlichen Fortschritt dokumentieren. Von der Rausch- und Avantgarde-Ikone über die Stadtutopien entwickelt sich das filmische Moskau in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre allmählich zu

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Abb. 14. Gromov, Mozerov und Kaminskij in Gromozeka von Vladimir Kott (2011).

einem ideologisch homogenen Stadtbild nach sozrealistischer Doktrin. Das rasante Tempo der architektonischen Veränderungen in der Stadt, die stalinistisch-klassizistisch-imperiale Ordnung sowie die Manipulationen der Stadtbilder im Medium Film führen zu einem Verschwinden der realen Stadt von der Leinwand. Die Metropole wird durch ihre neue symbolische Dimension definiert  : Die Moskau-Stadtbilder spiegeln die ideale Struktur des sozialistischen Universums wider und weisen auf die Stadt der Zukunft hin. Anders fallen dagegen die entstalinisierten filmischen Repräsentationen des Tauwetter-Kinos aus, die die subjektivierten Stadtansichten der Filmemacher und ihrer ProtagonistInnen ins Zentrum rücken. Das Großstadtgefühl dieser Generation ist vor allem ­eines von Freiheit, welches meisterhaft in den Darstellungen des ›unbeschwerten Schlenderns durch die Stadt‹ zum Ausdruck kommt. Das sowjetische Kino kennt auch den Mythos von Moskau als einem Ort des Wohlstandes und Konsums, in welchem Träume (v. a. als Resultat harter Arbeit) verwirklicht werden können. Von einem anderen, zerschlagenen Mythos und von trostloser Ästhetik sind die ungeschönten Moskau-Bilder der Perestrojka-Ära geprägt  : Hier glänzt nur die Fassade, die die schmutzigen Hinterhöfe verbirgt. Im postsowjetischen Kino verliert das Stadtbild seine Einheitlichkeit. Meistens wird Moskau als Raum der Bewegung und Geschwindigkeit, als laute Megacity dargestellt (mittels Fragmentierung der Kamerablicke und Tonvielfalt), seltener als Ort der Stille mit unspektakulären und/oder desto schwierigeren menschlichen Schicksalen (meist mittels langen und fast stummen Einstellun-

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gen). Oft wird das sowjetische Erbe im nationalpatriotischen Gewand mit der neuen kapitalistischen Gegenwart gepaart. Vor allem Letzteres scheint sicher zu sein  : Geld und Macht, Verunsicherung und Bedrohung regieren die von sozialer und kultureller Leere gekennzeichnete Metropole. In der vielfältigen Palette der zeitgenössischen Moskau-Filme wechseln sich so Erklärung und Verklärung der sowjetischen Vergangenheit mit engagierter Kritik gegenüber der ehemaligen und insbesondere der heutigen Gesellschaft ab. Die russische Metropole als Schauplatz politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Umwälzungen und Inszenierungen wird keinesfalls an filmischer Attraktivität verlieren, sondern vermutlich weiterhin die Stadt bleiben, die das russische Kino inspiriert, beeinflusst, aber auch bedingt. Offen und überaus spannend bleibt hingegen die Frage, welche Sujets und Perspektiven in der neuen Moskau-Kinoerzählung noch folgen werden. Anmerkungen   1 Zu unterschiedlichen Beziehungen zwischen Stadt und Film vgl. u. a. Clarke 1997 und Vogt 2001.   2 An dieser Stelle sei noch festgehalten, dass sich in Moskau bereits im zaristischen Russland – d. h. bevor die Stadt erneut zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der UdSSR wurde – eine lebhafte Film- und Filmproduktions-Szene entwickelte (vgl. zum russischen Film im Zarenreich u. a. Engel 1999).   3 Als Prototyp für Stadtsinfonien gilt Berlin  : Sinfonie der Großstadt (W. Ruttmann, DE 1927)  ; zu den weiteren bedeutenden Beiträgen zählen u. a. Manhatta (C. Sheeler / P. Strand, USA 1921) oder Rien Que Les Heures (A. Cavalcanti, FR 1926).   4 Vgl. Rassochin 2009. In Form eines filmischen Reiseführers stellt das Buch zu mindestens 100 Drehorten der Lieblingsfilme des sowjetisch-russischen Publikums Routenangaben vor.   5 Einzigartig sind auch die Aufnahmen auf dem damals noch mit Gras und Stroh bedeckten Roten Platz.   6 Šklovskij schrieb das Drehbuch zu einem weiteren Moskau-Stummfilm  : Ein Haus in der Trubnaja-Straße (Dom na Trubnoj, Boris Barnet, 1928).   7 Zum Kinostart in der UdSSR änderte Sovkino den ursprünglichen Titel (genannt nach dem Originalschauplatz) in Liebe zu Dritt (Ljubov’ vtroëm)  ; im Deutschen und Englischen ist der Film aber vor allem unter dem Titel Bett und Sofa bzw. Bed and Sofa bekannt.  8 Zur Problematik der Gemeinschaftswohnungen in Moskau von 1917 bis 1997 vgl. u. a. Pott 2009.   9 Im Zentrum von St. Petersburg leben heute noch viele Menschen in Kommunalkas. Auf der Webseite http://www.kommunalka.spb.ru/ finden sich in der Rubrik »aus den Filmen« (»iz fil’mov«) einige Szenen (inkl. Transkriptionen) aus bekannten Spielfilmen, die sich dem Thema widmen. 10 Mit dem Ausruf »Es lebt sich jetzt besser, Genossen. Es lebt sich jetzt froher  !« begrüßte Stalin die Stachanov-Arbeiter auf deren erster Allunionsversammlung in November 1935. 11 Grigorij Aleksandrovs Volkskomödien Lustige Burschen (Veselye rebjata, 1934), Volga, Volga

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(1936), Der helle Weg (Svetlyj put’, 1940/41) sowie Der Frühling (Vesna, 1947) thematisieren im Einklang mit der sowjetischen Ideologie die Immigrationsprozesse und die Ruralisierung der Städte. Mit der Ausrichtung der Allunions-Landwirtschaftsausstellung (VDNCh) in Moskau wurde das gesamte multinationale sowjetische Land symbolisch in die Hauptstadt geholt. Die »Pilgerfahrt« in die Stadt wird zum zentralen Thema in Ivan Pyr’evs Die Schweinezüchterin und der Hirte (Svinjarka i pastuch, 1941). 12 Aleksandrovs Neigung zur prachtvollen musikalischen Film-Show ist Resultat seines Aufenthalts in Hollywood, wo er Anfang der 1930er Jahre zusammen mit Ėjzenštejn war. 13 Stalins Vision von Moskau als Zentrum der politischen Macht und moderner Metropole breitete sich auch auf die »wichtigste aller Künste« aus. Geplant waren grandiose Kinopaläste und Studiostädte. So wurde im Herbst 1936 ein Architekturwettbewerb für das »Große Akademische Kino« in Moskau ausgeschrieben, welches den Roten und den Sverdlov-Platz schmücken sollte – gegenüber dem Bol’šoj Theater, architektonisch ähnlich, aber höher und größer, mit 4.000 Sitzplätzen. Unrealisiert blieb auch das Kino im Palast des Sowjets, für welches 20.000 Sitzplätze vorgesehen wurden. Vgl. dazu Bulgakowa 1995. 14 Vgl. die ausführliche Analyse dieser Szene bei Hänsgen 2003, Zitat S. 201. 15 Eine Ausnahme ist der Film Das neue Moskau (Novaja Moskva, 1938) von Aleksandr Medvedkin (1900–1989), in welchem das rasant-märchenhafte Tempo der architektonischen Veränderungen in der Metropole mit Ironie dargestellt wird. 16 Die Epoche wurde nach dem gleichnamigen, 1954 erschienenen Roman Tauwetter (Ottepel’) von Il’ja Ėrenburg benannt. 17 Eines der wichtigsten Merkmal des Tauwetter-Kinos ist die fruchtbare Zusammenarbeit verschiedener Generationen, die sich  – wie nie zuvor und nie danach  – gemeinsam für eine grundsätzliche Erneuerung ihres Filmschaffens einsetzen  : die Vertreter der alten Garde, deren Werdegang bereits in den späten 20ern begann (Fridrich Ėrmler, Michail Romm, Michail Kalatozov), sowie der jungen Generation der 60er Jahre (Larisa Šepit’ko, Kira Muratova, Andrej Končalovskij, Andrej Tarkovskij). Marlen Chuciev zählt zur sog. mittleren Generation von Filmautoren, die ihr Studium zu Beginn des 2. Weltkriegs gerade abgeschlossen hatten oder beginnen wollten (u. a. Grigorij Čuchraj, Michail Švejcer). 18 Die längere Filmfassung wurde 1962 unter dem Titel »Il’ič’s Stadttor« (Zastava Il’iča) fertiggestellt, musste aber bereits im März 1963, wegen der direkten Kritik Chruščevs, überarbeitet und gekürzt werden. Ein Dorn im Auge waren den Kritikern insbesondere die Skepsis der Söhne gegenüber der Vorbildfunktion der Vätergeneration und die »leeren« Gespräche der »ziellosen« Jugend. Ihr Zeitvertreib wurde als »gesellschaftlich nutzlos« und der Film im allgemeinen als »Matsch, Schlamm und Nässe des Tauwetters« abgestempelt. Nach den Zensureingriffen ging der Film 1964 als gekürzte Version in den Verleih. Chuciev rekonstruierte den Film erst während der Perestrojka 1987–88. 19 Mit der Generationen-Thematik konfrontiert Ich bin zwanzig Jahre alt den Zuschauer bereits in der Eingangssequenz, in der ein nahtloser Übergang zwischen den im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten und damit der Vätergeneration und der Generation der Nachgeborenen, der Moskauer Jugend stattfindet. In einer (geträumten) Gesprächssequenz zwischen Vater und Sohn gegen Ende des Films beschäftigt den jungen Arbeiter Sergej, der gerade seinen Armeedienst hinter sich gebracht hat, dass er jetzt älter ist, als es sein im Großen Vaterländischen Krieg gefallener Vater geworden war. Während er seinen Vater idealisiert, sehen die anderen in der Vätergeneration leeres Geschwätz und eine Verklärung Stalins. Im Traumgespräch kann der Vater dem Sohn nicht helfen, er verweigert ihm den Rat mit Hinweis auf seine Jugend.

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Tatjana Simeunović

Diese Szene –  wie auch die Party-Szene der privilegierten Moskauer Jugend  – löste heftige Kritik aus und fiel der Zensur zum Opfer. 20 Legendär ist die Sequenz der Dichterlesungen im Polytechnischen Museum in Moskau, an denen die damals aufstrebende Dichtergeneration, angeführt von Bella Achmadulina, Andrej Voznesenskij und Evgenij Evtušenko, teilnahm. Die Protagonisten besuchen auch die Kunstausstellung in der Moskauer Manege, wo Chruščev gegen moderne Kunstwerke ausfällig wurde. Bedeutsam ist auch die Partysequenz, in der die junge Garde des sowjetischen Kinos zu erkennen ist, u. a. auch der junge Andrej Tarkovskij. 21 Die allerletzte Einstellung greift jedoch die Problematik der individuellen Identitätsfindung, die in eine Alltagsrealität (jenseits des Heroismus) eingebunden ist, auf  : Das Bild zeigt Moskau aus der Vogelperspektive, und aus dem Off verkündet eine unbekannte Stimme, dass wieder Montag sei. 22 Der Film wurde als sowjetisch-französische Koproduktion realisiert und gewann am Internationalen Filmfestival in Cannes den Preis für die beste Regie. 23 Die neuen Strömungen reflektieren u. a. die Filme von Aleksej Balabanov Bruder (Brat, 1997) und Bruder 2 (Brat 2, 2000) sowie die ersten postsowjetischen Blockbuster von Timur Bekmambetov Wächter der Nacht (Nočnoj dozor, 2004) und Wächter des Tages (Dnevnoj dozor, 2005). Vgl. dazu Eva Binder 2012 und zu letzteren die Beiträge von Tomáš Glanc und Thomas Grob in diesem Band. 24 Diese Leere der kulissenhaften Metropole, die offenbar nur noch vom Geld geprägt und ihrer symbolischen Bedeutung vollständig beraubt ist, kommt am besten in der Bootsfahrt-Szene von Ol’ga und Lev zum Ausdruck. 25 Vgl. die ausführliche Filmanalyse von Wurm 2012, hier S. 136f. 26 Der USA-Filmklassiker von Randal Kleiser basiert auf dem gleichnamigen Broadway-Musical aus dem Jahr 1971. 27 »Stiljagi« (von ›Stil‹, russ. stil’) ist die russische Bezeichnung für »Teddy Boys«, »Moods«, »Hipsters« oder »Halbstarke« und steht für eine Undergroundbewegung in der UdSSR von den späten 1940er bis in die frühen 1960er Jahre. Die Stiljagi orientierten sich musikalisch, filmisch sowie mit ihrer bunten Kleidung und ausgefallenen Frisuren auch modisch am Westen, insbesondere an den USA, weshalb sie sich auch »štatniki« nannten. 28 Mels verdankt seine Transformation einem Mädchen namens Poly bzw. Pol’za (auf Deutsch »Nützlichkeit«), deren Name von »POmnim Lenina ZAvety« (»erinnern wir uns an Lenins Gebote«) abgeleitet ist. Um Polys Herz zu erobern, lernt Mel richtig tanzen, dann Saxophon spielen, und er lässt sich vom Kleidungs- und Lebensstil der Stiljagi begeistern. 29 In der bereits erwähnten Kommunalka-Sequenz sehen wir in einer Rückblende, wie der Vater als Kriegsrückkehrer die eigene Ehefrau, die Mutter von Mel, wegen einer Affäre aus dem Zimmer wirft. Ihre Untreue machte aus ihr eine Verräterin des Partisanentums, des sozialistischen Heldentums und letztlich auch der »Mutter Heimat«. 30 Der damals 23jährige Fljangol’c schrieb das Drehbuch und begann mit den Dreharbeiten bereits 1989, beendete seinen Film aber erst 2011. In der Zwischenzeit wurden seine Schauspieler Fëdor Bondarčuk und Aleksandr Baširov zu russischen Filmstars, während Fljangol’c die Regie von vielen Musikvideos und einen Rockumentary über Viktor Coj verantwortete. 31 Der Film lässt sich als Hommage insbesondere an Chucievs Meisterwerk Ich bin zwanzig Jahre alt interpretieren. 32 Der Bandname und der Filmtitel sind zugleich Kotts Refferenz auf den »Archäologieprofessor Gromozeka« – eine bekannte Figur aus den sowjetisch-phantastischen Kindergeschichten über

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»Alisas Abenteuer« (Priključenija Alisy) von Kir Buličev, die in mehreren Trickfilmen dargestellt wurde. 33 Die Außenwelt wird aber auch gerne äußerst glamourös präsentiert, wie z. B. im Film Duchless (2012) von Roman Prygunov (geb. 1969). Dies ist eine Verfilmung des gleichnamigen Bestsellerromans von Sergej Minaev (erschienen 2006), entstanden in Koproduktion mit Universal Pictures. Der 30jährige Ich-Erzähler Max, ein attraktiver Businessman der neuen Generation und Vorzeigebeispiel des luxuriösen Moskauer Lifestyles, verändert sich schlagartig, als er die 19jährige Studentin Julia trifft und sich wünscht, dass in seiner Stadt bzw. in seinem Land »alles normal wird«.

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Tomáš Glanc

Das Verschwinden Moskaus Literarisch-künstlerische MoskauImaginationen der Gegenwart

In der gegenwärtigen russischen Kultur begegnet man dem Bild der Weltmetropole am gleichnamigen Fluss (Moskva-reka) häufig, und sie tritt nicht nur als natürliche Kulisse literarischer oder künstlerischer Schilderungen auf, nicht nur als passiver Schauplatz eines fiktiven Geschehens, sondern auch als Akteur, als »Handelnder« – und dies sowohl als Agens wie als Patiens, als Subjekt und Objekt gleichzeitig. Eine traditionelle Variante der Stadtanalyse, wie sie Abb. 1  : Ohne Titel. Installation von Pavel Puchov aka P183 etwa in Vladimir Toporovs Konzept (2009). des »Petersburger Textes« (Toporov 1984) kanonisiert wurde, orientiert sich am Text  : Die Stadt wird als Objekt einer Lektüre gezeigt.1 Dies tut auch Karl Schlögel in seinem hinreißenden Buch Moskau lesen (Schlögel 1984 / 2011), in dem der Historiker mit archäologischem Blick auf Stadtpläne, Telefonbücher und Alltagsdokumente unterschiedlichster Art die Stadt kulturhistorisch lesbar gemacht hat  ; für die neue Ausgabe erweiterte er sein Werk um eigene Notizen und Beobachtungen bis in das Jahr 2010, in denen er eine persönliche Optik artikuliert. Ein weiterer, heute bereits kanonisch zu nennender Zugang sieht die Stadt (am Beispiel von Paris) als Trägerin eines spezifisches Bewusstseins (Stierle 1993). Ein Teil der zeitgenössischen Moskau-Wahrnehmung geht einen anderen Weg. Sie zeigt die Stadt performativ, als Trägerin von Rollen, Erwartungen, Enttäuschungen und Irritationen, aber auch eines Widerwillens, der an die Stadt als Repräsentantin einer bestimmten, wenn auch vielfältigen Position ge-

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richtet ist. Besonders relevant scheint dabei die Aufmerksamkeit gegenüber der Materialität der Stadt zu sein – an Stelle symbolischer, ideologischer oder geopolitischer Ordnungen treten konkrete, gegenständliche Einzelheiten in den Vordergrund. Die dicht bevölkerte Hauptstadt Russlands, das verachtete oder bewunderte Machtzentrum, der Brennpunkt postsowjetischer Migration, der Ort frenetischer Bautätigkeit und extremer ökonomischer Kontraste, des intensiven Lebens unterschiedlichster Gesellschaftsschichten, der Gemeinschaften und Subkulturen erscheint auch als Agens, als treibende, wirkende Kraft, als Handlungssubjekt. Als eine spezifische Variante dieses Handelns, und dies wird uns im Folgenden besonders beschäftigen, sind die verschiedenen Facetten des Verschwindens zu sehen, die Inszenierung einer Eliminierung der Stadt oder einiger ihrer Rollen, z. B. derjenigen der Hauptstadt. Die aktive und gleichzeitig phantastische Rolle, die der Stadt Moskau zugeschrieben wird, hat ihre Wurzeln nicht zuletzt in der Mythopoetik der ehemaligen Hauptstadt Petersburg, deren realitätsferne, künstliche, ja willkürliche, geheimnisvolle und auch bedrohliche Existenz in den literarischen Texten, die Vladimir Toporov als »Petersburger Text« bezeichnete, zur Standardkategorie der Kultursemiotik geworden ist.2 Die Komplementarität von Moskau und Petersburg wurde in der postsowjetischen Periode noch einmal besonders brisant  : Die neue Epoche veränderte die (Haupt-)Stadt stark, und dies rief neue Interpretationen ihrer Bedeutung, ihres Status und ihrer Wirkung hervor. Der Lyriker Michail Ajzenberg ist einer der bekanntesten Vertreter der zeitgenössischen russischen Lyrik. Bis zum Ende der Sowjetunion konnte er fast nur im Samizdat publizieren, doch in den 1990er Jahren formulierte er programmatische Positionen bezüglich der zeitgenössischen, postmodernistischen Poesie – dies vor allem als Verfechter des »lebendigen Wortes« bzw. der »lebendigen Sprache« in der Polemik gegen den Konzeptualismus.3 In Ajzenbergs Moskau-Gedicht »Das Leben geht vorwärts, stählt aber nicht« (Žizn’ idet, nikak ne zakalit, 2003) ist das alte Moskau verschwunden, und die Um- und Neukodierung der Stadt wird durch ein generelles Pathos der Irritation und des Verschwindens gerahmt. Жизнь идет, никак не закалит. Обернешься – и уже на взводе. У Москвы теперь кустарный вид: всё в пыли, обновки в позолоте. Почему гуляющий всегда застает их в неудобных позах?

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Расселилась новая орда, обживаясь в каменных обозах. Хорошо, что память коротка. А не то заставь себя пинками что попало продавать с лотка жить с волками разводить руками. (Ajzenberg 2003) Das Leben geht vorwärts, doch stählt es nicht. / Du drehst sich um und bist bereits geladen. / Moskau sieht jetzt gebastelt aus: / alles staubig, die Neuanschaffungen vergoldet. // Warum ertappt sie der Spazierende / immer in unbequemen Posen  ? / Eine neue Horde siedelte sich an, / in steinernen Wagenzügen Wurzeln schlagend. // Gut, dass das Gedächtnis kurz ist. / Sonst müsstest du dich mit Fußtritten zwingen / irgendetwas auf der Straße zu verhökern / mit den Wölfen zu leben / ratlos mit den Schultern zu zucken.4

Die erste Zeile, die behauptet, dass das Leben unaufhörlich weitergeht, spielt mit dem Bild der nicht stattfindenden Aushärtung auf ein ehemals programmatisches Motiv der sowjetischen Literatur an, auf die Metapher des Härtens des Stahls in Nikolaj Ostrovskijs Wie der Stahl gehärtet wurde (Kak zakaljalas’ stal’, 1932). In der stalinistischen Ideologie – aber auch heute wieder unter Putin – spielen die Härte und die damit verbundene Stabilität eine prominente Rolle. Nicht nur das Regime Stalins (und des Stahls im Sinne des Romans von Ostrovskij), sondern die auf ihn folgenden sowjetischen Regimes insgesamt tendierten zu einer durchorganisierten, stabilen Hierarchie, zur Inszenierung einer Harmonie, zur »Festung des Sozialismus«, wie der verbreitete Slogan hieß. Für die frühe postsowjetische Zeit gilt das genaue Gegenteil, und nicht zufällig meint Vladimir Papernyj in seinem Aufsatz »Moskau als Bewusstseinstyp« (Moskva kak tip soznanija  ; Papernyj 2004, 106–135), dass in dieser Stadt »alles plastisch und instabil sei«.5 Ajzenbergs lyrisches Subjekt schafft es nicht einmal, sich umzuwenden (oberneš’sja) – es wird sogleich nervös, aufgebracht, irritiert (na vzvode). Für diese Erregung gibt es einen Grund  : die Labilisierung, von der nicht nur die Subjekte, sondern auch die Objekte betroffen sind. In diesem Gedicht wird nicht nur der Beobachter der veränderten Stadt labil, sondern die Stadt selbst. Sie erhält ein improvisiertes, vom Straßenhandel geprägtes Aussehen (kustarnyj vid), der neue Herr der Stadt ist Bastler, Wanderarbeiter und Hausierer  ; das

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Resultat seiner Tätigkeit sind Staub, die billige, für die staatstreue orthodoxe Kirche typische Vergoldung und die »obnovki«, schnell besorgte, minderwertige Neuanschaffungen. Das gebastelte Aussehen steht für eine provisorische Materialität in der neuen urbanen Landschaft mit ihren Kiosken, unordentlichen Bauarbeiten, willkürlichen Marktplätzen. In einem anderen Gedicht (»Hier gibt es einen Sonder-, einen Doppeltarif« / »Zdes’ tarif osobennyj, dvojnoj«, 2004  ; Ajzenberg 2008, 20) erscheint im Zusammenhang mit dem neuen Moskau der Ausdruck des »falschen Pfandscheins« (lipovaja zakladnaja). Er lässt die Stadt nicht geologisch oder metaphysisch instabil erscheinen, wie das bei Sankt-Petersburg oft der Fall ist, sondern ökonomisch und materiell. Die Leute, die im Gedicht »Das Leben geht vorwärts, stählt aber nicht« die neue Ordnung regieren, werden als »Horde« (orda) bezeichnet – eine Anspielung an die ›Goldene Horde‹ der mongolischen Reiternomaden, die im Mittelalter Russland beherrschten –, als umherziehende wilde Bande (das türkische »ordu« bedeutete ursprünglich »Feldlager«). In der letzten Strophe folgt dann die mnemonische Konsequenz des Desasters  : Das lyrische Subjekt des Gedichts, der Beobachter der Umwandlung der Stadt verabschiedet sich von seinem eigenen Gedächtnis. Resignierend verzichtet er auf jeden Widerstand gegen das drohende Verhängnis, und er ist in einer ironischen Formulierung sogar froh, dass sein Gedächtnis kurz und mangelhaft ist. Zum Kulminationspunkt dieser Resignation wird die Geste des Schulterzuckens.6 Das Debakel (eigentlich die plötzliche Auflösung der Stadt) ist geschehen, und Moskau ist nicht mehr Moskau, sondern eine neue Formation, über die der Beobachter konsterniert einen Bericht verfasst. In Ajzenbergs Gedicht findet ein Akt der poetischen Extinktion statt, wobei diese Extinktion als pathologisches Phänomen zu verstehen ist, bei dem der Patient einen Reiz ausblendet, ihn ignoriert oder gar nicht wahrnimmt. Ajzenbergs Moskau erscheint statt als lebendige, hyperaktive Stadt in einem komatösen Zustand, was sich auch im oben genannten Gedicht »Hier gibt es einen Sonder-, einen Doppeltarif« findet  : Hier schlafen die Stadt (»i stolicu snova tjanet v son«) wie auch der Fluss Moskva (»spit reka«), während die Luft den Charakter des Unbekannten annimmt (neznakomyj vozduch). Die Stadt hört auf zu existieren, und das lyrische Subjekt löscht sein Moskau aus dem Gedächtnis. Es geht hier nicht um ein poetisches Instrumentarium der Nostalgie oder der Erinnerung, sondern um eines der Apathie und der Resignation. Die Stadt gibt es nicht mehr, und übrig blieb letztlich nur das erwähnte Schulterzucken. Die Betonung der Irritation, der Labilität und der Destruktion, des Verschwindens der ehemaligen Stadt wirkt um so frappierender, als der Duktus von Ajzenbergs poetischer

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Sprache diese Semantik gar nicht unterstützt. Im Gegenteil ist sein Stil ruhig, achtsam und umsichtig  : die pointierten Sätze sind gereimt, mit Wortwitz lassen sie tiefere Schichten der Sprache entdecken. Verarbeitet wird hier die prinzipielle Resistenz gegen die falsche, instabile und oberflächliche Realität. Die Vision der Stadt als Transit-Zone, dominiert von Kleinhandel, billigen Materialien und Provisorien, charakterisiert auch die Werke von Irina Korina, einer erfolgreichen Installationskünstlerin aus Moskau. Sie thematisiert die Stadt nur indirekt, betont aber in ihrer Sicht auf den postsowjetischen Alltag das Konglomerat aus Tand, Sehnsucht, Angst7 und ungeschickter Großartigkeit und damit die gleiche Labilität, die auch bei Ajzenberg zentral ist. Das Werk Die synkretische Hütte (Sinkretičeskaja izbuška, 2012) zum Beispiel zeigt, wie die Künstlerin die urbane Wirklichkeit als wilde und zufällige Mischung wahrnimmt, als Verbindung unwahrscheinlicher Kombinationen, die eine Differenzierung oder gar Hierarchisierung nicht (mehr) ermöglichen, weil ein Auswahlprinzip fehlt  :8 die materielle Gegenwart erscheint in der Form eines heterogenen Wirrwarrs. Viele Autoren der 1990er und vor allem der 2000er Jahre imaginieren, dass es in der Zukunft die Stadt Moskau nicht mehr geben könnte, dass sie durch gewaltige Transformationen zur Unkenntlichkeit verändert wird oder ihren Status als Hauptstadt Russlands verliert. Die Bedeutung und die Semantik der (Haupt-)Stadt Moskau wurden während der Sowjetzeit oft hyperbolisiert, und dies keineswegs nur aus linientreuer Perspektive. So schrieb der Dissident, Soziologe, Logiker und Schriftsteller Aleksandr Zinov’ev nach seiner Emigration aus der UdSSR Anfang der 1980er Jahre, dass es auf der Welt nur eine Hauptstadt gebe, nämlich Moskau  : Moskau sei nicht einfach nur die Hauptstadt eines Staates, sondern die Hauptstadt der Geschichte. Für Zinov’ev kam es dem Herausfallen aus der Geschichte gleich, Moskau zu verlassen.9 Die symbolische Macht der Stadt, ihr außerordentlicher Status als Machtzentrum ist nicht nur das Ergebnis von Propaganda. Analoge Darstellungen erscheinen auch bei Autoren wie Andrej Monastyrskij, die Moskau als Ausdruck von Autorität und Einflussnahme aus der Distanz einer konzeptualistisch inszenierten Kulturwissenschaft oder Para-Kulturwissenschaft betrachten und sie als unpersönliche, abstrakte, ewige Himmelshierarchie, als eine spirituelle Konstellation wahrnehmen. So beschreibt Monastyrskij in seinem Essay »Die Ausstellung der Volkswirtschaftlichen Errungenschaften der UdSSR – die Hauptstadt der Welt« (VDNCh – stolica mira, 1986, 1998) das bekannte Moskauer Ausstellungsgelände VDNCh, das die Leistungsstärke der sowjetischen Planwirtschaft demonstrieren sollte, aus einer schizoiden (der Untertitel heißt »Šizoanaliz«, d. h. Schizoanalyse) und mythologischen Perspektive. Die ursprünglich stalinistische Allunions-Land-

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wirtschaftsausstellung steht für eine extreme Konzentration der symbolischen Macht, die gleichzeitig archaische spirituelle Matrizen (unbewusst) aktualisiert. Diese Fassung wurde später während und nach der Perestrojka erschüttert – die VDNCh-Pavillons sind längst ausgeräumt und als Marktfläche vermietet. Als postsowjetisch paranoide Fortsetzung dieser literarischen Denkweise, die Moskau als Zentrum eines Mythos konzipiert, können die Unterhaltungsromane von Sergej Luk’janenko und ihre Verfilmungen gesehen werden, etwa in seinem bekanntesten Roman Wächter der Nacht (Nočnoj dozor, 1998), einer Erzählung über die Gewalt und überirdischen Kräfte von Magiern, Gestaltenwandlern und Vampiren, die sich gegen die Bevölkerung verschwören. Die Welt dieses Romans ist dichotomisch angelegt  : Die Vertreter des Lichts sind die Wächter der Nacht, die Vertreter der Finsternis die Wächter des Tages. Das Zentrum beider Organisationen ist die Stadt Moskau, deren weltweite Bedeutung sich letztlich aus dem sowjetischen Mythos der globalen Vormachtstellung der Metropole ableitet  : die beiden Kräfte, die des Lichts und die der Finsternis, haben die Welt unter sich aufgeteilt und regieren so von Moskau aus das Universum. Geopolitische beziehungsweise geosophische (J. K. Wright)10 Debatten der 1990er Jahre schlagen ganz ernsthaft eine neue Hauptstadt Russlands vor. Die Protagonisten dieser Diskussionen waren nicht nur marginale oder extremisti­ sche Phantasten aus dem Lager der populär gewordenen Euroasiatischen Akti­ visten  ;11 darunter waren auch bekannte Journalisten und Politologen wie etwa der Chefredakteur der einflussreichen Zeitung Nezavisimaja gazeta (1990– 2001), Vitalij Tovievič Tret’jakov, mit seinem Aufsatz »Der letzte Sprung in die Zukunft« (Tret’jakov 2000). Der Artikel wurde dem »Rat für Außen- und Verteidigungspolitik« (Sovet po vnešnej i oboronnoj politike) vorgetragen. Als Vorteile der Abschaffung der Hauptstadt Moskau werden darin drei Schwerpunkte genannt  : der ökonomische und der politische Profit, vor allem aber der Kampf gegen den Hauptfeind der russischen Zivilgesellschaft, nämlich die Moskauer Hauptstadt-Bürokratie, die als fundamentale Bedrohung für die moderne Geschichte Russlands gedeutet wird. Mit der Begründung, dass sich die zukünftige russische Zivilisation in Richtung Pazifik und Asien entwickeln werde, wird argumentiert, Russland solle sich dem Trend anpassen und im Osten, im Ural oder in Sibirien, eine neue Hauptstadt aufbauen. Von einer kommenden pazifischen Zivilisation träumte auch der Politikwissenschaftler und Globalisierungskritiker Aleksandr Panarin, Träger des Solženicyn-Preises (2002). Für ihn war die Machtverschiebung vom Atlantik zum Pazifik evident, und er bestand deshalb auf der Notwendigkeit eines entsprechenden Umzugs der Hauptstadt als politisches wie als geistiges Zentrum

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nach Osten  – dies mit dem Argument, dass die Hauptstadt nur durch eine geographische Verschiebung ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Ost und West wahrnehmen könne (Panarin 1998, 177). Symptomatisch ist, dass diese sich neu konstituierende ›Polittechnologie‹ keine Antwort auf die implizite Frage gab, was mit der entleerten, machtlosen, ›vertriebenen‹ Stadt Moskau nach dem Hauptstadtwechsel geschehen sollte. Das Problem der entmachteten Stadt ist auch Thema in anti-utopischen literarischen Zukunftsschilderungen. Tatjana Tolstajas Roman Kys’ (Kys, 2000) spielt 200 Jahre nach einer großen Explosion, und die Hauptstadt wurde inzwischen mehrfach umkodiert, ihr Name wiederholt geändert  – in der Gegenwart des Romans heißt sie nach dem aktuellen Diktator Fedor-Kuz’mičsk. Ein postapokalyptisches Verschwinden Moskaus schildert auch der dystopische Roman Metro 2033 (2007) von Dmitrij Gluchovskij. Die Handlung spielt in einem künftigen, gleichsam verschwundenen Moskau, dessen oberirdischer Teil nach einem Atomkrieg unbewohnbar geworden ist, weshalb die Menschen gezwungen sind, in den Metrotunnels zu leben.12 Die Publizistik zu Anfang der Putin-Ära generierte, ähnlich wie die avantgardistischen Initiativen in der Anfangszeit des bolschewistischen Regimes in den frühen 1920er Jahren, urbane bzw. geosophische Phantasmen – Zukunftsvisionen, die eigentlich dem Bereich der (konstruktivistischen) Kunst zugeschrieben werden können, künstlerisch-intellektuelle Spekulationen, die eine fiktive Realität produzieren. Dies zeigt sich anschaulich am Vergleich zwischen den oben genannten Plänen für eine neue Hauptstadt und dem Projekt »Stadt Russland« (Gorod Rossija, 2007) des Künstlers und Schriftstellers Pavel Pepperštejn, der nicht zufällig in seinem Zeichnungszyklus die Ästhetik der revolutionären Avantgarde hervorhebt. Auch bei Pepperštejn hört Moskau als Hauptstadt auf zu existieren. Der Grund ist vorerst der Denkmalschutz  : In Moskau verschwinden Altbauten, viele historische Gebäude werden niedergerissen, die Ideologie des neuen Staats braucht Möglichkeiten und Raum für die Selbstpräsentation. Pepperštejn schlägt in seinem urbanistischen Phantasma vor, zu diesem Zweck eine neue Stadt aufzubauen, auf halbem Weg zwischen den beiden aktuellen Metropolen Moskau und Petersburg. Die neue Stadt soll Rossija heißen und als unbegrenzte Projektionsfläche für das unersättliche Establishment und seine kreative Megalomanie dienen. Die Stadt Moskau kann hier nur gerettet werden, wenn sie verlassen wird. Zu Pepperštejns Konzept gehört auch ein gestalterischer Vorschlag für eine futuristische Siedlung, und als Inspiration dient die russische Avantgarde, da sie die russische Kultur und auch die Kulturpolitik weltweit berühmt und unverwechselbar gemacht hat.

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Abb. 2, 3, 4. Pavel Pepperštejn, Illustrationen aus dem Projekt »Stadt Russland«. 1  : »Schwarzer Kubus (Malevich Tower)«, 2007  ; 2  : »Kandinsky Tower (Gebaut 2087)«, 2007  ; 3  : »Schwebender Erinnerungs-Felsen«, 2007.

So würden die schöpferischen Ambitionen der Macht die reale Stadt Moskau verschonen, da sich in der neuen Stadt Rossija genügend kreative Möglichkeiten anböten. In Rossija werden zuerst die Prinzipien der a-mimetischen Farblehre und die geometrischen Ansätze des russischen Modernismus im Kandinsky Tower (gebaut 2087) und im Schwarzen Kubus (2042, auch Malevich Tower genannt und als Siedlung der russischen Regierung konzipiert) umge-

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setzt. Die Grenzen der Physik werden durch den Fallenden Skyscraper (2099) thematisiert. Aber die Ideologie der Zukunft appelliert auch an ältere russische Topoi und Traditionen  : So entstehen die Skyscraper-Gruppe Chorovod (der Reigen), der Berg-Skyscraper P’janica (der Trinker) oder – als Anspielung an Nikolaj Fëdorovs skurrile Philosophie »der gemeinsamen Sache« (filosofija obščego dela) und seine Theorie der »Auferstehung der Väter« – eine Antenne für die Kommunikation mit den Verstorbenen, ein fliegender Gedenk-Felsen mit Porträts russischer Leader oder eine Kugel der russischen Geistigkeit (Šar russkoj duchovnosti). Pepperštejns Projekt hat mehrere Schwerpunkte. Die Allianz der Kunst mit der politischen Macht, ein uraltes Thema der Kunstgeschichte, ist hier futurologisch wie auch futuristisch gestaltet, und es erscheinen Motive aus dem russischen Zaubermärchen wie goldene Schlösser oder unterschiedliche Varianten einer unwahrscheinlichen Architektur. Sie sind in einem Gestus der psychedelischen Illustration dargestellt, in dem einzelne Aspekte einer bestimmter Erzählung (in diesem Falle die visuelle, architektonische Gestaltung einer künftigen staatlichen Identität) als materialisierte Phantasmen erscheinen, als märchenhafte Grundlage der russischen Wirklichkeit, als Spiel mit der Dimension (die Bauten sind immens), als metaphysische Kugel, die durch geheimnisvolle, unlesbare russische Mythen und Spiritualität jede empirische Wirklichkeit transzendiert. Implizit geht es auch um ein Moskau, das vom Druck staatlicher Ideologie und vom russischen Neokapitalismus befreit werden muss. Diese urbane Imagination hat alte Wurzeln – Moskau stand früher, b­ esonders im Vergleich mit dem streng organisierten Petersburg, für die Freiheit, hier herrschten nicht die Adligen und die Bürokratie, sondern die selbständige Kaufmannschaft, Moskau war eine heilige Stadt, das Neue Jerusalem und das Dritte Rom (Sazonova 2006, 363f.). Die Konsequenz dieser heiligen Dimension der Stadt, aber umgekehrt auch ihre Voraussetzung, sind ihre verborgenen, unsichtbaren Schichten. Gerade die Übergangsperioden akzentuieren diese labile Grenzsemantik, obwohl nicht in einer spirituellen, sondern vielmehr in einer politischen Betrachtung.13 Während des sowjetischen Regimes etablierte sich eine komplementäre Doppelstruktur. Aus der offiziellen Stadt, die durch Zensur, Kontrolle und Ideologisierung geprägt war, konnte man in ein »unsichtbares«, privates, inoffizielles, verborgenes Moskau verschwinden, wo eine vollwertige parallele Wirklichkeit existierte. Diese alternativen Welten verfügten über eine hohe Stufe der Autonomie, obwohl es immer auch Übergänge gab. Die mehrschichtige urbane Konstellation, in der die einzelnen Realitätsschichten sich nebeneinander oder aber auch ineinander entwickelten, weist eine lange (und natürlich

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nicht nur spezifisch russische) Tradition auf. Das Schwellenpotenzial der postsowjetischen Konstellation knüpft in seiner Untergrund-Thematik vor allem an frühsowjetische Motive an. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre wurde der Moskauer Untergrund sorgfältig durchsucht, man hoffte, die verborgene Vergangenheit archäologisch entziffern zu können. Später wurde die Metro zum Schnittpunkt des technologischen Fortschritts mit einer neuen sowjetischen (Para-)Spiritualität.14 In den unterirdischen Räumlichkeiten des Kreml’-Areals sollte auch die verlorene Bibliothek von Ivan IV., dem ›Schrecklichen‹ (1530– 1584), dem ersten Großfürsten von Moskau, der sich zum Zaren von Russland krönen ließ, gefunden werden. Eine literarische Spur dieser Suche findet sich im Roman Unterirdisches Moskau (Podzemnaja Moskva, 1925) des Schriftstellers Gleb Alekseev, der 1938 als Opfer des stalinistischen Terrors umgebracht wurde. In seiner prosaischen Skizze vermischt Alekseev historische Namen und Fakten mit fiktionalen Legenden und Beschreibungen  ; das Motiv des Verschwindens ist dabei zentral. Es verschwindet allerdings nicht die ganze Stadt Moskau, sondern Ivans Bibliothek, die die sichtbare Stadt desavouiert, weil sich das Wichtigste anderswo befindet, außerhalb der empirischen Realität der aktuellen Stadt, in einer anderen Logik, in der geheimnisvollen Geschichte, die man retrospektiv nicht rekonstruieren kann. Moskau ermöglicht und begleitet, ja verursacht vielleicht diesen Akt des Verschwindens der Bibliothek. In diesem Moskau-Bild herrschen Gewalt und Grausamkeit vor, Menschen verschwinden so einfach wie Objekte  : Ivan habe alle Menschen vernichten lassen, die beim Vergraben seiner riesigen Bibliothek beteiligt waren.15 In dem kurzen Roman wird der Bücherschatz zwar wiedergefunden, gleichzeitig aber wird der Fund sofort als ein Hirngespinst abgetan. Eine Analogie zwischen Ivan IV. und Stalin – die Sergej Ėjzenštejn 1944 in seinem Film Ivan der Schreckliche (Ivan Groznyj, 2. Teil, 1948) herstellen wird – lässt sich auch in der seltsamen Skepsis gegenüber der irdischen Realität erkennen. Ivans Aktivität im Untergrund war zukunftsgerichtet, da er davon ausging, dass sich seine Schätze unter der Erde sichern lassen würden (was sich aber nicht bewahrheitete  – die Bibliothek wurde nie wieder gefunden). Im Stalinismus war ein Drang in die Höhe und in die Tiefe zu erkennen  : In Moskau wurde viel gebaut, die Stadt wurde dezidiert als ideologische Projektionsfläche konzipiert, doch die wichtigsten, echten Prachtstücke waren auf einer horizontalen Ebene unzugänglich. Einerseits sind sie in der Höhe zu suchen  : in den Fliegern – Stalins Falken (stalinskie sokoly), im Kosmismus Ciolkovskijs, später in der Eroberung des Kosmos. Auf der anderen Seite steht die Metro, die unterirdische Realität, für den Palast oder Tempel des neuen Lebens, die ideale Welt, das Paradies.

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Es ist kein Zufall, dass gerade die radikale Epoche der 1920er und 1930er Jahre mit ihrem Schwerpunkt jenseits der zugänglichen Realität und ihrer Vorliebe für enigmatische, außergewöhnliche Forschungsgebiete die Prosa von Andrej Levkin stark beeinflusst. Bei ihm findet sich sogar der Gedanke, dass die Hauptstadt auch verschwinden könnte. Der Protagonist seines Romans Mozgva16 (2005) formuliert eine Beobachtung, die weitgehende Konsequenzen hat  : »Moskau hat sich selbst gelöscht, oder was« (Levkin 2005, zit. nach 2008, 151), heißt es, und damit nimmt die Wahrnehmung der Stadt und ihrer Transformationen eine wichtigere Rolle ein als die Frage der materiellen Präsenz oder Absenz. Levkin beruft sich in seinem Text auf das ›Hirnspiel‹ Andrej Belyjs  ; er erwähnt dessen Gehirn, das sich im Institut für Gehirnforschung bzw. im Gehirn-Pantheon befindet. Die Geschichte dieser skurrilen Gehirnforschung hat eine historische Grundlage  : Ab 1918 leitete der radikale Neurologe, Neurophysiologe und Psychiater Vladimir Michajlovič Bechterev ein Institut, das eine vorrevolutionäre Geschichte und internationale (westeuropäische) Analogien hatte. Im neuen Regime kam dieses in den Genuss staatlicher Anerkennung und außerordentlicher Dotationen  ; es sollte der Entwicklung einer Wissenschaft dienen, die den neuen Menschen definieren sollte. 1927 wurde der 70jährige Bechterev, angeblich auf Geheiß Stalins, ermordet, nachdem er bei diesem kurz zuvor eine Paranoia diagnostiziert hatte. Diese Legende schildert Levkin ausführlich, wie auch das bizarre Faktum, dass dem Institut des Gehirns 1989 noch das Gehirn von Andrej Sacharov übergeben wurde.17 Die (Selbst-) Auslöschung (»samostiranie«) Moskaus ist in Levkins Prosa direkt mit dem Gehirn (Moskva  – Mozgva) verknüpft. Der Protagonist der Erzählung, »Er« (on), Eins (one) oder einfach O. genannt,18 der mit dem Moskauer Alltag (byt) schon immer Schwierigkeiten hatte, verliert zu bestimmten Momenten sein Gehirn, seine »Geist-Materie« wird obdachlos  – und muss eine Gehirn-Prothese suchen. Als neues Gehirn wählt O. etwas unerwartet Moskau – die Stadt verwaltet seine Kontakte, sie »übernimmt die Leitung«.19 Die Selbstauslöschung der Stadt macht gleichzeitig ihre irritierende Umwandlung materiell sichtbar. Moskau gilt seit langem als Irrgarten. Nicht nur ist die Stadt groß, sie hat trotz dem Kreml’ und, seit dem 18. Jahrhundert, dem Puškin-Platz (Puškinskaja ploščad’, früher Strastnaja ploščad’) keine lesbare Struktur. Immer wurde sie als Durcheinander wahrgenommen, obwohl es sehr wohl markante strukturierende städtebauliche Elemente gibt, so wie den Boulevardring, den ältesten Verkehrsring der Hauptstadt, oder den Gartenring, wo sich früher Verteidigungsanlagen befanden. Trotzdem ist es beinahe schon

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ein Klischee, wenn Levin in Tolstojs Krieg und Frieden Moskau als das verdorbene Babylon bezeichnet (Tolstoj 2005, 53). Seit den 1990er Jahren werden der Moskauer Turm zu Babel und die damit einhergehende Unverständlichkeit immer mehr zum Gemeinplatz. Die Stadt selbst wurde in vielen Darstellungen wiederholt zum Verschwinden gebracht, es scheint in Moskau auch keine Verständigung mehr möglich zu sein, sogar die Sprache wurde paralysiert. Diesen Aspekt hat Mark Lipoveckij in seiner Rezension des Films Moskau von Alexander Zel’dovič (Drebuchautor Vladimir Sorokin) hervorgehoben  : die Wortlosigkeit oder sogar Stummheit wird zum zentralen Thema und von den Protagonisten in unterschiedlichster Weise kompensiert.20 Der Name der Stadt mutiert bei mehreren Autoren. Levkins Mozgva oder der Titel von Vasilij Aksenovs Roman Moskva Kva-Kva (2007) bringen die semantische Labilität des Ortes zum Ausdruck  ; der Name des Machtzentrums – Aksenovs Handlung ist in den frühen 1950er Jahren situiert – erhält einen komischen Beiklang.21 Auch die Aufsätze des Kulturforschers Vladimir Papernyj mit dem Titel ›Mos Angeles‹ (2004  ; vgl. ›Mos Angeles II‹, 2009) sind nicht nur als Anspielung auf die zwei Wohnsitze – Moskau, Los Angeles – des Autors zu verstehen. Im Sinne Levkins (s. unten) inszeniert Papernyj Moskau, dies wurde bereits erwähnt, als Typ eines (kollektiven) Bewusstseins (Moskva kak tip soznania  ; Papernyj 2004, 109–134)22  ; Moskau wurde nach Papernyj sogar aus einem bestimmten Bewusstsein heraus geboren (Papernyj 2004, 112). Der vernichtende Umbau Moskaus, der nach der Perestrojka rasant einsetzte, ließ Stützpunkte und Orientierungshilfen aus der Stadtlandschaft verschwinden.23 Die Stadt verlor dadurch ihre Erkennbarkeit, den Charakter des Bekannten. Die Erfahrung des vernichtenden Umbaus ist auch im oben zitierten konsternierten Ton Ajzenbergs wiederzufinden. Bei Levkin geht es bei der Verarbeitung dieser Erfahrungen aber nicht um lyrische Überlegungen, sondern sie bilden Teil einer Hirnoperation, auf die schon im Titel des Romans angespielt wird, der das Gehirn (mozg) mit der Stadt Moskau (Moskva, nun Mozgva) verbindet. Levkin entwickelt in seinem Text tatsächlich eine Art ›Poetik des Gehirns‹. Die Verbindung zwischen Hirn und Stadt ist in der russischen Literatur nicht neu. In Andrej Belyjs Roman Petersburg wird die gespenstische Metropole insgesamt zu einem »Hirnspiel« (»mozgovaja igra«). Der Protagonist Apollon Apollonovič lässt die Stadt durch seine wahnsinnige Einbildungskraft verdoppeln,24 das Gehirn funktioniert als Produktionsmechanismus. Das Motiv von Petersburg als phantastischer Stadt mit einer labilen Existenz wurde in den frühen 1920er Jahren in Boris Pil’njaks Erzählung »Sankt-Piter-Burch« fortgesetzt, und zahlrei-

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che Elemente einer Poetik des Verschwindens finden sich etwas später, ebenfalls mit Leningrad/Petersburg verbunden, beim Spätavantgardisten Daniil Charms. Michail Jampol’skij spricht in diesem Zusammenhang vom »Verschwinden der Wirklichkeit« (»isčeznovenie dejstvitel’nosti«  ; Jampol’skij 1998, 371, 373, 379). Aus der nichtrussischen Literatur über Moskau könnte als programmatisches modernistisches Manifest einer Verborgenheit der empirischen Wirklichkeit die surrealistisch-sozrealistische Vision des tschechischen Dichters Vítězslav Nezval genannt werden. Sein Werk mit dem Titel Unsichtbares Moskau (Neviditelná Moskva, 1935) entstand im Zusammenhang mit der Teilnahme am hoch ideologisierten Ersten Allunions-Schriftstellerkongress von 1934 und versuchte – vielleicht zum letzten Mal in Osteuropa  – für die surrealistische Erotik und die stalinistische Politik einen gemeinsamen poetischen Nenner zu finden. Levkins Selbstauslöschung hat noch eine andere Quelle als die literarische Tradition, die vom »Hirnspiel« Belyjs bis zum Himmelblauen Speck (Goluboe salo, 1999) von Vladimir Sorokin25 reicht, unabhängig von der Frage, wie bewusst diese Resonanz entstand. Seit der Perestrojka, aber vor allem in den 1990er Jahren wurde in Russland der Poststrukturalismus breiter rezipiert. So erschien etwa Michail Ryklins Sammelband Jacques Derrida in Moskau (Žak Derrida v Moskve  ; Ryklin 1993), gefolgt von zahlreichen Übersetzungen, Aufsätze und Zusammenfassungen. Gerade in Derridas Vokabular spielt das ›Löschen‹ bekanntlich eine privilegierte Rolle.26 Die Spur löscht sich selbst (samostirajuščijsja sled), das ideale Bild sollte sich selbst löschen und zum abgebildeten Gegenstand werden (Avtonomova 2000, 49). Spur und Grenze motivieren als grundlegende Begriffe der Dekonstruktion auch das vielfältige Verfahren der Gestaltung einer Stadtimagination, welche die performativen Kräfte eines instabilen urbanen Raumes ins Zentrum stellt. Als letztes Beispiel kann das fotografische Werk von Sergej Bratkov dienen. Er gilt als einer der Künstler, die das Medium Photographie revolutionieren. Sein Zyklus Chapiteau Moscow (Šapito Moscow) thematisiert die Labilität der Stadt und deren transformatorische Kraft mithilfe von einfachen Parallelen. Im Kommentar zum Ausstellungsprojekt beschreibt Bratkov den Ausgangspunkt seiner Wahrnehmung  : Die Stadt generiert Szenerien, die durch das Prisma einer Zirkus-Vorstellung rezipiert werden können. Die tadschikischen Straßenkehrer in bunter Bekleidung sind Clowns, die schwankenden Betrunkenen erinnern an unsichere Seiltänzer, die Straßenverkäufer aus Zentralasien mit Pyramiden aus Obst und Gemüse sind Zauberer. Die streunenden Hunde sind die in diesem Rahmen, wo das Phantasma nicht mehr symbolisch agiert, dressierte Tiere.

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Abb. 5, 6. Chapiteau Moscow #49, Sergej Bratkov, 2012  ; Chapiteau Moscow #9, Sergej Bratkov, 2012.

Das Phantasma macht die Realität kontrovers und brüchig, liefert aber keine Lösung. In diesem Zirkus geht es um keine Biomechanik – der Zirkus war eine wichtige Inspiration für Mejerchol’ds Theater mit seinen Elementen der Akrobatik  – und um keine archetypische Geschicklichkeit, keine Folklore. Hier wird der Zirkus verwendet, um eine bizarre Materialität und die labilen Verhältnisse in der Megapolis27 zu zeigen. Bratkov lässt die Wirklichkeit in Bildern kollidieren, die heterogen und im Stile einer schillernden Montage gegeneinander gesetzt sind. Es gibt keine rein soziale Perspektive und keine beschönigende Ästhetisierung  : Die Stadt wird in ihrer Brutalität theatralisiert, dokumentarisch inszeniert – und ohne jede Stellungnahme oder Interpretation offen gelassen. In einem Interview präsentierte Bratkov seine Fassung des Zirkus’ als Show, die riskant und realitätsnah sei. Anders als das Theater liefert der Zirkus aber keine Ideen, keinen Sinn  : was bleibt ist blank und leer, es ist sinnloses Risiko und Zauberei.28 Generell scheint das Verschwinden Moskaus eine  – fiktive  – Erfahrung zu sein, die keiner eindeutigen Kausalität unterliegt. Sie ist kein logischer Untergang, keine Rache, keine Strafe, keine Transformation, keine Lösung und meistens sogar keine Katastrophe. Offensichtlich scheint in der künstlerischen und auch in geopolitischen Imagination die zeitgenössische russische Megapolis so angespannt, so opak und so ergebnislos, dass ihr Verschwinden geradezu zu erwarten ist, jedoch ohne Katharsis und ohne Hoffnung. Die einzige Perspektive besteht offensichtlich im Akt des Verschwindens selbst, in einer radikalen Wende, die zwar kein Programm beinhaltet oder transportiert, aber mindestens einen Bruch mit der brutalen und labilen Opazität der Gegenwart bietet.

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Anmerkungen   1 Zum Stadttext s. etwa Galle / Klingen-Protti 2005. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Grob in diesem Band.   2 Vgl. auch dazu den Beitrag von Thomas Grob in diesem Band.   3 Siehe den Aufsatz »Poesie nach dem Konzeptualismus« (Stichi posle konceptualizma, später als »Die Macht der Finsternis der Anführungszeichen« [Vlast’ t’my kavyček], 1996  ; Ajzenberg 2008, 522–535) sowie Ajzenbergs Beiträge in zwei Bänden des Almanachs Ličnoe delo (Moskau 1991 u. 1999).   4 Übersetzungen ohne Herkunftsangaben stammen vom Autor und den Herausgebern.   5 »V gorode, gde vse plastično i nestabil’no […]« (Papernyj 2004, 115).   6 Der Ausdruck »razvodit’ rukami«, eigtl. ›die Arme ausbreiten‹, ist hier im Zusammenhang zu sehen mit dem Sprichwort »Čužuju bedu rukami razvedu, k svoej bede uma ne priložu« (»anderen rate ich, mir selbst kann ich nicht helfen«). Ich bedanke mich beim Autor für diesen Hinweis.   7 S. die Installation mit dem Titel Urangst (so der Originaltitel, 2003).   8 »Du trittst hinaus auf die Straße, und auf dich stürzt eine unglaubliche Masse abgelagerter Schichten  : zeitliche, finanzielle und welche auch immer. Hier geht es spezifisch um die Stadt, und nicht um die wunderbare Natur, in der ein gewisses Auswahlprinzip vorhanden ist. Alles befindet sich in einer solchen Vermischung, dass ich diese physiologisch-materielle Wahrnehmung der städtischen Umgebung finden möchte. Es scheint, als ob die Menschen in letzter Zeit mit der Suche nach den verrückten, erschütternden Verbindungen beschäftigt sind, die wir um uns herum sehen« (Gus’kov/Korina 2012).   9 »Moskau ist nicht nur die Hauptstadt eines Staates. Sie ist auch die Hauptstadt der Geschichte. Und ich habe eine große Dummheit begangen, als ich sie verlassen habe  : Ich fiel ich aus der Geschichte« (Zinov’ev 2000, 12). 10 »[…] It covers the geographical ideas, both true and false, of all manner of people – not only geographers, but farmers and fishermen, business executives and poets, novelists and painters, Bedouins and Hottentots – and for this reason it necessarily has to do in large degree with subjective conceptions« (Wright 1947, 11  ; s. auch Keighren 2005, 546–562). 11 Siehe z. B. Girenok 1994, 197–208. 12 Vgl. zu diesen literarischen Texten auch den Beitrag von Thomas Grob in diesem Band. 13 Möchte man den Topos der Abwesenheit einer Stadt komparatistisch untersuchen, bietet sich zum Beispiel La ciudad ausente (1992) von Ricardo Piglias an, ein Roman, in dem das Verschwinden über eine stark politische Semantik verfügt  ; der Roman handelt von einer imaginären Stadt, die aber durch Buenos Aires während der Militärdiktatur inspiriert ist (vgl. die ausführliche Analyse bei Simonis 2008, 15–31). 14 S. dazu unter anderem den Dokumentarfilm von Igor Minaev, Le Temple souterrain du communisme (1991, produziert von »Océaniques« France 3 und AST Productions). 15 »Groznyj tötete alle Arbeiter, die seine ›Bücher mit den Einbänden aus purem Gold‹ in die Erde eingemauert hatten« (Alekseev 2005, 4). 16 Das Wort ist eine Verbindung von ›Moskva‹ mit ›mozg‹, Gehirn. 17 »Und hier brach bei ihm das historische Gedächtnis durch  : Denn auf dieser Großen Jakimanka-Straße, wo er jetzt stand (kalt, ein feuchter Wind, ungefähr minus fünf bis sieben Grad), befand sich das Institut des Gehirns mit seinem Pantheon, wohin die Gehirne der Verstorbenen gebracht worden waren, unter anderem von Lenin, Klara Zetkin, Lunačarskij,

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Majakovskij, Curjupa und sogar, warum auch immer, das von Andrej Belyj. Zu der Sammlung kam auch das Gehirn von Stalin, danach das von Lev Landau, und zu einem letzten Exponat wurde das Gehirn des im Jahre 1989 verstorbenen Sacharov, das mit dem Einverständnis seiner Frau Elena Bonner an das Institut übergeben wurde« (Levkin, Andrej  : »Mozgva«. http:// www.vavilon.ru/texts/prim/levkin5-2.html  ; 11.01.2014). 18 »[…] on – one, nekto O.« (»Er – one, irgendein O.«). 19 »Seine Art Geistesmaterie erwies sich als obdachlos. Das bedeutet, dass er nach einer Hirnprothese suchen musste, wo er doch das eigene verloren hatte. Nur Moskau kam dafür in Frage  : nur die Stadt bewahrte seine Verbindungen. Wo du hingerätst, daran denkst du zurück. Es sah so aus, als würde gerade Moskau seit dem letzten Dezember sein Leben steuern, es hatte die Leitung übernommen« (Levkin, Andrej  : »Mozgva«. http://www.vavilon.ru/texts/prim/levkin5-2. html  ; 11.01.2014). 20 »Alexander Zeldovich has made a film about […] the tragic absence of cultural language, feelings, relationships […].This tragic dumbness … […] Each of the heroes tries, in his own way, to come to terms with the wordlessness by filling the gruesome pauses with sex (always wordless), vulgar discourse, violence or eloquence from the impossibility to genuinely express anything at all« (Mark Lipovetsky, «Moscow« [Review]. Dir. Alexander Zeldovich [2000]. In  : Art Margins Magazine, 31 August 2001, http://www.artmargins.com/index.php/archive/ 380-qmoscowq-dir-alexander-zeldovich-2000  ; 11.01.2014). Vgl. zu dem Film auch den Beitrag von Tatjana Simeunović in diesem Band. 21 Eine eigene Linie stellen diejenigen Namen dar, die keine Kunstwerke, sondern öffentliche Orte bezeichnen  ; so heißt ein Klub an Baumanskaja Straße zum Beispiel »Moschaos«. 22 Geschrieben 1996, Erstveröffentlichung 1997. 23 Vgl. dazu den Beitrag von Werner Huber in diesem Band. 24 S. das Kap. »Seltsame Eigenschaften« (Strannye svojstva)  : »Das Hirnspiel des Trägers brillantener Orden [d.i. Apollon Ableuchov) zeichnete sich durch seltsame, höchst seltsame, außerordentlich seltsame Eigenschaften aus  : seine Hirnschale wurde zur Brutstatt von Gedankengebilden, die sich sofort in diese trügerische Welt verkörperten« (Bely 2001, 43  ; Orig. Belyj 1990, 27). 25 Im Finale seines Romans vergrößert sich das Gehirn Stalins so sehr, dass die Erde zu seinem Sputnik wird. Mit Moskau hat aber diese gewaltsame Prozedur nichts zu tun. 26 »Chaque fois le signifiant tendrait à s’effacer devant la présence du signifié« (Derrida 1967, 426). 27 Der Begriff wurde erstmals in Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918) verwendet. 28 »Das Vorhandensein von Sinn ist das wichtigste Merkmal, das die theatralische Handlung vom Zirkus unterscheidet. Jede Bewegung einer theatralischen Aufführung ist symbolisch und mit einer Idee erfüllt, während sich die Leute in den Zirkus kommen wegen des reinen Schauspiels, das der Realität näher steht und damit riskanter ist. Moskau ist die Stadt, wo das Chapiteau seit langem Gastvorstellungen gibt und die es offenbar nicht zu verlassen gedenkt  ; die Stadt, in der das Risiko und der Zauber eine unglaubliche Konzentration haben« (Sergej Bratkov, Šapito Moscow  ; http://club.foto.ru/guide/event/2797/#!).

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Titelbild  : Vladlen Abdullin  : »Während des Regens« (2012). (http://www.vladlen abdullin.ru). © Autor. Einleitung Abb. 1  : Vasilij Kandinskij  : »Moskau. Der rote Platz«, 1916 (Tret’jakov Galerie). Öl auf Karton. © 2015, ProLitteris, Zürich. ›Moskaus Weg zur Metropole der Macht‹. Frithjof Benjamin Schenk Abb. 1  : Anton Denisenko  : »Basilius Kathedrale auf dem roten Patz«. (http: www.denisenko.info). © Autor. Abb. 2  : Denkmal für den ›Stadtgründer‹, Fürst Jurij Dolgorukij auf dem Tverer Platz (errichtet 1954). Bild  : Peter Zelizňák, Wikimedia Commons. Abb. 3  : Muttergottesikone von Vladimir. Bild  : ©  Mag. Bernhard Wagner, (http://www.pfarre-wolfsberg.at). Abb. 4  : Bildnis von Fürst Alexander Nevskij (1220–1263) im Archangel’skij Sobor. Die dargestellte Kopfbedeckung (Monomachkappe) gehörte zu den Insignien der russischen Zaren aus dem 17. Jahrhundert. Bild  : unbekannt. Abb. 5  : Alexander Saal 1849, Aquarell von Konstantin Uchtomskij. Abb. 6  : Sitzungssaal des Obersten Sowjets, nachdem Alexander- und AndreasSaal zusammengelegt wurden. Fotografie aus den 1950er Jahren. Bild  : unbekannt. Abb. 7  : Alexander-Saal mit Blick in den Andreas-Saal nach der vollständigen Restauration in den 1990er Jahren. Bild  : © Alexander Metlov. ›Zwischen Realität, Symbol und Phantasma‹. Thomas Grob Abb. 1  : Aristarch Lentulov  : »Moskau«, 1913 (Tret’jakov Galerie). Öl auf Leinwand. In  : Bonjour Russland. Ausstellungskatalog. Düsseldorf 2007. 239. Abb. 2  : Zamoskvoreč’e (d.h. die »Gegend hinter der Moskva«), 1801. Zeichnung des Gouvernementsarchitekten Kalaškin. Abb. 3  : Vasilij Polenov  : »Kleiner Hof in Moskau«, 1878. Wikimedia Commons. Abb. 4  : Vasilij Vereščagin  : »Vor Moskau. In Erwartung der Deputation der Bojaren« (1891-92). Wikimedia Commons. Abb. 5  : Jurij Pimenov  : »Das neue Moskau«, 1937 (Tret’jakov Galerie). Öl auf Leinwand. © 2015, ProLitteris, Zürich.

Bildnachweise  

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Abb. 6  : Ohne Titel. Matte Painting von Vladimir Manjuchin aka mvn78 (2012). © Autor. ›Musik in Moskau – Moskau in der Musik‹. Dorothea Redepenning Abb. 1  : Bol’šoi Theater mit Festbeleuchtung zum achten Jahrestag der Revolution. Bild  : Aleksandr Rodčenko (1925). In  : Rodtchenko, photographe  : la révolution dans l’œil. Ausstellungskatalog. Marseille 2007. 273. Abb. 2  : André Durand  : »Moscou. Le Grand Théatre Impérial (15 octobre 1839)«. Abb. 3  : »Nikolaj und Anton Rubinstein 1862«. Postkarte von 1910. Bild  : unbekannt. Abb. 4  : »Das Konservatorium«, 1920er Jahre. Bild  : unbekannt. In  : Alexys A. Sidorow. Moskau. Berlin 1928. 83. Abb. 5  : Soja [Zoja]. R  : Lev Arnštam. Drehbuch  : Lev Arnštam, Boris Čirskov. UdSSR 1944. 95 min. (62’30’’). ›Matisse in Moskau‹. Barbara Schellewald Abb. 1  : Henri Matisse  : »Portrait de Sarah Stein«, 1916. San Francisco Museum of Modern Art, Sarah and Michael Stein Memorial Collection, Gift of Elise S. Haar. © Succession H. Matisse/2015 ProLitteris, Zürich. Abb. 2  : Henri Matisse  : »La Conversation«, 1909–1912. Photograph ©  The State Hermitage Museum / photo by Vladimir Terebenin. © Succession H. Matisse/2015 ProLitteris Zürich. Abb. 3  : Salomon, Pala d’Oro (11. Jh.), San Marco, Venedig. Per gentile concessione della Procuratoria della Basilica di San Marco, Venezia. Abb. 4  : Henri Matisse  : »Portrait de Yvonne Landsberg« (1914). Philadelphia, Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection, 1950. © Succession H. Matisse/2015 ProLitteris Zürich. Abb. 5  : Mandylion, doppelseitige Ikone, 12. Jahrhundert. Bild  : © Staatliche Tret’jakov Galerie, Moskau. Abb. 6  : Hosios Loukas, Katholikon, Mosaik, Taufe Christi, 11. Jahrhundert. Bild  : Hans A. Rosbach (Wikimedia). Abb. 7  : Henri Matisse  : »La Dame en vert«, 1909. Öl auf Leinwand. Inv. No. GE-6519. The State Hermitage Museum, St. Petersburg, Photograph © The State Hermitage Museum /photo by Vladimir Terebenin. © Succession H. Matisse/2015 ProLitteris Zürich. Abb. 8a  : Hagia Sophia, Istanbul, Turkey. Study of Light 1948. MS.BZ.004-HS. BIA.1732. The Byzantine Institute and Dumbarton Oaks Fieldwork Records

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Bildnachweise

and Papers, Image Collections and Fieldwork Archives. Dumbarton Oaks, Trustees for Harvard University, Washington, D.C. Abb. 8b  : Hagia Sophia, Istanbul, Turkey. Study of Light 1948. MS.BZ.004-HS. BIA.1734. The Byzantine Institute and Dumbarton Oaks Fieldwork Records and Papers, Image Collections and Fieldwork Archives. Dumbarton Oaks, Trustees for Harvard University, Washington, D.C. ›Moskau im Blick westlicher Schriftsteller der Zwischenkriegszeit‹. Alexander Honold Abb. 1  : »Arbeitsplatz des Architekten Moisej Ginzburg«. Bild  : Aleksandr Rod­ čenko (1929). In  : Rodtchenko, photographe  : la révolution dans l’œil. Ausstellungskatalog. Marseille 2007. 254. Abb. 2  : »Swerdlow-Platz, ehemaliger Theaterpaltz«, 1920er Jahre. Bild  : unbekannt. In  : Alexys A. Sidorow. Moskau. Berlin 1928. 75. Abb. 3  : »Der Rote Platz, Parade«, 1920er Jahre. Bild  : unbekannt. In  : Alexys A. Sidorow. Moskau. Berlin 1928. 28. Abb. 4  : »Am Autobus«, 1920er Jahre. Bild  : unbekannt. In  : Alexys A. Sidorow. Moskau. Berlin 1928. 124. Abb. 5  : »Der alte Markt am Ssucharewsky-Turm«, Mitte der 1920er Jahre. Bild  : unbekannt. In  : Alexys A. Sidorow. Moskau. Berlin 1928. 78. Abb. 6  : »Demonstration am Grabe Lenins«. Bild  : unbekannt. In  : Alexys A. Sidorow. Moskau. Berlin 1928. 31. ›Die Moskauer Metro als Verkörperung des Sozialismus‹. Dietmar Neutatz Abb. 1  : Eröffnung der Pokrovskaja-Linie 1937. Bild  : unbekannt. Abb. 2  : Station ›Palast der Sowjets‹ (heute  : Kropotkinskaja). Bild  : ©  Alexej Kljatov (http://www.flickr.com/photos/chaoticmind75/). Abb. 3  : Station Kievskaja. Bild  : © Sebastian Panwitz (http://www.panwitz.de). Abb. 4  : Station Krasnje Vorota. Bild  : © Terrafoto/Casey Herd. Abb. 5  : Vestibül der Station Arbatskaja, erbaut 1935. Bild  : ©  Pouya Razavi. (http://www.flickr.com/photos/skeptically/) ›Wird Moskaus Peripherie zum neuen Zentrum?‹ Jörg Stadelbauer Abb. 1  : Immobilienwerbung entlang der Autobahn 2012. Bild  : ©Jörg Stadelbauer. Abb. 2  : Erweiterung des Moskauer Stadtgebiets 2012. Karte  : http://www.mos. ru/en/press-center/infographics/borders/. Nachbearbeitung  : Sabina Horber.

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›Moskau im architektonischen Wandel 1991–2013‹. Werner Huber Abb. 1  : Rekonstruktion der Christ-Erlöser-Kathedrale (Anfang 1996). Bild  : © Werner Huber. Abb. 2  : Smolenskaja ulica mit Außenministerium, 1990. Bild  : © Werner Huber. Abb. 3  : Ulica Pokrovka, Zemljanoj Gorod, Anfang 1990er Jahre. Bild  : © Werner Huber. Abb. 4  : ›Peter der Große‹ von Zurab Cereteli. Bild  : © Werner Huber. Abb. 5  : Mošenka Plaza (Architekt  : M. Fel’dman) kurz nach der Fertigstellung 1994. Bild  : © Werner Huber. Abb. 6  : Mošenka Plaza 1996. Bild  : © Werner Huber. Abb. 7  : Wohnhaus Patriarch (Architekt Sergej Tkačenko). Bild  : © Werner Huber. Abb. 8  : Triumf Palas (Architektur  : APB Tromos). Bild  : © Werner Huber. Abb. 9  : Wohnhaus am Prečistenskij pereulok (Architekt Il’ja Utkin). Bild  : © Werner Huber. Abb. 10  : Wohnhäuser am Moločnyj pereulok (Architekt Sergej Skuratov). Bild  : © Werner Huber. Abb. 11  : Moskva Siti, 2013. Bild  : © Werner Huber. Abb. 12  : Armeekaufhaus Voentorg um 1993 (Architekt Sergej Zalesskij). Bild  : © Werner Huber. Abb. 13  : Neubau Voentorg, 2010 (Architekt  : Vladimir V. Kolosnicyn, Mosproekt-2). Bild  : © Werner Huber. Abb. 14  : Abbrucharbeiten am Haus Kol’be 2011. Bild  : ©Werner Huber. ›Der Moskauer Konzeptualismus‹. Sabine Hänsgen Abb. 1  : Erik Bulatov  : »Ich lebe – ich sehe« (1999). Öl auf Leinwand. Museum of Avant Garde Mastery. In  : Erik Bulatov. Ausstellungskatalog. Moskva 2006. 157. Abb. 2  : Evgenij Kropivnickij, ohne Titel (1958). In  : Günter Hirt und Sascha Wonders (Hg.). Lianosowo. Gedichte und Bilder aus Moskau. München 1992. 191. Abb. 3  : »Oskar Rabins Zimmer in Lianosowo, von links nach rechts  : Cholin, Sapgir, Bugajewskij, Walentina Kropiwnizkaja«. In  : Günter Hirt und Sascha Wonders (Hg.). Lianosowo. Gedichte und Bilder aus Moskau. München 1992. Fotobeilage. Abb. 4  : »Igor Cholin in Lianosovo«. In  : Günter Hirt und Sascha Wonders (Hg.). Lianosowo. Gedichte und Bilder aus Moskau. München 1992. Fotobeilage.

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Bildnachweise

Abb. 5  : Oskar Rabin  : »Müllhaufen Nr. 8« (1958). Öl auf Leinwand. Bild  : © Saatchi Gallery. Abb. 6a, 6b, 6c  : Dmitrij Prigov liest aus seinen Textzyklen. Videostills (1987). In  : Günter Hirt und Sascha Wonders. Moskau, Moskau. Wuppertal 1987. Und  : Günter Hirt und Sascha Wonders. Konzept – Moskau – 1985. Bd. 1  : Poesie. Wuppertal 1991. Abb. 7  : Erik Bulatov  : »Herzlich willkommen« (1973–1974). Öl auf Leinwand. In  : Erik Bulatov. Moskau. Ausstellungskatalog. Zürich 1988. 56-57. Abb. 8  : Erik Bulatov  : »Krasikov Straße« (1976). Öl auf Leinwand. In  : Erik Bulatov. Moskau. Ausstellungskatalog. Zürich 1988. 67. Abb. 9  : Il’ja Kabakov  : »Hinaustragen des Mülleimers / Für die Sauberkeit« (1980). In  : Ilya Kabakov. Am Rande. Ausstellungskatalog. Bern 1985. 9. Abb. 10  : Kollektivnye dejstvija [Kollektive Aktionen], Losung 1977. © Kollektive Aktionen, Moskau. Abb. 11  : Kollektivnye dejstvija [Kollektive Aktionen], Losung 1978. © Kollektive Aktionen, Moskau. ›Von der Avantgarde-Ikone bis zur Glam-Megacity‹. Tatjana Simeunović Abb. 1  : Ich bin zwanzig Jahre alt. [Mne dvadcat’  let]. R.: Marlen Chuciev. Drehbuch  : Marlen Chuciev, Gennadij Špalikov. UdSSR 1963/1965. 189 min; 160 min. (geschnitten) (22’15’’). Abb. 2  : Aelita [Aėlita, auch Aelita. Queen of Mars]. R.: Jakov Protazanov. Drehbuch  : Fëdor Ocep, Aleksej Tolstoj. UdSSR 1924. 111 min. (8’23’’). Abb. 3  : Der Zirkus [Cirk]. R.: Grigorij Aleksandrov und Isidor Simkov. Drehbuch  : Grigorij Aleksandrov. UdSSR 1936. 90 min. (24’37’’). Abb. 4  : Ich bin zwanzig Jahre alt. [Mne dvadcat’  let]. R.: Marlen Chuciev. Drehbuch  : Marlen Chuciev, Gennadij Špalikov. UdSSR 1963/1965. 189 min; 160 min. (geschnitten) (5’05’’). Abb. 5  : Ich bin zwanzig Jahre alt. [Mne dvadcat’  let]. R.: Marlen Chuciev. Drehbuch  : Marlen Chuciev, Gennadij Špalikov. UdSSR 1963/1965. 189 min; 160 min. (geschnitten) (9’00’’). Abb. 6  : Moskau glaubt den Tränen nicht [Moskva slezam ne verit]. R.: Vladimir Men’šov. Drehbuch  : Valentin Černych. UdSSR 1979. 150 min. (21’29’’). Abb. 7  : Moskau glaubt den Tränen nicht [Moskva slezam ne verit]. R.: Vladimir Men’šov. Drehbuch  : Valentin Černych. UdSSR 1979. 150 min. (22’26’’). Abb. 8  : Moskau [Moskva]. R.: Aleksandr Zel’dovič. Drehbuch  : Vladimir Sorokin, Aleksandr Zel’dovič. Russland 2000. 139 min. (92’52’’).

Bildnachweise  

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Abb. 9  : Rusalka – die Meerjungfrau [Rusalka]. R.: Anna Melikjan. Drehbuch  : Anna Melikjan. Russland 2007. 115 min. (62’55’). Abb. 10 Rusalka – die Meerjungfrau [Rusalka]. R.: Anna Melikjan. Drehbuch  : Anna Melikjan. Russland 2007. 115 min. (62’47’’). Abb. 11  : Rusalka – die Meerjungfrau [Rusalka]. R.: Anna Melikjan. Drehbuch  : Anna Melikjan. Russland 2007. 115 min. (54’57’’). Abb. 12  : Hipsters [Stiljagi]. R.: Valerij Todorovskij. Drehbuch  : Jurij Korotkov, Valerij Todorovskij. Russland 2008. 130 min. (126’34’’). Abb. 13  : Gleichgültigkeit [Bezrazličie]. R.: Oleg Fljangol’c. Drehbuch  : Oleg Fljangol’c, Michail Spiridonov. Russland 2011. 82 min. (8’06’’). Abb. 14  : Gromozeka. R.: Vladimir Kott. Drehbuch  : Vladimir Kott. Russland 2011. 104 min. (3’52). ›Das Verschwinden Moskaus‹. Tomáš Glanc Abb. 1  : Ohne Titel. Installation von Pavel Pukhov aka P183 (2009). Bild  : © Pavel Pukhov. Abb. 2  : Pavel Pepperštejn »Schwarzer Kubus (Malevich Tower)«, 2007. Illustration aus dem Projekt »Stadt Russland«. © Pavel Pepperštejn. Abb. 3  : Pavel Pepperštejn »Kandinsky Tower (gebaut 2087)«, 2007. Illustration aus dem Projekt »Stadt Russland«. © Pavel Pepperštejn. Abb. 4  : Pavel Pepperštejn »Schwebender Erinnerungs-Felsen«, 2007. Illustration aus dem Projekt »Stadt Russland«. © Pavel Pepperštejn. Abb. 5  : Sergej Bukov #49 aus der Serie »Chapiteau Moscow« 2012. © Sergej Bukov. Abb. 6  : Sergej Bukov #9 aus der Serie »Chapiteau Moscow« 2012. ©  Sergej Bukov.

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Register Abramcevo 178 Achmadulina, Bella 256 (Anm. 20) Actionfilm 246 Adelssitz s. usad’ba Aėroklub 164 Aėrovokzal 181 Agglomeration 16, 180, s. auch: Moskau, Umland Agrarprogramme 184 Ajzenberg, Michail »Das Leben geht vorwärts, stählt aber nicht« 260–263, 270 Akakievič, Akakij 227 Aksenov, Vasilij 69 Moskva Kva-Kva 69, 270 Akunin, Boris 69 Aleksandrov, Grigorij Der Frühling 255 (Anm. 11) Der helle Weg 255 (Anm. 11) Lustige Burschen 254 (Anm. 11) Volga, Volga 254 (Anm. 11) Der Zirkus 239–240, 241 (Abb. 3), 249 Alekseev, Gleb Unterirdisches Moskau 268 Allunions-Landwirtschaftsausstellung s. VDNCh Allunions-Schriftstellerkongress 127, 271 Altgläubige 90–91 Anciferov, Nikolaj 24 (Anm. 30), 45–46 Andrej aus Suzdal’ 11 Andrej Bogoljubskij 10, 28 Anna Ioannovna 82 Anquetin, Louis 104 Apostel Andreas 44 Aragon, Louis 122 (Anm. 64) Arbat (Straße, Stadtviertel) 53 (Abb. 3), 57–58, 69, 76, 78 (Anm. 20), 156 Arbat-Platz (Arbatskie Vorota) 171 Arbatskaja (Metrostation) 170 (Abb. 5), 171 Arbeiterheim 244 Arbeitslager 155 Archangel’skij sobor 37, 89

Architekturbüros ABD 203 Antoine Grumbach et Associés 188 Mosproekt–2 197, 205 Ostoženka 203 Projektinstitut Nr. 2 205 Sergej Kiselev und Partner 203 Studio 11 197 Urban Design Associates 188 Arnštam, Leo Zoja 92–94, 93 (Abb. 5) Ass, Evgenij 211 Astrachan, Chanate von 35 Aubers, Daniel-François-Esprit 84 Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR s. VDNCh Avantgarde, russische 15, 21, 99, 126, 140, 148, 229, 234–235, 240, 260, 265 Balabanov, Aleksej Bruder; Bruder 2 256 (Anm. 23) Balakirev, Milij 85, 88 Balašicha 181 Banja 51, 252 Barackenpoesie 218 Barnet, Boris Ein Haus in der Trubnaja-Straße 254 (Anm. 6) Barthes, Roland 19 Basilius-Kathedrale s. Chram Vasilija Blažennogo Baširov, Aleksandr 256 (Anm. 30) Bašnja na Naberežnoj 205 Batjuškov, Konstantin 48 Baturina, Elena 20, 209 Baubestand Abriss 206–210, 265, 270 Sanierung 206 Bauernbefreiung 19 Baumeister, ausländische 31, 36, 37 Bautätigkeit 193, 196, 237, 270 Bechterev, Vladimir 269

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Befestigung, ringförmig 173 Bekasovo 181 Bekmambetov, Timur 74 Wächter der Nacht 256 (Anm. 23) Wächter des Tages 256 (Anm. 23) Beljaevo 219–220 Belyj gorod 17 Belyj, Andrej 81, 269, 270 Petersburg 270 Benjamin, Walter 19, 44, 75, 123–125, 139, 142, 144–151 »M [Der Flaneur]« 45, 77 (Anm. 2) »Marseille« 124 »Moskau« 123–125, 144–151 »Moskauer Tagebuch», 144, 147, 149 »Neapel« 124 Passagen-Werk 75 »Die Wiederkehr des Flaneurs« 44, 75 Benua, Aleksandr, auch: Alexandre Benois 50 Berlin 10, 19, 102, 123–125, 126, 137, 144, 146, 150, 154 Berlioz, Hector 85 Bevölkerungswachstum 19, 48, 134 Bildungswesen 139–140, 159, 162 Bloomsbury-Group 100 Bodeneigentum, privates 182 Bodengesetzgebung 174, 182 Bojaren 30, 36, 135 Bokov, Nikolaj 65–66 Wirren aus neuester Zeit oder Die erstaunlichen Abenteuer des Wanja Tschmotanow 65 Bol’šaja Jakimanka 209 Bol’ševiki 87, 153, 166, 238 Bol’šoj-Theater Moskau 83, 255 (Anm. 13) Bol’šoj-Theater St. Petersburg 83 Bondarčuk, Fëdor 256 (Anm. 30) Bondarčuk, Sergej Krieg und Frieden 244 Boris und Gleb 11 Botkin, Michail Petrovič 98 Boulevardring 72, 76, 269 Bratkov, Sergej Chapiteau Moscow 271–272, 272 (Abb. 5, 6) Brest-Litowsk, Frieden von 128

Brežnev-Ära 216 Brodskij, Iosif 215 Brummer, Joseph 108 Buber, Martin Die Kreatur 123 Buckler, Julie 46 Bukal, Bukalina 12 Bulatov, Erik 223–226 »Herzlich willkommen« 224 (Abb. 7), 224–225 »Ich lebe – ich sehe« 213 (Abb. 1), 225–226 »Krasikov Straße« 225 (Abb. 8), 226 Bulgakov, Michail 56, 65 Der Meister und Margarita 61–64, 81 Teufeliaden 149 »Vierzig mal vierzig Kirchen« 56 Buličev, Kir »Alisas Abenteuer« 257 (Anm. 32) Bullen, J. B. 118 (Anm. 15) Bunin, Ivan 60–61 Verfluchte Tage 60 Bürgerbewegung 21 und Stadtplanung 20, 24 (Anm. 36) Proteste 198, 208 Bürgerkrieg 61, 64, 128, 160, 235 Bürokratie 17, 47, 61, 207, 226–227, 264, 267 Burty, Philip 119 (Anm. 26) Byzanz, Byzantinisches Reich 32, 35, 45 Zweites Rom 9 Byzantine Institute of America 110 byzantinische Kunst 100–117 Byzantinismus 101 Caballé, Montserrat 25 Čajkin, Boris 96 (Anm. 19) Čajkovskij, Pëtr 85, 92 Opričnik 92 Čapaevskij pereulok 202 Cassirer, Paul 102 Cavalcanti, Alberto Rien Que Les Heures 254 (Anm. 3) Cavos, Catarino 92 Ivan Susanin 91, 93 Čchartišvili, Grigorij s. Akunin, Boris

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Čechov, Anton 177 Drei Schwestern 246 Čečulin, Dmitrij, N. 26 Cereteli, Zurab 25, 197–198 Černomyrdin, Viktor 204 Charitonenko, Pavel 98 Charms, Daniil 27 Chazanov, Boris 56, 60 Vögel über Moskau 56 Chicagoer Schule 19 Chimki 181 Chimki-Autobahn 15 Chinesenstadt, China-Stadt s. Kitaj-gorod Cholin, Igor’ 217 (Abb. 4), 218–219 »Die Bewohner der Baracke« 218 Chomeriki, Nikolaj Des Herzens Bumerang 250–251 Chovanskij, Ivan 90 Chram Christa Spasitelja 25, 38, 154 Wiederaufbau 25, 193 (Abb. 1), 198 Chram Vasilija Blažennogo 13, 25 (Abb. 1), 35, 72, 88–89, 90, 93, 95 Christ-Erlöser-Kathedrale s. Chram Christa Spasitelja Chruščev, Nikita 215, 255 (Anm. 18) Architektur unter 14, 198, 206, 238 chruščëvka / chruščëba s. auch: Plattenbau 92, 238, 252 Chuciev, Marlen 79 (Anm. 35), 255 (Anm. 17) Ich bin zwanzig Jahre alt 233 (Abb. 1), 240–243, 242 (Abb. 4), 243 (Abb. 5) Juliregen 240 Čigirinskij, Šalva 205, 209 Čistoprudnyj bul’var 225 Coj, Viktor 256 (Anm. 30) Copperfield, David 25 Čuchraj, Grigorij 255 (Anm. 17) Cvetnoj bul’var 200 dača 176–179, 180, 183 Funktionswandel 176–177 Siedlungen 174, 181 Daniel’ Julij 215 Danielja, Georgij 79 (Anm. 35) Daniil Aleksandrovič, Fürst von Moskau 10, 12, 41 (Anm. 7)

Danilevskij-Kloster 174 Daniloviči 41 (Anm. 7) Dekret über Grund und Boden 182 Demus, Otto 115 Denkmal Jurij Dolgorukij 26, 27 (Abb. 2) Minin und Požarskij 72, 93, 94, 95 Peter der Große 25, 197–198, 197 (Abb. 4) Denkmalschutz 206, 265 Derrida, Jacques 271 Deutsche Vorstadt s. Nemeckaja sloboda Dmitrij Ivanovič Donskoj 35, 89–90 Dnepr (Fluss) 28, 44 Docklands 204 Dokumentarfilm 234 Dolgorukij, Jurij 10–11, 27 Dom Kol’be 209–210, 211 (Abb. 14) Dom literatorov 62 Dom na naberežnoj 59 Domodedovo 181 Dorfsiedlungen 178 Dostoevskij, Fëdor 46, 48 Dujardin, Edouard 104 Dumbarton Oaks Center 111–112 Durand, André »Moscou. Le Grand Théatre Imperial« 83 (Abb. 2) Duthuit, Georges 114–117 Byzance et l’art du XIIe siècle 114 Le feu des signes 114, 116 Transitions 114 Eisenbahn 131, 137, 177 Eisenbahnerstreik 64 Eisenbahnring 174 Ėjzenštejn, Sergej 255 (Anm. 12), 268 Ivan der Schreckliche 268 Ekaterina II. 18, 82–83 Ėkspocentr 204 Ėkster, Aleksandra 235 El’cin, Boris 195 ėlektrička 184 Elizaveta Petrovna 82 Email, Emaille ästhetische Prinzipien 104

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byzantinische 98, 104–106 Farben 105 Energiepreise 195 Ėrenburg, Il’ja Tauwetter 255 (Anm. 16) Erlöserturm s. Spasskaja bašnja Ėrmler, Fridrich 255 (Anm. 17) Erofeev, Venedikt 66–67 Moskau-Petuški 66, 71 Erofeev, Viktor Die Moskauer Schönheit 69 Erzengel-Kathedrale s. Archangel’skij sobor Evtušenko, Evgenij 215, 256 (Anm. 20) Expressionismus 130 Exter, Alexandra s. Ėkster Facetten-Palast 89, 96 (Anm. 13) Federacija (Geschäftshaus) 205 Fëdorov, Boris 207 Fëdorov, Nikolaj 267 Fëdorovič, Michail 93 Fel’dman, M. 200 Feuchtwanger, Lion 127, 141, 151 Filmproduktion 252, 254 (Anm. 2) Filofej 31, 34 Fioravanti, Aristotele 23 (Anm. 13), 31 Fljangol’c, Oleg Gleichgültigkeit 250, 251 (Abb. 13) Flughafen 181, 183, 186 Fogg Art Museum 120 (Anm. 44) Formalismusvorwurf 215, 239 Forster, Norman 205, 209 Franz Joseph 133 Friedländer, Otto 127 Frolow, Anton 121 (Anm. 47) Frunze, Michail 149 Fry, Roger 100–104 Engagement für Matisse 101 Fülöp-Miller, René 127 Fünfjahrespläne 129, 158, 166, 167, 238 Futurismus 50, 130 Galerie Grafton 103 Galla Placidia, Ravenna 115 Gardner, Isabella Steward 104, 110 Museum 118 (Anm. 18)

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Gartenring 68, 72, 73, 199, 203, 204, 269 Gartenstadt 13 gated communities 184 Gaugin, Paul 104 Gazmanov, Oleg Moskva 82, 88 Gazoprovod 186 Gazprom 186 Ge, Nikolaj 178 Gebäude Bašnja na Naberežnoj 205 chruščëvka / chruščëba 92, 238, 252 dača 176–179, 180, 183 Dom Kol’be, Haus Kolbe 209–210, 211 (Abb. 14) Dom literatorov, Haus der Literaten 62 Dom na naberežnoj, Haus am Ufer 59 Ėkspocentr 204 Facetten-Palast 89, 96 (Anm. 13) Gercen-Haus 62 Gosplan 239 Historisches Museum 13, 240 Internationale Moskauer Bank (Neubau) 203 Internationales Handelszentrum 204 Iverskie Vorota 199 Kiever Bahnhof 156 kottedž (cottage) 183, 184–185 Kreml’palast, großer 38 Kursker Bahnhof 235 Mosėnka Plaza 199 (Abb. 5, 6), 200 Moskva-Siti 186, 204–206, 205 (Abb. 11), 209 Moskva (Hotel) 208, 239–240 Most Bagration 204 Narkomfin-Haus 123 (Abb. 1) Ochotnyj Rjad 170, 196, 208 Palast der Sowjets 13, 154, 156, 198, 255 (Anm. 13) Patriarch 200, 201 (Abb. 7) Plattenbau 193, 220, 244 Polytechnisches Museum 256 (Anm. 20) Rossija (Hotel) 205, 209, 210–211 Rossija (Turm) 205–206 Rumjancev-Museum 78 (Anm. 24) Severnaja Bašnja 205

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Sieben Schwestern 26, 189, 202 Sitzungssaal des Obersten Sowjets 38 Spasskaja bašnja 72, 94 Spielzeugmuseum 148 taunchauz (townhouse) 184 Triumf Palas 189, 201 (Abb. 8), 202 Voentorg, Armeekaufhaus 207–208 (Abb. 12, 13), 208 Zentrales Museum des Großen Vaterländischen Krieges 196 Gemeinschaftswohnung, s. Kommunalka Gercen, Aleksandr 47 geschlossene Städte 181 Gesellschaft Aufstieg, Wohlstand 244–245 Kinder 148 postrevolutionäre Umwälzung 14, 50, 132, 157–165, 235 postsowjetische 246–254 Gewerkschaft 161 Bildungsarbeit 162–165 Gide, André 127, 142, 151 Retour de l’U.R.S.S. 127 Giljarovskij, Vladimir 76 Moskau und die Moskauer 50–52 Glinka, Michail 84, 85–86, 92–95 Leben für den Zaren 84, 92–95 Gluchovskij, Dmitrij Metro 2033 74–75, 265 Goethe, Johann Wolfgang Faust 61 Gogol’, Nikolaj 46, 47, 74, 81 »Der Mantel« 227 Petersburger Novellen 81 Goldene Horde 28, 35, 262 Gončarova, Natal’ja 99 Gor’kij, Maksim 157 »Geschichte der Fabriken und Werke« 157 Gor’kij-Straße 239 Gorodeckij, Sergej 93 Goslesfond 179 Gosplan 239 Gottesnarr s. Jurodivyj Grand Paris 186, 188 Grands Pojets 196 Gregory, Richard 111

Grönke, Katja 91 Grüngürtel, -zone 175, 188 GUM 96 (Anm. 11) Gumbel, Emil Julius 127 Gutsbesitz s. usad’ba Hagia Sophia 109–114, 112–113 (Abb. 8a, 8b), 116–117 Hardekopf, Ferdinand 127 Hauptstadtverlegung 38, 174, 198 nach Sibirien, in den Ural 185, 263–265 Heidegger, Martin »Lichtung« 229 Herberstein, Sigmund von 13, 36, 173 Herzen, Alexander s. Gercen Hessel, Franz 77 (Anm. 1) Historisches Museum 13, 240 Hofsängerkapelle s. Pridvornaja pevčeskaja kapella Hugo, Victor 52 Hunger 56, 64, 155, 235 Hypatius Chronik 26 Ikonen 97–99, 105–107 Ikonostase 99, 106 Immobilienmarkt 174, 178, 181–183, 189, 209 Impressionismus 101 Industrialisierung 19, 48, 165, 167 Industrieareale 179–180 intelligentsia 177, 181 Internationale Moskauer Bank (Neubau) 203 Internationales Handelszentrum 204 Iskender, Pierre 111 Ivan I. 29 Ivan III. 31, 33, 37, 89–90 Ivan IV. Vasil’evič (der Schreckliche) 18, 23 (Anm. 12), 34, 35, 41 (Anm. 15), 49, 268 Bibliothek 268 Iverskie Vorota 199 Jampol’skij, Michail 271 Japonismus 104 Jasnaja Poljana 178 Jelzin, Boris s. El’cin Jericho 88–89

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Jerusalem 30, 44, 46, 221, 267 Johannes Tzimiskes, Münze des 106 Journalismus 140–141 Jugendkultur 243, 249–250 Jungkommunisten s. Komsomolzen Jurodivyj 91 Kabakov, Il’ja 224, 226–228 »Hinaustragen des Mülleimers/Für die Sauberkeit« 226, 227 (Abb. 9), 228 »In unserem ŽĖK« 227–228 Kabalevskij, Dmitrij Im Feuer – Bei Moskau 92 Kaganovič, Lazar’ 154, 156, 166 Kalatozov, Michail 255 (Anm. 17) Kaliningrad s. Korolëv Kaluga 179, 186 Kalugaer Chaussee 176, 188 Kammermusik 86 Kandinskij, Vasilij »Moskau. Der Rote Platz« 9 (Abb. 1) Kapitalismus 21, 135, 154, 169, 247, 267 Katharina II. (die Große) s. Ekaterina Kaufman, Michail Moskau 235 Kazan, Chanate von 35 Kazanskij sobor, Kazaner Kathedrale 117, 199 Kiev 19, 29, 30, 31, 44, 45, Eroberung von 27 Zerstörung 28 Kiever Bahnhof 156 Kiever Chaussee 189 Kiever Rus’ s. Rus’ Kievskaja (Metrostation) 168 (Abb. 3) Kirche, Russisch-Orthodoxe 29, 31–36, 38, 88, 262 Kirchen Archangel’skij sobor 37, 89 Chram Christa Spasitelja 25, 38, 154, 193 (Abb. 1), 198 Chram Vasilija Blažennogo 13, 25 (Abb. 1), 35, 72, 88–89, 90, 93, 95 Kazanskij sobor 117, 199 Uspenskij sobor 23 (Anm. 13), 28, 89, 99, 105, 106

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Kisch, Egon Erwin 127, 131–136, 142 Zaren, Popen, Bolschewiken 127 Kitaj-gorod 17, 23 (Anm. 24), 135, 207–208 Kloster 48, 53, 173, 174 Danilevskij-Kloster 174 Novodevičij monastyr’ 174 Pokrovskij-Kloster 41 (Anm. 15) Kohl, Johann Georg 17, 40 Kolchose 182 Kolchoskongress 153 Kollektive Aktionen 228–231 »Reisen aus der Stadt« 229–231, 230–231 (Abb. 10, 11) Kollektivierung 129, 137, 156, 165, 177 Kollektivnye dejstvija s. Kollektive Aktionen Kolomenskoe 174 Kommunalka (Kommunalwohnung) 214, 226, 238, 244, 245, 249 Kommunarka 186 Komödie, musikalische 84 Komsomol, Komsomolzen 156, 159–165, 249 Komsomol’skaja (Metrostation) 171 Končalovskij, Andrej 255 (Anm. 17) Kondakov, Nikodim P. 98 Konservatorium Moskau 21, 85–87, 86 (Abb. 4) St. Petersburg 85–87 Konstantinopel 32, 33, 34, 45 Konzeptualismus, Moskauer 69, 213–232, 260 Kopalin, Il’ja 235 Korina, Irina »Die synkretische Hütte« 263 Korolëv/Kaliningrad 182 Korolëv, Sergej 182 Kosmodemjanskaja, Zoja 92 Kott, Vladimir Gromozeka 252–253, 253 (Abb. 14) kottedž (cottage) 183, 184–185 Kožin, Vladimir 188 Krasnye vorota 169 (Abb. 4), 170 Kreml’ Befestigungsanlage 16, 27, 36 Beständigkeit, Zentrumsfunktion 13, 17, 18, 22, 48, 172, 190

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Ort, Bauwerke 36–37, 41 (Anm. 16), 67, 88–89, 90, 98, 193, 269 Kreml’palast, großer 38 Alexander- und Andreas-Saal 38, 39 (Abb. 5, 6, 7) Krestovskij, Vsevolod 77 (Anm. 7) Kropivnickaja, Valentina 215 Kropivnickij, Evgenij 216 »ohne Titel« (Barackensiedlung) 216 (Abb. 2) Kropotkinskaja (Metrostation) 154, 155 (Abb. 2), 171 Kropotkinskaja naberežnaja 203 Kultur, Kulturschaffen kritisch, inoffiziell 21, 68, 128, 213–232, 249, 260 Propagandainstrument 126, 167 Privatraum als Kunstraum 215–219, 220 staatlich 21, 61, 140, 161, 214, 239 Kulturlandschaft 178, 179–180, 183–184 Künstlerkolonien 152 (Anm. 1), 174, 177–179, 181 Kursker Bahnhof 235 Kuz’min, Aleksandr 205 Kuznecov, Sergej 20 Labarte, J. 119 (Anm. 26) Labrusse, Rémi 107 Lachmann, Renate 46, 52 La Défense 204 Ladovskij, Nikolaj 179 Landgut s. usad’ba Landleben, Mystifizierung 177, 178 Leardi, Geraldine 117 (Anm. 1) Le Corbusier 14, 179 Ville Radieuse 14 Lefèbvre, Henri 19 Lenin-Mausoleum 66, 72, 151 (Abb. 6), 240 Lenin, Vladimir 12, 66, 128–129, 148–151, 179 Leningrader Chaussee 183 Lentulov, Aristarch »Moskau« 43 (Abb. 1) Lermontov, Michail 46, 53–55, 77 Levitan, Isaak 178 Levkin, Andrej Mozgva 269–271

Lianozovo 215–219 Lied von der Heimat s. Pesnja o Rodine Lipoveckij, Mark 270 Liszt, Franz 85 Literaturfunktionäre 62 Ljubercy 181 London 10, 44, 81, 104, 154, 204, Lopasnja 177 Lotman, Jurij 213 Louvre 100 Luk’janenko, Sergej 74, 264 Wächter der Nacht/Night Watch 74, 264 Wächter des Tages/Day Watch 74 Lukaev, Dmitrij 197 Lungin, Pavel Taxi Blues 245–246 Lužkov, Jurij 20, 25, 186, 209 Architektur unter 14, 25, 196–202, 208 Lynch, Kevin 19 Majakovskij, Vladimir 50 Makanin, Vladimir 70–72 Das Schlupfloch 70 Underground oder ein Held unserer Zeit 70 Malevič, Kazimir 99, 229 Mamontov, Savva 94 Mandylion 106, 107 (Abb. 5) Manege-Platz 25, 208 Einkaufszentrum 196–197 Manege-Skandal 215 Manjuchin, Vladimir »Ohne Titel« 71 (Abb. 6) Mariä-Entschlafens-Kathedrale, s. Uspenskij sobor Mariinskij-Theater 83 Massenarbeit, politische 161–165 Massengräber 188 Matisse, Henri 97–122 »La Conversation« 102, 103 (Abb. 2) »La Dame en vert« 109, 109 (Abb. 7) »Danse» Kapelle von Vence 112, 116–117 »Musique» »Nature morte aux Oranges« 107–108 »Portrait de Sarah Stein« 97 (Abb. 1), 105–106, 108

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»Portrait de Yvonne Landsberg« 105 (Abb. 4), 107 »Riffain assis« 106 »Riffain debout« 106 russischer und byzantinischer Einfluss 97–122 Russlandreise 97–99, 106, 108 »Zorah debout« 106 Matusovskij, Michail 87–88 May, Ernst 179 McDonald’s Moskau 198 Medvedev, Dmitrij 182, 186, 209, 210 Medvedkin, Aleksandr Das neue Moskau 255 (Anm. 15) Mejerchol’d, Vsevold 140, 148, 272 Revisor (Inszenierung) 140, 148 Melichovo 177 Melikjan, Anna Russalka – die Meerjungfrau 247–249, 248 (Abb. 9, 10, 11) Men’šov, Vladimir 79 (Anm. 35) Moskau glaubt den Tränen nicht 243–245, 245 (Abb. 6, 7) Metro 69, 71, 75, 82, 134, 153–172, 250, 268 Ästhetik 154, 168–171 Baugeschichte 155–157 Eröffnung 153–154 Kultiviertheitsprogramm 161–165, 168 Personal 168 Propaganda 166–169 Ringlinie 170, 171, 174 Schmiede des neuen Menschen 157–165 Utopie des Sozialismus 153–154, 165–171, 268 Metropolit von Kiev und der ganzen Rus’ 33 Maksim 29 Pëtr 31 Sitz des 29, 30, 36 Metropolitan Museum, New York 114 Metrostationen Arbatskaja 170 (Abb. 5), 171 Kievskaja 168 (Abb. 3) Komsomol’skaja 171 Kropotkinskaja 154, 155 (Abb. 2), 171

Krasnye vorota 169 (Abb. 4), 170 Ochotnyj Rjad 170, 196, 208 Metrostroj 156, 161, 166 kulturelles und sportliches Angebot 162–165 Meyerbeer, Giacomo 84 Minaev, Igor Le Temple souterrain du communisme 273 (Anm. 14) Minaev, Sergej Duchless 257 (Anm. 33) Minin, Kuz’ma 93 Mir iskusstva / Le Monde d’Art 50 Mittelschicht 176, 183, 184–185, 196 Mitterrand, François 196 Mjasoedov, Grigorij 178 MKAD, Moskovskaja kol’cevaja avtomobil’naja doroga 174, 175, 179, 180, 181, 182, 183, 186, 188, 189, 190, 196 Moločnyj pereulok 203 (Abb. 10), 204 Monastyrskij, Andrej 263 Mongolen 28, 35, 173, 176 Morozov, Michail 97 Mosaik Hagia Sophia 109–111 Oberflächenstruktur 112 römisches 101 Mosėnka Plaza 199 (Abb. 5, 6), 200 Moskau Aufstieg 23–41 Brände 13, 23 (Anm. 12), 48, 55, 62 »Drittes Rom« 10, 34, 45, 221 Ersterwähnung 10, 27 Großfürstentum 10–13, 18, 28–38 Groß Moskau 185–186 Gründungslegenden 10, 44 kinematographisches Sujet 233–257 Krönungsstadt 38–39 Lebensraum 21, 50–52, 57–59, 76, 92, 137, 144–147, 218, 234–257 literarischer Protagonist 259–274 literarisches Sujet 43–79, 69–75 Märkte 134, 146–147, 147 (Abb. 5), 262 Modernisierung 19, 50, 58, 166 Musik 87–94

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Parlamentsverlagerung, Verwaltungszentrum 186, 189, 190, 210 Ruralität 12–13, 16–17, 18, 46–49, 52, 85, 177, 179, 193 surreal, phantastisch 61–69, 69–75 Symbol 21, 22, 36, 43, 45, 46–49, 50, 5257, 60, 75, 123–152, 221–223, 229–230, 240, 253 territoriales Wachstum 17, 19, 24 (Anm. 28), 30, 173–191, 187 (Abb. 2), 210 Umbaupläne, Generalpläne 14, 59, 126, 175 Umland 173–191, 229–231 Verfassung 29–30 Vergleich mit St. Petersburg 12–13, 17, 40, 46–49, 81–82, 94, 260 Verwaltungsgebiet 180, 185–186 Vororte 215–219 Wandelbarkeit 12, 50, 55, 196, 234, 263, 270 Weiblichkeit 40, 46–47, 52–55, 76–77, 78 (Anm. 18), Wohngebiete 179, 188–189, 214 Wohnungsnot 48, 136, 148, 156, 235–238 Wohnverhältnisse 194, 242–245, 252 Zuzugsbeschränkung 184 Moskauer Schule (Musik) 87 Moskauer Stil (Architektur) 13, 200–203 Moskaureisen 13, 17–18, 23 (Anm. 12), 36–37, 40–41, 51–52, 88–90, 97–99, 102–109, 123–152, 173–174, 271 Moskau-Tartuer Schule (Semiotik) 213 Moskomnasledie 210 Moskva (Fluss) 27, 178, 181, 183, 204, 259 Moskva (Hotel) 208, 239–240 Moskva-Siti 186, 204–206, 205 (Abb. 11), 209 Most Bagration 204 Muratova, Kira 255 (Anm. 17) Musical, sowjetisches 239, 249 Musik 81–96 patriotisch, machtpolitisch 88, 95 ‚typisch russisch‘ 88 Musikkultur internationale, westliche 83–84 in St. Petersburg 83 und Slavophilie 85–87

Musikwissenschaft 81 Moskauer 94 Musorgskij, Modest 88–91 Boris Godunov 90–91 Chovanščina 90–91 Muttergottesikone von Vladimir 32, 33 (Abb. 3) mvn78 s. Manjuchin Mytišči 181 Nabokov, Vladimir 152 (Anm. 1) Naherholungsraum 175, 179, 181 Napoleon (literarisch) 54–55, 77 narodniki 177 Neglinnaja, Fluss 27 Nejgauz, Genrich s. Neuhaus Nekrasov, Vsevolod 225 Nemeckaja sloboda 36 Neo-Impressionismus 101 Neorealismo 240, 250 Nestorchronik 44 Neue Ökonomische Politik 56, 64, 129, 236, 238 Neue Russen 183, 184, 196, 246 Neue Welle, sowjetische s. Tauwetter Neues Jungfrauen-Kloster s. Novodevičij monastyr’ Neuhaus, Heinrich 87 Nevskij, Aleksandr Jaroslavič 10, 28, 37 (Abb. 4), 41 (Anm. 7), Nezval, Vítězslav Unsichtbares Moskau 271 Nimbus 106 Nostalgie 58 Notre-Dame de Toute-Grace, Assy 122 (Anm. 62) Novgorod 11, 18, 23 (Anm. 12), 45 Stadtrepublik 29–30 Sophienkathedrale 31 Novodevičij monastyr’ 174 Novorižskoer Chaussee 183 Nuovo, Alovisio 37 Oberschicht 183, 196 Oberster Sowjet 38, 195 Sitzungssaal 38, 39 (Abb. 6)

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Ochotnyj Rjad 170, 196, 208 Okudžava, Bulat 58, 215 Olearius, Adam 23 (Anm. 12) Oleg, Fürst 44 Oper Folklorismen 84 historische 90–91 historische Authentizität 91 italienisch-französische 84 Schauplatz 82 Opera Seria 84 Opričniki 23 (Anm. 12) Orechovo 181 Orlova, Ljubov’ 240 Osthaus, Karl Ernst 117 (Anm. 3) Ostoženka 204 Ostrouchov, Il’ja 98, 102 Ostrovskij, Nikolaj Wie der Stahl gehärtet wurde 261 P183 s. Puchov Pala d’Oro 103, 104 (Abb.3), 105 Palast der Sowjets 13, 154, 156, 198, 255 (Anm. 13) Metrostation s. Kropotkinskaja Pallasmaa, Juhani 203 Panarin, Aleksandr 264 Panorama, literarisches 52–57, 62 Papernyj, Vladimir »Mos Angeles« 270 »Moskau als Bewusstseinstyp« 261 Parade auf dem Roten Platz 57, 82, 142–144, 143 (Abb. 3), 218, 229, 240 Paris 10, 19, 43, 44, 81, 97, 105, 126, 137, 154, 186, 204, 236, 259 Pasternak, Boris Doktor Živago 64–65 Patriarch Adrian I. 38 Patriarch Nikon 96 Patriarch von Konstantinopel 32 Patriarchat, Moskauer 33–34 Abschaffung 38 Sakristei 98 Patrozinium 29, 35, 41 (Anm. 15) Paulos Silentiarios, Ekphrasis 121 (Anm. 60) Pavarotti, Luciano 25

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Paveleckaja-Platz 202 P’ecuch, Vjačeslav Die neue Moskauer Philosophie 69 Pelevin, Viktor Generation ‚P‘ 70 Pepperštejn, Pavel 265 Stadt Rossija 265–267, 266 (Abb. 2, 3, 4) Peredelkino 177, 178 peredvižniki 177–178 Perestrojka 60, 69, 200, 203, 220, 264, 270, 271 Kino 245–246, 253 Performancekunst 228–229 Perov, Vasilij 178 Pesnja o Rodine 240 Pëtr I. (Peter der Große) 12, 37 Petersburger Text 24 (Anm. 30), 45–46, 214, 259–260 Petrov, Andrej Peter der Erste 92 Piglias, Ricardo La ciudad ausente 273 (Anm. 13) Pil’njak, Boris 149 »Sankt-Piter-Burch« 270 Pimenov, Jurij »Das neue Moskau« 63 (Abb. 5) Planwirtschaft 194, 226, 263 Plattenbau 193, 220, 244 Plätze Arbat-Platz (Arbatskie Vorota) 171 Manege-Platz 25, 208 Paveleckaja-Platz 202 Puškin-Platz 269 Revolutionsplatz 197 Roter Platz 54, 82, 88, 90, 93, 143 (Abb. 3), 193, 239, 240, 255 (Anm. 13) Sverdlov-Platz 135 (Abb. 2), 255 (Anm. 13) Tverer Platz 26 Poklonnaja Gora 54, 62, 196 Polenov, Vasilij »Kleiner Hof in Moskau« 53 (Abb. 3) Polovcer/Kiptčaken 27 Polytechnisches Museum 256 (Anm. 20) Pop-Art 223 Popov, Gavriil 209

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Poststrukturalismus 271 Prečistenskij pereulok 202 (Abb. 9), 203 Prichard, Matthew Stewart 100–102, 103, 106, 110–111, Pridvornaja pevčeskaja kapella 82 Prigov, Dmitrij 68–69, 219–223, 221 (Abb. 6a, 6b, 6c) »Apotheose des Milizionärs« 220 Lebt in Moskau! 68 »Moskau und die Moskauer« 220 Prokof ’ev, Sergej Krieg und Frieden 92 Propaganda 92–94, 153, 155, 157, 165–167, 228, 263 Protazanov, Jakov Aėlita 235–236, 237 (Abb. 2) Prozesse gegen Schriftsteller 215 Prygunov, Roman Duchless 257 (Anm. 33) Pšibyševskij, Boleslav 87 Pskov 18, 30 Dreifaltigkeitskirche 31 Puchov, Pavel »Ohne Titel« 259 (Abb. 1) Puškin, Aleksandr 45, 49 Puškin-Platz 269 Putin, Vladimir 88, 95, 186, 188, 200, 210, 261, 265 Pyr’ev, Ivan 239 Die Schweinezüchterin und der Hirte 255 (Anm. 11) Rabin, Oskar 215–219, 217 (Abb. 3) »Müllhaufen« 218–219, 219 (Abb. 5) Radio Majak 87 Radio Moscow 87 Raumfahrtindustrie 182 Rayssiguier, L.-B. 116 Realismus, sozialistischer 60, 67, 72, 215, 218, 223, 224, 239–240, 253 Regierungsviertel 188 Reiseliteratur s. Moskaureisen Reutov 181 Revolution, russische 19, 23 (Anm. 20), 51, 60–61, 64–65, 155, 238 Emigranten 126, 137–139

Feier 81 (Abb. 1), 95, 142–144 Religion 133–134, 146, 150 westlicher Blick auf 123–152 Revolutionsplatz 197 Revzin, Il’ja 20 Rimskij-Korsakov, Nikolaj 87 Zarenbraut 92 Rjurik 11, 44 Rjurikiden 33, 37 Rodčenko, Aleksandr »Bol’šoj-Theater mit Festbeleuchtung« 81 (Abb. 1) »Arbeitsplatz des Architekten Moisej Ginzburg« 123 (Abb. 1) Rom Nachfolge 9, 10, 45 Gründungslegende 16 Romanov (Dynastie) 37, 84, 89–90 Romm, Michail 255 (Anm. 17) Room, Abram Die Dritte Kleinbügerstraße 236–237 Rossija (Hotel) 205, 209, 210–211 Rossija (Turm) 205–206 Rostropovič, Mstislav 181 Roter Platz 54, 82, 88, 90, 93, 143 (Abb. 3), 193, 239, 240, 255 (Anm. 13) Roth, Joseph 127, 133, 136–144, 151 Reise in Russland 136 Rubinštejn, Anton 85 (Abb. 3) Kaufmann Kalašnikov 92 Rubinštejn, Nikolaj 85 (Abb. 3) Rublëvo-Uspenskoer Chaussee 178, 183 Rumjancev-Museum 78 (Anm. 24) Rus’, Kiever 10–11, 27, 29–33, 35, 37, 44, 84 Russkoe bistro 198 Rüstungsindustrie 182 Ruttmann, Walther Berlin: Sinfonie der Großstadt 81, 254 (Anm. 3) Rybakov, Anatolij 69 Die Kinder vom Arbat 69 Ryklin, Michail 150 Sacharov, Andrej 181, 269 Samizdat 65, 227, 260

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Sarkisjan, David 208 Sarkozy, Nicolas 186 Savrasov, Aleksej 178 Schisma 34, 90 Schlögel, Karl 96 (Anm. 6, 24), 128 Terror und Traum. Moskau 1937 128 Moskau lesen 259 Schumann, Clara und Robert 85 Science Fiction 235 Scott, Walter 49 Ščukin, Pëtr 97 Ščukin, Sergej 97, 100, 102, 105, 109 Sennett, Richard 19 Šepit’ko, Larisa 255 (Anm. 17) Šeremet’evo 181 Flughafen 183 Sergiev Posad 178 Severnaja Bašnja 205 Sheeler, Charles Manhatta 254 (Anm. 3) Sieben Schwestern 202 Simmel, Georg 19–20 Singspiel 84 Sinjavskij, Andrej 215 Sizikov, Pavel 157 Šklovskij, Viktor 236 Skokan, Aleksandr 203–204 Skolkovo 182 Skuratov, Sergej 204 Sobjanin, Sergej 186 Architektur unter 14, 209–211 Šojgu, Sergej 185 Sokol’niki 156, 171 Sokolov, Aleksandr 87 Solov’ëv-Sedoj, Vasilij 87 Leningrader Nächte 88 Moskauer Nächte 82, 87–88 Sommerhaus s. dača Sophia Palaiologa, s. Zoë Palaiologa Sorokin, Vladimir 47, 76, 246, 270 Himmelblauer Speck 271 Šostakovič, Dmitrij 92–94, 181 Moskau, Čerëmuški 92 Sovchose 175, 182, 184 Sovkino 254 (Anm. 7) Sowjetkongress 153

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Sowjetunion Alltag 234, 235, 240–243 Außenwirkung 126 dissidentischer Widerstand 72, 213 Frauen 236, 244–245 Gründung 128 intellektueller, künstlerischer Untergrund 71, 213–232 private Parallelwelt 267 Symbole des Fortschritts 93, 95, 165–171 Vergleich zu USA 139 Wohnverhältnisse 242–245 Soz-Art 223–228 Sozialismus Ideologie 226, 235, 239–240 sozialistischer Wettbewerb 160–161 Utopie des Lebens im 165, 238 Spasskaja bašnja 72, 94 Spengler, Oswald 274 (Anm. 27) Sperlingsberge s. Vorob’ëvy gory Spielzeugmuseum 148 Spontini, Gaspare 84 Sport 163–165 St. Petersburg 45–46 Garnisonsstadt 16, 50 Gründung 12, 82 Hauptstadt 37, 45–46, 82, 176, 260 Literatur 20, 45–46, 50, 74, 77, 81 (Anm. 4) Peter- und Paul-Kathedrale 37 Stadttext 45–46, 259–60 Vergleich mit Moskau 12–13, 40, 46–49, 50, 81–82, 94, 260 Wachstum 19, 24 (Anm. 28) westlich, weltläufig 81, 85 Zeichenhaftigkeit, Theatralität 16, 260, 270 Staatsduma 186 Stadt Analyse 259 Ästhetik 233 Gründungen, staatliche 18 Gründungsmythen 11 und Kino 233–234 als Lebensraum 15 Lesbarkeit 43

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Literarisierung 44 Modernisierung 19 Mythos 10 ökonomische Rolle 19 Semantik 9–10, 43–45, 76 Semiologie 213–214 Symbolik 10, 12, 15, 43, 45, 46–49, 60 Stadtduma 18, 185 Städtebau 179, 222 unter Stalin 12, 55 Stadtentwicklung 233 westliches Vorbild 19 Stadtfilm 233–234 Stadtforschung 19, 20 russische 24 (Anm. 32) Stadtjubiläum 25, 196, 204 Stadtmodell 16, 19 Stadtplanung 9, 26, 43, 185–190, 194 staatliche 14, 15 kritische Reaktionen, Debatten 15, 20, 24 (Anm. 36), 198, 208 Stadtsinfonie 234, 237, 252 Stadtstruktur konzentrisch 17 radial-konzentrisch 173, 175, 186, 190 radial 46, 51 Stadtteile/Vororte Abramcevo 178 Arbat 58, 69, 76 Balašicha 181 Beljaevo 219–220 Belyj-Gorod 17 Bremen (Baugebiet) 183 Chimki 181 dača-Siedlungen 174, 181 Domodedovo 181 Eingemeindung 185–186, 187 (Abb. 2), 210 Gazoprovod 186 Industrieareale 179–180 Kaluga 179, 186 Kitaj-gorod 17, 23 (Anm. 24), 135, 207–208 Kiever Chaussee 189 Kolomenskoe 174 Kommunarka 186

Korolëv / Kaliningrad 182 Künstlerkolonien 174, 177–179, 181 Lianozovo 215–219 Ljubercy 181 Lopasnja 177 Naherholungsraum 175, 179, 181 Nemeckaja sloboda 36 Orechovo 181 Ostoženka 204 Peredelkino 177, 178 Poklonnaja Gora 54, 62, 196 Regierungsviertel 188 Reutov 181 Šeremet’evo 181 Skolkovo 182 Sokol’niki 156, 171 Suburbanisierung 174, 185 Troick 188 Valuevo 176 Vnukovo 181 Vorob’ëvy gory 62, 76, 92 Zamoskvoreč’e 48 (Abb. 2) Zarjad’e 209 Zastava Il’iča 242 Zvenigorod 178, 181 Stadttext 43–45, 46 Stalin, Iosif V. 25, 153 Stalin-Hochhäuser, s. auch Sieben Schwestern 26, 189 Stalinismus 128, 171, 261, 268, 271 Stalins Falken 268 Stalinscher Klassizismus, s. auch Zuckerbäckerstil 26 Stalinzeit 215 Aufarbeitung 59, 69 Architektur unter 14, 20, 26, 55, 69, 128, 268 Kultur unter 78 (Anm. 16), 229, 238–240, 253 Repression, Terror 58, 87, 155, 188 Steibelt, Daniel 91 »Der Brand Moskaus« 91 Stein, Sarah und Michael 100 Stierle, Karlheinz 44, 259 Stiljagi 249–250, 256 (Anm. 27) Stoßarbeiter 158, 244

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Strand, Paul 254 (Anm. 3) Straßen Arbat 53 (Abb.3), 57, 58, 69, 76, 78 (Anm. 20), 156 Bol’šaja Jakimanka 209 Boulevardring 72, 76, 269 Čapaevskij pereulok 202 Chimki-Autobahn 15 Čistoprudnyj bul’var 225 Cvetnoj bul’var 200 Eisenbahnring 174 Gartenring 68, 72, 73, 199, 203, 204, 269 Gor’kij-Straße 239 Kalugaer Chaussee 176, 188 Kropotkinskaja naberežnaja 203 Kutuzovskij prospekt 204 Leningrader Chaussee 183 MKAD 174, 175, 179, 180, 181, 182, 183, 186, 188, 189, 190, 196 Moločnyj pereulok 203 (Abb. 10), 204 Novorižskoer Chaussee 183 Prečistenskij pereulok 202 (Abb. 9), 203 Rublëvo-Uspenskoer Chaussee 178, 183 Smolenskaja ulica 194 (Abb. 2) Tverskoj bul’var 62 Ulica Pokrovka 195 (Abb. 3) Warschauer Chaussee 188 Strugackij, Arkadij und Boris 74 Strzygowski, Joseph 114 Stufenbuch 31 Stummfilm 238 Suburbanisierung 174, 185 Sue, Eugène 77 (Anm. 7) Surikov, Vasilij 91 »Die Bojarin Morozova« 91 Susanin, Ivan 84 Suzdal’ 11, 41 (Anm. 15) Švejcer, Michail 255 (Anm. 17) Sverdlov-Platz 135 (Abb. 2), 255 (Anm. 13) Swenigorodskoj, Sammlung 119 (Anm. 26) Synode 33, 38 Tamerlan / Timur 32 Tarkovskij, Andrej 255 (Anm. 17), 256 (Anm. 20) Tataren 10, 35, 174

Tatlin, Vladimir 99 taunchauz (townhouse) 184 Tauwetter 215 Kino 240–243, 250, 253 Teddy Boys 249 Theater 58, 82–84, 91, 126, 140, 148, 150, 162, 163, 235, 272 Thriller 246 Tkačenko, Sergej 200, 202, 205 Tobler, Max 127 Todorovskij, Valerij Hipsters 249–250, 251 (Abb. 12) Toller, Ernst 127, 129 Tolstaja, Tat’jana Kys 73, 265 Tolstoj, Aleksej K. 78 (Anm. 9) Tolstoj, Lev 47, 53, 77, 178 Anna Karenina 131 Kreutzersonate 131 Krieg und Frieden 47, 54–55, 270 Ton, Konstantin A. 38 Toporov, Vladimir 24 (Anm. 30), 45–46, 214, 259–260 Tret’jakov Galerie 98, 99, 148 Tret’jakov, Vitalij 264 Trifonov, Jurij 78 (Anm. 22) Triumf Palas 189, 201 (Abb. 8), 202 Troelenberg, Eva-Maria 98 Troick 188 Tschaikowski, Peter s. Čajkovskij Tschechow, Anton s. Čechov Tula (Oblast’) 178 Tver’ 29 Tverer Platz 26 Tverskoj bul’var 62 Tyler, Royall 108 Unionskonzil von Ferrara / Florenz 34 Universität 18, 76 US-Botschaft 240 usad’ba 47, 174, 176, 177 Uspenskij, Boris 214 Uspenskij sobor 23 (Anm. 13), 28, 89, 99, 105, 106 Utkin, Il’ja 202

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Vachtangov-Theater 58 Valuevo 176 Vasilij Dmitrievič 32 Vasilij der Grieche 12 Vasilij III. Ivanovič 34 Vaudeville 84 VDNCh 76, 224, 255 (Anm. 11), 263–264 Végléry, Alexander 111 Venedig, San Marco 103, 115 Vereščagin, Vasilij »Vor Moskau. In Erwartung der Deputation der Bojaren« 55 (Abb. 4) Verkehrsaufkommen 183, 186, 195, 210 Versorgungsraum 175, 181, 184 Verstovskij, Aleksej Askolds Grab 84 Vertov, Dziga Der Mann mit der Kamera 235 Vladimir 11, 29, 31, 32, 35 Goldenes Tor 28, 31 Uspenskij Sobor 31 Vladimir-Suzdal’ 27, 28, 30 Vladimirskaja ikona Božiej materi, 32, 33 (Abb. 3) Vnukovo 181 Voentorg, Armeekaufhaus 207–208 (Abb. 12, 13), 208 Vojnovič, Vladimir Moskau 2042 72 Volga (Fluss) 28 Vorob’ëv, Jurij 185 Vorob’ëvy gory 62, 76, 92 Voznesenskij, Andrej 215, 256 (Anm. 20) Wagner, Richard 85 Warschauer Chaussee 188 Weber, Carl Maria von 84

Weiskopf, F. C. 127 Weiß, Stefan 92 Weltausstellung Paris 119 (Anm. 26) Weltjugendfestival 1957 215 Whittemore, Thomas 100, 102, 109 Zagoskin, Michail 51, 84 Jurij Miloslavskij oder die Russen im Jahr 1612 49 Moskau und die Moskauer 51 Zalesskij, Sergej 208 Zar, Zartum 12, 18, 20, 33–34, 35, 36–38, 82–82, 91, 93, 133, 176 Krönung 31, 41 (Anm. 9) Sommerresidenz 174 Zarjad’e 209 Zastava Il’iča 242 ŽĖK, Žiliščno-ėkspluatacionnaja kontora 227–228 Zel’dovič, Aleksandr 79 (Anm. 37) Moskau 246, 247 (Abb. 8), 270 Zensur 58, 65, 78 (Anm. 25), 127, 129, 213, 255 (Anm. 18), 267 Zentrales Museum des Großen Vaterländischen Krieges 196 Zentralwarenbörse 135 Zersiedelung 185 Zinov’ev, Aleksandr 263 Zoë Palaiologa 33 Zola, Emile 52 Zuckerbäckerstil 193, 244 Žukovka 181 Zukunftsromane 69–75 Zvenigorod 178, 181 Zvjagincev, Andrej Elena 252

Autorinnen und Autoren

Thomas Grob ist Professor für Slavische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zu seinen Forschungsinteressen in der russischen Literatur gehören Romantik, Avantgarde und Gegenwartsliteratur, aber auch (Stadt-)Semiotik und Fragen von Literatur und Raum. Er ist Herausgeber einer deutschen Werkausgabe von Ivan Bunin. Sabina Horber ist die Koordinatorin am Kompetenzzentrum Kulturelle Topographien an der Universität Basel. Frithjof Benjamin Schenk ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. 2004 (und 2007 auch in russischer Übdersetzung) erschien seine Monographie zu Aleksandr Nevskij als Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis, kürzlich der Band Russlands Fahrt in die Moderne: Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter (2014). Dorothea Redepenning ist Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Heidelberg und Spezialistin für die Musik Russlands, der Sowjetunion und der postsowjetischen Zeit; sie ist Autorin der zweibändigen Geschichte der russischen und sowjetischen Musik (1994 und 2008). Barbara Schellewald ist Professorin für Ältere Kunstgeschichte an der Universität Basel. Ihr besonderes Interesse gilt der byzantinischen Bildproduktion und -programmatik sowie dem Kulturtransfer zwischen Ost und West. Alexander Honold ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Er betreut die Herausgabe von Band 15 der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Walter Benjamins, die als Kernstück das Moskauer Tagebuch enthält. Dietmar Neutatz ist Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine grundlegende Monographie zur Geschichte der Moskauer Metro (2001) erschien 2006 und 2013 auch in russischer Übersetzung. 2013 legte er unter dem Titel Träume und Alpträume eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert vor.

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Autorinnen und Autoren

Jörg Stadelbauer ist emeritierter Professor für Geographie und Landeskunde an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Arbeiten zu den Transformationsprozessen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, zu Stadtentwicklung und Kulturlandschaftsentwicklung behandeln immer wieder auch die Entwicklung Moskaus. Werner Huber ist Architekt und Redakteur der Architekturzeitschrift Hochparterre. Er beobachtet und dokumentiert die Bautätigkeit in Moskau seit 1990. Er ist Autor der architekturgeschichtlichen Monographie Moskau – Metropole im Wandel (2007) sowie zahlreicher weiterer Publikationen über das Baugeschehen in Moskau und in Warschau. Sabine Hänsgen ist Slavistin, Kultur- und Medienwissenschaftlerin und arbeitet zurzeit im Projekt »Performance Art in Eastern Europe (1950–1990)« an der Universität Zürich. Außerdem ist sie als Konzept-Künstlerin und Kuratorin hervorgetreten und trug als Herausgeberin und Übersetzerin unter dem Pseudonym Sascha Wonders (gemeinsam mit Günter Hirt) maßgeblich zur Rezeption des Moskauer Konzeptualismus im deutschsprachigen Raum bei. Tatjana Simeunović ist Dozentin an der Universität Basel (Osteuropa-Studien) und im Filmbereich tätig. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich des osteuropäischen, insbesondere des jugoslavischen und russischen Films. Tomáš Glanc ist Mitarbeiter im Projekt »Performance Art in Eastern Europe (1950–1990)« an der Universität Zürich. Der langjährige Dozent der Karls-­ Universität in Prag und Spezialist für Avantgarden und russische Kultur der Gegenwart leitete 2006/2007 das Tschechische Kulturzentrum in Moskau; er hatte verschiedene Gastprofessuren für Slavische Kulturwissenschaft inne.

WERNER HUBER

MOSKAU – METROPOLE IM WANDEL EIN ARCHITEKTONISCHER STADTFÜHRER

Moskau, einst kommunistische Welthauptstadt, entwickelt sich immer mehr zu einer modernen, schillernden kapitalistischen Metropole. Der architektonische Stadtführer zeichnet die Entwicklung der Stadt von den mittelalterlichen Ursprüngen bis heute nach. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Zeit nach 1935, als der »Stalin-Plan« die Entwicklungsrichtung der sowjetischen Hauptstadt festlegte. Thematisch gegliederte Kapitel stellen die wichtigen Bauten und Ensembles in den Zusammenhang der politischen und wirtschaftlichen Hintergründe ihrer Entstehungszeit. Die tiefgreifenden Veränderungen der Zeit nach 1991 bilden den Schlusspunkt des Buches und sind zugleich Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Moskauer Bauwesen der Gegenwart. Zahlreiche historische und zeitgenössische Fotos und Pläne reichern die kurzen, leicht verständlichen Texte an. Sie zeigen den Wandel der Stadt in all seinen Facetten. 2007. 286 S. 411 S/W-ABB. BR. 210 X 148 MM | ISBN 978-3-412-23506-2

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MONICA RÜTHERS

MOSKAU BAUEN VON LENIN BIS CHRUSCHTSCHEW ÖFFENTLICHE RÄUME ZWISCHEN UTOPIE, TERROR UND ALLTAG

Architektur, visuelle Kultur und Kommunikation zwischen Individuum und System in der Sowjetunion zwischen 1917 und 1970 stehen im Zentrum dieser Studie. Anstoß gab der irritierende Gegensatz zwischen der unwirtlichen Weite öffentlicher Räume in sozialistischen Städten und dem Gedränge vor den Geschäften, in Bussen, Straßenbahnen und winzigen Plattenbauwohnungen. Wie hingen die gebauten Räume mit den sowjetischen Öffentlichkeiten zusammen? Moskau wurde nach der Revolution zur Welthauptstadt des Kommunismus umgebaut. Die Autorin macht sich in der schillernden Metropole auf die Suche nach Antworten. 2006. 363 S. ZAHLR. S/W- UND FARB. ABB. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-77490-7

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