Entstehung, Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle im modernen Verfassungsstaat: Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung des richterlichen Prüfungsrechts in Deutschland unter Einbeziehung der französischen Entwicklung [1 ed.] 9783428505333, 9783428105335

Das sogenannte richterliche Prüfungsrecht (gleichbedeutend: konkrete Normenkontrolle) ist unter dem Grundgesetz nicht me

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Entstehung, Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle im modernen Verfassungsstaat: Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung des richterlichen Prüfungsrechts in Deutschland unter Einbeziehung der französischen Entwicklung [1 ed.]
 9783428505333, 9783428105335

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NADINE E. HERRMANN

Entstehung, Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle im modernen Verfassungsstaat

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 64

Entstehung, Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle im modernen Verfassungsstaat Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung des richterlichen Prüfungsrechts in Deutschland unter Einbeziehung der französischen Entwicklung

Von N adine E. Herrmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Herrmann, Nadine E.:

Entstehung, Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle im modernen Verfassungsstaat :eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung des richterlichen Prüfungsrechts in Deutschland unter Einbeziehung der französischen Entwicklung I von Nadine E. Herrmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Verfassungsgeschichte ; Bd. 64) Zug!.: Marburg, Univ., Diss., 2000/01 ISBN 3-428-10533-8

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-10533-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2000/2001 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Philipps-Universität zu Marburg als Dissertation angenommen. Ohne die umfassende Förderung meines wissenschaftlichen Werdeganges durch Herrn Professor Dr. Wemer Frotscher wäre die Entstehung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Er hat sich in zahlreichen Gesprächen die Zeit genommen, meine teilweise etwas zu mutigen Thesen zu diskutieren und so verhindert, daß mit der vorliegenden Arbeit die verfassungsgeschichtliche Literatur um ein Kapitel des "Sturm und Drang" bereichert wurde. Ihm gilt daher mein ganz besonderer Dank. Herrn Professor Dr. Stephan Buchholz schulde ich nicht nur Dank für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Vielmehr hat er mir eine Vertiefung meiner rechtsund verfassungsgeschichtlichen Kenntnisse ermöglicht und den Abschluß meines Studiums in vi ac tempestatibus begleitet. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, die, solange ich denken kann, stets für mich da waren und ohne deren liebevolle Anteilnahme deshalb auch diese Arbeit nicht hätte geschrieben werden können. Frankfurt am Main, im März 200 I

Nadine E. Herrmann

Inhaltsverzeichnis Ausgangspunkt der Untersuchung .... . .................. . ... ... ......... .. .. . . .. .... ...

15

I. Rechtsstaatlichkeil und gerichtliche Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

11. Methodik . ........ ... . . . .. . . . . . . ... . .... . . . . .. . . .... . . . . . . . . ...... . . . . . ..... . ... . . .. . 18

III. Gegenstand und zeitlicher Rahmen der Untersuchung

19

Erstes Kapitel

Richterliche Normenkontrolle im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation I. Das Heilige Römische Reich zwischen Staat, Staatenbund und völkerrechtlichem Verein ... . ... .. ......... .. ... . . . . . . . ... . . .. ... ....... . . . . . . . . .. . . ... .... .. . . . .. . . . ... II. Rechtsgrundlagen richterlicher Prüfung im Heiligen Römischen Reich . . . . . . . . . . . 1. Jurisdictio und Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Römisches Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Jurisdictio und Territorialherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Jurisdictio und Kaiserrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Subjekte, Maßstab und Gegenstände richterlicher Normenkontrolle im Alten Reich . ... .. .......... . ..... . . . .. .. ..... . .. . . ... . . .. .. . . . .. . .. . . ... . . .. . . . . . . . . .. . a) Das Reichskammergericht als Kontrollorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Stellung des Richters im Hl. Römischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Arten richterlicher Prüfung im Heiligen Römischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reichsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prüfung von Reichsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prüfung von Landesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Territorialgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Richterliche Normenkontrolle im Heiligen Römischen Reich: Eine vorläufige Bewertung . . ...... .. ... .... .. .. . . . . . . .................. . . . . . . . . . . ........... . . . ... . . .. . 1. Reichshoheit und Landeshoheit .. .. . .. .. .. .. .. . . .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . . . .. .. .. .. 2. Die Gerichte als Teilhaber der Jurisdictio im vorabsolutistischen Territorialstaat . ........... . ... . ... . . . ... . ... . .. .. . . . . ...... . ... . . . . .... . . . . . ...... . . ... . . . .. 3. Normenkontrolle als Mittel zur Wahrung überkommener Herrschaftsstrukturen . . . . ... .. .... . . . . . . . .... .. . . . ..... . . . . . .. .. .. . . . . . . . . . .. . .. . .. .. . . . . . . . . . ... .. .

23 24

25 26 28 28 29

30 30 31

33

34 34 36 37 39 39 40 41

Zweites Kapitel

Der deutsche Konstitutionalismus I. Der (aufgeklärte) Absolutismus als Wegbereiter des Konstitutionalismus

42 43

11. Die Französische Revolution als Katalysator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 III. Staatliche Integration durch Verfassungsgebung und richterliche Normenkontrolle 44

10

Inhaltsverzeichnis

IV. Grundlagen richterlicher Normenkontrolle in den Verfassungsurkunden des deutschen Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Verfassungen der Rheinbundzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zeit des Deutschen Bundes (1814/1815- 1848) . . . . . ....... .. ....... . ....... a) Das Königreich Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Großherzogtum Baden . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . .. .. . . . . .. .. . . .. c) Das Königreich Württemberg.................. . ... . ......................... d) Kurhessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vorläufige Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 3. Richterliches Prüfungsrecht in der Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die U.S.-amerikanische Lösung und ihre Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Streit um die Ernennung des Friedensrichters Marbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verfassung als Begründung und Limitierung der Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsvorrang und richterliche Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die juristische Kontroverse um das richterliche Prüfungsrecht als Spiegelbild gegensätzlicher Verfassungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Das richterliche Prüfungsrecht in der Praxis des Konstitutionalismus . . . . . . . . . . 2. Staatstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Staatsrechtslehre des monarchischen Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die liberal-rechtsstaatliche Auffassung . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . .. . .. . . . . . . . . . . . . . c) Der Verfassungsvorrang als rechtspolitisches Desiderat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wirksamkeit der Verordnung zur Änderung des Feuerversicherungsgesetzes von Sachsen-Weimar im Lichte der gegensätzlichen Vorstellungen . . . . . . . . 4. Zusammenfassung: Legitimität versus Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Das richterliche Prüfungsrecht als Archimedischer Punkt im frühkonstitutionellen Verfassungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verfassung als Verteilungsmaßstab subjektiver Beteiligungsrechte . . . . . . . . 2. Ständische Mitwirkungsrechte als negative Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Debatte um ein richterliches Prüfungsrecht als Wegbereiterin des Wandels

46 46 47 47 50 51 53 57 58 59 59 61 61 64 64 65 65 66 73 73 76 76 76 77 78

Drittes Kapitel

Das richterliche Prüfungsrecht in der Frankfurter Reichsverfassung I. Die fehlende Positivierung des richterlichen Prüfungsrechts in der Paulskirchenverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Funktion der richterlichen Normenkontrolle in der Konzeption der FRV . . . . . . I. Die Verpflichtung der Reichsgewalt auf den Schutz der Verfassung . . . . . . . . . . . . 2. Das richterliche Prüfungsrecht als unitarisierendes Element im Bundesstaat . . . III. Richterliches Prüfungsrecht in der FRV: Eine vertane Chance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

80 81 82 83 84

Viertes Kapitel

Richterliche Normenkontrolle in den Reaktionsjahren am Beispiel des Kurhessischen Verfassungskonflikts I. Zur Entstehung des Verfassungskonflikts in Kurhessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Septemberverordnungen und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85 85 87

Inhaltsverzeichnis 111. Zur Verfassungsmäßigkeit der Steuemotverordnu11g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Kognitionsbefugnisse des kurhessischen Oberappellationgerichts . . . . . . . . . . . . . 1. Kompetenz oder Beteiligungsrecht............... . . . . . ........... . .............. 2. Das richterliche Prüfungsrecht als Fortsetzung der Revolution mit anderen Mitteln .. . ..... . .................. . . . ................. . . . . . .................... . . . . . . a) Zur Stellung der Gerichte in Kurhessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die ungeklärte Legitimation des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Landständischer oder gerichtlicher Verfassungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der kurhessische Verfassungskonflikt: Eine vorläufige Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . .

11 88 90 90 92 92 93 93 94

Fünftes Kapitel

Das Deutsche Kaiserreich (1871-1918) I. Die Souveränitätsfrage im Deutschen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der staatsrechtliche Positivismus als Korrelat des Bismarckschen Verfassungskompromisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Das richterliche Prüfungsrecht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 19 18 . ...... . . .. . ......... . . ... .. . . . . . ...... ........... . . .. . .. . . .. . ............... . . . . I. RGZ 9, 232 (1883) ......... . . . . . ........................................ . . . . . ... 2. RGZ 15, 27 (1885) ..... . .. .. ... . . . . . .... . .. . .... ... . .. . . . ... . .. . .... . ........... 3. RGZ 24, I (1889) .......... . . . ................ . .. . . . ..... .......... . . . . . .. .. ... . 4. RGZ 40,68 (1901) und RGZ 48,84 (1911) ...... .. . . . ... . ................ . ..... 5. Ergebnis .... .. . .. . ............. .... . . ..... . ....... . .. .... ... . . . .............. . . . . IV. Richterliche Normenkontrolle als Wahrung des status quo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 96 97 100 100 102 103 103 104 105

Sechstes Kapitel

Das richterliche Prüfungsrecht in der Weimarer Republik I. Die normativen Vorgaben für das richterliche Prüfungsrecht im Verfassungstext . . II. Das richterliche Prüfungsrecht: Verfassungsrecht oder Verfassungspo1itik? . . . . . . . I. Der traditionelle Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Lückentheorie . . . ..... . . . ............. .. ........ . ... . ... . . . . . . . .... . . . . . . b) Der Selbstschutz der Verfassung ................ . ............................ aa) Gewaltenteilungslehren . ................. . ... . .............. . ..... . ..... bb) Ausfertigungslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Art. 13 II WRV . .. . . ..... . .. . . .. . . . . .. . .... . . . . . ... .. . . . . ..... . .. . . . . .. . . dd) Souveränitätslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Ansätze .. . . ..... .. .. . . . . . . . ....... . .. . .... . .... . ........ . ...... . ... . . . . . . . . a) Richard Thoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rudolf Smend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Antidemokratisches Denken und Orientierungslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Reichsgericht und die Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Weimarer Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Sieg anti-demokratischen Denkens . . .. . . . . . ........ . .. ... ... . . . . ... . . . . . . . .

106 106 107 108 108 112 112 113 115 115 116 116 117 119 119 120 120 122 122

12

Inhaltsverzeichnis Siebtes Kapitel

Das richterliche Prüfungsrecht im nationalsozialistischen Staat

124

I. Richterliche Normenkontrolle als Mittel zur Durchsetzung der nationalsozialisti-

schen Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Die Entscheidung RGZ 142, 56 (1933) ............... . ............ . ... .. . . . .... 126 2. Die Behandlung vor-nationalsozialistischen Rechts bis zur Entscheidung RGZ ····· ········· 127 .. ..................... 152, 390 (1936) ....... .

II. Formelle Prüfung im Kompetenz- und Zuständigkeitschaos des Hitler-Staates . . . . 129 III. Anpassung und Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Achtes Kapitel

Die Entwicklung der richterlichen Normenkontrolle in Frankreich I. Richterliche Normenkontrolle im Ancien Regime .. . . . . . . . .. .. . . .... . ......... . . . . . II. Die Vergöttlichung des (Parlaments-)Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die weitere Entwicklung des richterlichen Normenkontrollrechts bis zur Verfassung der V. Republik .................................. . . . ................. . ......... I. Der Senat conservateur im Ersten Empire (1799!1804-1815) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Senat des Zweiten Empire ( 1852-1870) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die 111. Republik (1875-1940) ................ . . . . . ... . .................... . .. . . a) ,J.,a loi n' est pas /' expression de Ia volonte generale" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) ,J.,e gouvernementdes juges et Ia Iutte contre Ia legislation sociale" .... . . . 4. Die IV. Republik (1 946-1 958) ........ . ... . ....... . . . . . ....... . ..... .. . .... . .... IV. Das richterliche Prüfungsrecht in der französischen Verfassungsgeschichte: Eine vorläufige Bilanz ......... . ......... . ....... . ......... ... . . . . .. . . . . . . ..... .. ........ .

132 133 134 137 137 138 139 139 141 142 142

Neuntes Kapitel

Das Richterliche Prüfungsrecht in der deutschen und französischen Verfassungsgeschichte-eineZusammenfassung der bisherigen Ergebnisse I. Das richterliche Prüfungsrecht in der deutschen Verfassungsgeschichte . . . . . . ..... I. Richterliche Teilhabe an der Jurisdictio und Schutz wohlerworbener Rechte .. 2. Staat und Gesellschaft als Gegensatzpaar .... . .... . ... . .. . ..... . ... . . .. . . . . ..... 3. Die Identität von Mehrheitswille und Recht .. .. .. . . . . . .. ..... .. ...... . .. . .. . . . . 4. Der totale Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . li. Das richterliche Prüfungsrecht in der französischen Verfassungsgeschichte . . . . . . . III. Richterliche Normenkontrolle in Deutschland und Frankreich: Verbindendes und Trennendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 143 144 145 146 147 148 149

Zehntes Kapitel

Die Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts im gegenwärtigen Verfassungsrecht Deutschlands und Frankreichs

152

I. Ausgewählte Probleme der konkreten Normenkontrolle in Deutschland ... . ....... 153

Inhaltsverzeichnis I. Die Kontrolle "vorkonstitutionellen" Rechts .......... . ................. . ... . . . . a) Die Deliktshaftung Minderjähriger ............ . ........... . . . ..... . ....... . . b) Die Selbstentlastung des Bundesverfassungsgerichts .............. . . . ... . . . . c) Die richterliche Anpassung alten Rechts an die neue Verfassung . . ..... . . . . 2. Die Rechtsfolgenbestimmung verfassungswidriger Gesetze .......... . . . ... . ... a) Normvertretende Vollstreckungsanordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normändernde Tenorierung ................... . . . . . ............... . ......... aa) Teilnichtigkeit ...... . . . ...................... . ........... . ... . . . ....... . . bb) Die Vermeidung der Nichtigerklärung .... . . . ........... . ..... . ......... cc) Die Vereinbarkeil nach Maßgabe der Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfassungsvorrang und Nichtigkeitsfolge . . .. . .. . . . . .. ... . . .... . . . . . .. . .. . . 3. Das Bundesverfassungsgericht und die europäische Integration .... . ... . . . . . .. . a) Das Rangverhältnis zwischen Grundgesetz und europäischem Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zustimmung durch das BverfG ........ . ...... .. ............. .... .. .. ... b) Vom Hüter der Verfassung zum Bewahrer deutscher Eigenstaatlichkeil . . . . 4. Altes und Neues in der Normenkontrollrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts .. .. . .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. . II. Das französische Modell einer präventiven abstrakten Normenkontrolle als Alternative . . .................. . . . ....................... .. ....................... . .. .. . . . 111. Verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in der pluralistischen Demokratie: Eine vergleichende Bewertung des deutschen und des französischen Modells . . . . . . . . . .

13 153 154 155 156 157 157 158 158 160 160 161 162 163 163 164 164 165 166 168

Schlußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Zusammenfassung in Thesen . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 173 I. Deutsche Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 II. Französische Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 111. Das gegenwärtige Verfassungsrecht Deutschlands und Frankreichs im Vergleich . 174

Literaturverzeichnis .. ... ...... . . . ..... . ... . . . . . ... . .. .. ... . ..... . ..... . . . . . . .... .. . .. .. . . 175 Personen- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. .. . . . . 204

Whoever hath an absolute authority to interpret any written or spoken law, it is he who is truly the lawgiver, to all intents and purposes, and not the person who first spoke or wrote them. 1 (Bischof Hoadly, 1717/

Ausgangspunkt der Untersuchung Die richterliche Kontrolle einer Rechtsnorm am Maßstab höherrangigen Rechts, insbesondere der Verfassung, aus Anlaß eines konkreten Rechtsstreits 3 (sogenanntes richterliches Prüfungsrecht4 oder konkrete Normenkontrolle 5) gilt im deutschen Verfassungsverständnis als Schlußstein im Gebäude jedes modernen Rechtsstaats. 6 Sie scheint so gesehen ein unverzichtbares und unaufgebbares Strukturelement auch der deutschen Staatlichkeil zu bilden. Auch und gerade im europäischen Einigungsprozeß müßte die deutsche Seite folgerichtig darauf bedacht sein, daß im werdenden europäischen Verfassungsstaat 7 eine starke richterliche Normenkontrollinstanz geschaffen wird. Denn angesichts des Art. 79 III GG ist es unter der Herrschaft des Grundgesetzes ausgeschlossen, ein Strukturelement des Rechtsstaats (Art. 20 GG) durch Übertragung von Hoheitsrechten aufzugeben. 8 Insoweit ist es indes unerläßlich, daß der solcher Art geschützte rechtsstaatliche Kernbereich richterlicher Normenkontrolle rechtstatsächlich und rechtsdogmatisch 1 Wahrlich, wer immer die absolute Autorität besitzt, irgendein schriftlich festgelegtes oder mündlich überliefertes Recht auszulegen, der ist in jeder Hinsicht der Schöpfer des Rechts, und nicht die Person, die es zuerst niedergeschrieben oder ausgesprochen hat. 2 Hier zitiert nach Clinton, Marbury v. Madison, S. 7. 3 Maunz!Dürig, GG, Art.IOO Rn. I; Schneider, Funktion, S. l2; Stern, AöR 91, 223, 227; Bachof, in: Festschrift für Huber (1961), S. 26, 30f.; Wahl, Der Staat 20 (1981), 485, 489. • Eigentlich problematisch ist nicht die richterliche "Prüfung", sondern die Kompetenz des Richters, über Gültigkeit oder Anwendbarkeit der geprüften Norm zu entscheiden. Da hierüber allerdings keinerlei Streit besteht, kann der Begrifftrotz seiner Unschärfe verwendet werden. Diese oder ähnliche Feststellungen zur Begrifflichkeil finden sich in praktisch jeder verfassungsgeschichtlichen Untersuchung zur konkreten Normenkontrolle. Vgl. etwa Maurer, DÖV 1963, 683, 684; Morstein Marx, Variationen, S. 2; Schack, Prüfung, S. 16ff.; Jonas, Prüfungsrecht, S.ll; Bischof, ZCP 16 (1859), 235, 237. 5 Der Begriff Normenkontrolle tauchte im Schrifttum erstmals nach dem 2. Weltkrieg auf (vgl. Imboden, in: Festschrift für Huber [1961], S.133, 133) und ist wohl auf Hans Peter /psen zurückzuführen (in: DV 1949, S. 486, 488) Ob dies in Anknüpfung an Kelsen erfolgte (so Maunz/Dürig, Art. 100 Rn. 17, Fn. 1), läßt sich indes nicht mit Sicherheit sagen (Schneider, Funktion, S. I I). 6 Vgl. etwa Stall, JherJb 76 (1926), 134, 193, 201; Frotscher!Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 331; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S.47. 7 Zur Diskussion um einen europäischen Verfassungsstaat vgl. beispielweise A. Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht, S.50f.; Grimm, JZ 1995,581, 584ff.; M. Kaufmann, Der Staat 36 (1997), 521, 521; Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 53. 8 Zu dieser Bindung der deutschen Staatsgewalt BVerfG v. 12.10.1993, BVerfGE 89, 155, 172f., 184ff. - Maastricht. Dazu auch Rojahn, in: v. Münch/Kunig, Art. 23, Rn. 46; Jarassl Pieroth, Art. 23, Rn. 25; A. Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht, S. 58 ff.

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Ausgangspunkt der Untersuchung

eindeutig umschrieben werden kann. Hier könnte man nun annehmen, daß beinahe zweihundert Jahre rechtswissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Problem des richterlichen Prüfungsrechts zu einer abschließenden Klärung jedenfalls von Grund und Grenzen der richterlichen Normenkontrollbefugnis geführt haben. Näheres Zusehen erweist die Rechtslage indes als weniger eindeutig. Dies gilt umso mehr, wenn die konkrete Normenkontrolle in den gemeineuropäischen Verfassungskontext eingeordnet werden soll. Ohne einen solchen Nachweis strukturell übereinstimmender Verfassungsinstitutionen in Europa durch wertende Rechtsvergleichung ist jede Selbstbehauptung des deutschen Verfassungsverständnisses von vomherein zum Scheitern verurteilt. Deshalb soll in die verfassungsgeschichtliche Darstellung eine rechtsvergleichende Untersuchung des richterlichen Prüfungsrechts in der französischen Verfassungsgeschichte integriert werden.9 Gerade die französische Verfassungsgeschichte ist für eine solche vergleichende Betrachtung im besonderen Maße geeignet, weil die Französische Revolution die deutsche Verfassungsentwicklung nicht nur ideengeschichtlich, sondern in der Zeit der napoleonischen Besatzung auch ganz konkret beeinflußt hat. Hinzu tritt ein weiterer Umstand: In der französischen Verfassungsentwicklung ist ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber geltenden Gesetzen seit der Revolution abgelehnt worden. 10 Insofern handelt es sich hier um ein echtes Alternativmodell zur deutschen Behandlung des richterlichen Prüfungsrechts. Deshalb könnte die nähere Untersuchung der französischen Verfassungsgeschichte auch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Entwicklungsund Argumentationslinien im deutschen Verfassungsrecht leisten. I. Rechtsstaatlichkeit und gerichtliche Normenkontrolle Durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 11 ist für das deutsche Verfassungsrecht normativ entschieden, daß ein beim Bundesverfassungsgericht konzentriertes richterliches Normenkontrollrecht besteht. Aus heutiger Sicht ist damit das hinter dem richterlichen Prüfungsrecht stehende Legitimationsproblem 12 in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. 13 Denn es versteht sich keineswegs von selbst, daß ein nicht unmittelbar demokratisch legitimiertes Gericht durch die ihm eingeräumte Prüfungs- und Verwerfungskompetenz (Art. 100 I GG) 9 Die Bedeutung der vergleichenden Betrachtung der deutschen wie der französischen Verfassungsgeschichte für die Entwicklung eines gemeinsamen westlichen Verfassungsmodells betont mit Recht auch Fromont, in: 40 Jahre Grundgesetz (1989), 33, 39. 10 Vgl. vorläufig Cappelletti/Ritterspach, JöR n. F. 20 ( 1971), 65, 72; Gehlert, Schutz, S. 35; Sonnenberger/Autexier, Einführung, S. 35 f.; Pactet, Institutions politiques, S. 79 f. II BGBI I, I. 12 Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 338 ff.; Roe/lecke, in: HdbStR II, S. 666, 672 f.; Tohidipur, in: Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 10, 13; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 18 f. 13 So Baruzzi, Freiheit, S. 139; ähnlich auch Tohidipur, in: Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 10, 13; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 72f. und Laufer, in: Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 92, 93, II.

I. Rechtsstaatlichkeil und gerichtliche Normenkontrolle

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über dem parlamentarischen Gesetzgeber steht und letztverbindlich über die Gültigkeit einer Norm entscheiden kann. Im Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts ist freilich von solchen Legitimationszweifeln wenig zu spüren. Beispielhaft sei hier nur der Beschluß des Zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. November 1998 in einem durch Vorlagebeschluß des Bundesfinanzhofes 14 eingeleiteten konkreten Normenkontrollverfahren angeführt. Das Bundesverfassungsgericht entschied hier, daß "§ 32 VI EStG i. d. F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/88 [... ] insoweit mit Art. 3 I i. V. m. Art. 6 I GG unvereinbar [sei], als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von zusammen 2484,- DM beanspruchen konnten 15" . Die Verfassung verlange vielmehr einen Kinderfreibetrag von mindestens 4416,- DM. 16 Ohne auf die weiteren Einzelheiten 17 dieses Beschlusses eingehen zu wollen, dürfte bereits durch den Tenor deutlich geworden sein, wie das Bundesverfassungsgericht seine Stellung im heutigen Verfassungsgefüge definiert. 18 Die erreichte hohe Kontrolldichte legt es nahe, daß hiermit der Endpunkt in der Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts erreicht ist. In einer verfassungsgeschichtlichen Untersuchung des richterlichen Prüfungsrechts ist es hingegen nicht ohne weiteres angängig, ein nach geltendem Verfassungsrecht wirklich oder vermeintlich bestehendes Legitimationsproblem in den Rang eines Erkenntnis- und Bewertungsmaßstabes für historische Phänomene zu erheben. 19 Vielmehr müssen diese zunächst für sich genommen untersucht werden. Ansonsten würden die spezifischen Entstehungsbedingungen des richterlichen Normenkontrollrechts allzu leicht verkannt. Denn das selbstbewußte Auftreten des Bundesverfassungsgerichts 20 kann nicht als verfassungsgeschichtlicher Normalfall apostrophiert werden. Eher trifft das Gegenteil zu: Überdeutlich wird dies am Beispiel der Normenkontrollentscheidung des Oberappellationsgerichts Kassel im kurhessischen Verfassungskonflikt von 1850. Damals erklärte ein vorsichtiges, beinahe ängstliches 2 1 Gericht eine Steuer-Notverordnung des Kurfürsten Friedrich Wilhelm für unwirksam, weil die Landstände nicht in verfassungsmäßiger Weise beteiligt worden waren.22 Zumindest dem ersten Anschein nach ging es dem kurhessischen BFH v. 16.7.1993, BFHE 171,534. BVerfG v. 10.11.1998, NJW 1999, 562, 562. 16 BVerfG v. IO.ll.l998, NJW 1999, 562,564. 17 Vgl. dazu etwaArndt/Schumacher, NJW 1999, 746ff.; dies., NJW 1999, 1689, 1690; G/anegger, DStR 1999, 227, 228; Kanzler, FR 1999, 148 ff.; Moritz, JAR 1999, 50, 52. 18 Allgemein zur heute erreichten Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge Schlaich, Bundesverfassungsgericht, Rn. 486ff.; Roellecke, in: HdbStR Il, S. 666, 672; W. Meyer, in: v. Münch/Kunig, Art. 93, Rn. 64 ff. 19 Mindestens verkürzend deshalb Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 48. 20 Vgl. nur BVerfG v. 25.2.1975, BVerfGE 39, I, 67. 21 Einige Oberappellationsgerichtsräte ließen sich einem Aktenvermerk zufolge wegen "Unpäßlichkeit" entschuldigen, als es galt, dem Kurfürsten den Normenkontrollbeschluß mitzuteilen vgl. Huber, Dokumente I, Nr. 211 (S.486 Fn. 9). 22 OAG Kassel vom 12.9.1850, Huber, Dokumente I, Nr. 206. 14

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Ausgangspunkt der Untersuchung

Oberappellationsgericht mithin allein um die Wahrung ständischer Mitwirkungsrechte. Deutlich im Vordergrund stand also nicht eine dynamische Weiterentwicklung der Verfassung, wie sie von der kurhessischen Oppositionsbewegung angestrebt wurde, sondern der Schutz des überkommenen Verfassungsgefüges gegen Veränderung. Schon diese nur flüchtige Betrachtungzweier Normenkontrollentscheidungen offenbart ein grundsätzliches Problem, vor dem jede verfassungsgeschichtliche Darstellung des richterlichen Prüfungsrechts steht. Es ist nämlich keineswegs gesichert, daß das richterliche Prüfungsrecht als Phänomen überhaupt kontinuierlich durch die Verfassungsgeschichte verfolgt werden kann. 23 So darf die an der Oberfläche sichtbare Parallelität nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine Normenkontrolle am Maßstab der Verfassung in unterschiedlichen Verfassungsordnungen je eine andere Funktion erfüllen kann. Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung des richterlichen Prüfungsrechts hat also zunächst den Kontext der jeweiligen Verfassung zu berücksichtigen. Da jede Verfassung dem staatlichen Leben eine Ordnung geben soll 24 , müssen darüber hinaus auch die ideengeschichtlichen Voraussetzungen des durch die Verfassung geordneten staatlichen Lebens einbezogen werden.

II. Methodik Die Darstellung des richterlichen Prüfungsrechts erfordert wie jede andere (verfassungs-)geschichtliche Untersuchung zu Beginn eine Vergewisserung über den eigenen methodischen Ansatz. 25 Seit langem wird in der Geschichtswissenschaft darüber gestritten, ob an historische Fragestellungen aus der Gegenwartsperspektive herangegangen werden sollte, oder ob eine objektive Betrachtung aus der Perspektive der jeweiligen Epoche heraus vorzugswürdig ist. 26 Für den Rechtshistoriker, der in Ziel und Methode ebenso vorgehen muß wie der allgemeine Historiker 27 , stellt sich dieses elementare methodische Problem mit besonderer Schärfe. Denn er ist gezwungen, aus der Gesamtheit des Quellenstoffes rechtliche Phänomene herauszufiltem. 28 Gerade rechtliche und rechtsähnliche Phänomene zu erkennen und in heutige Begriffe zu übersetzen, beVgl. dazu Renger, in: Festschrift für Müller (1970), S. 275, 276. Willoweit, Verfassungsgeschichte, §I I; Gusy, Prüfungsrecht, S. 121 ; vgl. dazu auch Kose/leck, Der Staat, Beiheft 6 (1983), 7, 8ff. 25 Ebenso Stol/eis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 53 ff.; Frotscherl Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 5- 9; Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 2. 26 Vgl. Willoweit, § 2; Boldt, Verfassungsgeschichte, S. 21 ff.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 5 ff.; Heller, Staatslehre, S. 122 ff.. 27 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 15, insb. Fn. 3, 423f.; ders., Art. "Methode der Rechtsgeschichte", in: HRG III, Sp. 518, 519; D. Simon, Art. Rechtsgeschichte, in: Görlitz, Handlexikon, S. 314, 315; Senn, Rechtshistorisches Selbstverständnis, S. 2 f. 28 Stol/eis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 54; Wieacker, Art. "Methode der Rechtsgeschichte", in: HRG III, Sp. 518, 520f. 2l

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III. Gegenstand und zeitlicher Rahmen der Untersuchung

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inhaltet die naheliegende Gefahr von "Übersetzungsfehlem" und Mißverständnissen. Es ist hier nicht der geeignete Ort, sich mit dem damit mittelbar angesprochenen erkenntnistheoretischen Grundproblem, ob nicht ohnedies jedes Verstehen ein Vorwissen des zu verstehenden Gegenstandes voraussetzt (sogenannter hermeneutischer Zirkel 29), eingehend zu befassen. Vielmehr gilt es nur, die dem konkreten Untersuchungsgegenstand relativ angemessenere Vorgehensweise zu ermitteln, ohne zu dem geschichtsphilosophischen Schulenstreit30 abschließend Stellung zu beziehen. Die Verfassungsgeschichte des Prüfungsrechts aus der Gegenwartsperspektive, aus der "Perspektive des Jetzt" 31 , zu schreiben, liegt schon deshalb nahe, weil durch die Wahl dieses methodischen Ausgangspunktes zugleich auch das Erkenntnisziel der Untersuchung bestimmt wird. Schließlich soll auch die vorliegende Abhandlung die zwischen richterlichem Prüfungsrecht und jeweiliger Verfassungsordnung bestehenden Interdependenzen herausarbeiten und dazu beitragen, unsere heutige Verfassungsordnung besser zu verstehen. Deshalb vorschnell die "Perspektive des Jetzt" einzunehmen, wäre dennoch dem Untersuchungsgegenstand nicht vollständig angemessen. Es bestünde dann nämlich die Gefahr, Erkenntnisziel und Erkenntnismethode zu verwechseln: Schließlich soll das Verständnis des gegenwärtigen Verfassungsrechts durch eine historische Untersuchung gefördert werden. Es würde die Gefahr einer Verkehrung dieses Erkenntnisziels beinhalten, die verfassungshistorische Untersuchung bereits in der Methode auf das geltende Recht auszulegen. Vor allem aus diesem Grund ist die Perspektive der jeweils betrachteten Epoche vorzugswürdig. Nur sie gewährleistet eine beständige Überprüfung des eigenen Vergleichsmaßstabs im Lichte der Erkenntnisse aus der Quellenarbeit und ermöglicht es, diesen gegebenenfalls anzupassen. Deshalb wird nachfolgend versucht, vom jeweiligen zeitgenössischen Verständnishorizont auszugehen. Es soll gleichwohl nicht geleugnet werden, daß auch die nachfolgend unternommene Untersuchung zeitgebunden ist und jedenfalls mit einigem Abstand auch als zeitgebunden zu erkennen sein wird.

111. Gegenstand und zeitlicher Rahmen der Untersuchung Den zeitlichen Rahmen einer vorrangig dem richterlichen Prüfungsrecht in Deutschland gewidmeten Untersuchung abzustecken, erscheint einfach: Man geht 29 Zu diesem neueren Ansatz der philosophischen Hermeneutik vgl. grundlegend Heidegger, Sein und Zeit, § 45; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 245 ff. Die klassischen Ansätzen der älteren hermeneutischen Tradition finden sich bei Schleiermacher, Hermeneutik; Droysen, Historik; Dilthey, Geisteswissenschaften; derselbe, Hermeneutik. Zur spezifisch rechtshistorischen Hermeneutik nur Wieacker, Notizen, S. 1- 22. 3 Kose/leck, Vergangene Zukunft, 107ff.; Schnädelbach, Vernunft und Geschichte, S. 125 ff. 3 1 Heller, Staatslehre, S. 12.

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im Schrifttum nämlich nahezu allgemein davon aus, daß das richterliche Prüfungsrecht erst im 19. Jahrhundert in Theorie und Praxis als Problem erkannt worden sei. 32 Insbesondere der kurhessische Verfassungskonflikt (1850) wird weithin als Geburtsstunde der richterlichen Normenkontrolle angesehen. 33 Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und die These aufstellen, daß das richterliche Prüfungsrecht als Verfassungsphänomen untrennbar mit dem konstitutionellen Zeitalter verbunden ist. Hieran ist richtig, daß das richterliche Prüfungsrecht im 19. 1ahrhundert nachgerade so etwas wie einjuristisches "Modeproblem" 34 , ein "Lieblingsthema der deutschen Juristen" 35 , war. 36 Nur wenige Autoren 37 befaßten sich mit Fragen richterlicher Normenkontrolle in der Zeit des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation. Der Grund für diese Zurückhaltung erscheint indes durchaus zeitgeistbedingt Denn die Problematik des richterlichen Prüfungsrechts ist im 19. Jahrhundert als Teil des säkularen Gegensatzes zwischen Volkssouveränität und monarchischem Prinzip virulent geworden in der Auseinandersetzung um die Wirksamkeit fürstlicher Verordnungen, die ohne verfassungsmäßige Beteiligung der Ständeversammlungen erlassen wurden. 38 In dieser Auseinandersetzung wurde auch die Verfassungsgeschichte ausgewertet, da man sich hiervon 39 eine Bestätigung des eigenen Ansatzes erhoffte. 40 Argumente für oder gegen ein Prüfungsrecht der Landesgerichte gegenüber landesherrlichen Normsetzungen ließen sich indes aus der (Verfassungs-)Geschichte des Hl. Römischen Reiches schwerlich gewinnen. Es war nämlich allgemeine Meinung, daß die Territorialgerichte zu dieser Zeit in Bezug auf landesherrliche Ge32 v. Konschegg, Ursprung und Wandlung, S. 42 f.; Giirres, JW 1924, 1564, 1564; Schack, JW 1922, 82, 82. Dies erhellt mittelbar daraus, daß es kaum Untersuchungen zum richterlichen Prüfungsrecht gibt, die sich mit früheren Epochen befassen. Vgl. etwa Gusy, Prüfungsrecht, passim, der seine Darstellung mit der Zeit des Frühkonstitutionalismus beginnt oder Maurer, DÖV 1963, 683, der sich gar auf die Zeit der Weimarer Republik beschränkt. .n Frotscher/Volkmann, in: Festschrift 50 Jahre Hessische Verfassung ( 1996), S. 17, 3 1. 34 Morstein Marx, Variationen, S. 5. 35 G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 397. 36 Stern, AöR 91 ( 1966 ), 223, 223; Schefold, JuS 1972, I, I. Das richterliche Prüfungsrecht war Gegenstand sowohl des III. Deutschen Juristentages 1862 in Wien wie auch des IV. DJT in Mainz im Folgejahr. 37 Gneist, in: Verhandlungen zum IV. DJT, ( 1863), Bd.l, S. 225, 227; Linde, AcP 16 ( 1833), 305, 335; Mittermaier, AcP 4 ( 1821 ), 305, 331 f.; Reichensperger, Verhandlungen zum 111. DJT ( 1862), Bd.II, 25, 34 f. 38 Der bereits erwähnte Streit um die Steuernotverordnung Friedrich Wilhelms im Kurhessischen Verfassungskonflikt 1850 ist hier nur das prominenteste Beispiel. Ein weiterer wichtiger Fall ist die Normenkontrollentscheidung des Obergerichts Aurich vom 3.10.1855. Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 209 ff.; Frotscher, Der Staat 10 ( 1971 ), 383, 385 ff.; zu den gesellschaftlichen und politischen Hintergründen auch Wöltge, Reaktion, S. 93 ff. 39 Zur Bedeutung der geschichtlichen Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert vgl. etwa Conrad, ZRG Germ. Abt.65 ( 1947), 261, 263 ff.; Thieme, in: HRG II, Art. "Historische Rechtsschule". 40 Etwa Bischof, ZCP 16 (1859), 235, 245.

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setze und Verordnungen kein Prüfungsrecht hatten. 41 Gleichwohl ist für die vorliegende Abhandlung eine differenziertere Betrachtung vonnöten. Jedenfalls die Rechtsprechung der obersten Reichsgerichte (Reichskammergericht und Reichshofrat) zur Vereinbarkeil von Landesrecht mit Reichsrecht könnte wichtige Erkenntnisse über die Entstehungsbedingungen des Normenkontrollverfahrens in Deutschland zutage fördern. Entsprechendes gilt für die, wenn auch seltenen42, Fälle einer Prüfung von Territorialrecht durch Landesgerichte. Jeweils ist vorurteilsfrei danach zu fragen, ob es so etwas wie ein richterliches Prüfungsrecht auch damals schon gegeben hat. Freilich unterliegen Begriffe, zumal Rechtsbegriffe, dem Wandel der Zeitläufte. Das macht es schwierig, die Entwicklung eines Rechtsinstituts durch die Geschichte zu verfolgen, da man sich stets der Gefahr bewußt sein muß, das vergangene Geschehen nur aus dem heutigen und damit aus einem einseitigen Blickwinkel heraus zu beobachten.43 So wurde der Begriff der "richterlichen Prüfung" erstmals im 19. Jahrhundert verwendet. 44 Rechtswissenschaft und -praxis in der Zeit des Hl. Römischen Reiches war er unbekannt. 45 Der Sache nach läßt sich das Phänomen richterlicher Normenkontrolle aber auch schon im 18. Jahrhundert nachweisen. In der Lehre findet sich etwa in dem Handbuch von J. J. Moser46 die Umschreibung der richterlichen Prüfung als "Gegeneinanderhalten von Reichsgesetzen und Kayserlichen Befehlen" 47 • Behandelt wird das Prüfungsrecht auch in der grundlegenden Dissertation von Neuraths 48 , dem Standardwerk über die Reichweite der richterlichen Entscheidungskompetenz im 18. Jahrhundert. 49 Von Neurath nahrri darin auch zu der Frage Stellung, inwieweit sich das richterliche Entscheidungsrecht (cognitio iudiciaria) auf die Gültigkeit von Rechtsnormen erstreckte. 5° Die praktische Bedeutung der richterlichen Normenkontrolle läßt sich schließlich daran ablesen, daß der Reichshofrat in einem Conclusum anordnete, daß "von denen Fürstlichen Judiciis 41 Vgl. hierzu Bischof, ZCP 16 (1859), 235,248 ff.; Martin, Umfang, S.59; Schack, Die Prüfung, S. 46; Sei/mann, in: Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I, S. 25, 35 ff.; Wulffen, Richterliches Prüfungsrecht, S. 21. 42 V gl. v. Weber, in: Festschrift für Thoma (1950), S. 257, 258. 43 Vgl. oben Ausgangspunkt II. 44 Er findet sich soweit ersichtlich erstmals bei K. S. Zachariä, AcP 16 (1833), 145, 164f. 45 Wulffen, Richterliches Prüfungsrecht, S. 21. 46 Johann Jacob Moser (1701-1785) war vielleicht der bedeutendste Staatsrechtslehrer des Alten Reichs. Unbestritten war er jedenfalls der produktivste Schriftsteller seiner Zeit mit einem Ehrfurcht gebietenden Gesamtwerk von knapp 600 Bänden. Näheres zu Mosers Leben und Werk bei Kleinheyer!Schröder, Deutsche Juristen, S. 194-198. 47 Moser, Teutsche Justizverfassung, S. 1165. 48 Johann Friedrich Albert Constantin v. Neurath, geboren am 17.5.1739 in Alsfeld, wurde dem Reichskammergericht von Preußen für den Rheinisch-Westfälischen Kreis als Assessor präsentiert. Er wirkte dort von I 782-1806. 49 Ihr Titel lautet "Observationes nonnullae de cognitione et potestate iudiciaria in causis quae politiae nomine veniunt". so v.Neurath, Diss, S.24ff.

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Ausgangspunkt der Untersuchung

darauf (sc. constitutiones, N. H.) nicht gesprochen, noch sonst reflectiret werden dürfe"Y Kann somit davon ausgegangen werden, daß bereits im 18. Jahrhundert "Reichsgesetze und Kayserliche Befehle gegeneinander gehalten" wurden, man über die Reichweite der "cognitio iudiciaria" räsonierte und der Reichshofrat es den fürstlichen Gerichten untersagte, "auf constitutiones zu reflectiren", ist gleichwohl noch offen, was hierunter im einzelnen verstanden wurde. Diese Frage kann indes nicht abstrakt, sondern erst nach Analyse der jeweiligen Einzelfälle beantwortet werden. 52 Bereits nach diesem knappen Problemaufriß dürfte deutlich geworden sein, daß die Zeit des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation aus einer dem richterlichen Prüfungsrecht gewidmeten Untersuchung nicht vorschnell ausgeblendet werden darf. Insbesondere die Reichspublizistik des 17. und 18. Jahrhunderts könnte ebenso wertvolle Hinweise für das Verständnis der Grundlagen richterlicher Normenkontrolle liefern wie eine nähere Beschäftigung mit der Stellung des Richters in einer vorstaatlichen ständischen Gesellschaftsordnung. Am Ende der Untersuclum(könnte zwar durchaus das Ergebnis stehen, daß das richterliche Prüfungsrecht als Rechtsphänomen auf den Konstitutionalismus beschränkt ist. Ohne zuvor die Quellen aus der Zeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gesichtet und in die Darstellung einbezogen zu haben, wäre dieses Ergebnis indes nicht hinreichend abgesichert. Mithin kann der Untersuchungsgegenstand wie folgt präzisiert werden: Verfolgt werden soll - unter vergleichender Einbeziehung der französischen Verfassungsgeschichte- die Entwicklung der heute als richterliche Normenkontrolle angesprochenen Rechtsphänomene in der Zeit vom Hl. Römischen Reich Deutscher Nation bis in die Gegenwart. Die Erstreckung einer verfassungsgeschichtlichen Untersuchung bis in die Gegenwart hinein erzeugt einen gewissen Rechtfertigungsbedarf. Was ist noch Verfassungsgeschichte, was ist bereits ausschließliche Darstellung des geltenden Rechts? Letztlich handelt es sich bei der darstellerischen Trennung zwischen Verfassungsgeschichte und geltendem Recht um ein Scheinproblem. Beeintlußt doch das geltende Recht als Erkenntnisziel ohnedies jede verfassungsgeschichtliche Abhandlung. Es bestimmt darüber hinaus über das Vorverständnis des Rechtshistorikers in gewissem Umfang auch Methodik und Vorgehensweise. Deshalb ist es für das Verständnis einer verfassungsgeschichtlichen Arbeit im Grunde unverzichtbar, die zugrundegelegte Auffassung des geltenden Rechts explizit offenzulegen.

51 Reichshofrat vom 19.10.1724, in: Moser, Reichshofrathsconclusa, Bd. II, Concl. 215, Nr.10. 52 Viel zu knapp hingegen Marcic, Richterstaat, S. 345, der Reichskammergericht und Reichshofrat pauschal als "Bollwerke der Freiheit" preist.

Erstes Kapitel

Richterliche Normenkontrolle im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Die Vergleichbarkeit möglicher Fälle richterlicher Prüfung in der Zeit des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation mit dem heutigen Begriff konkreter Normenkontrolle scheint an dessen Bezogenheil auf eine bestimmte staatliche Verfassungsordnung zu scheitern. Dahinter steht die Vorstellung, daß richterliche Normenkontrolle nur in einer unauflöslichen Wechselbeziehung zum konstitutionellen Staat gedacht werden kann. Sie wäre danach ausschließlich ein Mittel, die Balance zwischen verschiedenen, jeweils verfassungsmäßig konstituierten, Gewalten zu bewahren. Träfen diese Prämissen zu, wären sämtliche Phänomene richterlicher Normprüfung im Hl. Römischen Reich vollständig inkommensurabel. Es ist jedoch begründungsbedürftig, eine aus dem konstitutionellen Zeitalter tradierte oder dem heutigen Verfassungsverständnis entnommene Funktion richterlicher Normenkontrolle zum Maßstab bereits für die prinzipielle Vergleichbarkeit rechtshistorischer Phänomene zu erheben. Deshalb ist es problematisch, wenn die Untersuchung der richterlichen Normenkontrolle mindestens stillschweigend auf das konstitutionelle Zeitalter beschränkt wird. 1 Demgegenüber soll in der vorliegenden Arbeit das Phänomen richterlicher Normenkontrolle unabhängig von einer bestimmten Funktion im jeweiligen Verfassungsgefüge untersucht werden. Es geht allein um die richterliche Prüfung einer Norm am Maßstab höherrangigen Rechts aus Anlaß eines konkreten Rechtsstreits. 2 Unter Zugrundelegung dieser offenen Definition kann die Zeit des Römischen Reiches Deutscher Nation nicht a limine ausgeblendet werden. Vorausgesetzt ist freilich, daß im Hl. Römischen Reich angesichts dessen komplexer "Verfassungsstruktur" überhaupt reichseinheitliche höherrangige Maßstabsnormen aufgewiesen werden können. Deshalb ist eine jedenfalls kurze Vergewisserung über die innere Struktur dieses schon in den Augen der Zeitgenossen eher einem Monstrum vergleichbaren Gebildes 3 unerläßlich.

1 Konschegg, Ursprung und Wandlung, S.42f.; Görres, JW 1924, 1564, 1564; Schack, JW 1922, 82, 82; Maurer, DÖV 1963, 683 ff.; Gusy, Prüfungsrecht, S. 29. 2 Zu dieser Definition der richterlichen Normenkontrolle siehe bereits oben Ausgangspunkt pr. 3 Pufendorf, Verfassung des Deutschen Reiches, S. 198.

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l. Kap.: Richterliche Normenkontrolle im Heiligen Römischen Reich

I. Das Heilige Römische Reich zwischen Staat, Staatenbund und völkerrechtlichem Verein

Im vorliegenden Zusammenhang die überaus komplizierten und in ihrer Zeitgebundenheit heute kaum noch verständlichen Einzelheiten der "Reichsverfassung" zu beleuchten, würde zu weit führen. Unter dem Aspekt eines reichseinheitlichen Maßstabs höherrangigen Rechts ausreichend ist es vielmehr bereits, nachzuweisen, daß sich die agierenden Subjekte an bestimmten als rechtlich verbindlich angesehenen Handlungsmaximen orientiert haben. Denn schon dann war es de iure möglich, Akte der Normsetzung an jenem Maßstab zu überprüfen. Diese elementare Voraussetzung einer mindestens staatsähnlichen Organisationsstruktur des HI. Römischen Reiches Deutscher Nation ist für die Zeit ab 1648 von Randelzhofer in Frage gestellt worden.• Randelzhofer vertritt die Auffassung, daß das Alte Reich durch die Friedensverträge von Münster und Osnabrück als Staat untergegangen sei und lediglich als völkerrechtlicher Verein souveräner Staaten fortbestanden habe. 5 Wäre diese These zutreffend, käme für die Zeit nach dem Westfälischen Frieden auf Reichsebene eine richterliche Normenkontrolle naturgemäß nicht mehr in Betracht. Es fehlte bereits an einem Kontrollsubjekt Bevor indes die Haltbarkeit der These Randelzhofers einer näheren Prüfung unterzogen werden soll, gilt es festzuhalten, daß für den Zeitraum bis 1648 nicht nur im Verständnis der Zeitgenossen, sondern auch aus der Sicht der modernen Staatslehre6 von einer für die Ermöglichung einer richterlichen Normenkontrolle hinreichend verfestigten und insofern durchaus staatsähnlichen Struktur des Hl. Römischen Reiches ausgegangen werden darf. Für diesen Zeitraum ist die reale Integrationskraft der mittelalterlich-sakralen Reichsidee 7 nicht in Frage gestellt worden und kann berechtigterweise auch nicht angezweifelt werden. Für die völkerrechtliche These Randelzhofers spricht in erster Linie, daß sich das Alte Reich vor allem als Rechtsgemeinschaft und weniger als Machtgefüge verstand. 8 Dennoch oder vielleicht gerade deshalb blieb die Reichsidee auch nach dem Westfälischen Frieden so lebendig, daß kein Zeitgenosse am Fortbestand des Reiches als "Staat" ernstlich zweifelte. 9 Dies erhellt insbesondere daraus, daß noch der Deutsche Fürstenbund vom 23.7.1785 10 versicherte, "das mit so mannigfaltigen Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 199 ff. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 299. 6 Feine, ZRG (GermAbt.) 52 (1932), 65, 70f.; Hofmann, Der Staat 9 (1970), 241 ; 243; Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 65 f. 7 Dickmann HZ 208 (1969), 143, 144; Storm, Der Schwäbische Kreis, S. 66f.; Roeck, Reichssystem, S. 45, 156. 8 Roeck, Reichssystem, S. 64 f. 9 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 228; Roeck, Reichssystem, S. 64; Storm, Der Schwäbische Kreis, S. 67; Dickmann HZ 208 (1969), 143, 144. 10 Dazu Wenckebach, Bestrebungen, S. 76 ff. 4

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Il. Rechtsgrundlagen richterlicher Prüfung

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Aufopferungen von Gut und Blut bisher erhaltene teutsche Reichs-System [... ] in seinem ungekränkten Wesen beständig [aufrecht zu erhalten] und auf eine constitutionsmäßige Weise [zu handhaben]" 11 • Insofern berücksichtigt der völkerrechtliche Einordnungsversuch Randelzhofers das zeitgenössische Verständnis des Hl. Römischen Reiches nur unzureichend. 12 Er ist deshalb nicht geeignet, den staats-und verfassungstheoretischen Hintergrund einer dem richterlichen Prüfungsrecht gewidmeten, verfassungsgeschichtlichen Untersuchung zu bestimmen.

II. Rechtsgrundlagen richterlicher Prüfung im Heiligen Römischen Reich Im geschriebenen Staatsrecht des Alten Reiches läßt sich eine Norm, die dem Richter eine Prüfungskompetenz einräumt, nicht nachweisen. 13 Umgekehrt wird dem Richter eine solche Prüfung aber auch nicht ausdrücklich verwehrt. J. J. Moser äußert zwar die Auffassung, daß "die Reichsgerichte sich nicht herausnehmen [können], sich zu Richtern über den Kayser und die Reichsstände aufzuwerfen" 14 • Doch handelt es sich hier letztlich um eine unbewiesene Behauptung, der die gleiche Überzeugungskraft eignet wie der Berufung auf die von Struben bemühten Grundsätze des "allgemeinen Staatsrechts" 15 oder des "teutschen Herkommens" 16• Zwar kommt in der Stellungnahme J. J. Mosers, die angesichts seiner unbestrittenen Autorität 17 für die zeitgenössische Staatsrechtslehre als repräsentativ gelten darf, die Ablehnung einer richterlichen Prüfung ,,fertiger" Normen zum Ausdruck. Hieraus auf das Fehlen einer richterlichen Normenkontrolle in der damaligen Zeit insgesamt zu schließen, griffe dennoch zu kurz. Es bliebe nämlich unberücksichtigt, daß auch die richterliche Mitwirkung an der Normsetzung, die richterliche Teilhabe an der "iurisdictio", im Phänomen durchaus als richterliche Normenkontrolle angesprochen werden kann. Berücksichtigt man die richterliche Teilhabe an der iurisdictio wird auch die Aussage verständlich, daß "der Richter bis tief ins 18. Jahrhundert hinein über dem Gesetz [gestanden habe], in dem man nur eine formulierte Regel sah, die Ausnahmen gestattete" 18 • Steht der Richter aber über dem Gesetz, ist das Prüfungsrecht in der weitest vorstellbaren Form verwirklicht. Deshalb bliebe eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung des richterlichen Prüfungsrechts unvollständig, die nicht zusätzlich auch die Stellung des Richters im vormodernen Staat einbezieht.

Deutscher Fürstenbund, zitiert bei Hofmann, Quellen, Nr. 62. Dickmann, HZ 208 ( 1969), 143; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 228. 13 Wuljfen, Richterliches Prüfungsrecht, S.33. 14 Moser, Teutsche Justizverfassung, S. II59. 15 Struben, Rechtliche Bedenken, Teil 3, S. 200. 16 Struben, Nebenstunden III, S. 20f. 17 Hierzu eingehend Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 258 ff. 18 Hülle, Erscheinungsbild, S. 62. 11

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!. Kap.: Richterliche Nonnenkontrolle im Heiligen Römischen Reich

1. Jurisdictio und Normenkontrolle

Der vielfach schillemde 19 Begriff der iurisdictio 20 stand im Zentrum der Diskussion um die Reichsverfassung. 21 Sachlich ging es um eine Beschränkung der potestas des römisch-deutschen Kaisers durch deren von den Reichsgerichten zu kontrollierende Bindung an bestimmte Reichsfundamentalgesetze. Sedes materiae22 der Auseinandersetzung um die iurisdictio in der Reichspublizistik ist eine Stelle aus dem Corpus Iuris 23 : "Imperium aut merum aut mixturn est. Merum est imperium habere gladii potestatem ad anidmadvertum facinorosos homines, quod etiam potestas appellatur. Mixturn est impeium, cui etiam iurisdictio inest, quod in danda bonorum possessione consistit. Iurisdictio est etiam iudicis dandi licentia." 24

Ein zutreffendes Verständnis dieser zentralen Digestenstelle kann nur gelingen, wenn zuvor Klarheit über die Rezeption des römischen Staatsrechts geschaffen wurde. Freilich erforderte eine erschöpfende Darstellung der in die Zeit vom 13. bis 16. Jahrhundert fallenden Romanisierung des Rechts1ebens, die wir gemeinhin als Rezeption bezeichnen, eine eigenständige Untersuchung. 25 Im vorliegenden Zusammenhang ist es aber auch gar nicht erforderlich, abschließend Stellung zu den hoch kontroversen Aussagen etwa von Thomasius (1717) oder Savigny (1840) zu beziehen, die eine Rezeption des römischen Staatsrechts pauschal bestritten. 26 Denn die Frage der Rezeption des römischen Staatsrechts war stets eine politische. Sie stand in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Entstehung des modernen absolutistischen Staates. 27 Insofern kann die Rezeptionsfrage aus der Sicht des Verfassungshistorikers sowohl bejaht wie verneint werden. Von einer Rezeption auch des römischen Staatsrechts wurde ausgegangen, wenn und soweit das römische Staatsrecht die eigene, d. h. insbesondere die kaiserliche, Position zu stärken, geeignet war. HinJ. Lampadius, De iurisdictione, S.1 unterscheidet 11 Bedeutungsvarianten vonJurisdictio. Vgl. vorläufig Steinwenter, Art.Jurisdictio; in: RE 10 (1919), Sp. 1155ff.; Hake, Art. "Imperium merum mixtum"; in: HRG II, Sp. 333, 334. 21 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 134. 22 Stol/eis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 156. 23 D. 2.1.3 (Ulpian). 24 "Die Hoheitsgewalt besteht aus der Strafgewalt und der Rechtsprechungskompetenz in Zivilsachen. Strafgewalt bedeutet, die Möglichkeit zu haben, unmittelbare Zwangsmittel gegen Gesetzesbrecher einzusetzen. Sie wird deshalb auch Staatsmacht genannt. Die Rechtsprechungsgewalt in Zivilsachen ist der Teil der Staatsgewalt, der für die Jurisdictio charakteristisch ist. Sie besteht wesentlich in der Entscheidungskompetenz über die Güterzuordnung. Jurisdictio ist auch die Entscheidungsfreiheit des Richters." 25 Vgl. hierzu etwa Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 94 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 124ff.; Coing, Handbuch I, S. 25 ff. 26 Ch. Thomasius, D. Melchiors von Osse Testament gegen Hertzog Augusto Churfürsten zu Sachsen, S. 177; v. Savigny, System I, § 1 Anm. 3. 27 v. Gierke, Genossenschaftsrecht I, S. 647. Zusammenfassend Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 59 f. 19

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II. Rechtsgrundlagen richterlicher Prüfung

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gegen verneinte die Rezeptionsfrage, wer die Position des Kaisers schwächen und die der Territorialgewalten stärken wollte. Als exemplarisch für dieses Argumentationsmuster darf die sogenannte Donauwörthische Streitigkeit (1605) angesehen werden. 28 Im Jahre 1605 wurde in der überwiegend protestantischen Reichsstadt Donauwörth eine katholische Prozession durch eine aufgebrachte Volksmenge gestört. Daraufhin ordnete Kaiser Rudolf li. durch den Reichshofrat am 24.10.1605 gegen Donauwörth die Reichsexekution an, mit deren Durchführung er den Herzog Maximilian von Bayern beauftragte. 29 Nicht zuletzt angesichts des emotionalisierenden konfessionellen Hintergrundes im Zeitalter der Gegenreformation fand der Konflikt reichhaltigen publizistischen Widerhall. Im Mittelpunkt stand hier die Frage nach dem "quis iudicabit?", die Frage, ob der Kaiser beziehungsweise sein Reichshofrat oder aber das konfessionell-paritätisch besetzte Reichskammergericht zur Entscheidung zuständig sein sollte. Es ging mit anderen Worten um nichts Geringeres als um die Frage der Beschränkung der kaiserlichen iurisdictio, um eine kontrollierende Teilhabe des Reichskammergerichts an der kaiserlichen Herrschaftsgewalt Insoweit ist es nicht überraschend, daß kaiserlich gesonnene, katholische Schriftsteller auf die eingangs zitierte Rechtsregel 30 des römischen Prinzipals rekurrierten. 31 Protestantische Juristen betonten demgegenüber, daß "ipsa totius reipublicae Germanicae forma nicht auß den Lateinischen Rechten, oder Bartolo oder Baldo, wie der Relator [sc. W. Jöcher, N. H.] sehr leppisch fingirt, sondern vielmehr auß des Reichs ublichem herkommen und dahero rhürenden alten Verfassungen, auß der guldin Bull, Kayser: und Königlichen Capitulation des Reichs Abschieden und Constitutionibus zunehmen". 32 Schon dieser knappe Abriß der durch die Donauwörthische Streitigkeit ausgelösten Auseinandersetzungen dürfte ein Schlaglicht auf die konfessionelle und politische Dimension der zeitgenössischen Diskussion über die Rezeptionsfrage geworfen haben. Deshalb ist es auch nicht angängig, ohne weiteres von einem bestimmten Verständnis der iurisdictio auszugehen. Vielmehr kommt je nach dem zugrundegelegten politischen und konfessionellen Vorverständnis sowohl eine richterliche Teilhabe wie deren absolutistische Konzentration beim Monarchen in Betracht. Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung muß diesen unterschiedlichen Vorverständnissen Rechnung tragen. Sie muß folglich sowohl das dem römischen Staatsrecht gemäße Verständnis der iurisdictio als auch deren Teilung zwischen Kaiser und Reich berücksichtigen.

Stol/eis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 150. Zur Donauwörthischen Streitigkeit vgl. ausführlich Lassen, Donauwörth, S. 12 ff.; Srieve, Der Kampf um Donauwörth, S. 5 ff. 3o D. 2.1.3 (Ulpian). 31 Jöcher, Dona wertische Relation, S. llOf. 32 Faber!Mül/er, Beständige Informatio, S. J23. 28

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I. Kap.: Richterliche Normenkontrolle im Heiligen Römischen Reich

2. Römisches Staatsrecht

Neben dem bereits erwähnten Ulpian-Zitat 33 ist für die Frage der Existenz eines richterlichen Prüfungsrechts nach römischem Staatsrecht vor allem die folgende Ermahnung des Kaisers Anastasius an einen gewissen Matromanius von Bedeutung: "Omnes cuiuscumque maioris vel minoris administrationis universae nostrae rei publicae iudices monemus, ut nullum rescriptum, nullam pragmaticam sanctionem, nullam sacram adnotationem, quae generali iuri vel utilitati publicae adversa esse videatur, in disceptatione cuiuslibet litigii patiantur proferri sed generales sacras constitutiones modis omnibus non dubitent observandas" 34 •

Nach dem römischen Staatsrecht im Corpus Iuris Civilis 35 bestand demnach keine richterliche Kompetenz zur Normenkontrolle. 36 Im Gegenteil: Die Prüfung und Verwerfung geltender Normen war dem Richter ausdrücklich untersagt. Freilich ist zu berücksichtigen, daß der zitierte Rechtssatz aus der Justinianischen Kodifikation Ausdruck der absoluten Herrschaftsgewalt des römischen Kaisers ab der Zeit des Prinzipals war. Er kann deshalb nicht ohne weiteres auf die Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation übertragen werden. Dennoch ist das Römische Recht und dessen Rezeption für das richterliche Prüfungsrecht auf dem Gebiet des Alten Reiches von Bedeutung. Nur vollzog sich die Rezeption des römischen Staatsrechts nicht auf Reichsebene. Bedingt vor allem durch den "welterschütternden Vorgang" (Stolleis 37 ) der Reformation und die damit einhergehende weitere Schwächung der Reichsgewalt verlagerte sich die Ausbildung des modernen (absolutistischen) Staates auf die Ebene der Territorien. a) Jurisdictio und Territorialherrschaft Wahrend sich auf der Reichsebene über die Bindung des Kaisers an die Reichsfundamentalgesetze (Goldene Bulle, Reichsabschiede von 1495 und 1521, Wahlkapitulationen) zunehmend eine Aufteilung der iurisdictio zwischen Kaiser und Reich, eine Trennung von maiestas und potestas durchsetzte 38 , war auf der Ebene der Territorien eine gegenteilige Entwicklung zu verzeichnen. 39 Etwa ab dem Ende D. 2.1.3 (Ulpian). D. 1,6 C. si contra ius: Wir untersagen es allen Richtern in sämtlichen Verwaltungsbezirken des Staates, eine Rechtsnorm, deren Vereinbarkeil mit dem Recht oder deren Geeignetheit, dem öffentlichen Nutzen zu dienen, in Zweifel gezogen wird, aus Anlaß eines Rechtsstreits nicht anzuwenden, sondern ermahnen sie, die geheiligten allgemeinen Gesetze unter allen Umständen zu befolgen. 35 Vgl. auch C. I D. de constitutione principum I 14: "quod principi placuit legis habet vigorem". 36 Bischof, ZCP 16 (1859), 235, 248. 37 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 126. 38 Vgl. hierzu Stol/eis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 126. 39 Zum Folgenden vgl. ausführlich Willoweit, Rechtsgrundlagen, S. 17ff., 186ff. 33

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II. Rechtsgrundlagen richterlicher Prüfung

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des 16. Jahrhunderts verwendete man die Begriffe iurisdictio und superioritas territorialis synonym. 40 Dieser Umstand ist vor allem deshalb bedeutsam, weil die hierdurch markierte Verfestigung der Territorialherrschaft untrennbar mit der Rezeption des römischen Staatsrechts verbunden ist. Der durch das Zerbrechen der Religionseinheit und die damit einhergehende Lähmung der Reichsgewalt wesentlich begünstigte Ausbau der Staatlichkeit 41 auf Territorialebene konnte nur gelingen, weil und soweit parallel die Herrschaftsausübung immer stärker verrechtlicht wurde. Sie hätte nicht gelingen können, ohne die Heranbildung eines auf die jeweilige Landeskonfession verpflichteten, am Römischen Recht geschulten, Beamtenstandes. 42 Jene neue Funktionselite profitierte selbst in erheblichem Maße von der Stärkung der Territorialgewalt. Deshalb stellten ihre Angehörigen nicht von ungefli.hr ihre Kenntnis des Römischen Rechts in den Dienst der Landesherrschaft und sicherten so deren Usurpation der alleinigen iurisdictio argumentativ ab.

b) Jurisdictio und Kaiserrecht In einem schroffen Gegensatz zur soeben dargestellten Entwicklung auf Territorialebene steht der zunehmende Bedeutungsverlust des römischen Staatsrechts im Kaiserrecht Er wird illustriert etwa durch das Schreiben, das im Jahre 1609 die unierten Fürsten an Kaiser Rudolph II. richteten. Darin heißt es unter anderem:"[ ... ] Es sei sich dieses Orts mit der Jurisdiction und Rechten, wie sie die lateinischen Kaiser gehabt [... ],allerdings nicht aufzuhalten, alldieweil Kaiserliche Majestät gutes Wissen habe, daß es mit dem Deutschen Reiche, dessen Stand, Gliedern und Unterthanen eine große Ungleichheit gegenüber dem alten Lateinischen habe" 43 • Aber auch sonst finden sich in Rechtsliteratur und -praxis des Hl. Römischen Reiches zahlreiche Belege, die die Annahme einer Rezeption des römischen Staatsrechts auf Reichsebene widerlegen. Obschon seit der Stauferzeit der Einfluß des Römischen Rechts auf das Kaiserrecht sehr stark44 war, setzte bereits im 16. Jahrhundert eine Gegenbewegung ein, die das Kaiserrecht und die in ihm enthaltenen römisch-rechtlichen Normen zugunsten deutsch-rechtlicher Rechtsquellen zurückdrängte.45 Diese Entwicklung kam zu einem deutlich sichtbaren Abschluß in der Reichshofratsordnung von 1654, die als Rechtsquellen in erster Linie die Reichsgesetze und das Reichsherkommen nannte. Das kaiserliche Recht war nur subsidiär anzuwenden. 46 Willoweit, Rechtsgrundlagen, S. 186. Hierzu Blaschke, Der Staat 9 (1970), 347, 357. Zu diesem Zusammenhängen vgl. auch Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung, S. 224 ff. 42 Zu diesem Zusammenhang vgl. Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, S. 49, 57. 43 Zitiert nach Bischof, ZCP 16 ( 1859), 235, 268 f. 44 Krause, Kaiserrecht, S.26ff. 45 Hierzu Krause, Kaiserrecht, S. 146f. 46 Reichshofratsordnung vom 16.3.1654, Titel II, § 2 (zitiert nach Zeumer, Quellensammlung; Nr. 199 [S.443 ff., Zitat auf S. 444]); ebenso Kammergerichtsordnung 1555, I, Titel 57 40

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I. Kap.: Richterliche Nonnenkontrolle im Heiligen Römischen Reich

Auch die Rechtsliteratur sprach sich insoweit einhellig gegen eine Heranziehung römisch-rechtlicher Normen des Staatsrechts aus. 47 Als Zwischenergebnis kann demnach festgehalten werden: Auf der Ebene der Territorialstaaten wurde die iurisdictio mit dem fortschreitenden Ausbau des modernen absolutistischen Staates je länger desto mehr beim Landesherrn konzentriert. Diese wesentlich auch mit römisch-rechtlichen Quellen unterlegte Entwicklung schloß eine von den Gerichten zu überprüfende Bindung des Landesherrn an höherrangiges Recht aus. Für eine richterliche Normenkontrolle war daher zunehmend kein Raum mehr. Auf Reichsebene ist demgegenüber ein ständiger Bedeutungsverlust des Römischen Rechts zu konstatieren. Insofern ist das Römische Recht für die richterliche Normenkontrolle im Hl. Römischen Reich 48 von allenfalls untergeordneter Bedeutung. 49 Angesichts der prinzipiellen Bindung der verbliebenen iurisdictio der römisch-deutschen Kaiser an die Reichsfundamentalgesetze blieb genügend Raum für eine von den neuen Institutionen der Reichsverfassung, insbesondere vom Reichskammergericht, auszuübende Kontrolle der Reichsgesetzgebung. Als Grundlage dieser Kontrollkompetenz sind das Reichsherkommen und die Reichsgesetze vorrangig auszuwerten. 3. Subjekte, Maßstab und Gegenstände richterlicher Normenkontrolle im Alten Reich

Jede Untersuchung des Phänomens richterlicher Normenkontrolle in der Zeit des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation stehtangesichtsder komplexen "Verfassungsstruktur" des Alten Reichs nicht nur vor dem Problem, einen geeigneten Kontrollmaßstab nachzuweisen. Auch die Identifikation von Subjekt und Objekt der Kontrolle bereitet Schwierigkeiten. a) Das Reichskammergericht als Kontrollorgan Mit der Errichtung des Reichskammergerichts im Jahre 1495 wurde die Bindung der iurisdictio des römisch-deutschen Kaisers auch institutionell in der Reichsverfassung verankert. 50 Angesichts dieser herausgehobenen Stellung des Reichskam(zitiert nach Laufs, Reichskammergerichtsordnung, S. 151 ); ebenso auch Conring, De origine iuris gennanici, Teil I, Kap. 33, insb. S. 219. 47 Pütter, Beyträge, Teil 2, S. 95 f.; Maser, Staatsverfassung, Teil 1, S. 531 f.; weitere Nachweise bei Bussi, Diritto pubblico, Teil I, S. 31; Schack, Die Prüfung, S.40; v. Savigny, System, Bd. I, 2. Teilbd., S. 69, 165. 48 Vgl. dazu auch v.Jhering, Geist des Römischen Rechts, Teil III, S. 213 ff.; ders., in: Verhandlungen zum IV. DJT (1863), Bd. II, 48, 49 ff. 49 Ähnlich bereits Bischof, ZCP 16 (1859), 235, 255. 50 V gl. bereits oben 1. Kapitel II. 3.

li. Rechtsgrundlagen richterlicher Piiifung

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mergerichts liegt es nahe, dessen Rechtsprechungstätigkeit daraufhin zu untersuchen, ob eine richterliche Normenkontrollkompetenz auf Reichsebene existierte und tatsächlich in Anspruch genommen wurde. Von vomherein weniger geeignet erscheint demgegenüber die Rechtsprechung des Reichshofrats. Dessen nicht nur räumliche Nähe zum kaiserlichen Hof in Wien und die fehlende Überkonfessionalität stellen vielleicht nicht die Gerichtsqualität, wohl aber die für eine richterliche Normenkontrolle erforderliche Unabhängigkeit in Frage. 51

b) Zur Stellung des Richters im Hl. Römischen Reich Eine Untersuchung der Entscheidungspraxis des Reichskammergerichts im Hl. Römischen Reich erfordert zunächst, sich die Stellung des Richters 52 in dessen ständestaatlichem Aufbau zu vergegenwärtigen. In einer nicht staatlich, sondern ständisch organisierten Gesellschaft53 ist für eine unabhängige Rechtspflege im heutigen Sinne kein Raum. 54 Die Rechtsprechung war Teil der Herrschaftsausübung, Rechtserkenntnis und Rechtsetzung waren nicht getrennt. Die iurisdictio bildete den gemeinsamen Oberbegriff für alle Erscheinungsformen der öffentlichen Gewalt. 55 Überhaupt war die Vorstellung herrschend, daß die Richtertätigkeit den Kern der als iurisdictio umschriebenen Hoheitsgewalt bildet. 56 Dies vor allem deshalb, weil Rechtsanwendung und Rechtsetzung vielfach kaum unterscheidbar ineinander übergingen. Der Richter konnte sich eben nicht einfach durch den heute selbstverständlich gewordenen Griff zu einer leicht verfügbaren Gesetzessammlung einen Überblick über das geltende Recht verschaffen. Jedoch erschöpfte sich die Richtertätigkeit auch nicht in der bloßen Ermittlung des auf einen Fall anwendbaren Rechts. Vielmehr entstand das anwendbare Recht selbst erst durch die Aufnahme einer vorgefundenen, geschriebenen oder gewohnheitsrechtlichen, Norm in den Gerichts gebrauch. 57 Von einer Unterordnung des Richters unter 51 Ähnlich Sto/leis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 140. Ob man den Reichshofrat weitergehend sogar als Unterdriickungsinstrument der katholischen Majestät ansehen kann, soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Seine einseitig kaiserfreundlichen Entscheidungen legen dies aber immerhin nahe (so vorsichtig auch Gschließer, Reichshofrat, S. 46). 52 Die Bedeutung der Stellung des Richters für das richterliche Piiifungsrecht betont zurecht auch Sc hack, Die Prüfung, S. 40, Anm. 3. 53 Zur Ständegesellschaft vgl. allgemein Pohl, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte I, S. 215, 244 ff.; Willoweit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte I, S. 66 ff. 54 Ogorek, Richterkönig, S. 14. 55 v. Gierke, Genossenschaftsrecht IV, S. 209 f. 56 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 157. 57 Ogorek, Richterkönig, S. 15. Die Ausführungen von Konscheggs (Ursprung und Wandlung, S. 20) zum richterlichen Piiifungsrecht im Hl. Römischen Reich greifen demgegenüber viel zu kurz. Von Konschegg meint, ein richterliches Piiifungsrecht könne schon deshalb nicht bestanden haben, weil Legislative und Justiz zusammenfielen, die richterliche Gewalt eine vom König delegierte Gewalt gewesen sei. Damit verkennt von Konschegg die Entstehungsbedingungen von Recht im Hl. Römischen Reich. V gl. dazu sogleich im Text.

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1. Kap.: Richterliche Normenkontrolle im Heiligen Römischen Reich

das Gesetz kann somit im Grundsatz nicht gesprochen werden. 58 Denn Richter und Beisitzer des Reichskammergerichts schworen zwar, zu richten "nach des Reichs gemeinen Rechten, auch nach redlichen, ehrbaren und leidlichen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten der Fürstenthumb, Herrschaften und Gericht" 59• Ob ein Statut (= Gesetz) die hieran zu stellenden Anforderungen erfüllte, darüber entschied freilich erst die Aufnahme in den Gerichtsgebrauch nach Ermessen des jeweiligen Spruchkörpers. 60 Die somit bestehende Mitwirkungspflicht des Richters bei der Rechtsetzung konnte als Grundlage eines Prüfungsrechts dienen. Denn das überkommene, vor allem gewohnheitsrechtlich gewachsene, Recht konnte nicht ohne weiteres durch willkürliche Normsetzung abgeändert werden. Es entsprach allgemeiner Überzeugung, daß das Recht nicht zur beliebigen Disposition von Kaiser und Reich stand. Jede bewußte Veränderung des überkommenen Rechts war nur unter relativ engen Voraussetzungen möglich. Vorausgesetzt wurde stets eine die Änderung rechtfertigende causa. Deren Vorliegen war von den Gerichten im Rahmen des Rechtsetzungs- und Rechtsfindungsprozesses zu überprüfen. Hierin, in der die Veränderung legitimierenden causa, die harmonisch aus dem Herkommen zu entwickeln war, liegt zugleich auch der Maßstab höherrangigen Rechts, der für eine wirkliche Kontrolle unverzichtbar ist. Den Rechtsprechungsorganen kam somit im Hl. Römischen Reich 61 eine eigentümliche Mittelstellung an der Schnittstelle von Rechtsetzung und Rechtserkenntnis zu. Ihnen ein kassatorisches Prüfungs- und Verwerfungsrecht nach heutigem Verständnis zuzuweisen, wird der so beschriebenen Stellung im Gesellschaftsaufbau zwar an sich nicht gerecht. Die Einbeziehung in eine dem richterlichen Prüfungsrecht gewidmete Untersuchung rechtfertigt sich dennoch daraus, daß die Gerichte ihrem Selbstverständnis nach Rechtsetzungsakte am Maßstab des gewordenen Rechts überprüften. Aus der Vergangenheitsperspektive handelt es sich also durchaus um Normenkontrolle. Hierbei lassen sich verschiedene Stufen "richterlicher Prüfungsintensität" unterscheiden. Obschon bei funktionaler Betrachtung aus der "Perspektive des Jetzt" die intendierte Bewahrung des bestehenden Rechts sachlich als eine Mitwirkung an dessen Weiterentwicklung angesehen werden muß, ist die für eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung erforderliche Vergleichbarkeit der Phänomene nicht in Frage gestellt. Schließlich bedeutet auch heute noch die einzelfallbezogene Konkretisierung einer höherrangigen Maßstabsnorm die Weiterentwicklung des geltenden Rechts. 62

Zutreffend insoweit Hülle, Erscheinungsbild, S. 62. § 3 der Reichskammergerichtsordnung von 7 .8.1495, zitiert nach Zeumer, Quellensammlung, Nr. 174 (S. 284ff., Zitat aufS. 285). 60 v. Weber, in: Festschrift für Thoma ( 1950), S. 257, 261. 61 Siehe allgemein zur Geschichte der Rechtsprechung im Hl. Römischen Reich Bähr, Rechtsstaat, S. 111 ff. 62 Vgl. hierzu noch ausführlicher unten 10. Kapitel I. 58 59

III. Arten richterlicher Prüfung

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111. Arten richterlicher Prüfung im Heiligen Römischen Reich Wenn somit das Herkommen zugleich Maßstab und Grundlage einer richterlichen Normenkontrollkompetenz im Alten Reich bilden soll, so scheint dies auf den ersten Blick widersprüchlich zu sein. Wird ein Prüfungsrecht im Hl. Römischen Reich doch gerade unter Berufung auf den Satz, daß es nie einen Richter über dem Kaiser gegeben habe, verneint. 63 Bei einer näheren Überprüfung erweist sich die Rechtslage indes als weniger eindeutig. Dabei ist es nicht einmal erforderlich, auf das bereits den Juristen des 17. Jahrhunderts suspekte 64 und selbst der Goldenen Bulle nur noch vom Hörensagen 65 bekannte 66 Richteramt des Pfalzgrafen bei Rhein über den Kaiser67 zu rekurrieren. Vielmehr läßt sich aus der Praxis der Reichsgerichte 68 und damit aus der Verfassungswirklichkeit des Hl. Römischen Reiches ableiten, daß ein richterliches Prüfungsrecht tatsächlich in bestimmtem Umfang in Anspruch genommen und damit - wenn man so will - neues Reichsherkommen geschaffen wurde. Die mit Mitteln der juristischen Logik nur schwierig zu erfassende Verteilung der heutzutage staatlicher Gewalt zuzuordnenden Rechte zwischen Reich und Reichsständen69 sowie den aufstrebenden Landesherrschaften70 zwingt auch im vorliegenMaser, Teutsche Justizverfassung, S. 1159; Struben, Rechtliche Bedenken, Teil III, S. 200. Struben, Rechtliche Bedenken, Teil III, S. 200; ders., Gründlicher Unterricht, Teil III, S. 39 f.; v. 0/ensch/af?er, Erläuterung, S. !54 ff.; v. Senckenberf?, Fabula ludicii Palatini, S. 63 ff. 6~ Auch Weizsäcker räumt ein, daß man schon zur Zeit der Goldenen Bulle nicht mehr wußte, warum der Pfalzgrafbei Rhein zum Richter über den Kaiser berufen sein sollte (Pfalzgraf, S. 37). 66 Goldene Bulle Kaiser Kar/ IV. vom 10.1/25.12.1356, Kapitel V, 3 (zitiert nach Zeumer, Quellensammlung, Nr. 148 [S. 192 ff., Zitat aufS. 200 oben]): "Et quamvis Imperator sive Rex Rarnanorum super causis pro quibus impetitus fuerit, habeat, sicut ex consuetudine introductum dicitur, coram comite palatinus Reni sacri imperii archidapifero electore principe respondere, illud tarnen iudicium comes ipse palatinum non alibi praeterquam in imperiali curia, ubi imperator seu Rex Rarnanorum praesens extiterit, poterit exercere" (Hervorhebungen nicht im Original). Frei übersetzt: "Selbst in den Fällen, in denen der deutsche Kaiser und römische König eigentlich Immunität genoß, wird gesagt, daß es aus Gewohnheit anerkannt sei, daß er vor dem Pfalzgrafen bei Rhein, dem gewählten Erztruchseß des Heiligen Reichs, erschien. Der Pfalzgraf konnte seine Gerichtsbarkeit jedoch nirgendwo anders als am kaiserlichen Hofe selbst und auch nur in Anwesenheit des römisch-deutschen Kaisers ausüben." 67 Modeme Autoren gehen hingegen überwiegend davon aus, daß das Richteramt des Pfalzgrafen über den Kaiser- zumindest bis zum 13. Jahrhundert- tatsächlich bestanden habe. Vgl. Weizsäcker, Pfalzgraf, S. 36ff.; Loeninf?, ZStW 7 (1887), 650, 674; Schroeder, ZRG, Germ. Abt. 9 ( 1888), 52, 59 f.; Schroeder!v. Künßberg, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 523 f.; Schulze, Oe iurisdictione principum, S. 53. 68 Reichskammergericht und Reichshofrat Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen beiden Gerichten vgl. Sel/ert, Reichshofrat und Reichskammergericht, S. 14ff., 46ff., 73ff. 69 Vgl. zur Rechtsnatur des Hl. Römischen Reiches Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 24; Feine, ZRG Germ.Abt. 52 ( 1932), 65 ff.; Weber (Hrsg.), Politische Ordnungen, S. 85 ff.; Scheel, in: Festgabe für Hartung (1958), S. 113, 113 f., 14; Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte, S.67ff. 70 Zu deren Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang siehe Wuljfen, Richterliches Prüfungsrecht, S. 17; v. Weber, in: Festschrift für Thoma (1950), S. 257, 264ff. 63 64

3 Herrmann

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I. Kap.: Richterliche Nonnenkontrolle im Heiligen Römischen Reich

den Zusammenhang zu einer differenzierenden Betrachtung. Zunächst ist dabei die Prüfungskompetenz der Reichsgerichte (Reichskammergericht und Reichshofrat) sowohl gegenüber dem Reichsrecht als auch gegenüber dem Recht der Territorialstaaten in den Blick zu nehmen. Hieran wird sich die Darstellung des gliedstaatliehen Rechts anschließen. 1. Reichsgerichte

a) Prüfung von Reichsrecht

Insbesondere von Gneist11 ist behauptet worden, die Reichsgerichte seien befugt gewesen, Akte der Reichsgesetzgebung auf ihre Übereinstimmung mit der Reichsverfassung hin zu überprüfen. 72 Zur Begründung stützt er sich in erster Linie auf § 3273 der Wahlkapitulation Kaiser Kar! V. Darin heißt es: "Ob aber diesem oder andem vorgemeldten Articuln und Puncten einichszuwider erlangt, oder ausgeen wurde, das alles soll krafftlos, todt und abseyn [... ]" 74 • Aus dieser kassatorischen Klausel zusammen mit der Bindung des Richters an die Wahlkapitulationen75 solle sich ein Prüfungsrecht des Richters ergeben haben. 76 Diese Argumentation ist indes problematisch. Gneist schließt ohne weiteres aus dem Bestehen bestimmter Gültigkeitsvoraussetzungen auf die Befugnis des Richters, deren Einhaltung auch zu kontrollieren. Hieran ist zwar richtig, daß auch im Hl. Römischen Reich der Richter ungültige Normen nicht befolgen mußte oder auch nur durfte. 77 Hieraus auf eine Normenkontrollbefugnis zu schließen, bedeutet dennoch eine petitio principii. 78 Es bleibt nämlich die auch in diesem Zusammenhang entscheidende Frage nach dem "quis iudicabit?" unbeantwortet. Erforderlich wäre der Nachweis einer Norm, die dem Richter die Kompetenz zur Prüfung der Gültigkeit der Norm und zur verbindlichen Entscheidung hierüber einräumt. Insoweit ist aber der von Gneist herangezogene § 32 der Wahlkapitulation Kaiser Karls V. nicht aussagekräftig. 71 Rudolfvon Gneist (1816-1895) gehörte zu den auch politisch einflußreichsten (rechts-)liberalen Professoren im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Vgl. Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen, S. 99-103. 72 Gneist, in: Verhandlungen zum IV. DJT (1863), Bd. I, 212, 225. 73 Nach anderer Zählung§ 33, vgl. Zeumer, Quellensammlung, vor Nr. 180. 74 Wahlkapitulation Kaiser Kar! V. vom 3.7.1519, zitiert nach Zeumer, Quellensammlung, Nr. 180 (S. 309ff., Zitat aufS. 313). 75 § 30 der Wahlkapitulation: "Damit auch die Reichs-Hofräthe, wie auch das Kayserliche Cammergericht, in ihren Rathschlägen, Expedition und sonsten, sich nach diser Capitulation richten, sollen und wollen Wir[ ... ] solches auch Ihren Dienst-Eyden mit ausdrücklichen Worten einverleiben lassen" (Zitiert nachMoser, Teutsche Juslizverfassung, S. 1151 insoweit nicht bei Zeumer, Quellensammlung, Nr. 180, abgedruckt). 76 Gneist, in: Verhandlungen zum IV. DJT (1863), Bd. I, 212, 225. 77 Conclusum des Reichshofrats vom 19.10.1724, in: Maser, Reichshofrathsconclusa, Bd.Il, Concl. 215, Nr. 10 und ebenso Maser, Teutsche Justizverfassung, S. 1165. 78 Schack, Die Prüfung, S.45, 101.

III. Arten richterlicher Prüfung

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Da es an einer geschriebenen Norm über die richterliche Normenkontrollkompetenz fehlte, kommt der tatsächlichen Handhabung dieser Frage notwendig eine besondere Bedeutung zu. Die ständige Praxis der Reichsgerichte lehnte eine Prüfung von Reichsgesetzen ab. Dieser Rechtsstandpunkt wird illustriert durch eine in der Sammlung von Harpprecht abgedruckte Entscheidung des Reichskammergerichts aus den ersten Jahren nach seiner Errichtung (1495). Kaiser Maximilian I. hatte in einer Verordnung ein Handelsembargo gegen Venetien verhängt (ein sogenanntes Commercienverbot). Hiergegen klagten die Reichsstädte in Schwaben vor dem Reichskammergericht Dieses hielt sich jedoch für "nicht befugt, von dem Kaiserlichen Commercienverbott abzugehen, und deshalb einer interpretatio legis, etiamsi durae, sich anzumaßen, folglich konnten wohl keine andere, als abschlägige Dekreten und Bescheide erfolgen, und eben daher mußten sich die Reichsstädte in Schwaben ohnmittelbar an K. Maiest. selbst wenden". 79 Von dieser Rechtsauffassung ist das Reichskammergericht auch später nicht mehr abgewichen. Die Überprüfung kaiserlicher Normsetzung auf ihre Gültigkeit wird als Überschreitung der richterlichen Kompetenz zur Auslegung der Gesetze ("interpretatio legis durae") angesehen. Dahinter steht die Vorstellung, daß auch die Überschreitung der dem Kaiser durch die Reichsfundamentalgesetze gezogenen Schranken nicht zur Ungültigkeit der gesetzten Norm führt. Vielmehr wird die Teilung der iurisdictio zwischen Kaiser und Reichsständen als Begründung subjektiver Rechte für letztere begriffen. Folgerichtig verweist das Reichskammergericht die in ihren subjektiv-öffentlichen Beteiligungsrechten gekränkten Stände auf den Weg der direkten Auseinandersetzung mit dem Kaiser. Vor diesem Hintergrund wird auch die Bedeutung klar, die den von Gneist herangezogenen Stellen aus dem Reichsverfassungsrecht in der Verfassungspraxis des Hl. Römischen Reiches zukam. Sie ermöglichten die Abwehr sogenannter Kabinettsjustiz, das heißt die Abwehr von Einzeleingriffen des Kaisers in Verfahren vor dem Reichskammergericht 80 Hier widersetzte sich das Reichskammergericht gestützt auf§ 14 des Reichsabschieds von 151081 in einem Rechtsstreit zwischen der Reichsstadt Worms und dem Bischof von Worms drei kaiserlichen Reskripten, die verlangten, den Rechtsstreit der Beratung durch die Reichsversammlung zu überlassen. 82 Doch handelte es sich hier deshalb nicht um eine richterliche Normenkontrolle, sondern "nur" um eine erste Verteidigung der richterlichen Unabhängigkeit83, weil die für ungültig erklärten kaiserlichen Reskripte unter Verletzung der dem Reichskammergericht selbst in § 14 des Reichsabschiedes von 1510 einge79 Staatsarchiv III, § 86. Weitere Beispiele richterlicher Unterordnung finden sich bei Struben, Nebenstunden, Teil III, S. 21 f. und Pütter, Opuscula, S. 273. 80 So auch Martin, Rechtsverbindlichkeit, S. 22; Kahn, Ann. DR 1907, 481, 483; Schack, Die Prüfung, S.44. 81 Dieser verlangte "dem Cammergericht seinen stracken Lauffund Fürgang nach der Ordnung zu lassen". Zitiert nach Gneist, in: Verhandlungen zum IV. DJT (1863), Bd. I, 212, 225. 82 Staatsarchiv III, § 67 ff. 83 Schack, Die Prüfung, S. 44.

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I. Kap.: Richterliche Normenkontrolle im Heiligen Römischen Reich

räumten Rechtsposition zustande gekommen sind. Die Reskripte konnten für das Reichskammergericht keine Bindungswirkung entfalten, denn dem Kaiser fehlte insoweit schlicht die Entscheidungskompetenz. Man muß sich die richterliche Unabhängigkeit im Selbstverständnis des Reichskammergerichts als Ausschnitt aus der iurisdictio des Kaisers vorstellen. Das Reichskammergericht verfügt insoweit über eine im Reichsverfassungsrecht abgesicherte, eigenständige Rechtsposition. Deshalb bedeuteten die Reskripte des Kaisers ein von vomherein wirkungsloses Handeln ultra vires. Zwar ist es sicher richtig, daß zwischen den Fragen der richterlichen Unabhängigkeit und des richterlichen Prüfungsrechts vielfältige Wechselbeziehungen bestehen. 84 Es ginge jedoch, wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, zu weit, Identität zwischen beiden Problemkreisen zu behaupten. 85 Deshalb kann aus der angeführten Entscheidung auch nicht auf ein Prüfungsrecht der Reichsgerichte gegenüber Reichsgesetzen geschlossen werden.

b) Prüfung von Landesrecht Eine Kompetenz der obersten Reichsgerichte zur Priifung von territorialen Akten der Gesetzgebung ist im Grundsatz unstreitig. 86 Dennoch konnte keine Rede davon sein, daß die Reichsgerichte den Untertanen der Territorialfürsten insoweit umfassenden Rechtsschutz geboten hätten. Neben der ständig zunehmenden Verbreitung von sogenannten Appellationsprivilegien (privilegia de non appellando)~7 war die Unzulässigkeil der Appellation an die Reichsgerichte in "Policeysachen" anerkannt. 88 Unter Policeysachen verstand die damalige Lehre alle Streitigkeiten, in denen es unmittelbar nur um das Wohl des Staates ging. 89 Insgesamt war demVgl. Haeberlin, Handbuch, Bd.ll, S.477ff. So aber K.S. Zachariä, AcP 16 (1833), 145, 177;Jacques, in: Verhandlungen zum IV. DJT (1863), Bd. I, S. 240, 249. 86 Linde, AcP 16 (1833), 305, 377; Mittermaier, AcP 4 (1821), 305, 331; Bischof, ZCP 16 ( 1859), 235, 256, 260; Reichensperger, in: Verhandlungen zum Ill. DJT ( 1862), 25, 34; Schack, Die Prüfung, S. 42; Martin, Rechtsverbindlichkeit, S. 9f.; Gneist, in: Verhandlungen zum IV. DJT (1863), Bd. I, 212, 223; Moser, Landeshoheit, S. 9; Struben, Nebenstunden III, S. 20. 87 Vgl. zum Beispiel die Bestätigung des privilegium de non appellando plene et illimitatum des Königs von Preußen durch den Reichshofrat im Oktober 1703 bei Moser, Reichshofrathsconclusa, Teil VIII, Concl. 172. 88 Reichshofratsconclusum vom 25.5.1775 (zitiert nach v. Neurath, Diss., Anhang III); v.Berg, Policey-Recht, Teil I, S. 174; Wolzendorff, Grenzen, S. 16; Floercke, Policey-Sachen, S. 7; 1'. Cramer, Wetzlarer Nebenstunden, Teil I, S. 88; Struben, Nebenstunden III, S. 13. 89 Scheidemante/, Repertorium II, S.570; Mevius, Decisiones III, 154; v.Cramer, Wetzlarer Nebenstunden, Teil I, S. 90; Haeberlin, Handbuch li, S.468; Reinharth, Observationes, Teil Il, obs. IX Nr. 3; F/örcke, Policey-Sachen, S. 22; Struben, Gründlicher Unterricht, Teil IV, § 26; Wolzendorff, Grenzen, S. 17; v.Neurath, Diss., S. 13; v.Zwirlein, Beiträge, Teil li, S. 90; Moser, Teutsche Justizverfassung, Bd. I, S. 1052. 84

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nach die Appellation an die Reichsgerichte in der Praxis fast immer ausgeschlossen. 90 In den praktisch seltenen Fällen zulässiger Appellation an das Reichskammergericht, die nur in sogenannten Justizsachen, d. h. bei Verletzung wohlerworbener Rechte (iura quaesita) der Untertanen 91 oder von Reichsgesetzen statthaft war, übten die Reichsgerichte hingegen eine Prüfungs- und Kontrolltätigkeit aus. Angesichts des großen Finanzbedarfs der aufstrebenden Landesherrschaften wurden dabei besonders häufig Verstöße gegen reichsgesetzliche Verbote der Erhebung neuer Steuern festgestellt. 92 Als exemplarisch darf insoweit ein Urteil des Reichshofrates vom 10.11.1727 gelten. Das Gericht gab hierin dem Fürsten von Anhalt-Cöthen auf, eine neu eingeführte Steuer wieder abzuschaffen, da sie gegen "constitutiones imperii de tollendo enormas accisas" verstoße. 93 Im Rahmen ihrer Prüfungen landesherrlicher Gesetze beschränkten sich die Reichsgerichte nicht auf eine Rechtmäßigkeitsprüfung, sondern nahmen auch zu Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit Stellung. 94 Entgegen Wulffen 95 handelte es sich hier nicht um eine Verwechslung von Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitsprüfung. Vielmehr war nach damaligem Rechtsverständnis die Zweckmäßigkeit eines Gesetzgebungsaktes Voraussetzung seiner Rechtmäßigkeit 96 So gesehen ist die Zweckmäßigkeitsprüfung typischer Ausdruck der Funktion der Rechtsprechung 97 im ständestaatliehen Rechtssetzungsverfahren. 2. Territorialgerichte

Sowohl im zeitgenössischen 98 wie auch im späteren