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German Pages 198 Year 2011
Beiträge zum Parlamentsrecht Band 71
Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache Tagungsband zum Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstages von Professor Dr. Hans Herbert von Arnim am 19. März 2010
Herausgegeben von
Joachim Wieland
Duncker & Humblot · Berlin
JOACHIM WIELAND (Hrsg.)
Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache
Beiträge zum Parlamentsrecht Band 71
Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache Tagungsband zum Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstages von Professor Dr. Hans Herbert von Arnim am 19. März 2010
Herausgegeben von
Joachim Wieland
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 978-3-428-13682-7 (Print) ISBN 978-3-428-53682-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83682-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort In einer parlamentarischen Demokratie trifft das Parlament die wesentlichen Entscheidungen. Die Abgeordneten entscheiden, was dem Gemeinwohl dient. Sie sind als Repräsentanten des Volkes nur ihrem Gewissen verantwortlich. So sieht es die Theorie. Die Staatspraxis sieht manchmal anders aus. Wesentliche Entscheidungen werden von der Regierung getroffen. Die Abgeordneten denken nicht immer nur an das Gemeinwohl, sondern gelegentlich auch an das Wohl der eigenen Partei oder an ihr eigenes Fortkommen. Die Fraktionsdisziplin wirkt regelmäßig auch als Fraktionszwang, der auf abweichendes Verhalten mit nicht zu unterschätzenden Sanktionen reagiert, so dass Gewissensentscheidungen der Abgeordneten als bemerkenswerte Besonderheit in wenigen ausgewählten Fällen außergewöhnliche Beachtung finden. Ein strukturelles Problem ergibt sich dann, wenn das Parlament in eigener Sache entscheidet. Hier ist die Gemeinwohlbindung sehr schwer durchzusetzen, der Druck auf ein konformes Verhalten der Abgeordneten besonders hoch. Das gilt für Entscheidungen über die Politikfinanzierung nicht anders als für Abstimmungen über Wahlgesetze oder den Spielraum für direkte Demokratie. Wenn das Parlament mit diesen Fragen befasst ist, entsteht leicht zumindest der Anschein der Befangenheit und wird die oft beklagte Krise der Volksparteien verstärkt. Mit allen diesen Problemen hat sich Hans Herbert von Arnim in zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen befasst. Deshalb lag es nahe, dass das Kolloquium anlässlich seines 70. Geburtstages den Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache gewidmet war. Der vorliegende Tagungsband fasst die Beiträge zusammen, die bei diesem Kolloquium vorgetragen wurden. Frau Linda Estelmann danke ich für die große Unterstützung, die das Erscheinen dieses Bandes erst ermöglicht hat. Speyer, im Mai 2011
Joachim Wieland
Inhaltsverzeichnis Joachim Wieland Begrüßung ...........................................................................................................
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Jan Ziekow Würdigung ..........................................................................................................
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Heinrich Lang Füller, Diäten und andere Formen staatlicher Politikfinanzierung – Ausgestaltungen, Problemfelder, Lösungsansätze ...............................................
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Diskussion zum Vortrag Lang (Leitung: Stefan Fisch) .......................................
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Hans Meyer Die Zukunft des Wahlrechts zwischen Unverständnis, Interessenkalkül, obiter dicta und Verfassungsverstoß ...................................................................
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Diskussion zum Vortrag Meyer (Leitung: Karl-Peter Sommermann) .................
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Otmar Jung Direkte Demokratie als Gegengewicht gegen Kartelle der herrschenden Klasse? ....................................................................................
81
Diskussion zum Vortrag Jung (Leitung: Heinrich Reinermann) ......................... 103 Elmar Wiesendahl Die Volksparteien in der Krise ............................................................................ 121 Diskussion zum Vortrag Wiesendahl (Leitung: Joachim Wieland) ..................... 169 Hans Herbert von Arnim Schlusswort ......................................................................................................... 185 Hans Herbert von Arnim Dinnerspeech „Domhof“ ..................................................................................... 191 Autorenverzeichnis .................................................................................................... 195
Begrüßung Von Joachim Wieland
Ich freue mich, dass ich Sie im Namen des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung zu dem heutigen Kolloquium „Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache“ begrüßen darf. Unser Programm ist auf die wissenschaftlichen Interessen von Herrn von Arnim ausgerichtet. Wir erfahren zunächst etwas über Politikfinanzierung. Wir werden dann über das Wahlrecht und über die direkte Demokratie sprechen und zum Schluss über die Krise der Volksparteien. Das sind die Hauptarbeitsschwerpunkte von Ihnen, Herr von Arnim, und das sind auch die Themen, mit denen Sie sich einen Namen gemacht haben, mit denen Sie auch für Speyer nach außen hin gewirkt haben. Ich glaube, man darf auch sagen, Sie haben sich nicht überall nur Freunde gemacht, weil Sie ein Vertreter der klaren Aussprache sind. Sie haben den Finger in manche Wunde gelegt, die unser parlamentarisches System aufweist und worauf man als Wissenschaftler hinweisen muss. Das Forschungsinstitut möchte mit diesem Kolloquium den Dank für Ihren großen Einsatz zum Ausdruck bringen, den Sie am Forschungsinstitut gezeigt haben. Auch nach Ihrem Übergang in den Ruhestand als Mitglied der Hochschule hinaus waren und sind Sie am Forschungsinstitut aktiv. Verstehen Sie diese Veranstaltung bitte als Ausdruck des Dankes des Forschungsinstituts. Meine Damen und Herren, ich gebe jetzt dem Direktor des Forschungsinstituts, Herrn Kollegen Ziekow, das Wort für die Würdigung von Herrn von Arnim. Vielen Dank!
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Würdigung Von Jan Ziekow
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Herr von Arnim, auch ich möchte Sie im Namen des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung sehr herzlich zu unserem Kolloquium „Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache“ begrüßen. Verbinden möchte ich dies mit einem herzlichen Dank an den Kollegen Wieland, der die Veranstaltung auf das Schönste komponiert und arrangiert hat. So spannend das Thema dieses Kolloquiums ist, so sehr ist es doch nur Mittel zum Zweck, nämlich einer Würdigung anlässlich des 70. Geburtstages des verehrten Kollegen Hans Herbert von Arnim. Dass das Kolloquium nun doch schon ein halbes Jahr nach dem Ehrentag von Herrn von Arnim am 16. November 2009 und deshalb „anlässlich“ und nicht „zum“ 70. Geburtstag stattfindet, zeigt nur, wie schwierig eine Terminfindung in Anbetracht der nach wie vor sehr vielfältigen Aktivitäten von Herrn von Arnim ist. Gleichwohl, lieber Herr von Arnim, entkommen Sie meiner Würdigung nicht, die mir nach so vielen Jahren der engen Zusammenarbeit im Vorstand des Forschungsinstituts ein Anliegen ist. Wie aber würdigt man einen Kollegen, der offenbar mit der Emeritierung beschlossen hat, seine publizistischen und öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten noch einmal deutlich zu steigern? Es kann sich also – um im Jargon der Szene der außeruniversitären Forschung in Deutschland zu bleiben – nicht um eine Evaluation des wissenschaftlichen Lebenswerks, sondern von vornherein nur um ein Zwischenaudit handeln. Wenn ich dies richtig sehe, lieber Herr von Arnim, war Ihr Bildungsweg immer von einem starken Hinterfragen gekennzeichnet, ob der eingeschlagene Weg der richtige oder doch zu eng ist. Zu vielfältig waren und sind einfach Ihre Interessen, um sich darauf einzulassen, sich selbst Perspektiven zu verbauen. Das begann schon gleich nach dem Abitur mit der Auswahl des Studienfachs: Altphilologie, Physik und Rechtswissenschaften – das alles hatten Sie in Betracht gezogen – sind doch Studienfächer, die zumindest vordergründig nicht allzu viel gemein haben. Zum Glück für Speyer entschieden Sie sich zunächst einmal für die Rechtswissenschaften, die Sie in Heidelberg stu-
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Jan Ziekow
dierten. Mit Ablegung des 1. juristischen Staatsexamens 1962 aber begann diese von-Arnimsche-Unruhe wieder. Sie ließ sich nur dadurch besänftigen, dass Sie sich zusätzlich zur Referendarzeit noch ein volkswirtschaftliches Studium aufbürdeten, das Sie 1966 mit dem Diplom abschlossen – noch vor dem 2. juristischen Staatsexamen 1967. Damit war die Sache noch nicht ausgestanden. Zwar hatte die Erkenntnis, dass disziplinäre Grenzgänger durchaus gefährlich leben, zu einer gewissen – ich sage bewusst „gewissen“ – Festlegung auf die Juristerei geführt. Doch schwankten Sie, lieber Herr von Arnim, nunmehr zwischen den verschiedenen juristischen Feldern. War Ihre in Rekordzeit verfasste, von Hermann Weitnauer in Heidelberg betreute Dissertation „Verfallbarkeit betrieblicher Ruhegeldanwartschaften“ noch dem Arbeitsrecht entnommen, so waren Sie mit Ihrer – auch nach 34 Jahren noch viel gelesenen – Regensburger Habilitationsschrift „Gemeinwohl und Gruppeninteressen“ bei einem Themenkreis angekommen, der Sie auch in Zukunft in seinen Bann schlagen sollte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Sie, lieber Herr von Arnim, mich in der Diskussion zu meinem Speyerer Berufungsvortrag zum Thema „Wahrnehmung von Gemeinwohlinteressen durch Verbände“ examinierten – aber ich hatte mich natürlich gerade auf Ihre Fragen vorbereitet. Es wäre wohl sicherlich nicht überzeichnet festzustellen, dass für von Arnim die während seiner Habilitationszeit bewahrte hauptberufliche Distanz zum Wissenschaftsbetrieb seinen Stil durchaus geprägt hat. Denn während dieser Zeit, in den Jahren 1968 bis 1978, war von Arnim Leiter des Karl-BräuerInstituts des Bundes der Steuerzahler – eine Tätigkeit, die eine klare Positionsnahme und eine klare Sprache erfordert. Gleichwohl erfolgte dann der Wechsel in die hauptberuflich wahrgenommene Wissenschaft, zunächst auf eine Professur in Marburg, seit 1981 dann als Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, insbesondere Kommunalrecht und Haushaltsrecht, in Speyer. Trotz einiger Abwerbungsversuche ist er der Speyerer Hochschule, deren Rektor er zwischen 1993 und 1995 war, bis zu seiner Entpflichtung treu geblieben. Von den zahlreichen weiteren Ämtern, die von Arnim wahrgenommen hat, seien nur die Mitgliedschaft im Brandenburgischen Verfassungsgericht von 1993 bis 1996 und in mehreren Sachverständigenkommissionen, so der vom damaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker berufenen „Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung“ genannt. Besonders teuer ist er mir persönlich als Leiter der Sektion I des Forschungsinstituts geworden, die er von Heinrich Reinermann übernahm und bis zum vergangenen Jahr erfolgreich durch alle Evaluationswidrigkeiten gesteuert hat. Das wissenschaftliche Werk Hans Herbert von Arnims in seinen Facetten würdigen zu können, ist in dem mir zugestandenen zeitlichen Rahmen sicherlich nicht möglich. Sein Schrifttumsverzeichnis umfasst mittlerweile über 250 Titel
Würdigung
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– mit weiter wachsender Tendenz. Sieht man von seinen beiden großen Lehrbüchern, der in 6 Auflagen erschienenen „Volkswirtschaftspolitik“ und der „Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland“ – mit der ich einen großen Teil der Vorbereitung auf mein Rigorosum bestritten habe – ab, so widerfährt seinem Oeuvre wohl zumindest kein grobes Unrecht, wenn man als Schwerpunkte die Beschäftigung mit Fragen der Verfasstheit der repräsentativen Demokratie, ihrer Akteure und deren Interessen, der Finanzierung, der Korruption und dem Wirken unabhängiger Kontrollinstanzen setzt. Im Kern geht es um das was von Arnim in einem für ein breiteres Publikum geschriebenen Taschenbuch in den einprägsamen Titel „Der Staat als Beute“ gefasst hat: Wer herrscht in der Demokratie? Das Volk oder die Politiker? Wie lassen sich Rückbindungen und Verantwortung sicherstellen? Nun gut, könnte man sagen, ein um bestimmte Themenfelder gruppiertes Lebenswerk haben viele Wissenschaftler. Ich denke, das Besondere an Ihrem Schaffen, lieber Herr von Arnim, liegt im Übergang – neudeutsch gesprochen – von der Output- zur Impactorientierung. Sie wollen nicht nur etwas sagen, Sie wollen auch gehört werden. Und das sind Sie – womit Sie lange vor dem Messen, Zählen, Wiegen von Evaluation im Wissenschaftssystem ihrer Zeit voraus waren. Methodisch sind Sie dabei in der Regel mehrstufig vorgegangen: Aufbauend auf gründlicher Analyse haben Sie zunächst den theoretischen Rahmen eines Themas festgesetzt, bevor sie dann diesen Rahmen anhand von Fallbeispielen heruntergebrochen haben. Wehe aber, wenn man als politischer Funktionsträger selbst das Fallbeispiel ist: Dann sucht und findet von Arnim mediale Wege von der Bild-Zeitung bis hin zur FAZ oder dem „Spiegel“ und Talk-Shows –, um den Fall zu placieren und Konsequenzen einzufordern. Dass man sich dabei nicht immer bei allen beliebt macht, hat Sie, lieber Herr von Arnim, nie angefochten. Ich habe eher den Eindruck, Sie empfinden „Viel Feind, viel Ehr“ als persönliche Herausforderung. Lassen Sie mich meine persönliche Bewertung so zusammenfassen: Es gibt in der Wissenschaft durchaus nicht wenige Kollegen, die das Licht der Öffentlichkeit suchen. Selten aber geht es diesen Kollegen um die Sache selbst, die bei von Arnim immer im Mittelpunkt steht. Und auch nicht alle Kollegen bewegen sich auf so theoretisch und methodisch gründlich vorbereitetem Grund wie Herr von Arnim. Kurz, Herr von Arnim: Sie sind ein Einzelstück, aber kein Auslaufmodell. Ich bin mir sicher, dass wir noch viele Jahre durch Ihre Produktivität angeregt werden. Joachim Wieland: Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen jetzt den ersten Referenten des heutigen Tages vorstellen, Herrn Prof. Dr. Lang von der Ernst-Moritz-ArndtUniversität in Greifswald. Sie werden an das anknüpfen, was Herr Ziekow eben
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Jan Ziekow
so anschaulich über die wissenschaftlichen Ansätze von Herrn von Arnim gesagt hat. Ihr Thema „Füller, Diäten und andere Formen staatlicher Politikfinanzierung“ ist in seiner Formulierung kongenial zu den Themen des heute zu Ehrenden. Wir hören etwas zur Ausgestaltung, Problemfeldern und Lösungsansätzen.
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Füller, Diäten und andere Formen staatlicher Politikfinanzierung – Ausgestaltungen, Problemfelder, Lösungsansätze Von Heinrich Lang
I. Einleitung Als ich mich nach der ehrenvollen Anfrage, ob ich heute hier (in Speyer, wo mein pfälzisches Idiom ausnahmsweise einmal unschädlich ist) etwas zum Fragenkreis „Entscheidungen (des Parlaments) in eigener Sache“ vortragen wolle, begann mit dem Thema wieder näher zu befassen, grassierte gerade der Füllerskandal (oder meinethalben auch das Füllhalterskandälchen) und wurde insoweit von mir, was ich hiermit zugebe, als plakativer Aufhänger für unser Thema „missbraucht“. Zwischenzeitlich sind mit den Spenden aus dem Hotelgewerbe, der, sagen wir vorsichtig, etwas eigenwilligen Besetzungspolitik in manchen Ministerien, den dem Bundesaußenminister vorgeworfenen Türöffner-Diensten für Lebensgefährte und Bruder oder den bekannt gewordenen zum Teil exorbitanten Nebeneinkünften nicht weniger Abgeordneter neue und immer wieder aktuelle Facetten der Politikfinanzierung in den Vordergrund getreten, so dass man eigentlich gar nicht genau weiß, welche man aufgreifen, wo und womit man beginnen soll. Ich möchte mich deshalb – auch wegen der bei einem Vortrag stets herrschenden Zeitnot – bis auf ein von mir nach wie vor als besonders skandalös empfundenes Referenzbeispiel weniger auf die Politikfinanzierung an sich oder die konkrete Ausgestaltung der Abgeordnetenfinanzierung beziehen, sondern mich den damit zusammenhängenden Problemen etwas grundsätzlicher zuwenden, sie unter dem Blickwinkel beleuchten, dessen plastische Formulierung wir dem Jubilar verdanken: Der Entscheidung in eigener Sache.1 Allerdings gibt es hinsichtlich der Frage, wann denn eigentlich eine Entscheidung in eigener Sache
___________ 1
Vgl. Hans Herbert von Arnim, Die Abgeordnetendiäten, 1974, S. 41.
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Heinrich Lang
vorliege, durchaus unterschiedliche Auffassungen2 und wir werden im Laufe des Tages dazu vielleicht noch einiges hören und darüber diskutieren. Ich habe es insofern leicht, weil die Entscheidung über die Abgeordnetenfinanzierung weitgehend unstreitig als Entscheidung in eigener Sache angesehen wird. Nun, was aber ist eigentlich so schlimm an der Entscheidung in eigener Sache. Wogegen sollte sie verstoßen? Zwingt nicht die Verfassung etwa in Art. 48 Abs. 3 GG die Abgeordneten dazu, in eigener Sache über die gewährten Entschädigungsleistungen zu entscheiden, wie kann sich dann Kritik formieren? Meine These ist, dass Entscheidungen in eigener Sache in mehrerlei Hinsicht dysfunktional sind.3 Sie führen zu einseitig begünstigenden Ergebnissen und befeuern damit eine allseits konstatierte Erosion demokratischer Identifikation. Aber die Entscheidung in eigener Sache weist nicht nur faktische, sondern auch rechtliche Spannungen auf. Sie reibt sich an einem nicht bloß ethischen, sondern vom BVerfG schon in der ersten Diätenentscheidung betonten Grundsatz der Privilegienfeindlichkeit des Grundgesetzes,4 mit dem unangemessene Entschädigungsleistungen konfligieren. Und: Entscheidungen in eigener Sache verletzen eine Entscheidungsvoraussetzung legitimer Herrschaftsausübung, die ich verfassungsstaatliches Distanzgebot nennen möchte.5 Im demokratischen Verfassungsstaat hängt die Ausübung von Herrschaft von einem Legitimität vermittelnden Abstand zwischen den ureigensten Interessen des zur Entscheidung Berufenen und dem Entscheidungsgegenstand ab. Nun ist das Distanzgebot, wie ich gerne einräume, kein juristisch-definitorischer Begriff, er findet sich nicht ausdrücklich in der Verfassung. Aber, er ist in ihr vorausgesetzt und das BVerfG hat ihn – wenn auch in anderem Zusammenhang, nämlich in der Entscheidung zum Maßstäbegesetz6 – und zwar auch in seiner philosophischen Bezugnahme auf die Theorie der Fairness von John Rawls7 auch anerkannt und angewendet. Das Erfordernis jener legitimatorischen Distanz war übrigens in den Anfangszeiten des Verfassungsstaats noch ebenso im allgemeinen Bewusstsein verankert wie zu Beginn des Grundgesetzes, wo der Rechtsstaat noch als Staatsform der Distanz gefeiert und die ___________ 2
So sieht etwa der Jubilar zum Beispiel auch die parlamentarische Entscheidung über die Ausgestaltung des Wahlrechts als „Entscheidung in eigener Sache“ an, vgl. bereits Hans Herbert von Arnim, ZRP 2002, 223 (226); dagegen etwa Heinrich Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, 2007, S. 32. 3 Vertiefende Nachweise bei Heinrich Lang (Fn. 2), S. 50–117. 4 BVerfGE 40, 296 (317 f.). 5 Umfängliche Herleitung bei Heinrich Lang (Fn. 2), S. 230 ff. 6 Vgl. BVerfG, 2BvF 2/98 vom 11. 11. 1999, einsehbar unter http://www.bverfg.de/ entscheidungen. 7 Vgl. BVerfG (Fn. 6), Absatz-Nr. 282.
Füller, Diäten und andere Formen staatlicher Politikfinanzierung
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legitimationsstiftende Bedeutung des Distanzgebots betont wurde.8 Legitime Herrschaft, Freiheit und Gerechtigkeit lebten davon, dass ein Abstand zwischen Interesse und staatlicher Entscheidung bestehe. Peter Lerche sprach von einem gewissen Pathos der Distanz und sah darin etwas Normativ-Grundlegendes.9 Und einer der Urväter des demokratischen Verfassungsstaats, John Locke, konstatierte nüchtern: „Den Mitgliedern der gesetzgebenden Versammlung ist es versagt, ein Gesetz zu erlassen, das allein ihnen Vorteile bringt. Sie sind lediglich ermächtigt, in Sachen der Allgemeinheit zu entscheiden, nicht aber in eigener Sache“. Dass bei Entscheidungen in eigener Sache die Distanz zwischen Interesse und Entscheidung in Frage gestellt ist, liegt auf der Hand. Aber ist das auch bedenklich, wirkt es schädlich, legitimationsderogierend oder – erodierend? Bei dem zur Beantwortung notwendigen Blick auf die Entscheidung in eigener Sache kann – wie schon angedeutet wurde – zwischen einer tatsächlichen und einer rechtlichen Perspektive unterschieden werden.
II. Ausgestaltung und Dysfunktionalitäten/ Tatsächliche Schieflagen Gestatten Sie mir in gleichsam rechtstaatsächlicher Sichtweise einen kurzen Überblick über die Ausgestaltung der Abgeordnetenfinanzierung, die trotz der plastisch mahnenden Worte Roman Herzogs, jede Zahl im Vortrag halbiere die Zahl der Zuhörer, nicht ganz ohne Zahlen auskommen kann. Bekanntlich sind die den Abgeordneten gewährten Entschädigungsleistungen (im Klartext ihr Einkommen) dreigeteilt. Bundestagsabgeordnete erhalten als Gehalt eine zu versteuernde Grundentschädigung10 (derzeit: 7.668 Euro), eine steuerfreie Aufwandsentschädigung (auch Kostenpauschale genannt von derzeit: 3.690 Euro) sowie eine in ihrer realen wirtschaftlichen Bedeutung nicht leicht zu erkennende Altersentschädigung. ___________ 8
Michael Kloepfer, VVDStRL 40 (1981), S. 63 ff. Peter Lerche, Übermaßverbot und Verfassungsrecht, 1961, S. 54. 10 Diese Grundentschädigung als Gehalt i.S.e. Vollalimentation wurde von den Abgeordneten Mitte der 70iger Jahre des vorigen Jahrhunderts durchgesetzt und unter anderem damit begründet, dass die Auslastung des Mandats keine Nebentätigkeit zulasse. Deshalb muss man schon etwas schmunzeln, wenn derzeit die exorbitante Anzahl von Nebentätigkeiten der Bundestagsabgeordneten damit gerechtfertigt wird, man könne Abgeordneten nicht verwehren, nebenbei im erlernten oder einem sonstigen Beruf tätig zu sein. 9
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Zu Grundentschädigung und Aufwandsentschädigung gäbe es auch einiges zu sagen, ich will das hier aber vernachlässigen und mich der Alterssicherung der Abgeordneten zuwenden. Sie ist in mehrfacher Hinsicht unangemessen „goldig“ ausgestaltet,11 was meist – zum Teil auch durch die Politik selbst12 – mit dem Schlagwort umschrieben wird, Abgeordnete seien zwar schlecht bezahlt, aber zu gut versorgt. Nach § 19 Abs. 1 AbgG erhält ein Abgeordneter des Bundestages nach seinem Ausscheiden eine Altersentschädigung, wenn er das 67. Lebensjahr vollendet und dem Bundestag mindestens ein Jahr angehört hat. Dabei bemisst sich die Altersentschädigung nach einem bestimmten Prozentsatz der Grundentschädigung. Jedes Jahr der Mitgliedschaft lässt den mit 2,5 % beginnenden Anspruch um 2,5 % steigen, nach einem Jahr der Mitgliedschaft beträgt der Anspruch also 2,5 %, nach 2 Jahren 5 %, nach 3 Jahren 7,5 % und so weiter und so fort bis zum Spitzensatz von 67,5 % nach 27 Jahren (was derzeit einem Betrag von 5.175 Euro entspräche). Das mag unspektakulär erscheinen, wird aber in seiner unangemessenen, privilegierenden Form deutlich, wenn man die gewährten Alterssicherungsansprüche mit denjenigen anderer Sicherungssysteme vergleicht. Setzt man etwa die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gewährte Altersversorgung zu derjenigen in der Gesetzlichen Rentenversicherung in Beziehung ergeben sich kuriose Relationen. Die in der Gesetzlichen Rentenversicherung erzielbare Höchstrente beträgt derzeit knapp 2.200 Euro. Bei ihr handelt es sich allerdings weitgehend um einen fiktiven Wert, da ein Rentenanspruch in dieser Höhe nur erzielt werden kann, wenn ein Versicherter von Beginn seines Versichertenlebens an stets Höchstbeiträge in die Rentenversicherung eingezahlt hat. Aussagekräftiger ist insofern der Anspruch des sogenannten Eckrentners, einer fiktiven Person, die 45 Jahre lang aus einem Durchschnittseinkommen Beiträge eingezahlt hat (Eckrente ist nicht die Durchschnittsrente, die gegenwärtig noch niedriger ist). Sein Rentenanspruch beläuft sich derzeit auf knapp 1.100 Euro, ein Alterssicherungsanspruch, der bei einer Tätigkeit im Parlament in gleicher Höhe bereits nach knapp 6 Jahren Parlamentstätigkeit realisiert wird. Der in der Gesetzlichen Rentenversicherung erzielbare Höchstbetrag von 2.200 Euro steht Abgeordneten nach knapp 10 Jahren Parlamentszugehörigkeit zu, was auch deshalb eine relevante Vergleichszahl darstellt, weil sich die durchschnittliche Verweildauer im Parlament auf eben jene 10 Jahre beläuft. Man kann also sagen, dass für den ___________ 11
Auch sind die rechtlichen Grundlagen der Altersversorgung weit von dem entfernt, was das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Abgeordnetenfinanzierung ebenfalls stets eingefordert hat: Transparenz. 12 Hans-Jochen Vogel, ZG 1992, 293.
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durchschnittlichen Parlamentarier die im Parlament erworbene Alterssicherung in etwa der doppelten Eckrente und der in der Gesetzlichen Rentenversicherung nach einem gesamten Versichertenleben erzielbaren Höchstrente entspricht. Und ein letzter Vergleich: Um die im Bundestag erzielbare Höchstversorgung von derzeit 5.175 Euro zu erwerben, müsste ein gesetzlich Versicherter knapp 105 Jahre lang Höchstbeiträge in die Gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Nachgerade bizarr muten vor diesem Hintergrund die der Selbstdarstellung des Deutschen Bundestages entnommenen folgenden Zeilen an; sie sind – was ich zur Vermeidung naheliegender Missverständnisse betonen möchte – ohne jeden ironischen Unterton verfasst. Wörtlich heißt es dort: „Die den Abgeordneten gewährte Altersentschädigung stellt seit dem 1. Januar 2008 keine Vollversorgung mehr dar. Sie schließt lediglich die Lücke in der Altersversorgung, die für Abgeordnete dadurch entsteht, dass sie im Parlament tätig sind und dafür auf eine andere, eine Altersversorgung begründende Berufstätigkeit ganz oder teilweise verzichten müssen. Denn für die Abgeordneten werden während der Mandatszeit keine Beiträge an die gesetzliche Rentenversicherung abgeführt. (Die Zeit der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gilt auch nicht als Dienstzeit im Sinne des Versorgungsrechts der Beamten.)“
Zwei Fragen kamen mir spontan in den Sinn. Wer oder was hält die Abgeordneten davon ab, ihre Alterssicherung der gesetzlichen Rentenversicherung anzuvertrauen? Und: Wenn die infolge der Parlamentstätigkeit erworbene Altersversorgung lückenhaft ist, bin ich ehrlich gesagt etwas ratlos, wie ich die in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbenen Alterssicherungsansprüche bezeichnen soll.
III. Rechtliche Problemfelder Ich hatte eingangs betont, im Verfassungsstaat hänge die Legitimität von Herrschaftsausübung von einem Abstand zwischen dem, worüber der zur Herrschaftsausübung Berufene entscheidet und dessen ureigensten Interessen ab. Wie also reagieren das Grundgesetz, die Landesverfassungen, wie die sonstige Rechtsordnung des Verfassungsstaats auf die Entscheidung in eigener Sache? Um hier das Problem – etwa unter Hinweis auf den bereits erwähnten Art. 48 Abs. 3 GG – nicht zu erschlagen, bevor man es zu Gesicht bekommen hat, bietet es sich an, nach den unterschiedlichen Erscheinungsformen staatlicher Hoheitsausübung in den drei Gewalten zu differenzieren, wobei ich die sogenannte erste Gewalt, also die Legislative zunächst noch zurückstellen möchte.
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1. Exekutive Im Bereich der zweiten Gewalt sind die rechtlichen Regelungen eindeutig. Das gesamte Verwaltungsrecht ist von dem Gedanken durchzogen, dass Bedienstete ihr Amt unparteiisch zu führen haben. Als Umsetzungen des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Unbefangenheit fungieren im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht die §§ 20, 21 VwVfG. Das BVerwG hat diese Vorschriften als Kodifikation eines allgemeinen Grundsatzes fairer Verfahrensgestaltung qualifiziert, der selbst dann gelte, wenn eine ausdrücklich gesetzliche Normierung fehle. Er gebiete – so das Gericht weiter – dass die für die Behörde tätig werdende Person die ihr übertragenen Aufgaben unparteiisch und in hinreichender Distanz zu eigenen und vom Gesetz nicht vorgesehenen Sonderinteressen vornehme13. Die §§ 20, 21 VwVfG greifen dies auf und differenzieren zwischen Ausschließung und Befangenheit. Dabei stellt § 20 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG die unwiderlegliche gesetzliche Vermutung auf, dass derjenige, der als Beteiligter, also in eigener Sache entscheidet, mangelnde Distanz zum Verfahrensgegenstand aufweist. §§ 20, 21 VwVfG sind aber nicht die einzigen Distanzschutzregelungen im Bereich der zweiten Gewalt. Vergleichbare Vorschriften finden sich im Sozialverwaltungsrecht,14 in der Abgabenordnung,15 im Notarrecht16 und etwa im Beamtenrecht.17 All diese Regelungen gehen davon aus, dass fehlende Distanz die Sachgerechtigkeit der Entscheidung stört, es kommt bei keiner Regelung auf die Person des Entscheidenden, seine Kompetenz oder seine möglicherweise jahrelang bewiesene Unparteilichkeit an, ja nicht einmal darauf, ob der Entscheidungsträger sich tatsächlich von eigenen Interessen leiten lässt, vermieden werden soll bereits der „böse Schein“ selbstbegünstigender Entscheidungsfindung.18 Der Distanzverlust führt zum Verlust der Entscheidungskompetenz. 2. Judikative Nichts anderes gilt im Bereich der dritten Gewalt, also bei der Judikative. Das deutsche Prozessrecht kennt fünf unterschiedliche Zweige der Fachgerichtsbarkeit, hinzu treten die Prozessordnungen der Landesverfassungsgerichte und des Bundesverfassungsgerichts. Jede dieser Prozessordnungen enthält Vor___________ 13 14 15 16 17 18
BVerwGE 75, 214 (230). §§ 16, 17 SGB X. § 82 f. AO. §§ 16 BNotO, 3 BeurkG. §§ 35 Abs. 1 S. BRRG, 52 Abs. 1 S. 2 BBG. Paul Stelkens/Heinz J. Bonk/Michael Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 20 Rn. 2.
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schriften, mit denen Richter, die nicht über eine hinreichende Distanz zum Verfahrensgegenstand oder den Verfahrensbeteiligten verfügen, wegen der Besorgnis der Befangenheit aus dem Verfahren entfernt werden können.19 Die Gesetze unterscheiden auch hier je nach der Stärke der die Unparteilichkeit in Frage stellenden Indizien zwischen Ausschließung und Befangenheit. Während beim Vorliegen eines Ausschließungsgrundes die weitere Mitwirkung des Richters aufgrund einer unwiderleglichen Vermutung gesetzlich ausgeschlossen ist, bedarf es bei der Befangenheit einer konstitutiven Entscheidung.20 Als pars pro toto derartiger Regelungen mag § 41 ZPO dienen. Nach Nr. 1 der Vorschrift ist ein Richter in Sachen, in denen er selbst Partei ist, so formuliert es das Gesetz, von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen. Alle anderen Prozessordnungen weisen, wie erwähnt, vergleichbare Regelungen auf, etwa auch die §§ 18, 19 des BVerfGG für die Verfahren vor dem BVerfG. Auch in der Judikative ist der Befund mithin eindeutig. Distanzverlust schließt Entscheidungskompetenz aus. 3. Legislative Und in der ersten Gewalt? Erstaunlicherweise findet sich auf Bundesebene keine den erwähnten Vorschriften, keine der Ausschließung und Befangenheit entsprechende Regelung. Können die Entscheidungsträger der ersten Gewalt am Ende gar nicht befangen sein, etwa deshalb nicht, weil sie als Bürger immer auch den eigenen Gesetzen unterworfen sind, so dass eine Entscheidung in eigener Sache gleichsam immer vorläge und damit – vergleichbar den sogenannten Gruppenprivilegien der Gemeindeordnungen – rechtlich unbeachtlich würde? Diese These wird in der Tat vertreten, doch ist sie aus meiner Sicht problemverkürzend. Denn zum einen geht es – jedenfalls bei der Abgeordnetenfinanzierung – nicht um die Parlamentarier irgendwie auch, sondern um sie ausschließlich, direkt und unmittelbar betreffende Entscheidungen, zum anderen finden sich auch in der ersten Gewalt durchaus Distanzschutzregelungen. Zwei Beispiele möchte ich kurz anführen: Zunächst Art. 84 BremVerf. Nach dieser Vorschrift darf ein Mitglied der Bürgerschaft – die staatsrechtlich ja ein Parlament darstellt – nicht bei Beratungen oder Entscheidungen mitwirken, die ihm selbst einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil bringen können. Mit der Regelung soll – so der Bremische Staatsgerichtshof21 – vermieden werden, dass eine Entscheidung allein eigennützig und nicht mehr zum Wohle der Allge___________ 19 §§ 41 ff. ZPO, 22 ff. StPO, 49 ArbGG, 54 VwGO, 51 FGO, 60 SGG, 18, 19 BVerfGG. 20 BVerfGE 46, 34 (37). 21 BremStGH NJW 1977, 2307 (2308).
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meinheit gefällt wird, dabei reicht der „böse Schein“ nicht unvoreingenommener Entscheidungsfindung aus. Die h. M. qualifiziert die Regelung als Ausnahmetatbestand, der Überschaubarkeit der Bremer Verhältnisse geschuldet, hier könne es leichter geschehen, dass Abgeordnete in eigenen Dingen zu entscheiden hätten.22 Nur, wenn das die Begründung ist, trifft sie jedenfalls die Entscheidung über die Diäten genauso. Denn hier sind Entscheidungsgegenstand und Betroffenenkreis ebenfalls überschaubar und die Entscheidung erfolgt ausschließlich durch und für Selbstbetroffene. In der Staatsrechtslehre wird Art. 84 BremVerf zum Teil wenig beachtet, zudem wie erwähnt als Sondernorm abgetan, es existieren mit den sogenannten Finanzvorbehalten aber noch weitere verfassungsrechtliche Distanzschutzregelungen. Sie finden sich in sämtlichen Landesverfassungen, im Grundgesetz, anders als etwa in der WRV23, nur deshalb nicht, weil Volksentscheide auf Bundesebene ohnehin nicht vorgesehen sind.24 Durch die Finanzvorbehalte wird ein Volksentscheid in allen finanzrelevanten Fragestellungen durch die Verfassung selbst ausgeschlossen. Ganz überwiegend werden die Finanzvorbehalte damit begründet, sie sollten verhindern, dass die Bürger bereitwillig der unmittelbaren Verbesserung der eigenen Situation zustimmten und hierüber die Beachtung des Gemeinwohls aus den Augen verlören.25 Es solle der Gefahr einer möglichen Selbstbedienung begegnet werden.26 Nun mag diese Begründung durchaus einleuchtend sein, nur eine Sache erstaunt doch: Wieso kann das Volk als Legislativgewalt befangen sein, die Abgeordneten aber nicht? Nach meiner Auffassung spiegeln sich hier idealistische Repräsentationstheorien aus den Zeiten des Frühparlamentarismus und idealistisch fixierter Gemeinwohlideale. Solange man einen Parlamentarier gleichsam in eine höhere Seinssphäre hievte, der einem wie und von wem auch immer definierten Gemeinwohl verpflichtet unparteiisch agierte, mochte man auf Distanzschutzregelungen verzichten können. Aus meiner Sicht existierten derartige parlamentarische Neutren schon in den Zeiten der frühen Parlamente nie. Aber sei’s drum. Jedenfalls heute aber – wo wie Jürgen Habermas es so schön formulierte – der Baldachin des Naturrechts über uns zusammengestürzt ist – scheint mir die These vorzugswürdig, dass es in einer pluralistischen Demokratie mit all ihren gesellschaftlichen Diversifizierungen kein vorfindliches Gemeinwohl mehr ge___________ 22 Nachweise bei Christine Knebel-Pfuhl, Mitwirkungsverbot wegen Befangenheit für Parlamentarier?, 1978, S. 106 ff. 23 Art. 73 Abs. 4 WRV. 24 So jedenfalls die h. M. 25 H. Schneider, Gesetzgebung, 1991, Rn. 178. 26 BayVerfGH VerfGHE 29, 244 (267).
Füller, Diäten und andere Formen staatlicher Politikfinanzierung
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ben kann, weil schlicht niemand imstande ist, den Gemeinwohlbegriff materiell für alle anderen mit zu definieren.27 Wenn man aber nicht mehr imstande ist, das Gemeinwohl materiell verbindlich zu fassen, muss man dessen Realisierung verfahrensrechtlich absichern, das heißt ein Verfahren generieren, von dem anzunehmen ist, dass es gemeinwohlverträgliche, sprich faire Entscheidungen produziert. Die Einbringung von Interessen ist dabei auch im demokratischen Gesetzgebungsverfahren aus meiner Sicht kein Übel, sondern notwendig, sie dürfen aber nicht als Sonderinteressen in den Vordergrund treten. Anders formuliert: Es geht bei dem Modell eines fairen Verfahrens um die Neutralisierung von Interessen, nicht um neutrale Interessen und mit Blick auf die über die eigene Bezahlung entscheidenden Abgeordneten nicht um die Beseitigung einer Selbstbedienungsmentalität, sondern einer Selbstbedienungskonstellation.
IV. Lösungsansätze Folgt man dem Ansatz, dass Distanzverlust die Entscheidungskompetenz entzieht, stellt sich freilich die nicht ganz einfach zu beantwortende Frage, wer denn dann über die Finanzierung der Abgeordneten entscheiden soll. Ich möchte gerne zwei Lösungsansätze, eine „kleine“ und eine „große“ ansprechen. Zunächst zur kleinen Lösung: Wenn die Entscheidung über die Abgeordnetenfinanzierung zwar als distanzverletzend, mit Blick auf Art. 48 Abs. 3 GG aber als unausweichlich angesehen wird, ist nach Entscheidungsmöglichkeiten Ausschau zu halten, bei denen zwar die Abgeordneten entscheiden, sie aber nicht in eigener Sache entscheiden. Diese auf den ersten Blick etwas kurios anmutende Lösung wurde von Julius Hatschek in die deutsche Verfassungsdebatte eingeführt, sie wird in Amerika – freilich nach einem knapp 200 Jahre dauernden Gesetzgebungsanlauf – auch derzeit praktiziert. Die Abgeordneten entscheiden zwar über die Abgeordnetenfinanzierung, aber nur über diejenige der nächsten Legislaturperiode. So lässt sich immerhin ein Mindestmaß an Distanzschutz sicherstellen, auch wenn wegen nicht geringer parlamentsübergreifender personeller Kontinuitäten damit wohl nur eine Minimallösung gefunden ist. Eine zweite, für deutsche Ohren radikal klingende Lösung wäre es, die Entscheidung über die Abgeordnetenfinanzierung als Legislativakt zwar in der ersten Gewalt zu belassen, die Kompetenz der Abgeordneten zu dieser Entscheidung aber zu beschneiden oder ganz zu beseitigen und das Volk in das Entscheidungsverfahren einzuschalten. Ausgestaltungsmodelle bestehen bereits, ___________ 27 Vertiefte Auseinandersetzung mit Repräsentationstheorien bei Heinrich Lang, (Fn. 2), S. 314 ff.
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Heinrich Lang
etwa könnte die Frage, ob den Abgeordneten eine der allgemeinen Einkommensentwicklung entsprechende Anpassung der Entschädigungsleistungen gewährt werden solle, mit der Wahl verbunden und die genannte Frage auf dem Wahlzettel oder einem beigefügten Blatt mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden. Gegen die Gefahr des von Gegnern des Modells heraufbeschworenen dramatischen Absinkens der Entschädigung infolge steten Nein-Stimmens wären die Abgeordneten durch Art. 48 Abs. 3 GG geschützt. Die Vorschrift gewährt den Abgeordneten eine „angemessene“ Entschädigung und enthält damit auch eine Untergrenze, unter die die gewährten Entschädigungsleistungen nicht absinken dürfen. Als Verfassungsnorm bindet Art. 48 Abs. 3 GG dabei auch die Volksgesetzgebung. Man braucht allerdings kein Prophet zu sein, um diesem oder vergleichbaren Modellen derzeit wenig Realisierungschancen zu bescheinigen, zu tief sitzt hierzulande eine apokryphe Furcht vor Entscheidungen des Volkes, auch wenn Sie lieber Herr von Arnim in und mit ihren Forschungen in Speyer stets zu einer Aufhellung dieser vorurteilsbeladenen Sicht auf die Gewährung von Entscheidungskompetenzen des Volkes beigetragen haben. Ich wäre durchaus versucht, zu den Gründen und Erscheinungsformen jener Furcht vor Entscheidungen des Volkes, in einer Demokratie (dem griechischen Ausdruck für Volksherrschaft) eine doch immerhin erstaunliche Position, noch einiges zu sagen, aber ich liefe mit weiteren Ausführungen Gefahr, Ihre freundliche Geduld noch mehr zu strapazieren und mich zudem ungebührlich in Themenbereiche zu wagen, die uns sicher heute Nachmittag noch beschäftigen werden. Jetzt aber freue mich auf die Diskussion und bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Diskussion zum Vortrag Lang Leitung: Stefan Fisch
Stefan Fisch: Lieber Herr Lang, vielen Dank für Ihren Beitrag, der eine ganze Reihe von Perspektiven aufgerissen hat. Mir ist es wichtig, dass wir dabei auch die ganz große Errungenschaft im Auge behalten, die im Parlamentarismus und im parlamentarischen System besteht. Heute ist ein dreifacher Gedenktag, der das verdeutlicht – heute ist, am 19. März, der Jahrestag der ersten, kurzlebigen spanischen Verfassung von Cádiz, in der 1812 das Parlament festlegte, dass in Zukunft der König durch die Gnade Gottes u n d durch die Verfassung sein Amt ausübt und deshalb die Souveränität mit dem Volk und seinen Vertretern teilt. Heute ist auch der 19. März, an dem 1848 in Berlin diejenigen, die sich in einer großen Demonstration für eine Verfassung mit demokratischer Struktur eingesetzt haben, niederkartätscht worden sind, die sogenannten Märzgefallenen. Und heute ist der Tag – da kommen wir jetzt ganz konkret auch zu einem aktuellen Arbeitsfeld von Ihnen, lieber Herr von Arnim –, an dem 1958 in Straßburg zum ersten Mal das europäische Parlament zusammengetreten ist. Die Römischen Verträge waren am 1. Januar 1958 in Kraft getreten, und am 19. März 1958 trat das darin vorgesehene Parlament zum ersten Mal zusammen. Ich habe jetzt heute Morgen noch keinen Blick in die Zeitung geworfen, aber es wäre sicherlich interessant zu sehen, welche dieser Ereignisse in unserer öffentlichen Meinung – auch das ist ein Thema von Ihnen, lieber Herr von Arnim – und in unserem historischen Bewusstsein in welcher Art und Weise präsent sind. Wenn ich jetzt von der Geschichtswissenschaft in die Gegenwart und in die Zukunft gehe, dann ist es ein ganz entscheidender Punkt, dass es offenbar verschiedene Arten von ‚Entscheidungen in eigener Sache‘ gibt. Was die Cortes 1812 in Cádiz gemacht haben, nämlich sich selbst als Beteiligte an der Verfassunggebung und dann auch an der Herrschaftsausübung zu definieren, das ist ja der Normalfall der Verfassungsgebung. Nationalversammlungen oder Assemblées Nationales treffen immer auch solche Entscheidungen in eigener Sache, die zugleich im höheren Sinne der Demokratie durchaus sehr funktional sind. Die Funktionalität solcher Entscheidungen in eigener Sache ist aber nicht immer so augenfällig. Ich denke, dass wir in der Diskussion diesen Grenzbereich weiter erläutern und
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Diskussion zum Vortrag Lang
abstecken werden und bei der Festlegung von Grenzlinien auch kontroverse Standpunkte haben werden. Ich möchte Sie ermuntern, jetzt auf den Vortrag von Herrn Lang einzugehen und in der Diskussion seine Gedanken noch weiterzutreiben durch Rede und Gegenrede. Bitte, Herr Battis. Ulrich Battis: Herr Lang, haben Sie herzlichen Dank für Ihren aussagestarken und wirklich faktengesättigten Vortrag. Ich denke etwa an die Zahlen zur Abgeordnetenversorgung und deren Relation zu den Zahlen des Eckrentners. Insoweit stimme ich Ihnen uneingeschränkt zu. Aber das ist ja eigentlich auch allgemeine Meinung, selbst die meisten Abgeordneten wissen, dass die Konditionen und die Höhe der Altersversorgung der Abgeordneten nicht zu vertreten sind. In NordrheinWestfalen hat das Parlament ja auch den überfälligen Systemwechsel bewerkstelligt. Herr Lang, Sie haben eindrucksvoll zum Distanzgebot gesprochen. Nicht erst seit Michael Kloepfers Trierer Referat vor den Staatsrechtslehrern (1981) wissen wir: „Der Rechtsstaat ist eine Staatsform der Distanz.“ Ich würde sogar sagen, ist die Staatsform der Distanz. Dieses elementare rechtsstaatliche Gebot haben Sie nun in Anlehnung an den heutigen Jubilar auf das Parlament und insgesamt auf das Demokratieprinzip übertragen. Das kann man sicher machen, überzeugt mich aber nicht. Der Richter darf nicht in eigener Sache entscheiden, ebenso wenig ein Exekutivorgan. Beim Abgeordneten ist das ganz anders. Er entscheidet fast immer mehr oder weniger in eigener Sache, zum Beispiel bei Steuergesetzen oder bei der gesetzlichen Regelung der Subventionierung von Ökostrom. Das gilt für die repräsentative Demokratie und erst Recht für Formen identitärer Demokratie. Bei der Volksabstimmung ist die Sache noch evidenter. Warum entschließen sich die Leute, Volksbegehren zu initiieren und sich daran zu beteiligen? Weil es um ihre eigene Sache geht. Das wussten schon die Römer. Deshalb bin ich nicht davon überzeugt, dass Formen direkter Demokratie geeignetere Instrumente zur Festlegung angemessener Abgeordnetenbezüge sind, schon gar nicht in unserer von den Medien angestachelten Neidgesellschaft. Die Mehrheit zumindest der Männer fühlt sich unterbezahlt. Das gilt zum Beispiel gerade auch für Richter (der Instanzgerichte) und für die meisten Professoren. Bei Ihrem Modell, lieber Herr Lang, entscheiden letztlich die Richter über die Angemessenheit der Bezüge. Auch wenn der liebe Herr Kirchhof neben mir sitzt, ich finde das keine optimale Lösung. In Deutschland entscheiden die Gerichte ohnehin eher zu viele als zu wenige politische Fragen.
Diskussion zum Vortrag Lang
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Heinrich Lang: Vielen Dank Herr Battis für Ihre Frage, die aus meiner Sicht ins Zentrum der Probleme führt. Im Ausgangspunkt haben Sie selbstverständlich recht, das Distanzgebot in seiner überkommenen Interpretation ist in erster Linie eine rechtsstaatliche Errungenschaft; das in Ihrer Frage angesprochene Zitat aus Michal Klopfers Trierer Referat belegt das eindrucksvoll. Ich habe es – was im Rahmen dieses Vortrags nur in knapper Form erfolgen und begründet werden konnte – mit seiner wesentlichen Aussage auf demokratisch legitimierte Entscheidungen übertragen, weil ich die Distanz zwischen Entscheidungsträger und der zu entscheidenden Frage, deren Gegenstand, als Legitimationsvoraussetzung verfassungsstaatlich gebundener Herrschaftsausübung ansehe. Sie haben dagegen vor allem eingewandt, in einer Demokratie entschieden Abgeordnete fast immer mehr oder weniger in eigener Sache und das gelte gerade für Formen identitäter Demokratie. Wegen dieses beachtlichen Einwandes plädiere ich für eine restriktive Interpretation des Begriffs der „Entscheidung in eigener Sache“ durch ein eng geführtes Kausalitätserfordernis. Nur solche Entscheidungen, die sich für die Entscheidungsträger unmittelbar statusbegünstigend, -verändernd, -begründend auswirken, sollten nach meinem Ansatz einem verfassungsstaatlichen Distanzschutz unterliegen. Andernfalls drohte der Begriff „Entscheidung in eigener Sache“ eine uferlose Weite, ich darf es Ihr Petitum aufnehmend so formulieren: Es geht nicht um mehr oder weniger die Abgeordnete betreffende Entscheidungen, sondern sie unmittelbar und direkt, im Fall der Abgeordnetenentschädigung sie sogar ausschließlich betreffende Entscheidungen. Dass derartige Entscheidungen der Gefahr ausgesetzt sind, Unparteilichkeit zu verlieren, ist für die rechtsstaatlich gebundenen zweiten und dritten Gewalten unbestritten, es gilt aber auch im Bereich demokratischer Entscheidungsfindung. Dies belegen nicht zuletzt die von Ihnen angesprochenen Entscheidungen auf direktdemokratischer Grundlage. Sämtliche Landesverfassungen sehen – wie auch schon die Weimarer Reichsverfassung – sogenannte Finanzvorbehalte vor, nehmen also wegen der (bloßen) Sorge vor Selbstbegünstigung dem Volk die Entscheidungskompetenz über finanzrelevante Fragen. Aus meiner Sicht steht der hier vorgetragenen These eines Volksentscheids über die Abgeordnetenfinanzierung auch nicht das von Ihnen angeführte Phänomen der sogenannten Neidgesellschaft gegenüber, das hier dazu führe, dass durch das Volk nicht sachgerecht über die Abgeordnetenfinanzierung entschieden werden könne. Wir haben in Deutschland mit unter demokratischen Verfassungen durchgeführten Volksentscheiden keine derart negativen Erfahrungen, dass damit Formen identitärer Demokratie desavouiert würden.
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Erlauben Sie mir noch eine letzte Ergänzung: ich plädiere nicht für eine Entscheidung über die Diäten durch Richter, Aufgabe des Verfassungsgerichts wäre es nur, wenn man die mit den von Ihnen angeführten Stichwort Neiddebatte verbundenen Gefahren aufgreift, die verfassungsrechtliche Untergrenze der Angemessenheit (Art. 48 Abs. 3 GG) der Abgeordnetenbezüge zu aktivieren, wenn die Volksgesetzgebung tatsächlich zu einem Absinken der Entschädigungsleistungen führen würde. Und dass es letztlich das BVerfG ist, das verfassungsrechtliche Begriffe – wie hier denjenigen der Angemessenheit in Art. 43 Abs. 3 GG – konturiert, stellt keine Besonderheit des Diätenrechts dar, sondern ist täglich Brot der Verfassungsgerichtsbarkeit. Paul Kirchhof: Herr Lang, ich stimme Ihrem schönen Referat in vielem zu, frage aber, ob die Idee der parlamentarischen Repräsentation nicht gerade des Volksrepräsentanten in der Sache des Volkes fordert. Wenn das Parlament heute in der Frage der Solarenergie entscheidet, trifft es Regeln, die alle Abgeordneten selbst betreffen. Heinrich Lang: Auch Ihre Fragen führen zu Kernfragen des Verfassungsstaats. Zunächst mit dem ersten Teil Ihrer Anmerkung, die zurückführt zu der im Rahmen des Vortrags angesprochenen Fragestellung, warum das Abgeordnetenmandat, die damit verbundene Repräsentation, so verstanden wird, als könne es darin keine Befangenheit geben. Und wenn es eine Befangenheit des Volkes in eigenen Angelegenheiten bei direktdemokratischen Entscheidungen gibt (Stichwort Finanzvorbehalte), warum nicht auch bei Entscheidungen der Repräsentanten des Volkes. Stellt Repräsentation eine „höhere“, eine „bessere“ Form der Entscheidungsfindung dar, bei der verfassungsstaatliche Distanzschutzregelungen obsolet sind? Ich hatte im Vortrag ausgeführt, dass sich nach meinem Dafürhalten in dieser Sichtweise idealistische Repräsentationstheorien aus den Zeiten des Frühparlamentarismus und idealistisch fixierter Gemeinwohlideale spiegelten. Das mag pointiert sein, doch wird meine Kritik an derartigen Idealen durch die plurale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften gespeist. Denn wenn man der These zustimmt, dass es in einer pluralistischen Demokratie mit all ihren gesellschaftlichen Diversifizierungen kein vorfindliches Gemeinwohl mehr geben kann, muss man auch Konsequenzen daraus ziehen. Kann kein Repräsentant mehr den Gemeinwohlbegriff inhaltlich fühlen, mit allgemeingültigem Anspruch und für alle verbindlich formulieren, was eine richtige, weil gemeinwohlkonkretisierende Entscheidung sei, kann sich das Recht, können sich die verfassungsstaatlichen Sicherungen gegenüber eigeninteressierten Entscheidun-
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gen nur noch auf die Entscheidungsverfahren beziehen. Es geht dann darum, ein Verfahren zu generieren, von dem anzunehmen ist, dass es gemeinwohlverträgliche, sprich faire Entscheidungen produziert. Und dafür scheinen mir Distanzschutzregelungen, wie sie das Verbot des Entscheidens in (nur) eigener Sache beinhalten, eine unabdingbare Voraussetzung. Das führt zu dem weiteren Einwand, was denn nun eine Entscheidung in eigener Sache sei, sie haben das Beispiel der Entscheidung des Bundestages zur Solarenergie genannt. Auch hier darf ich auf mein zentrales Anliegen verweisen, den Topos der Entscheidung in eigener Sache durch ein eng geführtes Kausalitätserfordernis (mit einer Orientierung am Unmittelbarkeitskriterium der Kommunalverfassungen) operational zu halten. Bei Entscheidungen, die für Abgeordnete unmittelbar statusrelevant sind, besteht die Besorgnis voreingenommener Entscheidungen und damit das Bedürfnis nach Distanzschutz, nicht bei jeder die Abgeordneten mehr oder minder auch betreffenden Entscheidungen, mögen diese durchaus auch existentiellen Charakter aufweisen. Martin Morlok: Entscheidungen in eigener Sache sind generell betrachtet natürlich ein Problem. Zu Recht sprechen Sie, Herr Lang, auch vom rechtsstaatlichen Distanzgebot. Man verkennt indes bei einer alle staatlichen Entscheidung umfassenden Betrachtung die Besonderheiten der demokratischen Entscheidungsfindung. So richtig es ist, das gilt „nemo iudex in sua causa“, so anders liegen die Dinge im Bereich der Demokratie. Kerngedanke der Demokratie ist die Selbstbestimmung – und Selbstbestimmung heißt eben auch selbst entscheiden zu dürfen. „Mea res agitur“ ist das Ausgangsmotiv der Demokratie – und gerade wegen dieser Selbstbetroffenheit darf ich (mit)entscheiden. Das Recht der kollektiven Selbstbestimmung kennen wir als „Volkssouveränität“ – das Volk entscheidet unter diesem Vorzeichen in allen es betreffenden Angelegenheiten grundsätzlich selbst – oder aber durch seine Vertreter, die „Volksvertreter“ im Parlament. Aber auch bei Entscheidungen der Volksvertreter geht es letztlich um die Selbstbestimmung der Bürger vermittels ihrer Repräsentanten. Deswegen sollen die Abgeordneten auch von den Bürgern kontrollierbar sein, um von ihnen politisch beeinflussbar zu sein. Die Entscheidungen über die Geschwindigkeitsbeschränkungen im Straßenverkehr, über Art und Höhe der Steuern, über Sozialleistungen etc., welche die Bürger betreffen, sind von deren Vertretern zu treffen. In eigener Sache zu entscheiden ist eine demokratische Selbstverständlichkeit, keineswegs per se ein Problem. Freilich, die unter dieser Bezeichnung behandelten Entscheidungen des Parlaments, etwa über die Diäten der Abgeordneten, über die Parteienfinanzierung und anderes mehr, stellen durchaus ein Problem dar – dieses ist allerdings mit dem Titel „Entscheidung in eigener Sache“ falsch, ja irreführend bezeichnet.
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Das Problem liegt nicht in der Entscheidung durch Personen, die von der Entscheidung selbst betroffen sind, sondern darin, dass bei dieser Gruppe von Entscheidenden nur die entscheidenden Abgeordneten selbst betroffen sind, jedenfalls zu wenige andere Bürger. Beim Straßenverkehrsrecht, beim Steuerrecht, bei den Sozialleistungen sind jeweils sehr viele, oft Millionen von anderen Bürgern betroffen, das führt zu einer öffentlichen Diskussion um die in Rede stehenden Fragen, das induziert den Aufbau von öffentlichem Druck und das wiederum von Gegendruck, kurz, die vielen auch von einer solchen Entscheidung Betroffenen wirken in einer Weise kontrollierend auf diese Entscheidungen ein, dass die engeren Eigeninteressen der entscheidenden Personen, also der Abgeordneten, nicht dominieren können. Das Problematische an dieser Gruppe von Entscheidungen liegt darin, dass bei ihnen ein strukturelles Kontrolldefizit vorliegt. Thilo Streit hat dies in seiner schönen Dissertation zu den Entscheidungen in eigener Sache herausgearbeitet. Darauf möchte ich hier verweisen. Der übliche Begriff der „Entscheidung in eigener Sache“ führt insofern in die Irre, als er suggeriert, die Lösung liege darin, solche Entscheidungen abzuschaffen, die Entscheidung in diesen Dingen gar in andere Hände zu legen. Richtigerweise wäre dafür zu sorgen, dass die sonst greifenden Kontrollmechanismen auch bei diesen heiklen Entscheidungen zum Zuge kommen; so ist also dafür Sorge zu tragen, dass solche Entscheidungen eine hinlänglich lange Behandlungszeit im Parlament haben, so dass die Öffentlichkeit auch davon Kenntnis nimmt und sich dazu verhalten kann. Die Praxis, kurz vor Weihnachten das Parteiengesetz innerhalb von drei Tagen zu ändern, ist das schlechte Gegenbeispiel. Aber wie gesagt, das in der Tat bestehende Problem ist durch Aufmerksamkeitssteigerung der Öffentlichkeit und Kontrollintensivierung zu lösen, nicht durch die Suche nach anderen Entscheidungsträgern. Heinrich Lang: Ich darf Ihren Einwand, lieber Herr Morlok, in gewisser Weise dem von Herrn Battis vorgebrachten, zuschlagen: Das Verbot des Entscheidens in eigener Sache gelte nicht für den Bereich der Demokratie, denn das Volk – und also auch seine Stellvertreter – entschieden grundsätzlich selbst und immer auch über die eigenen Angelegenheiten, so dass gleichsam immer eine Entscheidung in eigener Sache vorläge. Indes, die von mir angeführten unmittelbar statusrelevanten Entscheidungen durch Abgeordnete, wie etwa die Festsetzung der Diäten, weisen eine Besonderheit auf, sie stellen Entscheidungen in nur eigener Sache dar. Und ich meine, dass gerade das von Ihnen bei Entscheidungen in eigener Sache betonte strukturelle Defizit – eine Analyse, der ich voll und ganz zustimme, doch eigentlich eine auch normative Korrektur erzwingen muss. Denn, wenn das so ist, wenn Entscheidungen in eigener Sache strukturell defizitär sind (und ja im Bereich der anderen Gewalten auch genau deshalb untersagt sind), stellt sich doch die
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Frage, wie der Verfassungsstaat auf eine solche strukturelle Schwäche reagiert. Sie haben für eine Effektivierung der auch sonst geltenden Kontrollmechanismen plädiert, in der Mediendemokratie übernähme die Presse hier wichtige Aufgaben, im Verfassungsstaat zudem die Justiz, hier also die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Aus meiner Sicht spricht dagegen in grundsätzlicher Perspektive schon die der Entscheidung in eigener Sache attestierte strukturelle Defizienz. Wenn sie besteht, vermag es nicht zu verwundern, dass auch die bisher bestehenden Kontrollmechanismen versagen, da deren Schwäche Teil des strukturellen Problems sind. Nehmen Sie die Presseberichterstattung über die sogenannte Politikfinanzierungsskandale oder Skandälchen. Sie erzeugen kurze Empörung und sind nicht selten einseitig und von einer Interessenfunktionalisierung gekennzeichnet. Wieso darf ich polemisch fragen, wird in den Medien über die Abgeordnetenfinanzierung skandalierend berichtet, nicht aber etwa über die doch sehr beträchtlichen Bonuszahlungen an die Vorstände der gesetzlichen Krankenkassen. Warum nicht die Abgeordneten entlasten von einer Entscheidung, die nicht wenige von ihnen als „Fluch“ bezeichnen? Und ein letztes Wort zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle: Sie leidet ebenfalls unter einem strukturellen Webfehler, den ich in Anlehnung an einen Roman von Josef Heller die Catch-22-Regeln nennen will. Hellers verfilmter Roman handelt von kriegsmüden Frontsoldaten, die nur eine Möglichkeit haben, dem Schrecken des Krieges zu entfliehen: Sie müssen geisteskrank sein und selbst danach verlangen, aufgrund dessen nach Hause geschickt zu werden. Nun besagt aber die Regel „Catch 22“, dass derjenige, der selbst verlangt, nach Hause geschickt zu werden, per se nicht geisteskrank sein und dementsprechend nicht nach Hause geschickt werden könne. Schließlich sei der Wunsch, sein Leben durch Drücken vor dem Kriegsdienst zu retten, ein Beweis für das tadellose Funktionieren des Verstandes. Diese kleine Paradoxie erinnert mich immer an die Situation im Diätenrecht. Denn hier führen die Regelungen zur Beschwerdebefugnis im Bundesverfassungsgerichtsgesetz dazu, dass diejenigen, die tendenziell klagewillig sind, die Bürger, nicht beschwerdebefugt und diejenigen, die an sich beschwerde- bzw. antragsbefugt wären, nämlich die Abgeordneten nicht beschwerdewillig sind. Es verwundert daher nicht, dass es kaum Entscheidungen des BVerfG zum Diätenrecht gibt. Und selbst wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit einmal eingreifen kann, wie seinerzeit in Thüringen, wo das Thüringer Verfassungsgericht die landesrechtlichen Regelungen zur Altersentschädigung der Abgeordneten als unangemessen hoch und privilegierend kassiert hatte, liegt darin kein echtes Korrektiv. Zwar wurde der Thüringer Landtag zu einer Neuregelung der Alterssicherung für Abgeordnete gezwungen. Die Neuregelung führte aber dazu, dass nach nur zwei weiteren Jahren die aufgrund der neuen gesetzlichen Bestimmungen gewährten Altersentschädigungsleistungen bereits wieder höher lagen als diejenigen, die das Landesver-
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fassungsgericht zwei Jahre zuvor als unangemessen privilegierend angesehen hatte. Siegfried Magiera: Ein Hauptproblem scheint mir nach den eingehenden Darlegungen des Vortrags die Angemessenheit der Abgeordnetenentschädigung zu sein. Ich frage mich deshalb in diesem Zusammenhang, ob sich die Angemessenheit nicht nur durch politisch zu verantwortende Parlamentsentscheidung oder zumindest auch und dann in welcher Weise wissenschaftlich begründet feststellen lässt. Heinrich Lang: Ich darf hier zunächst ein Missverständnis ausräumen. Ich hatte nicht behauptet, die Angemessenheit stelle keinen materiell ausfüllbaren Begriff dar, sondern dies für das sogenannte „Gemeinwohl“ konstatiert. Ich stimme Ihnen zu in der Überlegung, dass es schwierig sei, zu fixieren, was eine „angemessene Entschädigung“ darstellt. Allerdings, die Verfassung verwendet den Begriff, also muss er auch normativ gefüllt werden können und ich glaube nicht, dass der von Ihnen zu Recht herausgestellten Schwierigkeit der Konturierung nun gerade durch eine Entscheidung in eigener Sache begegnet werden sollte. Albert Janssen: Viele der in den Referaten angesprochenen Probleme erscheinen nach meinen praktischen Erfahrungen bei gutem Willen aller Beteiligten lösbar. Diese praktischen Erfahrungen habe ich als Geschäftsführer der niedersächsischen Diätenkommission gemacht, – ein Amt, dessen Wahrnehmung zu meinen Pflichten als Landtagsdirektor etwa 15 Jahre lang gehörte. Die Diätenkommission setzt sich in Niedersachsen aus Vertretern der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammen, die vom Landtagspräsidenten im Benehmen mit dem Präsidium des Landtags berufen werden und selbstverständlich nicht dem Landtag angehören dürfen. Praktisch wurde der Gang ihrer Beratungen maßgeblich durch die vor der jeweiligen Sitzung der Kommission stattfindenden gründlichen Vorbesprechungen zwischen dem Kommissionsvorsitzenden – einem erfahrenen Mann aus der Wirtschaft – und mir als Geschäftsführer vorbestimmt. Die Diätenkommission erarbeitete zu meiner Zeit jährlich einen Bericht über die Angemessenheit der im nds. Abgeordnetengesetz geregelten Entschädigung, der jeweils in einen konkreten Entscheidungsvorschlag einmündete. Von diesem Entscheidungsvorschlag „wagte“ der Landtag schon deshalb nicht abzuweichen, weil der Bericht vor der Beschlussfassung des Landtags darüber durch den Vorsitzenden der Diätenkommission der Presse vorgestellt und mit ihr ausführlich diskutiert wurde. Auf diese Weise haben wir uns in Niedersachsen auf das „Leitbild“ A 16 der Beamtenbesoldung für die Entschädigung der Abgeordneten geeinigt und
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auch über Jahre hinweg die jährliche Steigerung des Anspruchs auf Altersentschädigung abgesenkt. Quintessenz meiner Erfahrungen also: Gerade im Bereich der Abgeordnetenentschädigung kommt es nicht so sehr auf die entsprechenden Regelungen an, sondern vor allem auf die Leute, die mit dem jeweiligen Regelungswerk umgehen. Heinrich Lang: Vielen Dank lieber Herr Janssen für Ihren hilfreichen Hinweis auf die Einschaltung von Kommissionen. Erlauben Sie mir bitte, bevor ich darauf eingehe, noch eine kurze Klarstellung: Mir geht es nicht um eine Verteufelung von Abgeordneten oder darum, dumpfe Neidressentiments zu bedienen. Ich „geißele“ keine Selbstbedienungsmentalität, meine Kritik setzt an einer Selbstbedienungskonstellation an. Nun zu den Kommissionen. Hier sind wir in der misslichen Lage, dass uns das BVerfG dieses Distanzschutzinstrument etwas aus der Hand geschlagen hat, weil das Gericht seit der ersten Diätenentscheidung verlangt, dass die Abgeordneten selbst und stets aufs Neue vor den Augen des Volkes über die Abgeordnetenfinanzierung zu entscheiden haben. Zudem, die Einrichtung von Diätenkommissionen läuft Gefahr, das Problem „Selbstbedienungskonstellation“ auf eine andere Ebene zu verschieben, aber nicht zu lösen, weil Abgeordnete dann über die Auswahl der Kommissionsmitglieder Einfluss nehmen könnten. Aber ich gestehe Ihnen gerne zu, dass die Einschaltung von Kommissionen von meinem Distanzschutzansatz her, zumindest ein Schritt in die richtige Richtung darstellt. Hans Herbert von Arnim: Herzlichen Dank, lieber Herr Lang, für Ihren Vortrag. Wie anregend Ihre Ausführungen waren, konnten wir ja aus der bisherigen Diskussion bereits ersehen. Wie Sie wissen, stimme ich Ihrer Problematisierung von Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache voll zu. Besonders gefallen hat mir der Hinweis auf die klassische Formel von John Locke, dass Parlamente kein Gesetz erlassen dürfen, welches allein ihnen Vorteile bringt, und darauf dass Derartiges zur Erosion demokratischer Identifikation beiträgt. Unterstreichen möchte ich auch Ihre Aussage, dass es weniger um inhaltliche als um Verfahrensgerechtigkeit geht und das Problem nicht in der Selbstbedienungsmentalität von Abgeordneten, sondern in der bestehenden Selbstbedienungskonstellation liegt. Ein Problem habe ich mit Ihrer engen Definition von Entscheidungen in eigener Sache, die Sie auf Diäten beschränken und zum Beispiel Entscheidungen über Fraktions-, Parteien- und Parteistiftungsfinanzierung sowie über das Wahlrecht begrifflich ausschließen. Sie haben dies ja auch schon in ihrer schönen Habilitationsschrift getan, und ich hatte das zunächst als Kunstgriff verstanden,
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um Umfang und Einzugsbereich Ihres Buches nicht allzu sehr anschwellen zu lassen. Formal haben Sie die Abgrenzung mit dem Erfordernis der Unmittelbarkeit der Selbst-Entscheidung versucht. Aber wir können ja beobachten, dass das Rekurrieren der Rechtswissenschaft auf das Merkmal der Unmittelbarkeit sonst meist Ausdruck gewisser Verlegenheit ist. Wie klassifizieren Sie Entscheidungen des Parlaments über Zahlungen an Abgeordnetenmitarbeiter, also einen Teil der Amtsausstattung? Das Geld fließt ja den Mitarbeitern zu, und die Abgeordneten profitieren nur mittelbar davon. Ein zweites Beispiel: Sollen Entscheidungen, welche die Abgeordneten, die ja gleichzeitig Fraktionsmitglieder sind, über Fraktionszuschüsse treffen, die ihnen als Fraktionsmitglieder zugutekommen, wirklich mittelbar sein? Sie wissen natürlich, dass meinem Vorschlag, auch Entscheidungen des Parlaments über Fraktions- und Parteienfinanzierung sowie Stiftungsfinanzierung als Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache zu charakterisieren, die staatsrechtliche und politikwissenschaftliche Literatur ganz überwiegend gefolgt ist und Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte erst jüngst auch hinsichtlich Entscheidungen über das Wahlrecht von Entscheidungen in eigener Sache sprechen. Die heutige Diskussion veranlasst mich, zusätzlich zu Ihrer formalen Abgrenzung ein materiales Argument in Erinnerung zu rufen, welches meines Erachtens die Einbeziehung auch der genannten Bereiche verlangt: Beim Wahlrecht, aber auch bei der Politikfinanzierung insgesamt geht es um so genannte Regeln des Machterwerbs. Sie bestimmen darüber mit, wer die Regierungsmacht für die gesamte Legislaturperiode erhält und verbindliches Recht für uns alle setzt. Entscheidet die Politik selbst über diese Regeln, ist ihre Angemessenheit besonders gefährdet, obwohl gerade sie von fundamentaler Wichtigkeit für die Legitimität des ganzen Systems ist. Ihre Gefährdung ist genauso groß wie bei den Diäten, der delegitimierende Effekt unangemessener, einseitiger Gestaltungen ist bei ihnen aber wahrscheinlich noch sehr viel größer. Dementsprechend ist auch das besondere Kontrollbedürfnis, welches Sie bei Diätenentscheidungen des Parlaments konstatiert haben, bei jenen anderen Bereichen mindestens ebenso groß. Eine auf Sinn und Funktion abstellende Sichtweise sollte also auch diese zusätzlichen Bereiche mit einbeziehen. Das wollte ich nur zur Abrundung noch hinzufügen. Heinrich Lang: Ich hoffe, lieber Herr von Arnim, Sie verübeln es mir an Ihrem Jubiläumstag nicht, wenn ich an dieser Stelle auf einen deutlichen Unterschied unserer Kritiken hinweise. Die von Ihnen neben der Abgeordnetenfinanzierung angeführten Bereiche des Parteiengesetzes, des Wahlrechts oder auch der gesetzlichen Regelungen zu den parteinahen Stiftungen sehe ich nicht als Entscheidungen in ei-
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gener Sache im hier vorgestellten Sinne an: bei ihnen fehlt es an der Unmittelbarkeit. Zwar mögen sich im Bereich des Parteien- oder Wahlrechts vergleichbare Probleme wie im Abgeordnetenfinanzierungsrecht stellen und ich hatte in der Tat gesagt, Entscheidungen in eigener Sache führten zur Dysfunktionalität. Aber man kann es nicht umgekehrt sagen, nicht immer, wo etwas dysfunktional ist, muss auch eine Entscheidung in eigener Sache vorliegen. Nach meiner Überzeugung bedarf der Begriff der Entscheidung in eigener Sache einer Eingrenzung. Denn es trifft ja zu, dass sich in einer parlamentarischen Demokratie eine Fülle von mehr oder weniger die Abgeordneten betreffenden Entscheidungen ausmachenden ließen und die Kritik an dem vom mir dargestellten Ansatz des Distanzschutzes greift dies ja auch und scheint den von mir geforderten Distanzschutz mit der Überlegung ad absurdum zu führen, dass der Begriff konturlos sei und deshalb aus ihm keine praktischen Konsequenzen gezogen werden dürften. Ich habe versucht, dem Vorwurf uferloser Weite des Begriffs „Entscheidung in eigener Sache“ durch ein eng geführtes Kausalitätserfordernis zu begegnen. Das ist aus meiner Sicht – übrigens wie sonst auch im Befangenheitsrecht – geboten, weil der Distanzschutz ja nicht an tatsächlichen Missbrauch, sondern an die bloße Gefahr anknüpft, intendiert ist die Vermeidung des bösen Scheins. Wenn das aber so ist, wenn man dem in eigener Sache entscheidenden Amtsträger den Einwand, er sei nicht befangen abschneidet, wie das sämtliche Befangenheitsvorschriften tun, muss man nach meiner Überzeugung jene durch den bloßen Verdacht ausgelöste Weite durch eine enge Kausalitätsbestimmung korrigieren, übrigens gerade so wie etwa die kommunalrechtlichen Mitwirkungsverbote auch ausgestaltet sind, sonst verliert sich der Begriff der Entscheidung in eigener Sache in der parlamentarischen Demokratie tatsächlich. Insofern habe ich mit der von Ihnen angeführten Parteienfinanzierung schon Schwierigkeiten und mit der Stiftungsfinanzierung auch, obwohl wir natürlich alle wissen, welche Personalunionen in den Stiftungen bestehen, trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die das Gegenteil gefordert hat. Und Ähnliches gilt für das Wahlrecht, auch insoweit gehe ich nicht von einer Entscheidung in eigener Sache aus. Sicher, das Wahlrecht beinhaltet die Regeln des Machterwerbs mit nicht unerheblichem Steuerungspotential, aber als Entscheidung in eigener Sache im hier vorgestellten Sinne sehe ich das Wahlrecht nicht, weil seine Regelungen eben nicht unmittelbar statusrelevant wirken. Obschon uns das nicht daran hindert, über Distanzschutzregelungen nachzudenken, unsere Phantasie walten zu lassen. Man könnte andere Modelle der Gesetzgebung im Bereich des Wahlrechts überlegen, etwa solche, wonach das Wahl-
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recht immer von der Opposition gemacht wird, aber das Wahlrecht stellt keine Entscheidung in eigener Sache im hier vorgestellten Sinne dar. Detlef Merten: Nach meiner Auffassung müsste man zunächst den Begriff der „Entscheidung in eigener Sache“ sorgfältig umschreiben, bevor man Schlüsse ziehen kann. So stellt die sogenannte Status-Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts zwar den Versuch einer Selbsterhöhung, aber keine Entscheidung in eigener Sache dar. Auch die Heranziehung der gesetzlichen Rentenversicherung als Vergleichsmaßstab für die Unangemessenheit der Altersversorgung der Abgeordneten ist problematisch. Denn die Sozialversicherung soll nur eine Grundsicherung darstellen, die der Versicherte – wie das Institut der Beitragsbemessungsgrenze ausweist – gegebenenfalls durch zusätzliche, auf eigener Initiative beruhende Sicherungen ergänzen muss. Aussagekräftiger wäre es daher gewesen, die Abgeordnetenversorgung mit der Beamtenversorgung zu vergleichen. Eine echte Entscheidung in eigener Sache, die ich auch für gleichheitswidrig halte, stellt die Gewährung einer steuerfreien Aufwandspauschale für Abgeordnete dar, wobei allerdings das Bundesverfassungsgericht anderer Auffassung ist. Heinrich Lang: Zunächst herzlichen Dank für Ihre Klarstellung. Als inkriminierte Entscheidung in eigener Sache sehe ich in der Tat nur die unmittelbar statusrelevanten Entscheidungen an, nicht etwa jede die Abgeordnete mehr oder minder mittelbar auch betreffende Entscheidungen. Man kann natürlich fragen, warum ich gerade die gesetzliche Rentenversicherung als Vergleichsmaßstab herangezogen habe. Indes, wie soll man die Angemessenheit eines Sicherungssystems – in meinem Fall also der Altersentschädigung der Abgeordneten – am verfassungsrechtlichen Maßstab der „Angemessenheit“ messen, wenn man sie nicht mit anderen Alterssicherungssystemen vergleichen darf. Und mir schien die gesetzliche Rentenversicherung angesichts ihrer für weite Teile der Bevölkerung existentiellen Bedeutung insoweit durchaus ein passabler Vergleich zu sein. Sie habe auch die Steuerfreiheit der Aufwandsentschädigung als Problem angesprochen. Auch dafür herzlichen Dank, mir fehlte nur die Zeit, im Vortrag darauf einzugehen, ich habe mich auch wegen der eminenten wirtschaftlichen Bedeutung hier nur der Altersentschädigung zugewandt. Ihre Kritik an der Steuerfreiheit der Aufwandsentschädigung teile ich. Sie ist unter Gleichheitsgesichtspunkten kaum zu halten. Wir könnten noch über einen bestimmten Sockelbetrag reden – 1.000,– Euro vielleicht, die nicht nachgewiesen werden müssen –, aber warum dann kein konkreter Nachweis erfolgen sollte wie für alle anderen Steuerzahler, das leuchtet wirklich nicht ein.
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Helmuth Schulze-Fielitz: Erlauben Sie mir noch einmal hinsichtlich der näheren Bestimmung von Entscheidungen in eigener Sache eine Nachfrage. Überall dort, wo solche staatlichen Entscheidungen im konkreten Einzelfall gemeinwohlwidrig wirken könnten, sieht die Rechtsordnung ausdrücklich geregelte, eindeutige Vorschriften vor, etwa bei den gemeinderechtlichen Mitwirkungsverboten, den prozessrechtlichen Befangenheitsvorschriften oder auch bei Inkompatibilitäts(folge)regelungen bei der Annahme einer politischen Wahl. Bedeutet das nicht umgekehrt, dass bei Fehlen solcher ausdrücklichen rechtlichen Regelungen das Verfassungsrecht auf andere, nichtrechtliche Formen der Selbstkontrolle vertraut, etwa der politischen (statt rechtlichen) Kontrolle durch die politische Öffentlichkeit? Entspricht es nicht dem eigentlichen Wesen einer demokratischen Herrschaft, das in politischen, vielschichtig interessenrelevanten Fragen die Bevölkerung durch politische Formen öffentlicher Kritik bis hin zur Androhung veränderten Wahlverhaltens kontrollieren sollte, weil sich Interessenkonflikte angesichts der Vielfalt politischer Entscheidungen eines Parlaments eben nicht durch rechtliche Verbote von Fall zu Fall steuern lassen? Nicht nur, dass man anderenfalls ständig irgendwelche Abgeordneten ausschließen müsste: Würde es nicht demokratische Herrschaft überhaupt delegitimieren oder zumindest zur Erosion demokratischer Legitimation gerade erst beitragen, wenn man die Parlamente für (partiell) ungeeignet hielte, gemeinwohlorientierte Entscheidungen zu treffen, auch wenn und obwohl mehr Abgeordnete als gewöhnlich (zum Beispiel in ihrer Rolle als Parteimitglieder oder als Abgeordnete) von der Entscheidung betroffen sind? Sind Herrn von Arnims Erfolge im öffentlichen Diskurs nicht ein Indiz für eine – zumindest partiell – funktionierende Öffentlichkeit? Heinrich Lang: Ich darf Ihren Einwand so zusammenfassen: Dass Distanzschutzregelungen im Geltungsbereich des Demokratieprinzips anders als in der zweiten und dritten Gewalt fehlten, spreche doch dafür, dass das Distanzgebot hier nicht gelten solle. Dem könnte man folgen, wenn Distanzschutzregelungen im Bereich der ersten Gewalt fehlten, das ist indes nicht der Fall. Grundgesetz und einfaches Recht, wie auch die mit plebiszitären Elementen ausgestatteten Landesverfassungen weisen eine Fülle von Distanzschutzvorschriften auf und zwar auch gerade solche, die im Bereich demokratischer Entscheidungsfindung wirken. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang beispielsweise an Art. 39 GG, eine Vorschrift, die dem Parlament die selbstbegünstigende Verlängerung der (laufenden) Legislaturperiode verwehrt, an die Inelegilibitäts- und Inkompatibilitätsregelungen in Art. 137 GG oder etwa an § 17 WahlprüfG, wonach derjenige Abgeordnete, dessen Mitgliedschaft im Parlament bestritten wird, nicht an der darauf bezogenen Abstimmung teilnehmen darf, auf Art. 84 der Bremischen
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Verfassung und die distanzschützenden Finanzvorbehalte der Landesverfassungen konnte ich im Rahmen meines Vortrags kurz eingehen. Auch der Einwand, Abgeordnete verlören ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie sich nicht mehr für fähig hielten, trotz Nähe zum Entscheidungsgegenstand gemeinwohlrelevante Entscheidungen zu treffen, überzeugt mich nicht. Denn ein derartiger Einwand kann aus meiner Sicht nicht erklären, warum jeder Verwaltungsbeamte, jeder Richter, der in eigener Sache entscheiden will, kraft unwiderleglicher Vermutung des Gesetzes von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen ist, ohne dass jemand auf die Idee käme, in dieser gesetzlichen Vermutung fehlender Unvoreingenommenheit eine gleichsam ehrenrührigen Umstand zu erblicken, eher im Gegenteil: die Entscheidung in eigener Sache ist seit jeher bemakelt. Thomas Drysch: Ich bin der Auffassung, dass man die Problematik „Entscheidung in eigener Sache“ nicht auf die Abgeordnetenentschädigung im engeren Sinne begrenzen sollte. Auch bei der Parteienfinanzierung entscheiden die Abgeordneten in eigener Sache. Zwar ist die Gesetzgebung nicht unmittelbar Sache der Parteien, sondern des Parlaments, der Gesetzesinhalt wird dennoch letztlich von den Parteien und ihren Fraktionen und Abgeordneten im Parlament bestimmt. Ferner möchte ich den Blick auf Bereiche lenken, die für mich auch zu den Entscheidungen in eigener Sache gehören, aber von der Öffentlichkeit kaum beachtet werden. Dazu gehören die Finanzierung der Parlamentsfraktionen und der parteinahen Stiftungen. Auch hier entscheiden die Abgeordneten in eigener Sache. Bei den Parlamentsfraktionen gilt das zur Abgeordnetenentschädigung Gesagte, bei den parteinahen Stiftungen ist das zur Parteienfinanzierung Gesagte sinngemäß. Die Abgeordneten haben auch ein Eigeninteresse an einer guten Finanzausstattung der ihnen nahestehenden Stiftungen. Da das Bundesverfassungsgericht bei der staatlichen Parteienfinanzierung strenge Kriterien aufgestellt hatte, hat der Geldfluss sich ein neues Bett gesucht: Die staatliche Finanzierung der Parlamentsfraktionen, der parteinahen Stiftungen und der Abgeordnetenmitarbeiter wurde massiv ausgeweitet. Die öffentlichen Mittel für die Bundestagsfraktionen betrugen 2009 knapp 76 Mio. Euro. Die Gesamtaufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern von Bundestagsabgeordneten lagen im Jahr 2009 mit über 147 Mio. Euro sogar höher als die Mittel für die staatliche Parteienfinanzierung in Höhe von 133 Mio. Euro. Weiterhin werden aus der steuerfreien Kostenpauschale häufig die Sonderbeiträge der Abgeordneten an ihre eigene Partei entrichtet, die sogenannten „Parteisteuern“. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht gefordert, dass die Abgeordnetenentschädigung nicht „einer Mitfinanzierung der Fraktion oder politischen Partei oder der Beteiligung an Wahlkosten“ dienen darf. Zudem sind
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die Mittel für die Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten nicht ausreichend gegen Zweckentfremdung gesichert, wozu vor allem der Einsatz für Zwecke der Partei und des Wahlkampfes zählt. Es muss aber an dem Grundsatz festgehalten werden, dass solche Formen der indirekten Parteienfinanzierung verfassungsrechtlich unzulässig sind. Sie unterlaufen nicht nur die Obergrenze der staatlichen Parteienfinanzierung, sondern beeinträchtigen auch die Chancengleichheit und Offenheit des politischen Wettbewerbs, weil amtierende Abgeordnete dadurch einen erheblichen Vorteil gegenüber potentiellen Herausforderern erhalten. Heinrich Lang: Ich darf Ihren Einwand dem von Herrn von Arnim zuschlagen: mein Ansatz sei zu eng, alle Säulen staatlicher Politikfinanzierung, von der Abgeordneten-, über die Fraktions- zur Parteien- und die Stiftungsfinanzierung stellten Entscheidungen in eigener Sache dar. Natürlich haben Abgeordnete auch ein Interesse an der Höhe etwa der Fraktions- oder Parteienfinanzierung, die dort bereitgestellten Mittel haben durchaus mittelbar Auswirkungen auf die Tätigkeit der Abgeordneten, aber eben nur mittelbar. Ich möchte mein Petitum insoweit wiederholen: nur ein eng geführtes Kausalitätserfordernis wird dem Charakter von Befangenheitsvorschriften als Vermutungsregelungen gerecht und vermeidet eine ausufernde Verwässerung des Begriffs der Entscheidung in eigener Sache. Weicht man das auf, gerät man – das hat meines Erachtens auch die Diskussion eindrucksvoll gezeigt – auf ein sehr weites Feld von mehr oder minder die Abgeordneten betreffenden Entscheidungen und verliert den verfassungsstaatlich bei unmittelbar statusrelevanten Entscheidungen zwingend gebotenen Distanzschutz aus den Augen. Joachim Wieland: Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie haben sich alle hinreichend stärken können. Vorhin wurden Fragen des Wahlrechts bereits gestreift. Wir wenden uns nun mit voller Aufmerksamkeit diesem zweiten Forschungsgegenstand von Herrn von Arnim zu: Die Zukunft des Wahlrechts zwischen Unverständnis, Interessenkalkül, obiter dicta und Verfassungsverstoß. Ich glaube, wir sehen auch an diesem Titel einen gewissen Einfluss der Themenstellung, wie sie Herr von Arnim normalerweise formuliert. Ich bin gespannt, was Sie uns vortragen werden, Herr Meyer.
Die Zukunft des Wahlrechts zwischen Unverständnis, Interessenkalkül, obiter dicta und Verfassungsverstoß Von Hans Meyer
I. Einleitung Das Wahlrecht ist eine Wettbewerbsordnung. Sie liegt in der Hand der Wettbewerber selbst. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ihre Ausgestaltung nicht gerade zu Lasten der stärkeren Wettbewerber ausfällt. Rudimentäre Anklänge an ein Kartellrecht finden sich in der Verfassung. Aber selbst wo sie greift oder greifen müsste, schließt die Gestaltung des Verfahrens eine unmittelbare Wirkung aus. Das gilt vollständig für den Rechtsschutz im Wahlvorbereitungsverfahren1 und überwiegend für das Wahlprüfungsverfahren. Aber auch das Oberkartellamt, das Bundesverfassungsgericht, tut sich schwer, effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Das Spiel mit der Zeit ist ein Mittel, womit Richter sich der politischen Macht, der sie ihr Amt verdanken, erkenntlich zeigen können. Wenn nun aber ein Urteil nicht zu vermeiden ist, zeigt sich oft ein so naives Vorverständnis, dass schon die Kenntnisnahme von der Entwicklung des Wahlrechts, geschweige denn von der der Wahlrechtswissenschaft nur störend wirken könnte. Und damit sind wir schon beim zweiten Kapitel, dem Unverständnis.
___________ 1 Obwohl wir in Art. 19 Abs. 4 GG ein Grundrecht haben, wonach jedem der Rechtsweg offen steht, wenn er durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, kann niemand erfolgreich gegen den Entzug seines Wahlrechts, also des politischen Hauptgrundrechts klagen. Ein einfaches Gesetz, nämlich § 49 BWahlG, schließt dies schlicht aus. Und wenn man wenigstens nach der Wahl ein Wahlprüfungsverfahren anstrengt, wird einem bedeutet, auf eine Stimme komme es bei der Wahl nicht an.
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II. Das Unverständnis im Wahlrecht Das Unverständnis beginnt schon mit der ebenso fundamentalen wie weit verbreiteten Behauptung, es gäbe auch heute noch zwei unverdächtige Grundwahlsysteme, die Mehrheitswahl und die Verhältniswahl. Alles andere seien Variationen des einen oder anderen Systems. Das ist ein Kinderglaube. Vor über hundert Jahren konnte er freilich mit Recht noch als Erwachsenenglauben durchgehen. Damals wurden mit dem Aufkommen der politischen Parteien2 erst die Voraussetzungen und damit die Möglichkeit für eine Verhältniswahl geschaffen. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts zur Konkurrenz für das allein bekannte und unter den rudimentär entwickelten demokratischen Verhältnissen auch nur denkbare Mehrheitswahlsystem. Das politische Schlagwort gegen die Mehrheitswahl war, sie sei „ungerecht“. Dieses Schlagwort konnte nur darum aufkommen, weil die Rekrutierung des Parlaments ausschließlich aus lokalen Einheiten ihren ursprünglichen Sinn verloren hatte. Sie setzte nämlich ein so starkes eigenständiges politisches Gewicht der einzelnen Wahlkreise voraus, dass die Wahl der Abgeordneten allein auf sie gestützt als sinnvolle Repräsentation empfunden werden konnte: das Parlament als Versammlung von Lokalrepräsentanten. Insofern war das Mehrheitswahlrecht lange Zeit ein eigenständiges Wahlsystem. Dolf Sternberger, ein kluger politischer Beobachter und zugleich Anhänger des Mehrheitswahlrechts3, formulierte 19694: Die Verhältniswahl „konnte nur entworfen und propagiert werden in einer historischen Epoche, in der die traditionellen Gebilde der ,Wahlkreise‘ (constituencies) in ihrer autonomen Eigentümlichkeit zu verblassen begannen und in der zugleich der EmanzipationsDruck eine immer weitere Ausbreitung des persönlichen Wahlrechts und einen Wandel des Zweckes oder Gegenstandes der Repräsentation selber bewirkte. Nicht mehr das Reich oder Land in seinen Gliederungen, sondern die Bevölkerung in ihren Interessen und Gesinnungen sollte nun repräsentiert werden oder sich selber repräsentieren.“ Das bezeichnet exakt den Wandel, der dem Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen seine ursprüngliche Legitimation entzog.
___________ 2 Die im Parlament immer schon formierten Fraktionen waren oft der Ausgangspunkt. 3 Besonders schön in einem schon 1947 erschienenen Aufsatz „Über die Wahl, das Wählen und das Wahlverfahren“ in „,Der Wähler‘ – Die Hauptperson in der Demokratie“, S. 7–25. 4 Band I/1 (1969), S. XI.
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Auch das geltende Bundestagswahlrecht hat die Wahlkreise von Anfang an nicht als politische Einheiten angesehen und konnte es auch nicht. So müssen kreisfreie Städte, durchaus politische Einheiten, meist zum Zwecke der Wahl in mehrere Wahlkreise aufgeteilt werden. Diese Wahlkreise sind keine politischen Einheiten. Ihre Größe und damit ihr Zuschnitt ist wie der aller anderen Wahlkreise von den Gleichheitsanforderungen des § 3 BWahlG bestimmt und nicht von Zugehörigkeitsgefühlen der Beteiligten. Alle Wahlkreise unterliegen bei einem bestimmten Maß an Abweichung der Bevölkerungszahl auch territorialen Änderungen, und zwar ohne Rücksicht auf eine bestehende politische Einheit.5 Die Verhältniswahl verkörpert wie die Mehrheitswahl sowohl eine politische Idee als auch eine Rechtsidee. Die Verhältniswahl verspricht den Bürgern nicht nur gleiches Stimmrecht, sondern auch gleiches Stimmgewicht bei der Zusammensetzung des Parlaments,6 „Erfolgswertgleichheit“ genannt. Insofern erfüllt sie die urdemokratische Forderung der absoluten Gleichheit der Bürger in politischen Rechten. Der Wähler wird zum konstitutiven Element der Repräsentation. Die Mehrheitswahl garantiert, dass in abgeschlossenen Wahlkreisen jeweils der Kandidat mit den meisten Stimmen gewählt wird.7 Sie hatte früher die Idee der Repräsentation politischer Einheiten, der Wahlkreise, und hat heute im Idealfall das Ziel, die Parlamentsmehrheit einer Partei zu garantieren.8 Die Stimmen für unterlegene Kandidaten haben für die entscheidende Funktion einer Wahl, die Kreation des Parlaments, kein Gewicht, sie sind für die Zusammensetzung des Parlaments ohne Bedeutung. Wenn es heute noch einen Sinn machte, im Parlament nur lokale Einheiten repräsentiert zu sehen, wäre das klassische Mehrheitswahlrecht auch heute noch ohne Zweifel ein legitimes Wahlsystem. Mit dem Aufkommen der politischen Parteien als einem bestimmenden Machtfaktor verlor der Wahlkreis aber als die politische Einheit für die Parlamentswahl notwendig seine dominierende Bedeutung.9 Die Idee der Mehrheits___________ 5
Lediglich die Landesgrenzen dürfen bei der Wahlkreiseinteilung nicht überschritten werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG). 6 Wenn man damit die gleiche Berücksichtigung bei der Zusammensetzung des Parlaments bezeichnet. Während der Zählwert jeder Stimme, der selbstverständlich in allen Systemen gleich sein muss, lediglich bedeutet, dass die Stimme als Stimme gewertet wird, ohne dass damit schon etwas über den Einfluss auf die Parlamentsbesetzung ausgesagt ist. 7 Wobei es freilich einen erheblichen Unterschied macht, ob relative Mehrheit reicht oder absolute Mehrheit vorausgesetzt wird, welche den Minderheiten über Absprachen Chancen auf Einfluss garantiert. 8 Indem sie die Chancen zum Gewinn eines Mandates im Idealfall möglichst im ganzen Wahlgebiet auf zwei Parteien reduziert. 9 Siehe dazu das zu Anm. 4 wiedergegebene treffende Zitat von Dolf Sternberger.
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wahl musste sich verändern. Im stark traditionell ausgerichteten Mutterland der Demokratie entdeckte man bald, dass die Mehrheitswahl vor der aufkommenden Verhältniswahl einen unschätzbaren Vorteil hatte. Sie sicherte weitestgehend das Oligopol der beiden stärksten politischen Kräfte vor dem Zutritt neuer Wettbewerber. Die Wahrung der Tradition hatte also einen erfreulichen Kollateralnutzen. Daher behielt man das System bei. Die dominante Idee der Mehrheitswahl wechselte von der Vertretung abgeschlossener Wahlkreise mit anerkanntem politischem Eigengewicht zum Wahlrecht der stabilen Regierungsmehrheit einer Partei im Parlament.10 Das war die neue Idee. Dass man dazu die Regeln nicht zu ändern brauchte, war eine angenehme Beigabe, die eine Debatte und damit eine Rechtfertigung erübrigte.11 Dolf Sternberger formuliert ungemein treffend, mit dem Aufkommen des Proportionalwahlsystems habe das Mehrheitswahlsystem „gleichsam“ seine „Unschuld eingebüßt.“12 Das ist nicht nur ein anderes Wort für den Wechsel der Repräsentationsvorstellung; es verweist vielmehr zugleich auf den damit verbundenen Rechtfertigungszwang. In der Bundesrepublik wurde die Veränderung der politischen Idee der Mehrheitswahl erst später semantisch nachvollzogen. Gerade ihre Anhänger sprechen seit den fünfziger Jahren ziemlich exakt vom „mehrheitsbildenden“ Wahlrecht. Nicht die Wahl, sondern das Wahlrecht soll also die Mehrheit schaffen.13 Tatsächlich kann heute die Idee des Mehrheitswahlrechts nur noch darin gesehen werden, möglichst die Parlamentsmehrheit einer Partei zu schaffen, und zwar gerade unabhängig davon, ob das Votum der Wähler eine solche Mehrheit deckt. Es leuchtet ein, dass ein solches Wahlsystem, wenn es denn im gewünschten Sinn funktioniert, gerade für solche Länder attraktiv erscheint, in denen die Großparteien einem Erosionsprozess ausgesetzt sind. ___________ 10
So war die jedenfalls in England meist erfüllte Hoffnung. Nach Dieter Nohlen (Erfolgswertgleichheit als fixe Idee oder: „Zurück zu Weimar“. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Bundeswahlgesetz vom 3. Juli 2009, ZParl 2009, 179, 195), sprach sich freilich „in Großbritannien … die bislang letzte Wahlreformkommission 1998 für ein dem deutschen Wahlsystem nachempfundenes kombiniertes Wahlsystem aus.“ Und der unsichere Ausgang der Wahl 2010 löst dort schon im Vorfeld Debatten über Wahlrechtskorrekturen aus. 12 Die Wahl der Parlamente, hrsg. von Dolf Sternberger und Bernhard Vogel, Band I/1 (1969), S. XI. 13 Die Hoffnung der Anhänger eines Mehrheitswahlrechts geht dahin, dass das Wahlrecht die Wähler aus Gründen der Vernunft dazu bringt, ihre Stimme nur aussichtsreichen Kandidaten, also Kandidaten etablierter Großparteien zu geben. Noch nicht einmal in unserem System, wo es wegen der Zweitstimmen keinen Kollateralschaden für die eigene Partei mit sich brächte, funktioniert das nicht. Wie erklärt man sich die auf das Bundesgebiet bezogen beträchtlichen Stimmenzahlen, welche aussichtslose Kandidaten der kleineren Parteien erhalten? 11
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Spätestens mit der von Ferdinand A. Hermes14 und seiner Schule in den fünfziger Jahren der jungen Bundesrepublik angestoßenen Wahlsystemdebatte hätte auch dem Bundesverfassungsgericht klar sein müssen, dass die Mehrheitswahl keine bloße Alternative zweier unhinterfragbar verfassungsmäßiger Wahlsysteme ist. Seit ihrer Verwandlung von einem Wahlsystem lokaler politischer Einheiten zu einem mehrheitsbildenden Wahlrecht hat es sich wie alle anderen mehrheitsbildenden Wahlrechte der Kontrolle auf ihre Zulässigkeit zu stellen. Naivität ist kein geeigneter Nährboden für eine überzeugende Auslegung der Verfassung. Damit sind wir aber schon beim dritten Kapitel „Das Wahlrecht und die obiter dicta“.
III. Obiter dicta aus Karlsruhe Obiter dicta beruhen beim Bundesverfassungsgericht nicht nur auf gewöhnlichem Mitteilungsdrang, sondern können auch Waffen vor allem des Berichterstatters oder durchsetzungsfähiger Kollegen sein.15 Und wenn sich eine Kette solcher obiter dicta finden oder herstellen lässt, entsteht bei hinlänglicher Hartnäckigkeit der Eindruck einer gefestigten „Rechtsprechung“. Das Unverbindliche gewinnt so den Schein des Verbindlichen. Das Wahlrecht ist ein gutes Feld nachzuzeichnen, wie so etwas funktioniert. Schon sehr früh16 hatte sich das Bundesverfassungsgericht den Kopf zerbrochen, ob man mit der für zulässig gehaltenen gröberen ungleichmäßigen Behandlung der Stimmen in der Mehrheitswahl17 eine weniger starke Ungleichbehandlung in der Verhältniswahl rechtfertigen könne. In diesem Argument hat das Gericht offensichtlich ein Dilemma gesehen. Es löst es mit der Behauptung ___________ 14 Er führte eine Schule an, welche die Schuld am Niedergang der Weimarer Republik vor allem der Verhältniswahl anlastete und daher vehement die Einführung der Mehrheitswahl verfocht. 1949 erschien seine Schrift „Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht?“, die er auf die Alternative „Bejahungsdemokratie oder Verneinungsdemokratie“ brachte. Er hat in der Politologie weiterhin seine Anhänger. Dass von der Mehrheitswahl in der verfassungspolitischen Debatte nicht mehr die Rede sei, bedauert heute noch Dieter Nohlen, a. a. O (siehe Anm. 11), ZParl 2009, 194, der aber zu Recht darauf hinweist, dass sich „die personalisierte Verhältniswahl bewährt hat und international zu einem Modellwahlsystem aufgestiegen ist“. 15 Ein frisch ausgeschiedener Richter sagte mir zu meinen Vorwurf von der Geschwätzigkeit des Gerichts, die sich in den sehr häufigen obiter dicta zeige, sie hätten den Vorteil, dass man sich vor allem bei Kammerentscheidungen auf sie berufen könne. Bindungswirkung durch Übertölpelung? 16 BVerfGE 1, 208, 246 ff. 17 Nämlich der Mangel der Erfolgswertgleichheit der Stimme bei der Mehrheitswahl.
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auf, es gebe zwei verfassungsrechtliche Gleichheitsanforderungen, eine für die Verhältniswahl, die andere für die Mehrheitswahl. In jedem Bereich sei nur „Folgerichtigkeit“ verlangt. Warum nun aber der einfache Gesetzgeber, der nach dieser Entscheidung ohne Rücksicht auf das Verfassungsgebot der Wahlgleichheit offenbar frei ist, das eine oder andere Wahlsystem zu wählen, nicht frei sein soll, dies nach seinen Vorstellungen mehr zur einen oder zur anderen Seite hin zu gestalten, bleibt dunkel. Warum sollte er sich also nicht zugunsten einer höheren als der 5 %igen Sperrklausel bei der Verhältniswahl entscheiden können,18 anstatt die noch rabiatere Einschränkung der Wahlgleichheit bei der Mehrheitswahl zu wählen? Der Grund dieser Inkonsequenz des Gerichts ist leicht zu finden. Zwei Seiten weiter heißt es nämlich ebenso distanziert auf eine allgemeine Meinung rekurrierend wie entwaffnend: „Es gibt Wahlverfahren, wie die Mehrheitswahl, die als unbedingt demokratisch angesehen werden, bei denen die politischen Anschauungen großer Teile des Volkes im Parlament unvertreten bleiben oder nicht ihrer Stärke gemäß vertreten werden.“19 Der Spruch freilich, es sei nicht undemokratisch, wenn „große Teile des Volkes“ nicht im Parlament vertreten sind, würde heute wohl Niemandem mehr, auch nicht dem Verfassungsgericht, von den Lippen gehen.20 Die Argumentation ist ganz dem damals ebenso vorherrschenden wie unreflektierten Kenntnisstand verbunden, als man tatsächlich von den beiden nachgerade gottgegebenen Wahlsystemen ausgegangen ist. Von tieferer Erkenntnis über die Problematik dieser Annahme ist die erste Wahlrechtsentscheidung nicht berührt. Die merkwürdig distanziert formulierte verfassungsrechtliche Generalabsolution der Mehrheitswahl ist in der Sache ein obiter dictum, weil die Erkenntnis des Gerichts, ein Wahlsystem habe seine jeweils eigene Gerechtigkeits- und damit Gleichheitsvorstellung auch ohne Rekurs auf das Mehrheitswahlrecht gilt (oder eben auch nicht). Auch spätere Urteile gehen über die bloße Behauptung, der Gesetzgeber habe die Freiheit, „die reine Mehrheitswahl einzuführen“, nicht hinaus und sagen nur, dass daraus keine Folgerungen für die Einschränkungsmöglichkeiten der Wahlgleichheit bei der Verhältniswahl gezogen werden können.21 Für die Ent___________ 18
Weil dann wenigstens noch zwischen den erfolgreichen Parteien Gleichheit bei der Verteilung der Mandate herrscht. 19 BVerfGE 1, 208, 248. 20 Im Lissabon-Urteil vermisst das Bundesverfassungsgericht eine „eigenständige Volkssouveränität der Gesamtheit der Unionsbürger“, weil „im Europäischen Parlament keine Gewähr dafür (besteht), dass die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auch eine Mehrheit der Unionsbürger repräsentiert“ (BVerfGE 123, 267, 372). 21 Siehe zum Beispiel BVerfGE 6, 84, 90. Dasselbe gilt für E 6, 104, 111: die dort für zulässig gehaltene 5 %-Sperre im Kommunalbereich wird an den Einschränkungs-
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scheidung in der Sache waren diese Ausführungen also nicht notwendig. Auch wenn das Gericht zu dem Ergebnis käme, dass heute die Einführung einer Mehrheitswahl nicht zulässig wäre, würde das an seiner Rechtsprechung zur Wahlgleichheit in der Verhältniswahl nichts ändern. Der Charakter eines obiter dictums ist also nie aufgehoben worden. Es brauchte nicht weniger als 45 Jahre seit dem ersten Urteil zur Sache, bis wenigstens der Anschein entstehen konnte, dass die vier Richter des Zweiten Senats unter Führung von Paul Kirchhof im Jahre 1997 die alte Sentenz nunmehr zur Rechtfertigung von Überhangmandaten22 nutzen und ihr damit zum ersten Mal eine streitentscheidende Funktion zubilligen wollten.23 Das ist aber nicht der Fall, weil sie sonst nicht auf die Idee hätten kommen können, die Zahl der zulässigen Überhangmandate von Verfassungs wegen zu begrenzen und weitere Restriktionen zu formulieren. Das Urteil ist freilich auch handwerklich eines der schlechtesten des Gerichts zum Wahlrecht, wie ich im fünften Kapitel zu begründen versuchen werde. Kein Jahr später haben die vier damals obsiegenden Richter im Übrigen ihre Position ebenso still wie vollständig geräumt. Der ganze Senat sah nun die direkt gewählten Abgeordneten bei einem Überhang unter dem Gesichtspunkt der Wahlgleichheit von einem solchen Makel behaftet, dass ihnen beim Freiwerden des Mandats niemand aus der Liste der Partei nachfolgen kann, obwohl das Gesetz das anordnete.24
___________ möglichkeiten bei der Verhältniswahl gemessen, und nicht aus der Mehrheitswahl gerechtfertigt. 22 Das Bundeswahlgesetz kennt den Terminus nicht. Er bezeichnet hier generell den Überhang eines oder mehrerer Mandate einer Partei über die Anzahl der Mandate, welche der Partei nach ihrem bundesweiten oder landesweiten Zweitstimmenaufkommen zusteht. 23 BVerfGE 95, 335. Alle vier Richter waren auf dem Unionsticket ins Gericht gekommen und es ging um die Mehrheit der Regierung Kohl, die von den Überhangmandaten zwar nicht geschaffen, aber besser abgesichert wurde. Der Vizepräsident Winfried Hassemer, der damals den unterlegenen vier Richtern angehörte und der sich während seiner Amtszeit zunehmend dem konservativen Flügel der Richter angeschlossen hat, erklärte elf Jahre später bei der Eröffnung der Verhandlung zu dem Wahlprüfungsprozess, der das frühere Urteil einstimmig revidierte, man habe damals klar nach der politischen Herkunft votiert. 24 BVerfGE 97, 31, 321 ff. Dieses lautlose Aufgeben von Positionen stärkt den oben geäußerten Verdacht, dass bei der vorangegangenen Vier-zu-vier-Entscheidung politische Affinitäten doch etwas zu dominant waren. Die Sache selbst interessierte post festum nicht mehr sonderlich.
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Der Höhepunkt in der Produktion von obiter dicta ist das bisher letzte grundsätzlichere Wahlrechtsurteil. Es korrigierte jene Vier-zu-vier-Entscheidung in einem wichtigen Punkt einstimmig:25 Ein Wahlsystem kann vor der Verfassung nicht bestehen, in dem eine Stimme für eine Partei gegen diese Partei wirkt. Das ist so evident, wie es evident ist, dass eine Reihe von zulässigen Wahlsystemen denkbar ist, die ohne diesen widersinnigen Effekt auskommen. Das Gericht hätte also zum Beispiel nicht das Grabenwahlsystem erwähnen müssen, nach dem die Hälfte der Abgeordneten über Wahlkreise und, anders als heute, nur die andere Hälfte über Listen gewählt werden.26 Nur weil auch früher das Gericht schon mehrmals von einem Grabenwahlsystem gesprochen hat, gelangt der Ausspruch nicht zu einer bindenden Wirkung; es bleibt ein überflüssiges obiter dictum. Es ist alles nur so dahergesprochen. Vielleicht stünde dem Gericht mit Blick auf die obiter dicta nicht nur beim Wahlrecht eine Schlankheitskur gut zu Gesichte.
IV. Das Interessenkalkül bei der Gestaltung wie bei der wissenschaftlichen Bewertung des Wahlrechts Da die Gestaltung des Wahlrechts im Einzelnen erheblichen Einfluss auf die Chancen der Wahlvorschlagsberechtigten und ihrer Bewerber hat, also auf die Chancen der politischen Parteien und ihrer Kandidaten,27 ist es ihr natürliches ___________ 25
Nämlich in dem wichtigen Punkt, dass im geltenden Wahlrecht wegen der möglichen Überhangmandate eine Stimme für eine Partei sich gegen sie auswirken oder eine der Partei verweigerte Stimme zu Gunsten der Partei wirken kann, was unter dem Stichwort „negatives oder inverses Stimmgewicht“ verhandelt wurde: BVerfGE 121, 266, 289 ff. 26 BVerfGE 121, 266, 307. Nochmals wiederholt in BVerfGE 123, 304, 311. Es sollte schon einen Unterschied machen, ob ein Verfassungsrichter als Privatmann für das Grabenwahlsystem votiert, wie der Kollege Di Fabio im Rheinischen Merkur (1. Januar 2009), wogegen nichts zu erinnern ist, oder ob man diese Privatmeinung in einem Urteil unterbringt, bei dem es darauf gar nicht ankommt. 27 Auch bei den Wahlkreisbewerbern dominiert ganz überwiegend, und bei den aussichtsreichen vollständig der Parteibewerber. Das bedarf, obwohl offensichtlich, der Betonung, weil die Vierer,mehrheit‘ in der Entscheidung BVerfGE 95, 335, 353/354 die schlichte Behauptung aufstellt, „die Wahl des Abgeordneten (sc. bei der Wahlkreiswahl) als Person – und nicht als Exponent einer Partei – stärkt den repräsentativen Status des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes“. Dabei hat sie übersehen, dass das Recht auf dem Wahlzettel (§ 45 Abs. 1 Nr. 1 BWO) die Partei aufzuführen befiehlt, für die der Kandidat steht, dass die wenigsten Wähler den Abgeordneten persönlich kennen und dass gerade die Wahlkreisabgeordneten eher als die Listenabgeordneten in besonderer
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Bestreben, das Wahlrecht für sie möglichst günstig zu gestalten. Das Interesse ist legitim. Da es aber nur im Rahmen der Verfassung zu verwirklichen ist, entsteht ein außerordentlicher Druck, die Verfassung im eigenen Interesse möglichst großzügig auszulegen. Der Druck setzt sich im Rechtsstreit in der gemilderten Form der selbstverständlich nicht ausdrücklich geäußerten Erwartung der Parteien an die von ihnen vorgeschlagenen und durchgesetzten Richter des Bundesverfassungsgerichts fort, wenn schon ihnen nicht Recht zu geben, dann wenigstens einen Korrekturaufschub zu gewähren. Freilich sind die Interessen der einzelnen Parteien keineswegs identisch, sondern oft gegenläufig. Die Koalitionsparteien werden versuchen, den erfreulichen Kollateralnutzen, den ihnen das geltende Wahlrecht gewährt hat, zu behalten. Er besteht immerhin in 24 Überhangmandaten28, was einen Gegenwert von ungefähr 1,6 Millionen Stimmen ausmacht.29 Besonders markant ist das in Baden-Württemberg, einem schon klassischen Überhangland.30 Das Splitten der beiden Stimmen lässt sich aber durchaus mit Hoffnung auf weitaus höhere Erträge noch steigern. CDU und FDP haben also ein hohes Interesse, das Zweistimmensystem beizubehalten. Zuletzt ist es in den Ländern auf Drängen des Koalitionspartners FDP 1989 unter einer sozialliberalen Regierung in Rheinland-Pfalz, Anfang der 90er Jahre unter einer CDU/FDP-Regierung in Hessen, 1997 auf Drängen der Grünen in Schleswig-Holstein und erst zur Wahl 2010 ebenfalls auf Drängen der FDP unter einer CDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen eingeführt worden. Im Bund existiert es erst seit 1953, ebenfalls auf Drängen der schon ___________ Weise den Wahlkreis „repräsentieren“ und nicht gerade das „ganze Volk“. Ich will es der Kürze halber bei dieser Kritik belassen und verweise Interessenten auf meinen Beitrag in dem von Isensee und Kirchhof herausgegebenen Handbuch des Staatsrechts (Band III 2005, § 46 Rn. 48 u. 49), wo die souveräne Ignorierung des Rechts wie der Wirklichkeit im Einzelnen aufgeführt ist. 28 Der geläufige Begriff wird hier und im Folgenden benutzt, obwohl das Bundeswahlgesetz ihn nicht kennt. 29 Das ist der Gegenwert gemessen an dem durchschnittlichen Repräsentationswert eines Mandats bei der Wahl 2009. Ein Mandat hat bei 40.764.288 anrechnungsfähigen Zweitstimmen der Parteien, die über 5 % der Stimmen erreicht haben, bei 622 Mandaten einen solchen Wert von 65.537 Stimmen; bei 24 Mandaten sind das 1.572.898 Stimmen. Lässt man die Überhangmandate außer Acht, dann steigt der Wert von 24 Mandaten auf 1.636.024 Stimmen. Für die absolute Mehrheit braucht man jeweils die Hälfte + 1 pro Mandat. 30 Der Begriff bezeichnet Länder, in denen Überhänge produziert werden. In BadenWürttemberg hatte die CDU bei 1,87 Millionen Zweitstimmen fast eine halbe Million mehr an Erststimmen, während es bei der FDP umgekehrt war. Die FDP erreichte 18,8 % an Zweitstimmen, aber nur 11,9 % an Erstimmen, während die CDU 34,4 % an Zweitstimmen, aber 42,5 % an Erststimmen erzielte.
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damals mitregierenden FDP.31 Da es ein unmittelbares Verdikt des Bundesverfassungsgerichts zu den Überhangmandaten nicht gibt,32 wird das Pochen auf Beibehaltung des Zweistimmensystems die Verhandlungen von Seiten der Koalition bestimmen Die CSU als dritte der Koalitionsparteien hat nicht ganz identische Interessen, da sie als reine Landespartei einen Sonderfall in unserem ganz auf bundesweiten Ausgleich abgestelltes System darstellt. Nach dem geltenden Zweistimmenwahlrecht darf sie eigenartiger Weise in Zukunft umso mehr Überhangmandate erhoffen, umso mehr sie an Wählerzustimmung verliert, solange nur die relative Mehrheit in den Wahlkreisen nicht verfehlt wird. Und diese liegt in Bayern dank der Schwäche der Konkurrenten in den meisten Wahlkreisen immer noch sehr niedrig.33 Die CSU wird jedenfalls versuchen, bei der anstehenden Reform die Vorteile des Sonderstatus einer reinen Landespartei möglichst aufrechtzuerhalten. Die SPD wird als die größte Oppositionspartei versuchen, den Vorteil der Union und indirekt auch der FDP nach dem jetzigen Wahlsystem in Zukunft auszuschließen. Union und SPD waren bis 2009 die alleinigen Nutznießer der Überhangmandate.34 Deren Eliminierung trifft also beide große Parteien, und zwar nur sie.35 Für beide sind es zwar nur Hoffnungswerte, aber zumindest für die Union sehr stabile, wenn auch das Wählerverhalten angesichts der sich lösenden Parteibindung, der uneinheitlichen Wahlbeteiligung und der Splittingpraxis nicht allzu sicher zu prognostizieren ist. ___________ 31 Siehe zur Wahlgesetzreform 1953 Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung 1973, S. 46–50. 32 Schon die sehr frühe Akzeptanz in BVerfGE 7, 63, 74, die nur von externen Überhängen handelt (siehe Kapitel V), erlaubt sie im Übrigen nur „in sehr engen Grenzen“, bezieht sich dabei auf die „Erfahrungen mit dem Wahlgesetz“ 1953, das 1953 und 1957 nur je drei Überhangmandate produzierte, und sieht, dass das Institut der Überhangmandate „Manipulationsmöglichkeiten“ eröffnet, „deren Verfassungsmäßigkeit … aber im Falle eines Missbrauchs angezweifelt werden (müsste).“ 33 In den allermeisten Wahlkreisen liegt der Abstand zum Zweitnächsten über 25 % und 20.000 Stimmen. 34 Erstmals 2009 traten solche in Bayern für die CSU auf. Solange die CSU in Bayern an die 50 % oder mehr der Zweitstimmen erzielte, waren Überhangmandate ausgeschlossen. Ein schönes Beispiel dafür, dass Überhangmandate auch ein Privileg schlechter Zweitstimmenergebnisse sein können. – 1953 gab es außerdem ein Überhangmandat für die DP, das aber kein echtes war, weil es aufgrund von Wahlabsprachen (siehe Karl-Heinz Seifert, BWG 1957, § 6, S. 70/71) nicht ohne Mithilfe von CDUWählern möglich gewesen wäre. 35 Wenn man die Union als Parteienblock sieht.
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Die kleineren Parteien, jenseits der CSU, müssten eigentlich geschlossen ein Interesse daran haben, dass die Überhangmandate ausnahmslos entfallen, weil sie ein Privileg der großen Parteien sind und zu ihren Lasten gehen.36. Wenn die FDP ihre Zukunft prinzipiell an der Seite der Union sieht, wird sie in der Hoffnung, dass die Überhangmandate auch in Zukunft stärker die CDU als die SPD begünstigen, gegen solche Mandate nichts einzuwenden haben. Aber nicht nur die Politik hat in das Wahlrecht und seine Gestaltung Interesse investiert, sondern auch die Wissenschaft. Hier interessieren aber nicht die Wahlrechtler, eine außerordentlich kleine Gruppe, wenn man die wegstreicht, die sich nur dazu zählen.37 Wichtiger sind die Politikwissenschaftler, für deren Abteilung Wahlsystematik die deutsche Wahlrechtssystematik hinterwäldlerisch, jedenfalls international nicht anschlussfähig ist und für die reichhaltigen Möglichkeiten wahlsystematischer Gestaltung nur Verbotszäune aufrichtet.38 Hierzu zählen aber auch stärker auf das politische System ausgerichtete Rechtswissenschaftler und damit sind wir beim Jubilar. Er ist ein glühender Anhänger des Mehrheitswahlrechts und ich kann ihm darin, er wird es wissen, nicht folgen. Er hat Mitstreiter wie Hans Hugo Klein, die ihm in seinen Hauptaktivitäten schwerlich beispringen würden.
___________ 36 Auch hier wieder mit der Ausnahme des Sonderfalls einer reinen Landespartei wie die CSU. 37 Ein Beispiel gab eine Tagung der Vereinigung für Parlamentsfragen über die anstehende Wahlrechtsreform. Bei ihr waren drei Experten aufgerufen, dem zahlreich erschienenen sachkundigen Publikum wichtige Erkenntnisse vorzutragen. Bei dem Politologen Behnke und dem Juristen Morlok gelang das auch in der nötigen Kürze und Klarheit. Dem Juristen Isensee gelang weder die Kürze noch war der Wille da, sich auf die Probleme ernsthaft einzulassen. Für mathematische Fragen zeigte er statt Kenntnis Spott und hielt aus Gründen der Transparenz ein Grundschulniveau nicht nur für ausreichend, sondern nachgerade für angemessen. Dass das Bundesverfassungsgericht in dem Verfahren zum negativen Stimmgewicht den Mathematiker Friedrich Pukelsheim angehört hat, spricht für diesen und das Gericht und nicht für Isensee, der das rügt. 38 Siehe die beredte Klage eines wirklichen und verdienstvollen Kenners wie Dieter Nohlen (siehe Anm. 11), ZParl 2009, 182/183, der den Juristen, hier den Verfassungsrichtern, vorwirft: „Vor dem Hintergrund der international vergleichenden Wahlsystemforschung verengt und verzerrt die bundesrepublikanische Rechtsprechung zum Wahlsystem den Bewertungshorizont von Wahlsystemen“, weil es erstens „an empirischem Bezug fehlt“, zweitens keine „international komparativen Erfahrungen herangezogen werden, die Grundlage der konzeptionellen und politikberaterischen Weiterentwicklung der Wahlsystemlehre sind“ und weil es drittens mangele „an umfassenden Bewertungsmaßstäben für Wahlsysteme, was in deren eindimensionaler Zuspitzung und disparater Anwendung je nachdem, ob es sich um Verhältniswahl oder Mehrheitswahl handelt, deutlich“ werde.
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Aber der Reihe nach. Obwohl auch beste Sachkenner unter den Politikwissenschaftlern einräumen, dass ein unter den Regeln der Verhältniswahl39 gewähltes Parlament sich schwerlich dazu verstehen wird, auf ein Mehrheitswahlsystem umzuschalten,40 wird mit einer jegliche Vergeblichkeit ignorierenden Inbrunst das Thema Mehrheitswahl traktiert.41 Zu diesem Zweck wird eine Fülle von Anforderungen an ein Wahlsystem gestellt, für die offenbar vor allem der gesunde, politikwissenschaftlich versierte Menschenverstand streiten soll. Offenbar aus Unmut darüber, dass die Staatsrechtler anders als die Politikwissenschaftler mit der Verfassung ein Instrument „zwingender“ Argumentation haben,42 sind gleich drei Strategien entwickelt worden. Dieter Nohlen ist jüngst der schlitzohrige Einfall zu verdanken, zwischen Wahlsystem und Wahlrecht zu unterscheiden und das Wahlsystem und damit dessen systembildende wahlrechtliche Ausgestaltung vom Zugriff der Verfassung zu befreien und ihr nur das „Wahlrecht“ zu unterstellen.43 Da Wahlsysteme ausschließlich durch Wahl___________ 39 Von den Gegnern wird zur Bezeichnung oft der abwertend klingende Begriff „Proporzsystem“ benutzt. 40 Siehe Dieter Nohlen (siehe Anm. 11, S. 192), der auf seine frühere Erkenntnis verweist, dass nach internationalen Erfahrungen grundlegende Reformen „rar“ sind. Schon bei den Abschlussberatungen des Parlamentarischen Rates, als Carlo Schmid der CDU anbot: „Wenn wir ein Stück weiter sein werden, Herr von Brentano, können wir wieder miteinander reden“, rief von Brentano ihm zu: „Dann ist es zu spät“, womit er Recht hatte (siehe Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung 1973, S. 40). 41 Die verdienstvolle, freilich ganz überwiegend politikwissenschaftlich ausgerichtete Zeitschrift für Parlamentsfragen befasste sich öfter mit dem Thema: Außer Dieter Nohlen (siehe Anm. 11), Eric Linhart, Mögliche Auswirkungen von Grabenwahlsystemen in der BRD. Theoretische Überlegungen und Simulationen, ZParl 2009, 637 oder Gerd Strohmeier, Ein Plädoyer für die „gemäßigte Mehrheitswahl“; optimale Lösung für Deutschland, Vorbild für Österreich und andere Demokratien, ZParl 2007, 578. 42 Das macht erst sein Bedauern verständlich, dass der Verf. in dem Verfahren zum negativen Stimmgewicht „nicht als Sachverständiger, sondern als Bevollmächtigter, also als Anwalt der Beschwerdeführer“ vor dem Bundesverfassungsgericht aufgetreten ist (a. a. O, siehe Anm. 11, dort Anm. 38). Abgesehen davon, dass sich das Gericht in Rechtsfragen fast unbeschränkt für sachkundig hält, ist es für einen Staatsrechtler eine Ehre, freilich manchmal auch eine Pein, vor dem Bundesverfassungsgericht aufzutreten. Der Verf. hat die Beschwerdeführer erst in der mündlichen Verhandlung vertreten und an der Beschwerdeschrift nicht mitgewirkt. Vielmehr hat das Gericht die Beschwerdeführer auf die Vertretungspflicht in der mündlichen Verhandlung und vornehmlich auf den Verf. hingewiesen, nachdem es sich inoffiziell erkundigt hatte, ob er das Mandat annehme. Vielleicht beruhigt Dieter Nohlen, wenn ich ihm versichere, dass der Verf. wie er die Entscheidung nicht auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl gestützt hätte, noch nicht einmal auf den Gleichheitsanspruch, sondern vielmehr auf die Lotteriehaftigkeit, die mit dem Charakter der in Art. 38 GG versprochenen Wahl nicht vereinbar ist. 43 A. a. O (siehe Anm. 11), S. 181 f., mit ausdrücklichem Vorwurf an das Bundesverfassungsgericht.
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rechtsregeln konstituiert werden und es im Ermessen des Systembegründers liegt, welche Einzelregeln er als konstitutiv für sein „System“ hält, ließe sich jede Gestaltung als System bezeichnen und damit fast beliebig viele Einzelregeln der Geltung der Verfassung entziehen.44 Außerdem gibt es für keine staatliche Regelung eine Exemtion von der Verfassung. Der Zaubertrick wird also nicht funktionieren. Die zweite Strategie zeigt auf die Vielfalt der Wahlsysteme der Welt und schließt unter dem Stichwort der vergleichenden Wahlsystemforschung aus der Fülle der Regelungen, welche in anderen Staaten mit der Wahlgleichheit für vereinbar gehalten werden, auf die Zulässigkeit auch unter dem Grundgesetz.45 Wenn man weiß, wie sehr das Wahlrecht das Interesse der Mächtigen widerspiegelt und wie wenig in einigen Staaten die Verfassung gilt, wenn sie überhaupt eine haben, wird man in dieser Hinsicht vorsichtig sein.46 Niemand hatte der Schweiz den Charakter eine Demokratie abgesprochen, solange dort das Frauenwahlrecht nicht durchgesetzt war. Gleichwohl konnte man diesen Zustand als einen Verstoß gegen die Allgemeinheit der Wahl bezeichnen. Und auch Großbritannien bleibt eine Demokratie, auch wenn es weiter an seinem Mehrheitswahlrecht festhält. Die vergleichende Wahlsystemforschung bleibt selbstverständlich wichtig, zur Auslegung einer einzelnen Verfassung kann sie aber nur beschränkt beitragen. Traditioneller verhält sich dagegen der dem Mehrheits- oder vorsichtiger dem mehrheitsbildenden Wahlrecht anhängende Teil der Politikwissenschaft – ___________ 44 A. a. O (siehe Anm. 11), S. 181/182. Eine Regel, wonach die stärkste Liste alle Mandate erhielte, könnte man schließlich auch den Charakter eines Wahlsystems nicht absprechen. Eine solche Regel hat es tatsächlich unter dem Grundgesetz, freilich im nichtparlamentarischen Bereich, gegeben [siehe Hans Meyer (siehe Anm. 40), S. 247– 251]. Die Vorstellung Kirchhofs, dem relativen Sieger einer Bundestagswahl Zusatzmandate für eine satte Regierungsmehrheit zu schaffen, hätte ja wohl auch systemischen Charakter und ihr könnte, wenn Nohlen recht hätte, nicht einmal der Einwand entgegengehalten werden, dass die Abgeordneten nach der Verfassung zu „wählen“ sind. Dasselbe gilt von dem Vorschlag von Hermes und Unkelbach, zur Rettung der Wahlreform während der ersten großen Koalition, es beim System zu belassen, die Ergebnisse der Zweitstimmen für die Parteien aber nach der dritten Potenz zu berechnen [siehe Hans Meyer (siehe Anm. 40), S. 69 f.]. Der Systembegriff ist zu beliebig, um ihm verfassungsderogierende Wirkung zuzusprechen. So hat die Frage, ob ein Dreier- oder Viererwahlkreissystem nun eine Form des Verhältnis- oder des Mehrheitswahlsystems ist, schon bedeutende Köpfe ins Grübeln gebracht, wie in Anm. 6 dargelegt ist. Auch das Bundesverfassungsgericht spricht in der ersten relevanten Entscheidung von dem „Wahlsystem“, zwischen dem das Parlament wählen könne, unter welchen Begriff es offensichtlich nur Mehrheitswahl und Verhältniswahl subsumiert. Darauf ist zurückzukommen. 45 Dieter Nohlen (siehe Anm. 11), S. 188. 46 Man denke nur an das abenteuerliche Wahlrecht in Chile.
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und das ist die dritte Strategie –, indem er Erfordernisse aufstellt, an denen er wahlsystematische Gestaltungen misst und gelegentlich verwirft. Nun ist natürlich nichts gegen das Erfordernis der „Repräsentation“ zu sagen, welche das Wahlsystem garantieren soll. Dass das Mehrheitswahlsystem britischen Typs dem am wenigsten entspricht und das Verhältniswahlsystem ihm am nächsten kommt, dürfte wohl kaum zu bestreiten sein, es sei denn, dass man wie Nohlen gleich zwei gegenläufige Repräsentationsbegriffe für maßgebend hält, einen für die Verhältniswahl und den anderen für die Mehrheitswahl.47 Das Erfordernis der „Konzentration“ ist solange ein Selbstläufer, als man bedenkt, dass jedes Wahlsystem die über 62 Millionen Wahlberechtigte in der Bundesrepublik dazu zwingt, sich auf etwa 600 Abgeordnete zu verständigen. Wenn damit aber gemeint sein soll, dass das Wahlsystem die Parlamentsmehrheit möglichst einer Partei48 garantieren49 soll, ganz gleich, wie der politische Wille der Wähler ist oder, anders gewendet, ob die Partei das Volk von der Notwendigkeit überzeugt, so ist das eine Präferenz, die sich jedenfalls nicht auf die Verfassung berufen kann. Im Gegenteil scheinen mit dem Wunsch, durch die Wahl schon die Regierung zu bestimmen, eher Anleihen an ein präsidentielles Regierungssystem gemacht zu werden, statt dem im Grundgesetz vorgesehenen parlamentarischen Regierungssystem zu entsprechen.50 Auch wird keine Zeit auf die Untersuchung verschwendet, ob Einparteienregierungen immer die bessere Regierungsarbeit leisten, ob sie leichter alternieren bei der Führung des Landes und ob sie sich immer um der Wähler willen zur Mitte orientieren, wie die jeweiligen Erwartungen der Mehrheitswahlanhänger sind. Der Vergleich zwischen 60 Jahre Koalitionsregierungen in der Bundesrepublik und 60 Jahre Einparteienregierungen in Großbritannien wird kaum die größere Leistung dort entdecken können. Alterniert haben die britischen Regie___________ 47
A. a. O. (siehe Anm. 1) S. 41, 188. Dieter Nohlen ist mit Blick auf die deutsche Wirklichkeit schon vorsichtig geworden und verlangt mit Blick offenbar auf die CSU nur noch die Mehrheit eines „Parteibündnisses“, was ja schon stark nach Koalition riecht [a. a. O (siehe Anm. 11) S. 84]. 49 Zumindest deren hohe Wahrscheinlichkeit. 50 Neuestens wird „Transparenz“ des Wahlsystems eingefordert, was übersetzt „einfache Verständlichkeit“ heißen soll. Exemplifiziert man das z. B. an dem Verrechnungsverfahren der Umsetzung von über 41 Millionen Stimmen in 598 Sitze, so wird man nicht fehlgehen, dass die wenigsten dieser Wähler das DHondtsche, das Hare/Niemeyersche oder das St. Laguë/Scheperssche System für verständlich halten. Es dürfte Ihnen auch gleichgültig sein; nicht gleichgültig ist ihnen dagegen ihre Erwartung, dass der Verrechnungsmodus möglichst neutral ist. Wenn Transparenz im Sinne der Verständlichkeit von möglichst allen Beteiligten verlangt wird, dürften freilich nur die primitivsten Wahlsysteme Gnade finden. Schon über das Zweistimmensystem und die Wirkung des Stimmensplittings wird ein nicht unerheblicher Teil der Wähler kaum eine fundierte Meinung haben. 48
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rungen wie die deutschen, freilich öfter nach erschöpfend langen Regierungsperioden. Und ob in der Weimarer Zeit ein Mehrheitswahlsystem die größeren Parteien zur Mitte gedrängt hätte und wirklich nur zwei mit Wahlchancen übrig gelassen hätte, darf wohl angesichts der verbissenen Gegnerschaft auf der linken wie auf der rechten Seite kaum wahrscheinlicher sein, als die Möglichkeit, dass Hitler es mit diesem System sogar noch kraft Wahl zu einer echten Mehrheit im Reichstag gebracht hätte. Unermüdlich wird der etwas freibleibende Begriff der Integrationswirkung, die die Wahl haben soll, als Wahlziel bemüht. Selbst die 5 %-Sperrklausel hat es aber nicht vermocht, Kleinstparteien von der Wahlbeteiligung abzuschrecken. Sie erzielten 2009 zusammen immerhin mit 2,5 Millionen Zweitstimmen fast soviel wie die lange Zeit nicht zu Unrecht als „Staatspartei“ charakterisierte CSU. Selbst das britische System muss gegen alle Vernunft immer mit einer nicht unrelevanten dritten Partei rechnen, von den regionalen Parteien einmal abgesehen. Gelegentlich gerät das Setzen von Maßstäben zur Kuriosität. So wenn Dieter Nohlen zuletzt von einem Wahlsystem „Nachhaltigkeit“ verlangt, und diese unserem Wahlsystem unter Berufung darauf abspricht, dass Hans Hugo Klein oder Roman Herzog für ein Mehrheitswahlrecht oder wenigstens für ein Grabensystem votieren oder Paul Kirchhof gar den verwegenen Gedanken geäußert hat, der relativ stärksten Fraktion im Parlament einfach so lange einen Zuschlag an Mandaten zu geben, bis sie eine stabile Mehrheit hat.51, 52 Einem System, das über sechzig Jahre, wie auch Nohlen bestätigt, gut funktioniert, ja Modellcharakter für andere Länder hat,53 die „Nachhaltigkeit“ abzusprechen, weil einige ein anderes haben wollen, zeigt den Wert solcher Maßstäbe. Anders als Politologen ficht von Arnim nicht mit dem Schreckgespenst „Weimar“ für den Übergang zum Mehrheitswahlrecht in Deutschland, sondern mit der höheren Partizipationschance des Bürgers, und zwar im Hinblick auf die ___________ 51
Wie sollte man sich das im Übrigen vorstellen? Die CDU hätte dann mit 27,3 der …? Es ist nicht von ungefähr, dass solche Ansichten von ehemaligen PolitikerProfessoren (wenn man denn Paul Kirchhof wegen seiner Finanzministerambitionen dazu rechnen will) in der Unverbindlichkeit von Tagungen oder Gazetten geäußert zu werden pflegen, wie in den drei genannten Fällen, nicht aber in der wissenschaftlichen Literatur, bei der man seriöse Begründungspflichten hätte. Und selbstverständlich sind alle drei einer Partei verbunden und haben ihr ihre Karrieren verdankt, die schon 1949 die Mehrheitswahl wollte. Auf der Tagung in Speyer hat Kirchhof die Äußerung dementiert, sie wird aber von zwei literarischen Quellen bestätigt. 53 Dieter Nohlen selbst konstatiert, „dass sich die personalisierte Verhältniswahl bewährt hat und inzwischen international zu einem Modellswahlsystem aufgestiegen ist“, a. a. O (siehe Anm. 1), S. 94. Kann man das geltende Grundsystem mit besseren Worten verteidigen? 52
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Bestimmung der Regierung durch die Wahl selbst.54 Der naheliegende Einwand ist, dass er die Parlamentswahl mit einer Regierungswahl verwechselt. Wenn er konsequent wäre, müsste er für ein präsidentielles Regierungssystem plädieren. In diesem wird tatsächlich der Regierungschef vom Volk gewählt und stellt sich seine Regierungsmannschaft zusammen, ohne auf das Parlament Rücksicht nehmen zu müssen. Dem Parlament aber bei einem parlamentarischen Regierungssystem die Regierungsbildung aus der Hand nehmen zu wollen, wäre so, als wenn man einen Professor beriefe und ihm Forschung und Lehre untersagen wollte. Wenn ich von Arnims Votum für die Direktwahl der Ministerpräsidenten in den Ländern richtig interpretiere, wünscht er ein präsidentielles System für die Länder, wagt aber nicht, es auch schon für den Bund vorzuschlagen. Erst ein solcher Vorschlag wäre aber diskussionswürdig.55 Nach meiner Erfahrung mit innerparlamentarischen Entscheidungen in eigener Sache werden allerdings die wissenschaftlichen Debatten nur insoweit von der Politik zur Kenntnis genommen und auch verwertet werden, als sie den Interessen der beteiligten Parteien oder was sie dafür halten, nutzen könnten.
V. Die Vorgaben der Verfassung für die Wahlrechtsreform im Lichte der Verfassungsrechtsprechung Der Bundestag muss bei der Wahlrechtsreform nicht nur das negative Stimmgewicht beseitigen.56 Die Überhangmandate als solche stehen auf dem Prüfstand. Und zwar aus drei Gründen. Zum einen hängt das negative Stimmgewicht notwendig mit Überhangmandaten zusammen. Zum zweiten ermögli___________ 54 Hans Herbert von Arnim, Mehrheitswahl und Partizipation in: Gerd Strohmeier (Hrsg.),Wahlsystemreform, Sonderband 2009 der Zeitschrift für Politikwissenschaft, Sept. 2009, S. 183 ff. 55 Dann lohnte es sich auch auf Widersprüche in der von Arnimschen Argumentation einzugehen. So treibt er viel Aufwand, um am Beispiel des Abgeordneten Wiefelspütz darzutun, er gewinne schon mit der Aufstellung sein Mandat, da er einen „sicheren“ Wahlkreis habe. Nun mag man davon absehen, dass die Sicherheit des Wahlkreises auch mit der Intensität der Betreuung des Wahlkreises durch den Wahlkreisabgeordneten und zugleich der allgemeinen Sichtbarkeit seiner Tätigkeit im Bundestag zu tun hat, die einem Abgeordneten ja nicht in den Schoß fällt. Nicht übersehen darf man allerdings, dass das Phänomen der sicheren Wahlkreise bei der Mehrheitswahl weitaus allgemeiner ist und dazu führt, dass in ihr für die Minderheitswähler schon die Beteiligung an der Wahl überflüssig ist. Das gelegentlich vorkommende Manko bei der personalisierten Verhältniswahl ist also bei der Mehrheitswahl viel weiter verbreitet und weitaus folgenreicher. 56 Wie das Josef Isensee (Funktionsstörungen im Wahlsystem: das negative Stimmgewicht – Denkbare Lösungen eines Dilemmas –), DVBl. 2010,269, 273, dem Gesetzgeber einreden will. Das ist nur die Folge von BVerfGE 121, 266.
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chen diese unabhängig davon Wählern ein doppeltes Stimmgewicht. Und zum dritten gibt es nach der Rechtsprechung eine Grenze für Überhangmandate, weil schon früh die Manipulationsgefahr erkannt worden ist. Bis zur Wahl 2009 hat es nur sogenannte „interne“ Überhangmandate gegeben. Das können keine Direktmandate sein, weil sie vom Zweitstimmenergebnis der Partei im Bundesgebiet gedeckt sind. Die Regel des Wahlgesetzes, dass sich die Zahl der Listenmandate gleichwohl um die Unterschiedszahl der in den Ländern überhängenden Direktmandate erhöht, transferiert den Überhang in den Bereich der Listenmandate. Sie können nur entstehen, weil das Wahlgesetz systemwidrig57 die Verteilung der 598 Bundestagsitze nach dem Zweitstimmenergebnis auf Bundesebene vornimmt, den Abzug der gewonnenen Direktmandate aber länderweise vorschreibt. Die erste Leitentscheidung in der Sache stammt von 1957. Sie ist in sich stimmig und gleichwohl die Mutter aller Irrtümer der folgenden Rechtsprechung. Sie handelt nämlich nur von externen Überhangmandaten, die nur Direktmandate sein können, und rechtfertigte ihre gleichheitswidrige Beibehaltung „in engen Grenzen“ mit dem personalisierten Charakter der Verhältniswahl. Die späteren Entscheidungen hatten alle nur mit internen Überhangmandaten zu tun, deren Kompensation nicht die Eliminierung von Direktmandaten verlangt. Eine Korrektur berührt also den personalisierten Charakter der Verhältniswahl nicht, weil sie keine Streichung von Direktmandaten verlangt; gleichwohl taucht die Formel immer wieder als entscheidungserheblicher Argumentationstopos auf. Die folgende Rechtsprechung zu den Überhangmandaten wird immer restriktiver. Aber selbst die diese Tendenz sprengende überhangfreundliche Entscheidung der vier Richter in dem 97er Urteil sieht Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und einen entsprechenden Handlungsauftrag, wenn Überhangmandate „von Wahl zu Wahl regelmäßig in größerer Zahl anfallen“.58 Mit dem Verlust der Dominanz der beiden großen Parteien, dem Absinken unter 30 % der Wählerzustimmung und den damit verbundenen Chancen, ein Direktmandat schon mit einer Zustimmung von unter 30 % zu gewinnen59 sowie mit der weiter sich ausbreitenden Nutzung des Stimmensplitting sind die Voraussetzungen für ein regelmäßiges Anfallen von Überhangmandaten in beträchtlicher Größe gegeben. Die Notwendigkeit der Korrektur ergibt sich also schon aus ___________ 57 Das ist schon 1994 erkannt worden Hans Meyer, Der Überhang und anderes Unterhaltsame aus Anlass der Bundestagswahl 1994, KritV 1994, 312. 321, vom Bundesverfassungsgericht aber erst in der Entscheidung zum negativen Stimmgewicht anerkannt und neuerdings von Josef Isensee (DVBl. 2010, 269, 272) wie selbstverständlich bestätigt worden. 58 BVerfGE 95, 355, 365/366. 59 Den „Rekord“ hält die Vertreterin der SPD, die den Wahlkreis Berlin/Mitte mit nur 26 % der Stimmen eroberte.
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dieser Entscheidung. Wie kurios die Mechanik ist, zeigt Baden-Württemberg: 2005 kam die CDU mit 2,2 Millionen Zweitstimmen auf drei Überhangmandate, als 2009 die Zustimmung aber um 18 % – und das sind über 400.000 Zweitstimmen – sank, erzielte sie 10 Überhangmandate. Auch die erstmaligen Überhangmandate für die CSU sind eine „Belohnung“ für ihr gegenüber früher schlechtes Abschneiden bei Zweitstimmen. Überhangmandate können für splittende Wähler zu einem doppelten Stimmgewicht führen, ein eklatanter Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). Eine „im voraus berechenbare Chance“ zu einer solchen Verdoppelung des Stimmgewichts ist selbst nach den vier obsiegenden Richtern verfassungswidrig.60 Wie die mittlerweile sehr große Zahl nicht nur von splittenden FDP-Wählern61 und ihr Erfolg hinreichend deutlich zeigt, existiert nicht nur im Land Baden-Württemberg „eine im voraus berechenbare Chance“, ja eine mit hoher Sicherheit berechenbare Chance, nämlich in unsicheren Wahlkreisen für die CDU zu einem doppelten Stimmgewicht zu kommen. Die Wahl 2009 zeigt, dass über 2,3 Millionen FDPWähler und insgesamt über 5 Millionen Wähler ihre Stimme gesplittet haben. Nach den Ergebnissen in den unsicheren Wahlkreisen der Überhangländer der CDU und Bayern bei der Wahl 2009 konnten mindestens 23.823 Wähler ihr Stimmgewicht verdoppeln. Sie hatten damit der Union zu acht Überhangmandaten verholfen, die insgesamt einen Wert von 262.165 Zweitstimmen ausmachen.62 Schließlich ist das für verfassungswidrig erklärte negative Stimmgewicht untrennbar mit den internen Überhangmandaten verbunden. Sie sind unechte Überhänge, weil die Zahl der Direktmandate der entsprechenden Partei ihren Zweitstimmenanteil auf Bundesebene nicht übersteigt. Sie entstehen nur durch die Trennung der Gesamtaufteilung aller 598 Mandate auf alle Parteien in der Oberverteilung und den Abzug der gewonnenen Direktmandate erst in der Unterverteilung nach der Verteilung der einer Partei insgesamt zukommenden Sitze auf die einzelnen Landeslisten der Partei nach deren Zweitstimmenerfolg im Land. Aus alledem folgt, dass der Wahlgesetzgeber auch nach der überhangfreundlichen Rechtsprechung von vier Richtern des Bundesverfassungsgerichts das Wahlgesetz so zu reformieren hat, dass interne Überhangmandate nicht auftre___________ 60
BVerfGE 95, 335, 362. Bei diesen liegt sie bei fast 2,3 Millionen, der über 2 Millionen Zuwächse bei den Erststimmen für die CDU gegenüber stehen. 62 Die zuteilungsberechtigten Parteien haben insgesamt 40.764.288 Zweitstimmen erreicht. Teilt man dies durch 622 Sitze, so ergibt das 65.537 Zweitstimmen pro Sitz. Bei 8 Überhangmandaten ergibt die Summe 524.296 Wähler, die durch die Abgeordneten repräsentiert werden. Die Hälfte + jeweils 1 ergibt insgesamt 262.156 Stimmen. 61
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ten können. Eine Reform durch Ausgleichsmandate für die benachteiligten Parteien scheidet aus, weil sie das negative Stimmgewicht nicht beseitigte. Externe Überhänge sind 2009 zum ersten Mal seit 60 Jahren aufgetreten; sie sind anders als interne auch bundesweit durch Zweitstimmen nicht gedeckt, also ein Verstoß gegen die Wahlgleichheit. Externe Überhänge führen nicht zu einer Erhöhung der Listenmandate dieser Partei; externe Überhangmandate sind also die Direktmandate selbst. Wie interne können externe Überhangmandate Resultat eines doppelten Stimmgewichts sein, wenn sie auf Stimmensplitting beruhen können. Sie können auch negative Stimmgewichte hervorrufen und sie zählen bei der Frage, ob nicht zu viele Überhangmandate angefallen sind, wie interne Überhänge. Externe Überhangmandate sind bisher nur 2009 und nur bei der CSU aufgetreten, also in dem Sonderfall einer Landespartei, die mit den bundesweiten Listenverbindungen der anderen Parteien konkurriert. Da aber die CDU 2009 mit 173 Direktmandaten so viele erreicht hat, wie ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen, wäre jedes weitere Direktmandat ein externes Überhangmandate gewesen; dazu hätte 47 Stimmen zusätzlich im Wahlkreis Darmstadt gereicht. Dem Problem der 60 Jahre nicht aufgetretenen externen Überhangmandate ist bei der Wahlrechtsnovelle also ebenfalls Aufmerksamkeit zu schenken.
VI. Gelingt eine verfassungskonforme Wahlrechtsnovelle? 1. Die Eliminierung des negativen Stimmgewichts Der verfassungswidrige Effekt eines möglichen negativen Stimmgewichts hängt im jetzigen System überwiegend an den internen Überhangmandaten. Daher ist deren Beseitigung unausweichlich. Der einfachste Weg wäre, den internen Überhang durch die ja begriffsnotwendig63 mindestens in dieser Höhe noch vorhandenen Listenmandate zu kompensieren, indem man zum Beispiel die gewonnenen Direktmandate der Partei bei der Oberverteilung abzieht. Auch nach der Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts wäre das „systemgerecht“.64 Es ist aber eher anzunehmen, dass vor allem die CDU, jedenfalls in der derzeitigen Konstellation, die Überhänge lieber retten würde. Dies setzte zunächst die Streichung des Instituts der Listenverbindungen voraus. Die Folge wäre, ___________ 63
Weil interne Überhangmandate, wie oben gezeigt, unechte Überhänge sind, da auf Bundesebene für die Partei keine Überhänge bestehen können; andernfalls ginge es um externe Überhangmandate. 64 Siehe oben zu und in Anm. 57.
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dass alle Landeslisten aller Parteien65 miteinander um die 598 Sitze konkurrieren. Eine Unterverteilung entfiele. Dass sechzehn Mal bei allen Parteien unverwertbare Stimmreste übrigblieben, würde sicher in Kauf genommen. Aus internen Überhangmandaten würden externe Überhangmandate. Das allein reichte aber nicht aus, negative Stimmgewichte auszuschließen. Eine Zweitstimme für eine Partei in einem Land mit Überhängen könnte immer noch aus einem anderen Land ein Listenmandat dieser Partei abziehen.66 Es würde wegen des Überhangs ersatzlos konsumiert. Diese Folge lässt sich nur vermeiden, wenn die Länder zusätzlich zu abgeschlossenen Wahlgebieten würden. Würde man so verfahren, würden nach den Ergebnissen der Wahl 2009 für die CDU in den bisherigen sieben Überhangländern dieselben Überhänge anfallen, aber jetzt als externe Überhangmandate. Ein negatives Stimmgewicht könnte, weil es keine Konkurrenz der Landeslisten gäbe, nicht auftreten. Das sicherte der Union nach Lage der Dinge auch in der näheren Zukunft hinreichende Überhangmandate, für die sie Zweitstimmen nicht aufzubringen hätte. Die FDP würde sich vermutlich gegen diese Lösung nicht sehr sträuben. 2. Die Eliminierung des doppelten Stimmgewichts Diese aus der Sicht der Union ideale Lösung des Problems hat freilich einen gewichtigen verfassungsrechtlichen Nachteil. Sie stattet, wenn man die Wahl 2009 als Beispiel nimmt, eine unbestimmte Zahl von vor allem FDP-Wählern in Überhangländern der CDU,67 wenn sie ihre beiden Stimmen zugunsten der CDU-Direktkandidaten splitten, mit einem doppelten Stimmgewicht aus. Es wäre so, als hätten sie zwei Zweitstimmen. Der eigenen Partei schadet das Splitten ihrer Anhänger nicht, weil der Wähler mit seiner Zweitstimme sein volles Stimmgewicht für seine Partei im Verhältnis zu den anderen Parteien68 einbringen kann. In einem frühen Urteil, das gerade zu externen Überhangmandaten erging,69 hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass Überhangmandate auch wegen dieser Verdoppelung nur „in engen Grenzen“ zulässig und daher nur tolerierbar sind, wenn „ausnahmsweise das Stimmgewicht einzelner Wähler erfolgreicher ___________ 65 Die 5 % erreicht oder drei Grundmandate gewonnen haben. – § 6 Abs. 2 BWahlG sieht dies vor. 66 Wegen der Konkurrenz der Landeslisten einer Partei untereinander. 67 Dasselbe gilt entsprechend für splittende Wähler anderer Parteien, eine aber vermutlich zu vernachlässigende Größe. 68 Bis auf die durch seine gesplittete Erststimme favorisierte CDU; das aber ist gewollt. 69 BVerfGE 7, 63, 74/75.
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Parteikandidaten verdoppelt“ wird. Zusätzlich wird aber die Warnung nachgeschoben: „Gewiss eröffnet das Institut der Überhangmandate Manipulationsmöglichkeiten. Deren Verfassungsmäßigkeit müsste aber im Falle des Missbrauchs angezweifelt werden“ (S. 75). Aber auch das von nur vier Richtern getragene und in der Rechtsprechungsgeschichte solitäre überhangfreundlichste Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1997 geht nicht so weit, das doppelte Stimmgewicht als verfassungsrechtlich belanglos hinzustellen. Es formuliert vielmehr: „Auch die Möglichkeit von Überhangmandaten führt nicht dazu, dass einzelnen Wählern eine im voraus berechenbare Chance eröffnet wird, mit ihren Stimmen einen ,doppelten‘ Erfolg in Bezug auf die Besetzung des Bundestages zu erzielen, der sie in gleichheitswidriger Weise gegenüber andern Wählern begünstigte“.70 Hinter dieser Aussage verstecken sich zwei Bedingungen, die selbst nach diesem Urteil für die Zulässigkeit eines doppelten Wahlerfolges gegenüber den Anforderungen einer gleichen Wahl vorliegen müssen. Mit den „einzelnen Wählern“ wird offensichtlich derselbe Terminus der früheren Entscheidung71 übernommen und auf die dort schon formulierte „Ausnahmesituation“ angespielt. An die 24.000 Wähler, deren Stimmen 2009 doppelt wirkten und einen Wert von acht Mandaten mit einem Gegenwert von fast 262.151 Stimmen72 hatten, sprengen diese Grenze ersichtlich. „Eine im voraus berechenbare Chance“, die zweite Voraussetzung der Zulässigkeit eines doppelten Stimmgewichts, kann sich nur auf Wahrscheinlichkeiten beziehen. Selbst wenn man dafür eine hohe Wahrscheinlichkeit verlangt, ist diese zum Beispiel für einen FDP-Wähler in einem für die CDU unsicheren Wahlkreis gegeben. Es ist nicht anzunehmen, dass die 37 % splittender FDP-Wähler in Baden-Württemberg, fast 400.000, nicht überlegt haben, wie sie das „bürgerliche“ Lager stärken könnten. Und der Erfolg hat ihnen recht gegeben.73 Das führt unabdingbar zu der Notwendigkeit, bei der Reform die Quellen doppelter Stimmgewichte zu beseitigen. Wenn man bei der personalisierten Verhältniswahl des § 1 BWahlG bleibt, bedeutet das aber notwendig, das Stimmensplitten zu unterbinden. Es gäbe freilich keinen Sinn, dem Wähler zwei Stimmen zu geben, ihn mit seiner ersten Stimme aber auf den Direktkandidaten ___________ 70
BVerfGE 95, 335 362 BVerfGE 7, 63, 74/75. 72 Siehe oben zu und in Anm. 62. 73 Da diese Wähler bis auf einige statistische Ausnahmen schwerlich mit SPD, Grüne oder Linke zu sympathisieren pflegen, werden sie diese Erstimmen der politisch benachbarten CDU gegeben haben. Es ist daher kein Wunder, dass die CDU bei derselben Wahl entsprechend mehr Erststimmen als Zweitstimmen erhalten hat. 71
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der Partei seiner Wahl festzulegen. Das Problem liegt im Zweistimmensystem als solchem. Unter Wahlrechtlern dürfte es keinen Streit darüber geben, dass das Zweistimmensystem jenseits des doppelten und des negativen Stimmgewichts ad absurdum geführt werden kann. Wenn die jetzige Koalition dem stürmischen Wetter der notwendigen finanziellen Einschnitte nicht mehr ausweichen kann und die nächste Bundestagswahl verloren zu gehen droht, kann man ihr nur raten, sich zu verabreden, ihren Wählern zu empfehlen, ihre Erststimme überall dem FDP-Kandidaten, der übrigens auch ein CDU-Mann sein kann,74 und ihre Zweitstimme immer der Union zu geben. Die FDP würde sicherlich mit erheblich mehr Abgeordneten in den Bundestag einziehen, als sie jetzt hat, und zwar alle im Überhang, und die Union könnte zusätzlich sicher mehr als 40 % der Listensitze erringen. Mit der Aufgabe des Zweistimmensystems würden also nicht nur automatisch die Möglichkeit eines negativen Stimmgewichts und damit zugleich die unechten internen Überhangmandate beseitigt, sondern zusätzlich die Möglichkeit eines doppelten Stimmgewichts einzelner Wähler sowie die Manipulationsgefahr. Die Konzentration der einzigen Stimme auf den Wahlkreisbewerber wird im Übrigen die Parteien weitaus stärker als heute dazu zwingen, präsentable Personen aufzustellen, da auch der Listenerfolg an seinem Erfolg hängt. 3. Beseitigung von oder Kompensation für Überhangmandate Auch bei einem Einstimmensystem bleibt die Möglichkeit von echten Überhangmandaten. Das sind die externen Überhangmandate, die also das Stimmergebnis einer Partei im Wahlgebiet übertreffen. Wie das CSU-Beispiel zeigt, führt erst das Absinken der Zustimmung zur Partei als solcher bei den Zweitstimmen unter Beibehaltung der relativen Mehrheiten75 in den Wahlkreisen zu solchen Überhangmandaten. Daher lässt sich schwer eine Rechtfertigung für den dadurch hervorgerufenen Verstoß gegen die Wahlgleichheit finden. Er führt nicht einmal automatisch zur Vergrößerung einer Regierungsmehrheit im Parlament. Würde die jetzige Koalition in den Augen der Wähler scheitern, bliebe es bei der Sonderlage Bayerns mit großer Wahrscheinlichkeit dort ___________ 74
Um die FDP bei diesem Geschäft nicht übermäßig zu begünstigen, könnte ein Teil der FDP-Kandidaten nach dem Bundeswahlgesetz durchaus auch von der CDU oder CSU sein, da anders als bei den Listen (§ 21 Abs. 1 S. 1 BWahlG) die Mitgliedschaft in einer fremden Partei bei Wahlkreisbewerbern nicht ausgeschlossen ist. 75 Zum Teil auch unter Beibehaltung von absoluten Mehrheiten, die aber im Schnitt ebenfalls niedriger lagen als früher.
Die Zukunft des Wahlrechts
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bei den externen Überhängen der CSU; sie würden vermutlich bei einer weiteren Schwächung der Partei noch anwachsen. Einer gegenläufigen Regierung würden sie die Parlamentsmehrheit schmälern. Eine verfassungspolitisch sinnvolle oder gar verfassungsrechtliche Rechtfertigung für das Privileg der Ungleichbehandlung sieht anders aus. Gegen die Eliminierung der prozentual schwächsten Wahlkreissieger als Lösung des Problems könnten gerade die Bayern wenig einwenden, weil sie selbst diese ursprünglich in ihrem Landtagswahlrecht kannten und auch heute noch dem Wahlkreissieger das Mandat wegnehmen, wenn seine Partei die 5 %-Hürde nicht übersprungen hat. Im Übrigen gibt das Ergebnis der Wahl 2009 Anlass, das allzu hohe Lied auf den Wahlkreissieg ein wenig zurückzunehmen.76 Acht Wahlkreise waren schon mit Ergebnissen unter 30 % zu gewinnen und 23 weitere Wahlkreissieger kamen nicht einmal über ein Drittel der Erststimmen. Setzt man den am „billigsten“ errungenen Wahlkreis, Berlin/Mitte, im Verhältnis zu den Wahlberechtigten des Wahlkreises, kommt man sogar nur auf eine Zustimmung von 17,2 %. Die Gefahr eines Abzuges von Wahlkreissiegern würde erheblich minimiert, wenn man das 1949 bei der Etablierung des Wahlsystems gar nicht vorgesehene Zweistimmensystem aufhebt, es bei dem jetzigen System der Listenverbindungen aber belässt. Die Lösung des Problems durch Ausgleichsmandate, das die Länder wie selbstverständlich kennen, würde dadurch erträglich. Bei dem hohen Machtinteresse, das auf dem Spiel steht, würde ich aber keine Wette eingehen, dass eine verfassungskonforme Lösung gefunden wird.77
___________ 76 Sophie-Charlotte Lenski, Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, AöR 134 (2009), S. 473–512, hat dem Thema eine außerordentlich gründliche und sehr kritische Untersuchung gewidmet. 77 Den hier abgedruckten Vortrag habe ich erheblich erweitert unter dem Titel „Die Zukunft des Bundestagswahlrechts – Zwischen Unverstand, obiter dicta, Interessenkalkül und Verfassungsverstoß“ 2010 im Nomos-Verlag als Buch veröffentlicht.
Diskussion zum Vortrag Meyer Leitung: Karl-Peter Sommermann
Karl-Peter Sommermann: Ganz herzlichen Dank, Herr Meyer, für die kritische Analyse des Systems und dafür, dass Sie die Manipulationsmöglichkeiten, aber auch die Wege gezeigt haben, wie eine Wahlrechtsreform, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber in seiner Entscheidung vom 3. Juli 2008 aufgegeben hat, aussehen könnte. Ihre Lösung erinnert mich sehr an das finnische Wahlsystem, wo ein Einstimmensystem mit Listen besteht, allerdings mit offenen Listen, durch die im Vergleich zu einem starren Listensystem eine Personalisierung erreicht wird. Ich darf nun um Diskussionsbeiträge bitten. Wir haben ungefähr eine halbe Stunde. Herr von Arnim bitte. Hans Herbert von Arnim: Vielen Dank, Herr Meyer, für Ihre spannenden, aber auch ausgesprochen unterhaltsam vorgetragenen Ausführungen zu dem aktuellen Thema Wahlrecht. Auch hier entscheidet die Politik in eigener Sache – sei es die Regierungsmehrheit, wie zum Beispiel bei den Überhangmandaten, sei es, das Parlament als Ganzes, wie zum Beispiel bei der Fünf-Prozent-Klausel und den starren Listen. Herr Sommermann, Sie sagten es schon, dass das Parlament ja nach der letzten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bis Mitte 2011 Reformen durchführen muss. Ihrem Plädoyer, Herr Meyer, auch verfassungsrechtlich, gegen die Überhangmandate kann ich nur voll zustimmen. Besonders interessant Ihr Hinweis, dass selbst nach den der CDU sehr wohl wollenden vier Richtern der Karlsruher Entscheidung von 1997, beim heutigen Stand der Entwicklung, Verfassungswidrigkeit von Überhangmandaten anzunehmen sei. Es wäre ja fast zum Supergau gekommen, wenn die Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2009 den Ausschlag für die Regierungsbildung gegeben hätten. Dann wäre der Druck, die Überhangmandate abzubauen, noch sehr viel größer gewesen, weil sich diese dann nicht nur die Wissenschaft genauer angesehen hätte, sondern auch die allgemeine Öffentlichkeit.
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Ihr – nicht ganz neues – Plädoyer gegen die Mehrheitswahl erschien mir allerdings etwas einseitig. Sie bestätigten ja, es ist ein typischerweise mehrheitsbildendes Wahlsystem – ohne die Notwendigkeit von Koalitionen. Sie haben dann aber eingewandt, wer für die Mehrheitswahl eintritt – auch ich –, wolle in Wahrheit ein Präsidialsystem. Mit Blick auf Großbritannien, das dies offensichtlich widerlegt, überrascht mich dies – gerade angesichts Ihrer sonst so scharfsinnigen Darlegungen. Mir, weil ich auf Landesebene den Vorschlag mache, Ministerpräsidenten direkt zu wählen, dann auch noch zu unterstellen, ich wollte auch auf Bundesebene ein Präsidialsystem einführen, erscheint mir erst recht nicht mehr nachvollziehbar. Haben wir in Thüringen nicht gemeinsam für die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten gestritten und waren wir uns beide nicht stets über die großen Unterschiede zwischen Bund und Ländern im Klaren, die eine Übertragung der Direktwahl auf den Kanzler verbieten? Ihre Polemik soll das Verhältniswahlsystem anscheinend gegen einen besonders gravierenden Einwand verteidigen: Die Zusammensetzung des Parlaments ist zwar sehr wichtig, wichtiger aber noch ist, wer regiert, wer als Regierung mit seiner Fraktion vier Jahre lang entscheidet, welche Gesetze gemacht werden und wer auch sonst das Heft in der Hand hält, zum Beispiel in der Außenpolitik und im Rat der Europäischen Union. Wir übersehen leicht, dass die Zusammensetzung des Parlaments zwar nicht unwichtig ist, aber entscheidend für unser Wohl und Wehe ist, wer regiert. Daraus ergibt sich ein wichtiges Argument für die Mehrheitswahl, die die Bildung der Regierung in sehr viel höherem Maß in die Hand der Wähler legt als die Verhältniswahl, bei der Parteichefs bei Koalitionsverhandlungen das letzte Wort über die Regierungsbildung sprechen. Dieses Argument lässt sich mit einer Polemik nicht totschlagen. Wer sich allerdings im rein Normativen erschöpft und die praktischen Auswirkungen des Rechts ignoriert, der versperrt sich – schon aufgrund seiner rechtsmethodisch überholten Auffassung – den Zugang zu dieser Erkenntnis. Raimund Popper hat einmal gesagt, Demokratie bestehe im Kern darin, dass wir Regierungen ohne Blutvergießen wieder loswerden können. Können wir das denn aber mit unserer Verhältniswahl? Dass Frau Merkel nach der Bundestagswahl 2009 weiterhin Kanzlerin bliebe, war schon vorher klar, entweder mit der FDP oder in Fortsetzung der Großen Koalition mit der SPD. In den Ländern war zum Beispiel der saarländische Ministerpräsident Peter Müller abgewählt worden, aber nach Bildung einer Koalition mit der FDP und den Grünen konnte er sich trotzdem halten, und ist immer noch Ministerpräsident, auch wenn die meisten Wähler etwa der Grünen diesen Effekt ihres Votums sicher nicht gewollt hatten. In Thüringen war Althaus CDU abgewählt worden. In einer Koalition mit der SPD bleibt sie trotzdem an der Regierung. Also, wir kriegen mit der Verhältniswahl Regierungschefs und Parteien, die in den Augen der Wähler versagt haben, oft nicht weg. Diese legen sich vielmehr mit einem kleineren
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Partner oder mit zweien ins Koalitionsbett und regieren weiter. Das scheint mir aus der Sicht des Bürgers doch ein großer Mangel zu sein. Sie haben darauf hingewiesen, dass auch das Mehrheitswahlsystem Mängel hat. Wer wollte das bestreiten. Sie haben aber behauptet, nur die Verhältniswahl sei demokratisch. Bezieht man dagegen die große Bedeutung der Regierungsbildung mit ein, über die bei der Mehrheitswahl regelmäßig der Wähler entscheidet, so trifft das schlicht nicht zu. Die Mehrheitswahl sollte allerdings mit Vorwahlen verbunden werden, damit die Bürger auch in „sicheren“ Wahlkreisen eine Wahl haben. Lieber Herr Meyer, auch wenn ich hier die Mehrheitswahl gegen verkürzte Argumente verteidigt habe, bleibe ich, was die Wahlsysteme anlangt, insgesamt gespalten. Wäre nach der Bundestagswahl 2009 die Große Koalition fortgesetzt worden, wäre die Diskussion um die Mehrheitswahl wieder aktuell geworden. Vor diesem Hintergrund sind meine Aufsätze im Vorfeld der Wahl zu verstehen. Eine von ihren derzeitigen Mängeln befreite Verhältniswahl hat aber auch viel für sich. So wäre – ergänzend zu Ihrem Vortrag – zu fragen, ob die starren Listen nicht einen Verfassungsverstoß darstellen, denn in Art. 38 GG steht ja, dass die Abgeordneten unmittelbar vom Volk gewählt werden, die Abgeordneten, nicht die Parteien. Tatsächlich bestimmen bei uns, aber die Parteien, wer Abgeordneter wird. Bei der Bundestagswahl stehen 70 oder 80 % der Abgeordneten durch ihre Platzierung lange vor der Wahl schon definitiv fest, so dass von einer Unmittelbarkeit der Wahl der Abgeordneten durch das Volk nicht die Rede sein kann. Das gilt nicht nur für sichere Listenplätze, sondern auch für sichere Wahlkreise, wo man auch vorher schon genau weiß, dass der gewählt wird, den die dort dominierende Partei aufstellt. Diese kann, wie das Verfassungsgericht treffend sagt, ihren Kandidaten den Wählern faktisch aufzwingen. Bei der Europawahl, aber auch bei Bundestags- und Landtagswahlen wäre also zu fragen, ob eine unmittelbare Wahl im Sinne des Art. 38 GG überhaupt vorliegt. Leibholz hat das Urteil von 1957, das Sie angesprochen haben, maßgeblich mitgestrickt. Er war sich darüber klar, dass starre Listen keine unmittelbare Wahl der Abgeordneten hervorbringen, meinte aber, Art. 38, der die unmittelbare Wahl der Abgeordneten fordert, sei obsolet und durch Art. 21 GG (Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit), erledigt. Er hat Art. 21 dabei nicht als Mitwirkung verstanden, sondern als Bestimmung; er ist ja Vater der Doktrin vom Parteienstaat. Nimmt man Art. 21 aber beim Wort und Art. 38 ernst, spricht alles für flexible Listen, denn dabei wirken die Parteien ja immer noch mit, so dass, wenn man sich mit der ganz herrschenden Staatsrechtslehre von Leibholz verabschiedet, es keine Möglichkeit mehr gibt, die Unmittelbarkeit für obsolet zu erklären und die starren Listen verfassungsrechtlich abzusegnen. Bei der Europawahl ist das ganz deutlich. Auch die Fünf-
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Prozent-Klausel ist bei der Europawahl nicht mehr zu halten. Die Landesverfassungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht haben bei der Kommunalwahl die Sperrklausel überall kassiert und dabei festgestellt, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse und die rechtlichen Beurteilungsmaßstäbe grundsätzlich verändert haben. Dabei haben sie sich ausdrücklich auch darauf berufen, dass die Politik hier in eigener Sache entscheidet. Wendet man die Überlegungen der Verfassungsgerichte auf die deutsche Europawahl, die 1979 vom Verfassungsgericht noch abgesegnet worden ist, kann die Sperrklausel m. E. auch dort keinen Bestand mehr haben. Also, ein weiter Strauß von Überlegungen. Ihnen, lieber Herr Meyer, für Ihr anregendes Referat noch mal herzlichen Dank. Hans Meyer: Darf ich mit der zweiten Frage zuerst beginnen? Das Verfassungsgericht hat in einem frühen Urteil die starre Liste akzeptiert. Man muss nur sehen, dass das Bundesverfassungsgericht in den ersten 20 Jahren gegenüber demokratischen Entwicklungen außerordentlich skeptisch war. Es hat die 5 %-Klausel bei Kommunalwahlen damals wegen der Städteaglomeration im Ruhrgebiet akzeptiert. Mittlerweile ist die Rechtsprechung aufgegeben. Ich halte es nicht für ganz ausgeschlossen, dass auch bei der starren Liste vielleicht doch irgendwann eine Änderung der Rechtsprechung zu erwarten ist. Die Politiker freilich werden das nicht machen. Wenn ich je danach gefragt werde, würde ich vorschlagen einmal zu überlegen, ob man nicht vielleicht einen Teil der Liste starr macht und den anderen Teil offen. Die Politiker argumentieren nämlich mit der Notwendigkeit, bestimmte Fachleute in der Fraktion zu haben. Und dieses Bedürfnis hat auch eine gewisse Berechtigung. Ich kann mich erinnern, als der beste Fachmann für Soziales, den die SPD hatte, völlig wider Erwarten sein Direktmandat in Hamburg nicht gewann, mussten drei oder sogar mehr Listenbewerber auf das Mandat verzichten, damit er überhaupt in den Bundestag kam. Er war für die SPD offensichtlich unverzichtbar. Die Notwendigkeit, besonders wichtige Leute fest zu platzieren, wird man wohl akzeptieren müssen. Man könnte das mit noch etwas anderem verbinden: Wir haben keine Bundesliste, was ja bei einem unitarischen Organ wie dem Bundestag eigenartig ist. Im Grunde haben wir auch keine Bundesparteien. Die Bundesparteien sind nur Hüllen, da sind nur der Generalsekretär und die Gremien. Sonst existiert die Bundespartei praktisch nicht. Man könnte daher an eine Kombination einer Bundesliste mit angeschlossenen kombinierten Landeslisten entwickeln. Das wäre aber so kompliziert, dass es bei der jetzigen Reform nicht in die Köpfe hineingehen wird. Man darf sich also in diesem Punkt nicht allzu viel von der jetzigen Reform versprechen. Zum ersten Punkt: Natürlich kann man niemanden hindern, wenn er bei einem parlamentarischen Regierungssystem die Zusammensetzung des Parlaments auch unter dem Gesichtspunkt in seine Wahlentscheidung einfließen lässt, wen will ich denn an der Regierung haben. Alle wollen regieren. Aber zu-
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nächst ist das Ziel, möglichst viel an Rückhalt bei den Wählern zu gewinnen, dass man bei dem Geschäft der Koalitionsbildung mitreden kann. Ist England durch die Einparteienregierungen besser regiert worden? Keineswegs. Die Vorstellung, dass wir besser regiert würden, wenn wir ein anderes Wahlrecht hätten, hat jedenfalls in der Wirklichkeit keine Stütze. Unser System ist bei sozialen Unruhen vielleicht ein bisschen schwierig zu handhaben, aber bisher haben wir das 60 Jahre lang geschafft. Und wir haben eine Menge gemacht. Die Ostpolitik ist in einer Kleinen Koalition durchgesetzt worden, und das war eine Politik, die keineswegs von Anfang an die Mehrheit des Volkes hinter sich hatte. Es ist also durchaus möglich, in diesem System ordentlich zu regieren. Dass wir schon seit mindestens 15 Jahren nicht ordentlich regiert werden, ist eine andere Frage. Das würde auch bei einem Mehrheitswahlrecht nicht anders sein, die Politiker würden weiterhin Schulden machen. Karl-Peter Sommermann: In den bestehenden Mehrheitswahlsystemen ist es ja häufig eine relativ kleine Minderheit von Wählern, die die Parlamentsmehrheit hervorbringt, eine Paradoxie, die aufzulösen bleibt. Hans Meyer: Wenn ich noch etwas zur von Arnimschen Argumentation sagen kann: Sichere Wahlkreise haben im Mehrheitswahlrecht noch viel einschneidendere Bedeutung als in unserem personalisierten Verhältniswahlrecht. Karl-Peter Sommermann: Jetzt hat Herr Wahl das Wort. Rainer Wahl: Herr Meyer, ich habe Ihr Plädoyer gegen das Mehrheitswahlrecht gehört und auch Ihre Auffassung, dass diese Position verfassungsrechtlich abgesichert ist. Dies ist die Weichenstellung Ihres Vortrags. Zugrunde liegt ein Konzept einer einheitlichen Wahlrechtsgleichheit, die nicht nach unterschiedlichen Kriterien für ein Mehrheitswahlrecht und ein Verhältniswahlrecht unterteilt oder aufgesplittert werden darf. Das ist Ihr leitender Gesichtspunkt. Was mir bei dieser Ableitung unvollständig erscheint ist, dass sie keinen Bezug auf die unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen nimmt. Dabei interessieren mich hier historische Entwicklungen nicht als solche, sondern insoweit, als sie in die Mentalitäten der Wähler übergegangen sind. Es geht mir also um geschichtliche Erfahrungen, die als Mentalitäten heute noch wirksam sind. Um meinen Gedankengang darzulegen: Ich will hier nicht in einer theoretischen
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Diskussion für das Mehrheitswahlrecht eintreten, sondern ich richte den Blick auf ein Land wie das Vereinigte Königreich, in dem das Mehrheitswahlrecht in der Mentalität der Wähler verwurzelt ist. Wollte man dieselben Regeln in Deutschland vorschlagen, würde man rasch erfahren, dass sie bei uns nicht verwurzelt sind und allem Anschein nach auch nicht verwurzelbar sind. Die Probe kann man in jedem Hörsaal machen, wenn man die Regeln in England schildert und zeigt, wie viel Stimmen dort unter den Tisch fallen. Ernten wird man ein völliges Unverständnis darüber, dass ein solches Wahlrecht gerecht sein und das Gleichheitsprinzip verwirklichen soll. Nur, der Punkt ist doch der: Wieso kommen denn die Engländer auf ein solches Wahlrecht? Doch nicht deshalb, weil sie eine völlig verfehlte Auffassung von Wahlrechtsgleichheit und Wahlrechtssystemen haben. Richtig ist stattdessen, dass die Engländer lange Erfahrungen mit diesem Wahlrecht haben und dass diese Erfahrungen zum Bestandteil ihrer Vorstellungen über das Wahlrecht geworden sind. Dieses Gegenbild fällt mir bei ihren Darlegungen ein, in denen Sie das Verhältniswahlrecht zur einzig richtigen Lösung gemacht und damit verabsolutiert haben. In diesem Zusammenhang unterschiedlicher historischer Erfahrungen kommt mir der Satz in der Rechtsprechung ganz vernünftig vor, dass in den beiden großen Systemen eine eigene immanente Logik besteht. Die Konsequenz daraus ist, dass man diese Grundsituation der unterschiedlichen Logiken nicht dadurch überspielen kann, dass man „die“ richtige Auslegung der Wahlrechtsgleichheit konstruiert und zwar so, dass sie letztlich am Grundgedanken des Verhältniswahlrechts abgegriffen erscheint. Daraus ergibt sich meine Frage: Welches ist die Grundlage für Ihre Darlegung der Wahlrechtsgleichheit, die unabhängig von der Option für das Verhältniswahlrecht oder für das Mehrheitswahlrecht wäre, sondern aus einer anderen, übergeordneten Quelle abgeleitet wäre? Ich habe Zweifel an der Begründbarkeit. Außerdem hat die Hypostasierung der Gedanken der Verhältniswahlrecht als einzig richtiges Konzept für die allgemeine Wahlrechtsgleichheit für mich etwas mit dem Nichtberücksichtigung von historischen Entwicklungen zu tun und zwar mit solchen Entwicklungen, die nicht irgendwo in der Vergangenheit abgeschlossen liegen, sondern ihre klare Spur in der gegenwärtigen Mentalität der Menschen hinterlassen haben. Hans Meyer: Ich habe in diesem kleinen Vortrag ein wenig geschichtliche Entwicklung durchaus einfließen lassen. Wenn Sie wissen, dass in England eine heftige Debatte über das Wahlsystem besteht und dass die letzte Kommission, die eingesetzt worden ist, die Übernahme unseres Systems empfohlen hat, sehen Sie, dass in England keineswegs das Volk an der Mehrheitswahl hängt, vielmehr hängen die Politiker der beiden allein regierungsfähigen Parteien daran. Die
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Mehrheitswahl war einmal ein sehr vernünftiges System, damals das einzig mögliche System, aber sie hat ihre Funktion verändert, und darauf müssen doch auch die Juristen reagieren. Wir können nicht einfach sagen, das ist unhinterfragbar und das hat es früher gegeben und die Engländer machen es heute noch und deshalb ist es nach unserem Verfassungsverständnis ein zulässiges System. Wenn Sie fragen, wo die innere Logik meines Plädoyers für die Verhältniswahl liegt: Die innere Logik liegt ganz einfach darin, dass der Wähler das Subjekt der Repräsentation ist. Jeder einzelne Wähler ist gleichberechtigt Subjekt der Repräsentation. Das ist Demokratie und deshalb wird die Gleichheit gerade im Wahlrecht vom Verfassungsgericht grundsätzlich besonders strikt behandelt. Darin liegt die Anerkennung, dass jeder Demokrat unmittelbar zum Parlament ist mit dem gleichen Gewicht seiner Stimme. Das kann das Mehrheitswahlrecht nicht schaffen. Der Übergang vom Mehrheitswahlrecht zum Verhältniswahlrecht zeigt durchaus eine Entwicklung, die aus der politischen Entwicklung gefolgt ist. Insofern überzeugt mich Ihr Einwand nicht, obwohl ich sonst von Vielem überzeugt bin, was Sie sagen, Herr Wahl. Karl-Peter Sommermann: Danke schön. Herr Kirchhof bitte. Paul Kirchhof: Ich habe mich, Herr Meyer, während Ihres Referats gefragt, was eigentlich der gedankliche Ursprung dieses fundamentalen Dissenses ist, der in vielen einzelnen Positionen wiederkehrt. Ich glaube, wir müssen uns noch einmal bewusst machen, dass, wenn wir die Parteien nach der Verhältniswahl wählen, eben diese Parteien durch die Bestimmung der Listen einen fundamentalen Einfluss auf die Entscheidung gewinnen, wer gewählt wird. Die Persönlichkeitswahl ist ein kleines Gegenmittel gegen diese demokratisch nicht legitimierte Mächtigkeit der Parteien, die über die Listen bestimmt. Und dann stellt sich die Frage, in wieweit man dieses Gegenmittel ernst nimmt und dann möglicherweise Überhangmandate rechtfertigt. Das ist, glaube ich, die Strukturfrage, um die es geht. Davon unabhängig möchte ich, Herr von Arnim, gerne Ihren Gedanken der Unmittelbarkeit aufnehmen. Dieses Symposium ist ja Ihrem Denken und Ihrem erfolgreichen Wirken gewidmet. In der Tat müssen wir zur Kenntnis nehmen: Wir wählen heute weniger das Parlament als die Parlamentsmehrheit, die dann die Regierung bildet. Der ganze Wahlkampf ist immer auf die Entscheidung angelegt, wer wird regieren. Sie haben eingangs gesagt, und da stimme ich nachdrücklich zu, das Wahlrecht ist eine Wettbewerbsordnung. Wenn ich dieses Bild aufnehmen darf, stelle ich mir einen sportlichen Wettbewerb, einen Ruderwettbewerb, vor. In diesem rudert ein Boot, das ist schwarz-gelb angestrichen, das Boot Nr. 2 ist rot-grün angestrichen, 5 weitere sind im Rennen. Und
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jetzt gewinnt Boot 1 ganz knapp vor Boot 2. Und in jedem Boot sitzen zwei Ruderer, vorne ein Großer und hinten ein Kleiner. Und jetzt erklärt die Rennleitung die beiden Großen aus Boot 1 und Boot 2, Große Koalition, zum Sieger. Da würden doch die Sportler sagen: „Das ist völlig abwegig, die waren doch gar nicht im Rennen, die sind doch zum Wettbewerb gar nicht angetreten.“ Ich glaube, wenn wir ein bisschen – und dies ist ja ein Erneuerungsseminar, wenn ich das so sagen darf – ein bisschen weit in die Zukunft vorausschauen, müssen wir wegen der Unmittelbarkeit der Wahl darüber nachdenken, ob nicht die Wahlalternative gegenüber dem Wähler vor der Wahl so fixiert werden muss, dass er weiß, welche Koalition er wählt. Die Parteien müssen vorher sagen, ich koaliere mit Grün oder mit Gelb oder mit Schwarz oder mit Rot, damit der Wähler tatsächlich weiß, was nach der Wahl geschieht. Gegenwärtig wählen wir weniger das Parlament und die Regierung, sondern wir geben der Partei mit den meisten Stimmen eine Verhandlungsermächtigung. Und diese sagt am Wahlabend: „Das Wahlergebnis ist offen, ich verhandele in drei Richtungen. In drei Wochen sage ich dem staunenden Wähler, wer gewonnen hat.“ Dieses Verfahren berührt die Unmittelbarkeit der Wahl – grundsätzlich der Abgeordneten, vom Gedanken her aber auch der in diesem angelegten Regierungsbildung –, ohne Zwischenschaltung von weiteren Entscheidungsträgern. Ich will hier nur auf ein Problem aufmerksam machen. Ich glaube, hier liegen die Schwerpunkte unseres Wahlsystems und demgegenüber ist die Frage des Überhangmandats weiterhin von Interesse, aber nicht fundamental. Art. 38 sagt, der Wähler entscheidet unmittelbar durch das Kreuzchen, allein durch das Kreuzchen steht fest, wer die politische Macht hat. Die Rennleitung ist der Sprecher der Partei, übrigens mit starker Funktion der Bundespartei. Wenn Sie auf die realen Mächtigkeiten schauen, wollen wir die Bundespartei nicht vernachlässigen. Die haben schon noch das Sagen. Die Bundespartei, der Sprecher der Bundespartei, geht in die Verhandlungen. Und nach seinem Verhandlungsergebnis sagt er nachher, wer gewählt ist. Das ist nicht das, was wir traditionell mit der Unmittelbarkeit meinen. Hier müssen wir neu denken. Diese Frage erscheint mir strukturell dringlicher als die des Überhangmandats. Hans Meyer: Herr Kirchhof, ich möchte darauf hinweisen, dass in Art. 38 steht, dass die Abgeordneten unmittelbar gewählt werden und nicht die Regierung unmittelbar gewählt wird. Es sind keine Aufträge für Regierungsbildungen mit der Wahl verbunden, sondern nur Hoffnungen oder Erwartungen. Jeder weiß, dass das Parlament eine Regierung zu bilden hat. Also versucht man, möglichst viele Anteile an Abgeordneten zu bekommen, damit man bei der Regierungsbildung eine Chance hat. Das ist ganz natürlich im parlamentarischen Regierungssystem. Der zweite Punkt ist: Diese Persönlichkeitswahl ist wirklich dummes Zeug,
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denn mindestens 50 %, wenn nicht sogar 60 oder 70 % der splitternden Wähler haben keine Ahnung, zwischen wem sie sich entschieden haben. Wenn ein FDP-Wähler in Baden-Württemberg mit der Erststimme CDU wählt, was sehr rational ist aus seiner Sicht, dann wirft er den letzten CDU-Mann von der Liste runter, wenn keine Überhangmandate da sind. Der wäre nämlich reingekommen, wenn sein Erstkandidat nicht durchgekommen wäre. Das heißt, er entscheidet sich zwischen zwei Leuten, von denen er den einen gar nicht kennt. Das nenne ich nicht Persönlichkeitswahl. Es gibt jetzt einen wunderbaren Aufsatz von einer Frau Lenski aus München, die ich persönlich nicht kenne, in dem sie die innere Widersprüchlichkeit unseres personalisierten Systems wirklich darstellt. Damit hängt zusammen, dass alle Personen in der Liste abgesichert sind, die in den Wahlkreisen kandidieren. Das bedeutet, dass die sowieso gewählt werden, jedenfalls die wichtigeren von denen. Unser System ist im Grunde verrückt. Das damals war ein Kompromiss. Der einzige Vorteil unseres Systems besteht darin, dass die Hälfte der Abgeordneten durch lokale Parteiorganisationen bestimmt werden, während die andere durch die Landesführungen oder durch die Versammlungen, die die Landesparteien machen müssen, bestimmt werden. Dies halte ich wichtig und würde es auch beibehalten: Wenn Sie Persönlichkeitswahlen haben wollen, dann müssen Sie für offene Listen votieren. Ich bin nicht dagegen. Aber ich sehe keinerlei Chancen, dass die Parteien darauf eingehen werden. Denn die Oligarchie der Parteien hat natürlich das vernünftige Bedürfnis, die personellen Dinge in der Hand zu behalten und nicht irgendwelche Leute zu bekommen, die es ihnen unmöglich machen, als geschlossene Fraktion aufzutreten. Ich gehöre dem offenen System an, sehe aber keine Chance, das durchzusetzen. Karl-Peter Sommermann: Auf der Rednerliste stehen noch fünf Personen: Herr Decker, Herr Magiera, Herr Battis, Herr Wieland und Frau Lübbe-Wolff. Damit möchte ich die Liste schließen. Vielleicht können wir diesmal die Redebeiträge sammeln, wenn Sie einverstanden sind. Also zunächst Herr Decker, bitte. Frank Decker: Danke sehr. Es wäre reizvoll, aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers zum Problem der Regierungswahl etwas zu sagen, weil ja unterschiedliche Demokratiemodelle im selben Kontext der parlamentarischen Regierungsform dahinterstehen. In der Politikwissenschaft firmieren diese unter den Bezeichnungen Mehrheits- oder Konsensdemokratien. Aber das würde zu weit führen. Ich möchte zwei andere Hinweise geben. Sie haben, Herr Meyer, völlig zu Recht auf die Diskussion in Richtung Verhältniswahl in Großbritannien hingewiesen. Es gibt aber auch Länder mit der umgekehrten Debatte, zum Beispiel Öster-
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reich. Was die Erwägung des Mehrheitswahlsystems als Alternative angeht, ist man hier weiter gediehen als in der Bundesrepublik. Der zweite Hinweis bezieht sich auf ein im Grunde simples Argument gegen einen solchen Systemwechsel, das merkwürdigerweise in der Literatur kaum auftaucht. Das ist der Föderalismus bzw. genauer: die föderative Mitregierung über den Bundesrat. Wenn die Einführung des Mehrheitswahlsystems auf Bundesebene die kleineren Parteien dezimieren würde, hätte das natürlich auch Konsequenzen für die Länder. Diese würden die Wahlrechtsreform mit hoher Wahrscheinlichkeit nachvollziehen. Wir haben ja bereits heute eine weitgehende Homogenität der Wahlsysteme in Bund und Ländern mit entsprechenden Folgen für die Zusammensetzung des Bundesrates. Am Charakter der Landtagswahlen als bundespolitische Zwischenwahlen würde eine Wahlrechtsreform nichts ändern. Das Ergebnis wären einfarbige Regierungen und mithin ein parteipolitisch anders zusammengesetzter Bundesrat. Das Problem der doppelten Mehrheiten, das heute durch die vielfältigen Koalitionen in den Ländern zumindest abgemildert wird, würde sich dadurch dramatisch verschärfen. Erforderlich wäre im Grunde eine sehr viel grundlegendere Reform des Regierungssystems, für die es aber keine Anknüpfungspunkte gibt, nachdem bereits die Föderalismusreform gescheitert ist. Karl-Peter Sommermann: Danke schön Herr Decker. Herr Magiera bitte. Siegfried Magiera: Vielen Dank. Ich möchte etwas zu der Vorphase sagen – bevor man zum Wahlsystem kommt und dazu Versuche einer Verbesserung überlegt. Herr Meyer, es war sehr instruktiv, jedenfalls für mich, nähere Einzelheiten zu externen und internen Überhangmandaten sowie zu weiteren bedeutsamen Feinheiten des bestehenden Wahlsystems zu erfahren, insbesondere dazu, dass man u. U. mit 200.000 mehr Stimmen drei Kandidaten oder Abgeordnete weniger in das Parlament entsendet. Wir müssten darüber hinaus jedoch auch noch einmal näher auf die Grundlagen und Grundprinzipien der in den allmählich gewachsenen Demokratien bekannten und bewährten Hauptsysteme schauen, das heißt die Mehrheits- und die Verhältniswahl. Sowohl für den anglo-amerikanischen wie für unseren kontinentaleuropäischen Rechtskreis scheint mir festzustehen, dass eine Demokratie, wie wir sie verstehen, nicht ohne politische Parteien auskommt. In den Vereinigten Staaten von Amerika sind die Parteiorganisationen vielleicht nicht so stark ausgeprägt und unmittelbar einflussreich wie bei uns. Dennoch orientieren sich die Wähler auch dort bei ihrer Stimmabgabe nahezu ausschließlich an den beiden großen Parteien, zu denen sich die erfolgreichen Kandidaten bekennen. Damit spielen die politischen Parteien in beiden Systemen eine wichtige und bei den Wahlen offenbar eine unentbehrliche Rolle. Die Wahl beginnt jedoch nicht erst am Wahltag und findet auch nicht ausschließlich
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in der Wahlkabine statt. Deshalb genügt es für eine Verbesserung der Wählerbeteiligung und für eine stärkere Einbindung der Wähler in den demokratischen Prozess nicht, den Wählern erst bei der Wahlentscheidung zusätzliche Einflussnahmen auf die Bestimmung der Kandidaten einzuräumen, etwa dadurch, dass sie an den Parteilisten durch Streichen, Umstellen oder auch Hinzufügen von Kandidatennamen Änderungen vornehmen können. Ein solches Verfahren ist von Zufälligkeiten geprägt und vielleicht in überschaubaren Wahlkreisen auf kommunaler Ebene hilfreich, jedoch nicht für eine repräsentative Volksvertretung auf staatlicher oder gar europäischer Ebene geeignet. Der Zeitpunkt der Stimmabgabe bei der Wahl ist dafür zu spät. Er muss insoweit vorverlagert werden. Dies ist nichts grundsätzlich Neues, aber es sind, worauf auch Herr Kirchhof hingewiesen hat, innovative Verfahrensmechanismen zu überlegen. Wir müssen versuchen, die Menschen, die politisch interessiert sind, allgemein für eine Mitwirkung in den politischen Parteien zu gewinnen, und vor allem die innerparteiliche Demokratie so zu stärken, dass sich die Wähler schon entscheidend an der Kandidatenaufstellung beteiligen können. Dies ist insbesondere dann von herausragender Bedeutung, wenn es sich um „sichere“ Wahlkreise einer Partei handelt. Herr von Arnim hat das in seinen Arbeiten verschiedentlich ebenfalls hervorgehoben. Ein solcher Schritt, wie er sich in den Vereinigten Staaten seit langem grundsätzlich bewährt hat, wäre für Deutschland noch recht ungewöhnlich. Bei Beachtung der unterschiedlichen Grundvoraussetzungen der jeweiligen Wahlsysteme schiene er jedoch geeignet, der allgemein beklagten Parteien- und Politikverdrossenheit pragmatisch zu begegnen. Ich halte ihn jedenfalls für erheblich erfolgversprechender als die Möglichkeit, Kandidatenlisten der verschiedenen Parteien in der Wahlkabine zu verändern, eine Möglichkeit, die auch nicht ausgeschlossen werden müsste. Doch sollte zuvor genauer festgestellt werden, wie viele Wähler und aus welchen Gründen nach bisheriger Erfahrung tatsächlich davon Gebrauch machen. Karl-Peter Sommermann: Danke schön. Herr Battis bitte. Ulrich Battis: Wir dürfen an einem Symposium zu Ehren von Herrn von Arnim teilnehmen. Gleichwohl wage ich es, auch auf die Gefahr hin, heute Abend von der Tafel gewiesen zu werden, wider den Stachel zu löcken. Ich möchte jetzt wirklich einmal Herrn Merten zustimmen. Was wir jetzt erleben, das ist überhaupt – das kommt selten vor – eine Debatte, die hat mit der Verfassung und mit den Fragen, um die es geht, wenig zu tun. Ganz wenig. Wir reden vom Wahlkampf und Erscheinungsformen des Wahlkampfs, die im Wesentlichen über Medien transportiert werden, die Moden aus den USA oder auch aus anderen Ländern übertragen, die sicherlich zum politischen Kampf dazugehören. Aber ich dachte, wir
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reden hier über die Ausgestaltung des Wahlrechts und über Art. 38. Da steht nichts von der Bestimmung der Regierung. Da steht auch nichts von einem Präsidialsystem. Auch wenn wir Anklänge an ein solches Präsidialsystem haben, kann man das doch nicht alles durcheinandermengen. Es tut mir schrecklich leid, das finde ich nun wirklich völlig unspezifisch. Damit es kurz und scharf ist: Herr Meyer, wissen Sie, Sie haben vor vielen, vielen Jahren nun schon Ihre Habil.-Schrift geschrieben zu Wahlfragen. Sie haben dann auch bei den Staatsrechtslehrern bald darauf darüber gesprochen, und jetzt haben Sie wieder ein flammendes Plädoyer für die Verhältniswahl gehalten. Ihre Argumentation ist noch besser geworden, aber überzeugend ist sie nicht. Das kann man so machen und man es kann es genauso gut auch anders machen. Dazu sagt die Verfassung nichts, ob wir das eine Wahlsystem haben müssen oder das andere. Eine ganz kleine letzte Bemerkung, weil Sie sagen, Sie kennen nicht Frau Lenski: Sie sollten sie kennen. Sie hat an unserer Fakultät promoviert und ist eine kluge und ansehnliche Person. Das ist noch nicht sexistisch. Und ist jetzt mit Herrn Kersten nach München gegangen. Joachim Wieland: Wenn ich hier höre, dass eine Reform des Wahlrechts ansteht, dann fehlt mir in der Diskussion etwas, was man im Moment in Nordrhein-Westfalen beobachten kann. Zum ersten Mal verändern sich die Wahlen unter dem Fortschritt der Technik. Das Internet macht sich hier stark bemerkbar. Und wenn hier diskutiert wird, dass eine Personalisierung der Wahl, also eine Persönlichkeitswahl, die stärker auf den Kandidaten abstellt, fraglich sei, wenn man die technische Entwicklung verfolgt, dann wird in den nächsten Jahren die Folge sein, dass mehr und mehr auf die Persönlichkeit abgestellt werden kann. Denn die Zeitungen haben nur begrenzt Platz und das Internet ist unendlich. Da werden sich Persönlichkeiten wesentlich stärker in den Vordergrund bringen können. Karl-Peter Sommermann: Danke schön. Bitte Frau Lübbe-Wolff. Gertrude Lübbe-Wolff: Das passt ja gut. Ich glaube, dass wir tatsächlich in der ganzen Diskussion die rechtspolitischen und die verfassungsrechtlichen Fragen nicht immer genau genug auseinander gehalten haben. Ich denke, das Mehrheits- und das Verhältniswahlrecht haben beide – davon ist ja jetzt hier viel die Rede gewesen – ihre spezifischen Vor- und Nachteile. Die sind auch nicht durch irgendeine geschickte Kombination beider Systeme völlig störungsfrei aufzulösen. Und ich muss sagen, ich bin ganz froh, dass wir in Karlsruhe über die Frage, was hier verfassungsrechtlich geboten oder nicht geboten ist, nicht nach solchen Kriteri-
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en entscheiden müssen wie: Waren wir oder waren die Engländer in den letzten 60 Jahre besser regiert? Ich denke, das Argument mit der Gleichheit ist ein Stück weit petitio principii, wenn es gerade um die Frage geht, welche Art von Gleichheit hier gemeint ist und ob es wirklich unter allen Umständen auch auf die Erfolgswertgleichheit ankommt. Ich habe mich gefragt, wie gehen Sie denn mit dem positiven Argument um, dass die Verfassung zwar etwas über die Gleichheit des Wahlrechts sagt, von der aber eben unklar ist, was sie eigentlich bedeutet, aber die Frage, welches Wahlsystem wir haben sollen, offen lässt, und zwar ganz bewusst in der Absicht, dies der politischen Entscheidung zu überlassen. Und bei der Komplexität der Erwägungen, die für diese Beurteilung eine Rolle spielen – das haben wir ja gerade gehört –, ist es möglicherweise auch tatsächlich eine weise Entscheidung gewesen, dies offen zu lassen. Wie gesagt, ich bin persönlich eher Anhänger des Verhältnis- als des Mehrheitswahlsystems, unter anderem im Hinblick auf die Integrationswirkung des Wahlrechts. Von deren Erwähnung in der Rechtsprechung haben Sie etwas despektierlich gesprochen. Ich glaube aber, das ist ein Gesichtspunkt, den man ernst nehmen muss: Wie spielt das Wahlrecht die Rolle der von Luhmann so genannten Legitimation durch Verfahren, also der Einbindung von Opposition durch eine faire Aussicht, künftig mitgestalten zu können? Auch die Responsivität auf Veränderungen ist sicher größer im Verhältniswahlsystem, und das scheint mir eine ganz wesentliche demokratische Qualität. Aus solchen Gründen bin ich, trotz der Probleme, die mit diesem System auch zusammenhängen, politisch Anhänger des Verhältniswahlsystems, aber ich meine, man muss doch einen Unterschied machen zwischen dem, was man sich politisch so vorstellt und dem, was man als positiv-rechtliche Aussage der Verfassung entnehmen kann. Karl-Peter Sommermann: Vielen Dank. Das Schlusswort steht Herrn Meyer zu. Hans Meyer: Ich habe versucht zu skizzieren. Herr Decker, wir stimmen weitgehend überein. Ich würde nur etwas Kritisches sagen im Hinblick auf Ihre Erwartung, die Länder würden nachziehen. Die Länder werden nicht nachziehen. Ein Teil der Länder könnte nur nachziehen, indem sie die Verfassung ändern. Dazu werden Sie keine Mehrheit finden. Wie sollten denn die kleinen Parteien dafür stimmen? Das ist undenkbar. Zu Recht haben Sie das Problem des Bundesrats angesprochen. Es ist ein Sonderproblem, das unser Regierungssystem außerordentlich belastet. Die Bundesrats- statt der Senatslösung war ein ganz grober Fehler, wie sich jetzt herausstellt. Die Bundesratslösung basierte auf der Idee, dass damals die Landesregierungen deswegen im Bundesrat mitwirken sollten – es wurde übrigens die Gefahr gesehen, dass der Bundesrat nur einen Bundesrat der Oberregierungsräte werden würde –, damit die Länder ihr natürliches Interesse
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an der Ausführung der Bundesgesetze einbringen konnten. Die Bundesgesetze sollten für eine ordnungsgemäße Verwaltung tauglich sein. Das war die ursprüngliche Idee. Erst seit dem Anfang der 70er Jahre ist der Bundesrat zu einem politischen Gegeninstrument geworden. Das führt zu einer Instabilität unserer Gesamtpolitik und zur Möglichkeit des absoluten Stopps von Bundespolitik durch eine gegenläufige Bundesratsmehrheit. Hier haben wir in meinen Augen ein größeres Problem als beim Wahlrecht. Das müsste geändert werden. Wenn die jetzige Regierung zum ersten Mal Einschnitte macht, werden die Landtagswahlen reihum gegen sie ausgehen. Und dann wird die Bundestagsmehrheit bald merken, wir können gar nicht mehr regieren. Wir können auch keine weiteren Wohltaten verteilen. Darüber ist sich, glaube ich, mittlerweile die Politik klar, wenn sie auch nicht nach außen hin so spricht. Jede Regierung steht unter einem außerordentlichen Druck, die nächste Wahl noch zu gewinnen. Und wenn das nicht mehr möglich ist, weil der Bundesrat sie stoppt, dann wird überhaupt keine Politik mehr stattfinden, und dann wird man irgendwann gezwungen sein, das System zu ändern. Daher halte ich die Chancen ihrer Erwartungen, dass die Länder nachziehen, für gleich Null. Die Mehrheitswahl nur im Bund einzuführen, würde zu einer großen politischen Inhomogenität in Deutschland führen, weil die kleinen Parteien kraft ihrer Koalitionsvereinbarungen einerseits Sperrminoritäten für den Bundesrat aufbauen werden, andererseits im Bund gar kein Mitspracherecht haben. Wo sollen denn die notwendigen Kompromisse herkommen, die verlangt sind? Ich glaube, dass Ihre Erwartungen, dass die Länder nachziehen werden, sich nicht erfüllen werden. Herr Magiera hat auf die USA verwiesen. Ich habe den stillen Verdacht, Herr Magiera, dass präsidentielle Regierungssysteme automatisch eine Schwächung der politischen Parteien herbeiführen. Die Parteien bleiben als Wahlorganisationsmaschinen notwendig, aber im Grunde findet kein innerparteiliches demokratisches Leben statt, die Kommunikation mit dem Volk geht über die Presse. Wenn Sie auf ein weiteres präsidentielles System sehen, nämlich Frankreich, dann sehen Sie, dass auch dort die Parteien einen relativ schwachen Einfluss haben. Bei all unserem Soupçon gegenüber Parteien, den wir gelegentlich haben: Ohne die Parteien würden wir ein ganz anderes System haben, und ich bin sogar sicher, dass wir ein sehr viel stärker klientelbesetztes System hätten, denn die Abgeordneten, die nur im Wahlkreis gewählt werden, haben natürlich ein hohes Interesse daran, Vorteile für diesen Wahlkreis herauszuholen. Wenn man sieht, wie in Amerika die Mehrheiten gekauft werden müssen, damit die Mehrheit, die eigentlich parteipolitisch vorhanden ist, überhaupt steht, ist der Unterschied zu unserem System sehr deutlich. Bei uns gibt es auch Ausnahmen, das haben wir gesehen, aber eine so direkte Verbindung zum System besteht nicht. Das präsidentielle Regierungssystem ist jedenfalls weitaus kritischer zu betrachten, als wir das gemeinhin tun, weil Amerika eben eine Weltmacht ist.
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Herr Battis, mit dem So oder So kann ich mich nicht anfreunden. Die Verfassung sagt, sie hat bestimmte Anforderungen und diese Anforderungen sind in den Wahlgrundsätzen festgelegt. Sie sagt nichts über das Wahlsystem. Ob wir Landeslisten haben, ob wir Bundeslisten haben, ob wir die Technik der Mehrheitswahl, wie wir es gemacht haben, einbinden in das Verhältniswahlsystem, das ist nicht entschieden. Das ist alles erlaubt, aber man muss die Wahlgleichheit in allen Beziehungen – und das hat das Verfassungsgericht ja weit ausgelegt – beachten. Und wenn man das durch eine bestimmte Gestaltung nicht beachten kann, dann ist diese Gestaltung eben verfassungswidrig oder eben nicht erlaubt, um es einmal etwas einfacher auszudrücken. Herr Wieland hat völlig recht, das Internet wird sehr viel verändern, auch verändern, was die Parteipartizipation, auch innerhalb der Partei, ausmachen wird. Die Folgen können wir noch nicht abschätzen. Ob es aber auch einen Einfluss hat auf die Frage, was ein vernünftiges Wahlsystem ist, da bin ich unsicher, weil ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht habe. Da will ich lieber schweigen. Frau Lübbe-Wolff, wir haben keine Kombination von Mehrheitswahl- und Verhältniswahl, sondern wir haben eine Kombination von Verhältniswahl und der Technik der Mehrheitswahl. Das ist etwas ganz anderes. Die Mehrheitswahl als Rechtsidee ist, nur in Wahlkreisen je eine Person zu wählen und damit möglichst die absolute Mehrheit einer Partei im Parlament zu garantieren, damit die Regierung ordentlich regieren kann. Dass selbst satte Mehrheiten ein ordentliches Regieren nicht garantieren, das ist eine andere Frage, und das habe ich an dem englischen Beispiel versucht aufzuzeigen. Es war nur gerichtet gegen diejenigen Politikwissenschaftler, die unerbittlich das Mehrheitswahlrecht vertreten und immer sagen, damit könnte besser regiert werden und nie fragen, wurde denn England eigentlich besser regiert als wir. Es ist wirklich nicht besser regiert worden. Und zuletzt – ich weiß gar nicht, wer das war: Wenn wir auf ein Mehrheitswahlrecht umschalten würden, dann würden nach dem derzeitigen Stand der politischen Lage die Bayern ausschließlich von CSU-Abgeordneten vertreten werden. Das ganze große Land würde nur von CSU-Abgeordneten vertreten werden. Die würden 40 % der Wähler repräsentieren. Was sollen denn die anderen 60 % sagen? Das wird doch kein Mensch tolerieren, das kann man auch nicht tolerieren. Man muss eben sehen, was die Einführung der Mehrheitswahl für Konsequenzen hat. Das bedeutet automatisch, die Wahlkreise zu verdoppeln, die Hälfte aus den Wahlkreisen herauszuschneiden. Alle, die sich mühsam einen Wahlkreis erobert haben und ihn vielleicht schon zehn Jahre lang beackert haben, die müssen sich jetzt auf einen Teil zurückziehen, der für sie vielleicht ungünstiger ist. Daher wird der Widerstand innerhalb des Parlaments, unabhängig von den Fraktionen, zu groß sein. Man sollte, wenn man schon etwas Neues überlegt, etwas machen, von dem man erhoffen kann, dass es bei einer gewissen Vernunft der Beteiligten Erfolg haben könnte. Das wäre aber weder
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beim Mehrheitswahlsystem noch auch bei einem Grabenwahlsystem der Fall. Danke schön. Karl-Peter Sommermann: Ganz herzlichen Dank, Herr Meyer. Ich denke, es ist klar geworden, dass unser derzeitiges Wahlrecht sehr intransparent ist. Wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2008 zeigt, ist es bereits eine große Leistung, das Wahlrecht und das Zustandekommens negativer Stimmgewichte verständlich zu erklären. Intransparenz des Wahlrechts wirft aber rechtsstaatliche Fragen auf. Auch dies ist in Ihrer Analyse, Herr Meyer, und in der Diskussion deutlich geworden. Dafür Ihnen und den Diskutanten herzlichen Dank. Wir haben jetzt eine Mittagspause, die wir pünktlich um 14.00 Uhr, beenden sollten. Vielen Dank! Joachim Wieland: Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie sind jetzt bereit für die zweite Hälfte der Veranstaltung. Die Diskussionen werden nicht weniger intensiv sein als heute Morgen. Wir kommen zur direkten Demokratie. Herr Privatdozent Dr. Jung von der Freien Universität wird referieren über die Frage „Direkte Demokratie als Gegengewicht gegen Kartelle der herrschenden Klasse“.
Direkte Demokratie als Gegengewicht gegen Kartelle der herrschenden Klasse? Von Otmar Jung
Die Formulierung meines Themas stammt wortwörtlich von Herrn von Arnim; ich habe lediglich seine Zwischenüberschrift1 mit einem Fragezeichen versehen. Für ein Kolloquium anlässlich seines 70. Geburtstags erscheint mir diese Reverenz durchaus angemessen. Es geht also um Gedanken und Argumentationen, zu denen der Jubilar viel gearbeitet hat2 und bei denen wir ihm viel verdanken. Gleichwohl hoffe ich natürlich, mit meinen Darlegungen – vor allem bei den praktischen Konsequenzen – noch etwas weiterführen zu können.
I. Ein besonderes Verfahren bei bestimmten Gesetzen Sie alle kennen die Situation: Während im allgemeinen politische Ideen lange diskutiert und schließlich in die verschiedensten Gesetzentwürfe gegossen werden, taucht plötzlich – unversehens für die Öffentlichkeit – eine AllparteienVorlage auf, die offenbar vertraulich ausgearbeitet wurde. Andere Vorlagen geraten dann in einen breiten und etwas gemächlichen parlamentarischen Betrieb – hier dagegen wird das gesetzgeberische Prozedere auf das nach der Geschäftsordnung gerade noch zulässige Minimum komprimiert und auch dieses in Eile absolviert.3 Und alldieweil sonst die Materie des langen und des breiten im ___________ 1
Vgl. Hans Herbert von Arnim/Regina Heiny/Stefan Ittner, Politik zwischen Norm und Wirklichkeit. Systemmängel im deutschen Parteienstaat aus demokratietheoretischer Perspektive, FÖV Discussion Paper Nr. 35, Speyer, Oktober 2006, S. 65. 2 Natürlich ist es nicht sinnvoll, hier sämtliche einschlägigen Äußerungen in Herrn von Arnims Oeuvre nachzuweisen. Außer den jüngsten Texten soll jedoch gelegentlich auf schon etwas zurückliegende Arbeiten verwiesen werden, um die Kontinuität der Beschäftigung des Jubilars mit den Problemen zu zeigen. – Dass er dabei auch künftig nicht zu ruhen gedenkt, zeigt der Vortrag, den er für die 12. Speyerer Demokratietagung im Oktober 2010 über „Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft“ angekündigt hat: „Entscheidung des Parlaments in eigener Sache: eine Form der Korruption?“ 3 Siehe das Beispiel bei Hans Herbert von Arnim, Die Deutschlandakte. Was Politiker und Wirtschaftsbosse unserem Land antun, München 2008, mit dem Resümee: „So
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Parlament erörtert wird, erlebt man nun eine stilisierte Debatte (nur je ein Fraktionsredner, knappe vereinbarte Redezeit, gestanzte Argumente, die den Kern der Sache vermeiden), wenn sie nicht gar einfach ausfällt, weil sich – auch kein Zufall – kein Abgeordneter zu Wort meldet. Einzelne Elemente des gerade skizzierten Verfahrens kommen auch sonst im parlamentarischen Leben vor: das hohe Tempo etwa bei Anti-Terror-Gesetzen oder die stilisierte Debatte bei der Ratifizierung der Europäischen Verfassung.4 Aber wenn alle diese Elemente kombiniert auftauchen, kann man ziemlich sicher sein: Hier entscheidet das Parlament in eigener Sache.5 Das klassische Beispiel ist eine Diätenerhöhung.6
II. Typisch für Entscheidungen in eigener Sache Gerade Herr von Arnim hat freilich gegen die Gefahr einer Engführung betont: Es geht um weit mehr als die Bezahlung der Abgeordneten.7 Entscheidun___________ rasch ist schon lange kein Gesetz mehr durchgezogen worden.“ (S. 141); vgl. „Blitzgesetzgebung“ (S. 144). 4 Vgl. Otmar Jung, Ja zum bundesweiten Volksentscheid in Deutschland, in: Gerhard Hirscher/Roman Huber (Hrsg.), Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte Demokratie in der Diskussion, München 2006 (Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 46), S. 15–23 (17 f.). 5 Dieser Problemkreis ist mit der Habilitationsschrift (Frühjahr 2003) von Heinrich Lang, Gesetzgebung in eigener Sache. Eine rechtstheoretische und rechtssystematische Untersuchung zum Spannungsverhältnis von Distanzgebot und Eigennutz, Tübingen 2007 (Jus Publicum. Beträge zum Öffentlichen Recht, Band 159), und der Dissertation (Wintersemester 2005/06) von Thilo Streit, Entscheidung in eigener Sache, Berlin 2006 (Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1037) – beide unabhängig voneinander entstanden – gut erforscht, wenngleich die verfassungsrechtlichen Analysen beider Autoren deutlich stärker sind als ihre verfassungspolitischen Vorschläge zur Abhilfe. – Die vorliegende Darstellung folgt, dem Anlass ihrer Entstehung entsprechend, wesentlich von Arnims Gedanken und Argumentationen. Die Eigeninteressen der politischen Klasse einschließlich der Kartellierungstendenzen behandelte von Arnim, damals noch vor dem Hintergrund der Probleme des Föderalismus, in: Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung – am Volk vorbei, München 2000, S. 34–40, 144–153. Zum „Entscheiden der Politik in eigener Sache“ vgl. Hans Herbert von Arnim, Das System. Die Machenschaften der Macht, München 2001, S. 75–80. 6 Vgl. von Arnim, Deutschlandakte, S. 144: „Der Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens war typisch für Entscheidungen des Parlaments über Diäten. Sie erfolgen überfallartig, unter Camouflage der Problempunkte, mit vorgeschützten Gründen und weitgehend einhellig.“ 7 Vgl. von Arnim, Deutschlandakte, S. 38, ferner S. 27, 79 f.; von Arnim/Heiny/Ittner, S. 56 ff., 66 f., 76. – So auch Lang, der sich auf das staatliche Abgeordnetenfinanzierungsrecht dann nur als Referenzbeispiel konzentriert.
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gen des Parlaments in eigener Sache sind – und werden damit typischerweise getroffen in dem skizzierten besonderen Verfahren – x alle Entscheidungen zum Machterwerb (zum Beispiel das Wahlrecht),8 x alle Entscheidungen zum Machterhalt (zum Beispiel das Parteienrecht, aber auch einschlägige Regelungen der Verfassung, etwa zur Dauer einer Legislaturperiode oder zur Größe des Parlaments), und x alle Entscheidungen zum Machtgenuss – dieser Begriff stammt nicht von Herrn von Arnim –, also zu Status, Diäten, Versorgung.
III. Exkurs: Zur Problemgeschichte Hier ist ein kleiner Exkurs zur Theorie und Geschichte des Problems sinnvoll. Dass Abgeordnete von ihren Entscheidungen (in der Regel) mit betroffen sind (Steuerrecht, Familienrecht, anders: Hartz IV-Sätze), kann hingenommen werden. Man sollte weder bei der Problematisierung noch bei Lösungen puristisch sein. Man kann es sogar umgekehrt als nützlich ansehen, wenn Volksvertreter die praktischen Folgen ihrer parlamentarischen Entscheidungen sozusagen „am eigenen Leibe“ verspüren. Diese Verbindung mit der Realität, in der ihre Mitbürger leben, beugt gut dem politischen „Abheben“ vor. „Entscheidungen in eigener Sache“ meint demgegenüber Entscheidungen, die nur bzw. unmittelbar das Parlament bzw. die Abgeordneten betreffen,9 und wenn man keinen Plattheiten folgt wie: „Was gut ist für das Parlament (oder gar: die Parlamentarier), ist gut für Deutschland/das Gemeinwesen“ („Was gut ist für General Motors, ist auch gut für Amerika“), wird die Frage nach der Befangenheit der Entscheider durchaus relevant. Solche Entscheidungen in eigener Sache trafen Parlamente schon immer. Aber das Problem hat sich verschärft seit der Entstehung einer politischen Klasse10 mit klaren Eigeninteressen, eben der Vollzeitparlamentarier (jedenfalls dem ___________ 8 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, in: JZ 64 (2009), S. 813–820 (814 f.); ders., Mehrheitswahl und Partizipation, in: Gerd Strohmeier (Hrsg.), Wahlsystemreform (= ZPol 19 (2009), Sonderheft), S. 183–211 (191 f.). 9 Vgl. Lang, S. 515 f.; Streits (S. 15, Fn. 8) Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer solchen begrifflich-scharfen Erfassung, ganz zu schweigen von seiner „Gänsefüßchen“-Lösung, überzeugt nicht. 10 Man kann deren Entstehung freilich auch positiv sehen, wenn man sie mit der älteren (Sozial-)Klassenstruktur vergleicht, so Joachim Lege, Drei Versuche über Demokratie – unter besonderer Berücksichtigung der Idee des Wettbewerbs, in: JZ 64 (2009), S. 756–762 (759): „Es ist geradezu notwendig, dass es eine politische Klasse gibt, damit
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Leitbild nach). Repräsentation meint jetzt nicht mehr nur kein Spiegelbild – im strengen Sinne gab es das ohnehin nie –, sondern sie wird realisiert durch eine relativ homogene Berufsgruppe von Politikmanagern mit spezifischen beruflichen Interessen: x gutes laufendes Einkommen („Vollalimentation“), x möglichst lange „Job-Garantie“ (= Legislaturperiode), x möglichst freie Berufsausübung – wenig Kontrolle und Rechenschaftspflicht, x gute Chancen für Wiederwahl – Minimierung der Abwahl-Risiken, x gute Versorgung bei Ausscheiden. Diese Interessen gelten für Abgeordnete aller Parteien. Auch Regierungsund Oppositionsparteien unterscheiden sich da nicht.11 Es sind dies – das sei betont, um nicht falsche Maßstäbe anzulegen – normale berufliche Interessen. Viele Menschen genießen genau diese Sicherungen als Beamte; in die grundsätzlich gleiche Richtung gehen gewerkschaftliche Bestrebungen von Unkündbarkeit bis Besitzstandswahrung. Es gilt also genau ins Auge zu fassen, warum wir als selbstverständlich hinnehmen, dass etwa Lehrer bis zum Erreichen der Altersgrenze auf ihrem festen Arbeitsplatz Kinder unterrichten – erlassen Sie mir weitere Beispiele –, während dem Parlamentarismus durch das Institut der periodischen Wahl eine Dynamik eingebaut ist, deren Folgen für den einzelnen Abgeordneten gewiss gemildert werden dürfen, die aber grundsätzlich nicht für die Abgeordneten insgesamt überspielt und außer Kraft gesetzt werden darf.
IV. Keine moralische, sondern eine strukturelle Erklärung Wenn das Parlament für jene Entscheidungen in eigener Sache ein besonderes Verfahren einschlägt, ist es wichtig, dies nicht subjektiv-moralisch, sondern objektiv-strukturell zu erklären.12 Es geht nicht um menschliche Schwächen einzelner Akteure – die es durchaus geben mag. ___________ ein Aufstieg aus den unteren sozialen Klassen – und damit deren Repräsentation im Parlament – möglich ist.“ (Hervorhebung i. O.). 11 Vgl. von Arnim, Deutschlandakte, S. 30; von Arnim/Heiny/Ittner, S. 21 f., 30 f. 12 Vgl. Lang, S. 519: „Die überwiegend verfassungswidrigen Ergebnisse der parlamentarischen ‚Entscheidung in eigener Sache‘ sind nicht das Ergebnis einer Selbstbedienungsmentalität der Abgeordneten, sondern einer Selbstbedienungskonstellation.“ (Hervorhebung i. O.)
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Den Abgeordneten ist in diesen Fällen natürlich bewusst, dass sie in eigener Sache entscheiden und damit nach normalen Maßstäben befangen sind. Sie hören und lesen den Vorwurf der „Selbstbedienung“ und wissen auch, dass ihr besonderes Verhalten ein „Geschmäckle“ hat und dass man es bedenklich, ja ungehörig und sogar unanständig finden mag. Ihr zunächst eigentümlich anmutendes Vorgehen ist eben der Versuch, vor solcher Kritik gewissermaßen „wegzutauchen“. Eine vertrauliche Absprache – das möglichst geräuschlose „Durchschleusen“ des Vorhabens – die Verwischung der Verantwortlichkeit: Wenn man vom Normalzustand der Parteien-Konkurrenz ausgeht, zeigt sich hier im besonderen Fall offenkundig ein Kartell-Verhalten im Sinne der Vermeidung von Konkurrenz.13 Das Nachsehen haben die Teilnehmer des politischen Marktes – die Bürgerinnen und Bürger –, denen keine Alternative vorgestellt wird,14 die kein Pro und Contra hören, die keine Verantwortlichen identifizieren und per Wahl zur Rechenschaft ziehen können.15 Das „Staatstheater“ gibt kein Drama, wie üblich, sondern es tritt nur ein Sprechchor auf. Was ist der tiefere Grund dafür? Die Parlamentarier spielen bei Entscheidungen in eigener Sache eine andere Rolle, weil sie objektiv eine andere Funktion haben. Nun geht es nicht darum, das gemeine Beste für alle zu finden, sondern die eigenen Interessen möglichst effektiv zu verfolgen. Die Ziele lauten – im Prinzip wie bei jeder anderen Berufsgruppe: für sich selbst das maximal Erreichbare herauszuholen und die politischen Kosten nach Möglichkeit zu mini___________ 13
Vgl. von Arnim, Deutschlandakte, S. 320: „Wahlsystem, Ämterpatronage und Politikfinanzierung sind nur drei Beispiele für Bereiche, in denen Regierungs- und Oppositionsparteien aus Eigeninteresse den Wettbewerb ausschalten, ein Kartell bilden und so gemeinsam ihre Pfründen sichern.“ Ferner S. 34, 52, 183, 318 ff. 14 Schwan hat solche Situationen gegeißelt: „… dann gibt es nichts mehr zu diskutieren, dann gibt es nur noch eine Priorität, dann wird das Abwägen unterschiedlicher Wichtigkeiten und Interessen im Parlament überflüssig, dann hört Politik auf“. Eine solche Zumutung sei „eine Erpressung durch die einzige Alternative“, Gesine Schwan, Vertrauen und Politik. Politische Theorie im Zeitalter der Globalisierung, Stuttgart 2006 (Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Kleine Reihe H. 18), S. 28. Mit diesem Zwangsszenario waren Globalisierung bzw. Stalinismus gemeint, aber gilt die Kritik nicht auch für die anderen Fälle, in denen Alternativen gezielt ausgeschlossen werden? 15 „Wen soll der Bürger für Missbräuche noch mit dem Stimmzettel ‚bestrafen‘ und bei der nächsten Wahl abberufen, wenn alle in die Absprachen eingebunden sind?“ So von Arnim, Wahlgesetze: Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, in: JZ 64 (2009), S. 813–820 (813); ders., Demokratiemängel 1949 bis 2009, in: NJW 62 (2009), S. 2934–2938 (2936). – Dazu bedarf es nicht unbedingt der Einstimmigkeit, wie von Arnim zum oben erwähnten Fall (Fn. 6) weiter ausführte: „Die drei kleinen Oppositionsparteien protestierten zwar pflichtgemäß – aber wohl wissend, dass die Erhöhung ohnehin kommt und auch sie davon profitieren werden. Der mangelnde Ernst ihres Widerstandes wurde ganz deutlich, als sie sich nicht darauf einigen konnten, eine Anhörung von Sachverständigen durchzusetzen.“ (Deutschlandakte, S. 144).
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mieren. Letzteres meint vor allem, die Sanktionsmöglichkeiten der Wahlbürger, wenn irgend möglich, auszuhebeln. Das Phänomen lässt sich knapp auf den Punkt bringen: In solchen Fällen handelt zwar der Bundestag, aber er handelt nicht als Parlament – das heißt als gemeinwohlorientierte Vertretung des Volkes –, sondern er „vertritt“ nur noch seine eigenen Mitglieder und setzt deren materielle Interessen durch.
V. Folgen des Rollenwechsels Die Kartellbildung dient der effektiven Interessendurchsetzung. Gleichzeitig werden aber gerade jene parlamentarischen Mechanismen ausgeschaltet, die im Normalfall zu einem möglichst richtigen Ergebnis führen sollen.16 (Eine „Garantie“ gibt es natürlich auch dann nicht – Institutionen sind so wenig wie Personen „unfehlbar“.) x Der Wettbewerb der Lösungsmodelle („Demokratie als Wettbewerbsordnung“17) – ausgeschaltet durch einen vereinbarten Allparteien-Entwurf,18 x der Wettstreit der verschiedenen politischen Richtungen um die beste Lösung, der jedenfalls das Herz des Westminster-Parlamentarismus ist – ausgesetzt in einer informellen Allparteien-Koalition, ___________ 16 Vgl. Lang, S. 521: „Die Ausfilterung störender Sonderinteressen ist daher im Repräsentationsprozess selbst sicherzustellen. Dies gelingt im Regelfall durch die bestehenden Interessendivergenzen und -gegensätze und deren An- und Abgleichung innerhalb des parlamentarischen Repräsentationsprozesses. Die Funktionsfähigkeit dieses Ausgleichgedankens ist aber gefährdet, wenn der strukturelle Interessengegensatz beseitigt ist, weil die in Rede stehende Entscheidung auf eine bei allen gleiche Interessenlage trifft.“ 17 Müller-Franken spricht von der „‚List der Vernunft‘, dass dank des der Demokratie immanenten Bewegungsgesetzes des Wettbewerbs von den Beteiligten aus Eigennutz Vorschläge entwickelt werden, die in ihren Wirkungen gemeinwohlförderlich sind“, vgl. Sebastian Müller-Franken, Demokratie als Wettbewerbsordnung, in: DVBl. 124 (2009), S. 1072–1082 (1079). Nach Lege darf der politische Wettbewerb in der Demokratie „niemals aufhören, sonst entfällt jene (sc. formale) Richtigkeit“, so Lege, S. 759. – Volkmann zählt zu den „strukturellen Defiziten des politischen Prozesses“ die Handhabung der „Parteienfinanzierung, für deren sachgerechte Regelung der dafür ansonsten zuständige Parteienwettbewerb ausfällt, weil die Parteien hier keine gegenläufigen, sondern gleichgerichtete Interessen verfolgen“, vgl. Uwe Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, in: AöR 134 (2009), S. 157–196 (193 f.). – Siehe zu „Idee und Wirklichkeit des politischen Wettbewerbs“ schon früher von Arnim, System, S. 61–73. 18 Dieses Vorgehen ist nicht besonders perfide. von Arnim formulierte sogar, dass die hauptberuflichen Politiker ihr Versorgungsinteresse „am wirkungsvollsten nicht durch Konkurrenz, sondern durch Kooperation und Kollusion [!] befriedigen können“ (Deutschlandakte, S. 27).
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x die Transparenz des Parlaments als „Tribüne der Nation“, auf der öffentlich das Pro und Contra der verschiedenen Lösungen debattiert wird – ersetzt durch die Pseudo-Öffentlichkeit einer stilisierten Debatte, x die streitige Mehrheitsentscheidung am Ende, die Verantwortlichkeit festhält und politische Sanktion ermöglicht – vermieden durch eine parlamentarische Einmütigkeit, die keine Zurechnung in der späteren Parteienkonkurrenz mehr erlaubt.19 Stattdessen herrscht blanker Egoismus, der nur noch durch solche Kalküls gezügelt wird, wie sie auch jede Gewerkschaft bei ihren Tarifforderungen anstellt: Was „kriegen wir noch durch“, ohne dass es einen Aufschrei der öffentlichen Meinung gibt? Welche Zumutungen lassen sich die Bürger noch gefallen, und wann machen sie Aufstand (wobei man ja nicht in altbackener Manier gleich an Barrikaden denken muss)? Bei welchem Ausmaß der Selbstbedienung müssen wir damit rechnen, dass andere Berufsgruppen „nachziehen“ wollen?20 Deswegen verdoppeln zum Beispiel Abgeordnete nicht ihre Diäten, wie auch Gewerkschaften nicht 100 % Lohnerhöhung fordern. Es ist also kein blinder, sondern ein cleverer Egoismus, der da praktiziert wird, aber prinzipiell erfolgt die Orientierung am maximalen eigenen Wohlergehen und nicht am Gemeinwohl. Eigene Interessen der Entscheidenden führen – wie es Herr von Arnim formulierte – „leicht zu einseitigen, unangemessenen und missbräuchlichen Resultaten“.21 Ein Paradebeispiel – nun einmal nicht aus dem Bereich der Parteienfinanzierung – sind die wiederholten Vorstöße des Bundestagspräsidenten Lammert in jüngster Zeit zur Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre, weil damit die eigentliche Arbeitsphase des Parlaments von zwei auf drei Jahre vergrößert würde.22 Hier sehen wir zwar noch nicht den Entscheidungsprozess des Parlaments in eigener Sache; Lammert bemüht sich erst, das Kartell zu schmieden, das dann aber gewiss eine Grundgesetzänderung in der beschriebenen Manier rasch „über die Bühne bringen“ würde (wenngleich da der „Überfall“ nicht ganz so unerwartet käme). Das Beispiel ist lehrreich. Entlarvend ist schon, wie der Bundestagspräsident einschätzt, dass die Abgeordneten ihre Mandatszeit verwenden. Ein Jahr zur Einarbeitung? Auch für Abgeordnete gilt der von Max Weber auf die einfachen ___________ 19 Solche Verwischung der Verantwortlichkeit ist nicht etwa eine „Verschwörung gegen das Volk“; diese Empörungsrede hilft nicht weiter. 20 Vgl. den Fall, den von Arnim, Deutschlandakte, S. 148, erwähnt. 21 von Arnim, Deutschlandakte, S. 37. 22 Vgl. zuletzt „Lammert wirbt für fünfjährige Legislaturperiode“ (14. 2. 2010), http:// de.news.yahoo.com/17/20100214/tde-lammert-wirbt-fuer-fuenfjaehrige-leg-75240f8.html (Zugriff 5. 3. 2010).
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Stimmbürger gemünzte Satz, man brauche „sicherlich selbst kein Schuster zu sein, um zu wissen, ob der Schuh drückt, den der Schuster hergestellt hat“.23 Aber es scheint, als wollten die Abgeordneten alle im Schnelldurchgang eine Schusterlehre machen – am besten zu erkennen durch die gedankenlose Übernahme eines Fachjargons: Wer dann, ohne zu stolpern, vom „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung“ – oder gleich vom „Morbi-RSA“ – spricht, signalisiert den Verwaltungsspitzen: „Ich kann mitreden“, aber erkauft dies unreflektiert mit der Entfremdung von der Basis, die ihren Volksvertreter gar nicht mehr versteht. Dann ein weiteres Jahr Wahlkampf, das heißt ein volles Viertel der Mandatszeit wird zur Machtsicherung qua Wiederwahl verwendet. Um das Wohl des Gemeinwesens mögen sich andere kümmern … Und wenn die Wiederwahl gelingt – die durchschnittliche Verweildauer von Abgeordneten des Deutschen Bundestages beträgt etwas mehr als neun Jahre24 –, braucht es dann erneut ein volles Einarbeitungsjahr? Endlich das Kalkül „einer fast 50-prozentigen Ausweitung der engeren verfügbaren parlamentarischen Arbeitszeit“. Dieses Argument ist nicht als solches falsch. Lammerts Vorschlag ist nicht von vornherein indiskutabel. Das Entscheidende ist nur, dass Lammert eben nicht – um das Gemeinwohl bemüht – diskutiert, sondern als typischer Interessenvertreter einfach fordert. Jeder Student der Politikwissenschaft wäre – „aus dem Stand heraus“, möchte man pointieren – in der Lage, zum Thema „Verlängerung der Legislaturperiode?“ eine differenzierte Argumentation zu skizzieren, Pro-Gründe aufzuzählen und ContraErwägungen anzustellen, ein Einerseits-Andererseits zu entwerfen, um dann – abwägend – zu einer Entscheidung zu kommen. Der Verlängerung der Sacharbeitsphase eines Mandatsträgers wäre dann eben entgegenzustellen, dass dies den unglücklichen Trend zur Lockerung der – sit venia verbo – „Volkskontrolle“ weiter fortschreibt. Für das Repräsentantenhaus der USA gilt heute noch die zweijährige Legislaturperiode, die 1787 – vor über 200 Jahren – festgelegt wurde (Art. I Section 2 Clause 1 US Constitution). In Deutschland sollte das Parlament nach der Paulskirchenverfassung von 1849 regelmäßig auf drei Jahre gewählt werden (§ 94 Abs. 1). Mit diesem Turnus begann auch das Kaiserreich (Art. 24 Satz 1 Reichsverfassung 1871). 1888 wurde die Legislaturperiode auf fünf Jahre verlängert. Die Weimarer Reichsverfassung kehrte dann wieder zur vierjährigen Wahlperiode zurück (Art. 23 Abs. 1 Satz 1). Das Grundgesetz behielt dies bei (Art. 39 Abs. 1 Satz 1). Zwei Jahrzehnte später begann auf Lan___________ 23 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, in: ders., Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger (Max Weber Gesamtausgabe I/15), Tübingen 1984, S. 432–596 (545 f.) (zuerst 1918). 24 Vgl. http://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0814/mdb/nebentaetigkeit/rueckbl. htm (Zugriff 15. 3. 2010).
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desebene der Trend zur fünfjährigen Wahlperiode (Nordrhein-Westfalen 1969, Saarland 1979), der sich inzwischen weitgehend durchgesetzt hat.25 Eine Verlängerung der Legislaturperiode würde eben auch, und das ist klassische Kartellparteien-Politik26, bedeuten: x Der Umschlag jeweils einer Politikergeneration wird verlangsamt, x der Zugang für neue Leute und neue Parteien wird erschwert, x die Abgehobenheit derer, die bereits „drin“ sind, steigt, und x das spezifische Mandatsrisiko (das aber zur Demokratie dazugehört) sinkt. Die Folgeregelungen für die Versorgung sind noch gar nicht absehbar. All dies lässt der protokollarisch zweite Mann im Staat einfach weg. Er hat ein einziges Argument, das für ihn geradezu als archimedischer Punkt fungiert. Eine solche Argumentation ist einseitig und schief; Lammert wirkt „einäugig“. Er bemüht sich offensichtlich gar nicht um den Überblick, der das Gemeinwohl erkennen ließe, sondern betrachtet alles aus dem bornierten Blickwinkel eines Interessenvertreters. Man könnte Lammerts engstirnige Forderung auch ad absurdum führen: Warum nur auf fünf und nicht gleich auf acht oder zwölf Jahre verlängern? Ja, das Ideal wäre demnach doch der Abgeordnete auf Lebenszeit – sozusagen die Verbeamtung des Parlaments –, der endlich die Chance hätte, auf gleiche Augenhöhe mit der nach eben diesem Prinzip organisierten Administration zu gelangen, der dank seiner materiellen Absicherung perfekt unabhängig wäre und nicht ein volles Viertel seiner Mandatszeit auf die Machtsicherung qua periodischer Wiederwahl ver(sch)wenden müsste! Dass der Bundestag eine solche grundlegende Entscheidung in eigener Sache soll alleine treffen dürfen, ist verfassungspolitisch untragbar. Deshalb greift es auch zu kurz, wenn der Verein Mehr Demokratie e. V. (Herr von Arnim und ich gehören dessen Kuratorium an) im Gegenzug zu einer Verlängerung der Legislaturperiode die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid verlangt.27 ___________ 25
Vgl. Christian Pestalozza, Einführung, in: ders., Verfassungen der deutschen Bundesländer mit dem Grundgesetz, München 9. Aufl. 2009, S. XV–CXXIII (LV – Rn. 110), mit prägnanter Skizze der Problematik. 26 von Arnim hat als das zentrale Kennzeichen von „Kartellparteien“ herausgearbeitet, „dass sie ihre Position durch Nutzung staatlicher Macht-, Personal- und Geldmittel stetig verbessern und zugleich (fast) unangreifbar machen gegen die Konkurrenz aller möglichen Herausforderer, so dass neue, noch nicht etablierte politische Kräfte praktisch keine Chance haben“ (Deutschlandakte, S. 27 f.). 27 Vgl. Pressemitteilung v. 15. 2. 2010: „Verlängerung der Wahlperiode nicht ohne Volksentscheid“, http://www.mehr-demokratie.de/752.html?&tx_ttnews[tt_news]=6575& txttnews [backPid]=276&cHash=ea14a0e8c0 (Zugriff 5. 3. 2010).
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Diese Forderung ist grundsätzlich richtig, aber es irritiert, dass man sie hier sozusagen als eine Art Kollateralnutzen erhebt.
VI. Gegengewichte – konventionelle Versuche Wenn also die parlamentsinternen Mechanismen ausgeschaltet sind, die zu einem möglichst richtigen Ergebnis führen sollen – Wettbewerb, Öffentlichkeit, Zeit –, bedarf es externer Gegengewichte zu dem als Interessenvertretung agierenden Parlament. Dieser Gedanke ist alt; er ist manchmal auch schon praktisch erprobt worden, und Herr von Arnim hat diese Versuche intensiv kritisiert. Kurz zusammengefasst: Ob man an den Bundespräsidenten,28 das Bundesverfassungsgericht oder an Sachverständige denkt, diese „Gegengewichte“ taugen nicht aus zwei Gründen. Erstens werden sie rekrutiert bzw. führen sie ihre Legitimation zurück auf genau jene zentrale Institution der repräsentativen Demokratie – das Parlament –, die sie nun kontrollieren sollen.29 Herr von Arnim hat sich denn auch über die sogenannten „Hofkommissionen“ lustig gemacht,30 „die der politischen Klasse nach dem Mund reden“.31 Zweitens stehen diesen Einrichtungen durchweg keine adäquaten Prüfverfahren zur Verfügung. Beispiel: Ob Bundestagsabgeordnete richtig liegen oder das Maß verloren haben, wenn sie einkommensmäßig mit Bundesrichtern32 oder Oberbürgermeistern33 gleichgestellt sein wollen,34 lässt sich wissenschaftlich nicht eindeutig entscheiden. Gewiss können die Rechts- und Sozialwissenschaften hier beraten, das heißt Fakten und Argumente beisteuern, die eine Urteilsbildung erleichtern;35 aber die Antwort hängt letztlich stark von Wertungen ab. Anderes Beispiel: Verfassungsrichter können nur entscheiden, ob eine Norm verfassungswidrig ist oder nicht; sie haben nach ständiger Rechtsprechung nicht zu entscheiden, ob das Parlament die beste, geeignetste usw. Regelung gefunden hat. Nehmen wir nun ___________ 28
Vgl. zu diesem von Arnim, Deutschlandakte, S. 207–210. Dies betont von Arnim, Deutschlandakte, S. 317 f. 30 Vgl. von Arnim, Deutschlandakte, S. 147, 203–207, 233, ferner S. 147: „Gefälligkeitskommissionen“. – Bei Hans Herbert von Arnim, Politik Macht Geld. Das Schwarzgeld der Politiker – weißgewaschen, München 2001, ist der ganze Teil 2 (S. 113–190) überschrieben: „Die Hofkommission oder: Der lange Arm der Politik“. 31 von Arnim, Deutschlandakte, S. 233. 32 Vgl. von Arnim, Deutschlandakte, S. 141. 33 Vgl. von Arnim, Deutschlandakte, S. 139 f., 144 f. 34 Vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 AbgG: „Ein Mitglied des Bundestages erhält eine monatliche Abgeordnetenentschädigung, die sich an den Monatsbezügen – eines Richters bei einem obersten Gerichtshof des Bundes (Besoldungsgruppe R 6), – eines kommunalen Wahlbeamten auf Zeit (Besoldungsgruppe B 6) orientiert.“ 35 So etwa von Arnim, Deutschlandakte, S. 141 f., 144 f. 29
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eine Diätenerhöhung um 20 % an. Es erscheint zweifelhaft, ob man diese gleich als verfassungswidrig bezeichnen kann, jedenfalls käme man zu einem solchen Verdikt nur durch eine arg gezwängte verfassungsrechtliche Ableitung.36 Eine solche Erhöhung wäre eben „nur“ unangemessen; sie passte nicht zu der aktuellen, finanziell angespannten Haushaltssituation; auch die sozusagen gewerkschaftlichen Argumentationen (Angleichung an dieses, Nachholbedarf37 gegenüber jenem) vermöchten nicht zu überzeugen – aber all das sind politische Wertungen nach politischen Maßstäben, und man sollte Wissenschaft und Verfassungsjustiz nicht zu solchen genuin politischen Beurteilungen bringen wollen.
VII. Das ideale Gegengewicht: das Volk im Wege der direkten Demokratie An dieser Stelle verharrt die herrschende Meinung grundsätzlich in einer Aporie, die es eben auszuhalten gelte. Streit zum Beispiel weicht gewissermaßen in die Semantik aus und will statt von „Entscheidung in eigener Sache“ von „Entscheidung mit strukturellem Kontrolldefizit“ sprechen.38 Mehr als kleine Besserungsvorschläge sind nicht zu sehen.39 Anders Herr von Arnim, der das Volk als ___________ 36 Dieses Problem des inadäquaten Prüfverfahrens übersieht Volkmann, wenn er darauf setzt, dass die Korrekter des in eigener Sache entscheidenden Parlaments „nur von außen und hier ganz wesentlich durch das BVerfG erfolgen“ könne (S. 194). – von Arnim/Heiny/Ittner betonen, dass das BVerfG, gerade weil das Parlament bei der Politikfinanzierung in eigener Sache entscheide, versucht habe, „eine besonders intensive Kontrolle durchzuführen“, gebrauchen dann aber das Bild „einer gigantischen Schachpartie“ zwischen Parlament und Verfassungsgericht und stellen schließlich erhebliche „Kontrolllücken“ fest (S. 60–64). Dabei wird der entscheidende Punkt nicht klar genug gesehen, dass weder die Steigerung der Kontrollintensität noch die lückenlose Durchführung solcher Kontrolle das Problem im Kern löst. Letztlich kann eben nicht jede politische Frage adäquat verfassungsrechtlich beantwortet werden. 37 Vgl. von Arnim, Deutschlandakte, S. 145. 38 Vgl. Streit, S. 183 ff. Eine Erörterung des Gegengewichts der direkten Demokratie, wie von von Arnim empfohlen, erspart Streit sich (darauf „soll hier verzichtet werden“) mit drei apodiktischen Sätzen (S. 187 Fn. 1). – Siehe etwa auch Müller-Franken, der das „Dilemma“ sehr wohl sieht (S. 1080), aber resigniert: „Der Konflikt mit dem Verbot des Richtens in eigener Sache (‚nemo iudex in causa sua‘), der hier zutage tritt, ist damit strukturell nicht zu vermeiden: Das Parlament bleibt in der Pflicht.“ (S. 1081). Die Lösung des Volkes als Gegengewicht hat er sich vorher durch eine fundamentalistisch anmutende Ablehnung von direkter Demokratie versperrt (S. 1074). – Hingegen hatten von Arnim/Heiny/Ittner, S. 57, betont, dass die Kompetenz, in eigener Sache zu entscheiden, „nicht notwendigerweise und in jeder Verfassungsordnung“ bestehe – und auf die Schweiz verwiesen. 39 Lang favorisiert die Pro-futuro-Lösung (dazu gleich unten), die Streit für „ungeeignet“ erklärt (S. 190). Streit selbst plädiert für den Defizitausgleich durch eine bera-
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Gegengewicht vorschlägt, praktisch umzusetzen im Wege der direkten Demokratie,40 und dabei durchaus auf die entsprechende „Auffassung einiger besonders prominenter Staatsrechtslehrer“ verweisen kann:41, 42 Ernst-Wolfgang Böckenförde43, Peter Lerche44, Klaus Vogel45. Direkte Demokratie war schon im___________ tende Kommission (S. 192 ff.) und für die Indexierung staatlicher Leistungen im Rahmen der Politikfinanzierung (S. 197–202). 40 Dies ist ein zentraler Gedanke von Arnims (vgl. Deutschlandakte, S. 34 f., 75, 79 f., 333 f., 344); Demokratiemängel 1949 bis 2009, in: NJW 62 (2009), S. 2934–2938 (2938); von Arnim/Heiny/Ittner, S. 65–77; früher schon in: Vom schönen Schein der Demokratie, S. 154–161 sowie im ganzen Teil 3 (S. 167–323)), den er freilich nicht konkret ausgearbeitet hat; siehe deshalb unten sub IX. 41 Vgl. von Arnim/Heiny/Ittner, S. 67. Diese Verweise bedürfen einer – und lohnen eine – Vertiefung, dazu im Folgenden. – Die ausdrückliche Befassung Langs (S. 486– 494) mit diesem Weg, dem strukturellen Mangel eigeninteressierter Gesetzgebung abzuhelfen, kann nur als enttäuschend bezeichnet werden. Die Quintessenz, direkte Demokratie bei der Abgeordnetenfinanzierung auf Bundesebene stelle de constitutione lata „keine gangbare Alternative“ dar (S. 505), könnte aber de constitutione ferenda eingeführt werden (vgl. S. 488, 523), ist konventionell. Fast alle anderen Erörterungen auf den acht Druckseiten führen ab. Insbesondere die Ausführungen über die tatsächlichen „Weimarer Erfahrungen“ mit direkter Demokratie (S. 489–492) sind gut gemeint, aber kaum auf dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion, vgl. Hans-Jürgen Wiegand, Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 2006 (Juristische Zeitgeschichte Abt. I Band 20), S. 32–141. Die stiefmütterliche Behandlung der direkten Demokratie dürfte sich dramaturgisch so erklären, dass Lang nun mit Macht auf seine favorisierte, die Pro-futuro-Lösung zusteuert, zu der seine Ausführungen (vgl. S. 505–514) denn auch ein ganz anderes Niveau aufweisen. 42 Aus der Sicht eines ganz anderen Faches – der modernen politischen Ökonomie – plädiert für jene Lösung Roland Vaubel, Nie sollst Du mich befragen? Weshalb Referenden in bestimmten Politikbereichen – auch in der Europapolitik – möglich sein sollten, in: [Internationales Institut für Liberale Politik Wien] Sozialwissenschaftliche Schriftenreihe H. 30, Überlegungen zu Staatsreform und Europapolitik, Wien, Juli 2009, S. 15–26 (15 f., 21). 43 Böckenfördes Position wird verkannt, wenn man sich nur auf die plakative These von der repräsentativen Demokratie als der „eigentlichen Form“ der Demokratie stützt (Mittelbare / repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie. Bemerkungen zu Begriff und Verwirklichungsproblemen der Demokratie als Staats- und Regierungsform, in: Georg Müller/René A. Rhinow/Georg Schmid/Luzius Wildhaber (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel. Festschrift für Kurt Eichenberger zum 60. Geburtstag, Basel Frankfurt a. M. 1982, S. 301–328). Der Autor wendet sich in diesem Text zunächst gegen ein identitär-unmittelbares Demokratiekonzept, das er am antiken Athen, an Rousseaus „Contrat social“ und an der Pariser Kommune in der orthodox-kommunistischen Deutung festmacht (vgl. S. 304 f., 312 f.) und als „illusionärutopisches Modell“ (S. 314) aufweist. Dieser Aufweis überzeugt, nicht jedoch Böckenfördes auch schon seinerzeit unzutreffende Behauptung, jenes Demokratiekonzept bilde „die Grundlage der basisdemokratischen Bewegung unserer Tage“ (S. 305). – Im Übrigen betont Böckenförde – damals wie bis zuletzt (vgl. Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: HStR III 32005, § 34) – durchaus, dass die repräsentative Leitungs- und Entscheidungsgewalt demokratisch korrigierbar sein müsse, „sei es
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___________ durch Abberufung der Repräsentanten, sei es durch Sachentscheidungen des Volkes selbst“ (Mittelbare / repräsentative Demokratie, S. 315; ebenso Demokratische Willensbildung, Rn. 16 (S. 38)). Demokratie habe zwar „als Staats- und Regierungsform von ihrem Grundansatz her notwendig eine repräsentative Struktur“; dieser könnten „allerdings gewisse Momente unmittelbarer Demokratie – als Balancierungs- und Korrekturelemente für das Handeln der repräsentativen Leitungsorgane – eingefügt werden“ (Mittelbare/ repräsentative Demokratie, S. 326). So argumentiert der Autor, dass im materiellen Verfassungsbereich „Volksbeteiligung in der Form der Änderungszuständigkeit realisierbar und im Sinne eines verwirklichten Demokratiebegriffs auch notwendig“ (Mittelbare/repräsentative Demokratie, S. 316; vgl. Demokratische Willensbildung, Rn. 20 (S. 39)) sei – ein Plädoyer für das obligatorische Verfassungsreferendum. „Darüber hinaus kann durchaus punktuell die Möglichkeit von Volksentscheid und Volksbegehren als Balancierungs- und korrigierendes Element der Leitungs- und Entscheidungsgewalt der repräsentativen Organe vorgesehen werden. Wichtig ist hierbei, dass Volksentscheid und Volksbegehren in der Balancierungs- und Korrekturfunktion verbleiben.“ (Mittelbare/repräsentative Demokratie, S. 316; vgl. Demokratische Willensbildung, Rn. 23 (S. 41)). – Das hier thematisierte Problem der „Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache“ behandelt Böckenförde nicht ausdrücklich. Man betrachte aber, wie hoch er das parlamentarische Verfahren schätzt. „Repräsentation besteht danach darin und kommt dadurch zustande, dass das Handeln der Leitungsorgane so beschaffen ist, dass die einzelnen und die Bürger insgesamt (das Volk) in diesem Handeln sich wiederfinden können, in ihren unterschiedlichen Auffassungen ebenso wie in dem, was sie gemeinsam für richtig halten und wollen. Dazu gehört, dass die einzelnen … die alle gemeinsam angehenden Fragen des Zusammenlebens durch die Repräsentanten verhandelt und ausgetragen sehen, und zwar in einer Weise, die ungeachtet von Meinungsverschiedenheiten und Auffassungsunterschieden eine Identifikation mit dieser Art der Behandlung und Entscheidung ermöglicht und hervorruft.“ (Mittelbare/repräsentative Demokratie, S. 319, ähnlich S. 325). Das eingangs skizzierte spezielle Verfahren, welches das Parlament bei Entscheidungen in eigener Sache einzuschlagen pflegt, genügt diesen Anforderungen offensichtlich nicht. (Dies entspricht der obigen Bemerkung, der Bundestag handele in solchen Fällen gar nicht als gemeinwohlorientierte Volksvertretung.) Das Fehlen solcher demokratischer Repräsentation „berührt unweigerlich die Legitimität der Demokratie und damit die Bereitschaft, sich den … getroffenen Entscheidungen zu unterwerfen“ (Mittelbare/repräsentative Demokratie, S. 325). – Ein neuer Gedanke im „Handbuch“ liegt – von der Schweiz angeregt – in der Betonung „der punktuellen Kontroll- und Oppositionsfunktion“ der Volksrechte, „mit Hilfe derer Interessen und Anliegen, die bei den Repräsentanten und Parteien keine gebührende Beachtung finden, zur Geltung gebracht und so Repräsentationsdefizite ausgeglichen werden“ (Demokratische Willensbildung, Rn. 24 (S. 41)). Damit wäre der Anschluss an von Arnims Konzept der direkten Demokratie als Gegengewicht, wenn das Parlament nicht als Vertretung des Volkes handelt, hergestellt. – Insgesamt ist freilich die Interpretation des Böckenfördeschen Denkens bei von Arnim/Heiny/Ittner, S. 67, viel zu knapp und damit – notwendig – unzulänglich. 44 Lerche (Grundfragen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie, in: Peter M. Huber/Wilhelm Mößle/Martin Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie. Symposium zum 60. Geburtstag von Peter Badura, Tübingen 1995, S. 179–193) spricht sich zwar gegen Plebiszite im allgemeinen aus, macht aber für besondere Fälle eine Ausnahme, wenn nämlich der Parteienstaat „Gefahrenlagen“ ausbildet, weil „anstelle von Gewaltenbalance evidente Übermacht tritt“, zum Beispiel – an erster Stelle
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mer – seit ihren Anfängen vor über anderthalb Jahrhunderten – auf die Kontrolle der repräsentativen Demokratie ausgerichtet. Die „direkte Gesetzgebung durch das Volk“ sei, hieß es in den Standarderläuterungen zum „Erfurter Programm“ der SPD von 1891, „die naturnotwendige Folge der RepräsentativVerfassung“ und ein „Mittel der Aufsicht, der Prüfung und der Berichtigung“ der parlamentarischen Arbeit.46 Selbstverständlich setzte diese Maxime voraus, dass der größte Teil der Entscheidungen des Parlaments gut oder zumindest hinnehmbar wäre. Nur wenn auch diese Untergrenze unterschritten würde, sollte die direktdemokratische Korrektur eingreifen (in einem differenzierten Verfahren mit vorgeschaltetem Relevanztest der Unzufriedenheit = Volksbegehren und nachfolgender Entscheidung der Aktivbürger anstelle des Parlaments = Referendum/Volksentscheid) – und dies würde jeweils ad hoc geschehen. Direkte Demokratie heißt von der politischen Philosophie her also nicht Misstrauen gegenüber dem Parlament. Selbstverständlich vertrauen die Bürger ihrer Vertretung, die sie ja selbst gewählt haben. Ohne ein solches Vertrauen in einem grundsätzlichen Sinne ist ein modernes Gemeinwesen gar nicht regierbar, und insbesondere gilt: „ohne Vertrauen gibt es keine freiheitliche Ordnung.“47 Aber für die Bürger der direkten Demokratie bedeutet ein solches prinzipielles ___________ genannt – „kraft überstabiler Einvernehmlichkeit der Parteien ... In Situationen parteiengesteuerter evidenter Übermacht dieser Art mag daher die eingreifende Äußerung des Volkes als Korrektiv – auch außerhalb von Wahlen – eine grundsätzliche Legitimität gewinnen.“ (S. 186). Zum Gewicht dieser Position ist einerseits zu betonen, dass Lerche sie bei einer akademischen Veranstaltung zu Ehren Peter Baduras bezog und dabei der Stellungnahme des Geehrten, die dieser zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission zum Thema Bürgerbeteiligung/Plebiszite am 17. Juni 1992 abgegeben hatte, ausdrücklich, wenngleich in der Form verbindlich, widersprach (S. 186 f.). Andererseits gilt es festzuhalten, dass Lerche bei seinen Ausführungen die Landesebene im Blick hatte (siehe sein Beispiel des Volksbegehrens und Volksentscheids „Rundfunkfreiheit“ in Bayern 1972/73, S. 187), „in der Höhe des Bundes im Bundesstaat keinen rechten Ansatz“ für ein solches plebiszitäres „Ventil“ sehen konnte (S. 187 – Hervorhebung i. O.) und vor allem weder auf Landes- noch auf Bundesebene an die Konstellation der parlamentarischen „Entscheidungen in eigener Sache“ dachte – obwohl er vorher durchaus darauf Wert gelegt hatte, die Aufgabe „sozialer Verteilung aus einer gewissen Interessendistanz zu erledigen“ (S. 184 – Hervorhebung i. O.). – Gleichwohl trifft die Interpretation von von Arnim/Heiny/Ittner, S. 67 zu: Ebendies – anstelle von Gewaltenbalance evidente Übermacht kraft überstabiler Einvernehmlichkeit der Parteien – „ist die typische Situation, wenn es um die Regeln des Machterwerbs und der Machtausübung geht“. 45 Bei Klaus Vogel wird auf ein unveröffentlichtes Typoskript verwiesen (Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Vortrag auf der katholischen Akademie in Bayern am 25. 9. 1992 in München, Typoskript, S. 18). 46 Schoenlank, in: Karl Kautsky/Bruno Schoenlank, Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm, Berlin, 2. Aufl. 1893, S. 34 ff. 47 Schwan, Vertrauen und Politik, S. 23.
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Vertrauen nicht, dass alle Sicherungen herausgeschraubt werden könnten. Ihr Vertrauen ist nicht „blind“, sie sind nicht „vertrauensselig“, sondern haben sich eine gesunde Skepsis48 angesichts der Fehlbarkeit von Menschen und Institutionen bewahrt. Diese politische Haltung geht einen Mittelweg zwischen dem Lenin zugeschriebenen49 Zynismus „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ einerseits und andererseits dem geradezu naiven Vertrauen, das eine rein repräsentative Demokratie von ihren Bürgern verlangt. Nehmen Sie das Beispiel der normalen Gesetzgebung: Gewiss kann man davon ausgehen, dass alle gesetzgebenden Körperschaften das Grundgesetz respektieren wollen. Gleichwohl zeigt das Rechtsprechungswerk des Bundesverfassungsgerichts, wie oft – häufig im Detail, manchmal im Großen – die Vorgaben der Verfassung verkannt oder missachtet werden50. Dieser verfassungsrechtliche Kontrollbedarf gilt heute als selbstverständlich. Dass aber für die Arbeit eines Parlaments auch ein politischer Kontrollbedarf besteht – und zwar auf der sachlichen Ebene, nicht erst auf dem wenig zielgenauen Umweg über Wahlen –, wird in Deutschland aus demokratisch-ideologischen Gründen51 ignoriert bzw. abgestritten. Jedenfalls entfallen beim Volk die beiden beschriebenen Dilemmata; deshalb ist es das ideale Gegengewicht. Das Volk ist in keiner Weise wie die anderen ___________ 48
Vgl. Gesine Schwan, Politik und Vertrauen. Festvortrag anlässlich des Festaktes zur Eröffnung der Vorlesungsreihe 2005 der Deutschen Rechtsschule an der Universität Warschau am 7. Januar 2005, Bonn o. J. (2005) (Deutsche Rechtsschule an der Universität Warschau. Vorträge und Berichte Nr. 2), S. 12. 49 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Vertrauen_ist_gut,_Kontrolle_ist_besser! (Zugriff 3. 3. 2010). 50 Just am Tag dieses Kolloquiums stellte der Vizepräsident des Deutschen und Vorsitzende des Berliner Anwaltsvereins fest, das jüngste Urteil des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung sei „die 12. Entscheidung in der Hauptsache, mit der das oberste deutsche Gericht Gesetze des Deutschen Bundestages ganz oder zumindest teilweise für verfassungswidrig erklärt hat. Ob Lauschangriff, Rasterfahndung, Luftsicherheit, automatischer Abgleich von Kfz-Kennzeichen oder Online-Durchsuchung oder eben Vorratsdatenspeicherung … Unser oberstes Gericht bescheinigte den Parlamentariern, dass sie den unantastbaren Kern der Menschenwürde in aller Regel nicht hinreichend beachtet haben.“ Ulrich Schellenberg, Wenn das Verfassungsgericht zwölf Mal klingelt …, in: Tsp. Nr. 20 563 v. 19. 3. 2010. 51 Erinnert sei an Ernst Fraenkels Verdikt über die Weimarer Reichsverfassung und ihre direktdemokratischen Elemente: „Ein Volk, das seinem Parlament nicht die Fähigkeit zur Repräsentation zutraut, leidet an einem demokratischen Minderwertigkeitskomplex.“ Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart H. 219/220), S. 53; auch in: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Band 5, Demokratie und Pluralismus, hrsg. von A. von Brünneck, Baden-Baden 2007, S. 165–207 (203). So konnte wohl nur ein Deutscher argumentieren – aus schweizerischer Sicht etwa sieht das ganz anders aus. Für die Eidgenossen dürfte weniger „die angeblich demokratischste Verfassung der Welt … das Produkt obrigkeitsstaatlichen Denkens“ gewesen sein, wie Fraenkel spottete (ebenda), als vielmehr die zitierte Maxime des vorhergehenden Satzes.
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Institutionen vom zu kontrollierenden Parlament „abhängig“ oder sonst wie zur Rücksicht gehalten. Das Volk kann frei politisch befinden, ob es eine Entscheidung des Parlaments in eigener Sache akzeptiert oder doch hinnimmt oder ablehnt und verwirft. Und das Volk wird aller Voraussicht nach inhaltlich richtiger, also „besser“, entscheiden als die „in eigener Sache natürlich hochgradig befangen(en)“ Abgeordneten.52 Das Volk wäre auch das richtige Gegengewicht im vorhin geschilderten Problemfall „Verlängerung der Legislaturperiode“. Es ist in exzellenter Weise dazu berufen, die Gesichtspunkte x Effektivierung der parlamentarischen Sacharbeit und x Wahrung der zeitlich engen Rückbindung an die Basis durch Wahl auszutarieren. Freilich, und das dürfte Lammert wissen, das Volk steht einer Verlängerung der Legislaturperiode offenbar sehr skeptisch gegenüber. In dem einzigen Fall, bei dem bislang in Deutschland darüber – trennscharf53 – abgestimmt wurde: in Hessen 2002, bekam die entsprechende Vorlage beim Volksentscheid (im Kontrast zu den beiden anderen Vorlagen, die ebenfalls zum Referendum standen) nur eine knappe Mehrheit von 55,5 %.54
VIII. Exkurs: Schweiz Herr von Arnim hat sich im vorliegenden Zusammenhang mit der Schweiz beschäftigt55 – das ist leider nicht selbstverständlich: Weder Lang („Gesetzgebung in eigener Sache“) noch Streit („Entscheidung in eigener Sache“) wer___________ 52 Vgl. von Arnim/Heiny/Ittner, S. 68: „Bezogen auf die Regeln des Machterwerbs ist die inhaltliche Richtigkeitschance [sc. bei einer Entscheidung durch das Volk] typischerweise größer, als wenn die politische Klasse, die bei Beschlüssen in eigener Sache natürlich hochgradig befangen ist, darüber entscheidet.“ 53 Das bayerische Verfassungsreferendum von 1998 ist vergleichsweise wenig aussagekräftig, weil die Staatsregierung ein Paket von Reformen geschnürt hatte, darunter eine Verlängerung der Legislaturperiode. Dazu gleich nachstehend. 54 Vgl. Otmar Jung, Regieren mit dem obligatorischen Verfassungsreferendum: Wirkung, Konterstrategie, Nutzungsversuche und Umgangsweise, in: ZParl 36 (2005), S. 161–187 (173); ders., Volksentscheide in den deutschen Bundesländern 1945–2008, in: Hermann K. Heußner/Otmar Jung (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen. Volksentscheid und Bürgerentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge, 2. völlig überarb. Aufl., München 2009, S. 225–233 (231). 55 Allerdings konzentriert auf die Diskussion in der eidgenössischen Literatur. Die Referendumspraxis beispielsweise hat von Arnim auch nicht geprüft.
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fen in ihren großen Untersuchungen einen Blick auf das Nachbarland im Südwesten56 – und die Verhältnisse bei den Eidgenossen gelobt: „Dort steht jede parlamentarische Entscheidung über Diäten unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Volkes. Wird dies nicht der Stellung der Abgeordneten als Vertreter des Volkes am besten gerecht? Der Vertretene trifft dann die Entscheidung über die Entlohnung seines Vertreters (oder hat zumindest ein Vetorecht) und nicht mehr der Vertreter allein.“57 Die Formulierung vom „Vorbehalt der Zustimmung des Volkes“ ist missverständlich. Das Schweizervolk muss nicht etwa allen einschlägigen Regelungen zustimmen, sondern es kann sich gegen diese effektiv wehren. Alle bundesgesetzlichen Regelungen – so das Bundesgesetz über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, ParlG) vom 13. Dezember 2002, das in Art. 9 (Einkommen und Entschädigungen) die Grundsatzentscheidung trifft, und das ausführende Bundesgesetz über Bezüge und Infrastruktur der Mitglieder der eidgenössischen Räte und über die Beiträge an die Fraktionen (Parlamentsressourcengesetz, PRG) vom 18. März 1988 – unterstanden dem fakultativen Referendum, das heißt konnten an den Urnen verworfen werden; das gleiche galt bzw. gilt künftig für alle jeweiligen Änderungen (vgl. Art. 141 Abs. 1 Buchstabe a BV 1999). Ferner ist für positive Normsetzung die Volksinitiative gegeben (vgl. Art. 139 BV 1999), bei der man in der Schweiz Detailregelungen nicht scheut. Interessant ist, wie die Praxis der Eidgenossen aussieht. Die Verlängerung der Legislaturperiode des Nationalrats von drei auf vier Jahre wurde 1931 in einer Volksabstimmung mit 53,7 % Ja knapp angenommen.58 Hingegen lehnten die Stimmbürger 1962 eine höhere Entschädigung der Parlamentsmitglieder mit guter Zweidrittel-Mehrheit (68,3 % Nein)59 ab und 1992 das gleiche Verlangen nebst einer besseren infrastrukturellen Unterstützung des Parlaments sogar fast ___________ 56
Beide Stichwortverzeichnisse enthalten die „Schweiz“ nicht. von Arnim, Deutschlandakte, S. 148 (Hervorhebung i. O.); vgl. von Arnim/Heiny/ Ittner, S. 57, ferner S. 70 f. Siehe früher schon von Arnim, System, S. 158, mit dem Zitat eines Schweizers, das Recht des Volkes, jedem Gesetz seine Zustimmung zu verweigern, sei „ein präventiver ‚Domestizierungsmechanismus‘“. 58 Referendum vom 15. März 1931 zum Bundesbeschluss über die Revision der Art. 76, 96 Abs. 1 und 105 Abs. 2, der Bundesverfassung (Amtsdauer des Nationalrats, des Bundesrats und des Bundeskanzlers), http://www.admin.ch/ch/d/pore/va/19310315/ det114. html (Zugriff 5. 3. 2010). 59 Referendum vom 27. Mai 1962 zum Bundesgesetz vom 21. Dezember 1961 über die Abänderung des Bundesgesetzes betreffend die Taggelder und Reiseentschädigungen des Nationalrates und der Kommission der eidgenössischen Räte, http://www.ad min.ch/ch/d/pore/va/19620527/det201.html (Zugriff 8. 3. 2010). Vgl. dazu Heidi Z’graggen, Die Professionalisierung von Parlamenten im historischen und internationalen Vergleich, Bern/Stuttgart/Wien 2009 (Berner Studien zur Politikwissenschaft Band 19), S. 57. 57
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mit Dreiviertel-Mehrheit (72,4 % Nein60) – eine Entscheidung, die von Politikwissenschaftlern lebhaft kritisiert wurde61 und wird. Nach Linder verwarf damals das Volk „jene Teile einer Parlamentsreform, die zwar nicht einen Verzicht auf das Milizprinzip, aber eine angemessenere Entschädigung der Arbeit der Parlamentarier und verstärkte professionelle Ressourcen für die Fraktionen gebracht hätte[n]“.62 Wie sind diese drei Entscheidungen – wenn man sich nur auf sie konzentriert – zu interpretieren? Erstens: Das Schweizervolk verweigert sich nicht grundsätzlich Parlamentsreformen, die dem politischen Establishment entgegenkommen – wenn sie ihm vermittelt werden. Zweitens: Es kann aber auch Wünsche der politischen Klasse rigoros abschlagen. Nach Meinung vieler Beobachter schießen die Eidgenossen damit eher über das Ziel hinaus. Während die deutsche kritische Diskussion darum geht, dass die Abgeordneten überdotiert erscheinen, wirkt die schweizerische politische Klasse schlicht unterfinanziert63 – und eine staatliche Parteienfinanzierung kennt die Schweiz ohnehin nicht.64 Allerdings kann nicht übersehen werden, dass die Einführung der Fraktionsentschädigungen Anfang der 1970er Jahre zu einer indirekten Finanzierung der ___________ 60
Referendum vom 27. September 1992 zum Bundesgesetz über die Bezüge der Mitglieder der eidgenössischen Räte und über die Beiträge an die Fraktionen (Entschädigungsgesetz), Änderung vom 4. Oktober 1991, http://www.admin.ch/ch/d//pore/va/ 19920927/ det386.html (Zugriff 5. 3. 2010). Vgl. dazu Z’graggen, S. 58. 61 Vgl. Theo Haldemann/Ulrich Klöti, Föderalistische „Grossbaustelle Schweiz“: Effizienz und Kohärenz der Reformvorhaben auf Bundesebene?, in: Swiss Political Science Review 2 (1996), (2) S. 1–45 (11): „Die Anhebung der Grundentschädigung und des Taggeldes bzw. die Ausrichtung von pauschalen Beiträgen an die Infrastrukturkosten und an die persönlichen Mitarbeiter/innen von Parlamentarier/innen sowie Fraktionen fanden keine Gnade bei den Stimmberechtigten. Dem Milizparlament wurden damit bessere Hilfsmittel für eine professionellere Arbeit vom Volk vorenthalten.“ 62 Wolf Linder, Schweizerische Demokratie. Institutionen – Prozesse – Perspektiven, Bern/Stuttgart/Wien, 2. Aufl. 2005, S. 204. 63 Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn es heißt, dass die Ratsmitglieder für ihre parlamentarische Arbeit eine Entschädigung beziehen, „die in etwa der Höhe eines Facharbeiterlohns entspricht“, vgl. Wolf Linder, Das politische System der Schweiz, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Wiesbaden, 4. Aufl. 2009, S. 567–605 (574). 64 Vgl. Linder, Das politische System der Schweiz, S. 585; Andreas Ladner, Politische Parteien, in: Peter Knoepfel/Hanspeter Kriesi/Wolf Linder/Yannis Papadopoulos/ Pascal Sciarini (Hrsg.), Handbuch der Schweizer Politik, Zürich, 4. Aufl. 2006, S. 317– 343 (330). – Einen Überblick über Reformvorschläge zur Parteienfinanzierung gibt Michael Brändle, Strategien der Förderung politischer Parteien. Eine vergleichende Untersuchung der Parteienförderung in der Schweiz, Großbritannien und den Niederlanden, Bern/Stuttgart/Wien 2002 (Berner Studien zur Politikwissenschaft Band 10), S. 131–134.
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Parteien geführt hat. Zum einen hat sich das Volumen der Beiträge an die Fraktionen in einem nachgerade Misstrauen provozierenden Maße erhöht („bis 1998 mehr als verzehnfacht“). Zum anderen ist trotz der formell aufrechterhaltenen Trennung zwischen Fraktionen und Parteien „die Quersubventionierung der Parteien längst Praxis“.65 Schließlich lehrt die Praxis auch, dass unterhalb der referendumskontrollierten Großentscheidungen durchaus auch pekuniäre Verbesserungen möglich sind. So wurden 2000 die Fraktionsbeiträge erhöht, wobei ein bemerkenswertes Detail aus der parlamentarischen Beratung berichtet wird, das zeigt, welche Nachwirkung ein Referendum hat – oder auch nicht. Die SVP habe sich gegen die Vorlage gestellt: „Sie rief die ablehnende Haltung der Stimmberechtigten gegenüber der Parlamentsreform von 1992 in Erinnerung und erachtete es als unredlich, dass das Parlament in eigener Sache entscheiden und die Beitragserhöhung nicht dem Referendum unterstellen wolle“.66 Die Vorlage sei vom Parlament mit großer Mehrheit angenommen worden.
IX. Zur praktischen Ausgestaltung Die herkömmliche Referendumsdiskussion in Deutschland orientiert sich an der Normenhierarchie. Ein Verfassungsreferendum, wie es auf Landesebene seit 1946/47 Bayern und Hessen obligatorisch und Bremen bedingt-obligatorisch kennen, befürworten viele auch für die Bundesebene. So bejahten acht der neun Sachverständigen, welche die Gemeinsame Verfassungskommission 1992 anhörte, das Verfassungsreferendum oder bezeichneten es doch als erwägenswert.67 Hingegen findet eine Diskussion über das (fakultative) Gesetzesreferendum, obwohl es dieses Instrument im positiven Landesverfassungsrecht seit 1947 – in Rheinland-Pfalz – gibt, praktisch nicht statt.68 ___________ 65 Vgl. Brändle, S. 129. – Ein paar Jahre zuvor hatte Thomas Drysch, Parteienfinanzierung. Österreich, Schweiz, Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1998, S. 153, noch gemeint, es scheine „in der Schweiz keine – oder allenfalls eine äußerst geringe – verschleierte Parteienfinanzierung aus der Fraktionskasse zu geben“. 66 Brändle, S. 135. 67 Vgl. Otmar Jung, Siegeszug direktdemokratischer Institutionen als Ergänzung des repräsentativen Systems? Erfahrungen der 90er Jahre, in: Demokratie vor neuen Herausforderungen. Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem 1. Speyerer Demokratie-Forum vom 29. bis 31. Oktober 1997 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, hrsg. von Hans Herbert von Arnim, Berlin 1999 (Schriftenreihe der DHV Speyer Band 130), S. 103–137 (111). 68 Dies ist umso bedauerlicher, als die – wenigen – Erfahrungen mit diesem Instrument durchaus aufschlussreich sind, vgl. Otmar Jung, Wenn der Souverän sich räuspert ... Vorwirkungen direktdemokratischer Korrekturmöglichkeiten, dargestellt an Beispie-
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Hier wird nun vorgeschlagen, sich von der Normenhierarchie zu lösen und an Risikoklassen von Entscheidungen zu orientieren. Dies würde auch über die schweizerische Lösung hinausführen. Danach kann man unterscheiden: x Erstens die hier vereinfacht sogenannten Entscheidungen im Normalfall. Sie sind prinzipiell am Gemeinwohl ausgerichtet, und für sie enthält das parlamentarische Verfahren bestimmte Mechanismen, die zu einem möglichst richtigen Ergebnis führen sollen. Auch bei dieser Gruppe von Entscheidungen besteht – wie immer – ein Risiko wegen der allgemeinen Fehleranfälligkeit von Menschen und Institutionen. Aber dieses Risiko ist relativ gering, und deshalb kann man sich mit der ad hoc erfolgenden „Aufsicht, der Prüfung und der Berichtigung“ der parlamentarischen Arbeit begnügen. Der verfahrenstechnische Weg der direkten Demokratie hierfür ist das fakultative Referendum. x Daneben stehen – zweitens – die Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache. Sie sind nicht am Gemeinwohl, sondern an den Eigeninteressen der Abgeordneten ausgerichtet, und die spezifischen Verfahrensvorkehrungen, die ein möglichst richtiges Ergebnis befördern sollen, werden regelmäßig ausgeschaltet. Damit steigt natürlich die Gefahr, das Richtige zu verfehlen, enorm. Verfahrensmäßig ist diesem vergleichsweise hohen Risiko durch das obligatorische Referendum zu begegnen.69, 70 Rechtstechnisch wäre etwa – Art. 140 Abs. 2 BV 1999 nachempfunden – folgende Bestimmung ins Grundgesetz aufzunehmen: (Obligatorisches Referendum) „Dem Volk werden zur Abstimmung unterbreitet … Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache.“ ___________ len aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, in: JzStVWiss 8 (1995), S. 107–176 (136–161). 69 Vgl. die Empfehlung Klaus Vogels, „Entscheidungen überall dort, wo eigene Interessen der Parlamentarier berührt sind, von einer Bestätigung durch die Wähler abhängig zu machen“, berichtet bei von Arnim/Heiny/Ittner, S. 67, mit Verweis auf ein unveröffentlichtes Typoskript von Vogel, 1992 (S. 18). 70 Diese Referendumslösung ist natürlich für eine bestimmte dynamische Situation entwickelt worden: Wenn das Parlament eine Rechtsänderung in eigener Sache beschließt, soll auf diese Weise eine politische Kontrolle durch das Volk ermöglicht werden. Für die andere, sozusagen „statische“ Situation, dass das Parlament angesichts evidenter Missstände „ein Schweigekartell bildet“ und kritikwürdige Regelungen einfach fortbestehen lässt, also die Klinke der Gesetzgebung gar nicht in die Hand nimmt, bedarf es der Volksgesetzgebung „von unten“ als Hebel, um den Status quo zu überwinden, vgl. Otmar Jung, Mehr direkte Demokratie wagen, in: ders., Franz-Ludwig Knemeyer, Im Blickpunkt: Direkte Demokratie, München 2001, S. 13–72 (19 f.). – Genau eine solche Konstellation behandelte jüngst Hans Herbert von Arnim, Doppelalimentation von Europaabgeordneten – Gesetzeslücke oder Fehlinterpretation –, in: DÖV 63 (2010), S. 197–203; zur „Volksgesetzgebung als Motor der Reformen“ vgl. von Arnim, System, S. 367–380.
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Natürlich schließen sich diese beiden Ansätze – bei der Normenhierarchie bzw. den Risikoklassen – nicht aus; man könnte sie durchaus kombinieren. Aber gegen das obligatorische Verfassungsreferendum wird nicht ganz zu Unrecht eingewandt, dass in der Verfassung eben – leider – oft auch Details stehen, deren Änderung den Aufwand einer Abstimmung von 60 Millionen Stimmberechtigten nicht rechtfertigen. Insofern wäre die hier vorgeschlagene neue, gestufte Kontrollarchitektur zielgenauer. Ein obligatorisches Referendum für die hohe Risikoklasse – Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache – würde ein Problem elegant lösen: x Da ein solches Referendum immer stattfinden muss, entfällt das für ein fakultatives Referendum erforderliche Einleitungsvolksbegehren mitsamt der – jedenfalls bei Diätenerhöhungen usw. – regelmäßig einsetzenden „NeidDebatte“. Ein solches Referendum wird schon wegen des Finanzaufwands kaum separat angesetzt werden, sondern vermutlich zusammen mit der nächsten Bundestagswahl; daraus ergäben sich weitere positive Nebenwirkungen: x Da von Neuregelungen immer erst die Mitglieder des nächsten Parlaments profitieren würden,71 wäre der Vorwurf der Selbstbedienung entkräftet. x Da die Beteiligung an einem solchen Referendum kaum unter der an der gleichzeitig stattfindenden Bundestagswahl liegen dürfte, wäre das Ergebnis über jeden Zweifel demokratischer Legitimation erhaben. x Schließlich, sozusagen als Kollateralnutzen: Bei einem solchen Regelwerk hätte das Bundesvolk sehr wahrscheinlich alle vier Jahre Gelegenheit zu einer Volksabstimmung, und das auch noch in der Regel – ein deutsches Problem – über Finanzfragen; man könnte dies geradezu ein Übungsprogramm für sachunmittelbare Demokratie nennen. Vorsorglich sei gemahnt, bei der für eine solche Reform erforderlichen Grundgesetzänderung auch gleich das Gebot der „Einheit der Materie“ (vgl. Art. 139 (neu) Abs. 2 BV 1999) in die Verfassung aufzunehmen, um die von der Landesebene her bekannte Taktik der Regierenden, Pakete zu schnüren,72 unmöglich zu machen. Wem diese Vorschläge für das heutige Deutschland utopisch erscheinen, der möge eine Überlegung Herrn von Arnims bedenken: Auf Landesebene besteht ___________ 71 Auch dieser Effekt ist von Arnim wichtig (vgl. Deutschlandakte, S. 148), der ihn allerdings wohl als Rechtsprinzip verankert sehen möchte. – Die Pro-futuro-Lösung wird, wie erwähnt, von Lang, S. 523, favorisiert („die einzig verfassungskonformer Ausgestaltung des Diätenanpassungsverfahrens“ [de constitutione lata]). 72 Vgl. Jung, Regieren mit dem obligatorischen Verfassungsreferendum, S. 171–176.
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ja jetzt schon die Möglichkeit, Reformen der Regeln des Machterwerbs und der Machtausübung auf direktdemokratischem Wege auch gegen den Willen der politischen Klasse durchzusetzen.73 „Gelingt dies in dem einen oder anderen spektakulären Fall, so kann man daraus durchaus die Hoffnung schöpfen, dass die Reformbereitschaft auf den Bund überschwappt.“74 In seinem Buch „Vom schönen Schein der Demokratie“ hat Herr von Arnim sogar die Metapher gebraucht, eine solche wirklich grundlegende Umgestaltung der Verfassung in einem Land könnte „wie ein demokratischer Urknall wirken.“75
___________ 73 Dass die auf Landesebene bestehenden Finanztabus einer Volksabstimmung über die Abgeordnetenfinanzierung nicht entgegenstehen, legt Lang, S. 500–504, dar. 74 von Arnim/Heiny/Ittner, S. 72. 75 von Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie, S. 160.
Diskussion zum Vortrag Jung Leitung: Heinrich Reinermann
Heinrich Reinermann: Meine Damen und Herren, plenus venter non studet libenter, aber Herr Jung hat dankenswerterweise soviel Koffein in seine Ausführungen gepackt, dass wir alle hellwach und gespannt weiter folgen konnten. Das Thema spielt ja in einer der Arenen, in denen sich unser heutiger Jubilar immer wieder betätigt; es ist sozusagen eines seiner Markenzeichen. Mein Fachgebiet gibt weniger her für eine Einführung, als das heute Morgen bei Herrn Fisch und bei Herrn Sommermann der Fall war, aber als Verwaltungsinformatiker kommt mir natürlich das Wort „Internet“ in den Sinn; es ist heute Morgen auch schon von den Herren Kollegen Meyer und Wieland verwendet worden. Man sagt ja dem Internet eine Hierarchie überwindende Wirkung nach – und das ist der Bezug zu unserem Nachmittagsthema. Jedermann kann also Empfänger von Informationen sein, wie bei den klassischen Medien üblich, aber darüber hinaus auch Sender. Man kann zum Beispiel seine eigene Zeitung veröffentlichen, ohne Verleger zu bemühen. Interessanter Weise hat Bert Brecht dieses Phänomen schon in den Zwanziger Jahren sehr schön ausgedrückt, damals für den gerade neuen Hörfunk. Er hat Folgendes gesagt, ich zitiere: „Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheueres Kanalsystem, das heißt er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“ Soweit das Zitat. Und genau das passiert heute mit dem Internet, es wird genau dazu genutzt. An einem kürzlich stattgefundenen Beispiel lässt sich das illustrieren, nämlich an den öffentlichen Petitionen. Diese sind ja seit 2005 möglich. Wenn innerhalb von drei Wochen 50.000 Bürger eine Petition per Internet unterstützen, dann ist sie in öffentlicher Sitzung des Petitionsausschusses des Bundestages zu behandeln, also mit Presse, mit Besucherterrasse, mit Live-Übertragung im Internet, usw., mit entsprechender Öffentlichkeitswirksamkeit also. In einem konkreten Fall ging es kürzlich, das werden Sie vermutlich mitbekommen haben,
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um die Frage „Sperrung oder Löschung von Internetseiten“. Es haben sich nicht weniger als 135.000 Personen über das Internet an dieser Diskussion beteiligt. Das Internet könnte also Elemente der direkten Demokratie, wie sie Herr Jung uns dargestellt hat, durchaus unterstützen. Die Anschlussdichte in Deutschland mit mittlerweile rund 80 % ist dafür hoch genug. Information und Aufklärung über politische Sachverhalte, über die klassischen Medien weit hinaus, ist also grundsätzlich ebenso möglich wie der Vorgang von Abstimmungen selbst. Aber Letzteres ist vielleicht eher eine technische Frage. Und das Ganze, was ich jetzt gesagt habe, ist natürlich auch nur ein Gesichtspunkt unter vielen für die Diskussion. Ich bitte jetzt aber Sie um Ihre Diskussionsbeiträge. Wer möchte den Anfang machen? Herr Morlok. Martin Morlok: Zum Stichwort „Finanzen“: Bei der Regelung der Politikfinanzierung betreiben wir auf manchen Gebieten einen erheblichen Aufwand, insbesondere bei den politischen Parteien. Das Grundproblem der Politikfinanzierung liegt auf der Hand: Es geht darum, dass man sich politischen Einfluss nicht erkaufen können soll. Die Chancengleichheit aller Bürger, gleichviel ob sie bemittelt oder weniger bemittelt sind, soll gewahrt bleiben. Das ist einfach eine Grundforderung der Demokratie. Bei den politischen Parteien haben wir eine Annäherung an diese politische Chancengleichheit erreicht. Ich habe nun überhaupt nichts gegen Elemente der direkten Demokratie, sehe aber im Hinblick auf diesen Aspekt der Chancengleichheit in der finanziellen Dimension noch einen großen Nachholbedarf. Man kann den Parteien schon allein deswegen, weil sie kraft Verfassung einen besonderen Status haben, in Finanzfragen Begrenzungen und Publizitätspflichten auferlegen. Es ist sehr viel schwieriger, ähnliche Einschränkungen den normalen Bürgern oder Unternehmen zu verordnen, die sich in der Kampagne einer Volksinitiative oder einem Referendum engagieren. Kann man die Unternehmen oder die Bürger verpflichten, ihre Finanzquellen offen zu legen, kann man ihnen Obergrenzen vorgeben? Das kommt nach meinem Eindruck nicht aus dem akademischen Lehrbuch, sondern ist durchaus ein reales Problem, wenn man sich die Schweizer Referendumsdemokratie ansieht. Wirtschaftskreise investieren bei sie betreffenden Abstimmungen ganz erhebliche Summen Geldes – ohne all die Kontrollen, die wir bei der Parteienfinanzierung kennen. Man kann solche Kontrollen natürlich grundsätzlich einführen, hat aber verfassungsrechtlich dabei größere Hürden zu überwinden als bei den Parteien. Otmar Jung: Grundsätzlich sollte man davon ausgehen, dass die Demokratie, die wir haben, nicht – weder die repräsentative Demokratie noch die direkte Demokratie,
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die auf Landes- und Kommunalebene flächendeckend besteht – die Inegalität unserer Gesellschaft, die ungleiche Verteilung wirtschaftlicher Macht, abschaffen möchte oder das gar zu ihrer Voraussetzung erklärt. Man geht davon aus, dass diese Ressourcen ungleich verteilt sind und dass dennoch Demokratie möglich ist. Also bitte keine Anforderungen an die direkte Demokratie stellen, die bei der repräsentativen nicht gestellt werden. Aber ich kann die anderen Fragen beantworten. Publizitätspflichten für Initiatoren von Volksbegehren gibt es durchaus in einigen Ausführungsgesetzen der Länder, wo es heißt in der klassischen Formulierung, „sie haben über die Herkunft ihrer Mittel Rechenschaft abzugeben“, und das gilt natürlich insbesondere dann, wenn, was ebenfalls in einigen Bundesländern der Fall ist, es eine der Wahlkampf-Kostenerstattung nachgebildete Abstimmungskampf-Kostenerstattung gibt. Diese ist natürlich keine Vollalimentation, ich habe es in einigen Fällen ausgerechnet: Ein Drittel ungefähr bekommen die Leute dann aus öffentlichen Geldern, zwei Drittel müssen sie selbst aufbringen. Das ist auch in Ordnung. Aber jedenfalls sind selbstverständlich damit Rechenschaftspflichten verbunden. Soll ich Ihnen jetzt die positiven Regelungen sagen oder meine ideale Vorstellung? Das sind meinetwegen pro abgegebene Stimme beim Volksentscheid 10 Cent, in dieser Größenordnung. Das summiert sich dann zu ein paar Hunderttausend Euro, und wenn man das auf die gesamten Ausgaben bezieht, kommt man etwa zu einem Drittel, das ersetzt wird. Das gibt es nur in einigen Ländern; hingegen in Bayern zum Beispiel, das ja die meiste direktdemokratische Praxis hat, wird das nach wie vor als „Privatvergnügen“ der Initiatoren behandelt, die eben schauen sollen, wo sie ihr Geld auftreiben. In der Schweiz haben Sie recht, da ist das besonders problematisiert worden als relativ starker Einfluss von Wirtschaftskreisen, und noch viel mehr in der US-Wirtschaft, weil das extrem teure Kampagnen sind, die dort gefahren werden. Und es ist durchaus problematisch. Aber, wie gesagt, beides, direkte wie repräsentative Demokratie, findet in der kapitalistischen Gesellschaft statt und setzt keine egalitäre Gesellschaft voraus. Heinrich Reinermann: Ich werde in der Reihenfolge der Wortmeldungen vorgehen, wenngleich dies allerdings zu Lasten der direkten Responsivität geht. Herr Kollege von Arnim. Hans Herbert von Arnim: Herzlichen Dank für Ihre sehr nachdenklichen, weiterführenden Überlegungen. Natürlich bin ich auch sehr dankbar für die zahlreichen Bezüge, welche Sie zu meiner Arbeit hergestellt haben. Besonders wichtig fand ich Ihre Hinweise, dass es bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache nicht um ein moralisches, sondern um ein strukturelles Problem geht, dass Verlängerungen der
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Wahlperiode auch einen solchen Fall darstellen und dass – neben dem Machterwerb und dem Machterhalt – auch Entscheidungen über den Machtgenuss dazugehören, vor allem aber Ihren Therapievorschlag eines obligatorischen Referendums speziell bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, das auf Landesebene auch mittels direkter Demokratie gegen widerstrebende Parlamente durchzusetzen wäre. Herr Morlok hat eben die Frage der Parteienfinanzierung angesprochen, also einen Teilbereich der Entscheidung in eigener Sache, auch wenn Herr Lang diesen Bereich heute Vormittag enger definiert hat. Aber ich meine, Parteienfinanzierung gehört definitiv dazu. Warum hat das Bundesverfassungsgericht mehr als ein halbes Dutzend Entscheidungen zur Parteienfinanzierung getroffen? Weil es einem Gesetzgeber gegenüberstand, der in eigener Sache entschied und deswegen besonderer Kontrolle bedarf, auch wenn die Rechtsprechung allein als Kontrollinstanz nicht ausreicht, da stimme ich Ihnen, Herr Jung, gerne zu. Immerhin hat das Gericht in der grundlegenden Entscheidung von 1992 eine intensive Kontrolle vorgenommen. Herr Morlok hat heute Vormittag gesagt, die Diktion gefalle ihm so nicht; das besondere Kontrollebedürfnis sei das Entscheidende. Aber das Kontrollebedürfnis ist hier nur die Kehrseite des Entscheidens in eigener Sache. Darauf können wir uns wohl einigen. Also, Parteienfinanzierung gehört meines Erachtens zu den Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache definitiv dazu. Herr Jung hat die Empfehlung des obligatorischen Referendums als eines probaten Kontrollmechanismus auch vor dem Schweizer Hintergrund dargestellt. Darüber hinaus gibt es noch einen anderen Vorschlag, der direkt demokratische Elemente in die Parteienfinanzierung hinein bringen würde. Er wurde in den achtziger Jahren diskutiert. Das ist der so genannte Finanzierungsbonus. Bei der Wahl sollte eine dritte Stimme eingeführt werden, mit der dem Bürger die Entscheidung darüber gegeben werden sollte, wem die fünf Mark Staatsgeld pro Bürger und pro Legislaturperiode – es müsste jetzt erheblich mehr sein – zufließen soll. Der Bundestag veranstaltete auch eine Sachverständigen-Anhörung, bei der von sechs Sachverständigen fünf den Vorschlag befürworteten. Einer hatte „Nein“ gesagt. Der stand den Parteien aber so nahe, dass das nicht anders zu erwarten war. Natürlich haben die Parteien den Bürgerbonus abgelehnt; die Durchsetzung gegen die Eigeninteressen der Politik ist ja immer das Problem. Bei Entscheidungen in eigener Sache gibt es drei Problemkonstellationen. Einmal: Die Regierungsmehrheit begünstigt sich zulasten der Opposition. Zum zweiten: Die Regierung und die Opposition begünstigen sich gemeinsam zulasten der außerparlamentarischen Konkurrenten. Heute Morgen war von den Freien Wählergemeinschaften und der Fünf-Prozent-Klausel die Rede; beides gehört hierher. Drittens: Regierung und Opposition begünstigen sich diesmal gemeinsam, aber nicht zu Lasten konkurrierender Parteien, Gruppen oder Abgeordneter, sondern zulasten des Bürgers, indem sie zum Beispiel sein Wahl-
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recht durch starre Listen einschränken oder ihre eigene Bezahlung exzessiv ausgestalten. Der Kartellgedanke trifft nur auf die beiden letzten Fallgruppen zu. Dabei ist unterstellt, dass auch Entscheidungen über das Wahlrecht Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache darstellen. Das kann man wohl auch aus den Ausführungen von Herrn Meyer entnehmen. Er hat das Wahlrecht als Wettbewerbsrecht bezeichnet, und wenn die Wettbewerber selbst über das Wahlrecht entscheiden, ist damit das Entscheiden in eigener Sache ja wohl bejaht. Im ersten Fall, in dem die Regierung sich zu eigenen Gunsten und zu Lasten der parlamentarischen Opposition begünstigt, ist ja kein Kartell der großen Etablierten vorhanden. Aber auch solche Fälle bergen Probleme, die natürlich nicht Gegenstand Ihres Referats sein konnten, Herr Jung, welches sich ja auf politische Kartelle beziehen sollte, die heute das größere Problem darstellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als es noch keine Verfassungsgerichte gab, hat etwa in Hamburg und Schleswig-Holstein die jeweilige Mehrheit das Wahlrecht nach ihrem Gusto geformt, um bei der Wiederwahl besonders gut dazustehen. Das war dann eine Entscheidung zwar nicht des ganzen Parlaments, aber doch immerhin der Regierungsmehrheit in eigener Sache. Und die öffentliche Kontrolle, die vielleicht auch hätte gegenhalten können, war damals offenbar noch wenig intakt. Es geht also nicht nur um Kartelle, sondern kann auch darum gehen, dass die Regierungsmehrheit sich Vorteile verschafft. Immerhin hat die Verfassungsrechtsprechung, als sie dann eingerichtet war, in solchen Fällen massiv gegensteuern. Wie gesagt, die Problemfälle traten besonders unmittelbar nach dem Krieg auf, als es noch keine Verfassungsgerichte gab. Martin Morlok: Auch wenn Sie ausdrücklich keine Frage formuliert haben, so darf ich einige Einzelthemen aufgreifen. Zuerst zum Kartellbegriff. „Kartell“ ist ein Begriff aus dem Wirtschaftsverwaltungsrecht, der jetzt auf den politischen Wettbewerb übertragen wird. Damit einher geht zwangsläufig eine gewisse Unschärfe. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass der Begriff „Kartellpartei“ etwas Plakatives hat und auch einen zutreffenden Kern, das nämlich der Wettbewerb zwischen den Parteien ausgesetzt wird zugunsten eines (temporären) einvernehmlichen Zusammenwirkens einiger Akteure auf Kosten Dritter, anderer Wettbewerber. Insofern ist der Begriff durchaus zutreffend. Jetzt zur Drittstimme. Das ist sicher eine kreative Idee. Ich bin trotzdem dagegen, weil ich finde, dass ein solches Drittstimmensystem die Sache nochmals kompliziert – das demokratische Instrumentarium sollte aber möglichst klar und einfach sein. Dabei bejahe ich grundsätzlich die staatliche teilweise Parteienfinanzierung, natürlich auch die Finanzierung der Abgeordneten und der Fraktionen. Wenn man all das streicht, tut man der Demokratie keinen Gefallen, sondern fördert nur die Abhängigkeit des politischen Personals und der politisch agierenden Institutionen von den freien gesellschaftlichen Kräften, das bedeutet,
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eben die Politik auch den finanziellen Ungleichheiten in der Gesellschaft auszuliefern. Allerdings: Die Entscheidungen, welche konkreten Regeln zu erlassen sind und in welcher Höhe die staatliche Finanzierung gewährt werden soll, sollte wie heute Morgen behandelt unter breiterer öffentlicher Kontrolle getroffen werden, es muss Raum geben, dass sich Gegengewichte gegen die Eigeninteressen der politischen Elite entwickeln können. Jetzt noch ein Wort zur Praxis in der Schweiz. Auf der einen Seite ist es ungemein eindrucksvoll, wie oft dort im Jahr das Volk – vier, fünf oder sechsmal – abstimmt. Und zwar auch zu Finanzfragen – das ist vorhin schon gesagt worden – das ist zu wiederholen, auf allen Ebenen bis hin zu den Kommunen kann das Volk durchaus auch über Finanzangelegenheiten mitbestimmen. Dabei wird keineswegs eben nur für Mehrausgaben votiert, in der Schweiz werden staatliche Ausgaben genau auf den Prüfstand gestellt. Auch sind die Abstimmungsergebnisse insgesamt wohl doch recht besonnen. Ich sage dies auch nach der Moscheen- und Minarett-Abstimmung. Die Schweizer Kollegen sprechen von „halbdirekter“ Demokratie. Das nimmt schon mal ein Stück der Idealisierung weg. Damit ist auch gesagt, dass das Referendum ein Balancierungsinstrument ist, dass es punktuell ein Gegengewicht gegen Einseitigkeiten der repräsentativen Demokratie darstellt, dass versucht wird, die repräsentative Demokratie nicht zu ersetzen, sondern sie mit direkt demokratischen Entscheidungsmechanismen auszubalancieren. Mein Punkt betrifft nun den großen Einfluss von mächtigen Interessengruppen. Dieser kann sich im Wahlkampf auswirken, wir müssen aber sehen, dass dieser Einfluss noch sehr viel weiter geht. Die Macht von starken Interessengruppen hat entscheidende Vorwirkungen auf den gesamten politischen Prozess, auch schon im Vorfeld der Gesetzgebung. Bei den Anhörungen im Gesetzgebungsprozess, in der Schweiz heißt es schön „Vernehmlassungen“, gibt es zwei Gruppen: Es gibt die Gruppe von Interessenverbänden, die referendumsfähig sind, denen man zutraut, dass sie ein Referendum auf die Beine stellen können und damit gegebenenfalls ein Gesetzesvorhaben zu Fall bringen können. Diese Verbände haben eine ganz andere Macht, die haben eine viel bessere Chance mit ihren Argumenten durchzudringen als die anderen: eben nicht referendumsfähigen Gruppierungen. Dies ist kein Plädoyer gegen die halbdirekte Demokratie und ihre Instrumente. Ich bin im Gegenteil dafür, möchte aber doch ein realistisches Bild zeichnen. Otmar Jung: Ich bitte erst einmal um Nachsicht, dass ich die Schweiz, wie viele andere Themen, nicht ausführlicher behandelt habe, aber ich hatte ja nun die Zeitvorgabe. Sie haben grundsätzlich recht: Es ist ein starker Unterschied in der Mentalität, im politischen Denken. Die Finanzvorbehalte bei uns – ich pflege noch deutlicher zu sagen: diese „Finanztabus“ –, in allen Landesverfassungen festgelegt, sind spezifisch deutsche Vorstellungen: Die Bürger und Bürgerinnen dür-
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fen abstimmen über alles, aber nicht über Geld, nicht über Steuern, nicht über Besoldung usw. In der Schweiz – und übrigens auch in den US-Bundesstaaten – gilt es umgekehrt als vornehmstes Recht der Steuer zahlenden Bürger, darüber zu befinden, was mit ihren Steuern angestellt wird. Und das Ergebnis ist – wie Sie auch angedeutet haben – keineswegs Selbstbedienung und dass der „Staatskarren“ gegen die Wand gefahren wird, und was es sonst alles an Befürchtungen gibt. Grundsätzlich ist ein sparsames Ausgabeverhalten festzustellen, Prestigeprojekte werden unfehlbar abgelehnt. Das Volk ist auch bereit, Steuererhöhungen zu bewilligen, wohl wissend, dass man mit der Hand, die man zur Abstimmung hebt, auch gleich zum Geldbeutel greifen kann. Was den Umgang der politischen Klasse in der Schweiz mit dem Referendum angeht, haben Sie völlig recht. Man muss deutlich sagen: Es wird dort oft abgestimmt, aber nicht aus einer allgemeinen Abstimmungsbegeisterung heraus, sondern die Strategie der herrschenden Klasse besteht in Referendumsvermeidung. Daraus folgt die Einbindung aller referendumsfähigen Gruppen, daher resultiert die Konsensorientierung und im Letzten auch das Konkordanzsystem. Das heißt, wenn es zum Referendum kommt, ist im Grunde genommen etwas schief gegangen nach schweizerischer Logik, man hat nämlich eine Gruppe, die referendumsfähig war, unterschätzt. Das muss man realistisch sehen: Sinn der direkten Demokratie ist auch in der Schweiz nicht, so viel wie möglich abzustimmen. Man kann Sonntage sehr viel besser nutzen. Heinrich Reinermann: Vielen Dank. Herr Pitschas ist als Nächster an der Reihe. Rainer Pitschas: Herzlichen Dank. Herr Jung, ich habe eine methodische Frage an Sie. Mir ist im Vergleich zu den Vormittagsreferaten aufgefallen, dass Sie relativ selbstverständlich eine Frage der Parteienfinanzierung, nämlich die Diätenerhöhung den Angelegenheiten des Parlaments zugeordnet haben. Nun könnte man auch die Auffassung vertreten, dass davon nicht nur das Parlament unmittelbar oder die Abgeordneten als Interessengruppe, -gruppierung, unmittelbar betroffen sind, sondern dass die Diätenerhöhung mehr noch eine Angelegenheit der gesamten Bevölkerung ist, des Wahlvolkes. Sie bildet eine Gesamtheit der Interessen des Wahlvolkes und seiner Repräsentanten im Sinne von auskömmlicher, sinnvoller und zukunftsgewandter Sicherung des Lebensunterhalts dieser Abgeordneten ab. Und wenn man methodisch weiterfragt, dann wird auch eine gewisse eindimensionale Perspektive bei Ihren Ausführungen für mich erkennbar: Sie gehen davon aus, dass die Abgeordneten bei der Diätenerhöhung oder in anderen eigenen Angelegenheiten sozusagen so etwas wie eine eigene „politische Klasse“ verkörpern. Mir ist diese Klassifizierung und Kategorie wohl bekannt, denn
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Herr von Arnim hat mich immer sehr liebenswürdig mit seinen Büchern versorgt. Auch er benutzt den Begriff „politische Klasse“ als einen Kampfbegriff. Man könnte jedoch einwenden, eigentlich geht es Ihnen dort, wo Sie den Begriff der politischen Klasse benutzen, eher darum, so etwas wie eine Zwangskooperation nach innen und eine Sonderstellung der Gruppe der Parlamentarier in Deutschland nach außen zu deren eigenem Nutzen geschaffen, kenntlich zu machen. „Politische Klasse ist dann ein gewählter Kampfbegriff, der genutzt wird, um das Parlament zu diskreditieren. Ich für meinen Teil würde dagegen behaupten, es gibt keine „politische Klasse“. Das ist ein Begriff nach Milovan Djilas, der eine bestimmte politische Situation beschrieb. Unsere ist anders. Und jetzt muss man fragen – genau wie zu Ihrem Beispiel „politisches Kartell“: Darf ich eigentlich die Begriffe übertragen? Und da würde ich zu der Diätenerhöhung anmerken – und da bin ich etwas anderer Ansicht, Herr Lang, zu Ihrem Altersversorgungsbeispiel –, ich finde es ganz richtig, dass die Abgeordneten an ihre eigene Altersversorgung auch mit einem bestimmten meritokratischen Zungenschlag denken. Sie sollen unabhängig und deshalb gut versorgt sein. Und sie werden gegenwärtig nach meinem Dafürhalten noch viel zu schlecht bezahlt. Also, meine Frage, Herr Jung, ist: Könnte man sich denn vorstellen, methodisch auf die etwas ideologische Begründung Ihrer Positionen zu verzichten? Otmar Jung: Ich würde gerne verzichten auf den Begriff des Kampfes. Ich kämpfe nicht und möchte auch nicht, dass Sie sich jetzt in Verteidigungsposition glauben. Es geht hier nicht um Rousseau und seine direkte Demokratie, sondern wir können davon ausgehen, dass eine repräsentative Demokratie selbstverständlich ist und dass wir sie grundsätzlich hier zu Lande gut haben, aber dass sie verbessert werden kann und soll, und zwar in dieser Richtung. Das ist, glaube ich, kein Kampf. Vielleicht gibt es auch einen Unterschied zwischen den beiden staatsrechtlichen Referenten heute Morgen und mir als Politikwissenschaftler. Wenn Sie sich vielleicht erinnern, dass ich phänomenologisch vorging bei der Frage: Was sind Entscheidungen in eigener Sache? Ich hatte die Definition gebracht, das sind Entscheidungen, die in einem besonderen Verfahren erledigt werden, das verschiedene typische Elemente kombiniert. Was den Begriff der politischen Klasse angeht, also Robert Michels, das ist jetzt nicht unser Punkt, sondern Herr von Arnim hat in seinen Werken sowohl die politische Klasse wie die politische Elite meines Erachtens einleuchtend definiert: die politische Klasse als diejenigen, die von der und für die Politik leben, und die politische Elite als den Teil der politischen Klasse, der die Entscheidungen trifft. Das scheinen mir praktikable Begriffe zu sein, die weiterführen; aber ich würde darin keine Kampfbegriffe sehen.
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Heinrich Reinermann: Vielen Dank. Herr Decker ist der Nächste. Frank Decker: Ich denke, es lässt sich relativ gut plausibel machen, warum plebiszitäre Korrektive geeignet sind, solche Kartellstrukturen aufzubrechen, die im Bereich der institutionellen Eigeninteressen der politischen Parteien bestehen. Man könnte vielleicht noch zwei andere Konstellationen hinzufügen, in denen sich die direkte Demokratie als Gegengewicht aufdrängt. Der eine Fall ist die Große Koalition. Auch dort ist ja der normale Wechselmechanismus von Regierung und Opposition, auf dem die Kontrolle im parlamentarischen Regierungssystem beruht, außer Kraft gesetzt, möglicherweise sogar auf Dauer (siehe Österreich). Der andere Fall ist die Hegemonie einer Partei. Das kennzeichnete lange Zeit die Situation in Bayern. Auch hier hat das Wechselspiel von Regierung und Opposition nicht funktioniert. Deshalb ist es kein Zufall, dass die direkte Demokratie ausgerechnet in Bayern am stärksten ausgebaut wurde. Sie war nämlich die einzige Möglichkeit, der regierenden CSU von Seiten der Wähler auch mal eine Niederlage beizubringen, was, nebenbei bemerkt, die Dauerherrschaft der CSU stabilisiert hat. Mit Blick auf die Frage der Integration der Plebiszite in das parlamentarische Regierungssystem viel interessanter ist der Fall, den Herr von Arnim genannt hat: Die Regierung steht einer annähernd gleich starken Opposition gegenüber. Hier liegt der grundlegende Unterschied zur Schweiz. Diese hat ja ein ganz anderes Regierungssystem, wobei man immer sehen muss, dass die Etablierung des Konkordanzsystems nicht der direkten Demokratie vorausgegangen ist, sondern umgekehrt: Die Einführung des fakultativen Referendums hat in der Schweiz zur Herausbildung des Konkordanzsystems geführt. Um zu verhindern, dass das plebiszitäre Veto ergriffen wird, wurden vorsorglich alle Kräfte in den Regierungsprozess integriert. Des Weiteren – das Stichwort ist heute schon gefallen – muss man daran erinnern, dass die Schweiz kein parlamentarisches, sondern ein quasi-präsidentielles Regierungssystem hat, in welchem die Regierung zwar förmlich vom Parlament bestellt wird, aber von diesem nicht abberufbar ist. Das wiederum hat Konsequenzen für das Verhältnis von Parlament und Regierung und die Rolle der politischen Parteien. Plebiszitäre Korrektive lassen sich in eine solche Regierungssystemstruktur viel sinnvoller einbetten als in ein parlamentarisches Regierungssystem. Von daher stellt sich die Frage, ob man bei der Einführung der plebiszitären Korrektive über den Bereich hinausgehen sollte, der sich auf die institutionellen Eigeninteressen der Parteien bezieht. Ich wäre da sehr vorsichtig. Dies gilt zumal, wenn man statt des fakultativen Referendums das in der Bundesrepublik vorherrschende Modell der Volksgesetzgebung betrachtet. Tritt diese gleichberechtigt neben die parlamentarische Gesetzgebung, stellt sich natürlich die Frage, was passiert, wenn beide Legitimationsstränge einander in die Quere kommen. Hier scheint
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mir das Kardinalproblem der verfassungspolitischen Diskussion und der tatsächlichen verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der direkten Demokratie in der Bundesrepublik zu liegen. Auf der einen Seite haben wir mit der Volksgesetzgebung ein sehr progressives Modell. Auf der anderen Seite werden die weitreichenden plebiszitären Versprechungen im Kleingedruckten der konkreten Anwendungsbedingungen wieder eingeschränkt, sodass das Instrument in der Praxis keine große Rolle spielt. Man traut dem Ganzen also doch nicht und hat dabei zumindest implizit, also ohne es wirklich zu reflektieren, das Problem der Inkompatibilität mit dem parlamentarischen System vor Augen. Dass ungefähr ein Drittel oder noch mehr Verfahren, die direktdemokratisch angestrengt werden, sich auf die direkte Demokratie selbst beziehen, stellt vor diesem Hintergrund keine Überraschung dar. Die Bürger nutzen die direkte Demokratie, um die Anwendungsmöglichkeiten derselben zu verbessern, und die Regierenden gehen anschließend hin und schränken die verbesserten Anwendungsmöglichkeiten wieder ein. Wenn zur Idee der Verfassung eine gewisse Dauerhaftigkeit und Berechenbarkeit der politischen Verfahren gehört, wird sie dadurch ad absurdum geführt. All das ist eine Folge des untauglichen Versuchs, ein Systemelement, das eigentlich in einer Separation of Powers-System gehört, in ein System der Gewaltenfusion zu integrieren. Otmar Jung: Ich kann weitgehend zustimmen und möchte nur noch etwas zur Verdeutlichung sagen. Bayern, die Übermacht einer Partei, das kann man in Zahlen fassen: Die CSU hatte dort vierzig Jahre lang die absolute Mehrheit. Und nach der absoluten Mehrheit kam für eine Legislaturperiode sogar eine Zweidrittelmehrheit. Da bekam natürlich die Opposition nie einen politischen Fuß auf die Erde, und von daher dieser Ausweg der punktuellen Korrektur. Was die Schweiz angeht, haben Sie völlig recht. Es wäre naiv, in ihr sozusagen das Wunderland zu sehen: Was dort läuft, ist gut und wird übernommen. Andererseits sollte man sie auch nicht ignorieren wegen völliger Andersartigkeit, das ist sie ja nicht. Sondern ein kritischer Blick auf das, was in der Schweiz geschieht, das scheint mir der richtige Weg zu sein. Die Konkordanz – Sie haben Recht – ist die Reaktion auf der Einführung der Volksrechte, aber das hängt wohl zusammen mit der Dosierung. Denn wenn Sie Kalifornien anschauen – das ist ja auch schon erwähnt worden heute Morgen –, Kalifornien hat sein normales alternierendes Regierungssystem beibehalten, trotz intensiver Nutzung direkter Demokratie. Im schweizerischen Fall ist historisch die Konkordanz die Folge der Volksrechte. Aber man kann daraus nicht ein Gesetz ableiten: Direkte Demokratie führt unvermeidlicherweise in jedem Falle zu einem Konkordanzsystem. Abgesehen davon, dass das ja auch nicht das Schlechteste wäre.
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Was „Andersartigkeit“ angeht, ein kleiner verfassungsgeschichtlicher Hinweis: Wir reden nicht über etwas, das sozusagen jetzt eingepflanzt werden soll in Deutschland seit 15 Jahren. Sie können die Spuren der direkten Demokratie – und zwar nicht als Schriften von begeisterten Parteigängern, sondern verfassungsrechtlich – zurückverfolgen bis zur Bremischen Verfassung von 1849. So alt ist diese Diskussion. Sie ist verfassungsrechtlich greifbar die ganze Weimarer Zeit, das heißt die deutsche Konzeption von Demokratie nach dem Ende der Monarchie ist eigentlich die gemischte Demokratie. Und damit begann man ja auch nach 1945 wieder auf Landesebene. Heinrich Reinermann: Vielen Dank Herr Jung. Ich habe jetzt auf meiner Liste noch die Herren Schulze-Fielitz und von Arnim. Ich sehe, dass sich Herr Meyer ebenfalls äußern möchte. Dann schließen wir die Liste damit ab. Herr Kollege Schulze-Fielitz bitte. Helmuth Schulze-Fielitz: Zwei kleine Fragen. Sie haben, das ist eine Prämisse unserer Diskussion, immer von den Eigeninteressen, in diesem Falle der politischen Klasse oder der Abgeordneten gesprochen, auch der politischen Parteien. Meine erste Frage lautet: Gibt es nicht auch ein „illegitimes Eigeninteresse des Volkes“? Können wir immer davon ausgehen, dass per se der empirische Volkswille nicht von gemeinwohlwidrigen Eigeninteressen bestimmt ist? Wenn man davon ausgeht, dass das (nicht) möglich ist und man nicht mit der Fiktion arbeitet, per se ist das Volk als Entscheidungskörper immer auf der „richtigen Seite“, dann besinnt man sich letztlich auf den Grundgedanken einer Verfassung. Ich knüpfe an Herrn Decker an, an die Idee der gemischten Verfassung, die verschiedenen Formen der Entscheidungsfindung auszubalancieren. Dann kommt man auf eine stärkere Diskussion der jeweiligen Kontexte. Ich bin voll der Meinung, dass die plebiszitären Korrektive notwendig sind. Wir haben auch einen „Megatrend“, dass die nach 1945 in Deutschland in der amerikanischen Besatzungszone geprägte Verstärkung plebiszitärer Elemente inzwischen auf kommunaler Ebene bundesweit und auf Landesebene weithin angekommen ist und irgendwann auch auf Bundesebene ankommt. Aber es ist nicht richtig, daraus zu folgern, das Volk könne völlig frei befinden. Sondern auch das Volk ist eingebunden in die, die dann die Volksabstimmung sei es instrumentalisieren, organisieren oder mit beeinflussen. Das sind nämlich auch die politischen Parteien und die sonstigen Mitglieder der politisch herrschenden Klasse. Damit verbunden ist ein zweiter Anstoß für mein Votum durch Ihre Ausführungen: Sie haben gesagt, man sollte verbieten, (Verhandlungs-)Pakete zu schnüren und solche unmöglich machen. Ich meine, das Wesen der Gemeinwohlfin-
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dung in der pluralistischen Demokratie, ob im Parlament oder durch Volksdemokratie, ist es, Kompromissentscheidungen, die mehrheitsfähig sind, zu realisieren. Die „fixe Idee“, es gebe immer nur die reine Lösung und entweder die eine oder die andere sei die richtige, ist im Grunde eine Idee von Fundamentalisten. In der pluralistischen Demokratie gibt es nur kompromisshafte Entscheidungsinhalte, oder es sind keine pluralistischen Demokratien. Eine solche Kompromissfindung muss letztlich auch bei der Ausgestaltung der plebiszitären Demokratie oder plebiszitärer Elemente möglich sein. Insofern scheint mir die Logik in der Schweiz, dass man Kompromisslösungen findet, die nicht notwendig zu Volksabstimmungen führen, weil sie von vornherein allseits befriedigen, eigentlich langfristig durchaus sinnvoller zu sein als die schneidigen, klaren Lösungen, zu denen meistens nur Intellektuelle neigen. Heinrich Reinermann: Vielen Dank. Wenn Sie, meine Damen und Herren, einverstanden sind, antwortet Herr Jung auf alle drei Äußerungen gemeinsam. Herr Kollege von Arnim, als Nächster Herr Meyer. Hans Herbert von Arnim: Noch ein Wort zur politischen Klasse. Politiker und ihnen distanzlos Nahestehende stellen es oft so dar, als wäre politische Klasse ein polemischer Kampfbegriff, nur, um auf die dabei auftretenden Sachfragen nicht eingehen zu müssen. In Wahrheit besagt der Begriff lediglich, dass Politiker fraktions- und parteiübergreifend eigene Berufsinteressen haben. Auch in den Medien wird er heute vielfach so verwendet. Selbst ein ehemaliger Politiker wie Helmut Schmidt spricht in seinem Buch „Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral“ (1998) von den „Aufgaben der politischen Klasse“. Und seit fast zwei Jahrzehnten gibt es in der Politikwissenschaft eine Fülle von Büchern und Aufsätzen, die alle dem Thema politische Klasse gewidmet sind und dies auch so benennen und damit eben die gemeinsamen Berufsinteressen von Berufspolitikern meinen. Nicht nur Klaus von Beyme, der Doyen der Politikwissenschaftler, hat darüber ein Buch geschrieben („Die politische Klasse in Parteienstaat“, 1993), sondern auch viele andere einschließlich Habilitationsschriften und anderen Werken. Dass diese Arbeiten oft durch meine Forschungen angeregt wurden und Kritik ins Positive zu wenden suchen, ist ein anderes Thema. Ich stimme Herrn Jung also voll zu, dass politische Klasse von der Wissenschaft keineswegs als Kampfbegriff verstanden wird. Ich möchte die Überlegung von Herrn Decker noch mal aufgreifen, dass die Logik unseres Systems auf dem Regierungs- und Oppositionsmechanismus beruht, der Öffentlichkeit verlangt. Wenn man erkennt, dass Entscheidungen in eigener Sache nicht nur in positivem Tun, sondern auch in Unterlassen bestehen
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können, dann erweitern sich die Anwendungsfälle. Heute Vormittag sprachen wir über Überhangmandate. Hans Meyer hat darüber ja viel Zutreffendes gesagt. Eigentlich müssten sie beseitigt werden. Aber die Union wird kaum auf sie verzichten wollen, und hat dabei auch die Unterstützung ihres Koalitionspartners FDP, mit dem zusammen sie – auch mittels Stimmensplittings – die rechtswidrige Beute maximieren möchte. Nun mögen Sie einwenden, da ist der Regierungs-Oppositionsmechanismus, und der wird es schon richten. Nein, die Sache mit den Überhangmandaten ist der Art kompliziert, dass der Appell der Opposition an die Öffentlichkeit, der ja dazu führen soll, dass die Regierungsmehrheit einlenken muss, wenn sie etwas Anfechtbares aufrechterhalten will – der funktioniert hier nicht, weil die Öffentlichkeit das alles wegen seiner Kompliziertheit nicht versteht. Das war jedenfalls vor der Bundestagswahl 2009 der Fall. Damals lief der Appell der Opposition an die Öffentlichkeit leer, so dass der normale parlamentarische Kontrollmechanismus nicht funktionierte. Deswegen: Hier könnte mit direkter Demokratie ein einfacheres und von Auswüchsen befreites Wahlrecht durchgesetzt werden. Beispiele für Wahlrechtsänderung mittels direkter Demokratie gibt es in mehreren Bundesländern, allen voran in Hamburg. Eine Frage noch, Herr Jung, damit ich auch dem gerecht werde: Man könnte den Begriff der direkten Demokratie ja weiter fassen und nicht nur auf unmittelbare Sachentscheidungen durch das Volk beziehen, sondern auch auf unmittelbare Personalentscheidungen. Heute Vormittag wurde schon von der Direktwahl des Ministerpräsidenten gesprochen, auch von der Direktwahl von Abgeordneten. Wenn die Parteien entscheiden und nicht die Bürger, wer Abgeordneter wird, ist das ja keine Direktwahl, obwohl die Verfassung es verlangt. Praktisch würde eine solche weitere Fassung des Begriffs direkte Demokratie zum Beispiel, wenn es um den legitimen Aufgabenkatalog der NGO „Mehr Demokratie“ geht, deren Kuratorium wir beide angehören. Im Übrigen: Die Direktwahl des Ministerpräsidenten würde natürlich auch nicht von der politischen Klasse eingeführt, genauso wenig wie die Parlamente zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die Direktwahl der Bürgermeister freiwillig eingeführt hatten. Aber durch direkte Demokratie sehr wohl. Heinrich Reinermann: Vielen Dank. Herr Meyer, bitte, und Herr König möchte noch einen Satz ergänzen. Hans Meyer: Wenn hier vor dreißig Jahren eine Gesellschaft ähnlich alter Herrschaften gesessen hätte und diese Frage aufgetaucht wäre, wäre der Referent zerrissen worden. Darüber muss man sich wohl im Klaren sein. Jede Debatte über direkte
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Demokratie auf Bundesebene wäre als ein Verstoß gegen einen Konsens, der offensichtlich vorhanden war, aufgefasst worden und hätte furchtbare Sanktionen mit sich gebracht. Das zeigt, wie sich die Anschauungen ändern. Das ist ja auch ganz schön. Gegen den Begriff der politischen Klasse habe ich nun wirklich nichts, Herr Pitschas. Das ist ein heuristischer Begriff für etwas, was offensichtlich eine geschlossene Situation personellen Interessen bezeichnet, und ich weiß nicht, warum man etwas dagegen haben sollte. Wenn wir auf der Bundesebene so etwas erreichen wollen, bedeutet das nach allgemeiner Meinung Verfassungsänderung. Und das heißt, die Chancen stehen zunächst einmal ganz schlecht. Die Frage ist, und das ist die Frage an Herrn Jung, ob es nicht besser wäre, wenn man sich zunächst darauf beschränkte, lediglich negative Volksentscheide zu ermöglichen, und zwar ohne sachliche Beschränkung. Wenn also ein Steuergesetz ein Privileg nur für Hoteliers schafft, dann liefe die Politik Gefahr, und das ist der entscheidende Punkt, dass das konterkariert wird. Wäre ein Volksentscheid nur als drohende Möglichkeit im Hintergrund, nicht aber als aktives Gestaltungsmittel, nicht vielleicht eine Möglichkeit, auch mit der jetzigen politischen Klasse zu einem Kompromiss zu kommen? Heinrich Reinermann: Vielen Dank Herr Meyer. Jetzt Herr König. Klaus König: Zuerst zur Direktwahl der Ministerpräsidenten: Die lässt sich einrichten, wenn man das Regierungssystem umstellt. Das Minimum ist ein semipräsidentielles System mit der doppelten politischen Abhängigkeit der Executive. Ob das vorzuziehen ist, ist eine andere Frage. Ein populärer Politiker wie der frühere Ministerpräsident Vogel könnte mit einem Erfolg in der Direktwahl rechnen. Man kann aber nicht ausschließen, dass seine politischen Gegner Parlamentsmehrheit und Kabinett besetzen. Zweitens zum Demokratieproblem: Es gibt eine Reihe von Indizes zur Demokratie mit Indikatoren bis hin zu den Menschenrechten. Die Bundesrepublik liegt regelmäßig hinter skandinavischen Ländern, aber zum Beispiel auch vor den USA. Was in diesen Indizes nicht berücksichtigt wird, ist die Komplexität von Gesellschaften, wie sie politisch reflektiert werden. Das ist im Hinblick auf die Schweiz schon diskutiert worden. Meine Frage lautet: „Würden Sie jenseits der Wahl des Präsidenten weitere Instrumente der direkten Demokratie auch für die Bundesebene der Vereinigten Staaten von Amerika in Betracht ziehen?“ Heinrich Reinermann: Weil ich qua Amt das letzte Wort habe, schließe ich selbst noch eine Frage an. Ich hatte angenommen, dass sie gestellt würde. Herr Jung, Sie haben gesagt,
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auf Länderebene gibt es die Möglichkeiten der Referenden für Volksgesetzgebung bereits, so in Bayern, Hessen oder Rheinland-Pfalz. Täuscht der Eindruck oder hört man wenig davon? Wenn Letzteres der Fall ist, warum werden diese schon bestehenden Möglichkeiten nicht stärker genutzt? Otmar Jung: Darf ich mit Letzterem beginnen? Um das klarzustellen: Es gibt seit 1996 auf Landesebene Volksbegehren und Volksentscheid flächendeckend. Alle 16 Bundesländer. Die Nutzung – da haben Sie völlig Recht – ist sehr unterschiedlich, und da kann man nun nach Erklärungen suchen. Eine Erklärung ist sicher, dass direkte Demokratie ein sehr verfahrenssensibles politisches Instrument ist. Das heißt, man kann hier durch – jetzt muss ich mit Einzelheiten kommen – bestimmte hohe Hürden – Hessen für ein Volksbegehren 20 % (dagegen Brandenburg nur 4 %) – oder durch Quoren – dass nicht nur die Mehrheit an den Urnen erfordert wird beim Volksentscheid, sondern diese Mehrheit auch gleichzeitig 25 % der Stimmberechtigten in Berlin oder 50 % der Stimmberechtigten in manchen Bundesländern für Verfassungsänderungen ausmachen muss – die Sache unmöglich machen. Das ist dann symbolische Gesetzgebung: Das Instrument liegt bereit, die praktische Realisierungsmöglichkeit ist bei Null. Das ist zumindest eine Erklärung. Dann könnte man die politische Kultur noch weiter erforschen. Nun möchte ich weitermachen in der Reihenfolge. Herr Schulze-Fielitz: Da war leider ein Missverständnis, glaube ich. Das freie Befinden bezog sich darauf, dass das Volk, das in einem Referendum über eine Diätenerhöhung entscheidet, ob es die akzeptiert oder verwirft, nicht an bestimmte Maßstäbe gebunden ist wie ein Verfassungsgericht oder eine wissenschaftliche Kommission, sondern dass letztendlich – um mit Max Weber zu sprechen – der Bürger, der den Schuh anzieht, entscheiden kann: „Er drückt, oder er drückt nicht.“ So war das gemeint. Aber ansonsten heißt das natürlich nicht, dass hier Willkür herrschen soll. Was die Spezialfrage angeht mit dem Gebot der Einheit der Materie: Ich habe Ihnen vorhin den hessischen Fall angedeutet. Das will ich kurz ausführen und dann mit Bayern kontrastieren. In Hessen hatten wir 2002 drei Entscheidungen. Es ging eigentlich um die Verlängerung der Legislaturperiode, und diese Reform sollte sozusagen freundlich angereichert werden durch die Förderung des Sports und die Einführung des Konnexitätsprinzips. Da hat sich allerdings die Position durchgesetzt, dass man das doch nicht in einer Abstimmung entscheiden lassen könne, sondern dass man drei Abstimmungen durchführen müsse, die dann am gleichen Tag stattfanden; natürlich ist sehr interessant, dass die Zustimmung am geringsten ausfiel bei der Verlängerung der Legislaturperiode. Das negative Gegenbeispiel hat Bayern produziert, das 1998 und 2003 zweimal Verfassungsänderungen als Pakete vorschlug. Jetzt wurden etwa kombiniert der Tierschutz, die Förderung des Sports, ein Europabekennt-
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nis, die Gleichberechtigung der Geschlechter und ein Benachteiligungsverbot für Behinderte. Das und noch mehr wurde zusammengeschnürt zu einem Verfassungsreform-Paket mit der Aufschrift „Weiterentwicklung im Bereich der Grundrechte und Staatsziele“. Darüber sollten dann die Leute in einer Abstimmung befinden: einmal Ja/Nein. Das wurde 1998 gemacht, und da hat auch ein Richter des Bundesverfassungsgerichts öffentlich erklärt, das sei letztlich unzumutbar. Die Pointe ist die, dass der Bayerische Verfassungsgerichtshof das hingenommen hat, obwohl er für Initiativen von unten streng auf dem Gebot der Einheit der Materie beharrt. Es ist dies auch eine Forderung des schweizerischen positiven Bundesverfassungsrechts. Die Schweizer begründen es damit, dass die Freiheit der Stimmabgabe das verlangt. Eine solche politische Kombination – nicht Kompromiss, darum geht es jetzt nicht – von heterogenen, nicht zusammengehörenden Reformen, darüber im Paket abzustimmen, das ist keine freie Abstimmung. Herr von Arnim und auch Herr König: Die Direktwahl der Ministerpräsidenten kann man erwägen. Sie haben mit Recht gesagt, bei den Bürgermeistern ist es schon geschehen in den letzten zehn Jahren. Man kann das erwägen. Es gibt ein Pro und ein Contra. Ob man das kategorial als direkte Demokratie im weiteren Sinne erfasst, finde ich – Entschuldigung – so spannend nicht. Man kann die Definition so wählen, man kann sie anders wählen. Es gibt ja in der Politikwissenschaft kein Lehramt und keine Legaldefinitionen. Wichtig ist, ob es in der Sache weiterführt, ob man es für sinnvoll hält. Herr Meyer, ich bin sehr dankbar, dass ich nicht vor 30 Jahren diesen Vortrag halten musste. Da haben Sie vollkommen recht. Ich verstehe Ihren Ansatz gut. Es wird ja auch von Herrn Decker vertreten, dass man zunächst sich um das Referendum kümmern soll. Das gibt die Möglichkeit, eine Vorlage, die „von oben“ im Parlament ausgearbeitet wurde, anzunehmen oder abzulehnen. Und dass man mit der Volksgesetzgebung, wo „von unten“ Gesetze initiiert werden, behutsam sein sollte. Wobei ich bitte, keine falschen Vorstellungen zu pflegen. Da kommen ja nicht „dumme Sachen“ von unten. In den Fällen, wo das praktiziert wurde, haben sich die Initiatoren natürlich sofort mit Staatsrechtslehrern kurzgeschlossen und gebeten, mal den Gesetzentwurf durchzuschauen. Also bitte nicht gleich den Dilettantismusvorwurf erheben. Nur eines möchte ich doch klarstellen. Die Ablehnung der politischen Klasse wird wahrscheinlich bei Referenden ähnlich sein. Auch die Vorwirkung, von der Sie sprechen; die haben ja beide Verfahren. Sowohl auf ein angekündigtes Volksbegehren oder gar ein durchgeführtes wie auf ein angekündigtes Referendum reagiert die politische Klasse sehr sensibel. Sie können das im Moment in Hamburg sehen oder in Bayern. Das heißt, die Entscheidung, ob man so etwas einführt, wird sich nicht an der Frage Referendum/Volksgesetzgebung entscheiden, sondern es geht darum, ob man das überhaupt tut. Denn es wird, das ist völlig klar, ein Stück Macht abgegeben. Ich meine allerdings, dass ein weises Parlament sehen würde,
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dass es gut sein kann, ein Stück Macht abzugeben. Und dass die klügste Politik nicht darin besteht, möglichst viel Macht zu kumulieren und festzukrallen. Jetzt die letzte Frage, nach der Unions-Ebene in Amerika. Ich habe hier plädiert für eine Einführung solcher Elemente auf der deutschen Bundesebene. Mit den USA ist wohl besser Europa zu vergleichen, ein ganzer Kontinent. Und da bitte ich Sie immerhin zu bedenken: Der Vertrag von Lissabon, der – genauso wie die Europäische Verfassung – ja eine europäische Bürgerinitiative eingeführt hat, ist positives europäisches Verfassungsrecht. Das ist die erste Stufe. Selbstverständlich. Ein Initiativrecht, kein Erzwingungsrecht. Aber immerhin hält man das derzeit bereits in Europa für möglich, während es in den USA bekanntlich nur auf der Bundesstaaten-Ebene – und da auch nur in der Mehrheit, nicht in allen Staaten –, aber nicht auf Unionsebene praktiziert wird. Heinrich Reinermann: Damit kommen wir zum Ende der Diskussion. Ich danke Herrn Jung, ich danke allen Diskutanten. Zum Schluss: Haben wir nun die Frage des beginnenden Nachmittags, die Frage „Direkte Demokratie als Gegengewicht gegen Kartelle der herrschenden Klasse?“ beantwortet? Sicher nicht mit Ja oder Nein. Was tun gegen die herrschende politische Klasse? Das Thema hat im Grunde schon den alten Äsop interessiert, und es gab ja eine Zeit, da konnte man von den Griechen noch lernen. Vor zweieinhalbtausend Jahren hat er die folgende Fabel geschrieben, Sie kennen sie wahrscheinlich, die Fabel von den Mäusen und der Katze. Eine Kolonie Mäuse lebte in einer Landvilla lustig vor sich hin. Ein Problem war allerdings, dass nachts eine Katze erschien und die Mäuse dezimierte. Man musste also gegen diese herrschende Klasse etwas unternehmen. Da meldete sich eine junge kecke Maus zu Wort und sagte: „Das Problem ist doch einfach zu lösen. Wir hängen der Katze eine Schelle um. Dann wissen wir immer, wann sie kommt und können uns vor ihr in Sicherheit bringen.“ Jubel ob dieser vermeintlichen Problemlösung! Es erhob sich aber eine alte graue Maus und sagte: „Und wer, bitte schön, hängt der Katze die Schelle um?“ Damit war das Problem der Implementierung von guten Ideen angesprochen, und wir haben heute gesehen: mit dem haben wir noch immer zu tun. Es handelt sich also tatsächlich um ein Problem, das im neuen Kontext immer wieder neu diskutiert werden muss. Joachim Wieland: Wir kommen zum vierten und letzten Abschnitt des Kolloquiums. Damit immer noch eine Steigerung möglich ist, referiert Herr Prof. Wiesendahl über die Krise der Volksparteien. Aber er spricht nicht nur zu uns, sondern er zeigt uns auch etwas, denn er hat eine PowerPoint-Präsentation mitgebracht. Ich sehe die gespannte Erwartung. Herr Wiesendahl, Sie haben das Wort.
Die Volksparteien in der Krise Von Elmar Wiesendahl
I. Einleitung Der akademische Professionalitätsgrad einer Disziplin wie die der Parteienforschung bemisst sich vor allen Dingen an der Fähigkeit, originäre theoretische Perspektiven und elaborierte Forschungsmethoden zu entwickeln und den Forschungsprozess mit seiner Erkenntnisproduktion sowie der Fortschreibung des bewährten Wissens gegen Nachbardisziplinen abzuschirmen. Infolgedessen sind es anerkannte Fachvertreter der Zunft selbst, die den wissenschaftlichen Diskurs in der Parteienforschung anführen und dominieren, während fachfremde Wissenschaftler eher ein randständiges Schattendasein führen. Eine singuläre Ausnahme hiervon bildet der Volkswirt und Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim in doppelter Hinsicht. Ist er doch einerseits mit seinen Parteienschriften immer auf der Höhe der in der Parteienforschung herrschenden Diskussion, wobei er über umfangreiche Kenntnisse sowohl über die deutschsprachige als auch internationale Literatur verfügt. Andererseits wirkt er mit seinen Parteienschriften bemerkenswert einflussreich in die Parteienforschung hinein und findet dort ein weites Echo. Dies war schon bei seinen älteren Schriften über die Parteienfinanzierung und die Privilegierung der aus den Parteien hervorgehenden politischen Klasse so und gipfelt in seiner Auseinandersetzung mit den Volksparteien in Deutschland. Erst jüngst hat Eckhard Jesse1 von Arnim mit einer umfassenden Darstellung seines Wirkens in der Parteienforschung gewürdigt, wobei sich sein Hauptaugenmerk auf die Rezension seines neuen Buches „Volksparteien ohne Volk“2 richtet. Hierin geht es von Arnim vor allem um die „Entmachtung“ und „Entmündigung“ der Wähler, was durch die bestehenden Wahlverfahren bei Bun___________ 1
Eckhard Jesse (2009), (Über-)Scharfe Kritik am „Versagen der Politik“. Hans Herbert von Arnim „Volksparteien ohne Volk“, in: ZParl, 19. Jg., Heft 3, S. 421–436. 2 Hans Herbert von Arnim (2009), Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München.
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destags-, Landtags- und Europawahlen bewirkt würde. Nicht weniger Kritik findet die Rekrutierung der Politiker durch die Parteien. Herbert von Arnim steht in einer Reihe von namhaften Politikwissenschaftlern und Parteienforschern, die die Entwicklung des Volksparteiensystems in Deutschland mit kritischem Auge beobachten und dessen weitere Zukunft düster einschätzen. In der Tat stecken die Volksparteien in einer tiefen Krise. Deren Symptome liegen auf der Hand und belegen untrüglich, dass die einstmals so beherrschenden Großparteien SPD, CDU und CSU seit längerem schon einem anhaltenden und in letzter Zeit sich noch beschleunigenden Niedergangsund Auszehrungsprozess ausgesetzt sind. Wie es jedoch zu diesem Abstieg kommen konnte, ist strittig und entzieht sich der genaueren Kenntnis. Vorschnelles Urteilen bietet sich schon deshalb nicht an, weil es sich um einen ganzen Komplex von Gründen handeln muss, die in ihrem Zusammenspiel die Krise erklären. Vor allen Dingen zählen bei der Ursachenerforschung auch die Gründe ihres anfänglichen Erfolgs, zumal für eine lange Phase der westdeutschen Nachkriegsgeschichte Volksparteien dem Parteiensystem ihren Stempel aufdrücken konnten. Nicht auszuschließen ist vor diesem Hintergrund, dass gerade der Wegfall von Erfolgsfaktoren, die den Aufstieg der Volksparteien bewirkten, nun die Erklärung für ihren Niedergang liefert. Die Gründe mögen aber auch im Merkmalsprofil und Charakter der Volksparteien selbst zu suchen sein, die deshalb einfach nicht mehr zur gewandelten Gesellschaft und zur grundlegend veränderten Wählerlandschaft passen wollen. Fragen über Fragen, die dringlich der Beantwortung harren, um sich ein Bild von der weiteren Zukunft des Volksparteiensystems in Deutschland machen zu können. Nachfolgend wird zunächst Ausmaß und Krise der Volksparteien in Deutschland dargestellt, wobei der Niedergang mit ihrer Aufstiegs- und Glanzzeit kontrastiert wird. Bevor die Frage nach den Hintergründen der Krise aufgegriffen wird, ist das Eigenschaftsprofil und die Funktionsweise von Volksparteien genauer unter die Lupe zu nehmen, zumal hierdurch besondere Stärken aber auch Schwächen, die sich gegen diesen neuartigen Parteityp wenden können, offengelegt werden sollen. Wie es mit den schwächelnden Volksparteien weitergeht, soll schließlich im Schlussteil untersucht werden.
II. Die Krisenentwicklung der Volksparteien Den Volksparteien CDU/CSU und SPD ging es noch nie so schlecht wie heute. Die ganze Reichweite dieses Befundes erschließt sich erst dann, wenn man sich die Entwicklung dieses über viele Jahre hegemonialen Parteityps über
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den ganzen Zeitraum von den Anfangsjahren 1949 bis in die Gegenwart 2010 vor Augen führt. Dann tut sich, wie bei einem Konjunkturzyklus, eine rasche Aufstiegs- und dann länger währende Hochphase auf, der ein nicht minder langer Wiederabstiegsprozess folgt mit dem Ergebnis, dass sie hinter den Ausgangspunkt ihrer Aufstiegsphase zurückgeworfen werden. 95 % 90
Stimmenkonzentration CDU/CSU und SPD Bundestagswahlen
Wahlbeteiligung Bundestagswahlen
85 80 Wahlbeteiligung Landtagswahlen
75 70 Stimmenkonzentration CDU/CSU und SPD Landtagswahlen
65 60 55 50 1949
49-43
53-57
57-61
61-65
65-69
69-72
72-76
76-80 80-83
83-87
87-90
90-94
94-98
98-02 02-05. 05-09.
Quelle: Angaben des statistischen Bundesamtes und statistischen Landesämter, eigene Berechnungen
Abbildung 1: Entwicklung des Volksparteiensystems 1949–2009
Wie Abbildung 1 veranschaulicht, lassen sich Frühling, Sommer und Herbst der Volksparteien an harten Zahlen der Wahlstatistik ablesen. Herangezogen wurden dabei die Zahlen zur Entwicklung der Wahlbeteiligung bei Bundestagsund Landtagswahlen, wobei die Daten für letztere jeweils periodisch gemittelt wurden. Und es wird der Konzentrationsgrad der Zweit-Stimmenanteile für die Volksparteien dargestellt, der sich aus der Summe aller jeweils bei Bundes- und Landtagswahlen für CDU, CSU und SPD abgegebenen Stimmen errechnet. Aufschluss über den Rückhalt der Volksparteien in der Gesamtwählerschaft gibt der Konzentrationsgrad allerdings nicht. Deshalb macht es Sinn, den Stimmenanteil für die Großparteien mit der Zahl der Gesamtwählerschaft in Beziehung zu setzen. Aus Übersichtsgründen ist die Entwicklung dieses Werts nicht in das Schaubild aufgenommen worden. Wenn man 60 Jahre Volksparteienentwicklung Revue passieren lässt,3 befand sich das westdeutsche Parteiensystem in seiner Formierungsphase zwi___________ 3 Elmar Wiesendahl (1998), S. 14 ff., Wie geht es weiter mit den Großparteien in Deutschland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 1–2/1998, S. 13–28.
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schen 1945 und 1953 noch in einem ungerichteten Gärungsprozess, bei dem sich anfangs der Entwicklungspfad hin zum hochkonzentrierten Volksparteiensystem noch nicht ablesen ließ. Im Gegenteil wirkten Weimarer Verhältnisse nach, und das Parteiensystem begann sich bis Anfang der 1950er regional und zentrifugal auszudifferenzieren. So waren im ersten Bundestag 1949 noch 11 Parteien vertreten. Gefördert durch den Aufstieg von Vertriebenenparteien setzte sich der Fragmentierungsprozess sogar noch weiter fort, bis 1953 ein Konzentrationsprozess einsetzte, der 1961 in der Verdichtung auf ein Zweieinhalbparteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP endete. Die Verschärfung der Fünf-Prozent-Sperrklausel und Parteiverbote zeigten einige Wirkungen. In der Zeit zwischen 1961 und 1983 wurde Westdeutschland durch ein Volksparteiensystem beherrscht, das in den 1970ern seine Hoch- und Glanzzeit entfaltete. Schon 1953 kamen CDU/CSU und SPD auf 74,0 % Stimmenkonzentration, wobei dieser Wert 1972 und 1976 auf über 90 % sensationellen Höchststand emporstieg. Bei den Landtagswahlen konnten die beiden Großparteien ähnliche Stimmenzuwächse verzeichnen. Im Laufe von nur zwölf Jahren hatte sich die westdeutsche Bevölkerung für ein hoch konzentriertes, mobilisierungsstarkes und hyperstabiles Volksparteiensystem entschieden, das von zwei Großparteien CDU/CSU und SPD beherrscht wurde. Für die Regierungsbildung fiel der FDP eine Schlüsselrolle zu, zumal sie als „Zünglein an der Waage“ mal an der Seite der Union, mal an der Seite der SPD Koalitionsmehrheiten herbeiführte. Das goldene Zeitalter der Volksparteien zwischen 1961 und 1983 wird dadurch unterlegt, dass CDU/CSU und SPD ihren Stimmenanteil auch an der Gesamtzahl aller Wahlberechtigten von 1961 mit 71,5 % auf 1972 mit 82,6 % steigern konnten. Dieser hohe Rückhalt in der Bevölkerung wurde 1976 mit 82,7 % nochmals leicht überboten. In diesen Werten spiegelt sich der Anstieg der Wahlbeteiligung wieder, die von 1949 bis 1976 von 60,2 auf den Gipfelwert von 91,2 % anstieg. Die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen folgte dieser Entwicklung, die sich insgesamt als Wahlwunder bezeichnen lässt. Den Wendepunkt dieses einzigartigen Wählerhochs zugunsten der Volksparteien leitet sichtbar das Aufkommen der Grünen ein, die sich zu Beginn der 1980er zunächst in einigen Ländern und dann 1983 auch im Bundestag parlamentarisch durchsetzten. Von rechts her war der NPD zwar hier und da der Einzug in einen Landtag geglückt, ohne jedoch bei der kritischen Bundestagswahl 1969 das Volksparteiensystem ins Wanken zu bringen. Mit dem Aufstieg der Grünen setzten Talfahrt und Abstiegsprozess der Volksparteien ein. Doch sind die rückläufigen Stimmenanteile und Wahlbeteiligungsraten zunächst noch zögerlich und gering, so dass sich der Abstiegstrend, der erst später Krisenausmaße annehmen sollte, nur in der Gesamtschau und im Dekadenvergleich erschließt.
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Eine weitere Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Volksparteien trat 1990 mit der deutschen Einheit ein, bei der sich das in Westdeutschland verwurzelte Parteiensystem nach Osten hin ausdehnte. Nur ging die Rechnung nicht auf, die sich neu konfigurierende Wähler- und Parteienlandschaft der hegemonialen Kontrolle der Volksparteien zu unterwerfen. Zwar gingen die ehemaligen DDR-Blockparteien nach der Wende per Fusion in CDU und FDP auf. Doch glückte es der aus den Resten der SED hervorgegangenen PDS, sich erfolgreich als linke ostdeutsche Regionalpartei in den Neuen Bundesländern zu etablieren. Dagegen blieben trotz der Fusion von westdeutschen Grünen mit dem ostdeutschen Bündnis 90 die Bündnisgrünen bei den Wahlen so schwach, dass sie als relevanter Regierungsbildungsakteur ausfielen. Auch der FDP fehlte es in Ostdeutschland strukturell an einem mittelständischen Unterbau, um die Rolle als Mehrheitsbeschafferin für die CDU spielen zu können. Zudem ist in Ostdeutschland eine eher links orientierte Wählerzusammensetzung vorzufinden, die nichtbürgerlichen Parteien Vorteile zuspielt. Angesichts dieser Besonderheiten hat sich ein eigenständiges ostdeutsches Dreiparteiensystem herausgeschält, in dem die PDS/Die Linke elektoral als linke „Volkspartei“ und dritte Kraft neben CDU und SPD eine ebenbürtige Rolle mitspielt. Mit dieser Kräftekonstellation hat die CDU in Ostdeutschland ihre Fähigkeit eingebüßt, eine von ihr angeführte Bürgerkoalition zu schließen. Umgekehrt ist die SPD in den Neuen Bundesländern dermaßen schwach, dass ihr in der Stimmenstärke von der Linken der Rang abgelaufen wird. Von der Wettbewerbskonstellation bis hin zur Repräsentationsspanne der Wählerschaft und den Regierungsbildungsmöglichkeiten gehorcht dieses Dreiparteiensystem einer eigenständigen Architektur und Machtlogik. In den 1990ern schien sich zunächst auf gesamtdeutscher Ebene, wie Abbildung 1 indiziert, der weitere Abstiegsprozess der Volksparteien abzubremsen, wobei jedoch nach 2000 die Talfahrt erneut beschleunigt einsetzte. So fielen zwischen 1980 und 2002 über die deutsche Einheit hinweg die Stimmenanteile für CDU/CSU und SPD um rund 10 % von 87,4 auf 77,3 Prozentpunkte zurück. Dann aber setzte nach 2002 eine dramatische Verfallsphase in der Wählergunst ein, die bei den Bundestagswahlen 2009 in einem Rückfall auf 56,8 % Stimmenkonzentration für CDU/CSU und SPD gipfelte. Die Union setzt dabei ihren 1998 eingeleiteten Schwundprozess unter die 35 %-Marge fort und landet bei bescheidenen 33,8 % (–1,4 %). Bemerkenswert ist dabei, dass alle traditionellen Wählerhochburgen der CDU, wie etwa in Baden-Württemberg, abgetragen wurden. Allein die bayerische CSU erreicht noch 42,5 %, womit sie aber weit hinter ihren gewohnten 50+X-Ergebnissen zurückbleibt. Die SPD fährt mit 23,0 % (–11,2 %) ein historisches Wahldesaster ein, was sie weit hinter ihr Ausgangsniveau von 1949 mit 29,2 % zurückwirft. Die Wählereinschnitte gehen so tief, dass sie in Bundesländern wie Bayern, Baden-Württemberg und
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Elmar Wiesendahl
speziell Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern unter die 20 %-Linie gedrückt wird. Die Lage für CDU/CSU und SPD zusammen hat ein dermaßen kritisches Ausmaß angenommen, dass sie bei ihrem vorläufigen Tiefpunkt weit hinter die 60,2 % Stimmenanteil zurückfallen, die sie zusammen bei den Bundestagswahlen 1949 erzielten. Verglichen mit ihrem Höchstwert an Stimmenkonzentration im Jahre 1972 von 91,3 % haben sie 2009 einen Substanzverlust an Wählerrückhalt von insgesamt 31 % hinzunehmen. Geht man nicht von den Wählern sondern der Anzahl aller Wahlberechtigten aus, wird am Wahlergebnis 2009 deutlich, dass sie sich nur noch auf ein Wählermandat von kaum mehr als zwei Fünftel aller Wahlberechtigten4 abstützen können. In Ihrer Glanzzeit der 1970er waren es mehr als vier Fünftel. Dabei haben sie bei den Landtagswahlen noch stärkere Einbußen zu verkraften. Hinter der dramatischen Erosion der Wählerbasis der Volksparteien steht die Abkehr der Bürgerinnen und Bürger von der Teilnahme an Wahlen, die zwischen dem Höchstjahr 1972 mit 91,1 % auf 70,8 % im Jahr 2009 abgesackt ist. Hier ist synchron mit dem Plus und Minus in der Stimmenbilanz ein zyklischer Auf- und Abstiegsprozess in der Wahlbeteiligung zu beobachten, von dem Bundestags- und Landtagswahlen gleichermaßen betroffen sind.5 Ein krasser Rückgang der Wahlbeteiligung ist auch bei den Kommunalwahlen zu beobachten.6 Der Trend zeigt an, dass die Volksparteien von den immer weniger zur Wahl gehenden Bundesbürgern immer weniger hinter sich scharen können, so dass sie den Anschluss an 58 von 100 Wahlberechtigten und an 43 von 100 Wählern verloren haben. Damit fallen sie mit ihrer Verankerung in der Wählerschaft und mit ihrem Wählervertretungsanspruch hinter das Ausgangsniveau zurück, mit der sie 1949 ihre Erfolgsstory begannen.
___________ 4
CDU/CSU: 26,2 %, SPD 16,1 %. Siehe Abbildung 1. 6 Armin Schäfer (2007), S. 655, Die Reform des Sozialstaats und das deutsche Parteiensystem: Abschied von den Volksparteien?, in: ZParl, Heft 3, S. 648–666. 5
Die Volksparteien in der Krise
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1200000
1000000
SPD 800000
CDU 600000
400000
200000
CSU 2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
0
Quellen: Angaben der Parteigeschäftstellen
Abbildung 2: Mitgliederentwicklung von SPD, CDU und CSU 1968–2009
Dem sich dramatisch zuspitzenden Wählerschwund der Volksparteien steht ein nicht minder kritischer Schwund ihrer Mitglieder gegenüber. Seit 1968 liegen für die Mitgliederentwicklung von CDU, CSU und SPD verlässliche Zahlen vor, so dass sich Flut und Ebbe im Mitgliederzulauf anschaulich7 rekonstruieren lassen. In ihrer Glanzphase, so dokumentieren die Zahlen, erlebten die Volksparteien eine so noch nicht zuvor erlebte Eintrittsschwemme an Neumitgliedern, die durch die damalige Politisierung und Polarisierung zwischen den Lagern in die Parteien hineindrängten.8 So erhöhte sich deren Ausgangsbestand von 1.092.605 Organisierten im Jahre 1968 auf 1.845.613 Mitglieder im Jahre 1983. Die Parteien machten dabei Sonderentwicklungen durch, zumal die SPD ihren Mitgliederbestand zuerst erhöhen konnte und 1976 mit 1.022.191 Organisierten ihren Höchststand erreichte. Danach ging es kontinuierlich abwärts. Die CDU erlebte bis 1977 einen stürmischen Eintrittsboom, der ihr bis 1983 einen Höchstbestand von 734.555 Mitgliedern bescherte. Danach setzte der Rückgang ein, wobei ___________ 7
Siehe Abbildung 2. Elmar Wiesendahl (1990), S. 4 ff., Der Marsch aus den Institutionen. Zur Organisationsschwäche politischer Parteien in den achtziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 21, S. 3–14. 8
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Elmar Wiesendahl
1990 die Übernahme von Mitgliederbeständen ehemaliger DDR-Blockparteien den Erosionsprozess nur temporär aufhalten konnte. Auf niedrigem Niveau konnte auch die CSU ihren Mitgliederbestand zwischen 1968 und 1976 verdoppeln. Einige Zuwächse kamen bis 1983 noch hinzu, danach stagnierte der Mitgliedersockel und begann Ende der 90er Jahre ebenfalls zu bröckeln. Nach 1990 setzte speziell für SPD und CDU eine verstärkte Talfahrt ein, die bis Ende 2009 für beide zu einer Substanzaufzehrung von insgesamt 726.342 Mitgliedern führte.9 Die größten Einschnitte hat die SPD als traditionelle Mitgliederpartei hinzunehmen, die mit rund 431.000 Verlusten ca. 46 % ihres Bestandes von 1990 abschreiben musste. Von ihrem (westdeutschen) Höchststand 1983 bis 2009 sind CDU, CSU und SPD insgesamt 652.738 Mitglieder (-35,4 %) abhanden gekommen. Die Großparteien trocknen aus, weil sie an einer chronischen Nachwuchsmisere leiden. Infolgedessen geht bei ihnen die Schere zwischen den anteilsmäßig immer weniger werdenden Jungmitgliedern unter 30 und dem steigenden Altenberg an Mitgliedern über 60 Jahren immer weiter auseinander.10 Die längst eingetretene Überalterung konfrontiert die Großparteien mit einer Regenerationskrise. Ihre Rekrutierungsschwäche hat ein dermaßen großes Ausmaß angenommen, dass sie im Binnenleben bereits Anzeichen von Atrophie und organisatorischem Siechtum aufweisen.11 Auf dem Weg zu Vorruhestandsund Rentnerparteien vergrößert sich ihr Erwerbstätigendefizit, zumal sich nach Roland Sturm die Volksparteien „von den beruflich aktiven Bürgern entfernen“ würden.12 Als weiteres Problem tritt die gesellschaftliche Profilverengung der Parteimitgliederschaft hinzu, weil Angehörige der gebildeten höheren Mittelschichten die große Mehrheit der Mitglieder und Funktionsträger stellen.13 Stark ___________ 9 Oskar Niedermayer (2010), S. 421 ff., Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften von 1990 bis 2009, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41. Jg., Heft 2, S. 421–437. 10 Elmar Wiesendahl (2009), S. 147 f., Zwischen Wende und Ende – Die Zukunft der Mitgliederparteien, in: Fabian Schalt u. a. (Hrsg.), Neuanfang oder Niedergang – Die Zukunft der Mitgliederparteien, Berlin, S. 233–258. Oskar Niedermayer (2009), S. 125 ff., Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger, in: Steffen Kühnel/Oskar Niedermayer/Bettina Westle (Hrsg.), Wähler in Deutschland. Sozialer und politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten, Wiesbaden, S. 80–134. Oskar Niedermayer (2010), S. 431 ff., Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften von 1990 bis 2009, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41. Jg., Heft 2, S. 421–437. 11 Elmar Wiesendahl (2003), S. 29 ff., Parteiendemokratie in der Krise, oder: Das Ende der Mitgliederparteien, in: Manuela Glaab (Hrsg.), Impulse für eine neue Parteiendemokratie. Analysen zu Krise und Reform., München, S. 15–38. 12 Roland Sturm (2008), S. 523, Erleben wir das Ende der Volksparteien?, in: Gesellschaft-Wirtschaft-Politik (GWP), Heft 2, S. 519–532. 13 Elmar Wiesendahl (2006), S. 87 ff., Partizipation in Parteien: Ein Auslaufmodell?, in: Beate Hoecker (Hrsg.), Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest, Leverkusen, S. 78–100. Heiko Biehl (2009), Soziale Entwurzelung und Reprä-
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unterrepräsentiert sind Frauen, Arbeiter und Angehörige von Randgruppen. Volksparteien sind über ihre Restmitglieder besonders eng mit den besser gestellten Kreisen der Gesellschaft verbunden und repräsentieren alles andere als einen Querschnitt der Gesellschaft. Bilanziert man die Krisensymptome der Volksparteien, dann treten sie in massiver Form den Rückzug aus der Wählerschaft an und entvölkern sich von innen. Rechnet man alle Werte zur Stimmenkonzentration für CDU/CSU und SPD und zur Wahlbeteiligung bei Bundestags- und Landtagswahlen zwischen 1980 und 2009 zusammen und bezieht gleichzeitig den prozentualen Schwund in der Mitgliederentwicklung der drei Parteien über den gleichen Zeitraum ein, lassen sich die Einzelsymptome des Niedergangs in einer Gesamtschau zusammenführen.14
100,0
100,0
99,6 97,2
Mitgliederentwicklung
95,3 95,0 91,6 90,0
87,7
P roze nt
86,7
85,3
85,0 81,4
85,9
Stimmenkonzentration
82,7
80,0
77,3
80,9
77,2
77,5 75,4
Wahlbeteiligung
75,0
78,0
76,8 74,0
74,7 71,9
74,3
70,0
73,2
71,2
65,0 60,0 1980 - 1983
1983 - 1987
1987- 1990
1990 - 1994
1994 - 1998
1998 - 2002
2002 - 2005
2005- 2009
Quellen: Parteigeschäftstellen und Angaben des Statistischen Bundesamtes und der statistischen Landesämter, eigene Berechnungen. Berechnung: Bei der Berechnung der Datenpunkte zur Stimmenkonzentration( Summe CDU/CSU- und SPD- Stimmenanteile) und zur Wahlbeteiligung handelt es um Durchschnittswerte von Bundestagswahlperioden und den dazwischen liegenden Landtagswahlen. Die Berechnung der Mitgliederentwicklung umfasst den Mitgliederstand am Ende eines Jahres, gemittelt über eine Bundestagswahlperiode.
Abbildung 3: Niedergang Mitglieder/Wahlbeteiligung/Stimmenkonzentration
___________ sentationsverlust der Parteien, in: Uwe Jun/Oskar Niedermayer/Elmar Wiesendahl (Hrsg.), Zukunft der Mitgliederpartei, Opladen, Farmington Hills, MI, S. 111–128. Oskar Niedermayer (2009), S. 116 ff., Der Wandel des parteipolitischen Engagements der Bürger, in: Steffen Kühnel/Oskar Niedermayer/Bettina Westle (Hrsg.), Wähler in Deutschland. Sozialer und politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten, Wiesbaden, S. 80–134. 14 Siehe Abbildung 3.
130
Elmar Wiesendahl
Über drei Jahrzehnte entwickeln sich die drei Indikatoren zur Verankerung der Volksparteien in der Gesellschaft mit Ausnahme einer leichten temporären Aufstiegsentwicklung zwischen 2002 und 2005 beharrlich nach unten. Im anhaltenden Mitgliederschwund drückt sich eine wachsende Entfremdung zwischen den Volksparteien und den aktiven Teilen der Zivilgesellschaft aus, die die von ihnen dargebotene konventionelle politische Mitarbeit meiden. Bürgerschaftliches Engagement und Parteimitgliedschaft finden nicht mehr zusammen. Dies trägt zur weiteren Entwurzelung der Parteien gegenüber der Aktivbürgerschaft bei, obgleich sie dringlich frisches Blut und Interessierte für den Parteielitenund Mandatsträgernachwuchs benötigen. Ihre erodierende Wählerbasis schlägt ihnen den Anspruch aus der Hand, möglichst umfangreich Wähler an sich zu binden und die Wählerschaft in ihrer ganzen Breite abzudecken. Dies glückt nicht mehr, weil sie weder genügend Mobilisierungsstärke aufbringen noch über hinreichende Integrationskraft verfügen, um an die Wählerresonanz ihrer Glanzzeit in den 1970ern anschließen zu können. Gerade in der massiv rückläufigen Stimmenkonzentration für CDU/CSU und SPD kann ein Indikator für die nachlassende „Aggregationsfähigkeit der Volksparteien auf Wählerebene“15 gesehen werden. Besonders augenfällig ist die Entwicklung in Ostdeutschland zu beobachten, wo die PDS/Linkspartei als „dritte Volkspartei“16 gilt und nicht auszuschließen ist, dass sie zur stärksten Kraft emporsteigt. In Westdeutschland haben CDU/CSU und SPD allein schon wegen ihrer Wählerstärke in der 1. Liga der Parteienkonkurrenz gespielt und sich die Kleinparteien FDP und Grüne auf gehörigen Abstand gehalten. Jetzt sind sie sich, dadurch dass die Großparteien zu „medium-sized parties“17 abgestiegen sind, soweit näher gerückt, dass sie sich bald auf gleicher Augenhöhe begegnen. Roland Sturm18 schlussfolgert aus all den aufgezeigten Symptomen, dass es „die Volksparteien alten Typs mit hoher Bindungskraft für Wähler und Mitglieder … nicht mehr (gibt)“. Für ihn ist damit der Parteientypus „Volkspartei“ in der Tat in eine „Krise geraten“. Mit den massiven Verlusten an Wählern und Mitgliedern wird der Anspruch von Volksparteien infrage gestellt, die Wählerschaft möglichst breit zu umfassen, zu integrieren und in ihrer Interessenvielfalt ___________ 15 Roland Sturm (2008), S. 521, Erleben wir das Ende der Volksparteien?, in: Gesellschaft-Wirtschaft-Politik (GWP), Heft 2, S. 519–532. 16 Armin Schäfer (2007), S. 652, Die Reform des Sozialstaats und das deutsche Parteiensystem: Abschied von den Volksparteien?, in: ZParl, Heft 3, S. 648–666. 17 Gordon Smith (1990), Core Persistence: Change and the ‚People’s Party‘, in: Peter Mair/Gordon Smith (Hrsg.), Understanding Party System Change in Western Europe, London, S. 157–168. 18 Roland Sturm (2008), S. 530, Erleben wir das Ende der Volksparteien?, in: Gesellschaft-Wirtschaft-Politik (GWP), Heft 2, S. 519–532.
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zu repräsentieren. Mit ihrer elektoralen Substanzauszehrung haben sie den Anspruch verwirkt, für das ganze Volk zu sprechen. Und mit dem synchronen Wähler- und Mitgliederschwund wird die gesellschaftliche Loslösung und Entwurzelung der Großparteien offenbar, die dadurch ihre Bindeglied- und Mittlerfunktion zwischen Gesellschaft und dem staatlichen Entscheidungsbereich einbüßen. Sie horchen nicht mehr in die Gesellschaft hinein, die sich nur noch in einem längst nicht mehr repräsentativen Teilsegment an die Volksparteien bindet.
III. Kennzeichen und Funktionsweise von Volksparteien Mit der Krisenentwicklung wird ein Parteityp zur Disposition gestellt, der dem Nachkriegsparteiensystem das Gesicht verliehen hat und dieses über Jahrzehnte dominiert hat. Umso wichtiger ist, dessen Eigenschaftsprofil und Funktionsweise zu kennen, um Rückschlüsse auf die enorme Wählerresonanz der Volksparteien im Westdeutschland der 60er und 70er Jahre ziehen zu können. Vielleicht liegt hierin zugleich ein Grund, warum sich der enge Schulterschluss zwischen ihnen und der Wählerschaft ab den 80er Jahren wieder auflöste. Der Begriff Volkspartei blickt auf eine weitaus ältere Verwendung in der Parteienwirklichkeit zurück, bevor er von der Parteienforschung zur Bezeichnung eines neuen Nachkriegsparteientyps aufgegriffen wurde. So bildet er bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik einen politischen Kampfbegriff bürgerlicher Parteien, um sich von Klassenparteien des linken Lagers abzugrenzen und zugleich ihren eigenen Interessencharakter zu drapieren.19 Zur analytischen Kategorie wurde die Volkspartei durch den deutsch-amerikanischen Parteienforscher Otto Kirchheimer20 gemacht, der in einem der einflussreichsten Beiträge der modernen Parteienforschung den von ihm beobachteten Strukturwandel des westeuropäischen Parteiensystems auf den Begriff brachte. Er bestimmt bis heute unübertroffen die parteientypologische Debatte.21 ___________ 19
Alf Mintzel (1984), S. 23 f., Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit. Ein Lehrbuch, Opladen. 20 Otto Kirchheimer (1965), Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41. 21 Alf Mintzel (1984), Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit. Ein Lehrbuch, Opladen. Peter Krouwel (1999), The catch-all-party in Western Europe 1945–1990. A study in arrested development, Diss. Universität Amsterdam. Bernd Hofmann (2004), Annäherung an die Volkspartei. Eine typologische und parteiensoziologische Studie, Wiesbaden.
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Kirchheimer setzt die Begriffe „catch-all party“, Allerweltspartei und Volkspartei synonym, wobei sich in der deutschsprachigen Diskussion der Begriff Volkspartei durchgesetzt hat. In einer viel zitierten Formulierung arbeitet er die strategische und ideologische Neuausrichtung heraus, mit der sich Volksparteien gegenüber der Wählerumwelt positionieren: „Die ‚echte‘ Volkspartei gibt die Versuche auf, sich die Massen geistig und moralisch einzugliedern, und lenkt ihr Augenmerk in stärkerem Maße auf die Wählerschaft; sie opfert also eine tiefere ideologische Durchdringung für eine weitere Ausstrahlung und einen rascheren Wahlerfolg … heute werden die (umfassenden) Ziele von früher als erfolgsmindernd angesehen, weil sie Teile der potentiell die ganze Bevölkerung umfassenden Wahlklientel abschrecken.22 Die Volkspartei ist also eine auf kurzfristige Wahlerfolge ausgerichtete Wählerpartei, die sich, auf ideologische Integrationsansprüche und Gestaltungsvorstellungen verzichtend, an die ganze Bevölkerung als strategische Zielgruppe wendet. In der Ausweitung der Wählerzielgruppe auf die ganze Wählerschaft liegt der strategische Paradigmenwechsel, der Volksparteien von älteren Massenparteien auf Klassen- und Konfessionsbasis unterscheidet. Um „am Wahltag die größtmögliche Zahl von Wählern für sich zu gewinnen“,23 müssen Volksparteien elektorale, programmatische und organisatorische Konsequenzen zielen, die Kirchheimer auf fünf Bestimmungsmerkmale bündelt:24 x „Radikales Beiseiteschieben der ideologischen Komponenten einer Partei; x Absolute Vorrangigkeit kurzfristiger taktischer Überlegungen“; x „weitere Stärkung der Politiker an der Parteispitze“; x „Entwertung der Rolle des einzelnen Mitglieds“; x Abkehr von der ‚chasse garde‘ (i. O. kursiv, E. W.), einer Wählerschaft auf Klassen- und Konfessionsbasis, statt dessen Wahlpropaganda mit dem Ziel, die ganze Bevölkerung zu erfassen“ und x „das Streben nach Verbindungen zu den verschiedensten Interessenverbänden“. Des Weiteren kennzeichnet Kirchheimer Volksparteien noch mit ihrer Orientierung am tagespolitischen Pragmatismus, an der Entpolitisierung und Personalisierung der Wähleransprache, am umfassenden Einsatz von Marken- und ___________ 22 Otto Kirchheimer (1965), S. 27, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41. 23 Otto Kirchheimer (1965), S. 34, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41. 24 Otto Kirchheimer (1965), S. 32, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41.
Die Volksparteien in der Krise
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Massenartikelwerbung sowie der Ausarbeitung und Propagierung von wahlwirksamen Allerweltsprogrammen. Kirchheimer erblickt offenbar in Volksparteien von Parteieliten gesteuerte elektorale „catch-all“-Parteien, die sich auf Wählerbeeinflussung und Wahlkampagnen nach den modernsten Methoden der Marktpsychologie kaprizieren. Ihre alten Stammwähler geraten dabei aus dem Blickwinkel genauso wie die Mitglieder als engster Unterstützerkreis eine Entwertung hinzunehmen haben. Allerdings gehen Volksparteien enge Beziehungen zu verschiedenen Interessengruppen ein, auf deren hinter ihnen stehendes Wählerpotential sie erpicht sind. Dies macht Volksparteien zu Interessenaggregationsparteien, die in der Funktion des Maklers bzw. Schlichters innerparteilich und im politisch-administrativen Entscheidungsprozess einen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Verbandsinteressen herzustellen versuchen.25 Die Ausrichtung von Volksparteien am Konsens und dem Interessenausgleich entspricht dem Eigeninteresse, in einer pluralistisch zusammengesetzten Wählerschaft ein möglichst breites Interessenspektrum abbilden und politisch integrieren zu können. Über den Größenumfang von Volksparteien ließ sich Kirchheimer nicht weiter aus, wobei aber schon vom umfassenden Wählerintegrationsanspruch her Kleinparteien aus dem Blickfeld herausfallen. Gordon Smith26 nennt zur Größeneingrenzung einen Wähleranteil von 30 %, weil sich Volksparteien dadurch der Loyalität einer „substantial section of the electorate“ versichern könnten. Nach unten hin einen scharfen Schnitt zu zielen, fällt allerdings nicht leicht, weil es keine wirklich triftigen Gründe gibt, Volksparteien in ihrem Wählerumfang bei 40, 30 oder 25 % numerisch begrenzen zu wollen. Nun besteht die Hauptthese von Kirchheimer darin, dass sich der neue Typ der „catch-all party“, der „echten“ Volkspartei, im Wettbewerb mit den älteren Massenparteien auf Klassen- und Konfessionsbasis durchsetzen und zu beherrschenden Parteitypen der westeuropäischen Parteiensysteme aufsteigen würden. Er erklärt diesen Siegesszug mit Faktoren des gesellschaftlichen Wandels, die die Nachkriegsgesellschaften erfasst haben. Hierzu zähle „ein hoher Stand wirtschaftlichen Wohlstands und sozialer Sicherheit“,27 der sich aus der Ausdehnung wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen auf alle ergäbe. Und die Nachkriegs___________ 25 Richard S. Katz/Peter Mair (1995), S. 13, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics, 1. Jg. Heft 1, S. 5–28. 26 Gordon Smith (1990), S. 158, Core Persistence: Change and the ‚People’s Party‘, in: Peter Mair/Gordon Smith (Hrsg.), Understanding Party System Change in Western Europe, London, S. 157–168. 27 Otto Kirchheimer (1965), S. 28 f., Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41.
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gesellschaften seien in eine „Phase der Entideologisierung“28 eingetreten, die der Politik die ideologische Antriebskraft nähme. Diese Veränderungen brächten eine Gesellschaft hervor, „die sich in immer größerem Umfang an säkularen Vorstellungen und Massengütern orientiert“ und bei der sich die Klassenspannungen entschärfen würden.29 Diesen neuen Verhältnissen entspräche am besten der neue Typ der Volkspartei. Er setze sich wegen seines Wettbewerbsvorteils durch, so dass aus Gründen der „Anerkennung der Marktgesetze“30 die älteren Parteien unter Anpassungsdruck gerieten und, um nicht abgehängt zu werden, den „erfolgreichen Stil ihres Kontrahenten“ übernehmen würden. An Kirchheimers Wandlungsthese älterer Massenparteien hin zu Volksparteien ist einiges kritisiert worden. So bemerkt Manfred Schmidt,31 dass sich das Modell der „catch-all“- bzw. der Allerweltspartei nirgendwo in Europa verwirklicht habe. Auch Wolinetz32 wendet ein, dass sich Kirchheimer bei seiner Darstellung nicht an der europäischen Parteienwirklichkeit, sondern an den amerikanischen Parteienwettbewerbsverhältnissen der 1950er und 1960er Jahre orientiere. Für die als Sonderfall betrachtete Bundesrepublik steht jedenfalls fest, dass CDU/CSU und SPD einen Aufstieg zu dominierenden Großparteien vollzogen, wobei sie bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen Ähnlichkeiten mit dem Typ der Volkspartei aufzuweisen haben. An zwei Stellen sind allerdings das von Kirchheimer vorgelegte Entstehungsszenario und das Eigenschaftsprofil von Volksparteien im Hinblick auf die Verhältnisse in Westdeutschland zu korrigieren. So geht Kirchheimer davon aus, dass der dargestellte gesellschaftliche Modernisierungsprozess den neuen Volksparteien eine Catch-All-Strategie, eine Stimmenmaximierungsstrategie gegenüber der Gesamtwählerschaft erlaube. Wandel vollzieht sich indessen nicht linear, sondern mal schneller, mal langsamer im ungleichzeitigen Tempo innerhalb der verharrenden Kraft von Traditionen und Vergangenheitslasten, von Kontinuitätspfaden und sogar partiell gegenläufigen, rückwärtsgewandten Entwicklungsprozessen. Insofern sind für den Aufstieg und die Erfolgsvoraussetzungen von Volksparteien im Nachkriegswestdeutschland richtungsbestimmen___________ 28
Otto Kirchheimer (1965), S. 29, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41. 29 Otto Kirchheimer (1965), S. 32, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41. 30 Otto Kirchheimer (1965), S. 26 f., 30, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41. 31 Manfred G. Schmidt (1985), S. 381, Allerweltsparteien in Europa? Ein Beitrag zu Kirchheimers These vom Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Leviathan, 13 Jg., Heft 3, S. 376–397. 32 Steven B. Wolinetz (1990), The Transformation of Western European Party Systems, in: Peter Mair (Hrsg.), The West European Party System, Oxford, S. 218–231.
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de historische Belastungen, kulturelle Traditionen und institutionelle Rahmenbedingungen mit heranzuziehen, die Kirchheimer bei seinem Erklärungsmodell ausklammert. Deshalb unterliegt seine Aussage, dass Volksparteien um des kurzfristigen Wahlerfolgs und der Stimmenmaximierung halber sich elektoral der ganzen Wählerschaft zuwenden und dabei der milieugebundenen Wählerschaft den Rücken zukehren würden, einer strategische Fehlannahme. Denn die westdeutsche Wählerschaft ist in der Nachkriegszeit nicht zu einer kontextlosen, konturlosen, amorphen Masse mutiert, sondern strukturiert sich noch zu größeren Teilen entlang von Konfliktlinien, die in ihrer Konfiguration das deutsche Parteiensystem im Kaiserreich hervorgebracht und auch dem Weimarer Parteiensystem ihren Stempel aufgedrückt haben. Strukturprägend waren nach der Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan33 dabei der Klassenkonflikt und der soziokulturelle Konfessionskonflikt zwischen dem protestantisch-preußischen Staat und den Besitzansprüchen der katholischen Kirche, nach denen sich die Wählerschaft lagermäßig aufspaltete. Lepsius34 filterte vier sozialmoralische Milieus heraus, wobei das sozialdemokratische Milieu und das katholische Milieu für die Nachkriegszeit intakt blieben. Dagegen hatten sich das konservativ-protestantische und liberalprotestantische Milieu als Organisationsformen des ländlichen und städtischen bürgerlichen Lagers schon in Weimar von ihren Parteien gelöst und waren dem Sog der Nationalsozialisten erlegen. Nach dem Krieg führungs- und orientierungslos, bestand für die CDU/CSU eine einzigartige Chance, sich ihnen als neuer politischer Allianzpartner anzudienen. Der Fortbestand traditioneller Wählermilieus deckt allerdings nur einen Teil der Nachkriegswirklichkeit, weil der rasch einsetzende Strukturwandel den Aufstieg neuer, politisch eher ungebundener Mittelschichten aus Angestellten und öffentlich Bediensteten auslöste. Gegenüber dieser expandierenden Wählergruppe, die Kirchheimer wohl vor Augen hat, greift die Catch-All-Strategie, verlangt sogar, dass sich Parteien ihrer bedienen. Nur laufen Volksparteien, und da irrt Kirchheimer, nicht zu den neuen ungebundenen Wechselwählerschichten einfach über und geben ihre milieugebundenen Stammwähler preis, sondern versuchen beide Gruppen zu umfassen. Deshalb bedeutet Catch-allism auch nicht „vote seeking“ gegenüber Jedermann, sondern Volksparteien öffnen sich ___________ 33
Seymour Lipset/Stein Rokkan (1969), S. 5, Cleavages Structures, Party Systems and Voter Alignments: An Introduction, in: dies. (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments: Cross National Perspectives, New York, S. 1–64. 34 Rainer M. Lepsius (1973), S. 33 ff., Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard Ritter (Hrsg.), Deutsche Parteien vor 1919, Köln, S. 45–79.
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Elmar Wiesendahl
unter Beibehaltung ihrer Allianz mit traditionellen Milieus gegenüber ungebundenen Wählerschichten zur Erweiterung ihrer Wählerbasis. Elektoral stellt sich damit für sie ein schwierig zu bewältigendes, strategisches Problem,35 nämlich einerseits der ihnen loyal verbundenen milieuverhafteten Anhänger- und Stammwählerschaft als verlässliches politisches Sprachrohr und Interessenrepräsentationsinstanz zu dienen und andererseits erfolgreich in die ungebundene Wechselwählerschaft vorzudringen und für sich zu gewinnen.
Parteien als Sprachrohre und Interessenrepräsentationsinstanzen
Catch-all Strategie
Ungebundene Wechselwählerschaft
Milieugebundene Anhänger und Stammwählerschaft
Abbildung 4: Volksparteiliche Öffnungsstrategie
Ein zweiter für den Charakter der Volksparteien klärungsbedürftiger Punkt tut sich bei der Frage auf, wie man sich deren Aufkommen und Verbreitung vorzustellen hat. So könnten Volksparteien völlige Neuschöpfungen sein, die als neuer Typ die politische Arena betreten und ältere Parteien verdrängen. Wie aber Kirchheimer behauptet, bildet die Volkspartei das Resultat einer Metamorphose. Für ihn36 „formt sich die Massenintegrationspartei, die in einer Zeit schärferer Klassenunterschiede und deutlich erkennbarerer Konfessionsstrukturen entstanden war, zu einer Allerweltspartei (catch-all party, i. O. kursiv, E. W.), zu einer echten Volkspartei, um“.
___________ 35
Siehe Abbildung 4. Otto Kirchheimer (1965), S. 27, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6, S. 30–41. 36
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Diese Transformationsthese wirft jedoch aus organisatorischer Perspektive die Frage auf, inwieweit sich ältere Massen- und Milieuparteien in einem Prozess der grundlegenden Neuausrichtung und -strukturierung die Merkmale aneignen, die Kirchheimer typologisch für formbestimmend hält. Dem ist entgegen zu halten, dass Großparteien wie CDU, CSU und SPD nicht allen Ballast aus alten Massenparteizeiten abgestoßen haben. In Wirklichkeit überlagern sich in Volksparteien Eigenschaften von Wähler-, Berufspolitiker-, Mitglieder- und Programmparteien, die auf verschiedenen Organisationslogiken beruhen. Sie stellen in originärer Form einen hoch komplexen, hybriden „Mischtypus aus Strukturelementen verschiedener Parteitypen“ dar,37 so dass ihnen verwehrt ist, zu reinen Wähler- und Catch-All-Parteien zu werden. Die Öffnung zu Volksparteien hat also den Großparteien ein Konflikt- und Spannungspotential eingebracht, was ihre elektorale Effizienz und ihren inneren Zusammenhalt beeinträchtigt.
IV. Ursachen der Volksparteikrise Die zu Volksparteien geöffneten Großparteien CDU, CSU und SPD haben in den 60 Jahren Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik eine beeindruckende Erfolgsgeschichte hinter sich gebracht, die schließlich in der Misere endete: Ihnen laufen, oberflächlich betrachtet, in Scharen Wähler und Mitglieder weg, ohne das ersichtlich ist, welche Gründe hierfür vorliegen. Auf der Suche nach Erklärungen herrscht in der Parteienliteratur eher ein Diagnoseüberschuss, als das triftig und empirisch nachvollziehbar begründet würde, was zur Krise der Volksparteien geführt hat. Auf jeden Fall herrscht insoweit Konsens, dass sich der Niedergang nicht monokausal erklären lässt, sondern die Ursachen in verschiedene Richtungen weisen. So sieht Niedermayer38 im Abstieg von SPD und CDU/CSU „zu großen Teilen ein hausgemachtes Problem“, weil sich im europäischen Vergleich nicht von einem „generellen Niedergang der Großparteien“ sprechen lasse. Dies wirft die Frage nach Sonderbedingungen auf, die in Westdeutschland und dann in Gesamtdeutschland Aufstieg und Verfall der Volksparteien bewirkt haben ___________ 37 Alf Mintzel (1989), S. 11, Großparteien im Parteienstaat der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 11, S. 3–14. 38 Oskar Niedermayer (2010), S. 12, Von der Zweiparteiendominanz zum Pluralismus: Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems im westeuropäischen Vergleich, in: PVS, 51. Jg., Heft 1, S. 1–13. Oskar Niedermayer (2010), Triumph und Desaster: Die SPD im deutschen Parteiensystem nach der Vereinigung, in: Gesellschaft-WirtschaftPolitik (GWP), Heft 2, S. 225–236.
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könnten. Heinrich Oberreuter39 führt fünf „Veränderungstendenzen“ auf, die sich zur Erklärung der Krise heranziehen ließen: 1. Die Auflösung sozial-moralischer Milieus mit der damit einhergehenden Erosion der Parteibindungen; 2. Wertewandel und Individualisierung sowie Pluralisierung der Zielgruppen; 3. Inszenierungstendenzen der Politikvermittlung in der Fernsehdemokratie; 4. Der Vorrang öffentlicher Darstellungspolitik von Entscheidungen über sachpolitische Substanz und schließlich 5. Entpolitisierungstendenzen in der Bevölkerung, verbunden mit wachsender Distanz gegenüber den politischen Institutionen. Ohne Zweifel werden mit der Auflistung wesentliche Gründe genannt, die sich im Beziehungsdreieck von Gesellschaft, Parteien und Wählerschaft bewegen. Für die Volksparteienkrise ergibt sich hieraus kein einseitiger deterministischer Zusammenhang, zumal Parteien ihrerseits als handelnde Akteure Einfluss ausüben, mit dem sie verändernd oder stabilisierend auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einwirken. Beim Streben nach Erfolg und Schliddern in die Krise übernehmen sie jedenfalls einen aktiven Part, so dass es angebracht ist, zwischen endogenen und exogenen Krisenfaktoren zu unterscheiden. Um jedoch Volksparteien nicht zu sehr in das Licht von Hauptverantwortlichen einer von ihnen selbst verschuldeten Krise zu rücken, sind dem Wandel unterliegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen mit heranzuziehen, die Aufstieg und Glanzzeit der Volksparteien, aber auch ihren Niedergang bewirkt haben könnten. Und schließlich könnten sich aus dem fortschreitenden gesellschaftlichen Wandel auch neue Herausforderungen ergeben haben, auf die die dadurch in Bedrängnis geratenen Volksparteien nicht oder falsch reagiert haben.
V. Der Wegfall des Wirtschaftsbooms und die Rückkehr der Unsicherheitsgesellschaft Aufstieg und Abstieg der Volksparteien haben wirtschaftliche Gründe. Denn Volksparteien sind Kinder eines einzigartigen Wirtschaftsbooms, der Anfang der 1950er einsetzte und nach 1973 auslief. Die enorme Dynamik des Wirtschaftsaufschwungs ließ innerhalb kurzer Zeit im westlichen Nachkriegs___________ 39
Heinrich Oberreuter (2009), S. 45 ff., Parteiensystem im Wandel – Haben die Volksparteien Zukunft?, in: Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft?, Freiburg im Breisgau, S. 43–59.
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deutschland eine Vollbeschäftigungs-, Wohlstands- und Konsumgesellschaft entstehen, die die Massen der einfachen Bevölkerung einschloss. Wirtschaftlich bildete die Boomphase zwischen 1950 und 1973 ein „goldenes Zeitalter“.40 Es gab mit seinen sprudelnden Steuern und Sozialabgaben die ökonomische Basis her für den systematischen Ausbau des Sozialstaats. Die Wirtschaft garantierte Beschäftigung, Wohlstand und Konsum, während die von den Volksparteien ausgebauten sozialen Sicherungssysteme den Bundesbürgern Schutz vor Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Berufsunfähigkeit und Alterselend gewährleisteten. Insofern entwickelten sich Wachstum, wachsender Wohlstand und umfassende soziale Sicherheit einerseits und Volksparteien andererseits für die Bevölkerung zu einer symbiotischen Einheit. Vor allen Dingen galt das für die christdemokratische Regierungsära unter Adenauer, während der die Unionsparteien mit dem Erhardschen Slogan „Wohlstand für alle“ und „Sicher ist sicher“ eine Wählermehrheit hinter sich brachten. Lastenausgleich, Kindergeld und die große Rentenreform von 1957 wussten das „Wahlwunder“ zugunsten von CDU/CSU zu befördern. Infolgedessen entstand unter der langen Unionsherrschaft von 1949 bis 1966 ein sozial integratives Gesellschaftsmodell, das mit einer Wohlstandsgarantie und der Befriedung der sozialen Frage einherging. Unter diesen Umständen konnte sich eine materielle und soziale OhnesorgGesellschaft etablieren, die auf ein stetiges „Mehr“ und „Aufwärts“ programmiert war. Antreibendes Moment der Entwicklung bildete die Parteienkonkurrenz, die CDU/CSU und SPD untereinander einer Politik der Wohltaten und sozialen Leistungsverbesserungen um die Gunst der Wählerschaft austrugen.41 Die Bindung der breiten Wählerschaft an die Volksparteien, die in den 1970ern ihren Höhepunkt erreichte, gründete sich auf der berechtigten Zuversicht, dass nach Wahlen die konkurrierenden Großparteien ihre Wohlstands- und sozialen Leistungssteigerungsversprechen einlösen würden und sich dadurch die ökonomische Lage und soziale Sicherheit weiter bessern würden. Den von den Volksparteien selbst geweckten Leistungserwartungen wurde die SPD während der Zeit der sozialliberalen Koalition in den 1970ern auch gerecht, indem sie zu einem weiteren Expansionsschub des Sozialstaats ansetzte. Er gipfelte in der großen Rentenreform von 1972 mit Einführung der flexiblen Altersgrenze und dem massiven Ausbau des Gesundheitswesens. Zuvor schon hatte während der Großen Koalition mit dem Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967 die keynsianische Globalsteuerung einen politischen Durchbruch erlebt, ___________ 40
Hans-Ulrich Wehler (2008), S. 49, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, München. 41 Elmar Wiesendahl (2004), S. 19 ff., Parteien und die Politik der Zumutungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Heft 40, S. 19–28.
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die davon beseelt war, wirtschaftliches Wachstum antizyklisch steuern zu können. Für Vollbeschäftigung, Bekämpfung der Inflation und stetiges Wirtschaftswachstum übernahm der Staat die Verantwortung. Rückblickend vollzieht sich in der Epoche des Wirtschaftsbooms ein geradezu „sozialgeschichtlich revolutionärer“ Prozess,42 weil es erstmals in der Sozialgeschichte der Arbeiter gelingt, diese Schicht durch gesellschaftliche Wohlstandsteilhabe in die Massenkonsumgesellschaft zu integrieren. Die Spaltung der Gesellschaft in ein Oben und Unten war Ende der 1970er so weit getilgt, dass sich die große Masse der Bevölkerung als integraler Teil einer ökonomisch saturierten sozial nivellierten Mittelstandsgesellschaft empfand. Der Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaats durch die Volksparteien hatte natürlich seinen Preis, zumal die Staatsquote am Volkseinkommen zwischen 1950 und 1970 von 17 auf 32 % anstieg. Zum Ende der sozialliberalen SchmidtÄra 1982 war sie auf 49 % hochgeklettert.43 Noch krasser weitete sich das Sozialbudget aus, das sich allein in der Zeit von 1970 bis 1975 von 174,7 auf 334,1 Milliarden DM verdoppelte.44 Nicht ausbleiben bei der Kostenexpansion konnte die Anhebung der Sozialabgaben vom Bruttolohn, die von 27,8 auf 34 % anstiegen. Für das kostenträchtige Erfolgsmuster der Volksparteien brachen aber mit Ende des Wirtschaftsbooms die ökonomischen Voraussetzungen weg, so dass Zeiten der wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit zurückkehrten. 1973 bildet für den Epochenwechsel insofern eine Zäsur, weil, ausgelöst durch den Ölpreisschock, die Zeit des immerwährenden Wachstums auslief. Schwächelndes Wachstum bestimmt seitdem die weitere Entwicklung. Es folgten bis Ende der 1980er Jahre des Übergangs, die für Doering-Manteuffel und Raphael45 ab Mitte der 1990er in ein neues „Zeitalter der deregulierten Globalisierung“ und des „digitalen Finanzmarktkapitalismus“ übergehen. Der Strukturbruch setzte mit der Krise der Massenfabrikation und der Krise von arbeitsintensiven Hochlohnindustrien wie Kohle, Stahl, Automobil- und Schiffsbau ein, die mit der Globalisierung der Märkte der Billiglohnkonkurrenz aus Südeuropa und Fernost nicht standhalten konnten. Die Wirtschaft vollzog einen Rationalisierungs- und Modernisierungsprozess, mit der sie die Wert___________ 42
Hans-Ulrich Wehler (2008), S. 154, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, München. 43 Hans-Ulrich Wehler (2008), S. 56, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, München. 44 Hans-Ulrich Wehler (2008), S. 266, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, München. 45 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael (2010), S. 14, 26 ff., Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Aufl., Göttingen.
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schöpfung auf wissensbasierte, PC-gestützte Produktion und die Bereitstellung hochwertiger Dienstleistungen umstellte. Produktionsverlagerungen ins Ausland folgten. Der technologische und wirtschaftliche Wandel leitete die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ ein, mit der Millionen an Arbeitsplätzen für niedrig qualifizierte Beschäftigte wegfielen.46 Die modernisierte Wirtschaft spuckte als überflüssige Modernisierungsverlierer Heerscharen von einfachen „Malochern“ aus, die in Zeiten des Booms und der industriellen Massenfabrikation vom Arbeitsmarkt aufgesogen wurden. Es begann die Zeit der Massenarbeitslosigkeit, die zwischen 1970 und 1985 von 0,7 auf 9,3 % (absolut: 2,3 Millionen) der Beschäftigten anstieg. Mit der Wachstumsschwäche und der sich vertiefenden Beschäftigungskrise wurden die beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme vom notwendigen Steuern- und Sozialabgabenzufluss abgeschnitten, während gleichzeitig die Kosten für die soziale Abfederung der Massenarbeitslosigkeit in die Höhe schossen. Trotz massiv steigender Soziallasten blieben die expandierenden Sozialstaatskosten unterfinanziert, so dass von den Volksparteien der Weg in den Schuldenstaat beschritten wurde. So gerieten die Volksparteien tiefer und tiefer in eine Zwickmühle hinein, in die sie sich durch die Scherenbildung zwischen erschöpfter wirtschaftlicher Wachstumsdynamik und ungebremsten, schuldenfinanzierten Sozialstaatsausgaben selbst hineinmanövriert haben. Grund hierfür war, das soziale Leistungsniveau kostentreibend gerade zu der Zeit weiter steigen zu lassen, als die wirtschaftlichen Bezahlvoraussetzungen hierfür weggefallen waren. Für die Volksparteien trat mit dem Strukturbruch eine fatale Lage ein. Denn für den Umgang mit der Wählerschaft fiel die aus der Boomzeit stammende Geschäftsgrundlage des „Besser“ und „Mehr“ weg, genauso wie das Versprechen auf Wohlstand und Sicherheit nicht mehr eingehalten werden konnte. Längst wird dadurch die alte Popularitätsbasis der Volksparteien unterminiert, weil ihnen die Sicherheitsgarantie47 hierfür abhanden gekommen ist. So stiegen in der Wählerschaft zunächst die sozialen Sicherheitserwartungen in dem Maße an, wie die Volksparteien durch gesteigerte Sicherheitsleistungen und Wohltaten hierzu beitrugen. Nun gefährdet aber der wirtschaftliche Strukturwandel real und subjektiv die ökonomische und soziale Sicherheitslage der Menschen. Entsprechend wachsen die Erwartungen der Menschen auf den Schutz erworbener Sicherheiten an, die jedoch von den Volksparteien nicht mehr eingelöst werden können. Die zwangsläufigen Erwartungsenttäuschungen lassen das Unsicherheitsempfinden der Wähler weiter ansteigen. Das heißt, die Volksparteien, die einstmals ___________ 46
Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael (2010), S. 52 ff., Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Aufl., Göttingen. 47 Silke van Dyk/Stephan Lessenich (2008), S. 16 ff., Unsichere Zeiten. Die paradoxe „Wiederkehr“ der Unsicherheit, in: Mittelweg 36, 5. Jg., Okt./Nov., S. 13–45.
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mit steigendem Wohlstand und sozialer Sicherheit identisch waren, sind nun selbst zum integralen Teil der sich ausbreitenden Unsicherheitsgesellschaft abgesunken. So wie die Wirtschaft die Volksparteien groß gemacht hat, sind sie jetzt das Opfer von gegen sie gekehrten wirtschaftlichen Umständen.
VI. Wertewandel und Integrationsversagen Volksparteien werden nicht nur vom Wirtschaftwandel bedrängt, sondern auch von Auswirkungen des sozialen und kulturellen Wandels. Weil zunächst aber bei den Nachkriegsbürgern ökonomische und soziale Sicherheit absolutem Vorrang besaß, haben sich die Volksparteien in erster Linie auf sogenannte „bread-and-butter“-Anliegen kapriziert, die materielles Wohlergehen und soziale Sicherheit steigerten. Durch den Wirtschaftsboom sprudelte das zu verteilende Geld, und die Wählerschaft war hoch zufrieden. Von Jahr zu Jahr stiegen Wohlstand und soziale Sicherheit an, und über das Land legte sich entspannt sozialer Frieden. Auf dem wirtschaftlichen Wachstumspfad fortzuschreiten, schien allen Parteien das Gebot der Stunde. In diese Idylle der unpolitischen, saturierten Wohlstandsgesellschaft brach Mitte der 1960er der Wertewandel ein, der sich auf der Basis des erreichten Wohlstands und der einsetzenden Bildungsexpansion verbreitete. Aus dem Wertewandel erwuchs für die Nachkriegsgesellschaft ein massiver Kulturkonflikt, weil er mit seinen neuen Werteprioritäten Freiheit, Selbstverwirklichung, Frieden und Geschlechtergleichheit der hergebrachten, gesellschaftlich tief verankerten bundesdeutschen Wertekultur, fußend auf Autorität, Anpassung und Unterordnung, Sitte und Anstand, den Kampf ansagte.48 Der Konflikt spitzte sich in dem Maße zu, wie die antiautoritäre 68er-Bewegung der Auseinandersetzung einen aufmüpfigen kulturrevolutionären Anstrich verlieh. Als sich zu Beginn der 1970er der postmaterielle Wertewandel mit der neuen ökologischen Frage verband, setzte hierdurch eine Politisierungswelle gerade unter den jüngeren, gebildeten Altersgruppen der Bevölkerung ein, aus der sich eine stark auf unkonventionelle Protestformen ausgerichtete Beteiligungskultur entwickelte. Die Bürgerinitiativenbewegung entstand, und die politisierten Aktivbürger verlangten nach direktdemokratischer Teilhabe und gesellschaftlicher Demokratisierung. Aus der Verbindung von Wertewandel, partizipatorischer Revolution und ökologischer Frage bildete sich eine neue „postindustrielle ___________ 48 Elmar Wiesendahl (1989), S. 98 ff., Etablierte Parteien im Abseits? Das Volksparteiensystem der Bundesrepublik vor den Herausforderungen der neuen sozialen Bewegungen, in: Ulrike C. Wasmuht (Hrsg.), Alternativen zur alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, Darmstadt, S. 82–108.
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Konfliktlinie“ heraus, die sich gegen das von den Volksparteien verinnerlichte Wachstumsparadigma und den für die politische Kultur prägenden repräsentativdemokratischen Paternalismus querstellte.49 Unter den etablierten Volksparteien löste die neue Konfliktstruktur starke Irritationen aus, die zu unterschiedlichen Reaktionen führten.50 So leitete die sozialliberale Koalition ihre Ära mit dem Motto, „Mehr Demokratie waren“ ein, wodurch Hunderttausende von Jungwählern und Jungmitgliedern zur SPD fanden. Die Euphorie verflog aber rasch, nachdem sich der Erwartungsüberschuss nicht in der sozialliberalen Regierungspolitik widerspiegelte. Die Unionsparteien nahmen von vornherein als Gegenpol die politische Führerschaft und Sprachrohrfunktion gegenüber dem herausgeforderten gesellschaftlichen Antireformlager ein, das weiterhin für forciertes Wachstum und den Erhalt der konservativ-konventionellen Wertekultur eintrat. Da sich die sozialliberale Koalition nach dem Kanzlerwechsel von Brandt auf Schmidt mit ihrem unbeirrbaren Wachstumskurs und den Streitpunkten der Kernenergie und atomaren Nachrüstung gegen das neue ökologisch-postmaterielle Aufbruchlager stellte, bildete sich gegen das etablierte Parteiensystem ein Protestlager heraus, das, mobilisiert durch die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung, die Frauenbewegung und schließlich die Friedensbewegung, Westdeutschland eine Zeitlang in eine Protestlandschaft verwandelte. Das Protestlager mit seinem bürgerschaftlichen Aufbegehren zeigte das hohe Maß an Entfremdung zwischen politisierter Bürgerschaft und etabliertem Volksparteiensystem an, zumal sich letzteres gegen die Integration des Wachstums- und Ökologiekonflikt in das Werte- und Interessenspektrum der Volksparteien verweigerte.51 Für dieses Integrationsversagen sollte das Parteienduopol teuer bezahlen. Denn in die Vertretungslücke drängten sich grün-alternative Gruppen hinein, die als Die Grünen 1983 bei den Bundestagswahlen ihren parlamentarischen Durchbruch erlebten. Leidtragende der Erweiterung des westdeutschen Parteiensystems war in erster Linie die SPD, deren vom Wertewandel erfasste Wähler- und Anhängerschaft aus den neuen Mittelschichten zu den Grünen abwanderten.
___________ 49 Joachim Raschke (1985) S. 26 ff., Soziale Konflikte und Parteiensystem in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 49/85, S. 22–39. 50 Elmar Wiesendahl (2002), S. 141 ff., Überhitzung und Abkühlung: Parteien und Gesellschaft im Zeitenwechsel der siebziger und achtziger Jahre, in: Axel Schildt/Barbara Vogel (Hrsg.), Auf dem Weg zur Parteiendemokratie. Beiträge zum deutschen Parteiensystem 1848–1989, Hamburg, S. 138–169. 51 Elmar Wiesendahl (2002), S. 166, Überhitzung und Abkühlung: Parteien und Gesellschaft im Zeitenwechsel der siebziger und achtziger Jahre, in: Axel Schildt/Barbara Vogel (Hrsg.), Auf dem Weg zur Parteiendemokratie. Beiträge zum deutschen Parteiensystem 1848–1989, Hamburg, S. 138–169.
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Das alte Volksparteiensystem erwies sich solange als leistungsstark, wie es sich als Wohlstandsmehrungs- und soziale Umverteilungsinstanz betätigen konnte. Für das neue Cleavage des postmateriellen Wertekonflikts und der ökologischen Frage besaß es jedoch keine hinreichende Sensibilität und keine geeigneten Konfliktverarbeitungsmechanismen.
VII. Erosion der Volksparteienmilieus Volksparteien sind zu einem Gutteil Milieuparteien, die ihre Wählerstärke aus der Verwurzelung mit einer milieuverbundenen Stammwählerschaft herleiten. Diese Basis ist bedroht, wenn sich Milieus aufzulösen beginnen. Milieus sind gesellschaftliche Großgebilde gemeinsamer sozialer Lagerung, die aus gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen heraus entstanden. Die Milieuangehörigen sind sozial miteinander vernetzt und werden durch eine politische Gesinnungspresse politisch vergemeinschaftet. Hierdurch erleben und interpretieren sie ihre Lage ähnlich, teilen die gleichen Lebensstile und Alltagsroutinen. Kollektive Identität über gemeinsame Wertevorstellungen und Interessen bilden die Grundlage,52 um sich an eine Partei als Stammwähler zu binden und diese Bindung von Generation zu Generation weiterzugeben. Die CDU/CSU trat das Erbe des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei an, so dass ihr die Wähler des katholischen Milieus als loyale Kernwähler zufielen. Die SPD nahm 1945 als erklärte Arbeiterpartei ihre alten Verbindungen zum Arbeitermilieu und den Gewerkschaften auf mit dem Erfolg, dass die damals noch zahlreiche Industriearbeiterschaft zur treuesten Stammwählergruppe der Partei aufwuchs. Vom Vorteil war dabei, dass die KPD in der westdeutschen Wählerschaft nicht dauerhaft Fuß fassen konnte. Dass Milieus zur Erklärung der Krise der Volksparteien herangezogen werden, hat mit dem sozialstrukturellen und kulturellen Gesellschaftswandel zu tun, der das Schrumpfen und den inneren Köhasionsverlust der Milieus bewirkt hat. Die Milieus als alte Säulen der Industriegesellschaft konnten den seit den 1950ern einsetzenden gesellschaftlichen Tertiarisierungs-, Säkularisierungs-, Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen nicht widerstehen.53 „Die alten ___________ 52
Oscar W. Gabriel (2010), S. 11, Politische Milieus, Individualisierung und der Wandel der Strukturen des Parteienwettbewerbs in Deutschland, in: Politische Bildung, Heft 2, S. 9–23. 53 Peter Gluchowski u. a., (1997); S. 184, Sozialstruktur und Wahlverhalten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Oscar Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, 2. Aufl. Wiesbaden, S. 181–203.
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Milieus wurden“, wie Oberreuter54 kurz und bündig bemerkt, „in der Gesellschaft wegmodernisiert“. In Bedrängnis gerieten die Stammmilieus der Volksparteien jedoch auf je spezifische Weise. So setzte ab Mitte der 1950er ein postindustrieller Strukturwandel ein, der einen von Angestellten und öffentlichen Bediensteten getragenen tertiären Dienstleistungssektor entstehen ließ, während sich der industrielle Sektor stark zurückbildete. Millionen von „Blue Collar“-Arbeitsplätzen verschwanden. Zugleich öffneten sich in den 1970ern für junge Bildungsaufsteiger mit Arbeiter- und Kleine-Leute-Herkunft die Türen zum öffentlichen Dienst, der als der am stärksten expandierende Dienstleistungsbereich 1985 fast 20 % aller Beschäftigten aufnahm,55 gegenüber 1960 eine Steigerung um mehr als 110 %. Zudem wirkte sich die über das Fernsehen verbreitete Massenkonsumkultur nivellierend aus und entzog einer arbeiterkulturellen Alltagsästhetik den Boden. Auf nicht weniger nachhaltige Art und Weise griff der Säkularisierungsprozess die Milieustrukturen des politischen Katholikentums an. Die organisatorische Vernetzung und Binnenkohäsion des katholischen Milieus begannen sich bereits ab den 1960ern aufzulösen.56 Das kontinuierliche Schrumpfen des katholischen und Arbeitermilieus bewirkt, dass die darin eingebundenen Stammwähler bei Wahlen nur noch in sehr begrenztem Umfang für das Gesamtwähleraufkommen von CDU/CSU und SPD zu Buche schlagen.57 So waren schon in den 1990ern die milieugebundenen Kernwähler aus Katholiken mit enger Kirchenbindung und Arbeitern mit Gewerkschaftsbuch auf 13 bzw. 17 % Gruppenanteil unter den CDU/CSU- und SPD-Wählern herabgesunken.58 Deshalb zahlen sich die 67 % Stimmenanteil der CDU/CSU unter katholischen Kernwählern bei den Bundestagswahlen 2009 nicht wirklich aus, weil die Gruppe mittlerweile auf 6 % Wähleranteil im alten Bundesgebiet geschrumpft ist. Nicht anders ergeht es der CDU/CSU mit ihren bäuerlichen Stammwählern. Zwar kommt sie ___________ 54
Heinrich Oberreuter (2009), S. 49, Parteiensystem im Wandel – Haben die Volksparteien Zukunft?, in: Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft?, Freiburg im Breisgau, S. 43–59. 55 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael (2010), S. 57 f., Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Aufl., Göttingen. 56 Herbert Kühr (1985), S. 255 ff., Katholische und evangelische Milieus. Vermittlungsinstanzen und Wirkungsmuster, in: Dieter Oberndörfer/Hans Rattinger/Karl Schmitt (Hrsg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertewandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, S. 245–261. 57 Viola Neu (2009), S, 70 ff., Bundestagswahl in Deutschland am 27. September 2009. Wahlanalyse, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Onlinepublikation, Berlin. 58 Bernhard Weßels (2000), S. 148 f., Gruppenbildung und Wahlverhalten. 50 Jahre Wahlen in Deutschland, in: Markus Klein u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Empirische Sozialforschung in Deutschland, Wiesbaden, S. 129–157.
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bei den Bundestagswahlen 2009 bei Landwirten auf exorbitant hohe 65 %. Allerdings repräsentiert diese Gruppe nur noch einen Anteil von 2 % unter den Wählerinnen und Wählern. Die Marginalisierung der Arbeiterstimmen in der SPD-Wählerschaft zeigt eine ähnliche Entwicklung. Bis Ende der 1980er trugen sie fast bis zur Hälfte zum Rückhalt der SPD in der Wählerschaft bei.59 Mit der Wende zu den 1990ern setzte dann ein krasser Anteilsverlust der Arbeiterstimmen ein, die im Stellenwert, nach einer leichten Erholung Mitte der 1990er, nach 2000 auf unter ein Viertel absackten. Noch krasser vollzog sich der Niedergang der Arbeiter in der SPD-Mitgliederschaft. Sie haben sich 2004 auf eine Anteils-Restgröße von 12,1 % zurückentwickelt.60 Noch deutlich weniger finden Arbeiter als Neumitglied den Weg zur SPD. Für Franz Walter61 setzt der Prozess der Arbeitermilieuauszehrung schon in den 1970ern ein, als große Teile der Facharbeiterschaft in die Mittelschichten aufstiegen. Zurück blieben für ihn die Reste der Arbeiterschaft und neue Unterschichten, die wegen des nicht mehr wirksamen Milieuzusammenhangs die Bande zur SPD kappten. Von da an „begann die Entsozialdemokratisierung des bundesdeutschen Restproletariats“,62 zumal es der SPD schwerfallen musste, diese heterogene Gruppe aus Modernisierungsverlierern, Ausgegrenzten und Marginalisierten für die sozialdemokratische Idee einer besseren Zukunft gewinnen und einspannen zu können. Mit der Auflösung von fest in homogenen Lebenswelten verankerten und politisch vergemeinschafteten Milieus ist man seit den 1980ern dazu übergegangen, Lebensstilgruppen zu erfassen, die Wertvorstellungen, Interessenmentalitäten und Lebensstile teilen, ohne den alten Milieus zugerechnet zu werden. Auftrieb bekam der neue Untersuchungsansatz, weil sich die Wähler durch den Rückgriff auf ihre soziale Lage als immer weniger erreichbar erwiesen. Mittlerweile sind verschiedene kartographische Aufgliederungen der Wählerlandschaft nach Lebensstil-Milieus im Umlauf, die sich je nach methodischer Clusterbildung von individuellen Befragungsdaten deutlich unterscheiden. Wie Hradil63 kritisch bemerkt, handelt es sich „um von Sozialwissenschaftlern ‚künstlich‘ abgegrenzte und benannte Gruppierungen“. ___________ 59 Oliver Nachtwey (2008) S. 61, In der Mitte gähnt der Abgrund. Die Krise der SPD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8, S. 58–68. 60 Wolfgang Schröder (2008), S. 234, SPD und Gewerkschaften: Vom Wandel einer privilegierten Partnerschaft, in: WSI-Mitteilungen, Heft 5, S. 231–237. 61 Franz Walter (2009), S. 76 f., Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte vom Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld. 62 Franz Walter (2009), S. 77, Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte vom Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld. 63 Stefan Hradil (2006), S. 7, Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 44–45, S. 3–10.
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Am bedeutsamsten für die jüngere Milieuauflösungsdebatte der Volksparteien ist das von Infratest-Dimap im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung entwickelte Typenmodell,64 welches Gruppen mit gemeinsam geteilten Werten und politischer Grundorientierung zu identifizieren versucht. Die 2006 befragten Bundesbürger werden entlang ihrer Haltung zu den drei Wertalternativen „Liberalismus versus Autoritismus“, „soziale Gerechtigkeit versus Marktfreiheit“ und „Religiosität versus Säkularität“ nach neun Gruppen unterschieden und jeweils dem oberen, mittleren und unteren Drittel der Gesellschaft zugeordnet.65 Zuoberst kommen Leistungsindividualisten (11 %), etablierte Leistungsträger (15 %), kritische Bildungseliten (9 %) und engagiertes Bürgertum (10 %) auf insgesamt 45 % oberes Drittel. Zufriedene Aufsteiger (13 %) und bedrohte Arbeitnehmermitte (16 %) bilden mit 29 % das mittlere Drittel. Und selbstgenügsame Traditionalisten (11 %), autoritätsorientierte Geringqualifizierte (7 %) und das abgehängte Prekariat (8 %) sammeln sich mit 26 % im unteren Drittel. Im Osten der Republik kommt das untere Drittel auf insgesamt 40 %, und auch die bedrohte Arbeitnehmermitte umfasst 18 %.66 Für die Milieuanbindung der Volksparteien ist die FES-Studie deshalb besonders aufschlussreich, weil sie als konstitutives Merkmal in allen neun Milieus mehr oder minder ausgeprägt Anhänger finden.67 Doch allein die Fragmentierung der Wählerschaft in neun heterogene Teilgruppen führt sie an Grenzen heran, hieraus milieuübergreifende, beständige Wählerkoalitionen zu schmieden. Die alten dahingeschmolzenen Stammmilieus boten noch Stabilität und Berechenbarkeit. Mit der neuen Lebensstilgesellschaft macht sich für sie jedoch Ungewissheit und Unsicherheit breit, wie sie aus disparaten Teilen ein Ganzes an Wählermehrheit organisieren könnten. Die FES-Studie enthält für sie eine weitere zwiespältige Botschaft. Einerseits haben die alten Konfliktlinien soziale Gerechtigkeit versus Marktfreiheit, Religiosität versus Säkularität und, im Gefolge des Wertewandels, Liberalität versus Autoritismus kaum etwas von ihrer lagerbildenden Strukturierungswirkung eingebüßt. Nur organisieren sich die Wertegemeinschaften nicht mehr wie früher bipolar und dichotom, sondern es überkreuzen und mischen sich sozioökonomi___________ 64 Rita Müller-Hilmer (2006), Gesellschaft im Reformprozess, Manuskript FriedrichEbert-Stiftung (Berlin) Juli 2006. Gero Neugebauer (2007), Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 65 Gero Neugebauer (2007), S. 22 ff., Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 66 Rita Müller-Hilmer (2006), S. 21, Gesellschaft im Reformprozess, Manuskript Friedrich-Ebert-Stiftung (Berlin) Juli 2006. 67 Gero Neugebauer (2007), S. 100 ff., Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
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sche und soziokulturelle Konfliktlinien zu Wertemixturen zusammen, die den einzelnen Stilgruppen ein charakteristisches Werteprofil geben. Volksparteien stellt dies aber vor ein enormes Integrationsproblem, weil sich ihre Anhängerschaft über das ganze Spektrum an Stilmilieus erstreckt, die sich mit ihren konträren Wertvorstellungen und gesellschaftspolitischen Positionen nicht grün sind. So spaltet sich die Unionsanhängerschaft in eine sozialstaatlich orientierte Mehrheit und qualifizierte marktliberale Minderheit auf,68 die sich politisch nur schwer zusammenbinden lassen. Und die SPD hat einen ideologisch weit ausladenden Spannungsbogen abzubilden, um ihre disparate Wählerschaft aus kritischen Bildungseliten und engagiertem Bürgertum einerseits und bedrohter Arbeitnehmermitte sowie abgehängtem Prekariat andererseits in einer Wählerkoalition halten zu können.69 Unter den Volksparteien ist Ratlosigkeit eingekehrt, wie sie in einer pluralisierten Lebensstilgesellschaft labile Wählerkoalitionen mit heterogenen Gruppen zustande bringen sollen, die sich in ihrem Werteprofil schwerlich zusammenbinden lassen.
VIII. Vom Spagat zur Milieuvernachlässigung Der Erklärungsansatz der Milieuerosion weist den Volksparteien die Rolle von Opfern zu, die ohne ihr eigenes Zutun von gesellschaftlichen Veränderungen überrollt werden. Mit dieser Vorstellung wird man den Volksparteien nicht ganz gerecht, weil sie sich an Veränderungen anpassen können. Ohne Tücken ist das allerdings nicht. So stützen sie sich nicht nur auf ihre Stammwählermilieus, sondern müssen mit ihrer Catch-All-Strategie ein möglichst breites Wählerspektrum abzudecken versuchen. Dabei verarbeiten sie zwangsläufig Wählervielfalt und Interessenheterogenität, die um so stärker die Integrationskraft von Volksparteien strapazieren, wie sich die Interessenlagen, Wertorientierungen und Mentalitäten des Stammwählerbereichs und der numerisch immer stärker anwachsenden ungebundenen Wechselwählerschichten auseinanderentwickeln. Diese Lage zwingt die Volksparteien zu einem Spagat, bei dem sie sich der Loyalität ihrer Traditionswähler zu vergewissern haben und gleichzeitig neue Wählerkreise zu erschließen versuchen, die die Wahl haben, sich auch für das ___________ 68
Gero Neugebauer (2007), S. 103, Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 69 Gero Neugebauer (2007), S. 103, Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
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attraktivere Angebot von Konkurrenzparteien zu entscheiden. Die ständige Wählerverbreiterung gehört allein schon deshalb zum Überlebensprinzip der Volksparteien, weil, wie aufgezeigt, die sichere Bank der Stammwählerschaft durch Milieuauflösung dahin schmilzt. Stammwähler fallen immer weniger ins Gewicht, um Wählermehrheiten organisieren zu können. Schon aus Eigennutz sind Volksparteien deshalb auf Modernisierung ihres Profils und Kurses bedacht, um Anschluss an die expandierenden neuen Mittelschichten zu finden. Doch musste diese Öffnung irgendwann von den Stammwählern aus den Kernmilieus als Akt politischer Treulosigkeit und des Zuwendungsentzugs verstanden werden. Seitdem stecken die Volksparteien in einer sich selbst eingebrockten Modernisierungsfalle.70 Einerseits haben sie ihr Traditionssegment an Stammwählern durch Vernachlässigung vergrätzt. Andererseits war ihre elektorale Schwerpunktverlagerung auf die neuen mobilen Mittelschichten riskant, weil sich zu ihnen keine stabilen, belastungsfähigen Bindungen herstellen lassen, durch die sich ihr Wählerfundament auf eine sichere, dauerhafte Grundlage stellen ließe. Infolgedessen können die Mobilisierungs- und Bindungsverluste im Kernwählerbereich nur höchst unsicher bei den Trägergruppen der gesellschaftlichen Moderne kompensiert werden. Die Modernisierungsstrategie der SPD hin zu den neuen Mittelschichten mündete Anfang der 1970er in einem Erfolg, als es der Partei unter dem Banner der Modernität und Aufstiegsgesellschaft in einer einzigartigen Integrationsleistung glückte, ein Wählerbündnis zwischen der klassischen Industriearbeiterschaft, Angestellten aus den expandierenden Dienstleistungsbranchen und Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu schmieden.71 Dann lief die Partei, die innerparteilich einen Verbürgerlichungsprozess durchmachte,72 den von ihr geförderten Aufsteigerschichten aus der Facharbeiterschaft hinterher, die in den Mittelschichtenbereich der Gesellschaft aufrückten. Die historisch gewachsene Allianz zwischen Arbeiterschaft und SPD erlitt hierdurch tiefe Risse. Dies war der Preis, um sich von ihrer klassischen Rolle als Schutzmacht der kleinen Leute und benachteiligter Unterschichtenangehöriger loszusagen und sich zum Sprachrohr der Aufsteigerschichten zu machen. Gleichzeitig wurde die Abwendung von Wählern aus den alten sozialdemokratischen Stammrevieren eingelei___________ 70
Elmar Wiesendahl (1992), S. 12 ff., Volksparteien im Abstieg. Nachruf auf eine zwiespältige Erfolgsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 34–35/1992, S. 3–14. 71 Elmar Wiesendahl (2002), S. 141 ff., Überhitzung und Abkühlung: Parteien und Gesellschaft im Zeitenwechsel der siebziger und achtziger Jahre, in: Axel Schildt/Barbara Vogel (Hrsg.), Auf dem Weg zur Parteiendemokratie. Beiträge zum deutschen Parteiensystem 1848–1989, Hamburg, S. 138–169. 72 Heino Kaack (1971), S. 484, Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen.
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tet. Heute ist die SPD „Volkspartei ohne Rumpf …, die nicht länger vermag, die Arbeiter zu integrieren“.73 Franz Walter74 zeichnet die Entwicklung der SPD noch zugespitzter nach. Sie ist für ihn als ehemalige „Partei des Proletariats … im Zuge selbst eingeleiteter Sozialstaats- und Bildungsreformen vorwiegend eine Interessenvertretung emporgekommener Ex-Facharbeiter geworden“. Während sie die „Restarbeiterklasse“ dem Schicksal politischer und kultureller Verwaisung überließ, verwandelte sie sich in eine „gemäßigt soziale, gemäßigt linksliberale, gemäßigt kosmopolitische Partei der gemäßigt halblinken Mitte der deutschen Gesellschaft“.75 Die Milieuvernachlässigung wird auch an der inneren Flügelverkümmerung der Volksparteien deutlich. Während deren Flügelbildung zentral ist, um „einen großen Spannungsbogen von Interessen integrieren zu können“,76 wurde der gewerkschaftsverbundene Arbeitnehmerflügel in der SPD seit Ende der 1990er marginalisiert. Unter dem SPD-Vorsitzenden Schröder sind dessen Wortführer Drexler und Schreiner aus dem inneren Machtzirkel der Partei ausgebootet worden. Und die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) verkümmerte zur innerparteilich nicht mehr ernst genommenen Querulantentruppe. Ähnlich ist es den traditionellen Flügeln in der CDU ergangen,77 die, wie etwa die Sozialausschüsse als sozialkatholischer Arbeitsnehmerflügel, ins Abseits gedrängt wurden. Ein seiner ehemaligen Bedeutung beraubter konservativer Flügel fristet in der CDU ebenfalls ein Schattendasein. Dabei ist die Loslösung der CDU aus ihrem konservativen Milieuzusammenhang die Folge eines Modernisierungskurses, den Angela Merkel der Partei mit der Übernahme des Parteivorsitzes 2000 verordnete. Zuvor verfocht die Partei bis in die achtziger Jahre hinein eine militante antikommunistische Bollwerksidee, hinter der sich die verschiedenen konservativen Gruppierungen des bürgerlichen Lagers versammeln konnten. Gesellschaftspolitisch stand die Partei für eine konservative ___________ 73
Oliver Nachtwey (2008), S. 67, In der Mitte gähnt der Abgrund. Die Krise der SPD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8, S. 58–68. 74 Franz Walter (2009), S. 94, Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte vom Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld. 75 Franz Walter (2009), S. 96, Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte vom Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld. 76 Tilman Mayer (2009), S. 19, Von der Mitte her denken. Das bürgerliche Lager und das Potential der Volksparteien, in: Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft?, Freiburg im Breisgau, S. 12–25. 77 Elmar Wiesendahl (2008), S. 224 ff., Sehnsucht nach der bürgerlichen Mehrheit. Die Union unter Merkel im Wahljahr 2009, in: Matthias Machnig/Joachim Raschke (Hrsg.), Wohin steuert Deutschland. Bundestagswahl 2009? Ein Blick hinter die Kulissen, Hamburg, S. 217–228.
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Wertekultur, die sich vor allem in ihrem Frauenbild und ihren patriarchalischen Familienvorstellungen niederschlug. Auch der Nationalkonservatismus fand mit den Vertriebenen und den „Stahlhelmern“ um Alfred Dregger in der Union eine Heimstatt. Mit diesem schillernden konservativen Profil stützte sich die CDU/ CSU als Partei der Provinz traditionell auf die ländlich-konservative, kleinstädtisch-dörfliche Wählerschaft ab, die vor allen Dingen in ihrem Kulturkonservatismus eine Gesinnungsgemeinschaft mit der Union bildete. Gegenüber diesen Milieus vollzog Merkel einen harten Schnitt, um durch einen Programm- und Politikwechsel die Attraktivität der CDU gegenüber chronisch defizitären Wählergruppen wie Jungwählern, qualifizierten städtischen Bildungseliten des Dienstleistungsbereichs und vor allen Dingen gut ausgebildeten berufstätigen Frauen zu steigern. Der Erfolg des kulturellen Modernisierungskurses der CDU wird aber durch den strategischen Irrtum gebremst zu glauben, dass konträre Wertepositionen zur Rolle der Frau und Familie, zur Abtreibung, Krippe und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften durch Sowohl-alsauch-Positionen versöhnlich überbrückt werden könnten. Das Ergebnis ist fehlende Standfestigkeit und programmatische Beliebigkeit der CDU, die von ihren konservativen Anhängern nicht goutiert werden. Entsprechend meinen die Wähler nach einer Umfrage vom September 201078 nur zu 15 %, die CDU sei richtig aufgestellt. Dagegen halten 37 % die politischen Positionen der CDU für zu konservativ, während umgekehrt 32 % meinen, sie sei zu wenig konservativ. Volksparteien haben sich durch Modernisierung von ihren Stammmilieus losgelöst. Sie üben in ihrem Integrationsanspruch nicht mehr den Spagat, sondern verlagern sich einseitig auf Aufsteiger und Trägergruppen der Moderne. Sie gaben die Sicherheit der Stammwählerverankerung preis, um sich dadurch das unsichere Wohlwollen fluider wählerischer Wechselwähler einzuhandeln.
IX. Der Bruch des sozialen Friedens Volksparteien erleben eine Krise in der Krise. Kurz nach dem Millenniumswechsel setzte ein beschleunigter Absturz in der Wählergunst ein, dessen vorläufiger Tiefpunkt Ende 2009 erreicht wurde. Hierfür bedarf es einer gesonderten Erklärung. Die Epoche der Volksparteien war eine Epoche des Sozialen. Sie sind gruppen- und interessenübergreifende Integrationsparteien, die zwischen den verschiedenen, von ihnen vertretenden Gruppen der Gesellschaft nach den Vorstel___________ 78 Infratest-Dimap (2010), Umfrage im Auftrag des ARD-Morgenmagazins vom 18.09.2010.
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lungen sozialer Gerechtigkeit einen Ausgleich organisieren, um Interessengegensätze zu versöhnen. Die Volkspartei ist, wie der ehemalige CDUMinisterpräsident Jürgen Rüttgers79 betont, eine Partei, die alle Schichten des Volkes vertritt. Sie ist für das Allgemeinwohl dar. Sie muss darauf zielen, alle Menschen mitzunehmen und niemanden zurück zu lassen“. Und das heiße für Volksparteien, „überzeugende Antworten zu finden, wie die Einheit der Gesellschaft in Zukunft gewahrt werden kann“, was darauf hinauslaufe, die „Gesellschaft zusammenhalten“ zu können.80 Nichts wirkt sich deshalb auf die Glaubwürdigkeit ihres sozialen Einbindungs- und Ausgleichsanspruchs schädlicher aus, als wenn sie verstärkter sozialer Ungleichheit nicht entgegentreten oder sie sogar durch ihre Politik fördern. Sie leisteten damit einen aktiven Beitrag zur Entsolidarisierung und Spaltung der Gesellschaft. Die Stunde der Bewährung trat für sie ein, als das Wohlstands- und Sicherheitsmodell für alle im Laufe der 1980er auseinander brach und wachsende soziale Ungleichheit zurückkehrte. Die Fahrstuhlgesellschaft, die für alle mit bleibendem Abstand nach oben führte, hat ein Ende gefunden. Für diejenigen in den obersten Etagen der Gesellschaft führt der Fahrstuhl seitdem weiter steil nach oben, während in den mittleren Stockwerken der Fahrstuhl, den Aufstieg blockierend, stehen geblieben ist. Unten wurde der Fahrstuhl sogar umprogrammiert und fährt seitdem nur noch in Fahrtrichtung nach unten. Insgesamt hat sich die befriedete nivellierte Mittelstandsgesellschaft drastisch auseinander entwickelt.81 Mit der wachsenden sozialen Spaltung der Gesellschaft schälen sich nach Vogel82 drei Schichten heraus, die von den abgekoppelten Oberschichten angeführt werden. Sie sind bei ihrer Einkommens- und Vermögenslage auf den Sozialstaat nicht mehr angewiesen und besorgen sich dessen Leistungen einschließlich der Bildung auf privatem Wege. Die Zwischenlage zwischen oben und unten wird von einer Arbeitnehmer-Mitte eingenommen, die sich in gesicherte Statusgruppen und in solche mit prekären Einkommens- und Wohlstandsverhältnissen aufspaltet. Und unten befindet sich eine neue Unterschicht von befristet und unvollständig Beschäftigten, Niedriglöhnern und Dauerarbeitslosen. ___________ 79
Jürgen Rüttgers (2009), S. 41, Lehren aus einer historischen Wahl. Die Union ist die einzige Volkspartei, in: Die politische Meinung, 54. J., Nr. 481, S. 39–44. 80 Jürgen Rüttgers (2009), S. 43, Lehren aus einer historischen Wahl. Die Union ist die einzige Volkspartei, in: Die politische Meinung, 54. J., Nr. 481, S. 39–44. 81 Hans-Ulrich Wehler (2008), S. 123 f., Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949– 1990, München. Ulrike Herrmann (2010), S. 33, Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht, Frankfurt a. M. 82 Vogel (2006), S. 354.
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Neu ist das wachsende abgesonderte Unterschichtensegment, das rund ein Drittel der Bundesbürger umfasst.83 Für die Organisation gesellschaftlichen Zusammenhalts ist relevant, dass es sich um eine wachsende Schicht von materiell und kulturell Ausgegrenzten und Überflüssigen handelt, die nach dem Prinzip der „Exklusion“84 für die wissensbasierte globalisierte Produktionsweise der postindustriellen Gesellschaft nicht mehr gebraucht werden. In den unteren sozialen Schichten macht sich „Statusfatalismus“85 breit und das Gefühl des Abgehängtseins. Das Abstiegserleben ist insbesondere für die ostdeutsche Bevölkerung virulent. So leitete der Niedergang der ostdeutschen Industrie in den 1990ern für 77 % der erwerbstätigen Bevölkerung einen sozialen Abstieg ein. Diese sammelten sich in einer fast ein Drittel der Bevölkerung umfassenden Unterschicht, welche nicht wieder erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden konnte.86 Mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und mit Arbeitslosigkeit haben Ostdeutsche doppelt so häufig zu kämpfen wie Westdeutsche.87 Ein für den Rückhalt der Volksparteien in der Wählerschaft besonders bedrohlicher Aspekt ist, dass gegenüber den unteren Etagen der Mittelschichten die „Destabilisierung der Lebenslagen“ und die „Prekarisierung“ der Lebensverhältnisse88 nicht halt macht. Wenn auch nicht generell von einer objektiven Verschlechterung der Lage der Mittelschichten zu sprechen ist, lässt sich bei den Angehörigen der unteren Mittelschicht (einfache Techniker, Facharbeiter) bereits seit Mitte der 1980er ein ausgeprägtes Unsicherheitsempfinden feststellen.89 Die Abstiegs- und Prekarisierungstendenzen der unteren Schichten sind ___________ 83 Ulrike Herrmann (2010), S. 121, Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht, Frankfurt a. M. Thorsten Kalina/Claudia Weinkopf (2008), Konzentriert sich die steigende Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland auf atypisch Beschäftigte?, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung 4, S. 447–469. 84 Heinz Bude/Andreas Willisch (Hrsg.), S. 8, Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg, S. 7–23. 85 Renate Köcher (2009), Der Statusfatalismus der Unterschicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2009, S. 5. 86 Michael Hofmann (2009), S. 43 f., Schwache Mitte, beharrliches Establishment. Der Wandel der Sozialstruktur in Ostdeutschland in den letzten fünfzig Jahren, in: Vorgänge, Heft 3, S. 37–44. 87 Michael Hofmann (2010), S. 49., Systembruch und Milieu. Zur Geschichte und Struktur sozialer Strukturen in Ostdeutschland, in: Politische Bildung, Heft 2, S. 38–50. 88 Michael Vester u. a. (2001), S. 81 ff., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. 2. vollst. überarb. erweit. u. aktual. Aufl., Frankfurt a. M. 89 Holger Lengfeld/Jochen Hirschle (2009), S. 394, Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. Eine Längsschnittanalyse 1984–2007, in: Zeitschrift für Soziologie, 38, Heft 5, S. 389–398.
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mittlerweile im Sinne eines „Spill Over“-Effektes bewusstseinsmäßig bis in den Kernbereich der Mittelschichten vorgedrungen, so dass mit wachsender Sorge die eigene Lage als bedrohlich interpretiert wird (S. 387). In die Hauptwählerschichten der Volksparteien haben sich nach 2000 im breiten Ausmaß Unsicherheitsgefühle und Abstiegsängste hineingefressen.90 Den Ausgangspunkt dieser Verunsicherung bildete die Blockade des weiteren Aufstiegs für die mittleren Mittelschichten und ihren Nachwuchs. Für Vogel91 „(schlägt) die stete Erwartung des Mehr … um in die Angst vor dem Weniger. Das soziale Klima prägt die Erfahrung, dass es nicht mehr viel zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren gibt“. So ist die reale Krise der Aufstiegs-, Konsens- und sozialen Sicherheitsgesellschaft seit den 1990ern tief in das Bewusstsein der Bevölkerung eingedrungen92 und weckt düstere Erwartungen über die weitere Entwicklung. Hierdurch wird das Gerechtigkeitsempfinden berührt, mit dem nach 2000 die gesellschaftlichen Spaltungsverhältnisse wahrgenommen und bewertet werden. So sind sich 201093 zwei Drittel der Bevölkerung einig, dass sich seit 1990 die soziale Gerechtigkeit verschlechtert habe. Mit dem Antritt von Rot-Grün ist bezeichnenderweise ein eklatanter Anstieg des Ungerechtigkeitsempfindens in der Bevölkerung verbunden. Was die Einschätzung der Entwicklung sozialer Gerechtigkeit in Deutschland insgesamt angeht, stellt 2005 hinwiederum ein Schlüsseljahr für eine dramatische Wende dar, weil sich nur noch 19 % der Bundesbürger hinter die Aussage „ist gleich geblieben“ stellen, während zwischen 2005 und 2008 rund drei Viertel glauben, dass die soziale Gerechtigkeit in den letzten drei, vier Jahren abgenommen habe. 2001 lag dieser Wert bei 46 %.94 Die Kritik fokussiert sich vor allem auf die Wohlstands- und Einkommensverteilung, die von drei Vierteln der Bundesbürger als zu groß und ungerecht ___________ 90 M. M. Grabka/J. R. Frick (2008), S. 106 f., Schrumpfende Mittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der Einkommen?, in: DIW-Wochenbericht, 75, 10, Anke S. Hassel/ Christof Schiller (2010),Sozialpolitik im Finanzförderalismus – Hartz IV als Antwort auf die Krise der Kommunalfinanzen, in: PVS, 51. Jg., Heft 1, S. 95– 117. 91 Berthold Vogel (2006), S. 353 f., Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand. Für ein verändertes Vokabular sozialer Ungleichheit, in: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hrsg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg, S. 342–355. 92 Böhnke 2006, S. 113. 93 Infratest-Dimap (2010), Umfrage im Auftrag des ARD-Morgenmagazins vom 18.09.2010. 94 Wolfgang Glatzer (2009), S. 19, Gefühlte (Un)Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 47, S. 15–20.
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eingeschätzt wird.95 Die Kritik am Zustand der Gesellschaft setzt aber auch noch tiefer an, zumal nach einer Erhebung von 200696 71 % der Befragten bekunden, dass die Gesellschaft immer weiter auseinander drifte. Und weitere 61 % vermögen keine gesellschaftliche Mitte mehr zu erkennen, sondern nur noch ein oben und unten. Für die Volksparteien ist diese Stimmungslage äußerst brisant, weil die Bundesbürger nach Befunden des ARD-Deutschlandtrends von August 2007 zu 78 % der Regierung abstreiten, dafür gesorgt zu haben, dass es ihnen besser gehe. Und die Hoffnung auf Besserung der Lage ist dermaßen eingetrübt, dass nach dem ARD-Deutschlandtrend vom Juli 2010 90 % der Bundesbürger glauben, der Wirtschaftsaufschwung würde an ihnen vorbeigehen. Wie die demoskopischen Befunde anzeigen, wird die wachsende sozialökonomische Spaltung und das Auseinanderdriften der Bundesrepublik als Besorgnis erregend wahrgenommen und als eklatanter Verstoß gegen die tief sitzenden Gerechtigkeitsvorstellungen empfunden. Hierin ist der Ausgangspunkt für die Rückkehr der sozialen Frage als Gerechtigkeitskonflikt zu sehen,97 der die Auseinandersetzung um den Erhalt des Sozialstaats und einer solidarischen Gesellschaftsordnung in das Zentrum der heutigen Konfliktstruktur rückt. Die Scheidelinie des Sozialstaatskonflikts wird durch die Pole Marktliberalismus einerseits und soziale Gerechtigkeit andererseits bestimmt. Entlang dieser Scheidelinie spaltet sich die Bevölkerung in zwei Lager auf. Die Lagerbildung setzt bereits bei der Einschätzung der sozialen Lage in Deutschland selbst ein; während im Jahre 2008 82 % aller Deutschen ein zu großes soziales Ungleichgewicht wahrzunehmen glauben, haben 62 % der wirtschaftlichen Führungskräfte den gegenteiligen Eindruck.98 Die breite Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich zu drei Vierteln die Gesellschaft nach den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und Solidarität organisiert, wofür der Sozialstaat unentbehrlich gehalten wird. Dagegen zieht das restliche Viertel Freiheit vor und einen schwachen Sozialstaat.99 Der solidarische Mehrheitskonsens verdeutlicht sich darin, dass neben der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität auch Werte wie „Freiheit von sozialer Not“ (78 %) und sogar ___________ 95 Wolfgang Glatzer (2009), S. 18 f., Gefühlte (Un)Gerechtigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 47, S. 15–20 96 Gero Neugebauer (2007), S. 28, Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 97 Elmar Wiesendahl (2004), S. 11, Parteien und die Politik der Zumutungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Band 40. 98 Renate Köcher (Hrsg.) (2009), S. 123, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 2003–2009, Band 12, Berlin/New York. 99 Gero Neugebauer (2007), S. 48 ff., Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
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„Gleichheit der Lebensverhältnisse“ zu 51 % von der Bevölkerung für sehr wichtig und wichtig gehalten werden. Außerhalb des Konsenses steht eine Minderheit, für die das „freie Spiel der Marktkräfte“ (36 %) und das „Gewinnstreben“ (23 %) eine hohe Wertigkeit besitzt. Die Gesamtwählerschaft präferiert mit Zwei-Drittel-Mehrheit ein gerechtes Sozialstaats- und Gesellschaftsmodell, bei dem der Staat weiterhin verantwortlicher Garant für soziale Sicherheit bleibt und allen Ideen zur Privatisierung öffentlicher Leistungen eine Absage erteilt wird. Gleich großer Widerstand richtet sich gegen die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Umgekehrt stimmen Bürgerinnen und Bürger im gleichen Ausmaß der stärkeren Besteuerung von höheren Einkommen und Vermögen zu und verlangen, die Reichen stärker in der sozialen Lastenteilung zu beteiligen.100 Anstatt den die Bevölkerung tief beunruhigen Sozialstaatskonflikt mit allem Nachdruck aufzugreifen und zum Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzung um gerechte Lösungen zu machen, folgten die Volksparteien einer anderen Logik. Sie leiteten, beginnend mit Rot-Grün, einen neoliberalen Paradigmenwechsel ein, mit dem von politischer Seite aus der alte Sozialstaatskonsens und damit der soziale Friede aufgekündigt und eine „grundlegende Rekonstruierung des Bismarck’schen Wohlfahrtstaats“101 eingeleitet wurde. Die Folgen dieser sozial- und arbeitsmarktpolitischen Wende bekam einseitig die breite Mehrheit der unselbständig Beschäftigten und die Arbeitslosen zu spüren. Sie hatten die Loslösung der Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung des Sozialstaats, Renten- und Gesundheitsleistungskürzungen, die Einschränkung von Kündigungsschutzrechten, die Überführung von Arbeitslosen in die Sozialhilfe und die Einrichtung eines Niedriglohnsektors hinzunehmen. Die letzte größere Zumutung bildete 2007 die Rente mit 67. Im Grunde genommen schreiben die Volksparteien mit ihrer neoliberalen Wende, die in der Agendapolitik von Schröder 2003 und dem Leipziger Parteitag der CDU im Herbst des gleichen Jahres ihren sichtbarsten Ausdruck findet, den alten sozialen Schutz-und-Trutz-Vertrag mit der Bevölkerung um und entkleiden ihn der überkommenen Solidaritätsverpflichtung des Staates gegenüber den Schwachen und Gestrauchelten. Jetzt wird die Existenz von sozialer Ungleichheit als marktnotwendig in Kauf genommen und den aus dem Markt Ausgegliederten soweit nur Hilfe und Unterstützung gewährt, wie sie sich durch individuelle Anstrengungen und Anspruchsrücknahme wieder in den Arbeitsmarkt ___________ 100 Armin Schäfer (2007), S. 661 f., Die Reform des Sozialstaats und das deutsche Parteiensystem: Abschied von den Volksparteien?, in: ZParl, Heft 3, S. 648–666. 101 Anke S. Hassel/Christof Schiller (2010), S. 96, Sozialpolitik im Finanzförderalismus – Hartz IV als Antwort auf die Krise der Kommunalfinanzen, in: PVS, 51. Jg., Heft 1, S. 95–117.
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eingliedern.102 Die neue Lehre gewinnt der Grundidee der Verteilungsgerechtigkeit und sozialen Gleichheit nichts mehr ab und belässt es bei der Förderung von Chancengleichheit, damit die Individuen eigenverantwortlich und eigeninitiativ das Beste daraus machen. Für einen Gipfel der Entrüstung in der Wählerschaft musste die Agendapolitik von Kanzler Schröder deshalb sorgen, weil damit gerade die SPD als die Partei der sozialen Gerechtigkeit und des Aufstiegs ihrer eigenen Kernwählerschaft die Auflösung des materiellen Status und von erworbenen Sicherheiten auftischte und sie damit gewollt dem Schicksal des sozialen Abstiegs und der Verarmung preisgab. Dass die SPD mit ihrer Politik Arbeitslose in einen Niedriglohnsektor zwang und die Entstehung von prekären Beschäftigungsverhältnissen in Form von Leiharbeit und befristeten Jobs förderte, muss für vergleichbare Empörung gesorgt haben. Als Folge der gegen die eigene Wählerklientel gerichteten Reformen ist der Markenkern der SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit demontiert, und das einstmals enge Vertrauensverhältnis zur Arbeitnehmerschaft und ihren gewerkschaftlichen Interessenvertretungen schwer erschüttert. So ist nach Befunden des ARD-Deutschlandtrends die Zustimmung der Bundesbürger, dass die SPD für soziale Gerechtigkeit sorge, zwischen September 1998 und Juli 2009 von 54 auf 31 % abgesackt. Doch die Union ist vor den Folgen des fehlgeleiteten Sozialstaatskonflikts nicht gefeit, zumal sich ihre Wählerschaft in zwei fast gleich starke Lager von Anhängern des Sozialstaats und Anhängern der leistungsbezogenen Marktwirtschaft aufspaltet.103 Für die Generalkritik an den Volksparteien spricht, dass nach Allensbachbefunden von 2009 85 % der Bevölkerung der Politik unterstellen, die soziale Ungleichheit zu verstärken.104 Volksparteien als Träger dieser Politik sind damit in den Augen der Wähler zu Verursachern und Verantwortlichen der wachsenden Spaltung und Entsolidarisierung der Gesellschaft zwischen Oben und Unten geworden. Dies trifft gerade die SPD ins Mark ihrer Parteiidentität und des Wählerrückhalts, weil der Regierungsflügel der Partei in Zeiten materielle Schlechterstellung und sozialer Verunsicherung ihrer Anhängerschaft sich nicht schützend vor sie stellt, sondern dem Primat der entfesselten globalen Ökonomie und indi___________ 102
Silke van Dyk/Stephan Lessenich (2008), S. 30 f., Unsichere Zeiten. Die paradoxe „Wiederkehr“ der Unsicherheit, in: Mittelweg 36, 5. Jg., Okt./Nov., S. 13–45. 103 Ralf Thomas Baus (2009), S. 171 f., Bündnis 90/Die Grünen im Fünfparteiensystem, in: Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft?, Freiburg im Breisgau, S. 162–189. 104 Renate Köcher (Hrsg.) (2009), S. 125, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 2003–2009, Band 12, Berlin/New York.
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viduellen Selbstverantwortung preisgibt. Dabei ruft gerade die ihr nahe stehende bedrohte Arbeitnehmermitte, die sich den Abstiegsrisiken schutzlos ausgeliefert sieht,105 nach dem starken sorgenden Staat, der ihr von der SPD nicht gewährt wird. Franz Walter106 sieht die SPD sogar als „Interessenformation der Neo-Arrivierten“ deformiert, die sich dafür hergeben würde, „Ansprüche von ‚unten‘ entschlossen abzuwehren“. Jedenfalls hat die SPD mit ihrer neoliberalen Neue-Mitte-Hinwendung größere Teile ihrer alten Wählerschaft aus ihrem Interessenvertretungsspektrum exkludiert, so dass in dieses geräumte Vertretungsvakuum die 2007 zur „Die Linke“ vereinigten PDS und WASG erfolgreich eindringen konnten. Damit finden die von der SPD abgewanderten Arbeiter und kleinen Leute in der Linken ein neues Interessenrepräsentationsorgan, dass der SPD wirksam Konkurrenz macht. Nach dem verwirkten Interessenvertretungsanspruch wird es der elektoral geschrumpften SPD nicht mehr möglich sein, den von ihr selbst herbeigeführten Entfremdungs- und Abspaltungsprozess eines Teils ihrer ehemaligen Stammwähler wieder rückgängig zu machen. Diese Linksdrift von Wählern aus den Stammmilieus der SPD zur Linken ist Folge einer Rechtsverschiebung der Volksparteien auf der Sozialstaats-versusMarktwirtschafts-Achse hin zum Pol Marktliberalismus, der sowohl von SPD als auch CDU/CSU unternommen wurde. Insofern fehlte für die von der SPD abgewanderten Wähler, die temporär bei der Union andockten, ein Ventil, um ihr Realignment innerhalb des Volksparteien-Duopols vollziehen zu können. Infolgedessen konnte die Linke von der sozialstaatlichen Repräsentationskrise des Volksparteiensystems nach 2003 erfolgreich profitieren. Die Abwanderungspotenziale unter der Wählerschaft lokalisieren sich aber, wie es den Anschein haben könnte, nicht nur nach links. Denn die enttäuschten sozialen Schutzerwartungen gerade bei den im unteren Drittel der Sozialhierarchie angesiedelten „autoritätsorientierten Geringqualifizierten“ und dem „abgehängten Prekariat“, wie sie in der FES-Studie genannt werden,107 mischen sich mit autoritär-ethnozentrischen Reflexen, die für rechtspopulistische und rechtsextremistische Protestparteien ansprechbar sind. Auch die von Michael Vester und seiner Forschergruppe108 entwickelte Milieukartographie der deutschen Wählerlandschaft weist ein 20 % starkes Lager von Enttäuscht-Autoritären aus. ___________ 105 Rita Müller-Hilmer (2006), S. 62 ff., Gesellschaft im Reformprozess, Manuskript Friedrich-Ebert-Stiftung (Berlin), Juli 2006. 106 Franz Walter (2008), S. 110 f., Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbildung, Frankfurt a. M. 107 Gero Neugebauer (2007), S. 81 ff., Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 108 Vester (2006), S. 286.
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Es bildet, weil es die Politik nicht wie erwünscht als protektionistische Schutzmacht erlebt, ein Protestpotential, das, soweit es nicht das Nichtwählerlager stärkt, den Volksparteien nach rechts hin von der Stange gehen könnte. Der Wählerrückhalt der Volksparteien ist nach dem Bruch des sozialen Friedens geschrumpft, weil sie nach 2000 mit ihrem neoliberalen Paradigmenwechsel eine Repräsentationskrise des etablierten Parteiensystems auslösten. Sie haben sich in ihrer Repräsentationsspanne auf eine von einer kleinen Minderheit geteilte Richtung verengt und die breite Mehrheit der Bevölkerung vor den Kopf gestoßen. Sie stehen am Pranger, der ökonomisch bedingten sozialen Spaltung der Gesellschaft politisch nichts entgegengesetzt, sondern sie durch ihre Politik sogar noch vertieft zu haben. Sie begnügen sich damit, auf der Ebene des Parteienwettbewerbs die Interessen der oberen beiden Drittel der Bevölkerung abzubilden, während das untere Drittel durch den Rost fällt. Sozialen Zusammenhalt zu organisieren, wurde von den Volksparteien aufgegeben.
X. Vertrauenskrise der Volksparteien Mit zur Erklärung der Volksparteienkrise trägt schließlich bei, dass sie notwendiges Vertrauenskapital bei der Wählerschaft verwirtschaftet haben. Den Eckpfeiler einer intakten, vertrauensvollen repräsentationsdemokratischen Beziehung zwischen Volksparteien und Wählerschaft liefert die Vertrauenswürdigkeit der Parteien. Sie fußt auf Verlass und Glaubwürdigkeit. Das heißt wird im Verhältnis zwischen Wählern und Parteien eine Prinzipal-Agent-Beziehung gesehen, binden sich Wähler an Parteien und geben ihnen deshalb ihre Stimme, weil sie daran glauben, dass sich die Partei ihrer Wahl anwaltlich ihrer Interessen und Anliegen annimmt und nach der Wahl konsequent dafür eintritt und sie durchzusetzen versucht. Hierzu gehört überdies, verlässlich zu dem zu stehen, was man vor der Wahl versprochen hat und den Wählern kund zu tun, welche Absichten und Pläne man im Falle der Regierungsübernahme verfolgt. Zu seinem Wort stehen, begründet Glaubwürdigkeit, und an der politischen Umsetzungspraxis bemisst sich, ob die Glaubwürdigkeit im Praxistest Bestand hat und die Vertrauenswürdigkeit unter Beweis gestellt wurde. Repräsentationsdemokratische Parteienherrschaft verlangt den Wählern sogar einen Vertrauensvorschuss ab, zumal erst in längeren Abständen vom Wahltag die Volksparteien mit ihrem politischen Handeln umsetzen können, was Vertrauenssache der Prinzipal-Agent-Beziehung ist. Die Krise des Vertrauens zu den Parteien drückt sich mittlerweile darin aus, das der Vertrauenskredit der Wähler nur so weit reicht, wie sie mit dem Regieren beginnen. Gerade jetzt leiden die Volksparteien unter nicht mehr tragfähiger Vertrauenswürdigkeit, wo sie nicht mehr Wohltaten zu erteilen haben, sondern
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zur Bewältigung von Krisenentwicklungen unpopuläre Entscheidungen zu treffen haben, die für die Wähler Zumutungen und Belastungen bringen.109 Der Entzug von Vertrauen für die Parteien setzt in den frühen 1980ern ein.
Abb. 5: Vertrauen in Parteien 60
Vertrauenswerte in Prozent
50
40
30
20
10
0 2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1993
1990
1988
1986
1984
1983
1982
1981
1979
Jahr Que lle : Emnid (bis 1997), Eurobarometer
Abbildung 5: Krise des Vertrauens
Nach Emnid-Erhebungsdaten110 spricht 1983 noch jeder zweite Westdeutsche den Parteien sein Vertrauen aus, danach unterliegen die Vertrauenswerte bis 1990 einer Talfahrt auf 37 %. Danach bricht, nicht zuletzt durch gehäufte Polit-Skandale, eine brachiale Welle der Unzufriedenheit und Parteiverdrossenheit über die Volksparteien ein, die schon 1991 das Vertrauen auf 21 % abstützen lässt. Doch das Vertrauenselend zog sich weiter dahin und führte 1997 zum Unterschreiten der 20-Prozent-Marge. Eurobarometer-Zahlen belegen ein weiteres Dümpeln der Vertrauenswerte um 17/18 %, wobei die Jahre 2003 bis 2004 mit einem Tiefstwert von 11 % herausstechen. Danach setzt im Geleitszug mit ___________ 109 Elmar Wiesendahl (2004), S. 21 f., Parteien und die Politik der Zumutungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Band 40, S. 19–28. 110 Siehe Abbildung 5.
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den anderen europäischen Ländern eine Klimaverbesserung ein, so dass die Vertrauenswerte 2009 überraschend wieder auf 24 % ansteigen. Nach Allensbach-Daten vom Dezember 2008 bringen die Deutschen den Parteien indessen mit 15 % erkennbar weniger sehr viel beziehungsweise ziemlich viel Vertrauen entgegen. Der Wert sackt bis zum Mai 2009 sogar noch weiter ab und liegt bei 12 %.111 Die Daten, hinter denen eine Wand von Misstrauen steht, sprechen für eine schwere Beziehungskrise. Sie reicht deshalb so tief, weil Parteien bei allen Vertrauenserhebungen im Vergleich zu anderen Einrichtungen und öffentlichen Institutionen das abgeschlagene Schlusslicht bilden. Für die Krisenentwicklung der Volksparteien haben die Vertrauensdaten eine gewisse Erklärungskraft, weil der Vertrauensschwund beginnt, als auch im Wähler-, Wahlbeteiligungs- und Mitgliederbereich für die Großparteien ein Schwundprozess einsetzte. Nur steht der Vertrauensverlust selbst in einem Erklärungszusammenhang, der über die bislang vorstellten Erklärungshintergründe hinausweist. Es geht im Kern nicht allein um ein Parteien-WählerBeziehungsproblem, sondern darüber hinaus um ein Glaubwürdigkeits- und Vertrauenswürdigkeitsproblem der Berufspolitiker, die aus den Volksparteien hervorgehen und auf der Parlaments- und Regierungsebene und im Medienbereich den Politikbetrieb dominieren. Sie haben sich ganz dem eingefahrenen politischen Geschäft mit seinen Arenen, seinen Zwängen, seinen Handlungslogiken und Routinen verschrieben. Diese Parlaments- und Regierungsflügel der Parteien, die „parties in public office“, machen in selbstreferenter, hermetischer Form Politiker-Politik, die sich von der Lebens- und Alltagswelt der Wählerschaft mit ihren Problemen weitgehend losgelöst hat. Probleme arbeiten sie allein ab in enger Abstimmung mit organisierten Interessen. Die breite Wählerschaft nimmt dieser politischen Klasse nicht mehr die Fähigkeit und den Willen ab, sich mit Empathie, mit Einfühlungsvermögen und emotionaler Kompetenz in die alltagsweltlichen Empfindungen, Sorgen Ängste und Nöte der Menschen hinein zu versetzen. Ihnen wird einfach nicht mehr geglaubt, was gerade unter den Ostdeutschen dramatische Auswüchse angenommen hat.112 Das Vertrauensverhältnis zu den Berufspolitikern ist mittlerweile dermaßen erodiert, dass ihnen ein Klima des Misstrauens aus der Wählerschaft ___________ 111 Renate Köcher (Hrsg.) (2009), S. 120, 108, Der Statusfatalismus der Unterschicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2009. 112 Gunnar Winkler (2009), S. 42 f., 20 Jahre friedliche Revolution 1989 bis 2009. Die Sicht der Bürger der neuen Bundesländer. Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg o. O. (Manuskript). Gunnar Winkler (2009), Zwanzig Jahre friedliche Revolution. Wende und Wandel in der Wahrnehmung der Ostdeutschen, in: Vorgänge, Heft 3, S. 45–55.
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in Gestalt von Reserve, Argwohn, Missgunst, Respektlosigkeit, gar Verachtung entgegenschlägt.113 Mit dem Reputations- und Autoritätsverfall der politischen Klasse ist die Ein- und Rückbildung der Parteipolitik an die Wählerschaft infrage gestellt, was weit über die Krise der Volksparteien hinausweist. Zugleich wirkt er sich auf ein wachsendes Orientierungsvakuum der Bevölkerung aus, das in Zukunftspessimismus mündet. Dies hat seinen Grund, weil die gesellschaftliche und politische Perspektivlosigkeit des Volksparteienbetriebs keinen Halt gibt. Wenn man die im Einzelnen vorstellten Erklärungsansätze zum Niedergang der Volksparteien in der Gesamtschau zusammenfasst, erklärt sich die Krise aus einem Zusammenspiel von zeitlich und kausal miteinander verbundenen und sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren. Am Anfang und über allem steht die Ökonomie, die mit dem Wirtschaftswunder CDU/CSU und SPD die Voraussetzung schuf, damit diese sich mit einer Politik der Mehrung von Wohlfahrt und sozialer Sicherheit schichtenübergreifend in der Wählerschaft verankern konnten. Ihrer kostspieligen Politik sozialer Wohltaten wurde mit dem ökonomischen Epochenwechsel nach 1973 die Grundlage entzogen. Seit den 1990ern drangen in den Regierungsflügeln der Volksparteien Gedanken vor, die einen neoliberalen Paradigmenwechsel in ihrer Sozialstaats-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik einleiteten. Mit Rot-Grün unter Kanzler Schröder drang dieser Kurswechsel unter dem Motto „Selbstverantwortung stärken“ in die Regierungspolitik ein und lieferte der Agendapolitik von 2003 das Drehbuch. Im Sommer und Herbst 2003 sprang die CDU unter Merkel als Antreiberin auf diesen Zug auf und setzte sich mit ihrem Bundestagswahlprogramm von 2005 an die Spitze. Einverständnis der neoliberal konvergierenden Volksparteien bestand darin, den Wirtschaftsstandort Deutschland im globalen Wettbewerb von steuerlichen, sozialpolitischen und arbeitsmarktrechtlichen Hürden zu befreien, um ihn für Investitionen des internationalen Investmentkapitals attraktiver zu machen. Wachsende soziale Ungleichheit zwischen Oben und Unten wurden als notwendige Randbedingung der Hinwendung zu den Marktkräften hingenommen. Die umfassenden Vorsorge- und Schutzverpflichtungen des Sozialstaats vor dem ökonomischen Absturz wurden in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zurückgefahren und Arbeitslosen nach dem Motto „Fordern und Fördern“ die Eigenverantwortung zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt übertragen. Ein Niedriglohnsektor sollte den Abbau der hohen Arbeitslosigkeit zulasten der Betroffenen erzwingen. ___________ 113 Elmar Wiesendahl (2004), S. 80, Parteien und die Politik der Zumutungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Band 40, S. 19–28.
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Wie aufgezeigt wurde, steht dieser Paradigmenwechsel im krassen Gegensatz zu den sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen- und Sicherheitserwartungen der Bevölkerung, so dass der Bruch des sozialen Friedens das Volksparteiensystem nach 2000 in eine gravierende Interessenrepräsentationskrise hineinmanövrierte. Auch der Gesellschaftswandel setzt den Volksparteien auf eine Weise zu, dass Tertiarisierung und Säkularisierung eine Erosion ihrer Stammwählermilieus herbeiführten. Doch greifen Milieuerosion und Milieuvernachlässigung als Erklärungsfaktoren wechselseitig ineinander. Schließlich ist für die Beziehungskrise zwischen Volksparteien und Wählerschaft noch die Misstrauenskultur von Gewicht, die von ihren Wurzeln mit allen genannten Faktoren verwoben ist. Von der Erklärungslogik her belastet sie aber die aus den Volksparteien hervorgehende politische Klasse mit einer besonderen Verantwortung. Vom Muster des Zusammenspiels der Erklärungsfaktoren greifen exogene Veränderungen der Gesellschaft oder der Umwelt einerseits und endogene Reaktionen beziehungsweise eigeninitiatives Handeln der Volksparteien andererseits interaktiv ineinander. Die daraus resultierende Krise umzukehren, ist wegen der Schwere der Gründe und des komplexen Ursache-Wirkungsgeflechts wohl schier unmöglich.
XI. Welche Zukunft für die Volksparteien? Eines ist gewiss: die Krise der Volksparteien stellt keine temporäre Schwäche dar, sondern ist in ihrer Reichweite als säkulares Niedergangsphänomen zu bewerten. Insofern ist der Einschätzung von Tilman Mayer,114 dass die kritische Lage der Volksparteien nur eine vorübergehende „Baisse“ und keinesfalls ein „buy-out (i. O. kursiv, E. W.) des ganzen Parteityps“ darstelle, zu widersprechen. Sind Volksparteien damit aber mehr als chronisch angeschlagen und sehen ihrem Ende entgegen? Diese Frage stellt sich für die seit den 1990ern prosperierende entwicklungstypologische Party-Change Forschung115 schon längst nicht mehr. Denn für sie bildet die Volkspartei einen Epoche prägenden Parteityp der Nachkriegsdemo___________ 114
Tilman Mayer (2009), S. 12, Von der Mitte her denken. Das bürgerliche Lager und das Potential der Volksparteien, in: Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft?, Freiburg im Breisgau, S. 12–25. 115 Elmar Wiesendahl (2010), Zwei Dekaden Party Change-Forschung. Eine kritische Bilanz, in: David Gehne/Tim Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel der Parteiendemokratie, Wiesbaden, S. 92–118.
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kratie, dessen Zeit bereits in den 1970ern ablief. Allein klärungsbedürftig ist, welcher Nachfolgetyp die Volkspartei abgelöst haben könnte. Die „elektoral professional party“,116 die Kartellpartei,117 die Berufspolitikerpartei118 und die professionalisierte Medienkommunikationspartei119 konkurrieren um den Zuschlag. Der abstrakten Party-Change Debatte mangelt es aber offenbar an belastungsfähiger Empirie, weil die Totgesagten gerade in der Zeit ihres vermeintlichen Verschwindens zu ihrer Hochform aufliefen. Die sich mit der Empirie der Volksparteientwicklung befassenden Parteienforscher liefern aber auch keine günstigere Diagnose. So kommt für Peter Lösche120 „das Zeitalter der Volksparteien … zu seinem Ende, diese sind gesellschaftlich, politisch und historisch überholt“. Der Grund hierfür läge in der Erosion der sozialmoralischen Milieus, „auf denen diese einst basierten“.121 Auch Franz Walter122 fixiert sich auf die Milieuerosion und erblickt in der „Zeit der Volksparteien eine Ausnahmezeit“, die angesichts von 150 Jahre Parteigeschichte „eher eine exklusive Momentaufnahme“ bilden würde. Nur ist wenig tragfähig, warum monokausal vom Verschwinden der Milieus auf das Verschwinden der Volksparteien geschlossen werden sollte. Zweifelsohne unterliegen sie einem massiven Abspeckprozess, sind aber (noch) nicht die Abgehängten der Epoche. Auch wenn sie mit ihrem Catch-allism auf dem Rückzug sind, geht es für sie noch nicht um die volksparteiliche Existenzfrage. Was den Wählerrückhalt angeht, haben die Unionsparteien die Talsohle ihres Niedergangs auf Bundes- und Landesebene noch nicht erreicht, während die SPD mit ihren 23 % bei der Bundestagswahl 2009 unter eine Grenzlinie fiel, die sie tiefer drückt, als ihre gegenwärtigen Wiederaufstiegsmöglichkeiten anzeigen. Mit ihrer elektoralen Schwächung sind die ehemaligen Großparteien auf Mittelmaß geschrumpft und müssen mit den in die Mittelklasse aufgerückten Kleinparteien um die Vorherrschaft im erweiterten Fünfparteiensystem konkurrieren. ___________ 116
Panebianco. Richard S. Katz/Peter Mair (1995), Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics, 1. Jg. Heft 1, S. 5–28. 118 von Beyme. 119 Jun. 120 Peter Lösche (2009), S. 6, Ende der Volksparteien. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 51, S. 6–12. 121 Peter Lösche (2009), S. 12, Ende der Volksparteien. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 51, S. 6–12. 122 Franz Walter (2009), S. 101, Vor dem großen Umbruch: Die SPD, in: Volker Kronenberg/Tilman Meyer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft: Freiburg im Breisgau, S. 101–126. 117
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Noch haben sie dabei die Nase vorn. Denn es ist nicht die Größe ihres Stimmenanteils allein, was Volksparteien von ihren stärker gewordenen Mitbewerbern abgrenzt. CDU, CSU und SPD bleiben so lange Volksparteien, wie ihnen bei Koalitions- und Regierungsbildungen eine Spielmacher- und „Lead“-Funktion zufällt, mit der sie durch Besetzung des Spitzenamtes eine Regierung anführen. Sie verfügen über das Privileg der Organisation von Mehrheiten. Mit dieser volksparteilichen Vormachtstellung wäre es erst vorbei, wenn an ihnen eine Mittelpartei vorbeizöge und die „Lead“-Funktion beanspruchen könnte, oder wenn Mittelparteien zusammen an den Volksparteien vorbei und sie dabei ausschließend eine regierungsfähige Koalitionsmehrheit zu Stande brächten. Durch eine große Koalition nochmals die Vormacht zu retten, wäre dann der Weg versperrt. Noch ist es nicht so weit. Aber für die SPD bilden die Grünen in ihren alten großstädtischen Hochburgen bei Stadtrats- und Oberbürgermeisterwahlen jetzt schon eine ernsthafte Gefahr, vom ersten Platz verdrängt zu werden. Die anstehenden Berliner Abgeordnetenhauswahlen werden hierüber weiteren Aufschluss geben. Und im Osten der Republik ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass CDU und SPD mit solch großem Abstand von der Linken überflügelt werden, dass eine Regierungsbildung mit ihnen an der Spitze nicht mehr verwehrt werden kann. Für die SPD ist zudem schwerlich der Volksparteianspruch aufrechtzuerhalten, wenn sie dauerhaft in einigen Landstrichen Süd- und Ostdeutschlands unter die 20 %-Grenze absinkt und von Grünen, Liberalen und u. U. auch Rechtsaußenparteien überholt wird. Was den angestammten Regierungsparteien SPD, CDU und CSU auch noch zu schaffen macht, ist die Wucht und Brutalität, mit der sie bei Wahlen abgestraft und vom Thron gestürzt werden. Angesichts der ausgeprägten Denkzettelund Protestwahlneigung werden Erdrutschwahlen noch stärker zunehmen. Mit dem Ende der berechenbaren Stabilität und dem Kontrollverlust der Volksparteien über den Ausgang von Wahlen steht deren Vorherrschaft auf der Kippe. Noch steht ein Wählerbollwerk aber treu zu den Volksparteien, und das sind die Wählerinnen und Wähler über sechzig.123 Nur wächst für diese stetig wegsterbende Altersklasse nicht genügend Jungwählerschaft nach, weil die Volksparteien gerade in diesem elektoralen Nachwuchssegment nur weit unterdurchschnittlich punkten können.124 ___________ 123 Viola Neu (2009), S. 85, Bundestagswahl in Deutschland am 27. September 2009. Wahlanalyse, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Onlinepublikation, Berlin. Gerd Strohmeier (2009), S. 159, Quo vadis CSU? Die bayerische Landtagswahl 2008 und die Folgen, in: Volker Kronenberg/Tilman Mayer (Hrsg.), Volksparteien: Erfolgsmodell für die Zukunft?, Freiburg im Breisgau, S. 143–161. 124 Armin Schäfer (2007), S. 654, Die Reform des Sozialstaats und das deutsche Parteiensystem: Abschied von den Volksparteien?, in: ZParl, Heft 3, S. 648–666.
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Das hindert CDU/CSU und SPD jedoch nicht daran, sich weiterhin zum Formprinzip der Volkspartei zu bekennen, – etwas was von der Linken, den Grünen und der FDP abgelehnt wird. Damit setzen sie sich aber auch dem Anspruch aus, ein möglichst breites, querschnittliches Wählerspektrum abzudecken und zwischen den heterogenen Gruppen einen integrierenden Interessenausgleich herzustellen. In der Tat zeigen bereits vorgestellte Wählermilieustudien auf, dass nach wie vor allein die Volksparteien in allen Milieus und Lebensstilgruppen verankert sind und sie dieses Alleinstellungsmerkmal ihren Konkurrenten voraus haben. Eingebüßt haben sie gleichwohl stark an Sammlungs- und Integrationskapazität, was den Aufstieg der Grünen und Linken ermöglichte. Volksparteien sind auf Versprechen für eine bessere Zukunft abonniert und nicht auf die Lastenverteilung von sozialen Einschnitten. Hierfür fehlt es ihnen an ideellem Überbau, Perspektive und Vision, um die breitere Wählerschaft nach dem Ende der „Weiter so“- Wohlfahrts- und Aufstiegsgesellschaft an ein besseres Morgen glauben zu lassen. CDU/CSU und SPD sind heute nur noch dem Schein nach bürgernahe Volksparteien. In Wirklichkeit haben sie sich zu Wahlkampforganisationen und Karrierevehikeln von staatszentrierten Berufspolitikern, was Otto Kirchheimer schon prognostizierte, verengt. Sie stellen Parteien dar, die zu „partnerships of professionals, not associations of, or for, the citizens“ mutierten.125 Sich um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu kümmern, ist ihnen dabei aus dem Blick geraten. Durch den Wechsel des bisherigen Volksparteiensystems mit „Zweiparteiendominanz“ hin zu einem „pluralistischen System“ mit fünf Parteien126 sind Koalitionskonstellationen angesagt, die zur weiteren Frustrierung der Wähler führen werden. Denn mit dem Fünfparteiensystem wird den Wählern und Wählerinnen die politische Richtungsbestimmungskompetenz, die sie mit ihrer Stimmabgabe ausübten, entzogen. Ob und wen man wählt, ist ohne Belang für das, was an erwünschter Koalitionsbildung herauskommt. Detterbeck 127 misst dieser problematischen Entkopplung von Wählervotum und Regierungsbildung in einem Fünfparteiensystem eine dermaßen große Bedeutung zu, dass für ihn eine „governementale Krise“ (i. O. kursiv, E. W.) der Volksparteien heraufzieht. ___________ 125 Richard S. Katz/Peter Mair (1995), S. 22, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics, 1. Jg. Heft 1, S. 5–28. 126 Oskar Niedermayer (2010c), S. 2 ff., Von der Zweiparteiendominanz zum Pluralismus: Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems im westeuropäischen Vergleich, in: PVS, 51. Jg., Heft 1, S. 1–13. 127 Klaus Detterbeck (2010), S. 27, Die Veränderungen sozialer Milieus und die Krise der Volksparteien, in: Politische Bildung, Heft 2, S. 24–37.hl.
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Krise und kein Ende? Nein, die Krise ist noch gar nicht tief genug, um die aus den Volksparteien hervorgehende politische Klasse zur Umkehr und Rückbesinnung auf das Volksparteienprinzip zu bewegen.
Diskussion zum Vortrag Wiesendahl Leitung: Joachim Wieland
Joachim Wieland: Vielen Dank lieber Herr Wiesendahl. Sie haben uns reich beschenkt. Da es nicht die erste Veranstaltung ist, die wir gemeinsam durchführen, war ich vorbereitet auf das, was ich jetzt mal „das Wiesendahl’sche Gesetz“ nenne. Er spricht doppelt so spannend, wie man es erwartet hat, und doppelt so lange, wie man es erwartet hat (Gelächter). Herr Wiesendahl macht aber jederzeit deutlich, dass er auch dreimal so lange sprechen kann, so dass man dankbar ist, dass es bei der Verdoppelung bleibt. So haben wir jetzt genügend Material für eine Diskussion sowohl über die Ursachen der Krise der Volksparteien, die er uns aufgezeigt hat, als auch über die Frage „Wie wird es weitergehen?“ sowie die Perspektiven. Die Analyse wird wahrscheinlich relativ unbestritten sein, die Zahlen sind relativ eindeutig, aber Sie haben natürlich jetzt Gelegenheit Ihre Ansichten einzubringen. Bitte Herr Weiß. Wolfgang Weiß: Mich interessiert eher die Frage der demokratietheoretischen Bewertung, also die Frage: Was bedeutet das für die Machtausübung der politischen oder herrschenden Klasse in der Demokratie? Man könnte nach Ihrem Vortrag doch zunächst dazu geneigt sein zu sagen: Als Wähler kann das Volk eigentlich begrüßen, wenn die Macht der Parteien durch stärkere Diversifizierung und durch stärkeren Wettbewerb zurückgeht. Ihr abschließendes Statement lässt mich daran zweifeln, ob man das wirklich so sehen kann, denn Sie haben ausgeführt, dass diese Effekte zumindest derzeit noch kompensiert werden durch die Führungsspitze, die immer mehr in den Staat eindringt. Die andere gegenläufige Überlegung ist die, dass an die Stelle von Volksparteien vielleicht nunmehr eine stärker zersplitterte Parteienlandschaft tritt, die aber doch letztlich nach außen nur das trägt und im Parlament abbildet, was zuvor bereits an innerparteilichen Schwierigkeiten und Grabenkämpfen bestand. Wir haben eben nicht mehr eine SPD, die intern die Konflikte mit ihrem linken Flügel austragen musste, sondern der linke Flügel ist die eigene Partei geworden, so dass wir dadurch eigentlich einen Transparenzgewinn haben. Meine Frage läuft damit darauf hinaus: Wie
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Diskussion zum Vortrag Wiesendahl
bewerten wir die von Ihnen aufgezeigten Veränderungen der Parteien für die Funktion unserer Demokratie und für die Bedeutung und Stellung des Wählers? Joachim Wieland: Ich schlage vor, wir sammeln etwas, damit jetzt auch die Zuhörerinnen und Zuhörer ausreichend zu Wort kommen. Herr Jung bitte, dann Herr Rupp. Otmar Jung: Ich möchte nur zu einem Detail fragen, und zwar: Woher sind Sie so sicher mit der strategischen Regierungsbildungskontrolle? Mir fällt da spontan ein Beispiel aus der bayerischen Parlamentsgeschichte ein, wo in der dritten Wahlperiode 1954–57 eine sogenannte Viererkoalition bestand unter Wilhelm Hoegner, die die bei weitem stärkste Partei, die CSU, in die Oppositionsrolle drückte. Elmar Wiesendahl: Darf ich das gleich beantworten? Da war natürlich die SPD unter Högner mit im Spiel und damit habe ich die Großpartei, wieder mit einem strategischen Regierungsbildungsvorteil. Hans Heinrich Rupp: Ich meine, wir sollten bei der Diskussion um Demokratie, Parlament und politischen Parteien berücksichtigen, dass wir – ich drücke mich sarkastisch aus – in einem eigenartigen postdemokratischen System leben und deshalb Vergleiche etwa mit der Schweiz oder den Vereinigten Staaten nicht möglich sind. Zwar hat das Gros der europarechtlichen Literatur und Judikatur diesen Befund verharmlost und davon gesprochen, auch die Europäische Union sei irgendwie eine Demokratie, wenn auch ohne demos; gelegentlich hat sich geradezu eine europäische Verfassungslyrik entwickelt, die in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Erkenntniswert und zur Realität steht. Nicht zu bezweifeln ist indes, dass das Herrschaftssystem der Europäischen Union ein gänzlich anderes ist als dasjenige ihrer Mitgliedsdemokratien, und auch ein bundesstaatlicher Vergleich trifft nicht die Sache: Die sich stetig ausweitende Gesetzgebung der Gemeinschaft steht letztlich den mitgliedschaftlichen Regierungen zu, den einzelstaatlichen Parlamenten verbleibt im Grunde nur ein Abnicken; die europäische Gubernative nimmt – eine zwangsläufige Folge dieses Systems – ständig an Gewicht zu; jüngst hat sich der EU-Kommissar Günter Verheugen bitter über die Arroganz und angemaßte Macht der selbstherrlichen europäischen Bürokratie beklagt, die sich nicht steuern lasse. Auch der Europäische Gerichtshof sieht sich aus der Sicht eines seiner Mitglieder anscheinend eher als Motor der Integration, denn als Wahrer des Kompetenzgefüges zwischen EU und den Mitgliedstaaten. In seinem Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht zwar pos-
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tuliert, den Mitgliedsdemokratien müsse ein Grundbestand demokratischer Substanz und ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse erhalten bleiben. Dies und die angekündigte Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts über die Integrationsentwicklung und die Einhaltung der ultra-vires-Doktrin ist zwar nachdrücklich zu begrüßen; doch der eigentliche Befund liegt tiefer und kann nicht ignorieren, dass spätestens der Lissabon-Vertrag nach den Worten des Bundesverfassungsrichters Gerhardt ein Ermächtigungsgesetz ist, das Europa ein eigenartiges und aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetztes Herrschaftssystem beschert hat, das seines Gleichen sucht. Wir sollten m. E. dieses eigenartige System genau analysieren und überlegen, ob und wie sich das bürokratische Regime mit den verbliebenen Resten nationalstaatlicher Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Kultur zum Nutzen aller zu einem kompensatorischen Ganzen fügen lässt und eine Kompensation der gegenseitigen Stärken und Schwächen möglich ist. Denn dass auch der gegenwärtige Parteienstaat der Bundesrepublik nicht ohne Fehl ist und Schwächen hat, die dringend nach Reformen rufen, lässt sich nicht bestreiten. Diese Schwächen des Parteienstaates könnten möglicherweise durch das bürokratische Regime Europas kompensiert werden, nämlich durch eine Bürokratie, die sich weitgehend internationalisiert, vom Parteienregiment entfernt hat und dem BecketPrinzip folgt. Umgekehrt wäre aus Gründen der Demokratisierung der EU zu fordern, dass der europäische Gesetzgeber, also die nationalen Regierungen, unmittelbar vom jeweiligen Volk gewählt würden. Die Erarbeitung eines solchen kompensatorischen europäischen Regimes wäre m. E. fürwahr ein lohnendes „Exzellenz“-Forschungsprojekt, an dem nicht nur die Staats- und Völkerrechtslehre, sondern auch die Politologie, die Soziologie und Psychologie zu beteiligen wären. Ein Projekt also, das bisher leider noch nicht ernsthaft in Angriff genommen worden ist und im allgemeinen Lobgesang der europäischen Entwicklung noch keinen Platz gefunden hat. Von den nationalen Regierungen oder gar den europäischen Instanzen ist in dieser Hinsicht wohl nichts zu erwarten. Joachim Wieland: Vielen Dank, Herr Rupp. Ich gebe Herrn Prof. Wiesendahl jetzt wieder das Wort. Elmar Wiesendahl: Jetzt sind natürlich grundsätzliche Fragen angesprochen worden und das, was Sie vorgetragen haben, müsste auch in einen grundsätzlichen Rahmen, etwa demokratietheoretischer Art, eingebettet werden, denn es geht ja immer um das elementare Prinzip der Repräsentation des Volkswillens und einer Organisati-
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Diskussion zum Vortrag Wiesendahl
onsform, der es glückt, die Vielfalt der Interessenlagen einer heterogenen Wählerschaft auf der Regierungsebene abzubilden. Und die demokratietheoretische Debatte bewegt sich genau um diese Frage: Können es Parteien sein, können es Volksparteien sein, müssen wir zurück zu Interessenparteien, kann das Volk unmittelbar selbst diesen Prozess organisieren oder müssen wir es bei den Umständen lassen, die sich mittlerweile entwickelt haben und die wir nicht zurückschrauben können? Zunächst erst einmal: ich bin glühender Anhänger der Parteien, und ich sehe – auch wenn diese Debatte hier nicht geführt wurde, sondern im Vorhinein –, keine Chance, Parteienherrschaft abzulösen durch unmittelbare Volksherrschaft, sondern allenfalls durch ein Modell gemischter Verfassung, aber das wäre etwas, was man woanders diskutieren müsste. Also, ich gebe nichts darauf, Parteien, die per se in der Massendemokratie die einzigen Transmitter sind, denen es glücken kann, Kollektivinteressen in Entscheidung umzusetzen, dass man denen den Garaus macht. Also muss es Reformen geben, aber wenn ich jetzt die Lage – und das war ja die Frage von Herr Weiß: Wie ist denn der Zustand jetzt, auch demokratietheoretisch? –, dann wird die Parteienforschung, die ich erst mal, was den Stand der Debatte angeht, ausgeklammert habe, eine sehr nüchterne, vielleicht sogar defätistische Antwort geben, denn sie argumentiert so: Die Debatte, die ich Ihnen hier vorgetragen habe, ist sowieso schon obsolet. Ich habe Ihnen einen Stand der Entwicklung referiert, der für die Mehrzahl, auch international, der Parteienforscher, längst überwunden wurde, denn wir haben überhaupt keine Volksparteien mehr. Das ist main-streamDenken. Was haben wir denn anstelle der Volksparteien, die ich immer noch für existent halte? Wir haben entweder Kartellparteien, das heißt Parteien, die wirklich in den Staat eingedrungen sind, semistaatlich geworden sind, und die ihn ausbeuten. Das ist die Kartellparteienthese. Oder eine andere These – der neige ich dann eher zu, das lässt sich nämlich mit der Volksparteienwirklichkeit vereinbaren –, wir haben einen längerfristigen Prozess des Aufstiegs einer politischen Klasse von Berufspolitikern, die haben sich gewissermaßen die Parteien untertan gemacht, das heißt und deshalb haben wir im Sinne von Klaus von Beime Berufspolitiker-Parteien. Und die Parteien dienen jetzt nicht mehr als Willensbildungsinstrumente, um diese Verbindungsfunktion wahrzunehmen, sondern es sind Service-Einrichtungen für die Wiederwahl und den Machterhalt dieser Berufspolitiker. Das heißt wir haben auch innerparteilich eine Verkümmerung. Es ist ja auch – wenn man so will – ein bisschen naiv, jetzt die Debatte der SPD zu verfolgen, wo die neue Parteiführung jetzt die über Jahre mundtot gemachte Basis auffordert, doch an den Prozessen der Willensbildung wieder teilzunehmen. Sobald die Partei an der Regierung wäre – und das ist die These der Berufspolitikerpartei –, würde sie genau wieder ihre eigenen Interessen verfolgen, die darauf ausgerichtet sind, ihre Wiederwahl zu organisieren und nicht der Partei einen eigenen Stellenwert zu geben. Bloß, so formuliert ist gewissermaßen der Skeptizismus über die Lage, in der wir heute stecken, ja noch umfänglicher, als ich ihn selbst dargestellt habe. Ich wollte Ihnen das eigentlich
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vorenthalten, aber vielleicht ist es ganz wichtig, dann auch noch mal in der Richtung zu argumentieren. Gleichwohl glaube ich nach wie vor, wir könnten durch ein Mischsystem außerparteilicher Kontrolle der Parteien, der Parteienherrschaft und der Ergänzung durch direktdemokratische Mittel die Parteienherrschaft wieder volksnäher gestalten, aber wir werden an Parteienherrschaft, ausgeführt durch Berufspolitiker – auch wenn ich es international betrachte – nicht vorbeikommen. Und, Herr Rupp, was die Frage der europäischen Institutionen angeht, da muss ich Ihnen ganz ehrlich eingestehen, die Probleme, die die Staatsrechtslehre mit dieser Frage hat, gelten genauso für die Parteienforschung, also wir sind Ignorant gegenüber den Veränderungen von Machtstrukturen, die sich durch die Europäisierung von Institutionen herstellen, einzig auch der Frage: Was bleibt an Eigengewicht für den Nationalstaat, für nationalstaatliche Regierungen und wie kriege ich – sagen wir mal – das demokratische Element gegen das bürokratische Element der europäischen Institutionen gestärkt? Da sind wir erst am Anfang der Debatte und warten eigentlich auf Antworten, die die Staatsrechtslehre geben muss. (Einwurf: Ich meine, das sei notwendig.) Ja, auf jeden Fall. Abschließend gibt es natürlich – ich nenne nur einen Engländer, Colin Crouch, der hat schon ein Buch geschrieben über postmoderne Demokratie und bringt das auf die These, wir leben schon in einer Scheinwelt der Existenz von demokratischen Parteien, in Wirklichkeit sind es Berufspolitiker, die das Sagen haben, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten – wie gesagt, des Instruments der Parteien bei Wahlen sich bedient, aber nicht mehr organisieren können den Prozess – auch wenn es naiv klingt – der Willensbildung von unten nach oben. Ganz so weit würde ich nicht gehen, aber die Tendenzen sind durchaus sichtbar. Joachim Wieland: Vielen Dank. Nun Herr Leif. Thomas Leif: Ich wollte nur eine Vorbemerkung machen und dann eine Kernfrage stellen. Die Vorbemerkung bezieht sich auf die Einordnung von Herrn von Arnim. Sie hatten gesagt, er ist ein normativer Politiker – das wird er nicht bestreiten, aber normativer mit konservativer Grundierung –, aber eine Besonderheit, die Sie vergessen haben, die in der Politikwissenschaft oft fehlt, mit der Addition von harter Empirie. Wenn Sie die Politikfinanzierungsstudien sehen, die sind nicht etwa aus der Politikwissenschaft gekommen, sondern von ihm und seinen Helfershelfern, seinem guten System von Kontrolleuren. Ich kann mich nicht erinnern, dass nur eine einzige dieser Studien über die Jahre überhaupt bestritten werden konnte, obwohl Rechnungshöfe ganze Armadas von Politikmitarbeitern draufgesetzt haben. Das würde ich gerne festhalten, weil es führt mich zu den
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Defiziten in der Politikwissenschaft, die Sie dann vertreten, wo diese harte Empirie heute, meiner Ansicht nach, vermisst werden kann, auch in der Frage Ihrer Parteienanalyse. Ich sehe bei Ihren Ausführungen eine unglaubliche Kluft zwischen der Analyse der Defizite und einer extrem unterentwickelten Analyse der Folgerungen aus diesen Defiziten. Was Sie machen, ist im Grunde am Ende so eine Art Valium-Wissenschaft. Wenn Sie dem Präsidenten des Bundestages und den Parteien Ihre zwei Schlussthesen präsentieren, würden Sie ihnen ein großes Geschenk machen. Denn das ist eine sehr intelligente Analyse zu weiteren Stabilisierungen des jetzigen Systems, indem Sie sagen, es ist eigentlich alles gut, Ihr als große Parteien werdet die Macht haben, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau, und Ihr werdet auch weiterhin so arbeiten können. Ich halte das aber für einen Hauch von Zynismus angesichts der vorher skizzierten Punkte. Meine Frage ist ganz konkret: Wie bewerten Sie den Aspekt schwindender Legitimation, auch bezogen auf Nichtwahl, als für die Erosion des Systems? Zweitens: Wie bewerten Sie die wichtige Frage der Auslagerung politischer Macht außerhalb des etablierten Systems durch Lobbyismus? Herr Papier hat am 2. März in der Börsenzeitung ein Rieseninterview gegeben – es hat leider keiner festgestellt und keiner registriert –, wo er sagte: Der Lobbyismus ist die zentrale Gefahr für die Demokratie. Das kommt bei Ihnen nicht vor in der Analyse, also der freiwillige Verzicht von parlamentarischer Politik und Konzeptionspolitik in Richtung Außensphären. Es ist meine Frage und meine Bitte, doch mal aufbauend auf Ihre eigene Analyse der Defizite konstruktive und harte Vorschläge zu präsentieren, wie eigentlich eine innere Reform der Parteien, die Sie so schätzen, auszusehen hätte. Joachim Wieland: Vielen Dank, wir sammeln noch zwei weitere Wortmeldungen. Herr Murswiek und dann Herr Meyer. Dietrich Murswiek: Herr Wiesendahl, die Gründe für den Niedergang der Volksparteien, die Sie uns dargelegt haben, scheinen mir überwiegend völlig plausibel, ich habe allerdings einen wichtigen Aspekt vermisst in Ihrer Analyse. Mein Eindruck ist, dass die Volksparteien in ihrer Politik der letzten Jahrzehnte ganz wesentliche Anliegen, die von der Mehrheit unseres Volkes als fundamental angesehen werden, ignorieren bzw. dass sie – jedenfalls im Hinblick auf diese essentiellen Anliegen – keine Wahlangebote machen. Ich möchte zwei Aspekte nennen, die sich mir aufdrängen. Das eine ist die Änderung unserer Gesellschaft durch eine jetzt seit Jahrzehnten andauernde Immigration. Immigrationspolitik und Immigrationsfolgenpolitik sind nie Gegenstand von Wahlentscheidungen gewesen. Wir haben hier gesehen, dass die großen Parteien oder überhaupt alle etablierten Parteien ein inhaltliches Kartell gebildet haben. Heute Vormittag ist ja von Kartell-
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bildung im Hinblick auf Entscheidungen in eigener Sache die Rede gewesen. Hier haben wir ein Beispiel für eine Kartellbildung in Bezug auf eine Angelegenheit, die nichts mit eigener Sache zu tun hat, sondern wirklich zentraler Punkt des Allgemeinwohls ist, und die Parteien haben sich darauf geeinigt, dass dieses Thema nicht Gegenstand des Wahlkampfs sein darf. Zweites Beispiel ist die Europapolitik. Auch das ist für die Entwicklung des Gemeinwesens von zentraler Bedeutung – Verschiebung der Machtverhältnisse auf die europäische Ebene usw. Und um nur ein kleines Spezialbeispiel aus dieser Entwicklung herauszugreifen: Die Abschaffung der D-Mark, Einführung des Euro. Wir erinnern uns alle: Die Umfragen, die gemacht damals worden sind, haben alle ergeben, dass die große Mehrheit der Deutschen gegen die Einführung des Euro war, aber die Wähler hatten keine Möglichkeit, mit ihrer Stimme für oder gegen eine bestimmte Volkspartei die Entscheidung in dieser Sache zu beeinflussen bzw. auf diese Entscheidung zu reagieren. Und da frage ich mich, ob das nicht auch eine der Ursachen für den Niedergang der Volksparteien ist und ob nicht viele Menschen in die Wahlenthaltung getrieben werden, wenn diese Parteien ihnen keine Angebote machen. In einigen anderen europäischen Ländern sehen wir ja jetzt das Aufblühen rechtspopulistischer Parteien, was auch Bedeutungsverlust der dortigen Volksparteien zur Folge hat. Joachim Wieland: Jetzt Herr Meyer. Hans Meyer: Ich will etwas Machiavellistisches fragen, Herr Wiesendahl. Wenn das richtig ist, was Sie gesagt haben – und ich habe keinen Zweifel, dass es richtig ist –, dann müssten doch eigentlich die Großstrategen der beiden, vielleicht nicht mehr ganz großen, aber immer noch Großparteien Folgendes sagen: Wir führen – wir lassen die verfassungsrechtliche Frage außer Betracht – jetzt das Mehrheitswahlrecht ein. Dann schert uns die Auffächerung in weitere kleine Parteien überhaupt nicht, die werden verschwinden, weil sie keine Chance haben in diesem System. Wäre das strategisch nicht das Naheliegendste, oder müsste dann Herr Leif mit Recht sagen, wo bleibt dann die Legitimation für jegliches Handeln? Und wenn ich noch hinzusagen darf, aber jetzt mehr zu Herrn Murswiek gewendet: Herr Murswiek, viele wichtige Entscheidungen sind ohne Volksentscheid von den Politikern durchgesetzt worden, die Ostpolitik ist nicht durch Wahl durchgesetzt worden. Danke. Elmar Wiesendahl: Ich fange mal mit Herrn Meyer an. Machiavellistisches Denken ist durchaus in den Parteizentralen, aber auch Regierungszentralen zu Hause, da darf ich iro-
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nisch antworten: Wenn Herr von Arnim fürs Mehrheitswahlrecht eintritt, dann kann das nur Sorgen auslösen in den Parteizentralen und Regierungszentralen. Deshalb werden die dafür nicht eintreten wollen. Nein, wir wissen angesichts des Ungleichgewichts, der Asymmetrie zwischen Union und SPD darum, dass das Mehrheitswahlrecht enorme Schieflastigkeiten produzieren würde. Wir würden englische Verhältnisse bekommen mit Landstrichen, die einseitig konservativ dominiert wären, und andere durch die SPD, das heißt es wird kein Stratege wollen, sondern dann lässt man sich lieber auf Kleinparteien ein, um mit denen doch noch auf irgendeine Art und Weise gute Regierungspolitik zu machen. Also, insofern würde ich das gegenwärtig für die Debatte völlig ausschließen. Herr Murswiek, ich teile Ihre Auffassung. Ich glaubte, das auch deutlich gemacht zu haben, dass wir mittlerweile eine Abgehobenheit haben der Regierungspolitik der Volksparteien, dass große Anliegen entweder gar nicht aufgegriffen werden – da haben wir eine Repräsentationslücke – oder Lösungen in die Welt gesetzt werden, die quer liegen zu den Wünschen der Bevölkerung, und zwar jeweils zu den Mehrheitswünschen. Und das wird ja längst reflektiert durch ein wachsendes Misstrauen und eine wachsende Frustration unter der Wählerschaft. Sie bekommen dadurch aber einen Frustrationsteufelskreis, das heißt durch die Politik – übrigens in letzter Zeit umso mehr durch die Verhältnisse erzwungen – Entscheidungen herbeizuführen, die keinen Wählerrückhalt haben, um dann bei Wahlen jeweils bescheinigt zu bekommen, dass man nicht bei den Wünschen der Bevölkerung ist, obgleich man zwanghaft eine Politik machen muss, die Schmerzen erzeugt. Und dieser Abstiegsprozess ist nicht zu stoppen. Man könnte übrigens dafür auch Beispiele wählen. Der ganze Bereich der Reform des Sozialstaats liegt quer, und ich habe das in meinem Vortrag bereits ausgeführt: Alle Umfragen seit 2000 belegen, dass das was an Reformen angefasst wurde, quer zu dem lag, was jeweils Mehrheitshaltung in der Wählerschaft bildete. Und das geht jetzt so weiter, natürlich jetzt noch verschärft. Herr Leif, mich wundert ihre Einlassung ein bisschen. Also, erstmal finde ich das toll, mich in die Gruppe der Valium-Wissenschaftler aufzunehmen, da neigen Journalisten wie sie ja gelegentlich auch zu, wobei aber in Ihrer Kritik ein Widerspruch liegt. Denn Sie haben zunächst herausgehoben – völlig zu Recht, ich glaube, das in meinen Eingangsbemerkungen auch deutlich gemacht zu haben –, dass Herr von Arnim singulär ist, weil er nicht nur ein normativ orientierter Wissenschaftler ist, sondern die Parteienforschung gerade deshalb beeindruckt, weil er empirische Daten liefert, bei denen gelegentlich Scham unter den Parteienforschern auftritt, weil sie eigentlich diejenigen sein sollten, die diese Daten liefern müssten. Das bezieht sich übrigens speziell auf die Parteienfinanzierung, aber auch zu Daten über die Zusammensetzung der Abgeordneten und vieles mehr. Also, da glaube ich, traf Ihre Kritik wirklich nicht ins Schwarze. Die Kritik, dass ich hier Valium verabreiche, trifft mich letztendlich auch nicht.
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Sondern jetzt bin ich als empirisch orientierter Parteienforscher gefragt, und da habe ich nur – was die Zukunftsaussichten angeht – nicht Wünschenswertes dargestellt, sondern das, was ich für empirisch abgesichert halte. Und dann ist das Ergebnis, so kritisch oder unkritisch man das auch immer betrachten mag, dass es eine rettende Persistenz der Volksparteien im Sinne eines Schrumpfvorgangs geben wird, hierauf abgestützt. Wo allerdings die Rettung darin besteht, dass die aus den Volksparteien hervorgehenden Berufspolitiker in der Lage sind, ihre Haut zu retten. Insofern werden sie auch nicht massive Veränderungen der Situation herbeiführen, denn noch ist die Krise nicht so tief, dass sie selbst persönlich Schaden nehmen, sondern sie überleben als semistaatliche Akteure im Bereich des Staatsapparats und der Parlamente. Dann müsste die Krise noch viel schärfer werden, was ich mir aber nicht wünsche. Und das ist eine empirisch abgesicherte Aussage, bei der ich glaubte, die Wirklichkeit ganz gut abgebildet zu haben. Ja, das war’s. Joachim Wieland: Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit schließe ich die Rednerliste. Als Nächster bitte Herr von Arnim. Hans Herbert von Arnim: Vielen Dank, Herr Wiesendahl, das war ja ein riesiger Fächer von zentralen Themen, den Sie vor uns ausgebreitet haben. Allerdings weiß ich nicht recht, ob die Fragen von Herrn Weiß und Herrn Leif, wie Sie das nun bewerten, beantwortet sind. Eine gewisse Eigenheit vieler Ihrer politikwissenschaftlichen Kollegen besteht in meinen Augen ja darin, dass sie es grundsätzlich ablehnen zu werten – selbst auf der Basis gesicherter empirischer Daten. Vielleicht können Sie dazu noch etwas sagen. Verschiedene Elemente, die den Niedergang der Volksparteien zusätzlich aufzeigen, haben Herr Murswiek und andere ja schon ergänzt. Sie selbst haben unter anderem darauf hingewiesen, dass der Rückgang der Wahlbeteiligung den Parteien gar nicht weh tut, wenn der Rückgang sich halbwegs gleichmäßig auf die etablierten Parteien verteilt. Sollte man das dadurch ändern, dass man die Staatsfinanzierung der Parteien an die Wahlbeteiligung koppelt? Die Parteienfinanzierungskommission, die der Bundespräsident Richard von Weizsäcker damals eingesetzt hatte, wollte die Parteienfinanzierung so gestaltet haben, dass mit geringerer Wahlbeteiligung auch die staatliche Parteienfinanzierung sinkt. In der Weimarer Zeit bestand eine Regelung, die die Anzahl der Mandate von der Wahlbeteiligung abhängen ließ. Für je 60.000 Stimmen gab es einen Sitz, und wenn weniger zur Wahl gingen, wurde der Reichstag entsprechend kleiner. Das würde einen enormen Anreiz für die politische Klasse bieten, etwas gegen Wahlabstinenz zu unternehmen.
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Der Rückgang der Mitglieder tut den Parteien auch nicht so recht weh, wenn sie ihn durch Staatsfinanzierung ausgleichen können. Sie haben das ja dargestellt. Dabei ist der wahre Umfang der Staatsfinanzierung kaum bekannt. Heute Morgen war von 133 Millionen Euro Staatsfinanzierung jährlich die Rede, die die Parteien bekommen. Zieht man die Definition der Partei aber weiter, so ist es sehr viel mehr. Die Staatsfinanzierung der Parteien wurde bereits in den sechziger Jahren vom Bundesverfassungsgericht begrenzt. Die Parteien sind darauf – in eigener Sache entscheidend – in die Finanzierung ihrer Hilfsorganisationen ausgewichen. Die Finanzierung der Fraktionen und der Parteistiftungen, welche sich fast zu 100 % aus der Staatskasse nähren, haben sich in den letzten 40 Jahren vervierzigfacht. Auch die Mitarbeiter von Parlamentsabgeordneten sind von der Großen Koalition (1966 bis 1969) geschaffen worden. Ich plädiere natürlich nicht dafür, das alles zu beseitigen, ganz abgesehen davon, dass dies auch utopisch wäre. Teilweise hat es ja durchaus seinen Sinn, aber in diesem gewaltigen Umfang mit diesen enormen Steigerungsraten? Zählt man alles zusammen, kommt man – statt der 133 Millionen – auf weit mehr als eine Milliarde Euro, und damit werden vielfach Parteiaufgaben wahrgenommen, so dass diese Organisationen in einem weiteren Sinn zu den Parteien zu zählen sind, wie es die Politikwissenschaft ja auch längst tut. Das unterstreicht, was Sie, Herr Wiesendahl, gesagt haben: Für die geringere Verankerung in der Bevölkerung halten die Parteien sich schadlos, indem sie umso stärker den Staat anzapfen. Was ist hier Ursache und was Wirkung? Ist dieses volle Hineingehen in die Staatsfinanzierung in eigener Sache – Stichwort „Selbstbedienung“ in der medienüblichen Ausdrucksweise – ist das nicht mit eine Ursache für das Abheben der Parteien und für – Sie haben das ziemlich drastisch dargestellt – ihr geringes und immer weiter abfallendes Ansehen? Ich erinnere mich daran, dass Herbert Wehner, der legendäre Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, als die Staatsfinanzierung Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre eingeführt wurde, dagegen Sturm lief. Wehner warnte damals davor, die Staatsfinanzierung würde die Mitglieder massiv demotivieren. Haben wir heute nicht genau diese Situation? Ist die Staatsfinanzierung also nicht auch eine Ursache dafür, dass wir – Sie sprachen mit Katz und Mair von Kartellparteien, Peter Radunski, ein wichtiger CDU-Mann, sprach von Fraktionsparteien – dass wir diese Entwicklung haben? Joachim Wieland: Herr Sommermann bitte. Karl-Peter Sommermann: Ich möchte an den konstatierten Vertrauensverlust der politischen Parteien anknüpfen. Dieser ist nach Ihrer Beschreibung ja dramatisch. Auf einen ent-
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sprechend starken Verlust des Vertrauens in die Demokratie hat von den Speyerer Kollegen schon vor einigen Jahren Herr Klages hingewiesen und auch seine Zahlen müssen jeden beunruhigen. Es handelt sich dabei offenbar um einen internationalen Trend, der somit nicht auf Deutschland beschränkt ist. Auf Ihrem Schaubild gingen die Zahlen zwar immer bergab, aber dann kam zum Schluss doch wieder ein leichter Anstieg. Ist das ein Hoffnungsschimmer, heißt das, dass die Neugestaltung der Parteienlandschaft verspricht, verloren gegangenes Terrain wieder wettzumachen, oder wie ist dies zu beurteilen? Die Ursachenforschung in der Politikwissenschaft, aber auch in der Staatsrechtswissenschaft zeigen natürlich vielfältige Faktoren, darunter auch solche, die nicht durch eine Multiplikation der aktiv den politischen Prozess gestaltenden Parteien zu lösen sind. Ich erinnere nur an das Phänomen der Verantwortungsdiffusion, das durch Internationalisierungs- und Europäisierungsprozesse verstärkt wird – Herr Rupp hatte dies soeben noch einmal eindrücklich dargelegt –, aber auch Folge der wachsenden Komplexität der innerstaatlichen Entscheidungsverfahren ist. Wie sind vor diesem Hintergrund die von Ihnen präsentierten Zahlen am Ende zu interpretieren? Joachim Wieland: Als Nächster hat Herr Klages das Wort. Helmut Klages: Ich kann hier unmittelbar anknüpfen. Sie haben bei der Krisendiagnostik erstens den Vertrauensschwund erwähnt, aber Sie haben gleichzeitig auch darauf hingewiesen, dass die Parteien und die Regierungen, im Grunde genommen, eine Politik gegen die Bevölkerung machen – das waren Ihre Worte –, und zwar nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch in internationaler Breite gesehen. Ich würde hieran – in Ergänzung der Frage von Herrn Sommermann – die Frage knüpfen, ob dies eigentlich zwangsläufige Entwicklungen sind, oder ob das vielleicht nur ein „Ausrutscher“ ist? Ich meine allerdings, wenn es ein Ausrutscher wäre, würde es mich wundern, denn es gibt genug empirische Daten, aus denen sich eine fortdauernde Diskrepanz zwischen der Politik, die von den Parteien und Regierungen, verfolgt wird, und den Wünschen der Bevölkerung ableiten lässt – sogar die Bertelsmann-Stiftung hat darüber gerade in der letzten Zeit eine ganze Reihe von sehr eindrucksvollen Daten veröffentlicht. Im Grunde genommen müssten das alle wissen, dass es so ist. Hängt das damit zusammen, dass der Entwicklungs- und Veränderungstrend der Parteien, zu dem ein auch ihr von Herrn von Arnim dargestelltes zunehmendes Unabhängigwerden von der Beteiligung an den Wahlen gehört, dazu führt, dass man gewissermaßen eine zynische Haltung gegenüber der Bevölkerung einnimmt und sich vielleicht auch durch Absicherungen in berufspolitischer Hin-
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sicht zunehmend unangreifbar fühlt, so dass es im Grunde genommen immer gleichgültiger wird, ob man die Interessen der Bevölkerung trifft oder nicht? Die Frage lässt sich durch die Zusatzfrage ergänzen, ob man vielleicht darauf hoffen kann, den Trend irgendwie noch aufzufangen, oder ob es tatsächlich so ist, dass wir mit einer zunehmenden Abnabelung des politischen Geschäfts von den Meinungen und Wünschen der Bevölkerung als einem Quasi-Sachzwang rechnen müssen? Herr Sommermann hat gerade gemeint, dass es noch gewisse Rückkehr- und Umkehrtendenzen gibt. Man kann eigentlich nur hoffen, dass er Recht hat, denn zu den Erscheinungen, mit denen wir rechnen müssten, wenn es keine Umkehrtendenzen geben würde, würde ja wohl doch auch das Auftreten von politischen Unruhen zählen, die man zwar nicht unbedingt als erwartbare Zukunftsperspektive an die Wand malen muss, wie dies Frau Schwan vor einiger Zeit getan hat, die man aber jedenfalls als „reale Möglichkeit“ in Betracht ziehen muss, wobei die weitere Ausbreitung politischer Apathie als ein ebenso gefährliches „funktionales Äquivalent“ hinzuzurechnen ist. Joachim Wieland: Vielen Dank, Herr Klages. Herr Elster ist jetzt der Letzte auf der Rednerliste. Michael Elster: Sie haben den aktuellen Politikbetrieb als ein System des Machterhalts und der Machtgewinnung geschildert. Es fällt mir schwer, die Agenda-Politik von Schröder in dieses Raster einzuordnen. War das ein hoffnungsloser Betriebsunfall oder gibt es in Deutschland doch noch einen Rest an Gemeinwohlorientierung, auch in der Politik? Zweitens: Welche manipulatorischen Momente ergeben sich aus Ihrer Analyse? Wenn bei den Parteien immer weniger ein echter Markenkern notwendig ist und stattdessen es auf ein bestimmtes Image von Spitzenpolitikern ankommt, dann könnte man ja auch daran denken, dass Heilsbringer in Zukunft in Deutschland eine große Chance haben. Leben wir in Zukunft von einem Obama-Effekt in der Politik? Joachim Wieland: Vielen Dank, Herr Elster. Herr Wiesendahl, nun haben Sie die Gelegenheit zum Schlusswort. Elmar Wiesendahl: Schlussworte neigen ja dazu, alles glatt zu bügeln und es niemandem recht zu machen. Insofern würde ich doch gerne noch mal die verschiedenen Wortmeldungen aufgreifen wollen.
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Ich fange an mit Herrn von Arnim und gehe auf ein ganz wichtiges Problem ein, nämlich die Ausrichtung der Politikwissenschaft, wo ich mich selbst einbette, sicherlich auch der Staatsrechtslehre, denn ein wesentlicher Teil dessen, was ich referierte, ist Ausfluss meines Wissenschaftsverständnisses. Ein Großteil der neueren Politikwissenschaft ist strikt empirisch orientiert. Allerdings ist das ja nicht losgelöst davon, normative Positionen einzunehmen, wobei aber die Bewertung dessen, was an Entwicklungen sich abzeichnet, ausgerichtet sein muss an den empirischen Tatbeständen. Dann kann ich allerdings meine eigenen persönlichen normativen Vorstellungen mit ins Spiel bringen, und da würde ich zum Beispiel sagen – aber da fängt dann der Kreis an rekursiv zu werden –, dass wenn ich durchaus prinzipiell für mehr Volksabstimmungen bin, dann nach Kalifornien gucke – und das ist jetzt wieder eine empirische Aussage – und stelle fest, dass in dem Maße, wie dort Volksabstimmungen eingeführt wurden, die Steuerleistung so niedrig geworden ist, dass der Staat nicht mehr handlungsfähig ist. Das heißt also, wie weit kann ich unter welchen Kautelen dieses Muster, was ich mir gerne wünsche, mehr direkte Demokratie, kompatibel machen mit der Funktionsfähigkeit der Organisation von Macht. Und da mischen sich normative und empirische Elemente, und ich kann nicht mit frohlockender Normativität meine Überzeugungen verkaufen, wenn das nicht empirisch unterfüttert ist. Also, das ist eine Art Gradwanderung, und die würde ich für mich in Anspruch nehmen. Und dann kommen wir zu einem Punkt, da sehe ich genauso wie Sie zunächst erst einmal das Verhältnis von Ursache und Wirkung so abgebildet, wie Sie es dargestellt haben, nämlich zunächst einmal durch Entscheidungen in eigener Sache eine Aneignung der Staatsfinanzierung durch die Berufspolitiker und dann als Folge praktisch die Umwandlung der Mitgliederparteien in Berufspolitikerparteien, die Entwertung der Mitglieder und eben auch die Absicherung gegenüber Wahlverlusten und Mitgliederverlusten Aber am Anfang stand immer erst die Eigeninitiative, übrigens nicht aus Not heraus, sondern wirklich für die Nutzung von sich ergebenen Chancen. Und man Berufspolitikern, wie jeden anderen Vertreter von Eliten, unterstellen, dass wenn nicht institutionelle Mechanismen sie daran hindern, sie sich die Vorteile beschaffen, die ihnen durch Zutritt zum Staatsapparat gegeben werden. Das ist wieder ein staatsrechtliches Problem. Und dann sind wir bei der Frage, ob nicht das Bundesverfassungsgericht noch stärker, wenn man so will, Prämien verleiht, davon abhängig machend, wie hoch die Wahlbeteiligung ist, wie hoch die Mitgliederzahlen sind, wobei ja Schritte in die Richtung schon gemacht wurden, was etwa die Prämierung von Mitgliederzahlen angeht oder von Spenden. Also, da ist noch ein weites Feld, was durch die Staatsrechtslehre unterstützt werden müsste, den Parteien Grenzen und Anreize institutioneller Art zu setzen.
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Herr Sommermann, Vertrauensverlust ja, das ist ein chronisches Phänomen, wobei allerdings – und das ist eine Frage der Wiederholung von Umfragen – es so aussieht gegenwärtig, dass die Eurobarometerzahlen deutlich besser aussehen als die der Momentaufnahmen anderer Umfrageinstitute, wie etwa die von Emnid oder des Sinusinstituts Also, nur in Deutschland erhoben bleibt es bei einem sehr starken Defizit in Sachen Vertrauenskrise. Die Eurobarometerzahlen zeigen an, dass es seit 2007 eine Verbesserung der Situation gibt. Wir können aber eins unterstellen, dass eins sich positiv niedergeschlagen hat: Der Umgang mit der Finanz- und Weltwirtschaftskrise wird den Regierungen positiv ausgelegt als eine Art, vor dem Abgrund stehend sich doch noch mal an der Kante festgehalten zu haben. Das wird rückgekoppelt durch eine Verstärkung des Vertrauens. Das ist aber kein dauerhaftes Phänomen, sondern die Entwicklung wird weiter nach unten gehen. Herr Klages, Politik gegen die Bevölkerung, ist das eine zwangsläufige Entwicklung? Ich meine ja. Wir haben natürlich Zwänge des Wirtschaftlichen – auf die habe ich auch schon hingewiesen –, wir haben verengte Handlungsspielräume der Politik, wir haben eine massive Auseinanderentwicklung des Inlandsprodukts und der Ausgaben, etwa für den Sozialstaat, dass jede Regierung hier Einschnitte vornehmen muss. Das Problem dabei ist aber nur, dass seit RotGrün diese Einschnitte einseitig ungerecht vorgenommen wurden. Und auch die Agenda-Politik war ein einseitiger Angriff auf die eigene Stammklientel, um gleichzeitig Steuerentlastungen für die Unternehmen vorzunehmen. Das hat eine so tiefe Verärgerung in der Stammwählerschaft der SPD ausgelöst, dass sie bis heute anhält, das heißt dadurch entstand ein abgrundtiefer Vertrauensverlust für die SPD, Partei der Arbeitnehmerschaft zu sein. Es fehlt an Ausgewogenheit. Ich glaube, in Deutschland, und Herr Klages, Sie werden mir das wahrscheinlich auch bescheinigen, ist eine Bereitschaft zu Reformen und Gürtel enger schnallen da, aber es muss – und dann kommt sofort der elementare Einwand – es muss gerecht zugehen. Und die Mehrheit der Bevölkerung hat den Eindruck, es geht in Deutschland nicht gerecht zu, sondern gegenteilig. Wir haben durch die Angebotspolitik, die sich neoliberal in den Köpfen der Regierenden festgesetzt hat, eine einseitige Förderung der Industrie, der Wirtschaft zu Lasten der Beschäftigten, zu Lasten der „kleinen Leute“. Und solange diese Politik weiterbetrieben wird, bleibt es bei der massiven Vertretungslücke und wird sich nicht schließen lassen. Herr Elster, war die Agenda ein Betriebsunfall? War sie nicht, sie war eine aus der Hüfte geschossene Notaktion, die im Kanzleramt nach massiven Wahlniederlagen entwickelt wurde und der SPD dann auf aufoktroyiert wurde, mit massiven Rücktrittsdrohungen des Kanzlers, das müssen wir auch noch in Erinnerung rufen. Es war eine Kurzschlussaktion, nicht abgestimmt, nicht durchdacht, übrigens als alternativlos dargestellt, obgleich es Alternativen gab, mit der Folge, dass nicht nur die SPD über Jahre frustriert und entfremdet wurde
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von der eigenen Führung, sondern dass auch die Stammwählerschaft der SPD davonlief und sich zu großen Teilen der Linken zugewandt hat mit der Folge, dass jetzt – das ist die logische Konsequenz – die SPD bei 23 % landet. Das ist für die SPD eine riesige Glaubwürdigkeitskrise, die ja zunächst erst einmal aufgearbeitet werden muss, indem man wieder glaubwürdige Interessenvertretungspolitik macht, und das wird der neuen Führung noch nicht abgenommen. Manipulative Tendenzen, natürlich gibt es die. Übrigens gibt es – und da bin ich vielleicht sehr skeptisch oder auch zynisch –, mittlerweile eine Entwicklung, bei der Regierungspolitik losgelöst ist von den Wählerwünschen erfolgt. Das ist so. Wahlkämpfe werden einer anderen Logik unterworfen, also man geht in Wahlkämpfe, verspricht auch verschiedene Politikkonzepte oder bestimmte Lösungsansätze, die man aber nicht ernst meint. Man hält sie übrigens so allgemein – das hat Otto Kirchheimer schon gesagt –, dass sie gar nicht greifbar sind, um sich dann der Regierungslogik zu unterwerfen. Und da gilt auch das Argument von Thomas Leif, dass in dem Moment, wo die Regierungslogik startet, man eigentlich Carl Jaspers zitieren kann – „Das Volk hat gewählt, das Volk kann gehen“ –, dass in dem Moment der Lobbyismus unmittelbar Zugang hat zu den Entscheidungsträgern und massiv auf die Politik einwirkt. Zum Beispiel in der Gesundheitspolitik, wo doch, was wir gegenwärtig erleben, ein Minister praktisch eine Vorlage von der Arzneimittelindustrie abgeschrieben hat, um Arzneimitteleinsparungen zu begrenzen. Das sind Verhältnisse, die greifen um sich, mit der Folge, dass – auch wenn das die Bevölkerung nicht immer weiß – sich ein Unbehagen breit macht, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht und schon gar nicht bürgernah. Und das führt insgesamt zu dem Wunsch nach Heilsbringern, der Obama-Effekt wurde ja genannt. Der wird in Deutschland jedoch schon deshalb nicht eintreten, weil die Parteien jeden Kandidaten, der Obama ähnlich wäre, vorher klein gerieben hätten durch die sogenannte Ochsentour. Und wenn wir ihn hätten, ist es nicht das, was wir brauchen. Was wir aber brauchen ist keine Sachbearbeitung der Politik, wir brauchen nicht große Visionen, aber wir brauchen – und dafür sind Parteien da – Erklärungen, Sinnvermittlung, wir brauchen Politik über den Tag hinaus. Wir benötigen eine Einbettung von einzelnen Problemen in Gesamtzusammenhänge, und das müssen Parteien leisten. Und die gegenwärtige Besetzung der Regierungsämter stellt das nicht sicher. Wenn man so will, brauchen wir eine Reform auch der Rekrutierung der politischen Klasse. Wie das aber glücken soll angesichts der Mechanismen, wie sie in Deutschland vorherrschen, da habe ich auch keinen Rat. Vielen Dank. Joachim Wieland: Vielen Dank Herr Wiesendahl. Auch wenn Sie damit geschlossen haben, dass Sie keinen Rat haben, haben Sie doch zuvor viel Rat gegeben. Das lässt
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uns etwas optimistischer in die Zukunft blicken, als das vielleicht zum Schluss bei Ihnen klang. Wir kommen jetzt zum Abschluss und Höhepunkt der Veranstaltung. Herr von Arnim wird zu uns sprechen.
Schlusswort Von Hans Herbert von Arnim
Ob das der Höhepunkt sein wird, da habe ich so meine Zweifel, aber wir hatten ja viele Highlights heute, und in jedem Fall war es, meine Damen und Herren, für mich heute ein Heimspiel. Wie ältere Fußballer, wenn sie aus der Mannschaft der Aktiven entlassen werden, von ihrem Club ein Abschiedsspiel ausgerichtet bekommen, bei dem zwar auch eine gegnerische Mannschaft dabei ist, aber man fair miteinander umgeht. Das habe ich als sehr schön und auch anregend empfunden. Das Forschungsinstitut hat mir mit dem heutigen Kolloquium ein wirkliches Geschenk gemacht. Herr Ziekow mit der Laudatio, Herr Wieland mit der Organisation und wissenschaftlichen Leitung, meine anderen Speyerer Kollegen mit der Diskussionsleitung, allen voran die Referenten des heutigen Tages mit ihren sorgfältig ausgearbeiteten Vorträgen und Sie alle, meine Damen und Herren, die Sie sich die Zeit genommen haben, heute hier zu sein und mit zu diskutieren. Ganz herzlichen Dank dafür. Lassen Sie mich noch mal – ja, es muss kurz sein, obwohl wir jetzt alle ein Bisschen müde und hoffentlich auch etwas hungrig sind – etwas zur Sache sagen. Wir hatten gesehen, typischer Gegenstand von Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache sind Regeln des Erwerbs, des Erhalts und der Ausübung, des Genusses, Herr Jung, der Macht. Dabei geht es nicht um den Nachweis, dass tatsächlich Missbrauch geübt wird. Auch sonst, wo in eigener Sache entschieden wird, reicht der böse Schein von Interessenkollisionen aus, um die Problematik des Verfahrens zu erkennen. Man weiß zwar nicht, was richtig ist, wie hoch die Diäten und die Altersversorgung sein sollen. Meistens weiß man aber immerhin, was unrichtig ist. Die steuerfreie Kostenpauschale von Bundestagsabgeordneten – da bin ich wohl mit den meisten einig – wäre schon längst vom Verfassungsgericht gekippt worden, wenn der civis ex populo, also Sie oder ich, dagegen zum Verfassungsgericht gehen könnte. Diese Möglichkeit gibt es aber bekanntlich nicht. Klar ist auch, dass die Vektoren, die auf Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache einwirken, unausgewogen sind. In solchen Fällen, das wissen wir aus Erfahrung, tendiert dann auch das Ergebnis, welches aus diesem Verfahren herauskommt, typischerweise zur Unausgewogenheit. Damit sind wir wieder beim bösen Schein.
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Hans Herbert von Arnim
Sehr schön fand ich, wie Herr Lang das Distanzgebot nutzbar gemacht hat. Zweifel habe ich aber, ob der Ausschluss von Steuerfragen bei Volksentscheiden, wie es deutscher Tradition entspricht, wirklich vergleichbar ist. Bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache geht es um Sondervorteile speziell für Abgeordnete, Fraktionen, Parteien etc. auf Kosten der Allgemeinheit. Herr Lang, Sie haben selbst, etwa im Anschluss an John Locke, hervorgehoben, dass es um Gesetze geht, die allein den Mitgliedern des Parlaments Vorteile bringen, die sie aber, so ist sinngemäß hinzuzufügen, nicht selbst bezahlen müssen. Im anderen Fall geht es dagegen um allgemeine Gesetze, bei denen die Steuerzahler die Vor- und Nachteile tragen. Ist in diesem letzteren Fall ein Distanzgebot wirklich gerechtfertigt? Die Schweiz kommt ja recht gut ohne ein solches zurecht. Was zu Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache zu rechnen ist, darüber waren wir uns nicht einig. Herr Lang hat das auf Diäten, das Abgeordnetengesetz, beschränkt; Entscheidungen über die Finanzierung von Fraktionen, Parteien und Parteistiftungen sowie das Wahlrecht hat er mangels Unmittelbarkeit aus dem Begriff ausgeklammert. Das scheint mir, wie in der Diskussion zu seinem Referat schon ausgeführt, zu eng und zu formal. Das Wahlrecht hat Herr Meyer als Wettbewerbsordnung charakterisiert, und die Wettbewerber entschieden selbst über diese Ordnung. Im Übrigen hat er das Thema ziemlich schnell verlassen, möglicherweise weil er es als selbstverständlich empfindet, dass die Politik auch hier in eigener Sache entscheidet. Möglicherweise aber auch, weil ihm der Begriff der Entscheidung des Parlaments in eigener Sache und die darin implizierte Problematisierung generell nicht recht gefällt. Denn sonst müsste er den Begriff zum Beispiel auch auf Entscheidungen des Parlaments über Fraktionszuschüsse erstrecken. Diese will Herr Meyer aber, wie er an anderer Stelle ausgeführt hat, durch die Geschäftsordnung des Parlaments geregelt sehen, kann in der Entscheidung des Parlaments als solcher also wohl noch nichts Problematisches erblicken, die man etwa durch speziellen Gesetzesvorbehalt dem Licht der Öffentlichkeit aussetzen müsse. Herr Jung hat die Thematik noch erweitert: Verlängerung der Wahlperiode und Größe der Parlamente. Herr Drysch hat auch die Abgeordnetenmitarbeiter miteinbezogen. Ich stimme beiden gerne zu. Was Verfassungsgebung und Verfassungsänderungen in eigener Sache anlangt, wäre auch die Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene oder ihre Erweiterung auf Landesebene einzubeziehen. Hier entscheidet das Parlament darüber, ob es einen Parallelgesetzgeber inthronisiert oder stärkt und damit seine alleinige Gesetzgebungskompetenz aufhebt oder schwächt. Ist das etwa keine Entscheidung in eigener Sache?
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Wir haben auch über den Bundesrat gesprochen, den der Parlamentarische Rat, im Gegensatz zum Senat, ebenfalls in einer weiteren Form der Entscheidung in eigener Sache durchgesetzt hat. Herr Meyer hat darauf hingewiesen, dass der Bundesrat oder überhaupt der derzeitige Zustand unseres Föderalismus zum Problem geworden ist. Auch hier kann man, meine ich, nur zustimmen. Würde man die Ministerpräsidenten, die ja im Bundesrat sitzen, direkt wählen, durch Volkswahl auf Landesebene – und das wäre ja auch durchsetzbar, weil in den Ländern Volksbegehren und Volksentscheid möglich sind, meist auch Verfassungsänderungen – hätten wir dann bei direkt gewählten Ministerpräsidenten im Bundesrat nicht eine gewisse Annäherung an einen volksgewählt Senat, den – wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Meyer – auch Sie befürworten würden? Lassen Sie mich den Bundesrat noch in einem anderen Zusammenhang ansprechen. Kurz wurde am Vormittag schon einmal der Versuch des Bundestags von 1995 erwähnt, seine Diäten an die Bezüge von Bundesrichtern anzukoppeln. Da das Verfassungsgericht Derartiges in Diätenurteil von 1975 untersagt hatte, wollte der Bundestag das Urteil dadurch unterlaufen, dass er beschloss, die Koppelung durch eine Änderung des Art. 48 ins Grundgesetz hineinzuschreiben. Das ist am „Nein“ des Bundesrates gescheitert. Dem Scheitern des Gesetzes waren massive öffentliche Kritik und ein offener Brief von 86 Staatsrechtslehrern vorausgegangen. Einige der Anwesenden erinnern sich daran sicher noch gut. Wir hatten an den Bundesrat appelliert, dem Gesetz nicht zuzustimmen, und der Bundesrat übernahm dann ganze Passagen des offenen Briefes wörtlich in seinem Beschluss, in dem er die Verfassungsänderung ablehnte. Also, der Bundesrat kann durchaus in die Diskussion um Gegengewichte gegen Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache einbezogen werden. Auch die Rechtsprechung gehört hierher. Wenn das Parlament bei der Wahlprüfung über die Gültigkeit der eigenen Wahl entscheidet, ist das eine klassische Entscheidung in eigener Sache, allerdings nicht der Gesetzgebung, sondern einer Art Rechtsprechung, die große Probleme aufwirft. Denn sie tritt an die Stelle von Rechtsmitteln gegen Rechtsverstöße im Vorfeld der Wahl, und bis es zur Entscheidung von Verfassungsgerichten als zweiter Instanz kommt (nach Ablehnung des Einspruchs durch das Parlament), ist die Wahlperiode oft schon fast vorbei. Was die Reaktionen auf Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache anlangt, haben wir verschiedene Ansätze gehört. Einer betraf die besonderen Öffentlichkeitsanforderungen, die das Verfassungsgericht in Diätenurteil von 1975 aufgestellt hat. Öffentlichkeit sei die einzige wirksame Kontrolle des in eigener Sache entscheidenden Parlaments. Herr Schulze-Fielitz hat Wert darauf gelegt, die Öffentlichkeitskontrolle besonders zu stärken. Eine Stärkung, die das Bundesverfassungsgericht selbst damals gefordert hat, ist der Gesetzesvorbehalt.
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Eine andere kann dahin gehen, eine spezielle Begründung zu verlangen, ausführlicher, eingehender, als sie normalerweise für Gesetze erforderlich ist. Eine andere Überlegung, die, glaube ich, noch nicht angesprochen worden ist, aber meines Erachtens besonders nahe liegt, ist, dass die Verfassungsgerichte strenger, intensiver, kontrollieren müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies im Diätenurteil von 1975 und im Parteienfinanzierungsurteil von 1992 ja auch praktiziert. Institutionelle Vorschläge: Herr Lang hat – ich weiß nicht mehr, ob es ein rechtspolitischer Vorschlag oder ein Vorschlag de constitutione lata war – jedenfalls hat er dafür votiert, Entscheidungen der Parlamente in Sachen Diäten sollten nur pro futuro, also mit Wirkung ab der nächsten Wahlperiode, getroffen werden dürfen, wie das die USA vor Jahren eingeführt haben. Was als Gegengewicht überall mit hinein spielte und dann zentral im Referat von Herrn Jung vorgeschlagen wurde, war die direkte Demokratie, also die mehrheitliche Entscheidung durch das Volk selbst. Es heißt ja immer, aus dem Bundestag, er könne gar nicht anders als in eigener Sache entscheiden, denn in Art. 48 stehe, das Nähere bestimmt das Gesetz. Und Gesetzgeber sei in der repräsentativen Demokratie Bundesrepublik nun mal das Parlament. Dabei wird regelmäßig übersehen, dass diese Argumentation auf die Länder nicht zutrifft. Dort gibt es noch ein zweites Gesetzgebungsverfahren. Dort ist Gesetz deshalb nicht notwendig ein Parlamentsgesetz, sondern kann auch ein Volksgesetz sein. Deshalb ist dort die Entscheidung des Parlaments in eigener Sache keineswegs ohne Alternative. Man muss deshalb die Frage stellen, ob hier das Volk nicht vielleicht selbst entscheiden muss, und zwar bereits nach geltendem Verfassungsrecht, eben, um Entscheidungen in eigener Sache zu vermeiden. Das von Herrn Jung vorgeschlagene fakultative Referendum wäre vielleicht ein Weg, einem solchen verfassungsrechtlichen Zwang zuvor zu kommen. Wesentliche Änderungen des Wahlrechts lassen sich ohnehin wohl nur am Parlament vorbei oder durch massiven Druck auf das Parlament durchsetzen. Herr Meyer sagte ja immer wieder, er befürworte das oder jenes zwar, es habe aber politisch sicher keine Chance, eben weil sich die Abgeordneten in eigener Sache nicht den Ast absägen wollen, auf dem sie sitzen. Dabei hatte er völlig Recht, soweit wir uns auf die repräsentative Demokratie beschränken; durch direkte Demokratie erscheinen Änderungen aber eher möglich, und dafür gibt es auch zahlreiche Beispiele. Das fakultative Referendum, welches Herr Jung in Bezug auf Diäten vorgeschlagen hat, reicht beim Wahlrecht nicht aus. Das sieht Herr Jung vermutlich genauso. Ich denke da an ein Beispiel, das allgemein als Erfolgsmodell gewertet wird, die Einführung der Direktwahl der Bürgermeister. Die gab es früher ja nur in Süddeutschland. Jetzt werden die Bürgermeister in allen Flächenländern direkt gewählt, obwohl Derartiges politisch lange als nicht durchsetzbar galt. Ich
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erinnere an das Buch des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker aus dem Jahre 1992, wo dieser die Direktwahl zwar für wünschenswert hielt, aber beklagte, dass die Parlamente in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder sonst wo nicht bereit seien, sie einzuführen. Sie wurde dann dennoch durchgesetzt – durch direkte Demokratie. Im Wege von Volksbegehren oder glaubwürdig angedrohten Volksbegehren wurden den Parlamenten Beine gemacht. Also das bloße Referendum reicht nicht aus, wo es um ein Unterlassen notwendiger Änderungen geht. Auch die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten wäre in diesem Zusammenhang zu diskutieren. Das geht in die Richtung, die Herr Rupp mit seiner Forderung nach Direktwahl des Kommissionspräsidenten angesprochen hat. So habe ich ihn jedenfalls verstanden. Auch Herr Wiesendahl sprach davon, eine außerparteiliche Kontrolle könne ein wichtiger Ansatz zum Besseren sein. Das Problem ist natürlich, dass wir direkte Demokratie derzeit nur auf Landes- und Kommunalebene haben, während das Parteienrecht Bundesrecht ist, so dass man es mit direkter Demokratie bisher nicht packen kann. Ein Grund, warum man im Bundestag direkte Demokratie scheut, scheint mir gerade im Umstand zu liegen, dass dann das Volk auf das Eingemachte der politischen Klasse, vor allem auf ihr Staatsgeld und ihren ganzen Status zugreifen könnte. Aber es war ja immer schon so, dass öffentliche Diskussion und Kritik Dinge, die im Augenblick noch utopisch erscheinen, in Zukunft dann doch plötzlich möglich machen, manchmal quasi über Nacht. Das hat, wer schon ein bisschen länger lebt wie ich, immer mal wieder erlebt. Wenn man direkte Demokratie auf Bundesebene einführen würde und das auch auf die Verfassung bezöge, hätte man ja auch eine gewisse Annäherung an wirkliche Volkssouveränität hergestellt. Denn dann könnte das Volk die Verfassung ändern. Tut es das nicht, könnte man das – ohne die bisherigen Fiktionen – als Einverständnis mit der geltenden Verfassung ansehen. Missbrauch könnte durch die nötigen Quoren verhindert werden. Aber man könnte ja auch weniger weit gehen und Volksbegehren, Volksentscheid nicht für alles einführen, sie vielmehr auf die Regeln des Machterwerbs, des Machterhalts und des Machtgenusses begrenzen. Mut hat mir gemacht, dass einige Kollegen, Staatsrechtslehrer, die grundsätzlich gegen direkte Demokratie eingestellt sind, bei Entscheidungen über Regeln der Macht eine Ausnahme konzedieren, weil hier die Missbrauchsgefahr und die Folgen für die Legitimation des ganzen Systems besonders groß sind. Es bleibt also noch einiges über direkte Demokratie nachzudenken. Dazu gehört meines Erachtens auch die Gretchenfrage, die Herr Wiesendahl in seinem Referat aufgeworfen hat: Werden Regierungen und Parteien sich die bei nachlassendem Wirtschaftswachstum, zunehmendem globalen Wettbewerb
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und einer schnell alternden Gesellschaft möglicherweise erforderlichen Rückschneidungen des Wohlfahrtsstaates politisch leisten können? Der Wahlverlust von Schröders SPD bei der Bundestagswahl 2005 nach Hartz IV, der FastWahlverlust von Merkels Union nach dem Leipziger Parteitag scheinen darauf hinzudeuten, dass Regierungen Einschränkungen des Sozialstaats politisch nicht überleben. Die große Frage ist, ob das an den Parteien, am System oder an den Bürgern liegt. Hätte die Schröder/Fischer-Regierung die sozialen Einschränkungen gerechter verteilen und sie dann auch besser in der Öffentlichkeit kommunizieren können, wie Herr Wiesendahl meint, und dann auch nicht das Fischen der Linken im Wählerpotenial der Volksparteien provoziert? Erlaubt unser System es vielleicht gar nicht, Schweiß-Blut-und-Tränen-Programme glaubwürdig zu vertreten, weil gegnerische Parteien, die im Bundesrat die Mehrheit besitzen, sie schon im Vorfeld zerpflücken? Wie ist die Zustimmung der Bürger zu volkswirtschaftlich möglicherweise unausweichlichen Härten zu erlangen? Damit hat Herr Wiesendahl zentrale Fragen der Ökonomie und des Rechts angesprochen, die meines Erachtens den Kern unseres Systems berühren, die schlüssig zu beantworten aber ein weiteres Symposium erfordern würde. Allen nochmals ganz herzlichen Dank! Ich hoffe, Sie haben Appetit, wir sehen uns um 19 Uhr drüben im „Domhof“.
Dinnerspeech „Domhof“ Von Hans Herbert von Arnim
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde, Kollegen, Doktoranden und Mitarbeiter (frühere und gegenwärtige)! Meine Frau und ich freuen uns sehr, Sie alle heute Abend hier begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Sie haben alle einen guten Platz gefunden und fühlen sich wohl. Sie haben ja den ganzen Tag über kräftig im Kolloquium diskutiert und sich eine gute Mahlzeit redlich verdient – und die anderen, die nicht mitdiskutiert haben, sozusagen als Entschädigung erst recht. Mit 70 kann man ja auf eine längere wissenschaftliche Laufbahn zurückblicken. Professor zu sein habe ich als ein großes Privileg empfunden. Der deutsche Professor hat wohl die freieste Stellung, die ein Wissenschaftler nur haben kann – und wird auch noch staatlich alimentiert. Keiner braucht mehr zu fürchten, wegen kritischer Äußerungen, die der Obrigkeit missfallen, von der Universität gejagt zu werden – wie früher die Göttinger Sieben, von den Repressalien totalitärer Staaten gar nicht zu reden. Die grundgesetzlich garantierte wissenschaftliche Freiheit und die Anstellung auf Lebenszeit sichern den Status ab. Für einen unabhängigen Geist geradezu ein Traumjob – aber auch eine Verpflichtung, die Unabhängigkeit nicht für ein paar Silberlinge dreinzugeben. Was die Lebenszeitanstellung wirklich wert war, wurde mir bei meiner Pensionierung noch einmal deutlich, als die beantragte Verlängerung, vom Speyerer Rektor nachdrücklich befürwortet, von der Staatskanzlei abgelehnt wurde, deren inhaltliche Begründung ihrer formalen Mangelhaftigkeit entsprach. Sie enthielt nicht einmal eine Rechtsmittelbelehrung. Der Jurist weiß, was das heißt. Inzwischen hatte ich aber gemerkt, dass das Dasein eines pensionierten Professors nicht weniger reizvoll ist, und sollte der Staatskanzlei für ihr damaliges Nein eigentlich dankbar sein. Früher hatte ich mich alle vier oder fünf Jahre auf ein Forschungssemester gefreut. Jetzt habe ich plötzlich nur noch Forschungsminister. Und dabei steht mir nach wie vor das Forschungsinstitut zur Seite, das mir auch mit dem heutigen Kolloquium ein großes Geschenk gemacht hat – wie Sie alle, die sie der Einladung gefolgt sind. Besonders aber gilt Ihnen, Herr Wieland, der Sie die Veranstaltung vorbereitet haben, mein Dank und natürlich auch den Referenten und den Diskussionsleitern!
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Für meine alljährlich stattfindenden Speyerer Demokratietagungen kann ich immer noch auf die bewährte Infrastruktur der Hochschule zurückgreifen, was ich ebenfalls sehr zu schätzen weiß. Zur guten Resonanz der Tagungen haben viele der heute hier Anwesenden beigetragen, als Referenten oder als Mitarbeiter. Dabei war mir ursprünglich gar nicht in den Sinn gekommen, Professor zu werden. Aus sehr engen finanziellen Verhältnissen kommend wollte ich – horribile dictu – vor allem eins: viel Geld verdienen. Erst die Arbeit an meiner Dissertation über „Die Verfallbarkeit betrieblicher Ruhegeldanwartschaften“ in Heidelberg zeigte mir, wie unerhört begeisternd es sein kann, Probleme neu zu durchdenken – in der (zumindest subjektiven) Gewissheit, dass Rechtsprechung, Gesetzgebung und Lehre schließlich gar nicht mehr anders können, als dem zu folgen. Mein Doktorvater war der Heidelberger Arbeitsrechtler Hermann Weitnauer. Ihm verdanke ich viel. Er hat mir die Promotion in kürzester Zeit ermöglicht – wir waren damals schon eine dreiköpfige Familie und finanziell unter Druck. Immerhin hat die Dissertation dann die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Gesetzgebung zu einer Kehrtwendung veranlasst. Seitdem verfallen Ruhegelder beim Wechsel des Unternehmens nicht mehr. Die Speyerer Hochschule war von Anfang an meine erste Wahl und ist es immer geblieben. Ich hatte mich als Externer in Regensburg habilitiert, und von außen war es am Anfang gar nicht so einfach mit der akademischen Karriere. So war es ein Glücksfall, dass ich 1980 auf der Tagung der Vereinigung der Staatsrechtslehrer in Innsbruck vortragen durfte, also vor der crème de la crème der Zunft. Der eigentlich vorgesehene Referent, Wolfgang Knies, war ausgefallen, weil er Kultusminister in Niedersachsen geworden war, und ich konnte kurzfristig einspringen – mit dem Thema „Besteuerung und Eigentum“. Erstreferent zum selben Thema war Paul Kirchhof, der heute Abend leider nicht mehr dabei sein kann, weil er einen Vortrag in Mannheim hält. Ich war mit den heiligen Usancen der Staatsrechtslehrervereinigung damals allerdings noch nicht vertraut. Das äußerte sich zum Beispiel darin, dass ich mir einige Tage Bedenkzeit erbat, als der damalige Vorsitzende der Vereinigung, Klaus Vogel, mich anrief. Mein Habilvater, der Öffentlichrechtler Hermann Soell, der mich in Regensburg durch die Habilitation gebracht und weit über das übliche Maß hinaus gefördert hat, schlug die Hände über den Kopf, als er von der Bedenkzeit erfuhr. „Wenn man einmal eine solche Chance bekommt, kann man sich doch keine Bedenkzeit ausbedingen!“ meinte er ganz entgeistert: Ich habe dann ganz schnell zugesagt. Plötzlich hatte ich dann drei Rufe auf Lehrstühle verschiedener Universitäten auf einmal. Doch Speyer war wie selbstverständlich der Favorit. Als meine späteren Speyerer Kollegen Willi Blümel und Frido Wagener direkt nach dem Vor-
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trag in Innsbruck auf mich zukamen und fragten, ob ich nach Speyer käme, war ich im siebten Himmel. Mich reizte natürlich die Nähe zu Heidelberg, wo ich Schulzeit und Studium verbracht und mein Herz verloren hatte. Mich reizte auch die Arbeit mit weit fortgeschrittenen Hörern und natürlich der Charakter Speyers als halbe Forschungshochschule. Nicht umsonst werden 95 % der Rufe, die Speyerer Professoren an andere Universitäten erhalten, abgelehnt. Aber vor allem reizte die Interdisziplinarität, auch wenn sich dann allmählich zeigte, dass das wirklich fruchtbare interdisziplinäre Arbeiten ganz tief, das heißt, bereits bei den methodischen Wurzeln der verschiedenen Fächer, ansetzen muss, so dass es nicht nur inter-personal erfolgen kann, sondern meist auf intra-personales Arbeiten – das heißt im eigenen Kopf – angewiesen bleibt. Umfassendes problemorientiertes Forschen ist meines Erachtens nur interdisziplinär möglich. Mir hat das bei meinen Analysen geholfen – zusammen mit der unter Wissenschaftlern seltenen Bereitschaft, methodisch kontrollierte Wertungen anzustellen. Meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, ob sie Juristen, Ökonomen oder Sozialwissenschaftler waren, wurden dadurch manchmal ganz schön gefordert – vielleicht aber auch bereichert. Jedenfalls habe ich viel von meinen Mitarbeitern profitiert, auf deren Schultern mein langjährige Sekretärin Christa Betz steht, die immer noch für mich da ist und für jeden sichtbar zeigt, wie ihr die Arbeit Freude macht. Für den Juristen gilt oft immer noch „Judex non calculat“. Er weiß häufig mit Zahlen wenig anzufangen. Zudem pflegt er sich auf den Einzelfall zu konzentrieren. Der Ökonom kann dagegen gar nicht ohne Zahlen auskommen. Auch neigt er dazu, die Daten zu einem Gesamtbild zu aggregieren. Beide Sichtweisen, die mir seit dem Studium vertraut sind, ergänzen sich zur Erfassung sozioökonischer Probleme ganz gut. Das Werten – außerhalb der juristischen Auslegung von Gesetzen und Verfassungen – kommt allerdings in beiden Disziplinen leicht zu kurz, jedenfalls das Werten aus der Sicht des Souveräns, des Bürgers. Der Politikwissenschaftler, deren Produktion ich aufmerksam verfolge, betrachtet die Dinge oft aus der Sicht von Politikern und produziert Herrschaftswissen; genau wie die Verwaltungswissenschaft dies oft aus der Sicht der Verwaltung tut. Für konsequentes Werten aus der Perspektive der Bürger besteht deshalb besonderer Bedarf. Meine Kollegen, vor allem die Rektoren, die dauernd mit der Politik zu tun haben, haben sich nie über den unbequemen Kollegen beklagt. Das rechne ich ihnen hoch an. Als ich selbst Rektor war, setzte allerdings der Innenausschuss des Bundestages, dem ich bei seinen Wünschen zur Parteienfinanzierung ein Dorn im Auge war, den Bundesrechnungshof nach Speyer in Bewegung. Das zur Hälfte vom Bund finanzierte Forschungsinstitut wurde auf Herz und Nieren geprüft. Doch mit dem Ergebnis konnten wir gut leben. Denn der Rechnungshof stellte fest, dass das Forschungsinstitut zu wenig Stellen hätte.
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Speyer ist mir ans Herz gewachsen und inzwischen auch meiner Frau, die ursprünglich vom Umzug nach Speyer gar nicht so begeistert war. Doch das ist 30 Jahre her. Inzwischen fühlen sich alle hier so wohl, dass auch unsere Kinder und Enkel uns gern und oft besuchen. Und Hochschule und Forschungsinstitut – mit dem Fahrrad kaum drei Minuten Wegs von zu Hause – sind immer noch die vertraute Alma Mater. Deshalb freuen meine Frau und ich uns, dass auch so viele Speyerer Kollegen – jüngere und nicht mehr ganz so junge – und ihre Partner, die uns lieb und vertraut geworden sind, unserer Einladung gefolgt sind. Jetzt wünsche ich Ihnen allen weiterhin guten Appetit und gute Gespräche.
Autorenverzeichnis Professor Dr. Hans Herbert von Arnim ist ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunalrecht, Haushaltsrecht, Verfassungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Dr. h.c. Ulrich Battis ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Verwaltungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Professor Dr. Frank Decker ist Geschäftsführender Direktor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Dr. Thomas Drysch ist Leiter des Finanzamtes Bad Neuenahr-Ahrweiler. Michael Elster ist Erster Kreisbeigeordneter der Kreisverwaltung Rhein-Pfalz-Kreis, Ludwigshafen. Professor Dr. Stefan Fisch ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte, insbesondere Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte sowie Rektor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Albert Janssen ist Direktor i. R. beim Niedersächsischen Landtag in Hannover. Dr. Otmar Jung ist Privatdozent im Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Professor Dr. Dr. h.c. mult. Paul Kirchhof ist Bundesverfassungsrichter a. D. sowie Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Professor Dr. Helmut Klages ist ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für empirische Sozialwissenschaften, insbesondere Soziologie (Organisations- und Verwaltungssoziologie) an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Dr. Klaus König ist ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft, Regierungslehre und Öffentliches Recht an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Heinrich Lang ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Professor Dr. Thomas Leif ist Politikwissenschaftler und Chefreporter Fernsehen beim Südwestrundfunk (SWR) Mainz sowie Honorarprofessor der Universität KoblenzLandau.
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Professorin Dr. Gertrude Lübbe-Wolff ist Richterin am Bundesverfassungsgericht und Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld. Professor Dr. Siegfried Magiera ist ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, insbesondere Völker- und Europarecht/Jean-Monnet-Lehrstuhl ad personam für Europarecht an der Deutschem Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Dr. Detlef Merten ist ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, insbesondere Wirtschaftsverwaltungsrecht und Sozialrecht an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Hans Meyer ist ehemaliger Lehrstuhlinhaber an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Professor Dr. Martin Morlok ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie sowie Direktor des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht und Parteienforschung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Professor Dr. Dietrich Murswiek ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, für Deutsches und Internationales Umweltrecht sowie Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Professor Dr. Dr. h.c. Rainer Pitschas hat eine Seniorprofessur für Verwaltungswissenschaft, Internationale Beziehungen und Öffentliches Recht an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Heinrich Reinermann ist ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsinformatik an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Hans Heinrich Rupp war Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Professor Dr. Helmuth Schulze-Fielitz ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaften an der Universität Würzburg. Professor Dr. h.c. Karl-Peter Sommermann ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtsvergleichung an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Rainer Wahl ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungswissenschaft, Neuere Verfassungsgeschichte und Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg i. Br. Professor Dr. Wolfgang Weiß ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.
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Professor Dr. Joachim Wieland ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Professor Dr. Elmar Wiesendahl ist Soziologe und Politikwissenschaftler, war zuletzt Leiter des Fachbereichs Human- und Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Jetzt ist er Geschäftsführer von APOS – Agentur für politische Strategie in Hamburg. Professor Dr. Jan Ziekow ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht, an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer sowie Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung Speyer.