Entfremdung durch Digitalisierung: Walter Benjamins kritische Ästhetik im 21. Jahrhundert 9783495823972, 9783495491768


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Inhalt
1 Einleitung – und Problemanzeigen
2 Verortung im Binnenproblem: Benjamin – Frankfurter Schule
2.1 Historische Verortung im Binnenproblem
2.2 Systematische Verortung ebenda
3 Hypothesen zum Binnenproblem
4 Daten
4.1 Walter Benjamin, aus: A) »Vorrede« – B) »Kunstwerk« – C) »Kindheit« – D) »Passagen«
4.2 Theodor W. Adorno, aus: A) »Dialektik« – B) »Kulturindustrie« – C) »Minima Moralia« – D) »Negative Dialektik«
5 Datendiskussion
5.1 Erkenntniskritisch
5.2 Ideologiekritisch
5.3 Binnenlösung – und auf heute bezogen: Walter Benjamins »bucklicht Männlein«
6 Hauptfrage: Entfremdung durch Digitalisierung
6.1 »Entfremdung« gegen »Seele«
6.2 Digitalisierung gegen »Seele« und »Leib«
6.2.1 Exkurs und Kern: Fortschritt als Verkünstlichung
6.2.2 Weiter zu Digitalisierung vs. »Seele« und »Leib«
6.3 Achtsamkeit als Therapeutik
6.3.1 »Resonanz« und das Wesen des Lebens
6.3.2 Achtsamkeit: Praxis der Nicht-Normativität
7 Rückblick und Fazit
Literaturverzeichnis
– Gebundene Literatur –
– Presse und Internetseiten –
Personenregister
Sachregister
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Entfremdung durch Digitalisierung: Walter Benjamins kritische Ästhetik im 21. Jahrhundert
 9783495823972, 9783495491768

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Seele, Existenz und Leben Band 36

Silja Luft-Steidl

Entfremdung durch Digitalisierung Walter Benjamins kritische Ästhetik im 21. Jahrhundert

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823972

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B

Silja Luft-Steidl

Entfremdung durch Digitalisierung

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Seele, Existenz und Leben Band 36 Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie, Forschungskreis Lebensphänomenologie, Universität Freiburg i. Br. und Department of Philosophy DePaul University, Chicago

https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Silja Luft-Steidl

Entfremdung durch Digitalisierung Walter Benjamins kritische Ästhetik im 21. Jahrhundert

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Silja Luft-Steidl Alienation through digitalization Walter Benjamin’s critial aesthetics in the 21st century Connections between aesthetics, psychology, culture, politics, and economics were brilliantly expressed with the Critical Theory of the Frankfurt School and its protagonists Horkheimer and Adorno. Set in the idea of Kant’s call for enlightenment, for the exposure of relations of domination by politics, economics, and the cultural industry, its influence is relatively quietly audible in the neoliberal post-modern era. The present study makes the aesthetically and metaphysically based thinking of Walter Benjamin productive in connection with Critical Theory and proposes it as a response to overwhelming digitalization. Digital progress stands in the same line of a rampant »artificialization« (Luft-Steidl) as the destruction of the goods body, nature and life in general, which in turn is responsible in the Western world not only for the ecological but also for its crisis of meaning and religion. Artificialization is the formula under which human alienation from natural life qua progress, i. e. industrially produced mass culture, is now escalating into a radical enmity against himself and all his surroundings.

The Author: Silja Luft-Steidl, Dr. phil., Mag. theol., was professionally influenced by the depth psychological-therapeutic theology of Eugen Drewermann, the critical theory of the Frankfurt School as well as methodologically by the life phenomenology of French origin of the 18th to 20th century. Prior to her academic studies she managed a naturopathic manufacturing company for 15 years. She now teaches her current fields of anthropology, natural philosophy, philosophy of religion and aesthetic philosophy of life as a freelance lecturer and speaker in adult educational institutions. On her listed restoration farm in Middle Franconia, an aesthetic as well as ecological reanimation, she is currently building the »harmonia – Center for Philosophy of Life«.

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Silja Luft-Steidl Entfremdung durch Digitalisierung Walter Benjamins kritische Ästhetik im 21. Jahrhundert Zusammenhänge von Ästhetik, Psychologie, Kultur, Politik und Wirtschaft wurden mit der Kritischen Theorie Frankfurter Schule und deren Protagonisten Horkheimer und Adorno fulminant ausgedrückt. In der Idee von Kants Aufklärungsruf angelegt, zur Aufdeckung von Herrschaftsverhältnissen durch Politik, Wirtschaft und Kulturbetrieb, ist ihr Einfluss in der neoliberalen Nachmoderne relativ leise hörbar. Mit der vorliegenden Studie wird das ästhetisch und metaphysisch basierte Denken Walter Benjamins im Zusammenhang mit der Kritischen Theorie fruchtbar gemacht und als Entgegnung einer überwältigenden Digitalisierung vorgeschlagen. Der digitale Fortschritt steht in derselben Linie einer grassierenden »Verkünstlichung« (Luft-Steidl) wie die Vernichtung der Güter Leib, Natur und Leben überhaupt, was wiederum in der westlichen Welt nicht nur für die ökologische, sondern auch für deren Sinn- und Religionskrise verantwortlich ist. Verkünstlichung ist die Formel, unter der die Entfremdung des Menschen vom natürlichen Leben qua Fortschritt, d. h. industriell erzeugter Massenkultur, inzwischen zu einer radikalen Feindschaft gegen sich selbst und alle Umgebung eskaliert.

Die Autorin: Silja Luft-Steidl, Dr. phil., Mag. theol., wurde fachlich geprägt durch die tiefenpsychologisch-therapeutische Theologie Eugen Drewermanns, die Kritische Theorie Frankfurter Schule sowie methodologisch von der Lebensphänomenologie französischer Herkunft des 18. bis 20. Jahrhunderts. Vor ihren akademischen Studiengängen leitete sie 15 Jahre eine naturheilkundliche Herstellerfirma. Ihre heutigen Fachgebiete Anthropologie, Naturphilosophie, Religionsphilosophie und ästhetische Lebensphilosophie lehrt sie als freie Dozentin und Referentin in Erwachsenen-Bildungseinrichtungen. Auf ihrem denkmalgeschützten Sanier-Bauernhof in Mittelfranken, eine ästhetische wie ökologische Reanimierung, errichtet sie zurzeit das »harmonia – Zentrum für Lebensphilosophie«.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Covermotiv: Paul Klee, Angelus Novus (1920) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49176-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82397-2

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Inhalt

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Einleitung – und Problemanzeigen . . . . . . . . . . . .

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Verortung im Binnenproblem: Benjamin – Frankfurter Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Historische Verortung im Binnenproblem . . . . . . . . 2.2 Systematische Verortung ebenda . . . . . . . . . . . .

14 14 16

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. . . . . . . . . . . .

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4 Daten zum Binnenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Walter Benjamin, aus: A) »Vorrede« – B) »Kunstwerk« – C) »Kindheit« – D) »Passagen« . . . . . . . . . . . . . 4.2 Theodor W. Adorno, aus: A) »Dialektik« – B) »Kulturindustrie« – C) »Minima Moralia« – D) »Negative Dialektik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 5.1 5.2 5.3

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hypothesen zum Binnenproblem

Datendiskussion . . . . . . . . . . . . Erkenntniskritisch . . . . . . . . . . . Ideologiekritisch . . . . . . . . . . . . Binnenlösung – und auf heute bezogen: Walter Benjamins »bucklicht Männlein«

6 Hauptfrage: Entfremdung durch Digitalisierung . . . . . 6.1 »Entfremdung« gegen »Seele« . . . . . . . . . . . . . 6.2 Digitalisierung gegen »Seele« und »Leib« . . . . . . . 6.2.1 Exkurs und Kern: Fortschritt als Verkünstlichung 6.2.2 Weiter zu Digitalisierung vs. »Seele« und »Leib« 6.3 Achtsamkeit als Therapeutik . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 »Resonanz« und das Wesen des Lebens . . . . . 6.3.2 Achtsamkeit: Praxis der Nicht-Normativität . . .

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. 46 . 46 . 59 . 64 . 68 . 85 . 94 . 110 7

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Inhalt

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Rückblick und Fazit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 – Gebundene Literatur – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 – Presse und Internetseiten – . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Sachregister

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1 Einleitung – und Problemanzeigen

Die weltweiten Umwälzungen des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts wie die politische Auflösung des Ostblocks, die wirtschaftliche Globalisierung und auch die bisherige mediale Digitalisierung haben das moderne Hoffen und Bemühen auf ein besseres Wohlergehen und ein friedliches Miteinander möglichst vieler Menschen nicht erfüllt. Es klingt schon müßig, solche Desillusionierungen zu äußern, und doch verlangt die Analyse eine Standortbestimmung. Das gilt sicher besonders bei dem gerade erst angegangenen medialen Digitalisierungsprojekt in seiner politischen, zeitlichen und praktischen Vehemenz, die, ganz abgesehen technischsozialer Erschütterungen, ein allgemein kritisches Reflektieren kaum zulässt. Man erinnere somit bei den einstigen Hoffnungen bereits an die Bemühungen der Aufklärungs-Vordenker des 18. Jahrhundert um technische, kulturelle und politische Fortschritte, letztlich um eine humanere Welt. Stattdessen erzeugen die aktuellen Entwicklungen komplexe, zum Teil katastrophale Probleme oder sind von solchen begleitet. Beispielsweise geht ein gemäß Samuel Huntington eingetretener Clash of Civilizations, der gegen die Meinung dieses Autors wohl mehr von wirtschaftlichen als von kulturellen sowie von noch gar nicht klar bestimmten Differenzen geschürt wird (so sicherlich im Fall von Extremismus, neuen faschistoiden bis faschistischen Regimes, Terror bis zu neuer atomarer Kriegsgefahr), in vielen Staaten der Erde mit Spezialproblemen einher. Darunter sind sicherlich regionale Militärkonflikte und Kriege zu zählen, Auswirkungen einer nicht verarbeiteten Globalisierung und eines wohl nicht nur menschlich verursachten Klimawandels sowie auch politische Selbstverständnisse, die eine moderne Vernunft nie erwartet hätte. Umgekehrt steht gerade diese Vernunft zunehmend vehement auf der Anklagebank 1, Metapher entlehnt von Leszek Kolakowski: Die Moderne auf der Anklagebank, Zürich 1991.

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Einleitung – und Problemanzeigen

unter anderem wegen der aus ihrer Wettbewerbsgesinnung hervorgegangenen, einst freiheitlich intendierten, inzwischen exzessiven und vor allem ökologisch destruktiven kapitalistischen Wirtschaftsweise. Mit dem Aufgezählten kann die gesellschaftliche und gar die globale Gegenwart in Sachlagen und theoretischen Einstellungen gewiss nur andeutungsweise skizziert sein. Wenn seit etlichen Jahren auf populärwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Wegen vernehmbar lautstarke Kritiken gegen Tatbestände ergehen wie gegen die Zerstörung der Ökosphäre (bewusst geworden etwa mit dem Comeback und den Stimmen eines Club of Rome), die Ausbeutung und Verelendung der südlichen Hemisphäre (etwa durch Menschenrechtskämpfer wie Jean Ziegler), fehlerhafte außenpolitische Diplomatie (etwa durch Korrespondenten wie den 2014 verstorbenen Peter Scholl-Latour), das kapitalistische Konzern- und Finanzwesen (etwa durch Aktivisten wie Stéphane Hessell) oder gegen leibhafte Niederschläge der digitalen Technik (etwa durch Therapeuten wie Manfred Spitzer), um wiederum nur beispielhaft Topoi und Exponenten anzuführen, so sind dies Themen, die aufgrund der Ubiquität heutiger Organisations-, Arbeits- und Lebensweisen alle Menschen etwas angehen. Dazu kann wohl mit der in den europäischen und deutschen Wohlstand eingebrochenen Flüchtlingsnot auch gesagt werden, dass eine früher beobachtbar häufige Haltung wie »Was juckt mich Afrika?« weitgehend vorbei ist. Nachdem Kritiken wie genannt selbst schon zur vertrauten Szenerie des spätmodernen Geschehens geworden sind (mit einer diesem Faktum innewohnenden Ambivalenz, die noch behandelt werden wird), liegt es nahe zu fragen, wie die im Deutschsprachigen sogenannten Geisteswissenschaften auf den Komplex von Problemfeldern und ihrer Kritikwürdigkeit reagieren. Philosophisch (im weitesten, interdisziplinären Sinne) drängt sich unter einem wachsenden Feld sehr besorgter Publizierungen insbesondere die Tradition der Kritischen Theorie Frankfurter Schule auf, weil diese für die kritische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft ausgewiesen ist. Durchaus ergehen gegenwärtig auch Stimmen, die sich mit der Konstitution der modernen Vernunft selbst befassen, also im Sinne der Frankfurter Schule den Verhältnissen an die Wurzel gehen wollen. 2 Man beachte außerhalb der Frankfurter Schule (oder sich an Im grundlegenden Werk zur Kritischen Theorie, der Dialektik der Aufklärung (verfasst 1939–44), teilen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno den Ruf der Auf-

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Einleitung – und Problemanzeigen

diese anlehnend) etwa Peter Sloterdijks Reflexionen zu Stress und Freiheit 3 sowie neoaristotelisch oder ultraaristotelisch verfasste Konzepte wie Martha C. Nussbaums »Capability«-Ansatz 4 bzw. Harald Welzers »Transformationsdesign« 5. Damit sei jedenfalls eingeführt, dass eine Kritische Theorie, die dem Denken der Frankfurter Schule treu bleibt, sich unter anderem mit Topoi wie dem guten Leben, Freiheit und Autonomie auseinandersetzen müsste. Die genannten Positionen kann man aus Gründen, die im systematischen Abschnitt dieser Untersuchung umfassender genannt werden sollen, ungeachtet ihres Engagements nicht als Kritische Theoretiker bezeichnen. Indem auch zum historischen Kontext hier kurz vorgegriffen wird, so waren bis vor kurzem außer der Persönlichkeit eines Axel Honneth jüngere Tradenten einer nunmehr dritten Generation der Frankfurter Schule kaum nennenswert. Emil Walter-Buschs Historie der Frankfurter Schule (2010) tendierte daher zur Übernahme von Niklas Luhmanns Urteil über ihre heutige Lage als der eines »erloschenen Vulkans des Marxismus« 6 und schrieb dies ihrer einstigen Kontextabhängigkeit zu. Wenngleich der türkische Philosoph Muharrem Acikgöz mit einem internationalen Forschungsskopus und einer speziellen Untersuchung 37 aktuelle allein deutschsprachige Kandidaten ermittelt hat, 7 so dürfte als expliziter Bekenner zur Kritischen Theorie im Moment nur der Soziologe Hartmut Rosa herausragen. Aufgrund dieser eher schwachen wissenschaftlichen Anzeige 8 und den anfangs genannten Sachsituationen liegt es nahe, nach Ressourcen für die Bildung einer zeitgemäßen (und möglichst für längere Zeit auch zukunftsfähigen) Kritischen Theorie zu suchen. Bei einer Anzeige wie beschrieben bietet sich die Recherche und Fruchtbarmachung der Tradition selbst an. Möglicherweise gibt es in Randpositioklärung, stets die eigenen Bedingungen zu hinterfragen. Sie formulieren dann die Hypothese, wie sich diese Rationalität an die gesellschaftliche Realität aus Herrschaft und Beherrscht-Werden fügt. Dieses Umschlagen beschreibt u. a. S. 100. Die einige Zeilen zuvor angedeutete »Ambivalenz« hängt hiermit zusammen. 3 Vgl. Peter Sloterdijk: Streß (sic!) und Freiheit, Berlin 2011. 4 Vgl. Martha C. Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a. M. 72012. 5 Vgl. Bernd Sommer / Harald Welzer: Transformationsdesign, München 2014. Vgl. auch H. Welzer: Selbst Denken, Frankfurt a. M. 62014. 6 Emil Walter-Busch: Geschichte, S. 236. 7 Vgl. Muharrem Acikgöz: Die Permanenz der kritischen Theorie, Münster 2014. 8 Diese, d. h. eine Art Hemmung zu entschiedenem Eintreten, hängt möglicherweise auch mit dem noch zu besprechenden »postmodernen« Zeitgeist zusammen.

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Einleitung – und Problemanzeigen

nen der Frankfurter Schule, die als solche weniger rezipiert wurden, Ressourcen zu schöpfen. Aus zunächst inhaltlichen Gründen kommt das Denken Walter Benjamins mit seinen Arbeitsfeldern der Ästhetik, der Medialität und der Urbanität in den Sinn. Walter Benjamin ist seit einiger Zeit in der internationalen medien- und kulturwissenschaftlichen Rezeption zu einer Art Star rangiert, womit einhergeht, dass die philosophische Untersuchung seines Denkens im Kontext der Frankfurter Schule als anachronistisch zu gelten scheint. 9 Doch ein Aufgreifen dieses Kontextes, mit anderen Worten die Suche nach der »Kritischen Theorie« bei Benjamin, könnte insofern ergiebig sein, als sich der genannte Hartmut Rosa heute mit entsprechenden Themen in ihrer Diktatwirkung über den modernen Lebensstil befasst. 10 Dabei liegen für Rosa leibliche Bestimmungsmächte über das Individuum stark im Blick, wie sie durch ein phänomenologisch bezogenes Denken Walter Benjamins ebenfalls eingeholt werden könnten. Denn Benjamins Denken nimmt bevorzugt Phänomene in ihrer Wirkweise auf das erfahrende Subjekt zum Ausgangspunkt. Nochmals anders, einfacher, ausgedrückt könnten auf einen ersten groben Blick hin Denkfelder und Denkweisen Benjamins zu aktuellen Symptomlagen gut passen. Darüber hinaus kann vielleicht beim jüdisch geprägten Denken Walter Benjamins für die Gegenwart, nachdem die skizzierte Sachlage als eine globale aufgezeigt wurde, ein interkultureller Gehalt interessant sein. Doch könnte ein Problem in dem bekanntermaßen metaphysischen Zuschnitt des Benjaminschen Denkens liegen, insofern sich die originäre Kritische Theorie als metaphysikfrei verstand. 11 Ob sie das aber wirklich einhielt, kann im Rahmen dieser Arbeit anhand der spannungsvollen Benjamin-Rezeption durch Theodor W. Adorno diskutiert werden. Vor allem dürfte auch die Benjamin-AdornoBeziehung zur Standortfrage Benjamins im Rahmen der Kritischen Theorie erhellend sein. Jedenfalls wird das Diktum der Metaphysikfreiheit eines »aufgeklärten« Denkens von der Position dieser Untersuchung nicht unbedingt übernommen. Deren Position nämlich folgt mit ihrer Erfahrung dem Medienwissenschaftler und Publizisten

Vgl. Sven Kramer: Benjamin, S. 8. Bei Hartmut Rosa werden diese Diktate unter das Beschleunigungsparadigma gefasst, zentrales Werk: Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt a. M. 22013. 11 Das ergibt sich aus dem Ruf der Aufklärung, dazu wiederum Horkheimer / Adorno: Dialektik, bes. S. 88 f. 9

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Einleitung – und Problemanzeigen

Alexander Kissler, der entwickelt, wie heute Hohlräume persönlicher Religiosität ausgerechnet von imperialistisch und kapitalistisch konstruierten Letztbegründungen neu besetzt werden. 12 Einleitend soll es zunächst dabei bleiben, dass eine gewisse Mangelanzeige für eine zeitgenössische Kritische Theorie vorliegt und dass diese durch Ressourcenschöpfung aus Walter Benjamins Denken möglicherweise behoben werden kann. Gewiss könnte sich der ästhetische Gehalt Benjamins dann besonders zur Beurteilung des Digitalisierungs-Geschehens eignen. Es müsste aber zuerst untersucht werden, ob und in welcher Weise der üblicherweise dezentral platzierte Walter Benjamin doch dem denkerischen Zentrum der Frankfurter Schule zuzuordnen wäre, wovon diese Untersuchung ausgeht. Wir haben es hier also mit einem Meta- oder Binnenproblem zu tun, das im gewissen und gebührenden Umfang abzuarbeiten wäre. In diesem Sinne sollen in den folgenden Abschnitten historische Diskrepanzen zwischen Benjamins Schaffen und Entfaltung der Kritischen Theorie geklärt werden, um sich insgesamt thematisch voranzutasten.

Vgl. Alexander Kissler: Der aufgeklärte Gott, S. 277. Man könnte Kisslers Untersuchung wie folgt zusammenfassen: An irgendetwas bindet sich der Mensch immer. Zur besseren Mündigkeit der Menschen sollten Religion und Wissenschaft, Glaube und Vernunft zusammenfinden. – Gewiss stellt sich die Frage, wie kritisches Denken, das die Affirmation verlässt, anders als metaphysisch sein kann.

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13 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

2 Verortung im Binnenproblem: Benjamin – Frankfurter Schule

2.1 Historische Verortung im Binnenproblem Mit dem Namen Theodor W. Adornos – nicht zu schweigen von Max Horkheimer – wurde eine Mitwirkung Walter Benjamins innerhalb der Frankfurter Schule angeschnitten. Deren äußere und inhaltliche Geschichte soll zum Verständnis der Rolle Benjamins kurz umrissen werden. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) war 1923 vom Nationalökonomen und Mäzen Felix Weil gegründet worden, formal angegliedert an die Frankfurter Universität. Nach Anfängen mit einem akademischen Marxismus bekam es schulbildende Bedeutung mit dem Direktorat Max Horkheimers ab 1931. Horkheimer (geb. 1895) sowie auch Theodor W. Adorno (geb. 1903) machten die Einrichtung zur zentralen Forschungsstätte der Kritischen Theorie 13, deren Gegenstand die kritische Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft war. Der Berliner Kunstkritiker und Philosoph Walter Benjamin (geb. 1892) sympathisierte zwar mit diesem inneren Kreis, blieb aber nur lockerer Mitarbeiter am Institut. Aufgrund seiner Freundschaft zu Adorno wird ihm von der Forschung »dennoch eine nicht zu unterschätzende, inspirierende Rolle« 14 eingeräumt, zumal er unter anderem auch mit Gershom Scholem, Ernst Bloch und Bertolt Brecht befreundet war und sein eigenwilliges Denken bei kritischen Köpfen als attraktiv galt. Benjamin selbst schien sich mit seiner besonderen Veranlagung den Lebensweg zu erschweren. Ihm gelang keine wissenschaftliche Karriere trotz reichen literarischen Schaffens an verschiedenen Stätten Europas, und seine ökonomische Lage blieb immer schwierig. 15

13 14 15

Den Begriff selbst schuf Horkheimer mit einem Aufsatz von 1937. Michael Schwandt: Kritische Theorie, S. 54. Vgl. a. a. O.

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Historische Verortung im Binnenproblem

Zunehmend geriet das IfS in Bedrängnis durch die Nationalsozialisten. Im März 1933 wurde es von der Gestapo geschlossen und aufgelöst. 1934 an die Columbia Universität in New York verlegt, entstand in den USA ab 1939 durch Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung, das Buch, das ihre Idee einer kritischen Gesellschaftstheorie entfaltet. Obwohl Adorno 1940 auch Benjamin zu einem Visum in die USA verhalf und ihn zur Übersiedlung drängte, lehnte dieser ab, um seiner Affinität zu Paris treu zu bleiben. Immerhin konnte er nur hier sein »Passagenwerk« fortsetzen, eine ästhetisch inaugurierte Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Nach französischer Internierung und misslungenem Fluchtversuch ins neutrale Spanien – deutsche Truppen hatten inzwischen Frankreich besetzt – nahm sich Benjamin aus Furcht vor einer Gefangennahme durch die Deutschen 1940 das Leben. 16 Das Passagenwerk blieb unvollendet. Ohne die institutionellen Anpassungszwänge, aber auch ohne die Chancen des Exils ist die weitere Entwicklung der Kritischen Theorie kaum zu verstehen. Die originär von Horkheimer angestrebte interdisziplinäre Kooperation nahm in den USA intensivste Formen an. 17 Im Nachkriegsdeutschland – ab 1950/51 wurde das IfS in Frankfurt restituiert – flossen die Erfahrungen von Faschismus und Antisemitismus in die Forschungsfragen nach totalitärer Gewaltentstehung überhaupt ein, gerade auch im Sinn von Auftragsforschung. Verständlicherweise konnte man sich neben Aufbauarbeit und Aufgabenplänen nur allmählich mit dem selbst Erlebten beschäftigen. Immer wieder nach 1940 äußert Adorno in seinen Kontakten den Schmerz über den Verlust Walter Benjamins, den er durch sein agiles Denken als philosophische Bereicherung erfahren hatte. Vor allem über Benjamins Geschichtsbild schrieb er, dass es »dem (Adornos, d. Verf.) eigenen Denken näher komme als alles andere … eine weitaus größere Inspirationsquelle als die sprachphilosophischen Einfälle Horkheimers«. 18 Wohl auf diesem Hintergrund, also einer mühsamen Bewältigung der äußeren Wirren sowie der inneren Traumata der Nachkriegsjahre (immerhin waren manche Mitarbeiter noch in

Vgl. a. a. O. sowie auch: www.ifs.uni-frankfurt.de/institut/geschichte. Vgl. Stefan Müller-Doohm: Adorno, S. 412–414. 18 Ebd. S. 412. Unangefochten gilt Benjamin in der Fachliteratur als bedeutender Inspirator Adornos, vgl. auch Emil Walter-Busch: Geschichte, S. 9. 16 17

15 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Verortung im Binnenproblem: Benjamin – Frankfurter Schule

die weite Welt zerstreut), 19 ist es zu verstehen, dass Benjaminsches Gedankengut – wie es aussieht und im Folgenden weiter überprüft werden soll – erst nach und nach in Adornos Schriften einfloss. Benjamin wird heute neben Horkheimer, Adorno und Persönlichkeiten wie z. B. Herbert Marcuse zur ersten Generation der Frankfurter Schule gezählt. Um die Berechtigung oder Bestätigung zu dieser Einreihung wird es im Folgenden genauer gehen. Bei der zweiten Generation handelte oder handelt es sich überwiegend um Horkheimer- und Adorno-Schüler wie u. a. Jürgen Habermas. Während Adornos Direktorat – Horkheimer war seit 1959 emeritiert – ist in Bezug auf die End-68er-Phase die Abwehr eines sozialistischen StudentenAktivismus legendär geworden. Adorno starb 1969, herzkrank und innerlich aufgewühlt. Nachrufe Horkheimers vor allem in namhaften Spiegel-Interviews beleuchten unter anderem Adornos Verhältnis zur Metaphysik. Aktuell – mit Axel Honneth als Direktor – formuliert das Institut sein Ziel, durch »breitgefächerte sozialwissenschaftliche und sozialphilosophische Forschung im übergreifenden Forschungsprogramm ›Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung‹ zu bündeln«. Praktisch wolle man dies durch eine stärkere medial und dabei auch interkulturell vernetzte Außenwirkung erreichen. Das inhaltliche Ziel ist betont offen gehalten. 20 … Sollte eine zeitgemäße philosophische Fundierung beigetragen werden, wie es mit dieser Arbeit aus dem Bestand von Walter Benjamins Denken versucht wird, so müsste eine solche allein schon im Geist der Gründergeneration 21 frei von normativ-inhaltlichen Vorgaben sein. Unter anderem dazu soll sich der folgende Abschnitt 2.2 genauer äußern.

2.2 Systematische Verortung ebenda Wenn Felix Weil angeblich das zu schaffende Institut gegenüber seinem geldschweren Vater als antisemitistische Forschungsstätte anstatt einer marxistischen Einrichtung darstellte, hatte das wohl prag-

Vgl. Michael Schwandt: Kritische Theorie, S. 54. www.ifs.uni-frankfurt.de/institut/geschichte. 21 Benjamin spielte nämlich faktisch-methodisch in der zweiten Generation, etwa für Jürgen Habermas, überhaupt keine Rolle, vgl. Sven Kramer: Benjamin, S. 10. 19 20

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Systematische Verortung ebenda

matische Gründe. 22 Walter Benjamin stieß um 1927 aus Gründen seines immer entschiedener vertretenen dialektischen Materialismus zum Institut. Und ähnlich wie manche der begüterten jungen jüdisch-assimilierten Generation hatte er sich »wider das Prinzip Geld für das Prinzip Geist« 23 entschieden. Eine persönliche Identifikation mit den kulturellen Wurzeln, vom politischen Emanzipationskampf abgesehen, geschweige denn persönliche Religiosität, wird den jüdischen Mitarbeitern am IfS von der Forschung eher abgesprochen. Martin Jay neigt dazu, Benjamins religiöses Denken rein als Stilform seiner Dialektik zu verstehen. 24 Indem man den inniglichen Worten nachgeht, in die Benjamin seine religiösen Topoi kleidet, seinem fast mystisch klingenden Hang zu Engeln und seiner fetischhaften Beziehung zu dem von ihm 1921 erworbenen Paul-Klee-Werk »Angelus Novus«, kann man einen anderen Eindruck gewinnen. Weicher als genannt zieht Harald Seubert die Grenze zwischen Religion und Denken, der »Benjamin und Adorno« ein Kapitel seiner Religionsphilosophie widmet. Benjamins oft zitierter Ausspruch vom Denken als »Löschblatt«, das die Theologie als »Tinte« aufsauge, deutet Seubert gerade als Tür dieses Denkens in die Transzendenz. 25 Zu Adorno seinerseits ist mit Horkheimers Spiegel-Interviews überliefert, dass dieser (wie im Grunde alle Frankfurter Mitarbeiter) an der Hegelschen »Schädelstätte Geschichte« keinen Gott finden konnte, und das galt nach Auschwitz erst recht. Umso schwerer rang sein Denken mit einem Gegenprinzip der Freiheit und der Gewaltlosigkeit, das Adorno (oder vielleicht auch zuerst Horkheimer) anstatt »Gott« das »Andere« nannte. Schon im Exil war laut Horkheimer für den erschütterten Adorno ein Denken ohne dialektischen Transzendenzbezug nicht mehr möglich gewesen. Horkheimer sah um diese Zeit den Verlust der Religion existenziell als fragwürdig

Vgl. Emil Walter-Busch: Geschichte, S. 14 f. Danach betrugen allein die jährlichen Betriebskosten 120.000 Reichsmark. 23 Ebd., S. 143. 24 Vgl. Martin Jay: Dialektische Phantasie, S. 212 f. In seiner Jugend war Benjamin reformpädagogisch und zionistisch engagiert, dazu vgl. Gershom Scholem: Benjamin, S. 12; auch: Nadine Werner: Zeit und Person, in: B. Lindner (Hg.): Handbuch, S. 3–8, woraus hervorgeht, dass Benjamin seine jüdisch-metaphysischen und seine marxistischen Kreise gesondert hielt. 25 Vgl. Harald Seubert: Religionsphilosophie, S. 343 f. Die Abhandlung beginnt mit dem Hinweis, dass das spekulative Denken Benjamins in der jüdischen Theologie typisch verankert sei. 22

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Verortung im Binnenproblem: Benjamin – Frankfurter Schule

an. An Adorno-Textstellen vor allem des Spätwerks kann diese Thematik an späterer Stelle vertieft werden. 26 In dem hier angegangenen Untersuchungsabschnitt 2.2 geht es um Raster, nach denen Benjamin in seinem Denken zur Frankfurter Schule bzw. zur originären Kritischen Theorie zu zählen wäre. Es wäre, wie gesagt, notwendige Bedingung, um dieses Denken für eine zeitgenössische Kritische Theorie einsetzbar zu machen. Zunächst: War die Kritische Theorie un-metaphysisch? Diese These wurde bereits eingangs angeführt. Wenn man Metaphysik als Beschäftigung mit dem Überzeitlichen und Allgemeinen versteht 27 und es so erlaubt ist, im Rahmen einer Kritischen Theorie vom Göttlichen als Chiffre zu sprechen (was auch der jüdischen Namenslosigkeit Gottes gerecht würde), hätte man bei Benjamin Anknüpfungspunkte an eine metaphysische Orientierung. Umgekehrt gesehen wird man in solcher Topik das Metaphysische der Kritischen Theorie erkennen können, und zwar in einem Denkziel, das fundierter war als ein »romantischer Ort der Sehnsuchtsutopien« 28. Durchaus ist überliefert, dass Benjamins Spekulationen bei Adorno oft ähnlich auf Befremden stießen wie er sich umgekehrt methodische Gewinne davon erhoffte, doch weitaus stärker soll sich Adorno am vulgärmaterialistischen Einfluss Bertolt Brechts gestört haben. 29 Welches sind die weiteren Merkmale der Kritischen Theorie? Das soll im Umfang dieser Arbeit begrenzt werden auf wesentliche Punkte, die für die Fragestellung relevant erscheinen. Das Lexikon Alois Halders (um Vertiefungen noch aufzusparen) nennt, als Gegenpol zur Metaphysik, die Abkehr von der positivistisch-szientistischen Auffassung, nach der Wissenschaft instrumentell auf Naturbeherrschung abzielt und ihre historisch-sozialen Bedingungen sowie auch Sinnfragen ausklammert. Nicht nur marxistisch motiviert, sondern grundsätzlich ginge es – so folgend im Wörterbuch – um die ideoDas Interview s. als Internetversion www.spiegelgruppe-nachdrucke.de/Der Spiegel 1/2/1970, dazu den Kommentar aus Spiegel 1/1970. Zu Horkheimer vgl. ders. / Adorno: Dialektik S. 128. Auch ein Benjamin-Aufsatz des späteren Jürgen Habermas (1972) böte Manches sowie auch Habermas’ Friedenspreisrede (2001) in aller »religiösen Unmusikalität«, dazu: Glauben, S. 28–31, Zitat S. 30. 27 Vgl. Alois Halder: Wörterbuch, Stichw. Metaphysik, S. 208 f. 28 Zit. n. www.youtube.com/watch?v=OOW0Lq7GMbs, Teil 1. Dieser Dokumentarfilm zeichnet Benjamins Entwicklung im Paris der 1920-er Jahre und im Austausch mit seinen Freunden nach. 29 Vgl. Henri Lonitz (Hg): Adorno / Benjamin, Briefwechsel, S. 74. 26

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Systematische Verortung ebenda

logiekritische Aufdeckung von Herrschaftsverhältnissen, die in totalitärer Weise das individuelle Glücksstreben und die Entfaltung des Menschen unterdrücken. Im weitesten Sinne sei diese Theorie vom aristotelischen Gedanken des guten Lebens inauguriert, neuzeitlich gesehen vom Emanzipationsziel der Aufklärung im Blick auf das Individuum als mündiger Mensch. 30 Von daher versteht sich die schon genannte strikte Abstinenz von der Normativität, ebenso wie es einleuchtet, dass programmatisch-reflexive oder aktivistische Positionen, wie sie im Einleitungsabschnitt vorgestellt wurden, das Verständnis einer Kritischen Theorie überziehen. Mündigkeit führe vielmehr zur vernunftvermittelten Kritik an den Verhältnissen, umgekehrt wie sich solche aus der Gesellschaft selbst artikulieren solle, was Horkheimer / Adorno als Aufhebung von Theorie und Praxis verstanden. Von Hegel und weiterhin Marx bzw. auch der Psychoanalyse her ist der Begriff der »Entfremdung« zentral, wie er sich am Einzelnen sowie gesellschaftlich als Symptomatik totalitärer Unterdrückung zeigt; auch das Denken Nietzsches als Genealoge der Psyche scheint durch. 31 Man kann diese Topoi, besonders auch den Begriff der Entfremdung und die Beschäftigung mit dem Naturverlust, bei Walter Benjamin reichlich finden. 32 Problematischer im Kontext der Kritischen Theorie könnte sich Benjamins Form von Dialektik verhalten. Denn Benjamins Konzeption nimmt der hegelianisch-marxistischen Verschränkung ursprünglicher Identität mit der Differenz und Selbstentäußerung und sodann der Entwicklung in eine höherstufige Identität (die Marx in den Realitäten anstatt im Begriff ansiedelte) die Zukunftsperspektive. Benjamins Dialektik kohäriert mit Stillstand; Allgemeinheit und Einzelerkenntnis fallen zusammen. Denn sie beruht auf Erkenntnis dessen, was ist, in den Trümmern der Geschichte vom geglaubten Messiasgeschehen her. Wenn bei Adorno Dialektik negativ wird, vergleichsweise die Benjaminsche Statuarik löst, aber nicht in eine neue Dynamik à la Hegel hineinfindet, sondern in die Destruktion der vorhandenen Vorstellungen, kann in der doppelten Negation, die nicht in Position umschlägt, das Humanum noch gesichert

Vgl. Alois Halder: Wörterbuch, Stichw. Kritische Theorie, S. 176 f. Vgl. Michael Schwandt: Kritische Theorie, S. 62 f. Das Theorie-Praxis-Verhältnis wäre insofern gegen Marx zu verstehen, als dieser sich zum rein Praktischen entwickelte. 32 Vgl. Emil Walter-Busch: Geschichte, S. 145. 30 31

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Verortung im Binnenproblem: Benjamin – Frankfurter Schule

werden. Benjamins Befreiung setzt voraus, das unerbittliche Kontinuum der Geschichte »aufzusprengen«. 33 Man hat es hier mit einem Spezialthema zu tun, das im Kontext dieser Binnenfragen wiederum nur aus der Literatur resümiert werden soll. Eine einschlägige Untersuchung liegt mit der Dissertationsschrift Jan Urbichs vor, die sich auf Benjamins »Erkenntniskritische Vorrede« bezieht. Urbich plädiert für ein Platonisch-diskursives, nicht strikt methodisches, sondern impulsgebendes Verständnis von Dialektik (als »Trigger«), das sich im Übrigen erst beim späten Benjamin am Messiasbild festmachte. 34 Bei Anke Thyen kann man zu Adorno lesen, dessen ebenfalls nicht immer konsequent gehaltene Dialektik könnte Verweis in sich sein auf die gerade außerhalb des Instrumentellen verwendete Vernunft, nach der ein Mindestes an Versöhnung zu finden sei. Identität sei mit Thyens Verweis auf die »Dialektik der Aufklärung« als das »Eingedenken der Natur im Subjekt« zu verstehen. 35 Es zeigt sich, dass das Problem der Dialektik, das wie die anderen Themen dieses Abschnitts ein theoretisches Problem ist und nunmehr ein erkenntnistheoretisches, sich am besten im Rahmen der Untersuchungsstellung aus den Primärquellen und deren Diskussion weiter erschließen lassen sollte, wie es ab Teil 4 geplant ist. Und schließlich dann aus Teil 6, der sich ästhetisch-phänomenologisch mit dem Digitalisierungs-Geschehen befasst, dürften sich Einsichten zu diesem Spezialsujet ergeben, das sich bei Benjamin an Wahrnehmungen des Subjekts festmacht.

Vgl. Rolf Wiggershaus: Frankfurter Schule, S. 83. Zit. n. Stefan Müller-Doohm: Adorno, S. 429. Also nochmals: Hegels Dialektik als treibende Bewegung des Begriffs ›These – Antithese – Synthese‹ verlegt Marx in den Geschichtszustand, der über sich hinaustreibt und in sein Gegenteil umschlägt, praktisch / Revolution wird, sieht Benjamin in Erlösungs-überwundener Negativität als »Nunc stans« an, dagegen Adorno als reinen Negativverlauf. 34 Vgl. Jan Urbich: Darstellung, S. 32–34, Zit. S. 34. 35 Vgl. Anke Thyen: Negative Dialektik, S. 112. Zit. aus Horkheimer / Adorno: Dialektik, S. 47. 33

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3 Hypothesen zum Binnenproblem

Die bisherigen Untersuchungsabschnitte verstanden sich herantastend in der Binnenfrage, Walter Benjamin zur Frankfurter Schule zu zählen. Folgende Hypothesen sollen nun formuliert werden: 1. Walter Benjamins Denken steht in der Tradition der Kritischen Theorie, was besonders an der Adorno-Rezeption ausgemacht werden kann – und zwar erkenntnis- und ideologiekritisch. Diese Hypothese wird behauptet, weil sich gemäß den vorangegangenen Annäherungen in der Suche nach einer zeitgemäßen Kritischen Theorie Benjamins Denken der originären Kritischen Theorie als nahestehend erwiesen hat. Die Hypothese wird auf die Adorno-Rezeption zugeschnitten, weil hier die Ähnlichkeiten des Denkens am dichtesten zu bestehen scheinen, wie erste Einblicke in erkenntniskritisch sowie ideologiekritisch bezogene Gedanken beider es zeigten. Erkenntnis- und Ideologiekritik hängen bei beiden Denkern vermutlich eng zusammen. Unter »Ideologie« soll dabei in Anlehnung an Karl Marx eine epochen- bzw. gesellschaftsspezifische Welt- und Lebensanschauung verstanden werden, deren Vorstellungen sich verschleiernd (als »Überbau«) über die wirklichen ökonomischen und sozialen Verhältnisse (»Unterbau«) der nicht herrschenden Klassen legen. Unter Kritik soll in Anlehnung an Kant die sichere Beurteilung wirklicher Fakten gegenüber den mit ihnen verbundenen Erwartungen verstanden werden. 36 2. Benjamins Denken eignet sich für eine zeitgemäße Kritische Theorie. Dies wird behauptet, weil Benjamins Denken mit seinem erkenntnis- und ideologiekritischen Gehalt offensichtlich Elemente besitzt, die heute Entsprechungen haben könnten, vermutlich über den 36

Vgl. Alois Halder: Wörterbuch, Stichw. Ideologie, S. 154, Stichw. Kant, S. 166.

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Hypothesen zum Binnenproblem

Bereich der gerade populären, sein Werk benutzenden Medienkritik hinaus. Mit der Formulierung »als zeitgemäße Kritische Theorie« soll insofern ein möglicher Beitrag dieser Untersuchung gemeint sein im Kontext aller anderen Unternehmungen, die sich um solch eine Zielsetzung bemühen. Methodische Bemerkungen: Da der Vergleich mit Adorno zur Verfolgung vor allem der ersten Hypothese zentral sein wird, sollen nachfolgend geeignete Primärzitate von Benjamin und Adorno gegenübergestellt werden (Teil 4). (Formalhinweis: Primärzitate werden in der vorhandenen / »alten« Rechtschreibung übernommen). Unter dem Umfang beider Werke und dem Skopus dieser Untersuchung wird dies nur knapp, aber möglichst, wie schon gesagt, gebührend ausfallen. Dadurch soll Benjamins Denken genauer auf eine Ähnlichkeit mit der Kritischen Theorie anhand der in 2.2 genannten Kennzeichen untersucht werden, ebenso wie Adornos Denken auf eine Affinität zu Benjamin hin recherchiert werden soll, und zwar in zwei Schritten, erkenntnis- und ideologiekritisch. In 2.2 wurde ein positiver Ausgang dieses Vergleichs als »notwendige Bedingung« zur Bejahung der Themenstellung dieser Arbeit bezeichnet. Schließlich – als hinreichende Bedingung – soll Benjamins Denken erkenntnis- und ideologiekritisch auf die Gegenwartsfolie hin überprüft werden. Alle diese Untersuchungen werden mit Teil 5 diskutierend erfolgen. Sowohl in Teil 4 als auch in Teil 5 wird Sekundärliteratur hinzugezogen, ggf. auch Internetbeiträge, wo dieses sich anbietet. Um den mehreren Untersuchungslinien im Teil 4 sowie auch möglichen Denkentwicklungen der Autoren gerecht zu werden, wurde die gesammelte Literatur beider vor Beginn dieser Arbeit gesichtet. Aus beider Früh-, Mittel- und Spätwerk wurde entschieden, die Untersuchung auf zwei Problemfelder, nämlich »Denken« und »Ästhetik« zu fokussieren. Damit erschienen jeweils vier Schriften als geeignet, woraus in Teil 4 für repräsentativ gehaltene Daten (mit einführenden Hinweisen) zu finden sein werden.

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4 Daten

4.1 Walter Benjamin, aus: A) »Vorrede« – B) »Kunstwerk« – C) »Kindheit« – D) »Passagen« Zu A) »Vorrede«: Die erkenntniskritische Vorrede geht Benjamins Untersuchung »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, seiner vormaligen germanistischen Dissertationsschrift von 1923/24, voran. Die gesamte Schrift steht im Kontext der in den 1920-er Jahren recht beliebten Barockforschungen. 37 Die Vorrede befasst sich mit der Frage nach Wahrheit, die den Darstellungen der Kunst innewohnt, im Gegensatz zur Wahrheit der Philosophie bzw. Geschichte. Während Letzteren Wahrheit durch induzierte Ideen vermittelt sei, stecke der Wahrheitswert der Kunst in seiner Unmittelbarkeit. Parallel beachte man Benjamins Sprachphilosophie, beginnend mit einem Aufsatz von 1916 »Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen«. Danach wirke Sprache nicht nur untergeordnet funktionell, sondern vielmehr aus einer irreduziblen Sphäre heraus, gleich dem Schöpferwort, wesensvermittelnd und weltbildend: »Das Mediale [gemeint im Ursprungsverhältnis, d. Verf.], das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung …«. 38 Folgendes stammt aus der »Vorrede«: Das Trauerspiel im Sinn der kunstphilosophischen Abhandlung ist eine Idee. Von der literaturhistorischen unterscheidet sich eine solche am auffallendsten darin, daß sie Einheit da voraussetzt, wo jener Mannigfaltigkeit zu erweisen obliegt. Die Differenzen und Extreme, welche die literarhistorische Analyse ineinander überführt und als Werdendes relativiert, enthalten in begrifflicher Entwicklung den Rang komplementärer Energien und die Geschichte erscheint nur als der farbige Rand einer kristallinischen Simultaneität. NotwenVgl. Bettina Menke: Ursprung, in: Burckhardt Lindner (Hg.): Handbuch, S. 210. Benjamins akademisches Scheitern hat evtl. auch am Antisemitismus der deutschen Universität gelegen, S. 219. 38 BAS II, insbes. S. 11–22, Zit. S. 11, dazu vgl. Regine Kather (die eine naturphilosophisch-kosmologisch verortete Anthropologie vertritt): Sprache, S. 58–61. 37

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Daten

dig werden der Kunstphilosophie die Extreme, virtuell der historische Ablauf … Das Haften an der Vielgestaltigkeit auf der einen, die Gleichgültigkeit gegen das strenge Denken auf der anderen Seite sind stets die Bestimmungsgründe einer unkritischen Induktion gewesen. 39

Zu B) »Kunstwerk«: »Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit« ist ein zunächst privat verfasster Aufsatz Benjamins (»Kunstwerksaufsatz«) aus dem Jahr 1935, den er danach zwei Mal überarbeitete. Er wurde 1936 von Horkheimer in der »Zeitschrift für Sozialforschung« publiziert, zählt heute zu den Höhepunkten des Benjamin-Werks sowie zu den kunst-, kultur- und medientheoretischen Grundlagentexten des 20. Jahrhunderts. 40 Benjamin beginnt mit dem Aspekt des Massenkunstwerks (also nicht der Kunst an sich) als Wirtschaftsfaktor, insofern es die menschliche Wahrnehmung und damit im Marxschen Sinne den ökonomischen Überbau bestimme, zudem, weil es als Großinvestition durch Massenverbreitung amortisiert werden müsse. (Es geht letztlich um Theorie der Wahrnehmung, griech. aisthesis.) Mit der technischen Verschmelzung von Bild und Ton im Film habe alles dies Höchststandard erreicht. Anders als bei der nicht technischen Nachahmung – die es immer schon gab, zurückgehend auf die originäre Welt-Anverwandlung, archaisch im Ritual, die Benjamin an anderen Stellen »Mimesis« nennt –, gingen beim Kunstwerk nicht nur Einzigartigkeit und »Echtheit« (das ans »Hier und Jetzt«-Gebundene) sowie die »Aura« der Tradition verloren, sondern der Verlust würde noch überboten durch die Techniken des Mikro- und des Panoramablicks. Die Vermittlung durch die Apparatur betrifft also die Erfassung und die Aussendung der menschlichen Welt. Am Film ergeben sich, individuell angesetzt, gravierende Auswirkungen: 41 Das letztere [gemeint: Gemälde] lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assotiationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht … Der Assotiationsablauf dessen, der sie betrachtet, wird sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chokwirkung (gemeint »Schock«, d. Verf.) des Films, die wie jede Chokwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. Der Film ist die

BGS I, 1, S. 218, 220. Vgl. Burkhardt Lindner: Kunstwerk, in: Ders. (Hg): Handbuch, S. 229. 41 Vgl. BGS I, 2, S. 436–439, 442 f., 461. Zu »Mimesis« vgl. BAS II, S. 91. Mimesisbegriff bei Horkheimer und Adorno: Dialektik, z. B. S. 189, 191; AGS VII, z. B. S. 171. 39 40

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Walter Benjamin, aus: C) »Kindheit«

der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunstform. Er entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparats … Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Wahrnehmung ist, hat in den Kinos ihren zentralen Platz. [Einige Zeilen weiter Benjamin:] In der Repräsentation des Menschen durch die Apparatur hat dessen Selbstentfremdung eine höchst produktive Verwertung erfahren. [Der Aufsatz endet:] Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden, hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es mit der Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt … 42

Zu C) »Kindheit«: Die »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«, eine literarische Textsammlung von Erlebnissen mit biografischen, poetologischen und gesellschaftskritischen Zügen aus den 1930er Jahren, schloss Benjamin kurz vor seinem Tod ab. Veröffentlicht wurde sie erst 1950 von Adorno. 43 Immer wieder äußert auch Adorno in seinen Reflexionen etwa der »Minima Moralia« Gedanken der Kindheitstopik persönlich und allgemein. Man hat es bei beiden Autoren sicher nicht nur mit individuellen und kulturhistorischen Rückblicken zu tun, sondern auch mit dem von der Psychoanalyse vermittelten Bild des Kindes als unbefangenes Bewusstsein, das erst durch die Macht- und Klassenstrukturen der Kultur seine Freiheit verliert. 44 In der letzten Kindheitserzählung erinnerte sich Benjamin daran, wie er beim Gang durch die Häuserzeilen seines Viertels oft magisch angezogen wurde, durch Bodengatter in das Getriebe im Innern von Kellern zu spähen. Er erkennt sich musterhaft in der Situation, wie sie ein Ich-Erzähler im alten Kindergedicht »Das bucklicht (sic!) Männlein« beschreibt: 45

BGS I, 2, S. 451, 464, 466, 469. Vgl. Anja Lemke: Kindheit, in: B. Lindner (Hg.): Handbuch, S. 653. 44 In dieser Hinsicht s. die Affinität zu Nietzsche, vgl. dort die Parabel mit dem Spielerischen des Kindes gegenüber dem lastentragenden »Kamel« und dem herrschenden »Löwen«: KSA IV, S. 29–31. Gleichwohl lesen sich Benjamins Berichte kulturhistorisch als wahre Schatzgrube. 45 Das Gedicht kursiert seit Mittelalter in Text- sowie Vertonungsformen und fand u. a. Eingang in die Volksliedsammlung »Des Knaben Wunderhorn« von Clemens Brentano / Achim von Arnim. Es beschreibt Alltagshandlungen, die jeweils von einem auftauchenden Buckligen durchkreuzt werden. 42 43

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Daten

Nicht streng geschieden war für mich die Welt, welche bei Tage diese Fenster bevölkerte, von der, die nachts dort auf der Lauer lag, um mich in meinem Traum zu überfallen. Ich wußte darum gleich, woran ich war, als ich in meinem ›Deutschen Kinderbuch‹ von Georg Scherer auf die Stelle stieß: ›Will ich in mein Keller gehen / Will mein Weinlein zapfen; / Steht ein bucklicht Männlein da / Tat mir’n Krug wegschnappen.‹ Ich kannte jene Sippe, die auf Schaden und Schabernack versessen war, und daß sie sich im Keller zu Hause fühlte, war nicht verwunderlich. ›Lumpengesindel‹ war es … Von ihrem Schlage war der Bucklige … Erst heute weiß ich, wie er geheißen hat. Meine Mutter verriet mir’s, ohne es zu wissen: ›Ungeschickt läßt grüßen‹, sagte sie immer, wenn ich etwas zerbrochen hatte oder hingefallen war. Und nun verstehe ich, wovon sie sprach. Sie sprach vom bucklichten Männlein, welches mich angesehen hatte. Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht. Er steht verstört vor einem Scherbenhaufen: ›Will ich in mein Küchel gehen, / Will mein Süpplein kochen; / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hat mein Töpflein brachen (sic!).‹ 46

Zu D) »Passagen«: Benjamins als Hauptwerk geplantes Buch »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« erschien postum unter dem Titel »Das Passagen-Werk«. Wie lässt sich erklären, was ihn dreizehn Jahre so beschäftigte, als seien alle anderen Schriften nur Zuarbeiten, und das auch der Forschung kaum abschließbar erscheint? Ein Grundmotiv wahrt das Ganze, in flanierender Weise Passagen durch die geistigen Landschaften der für Benjamin irritierenden Großstadtmoderne zu schneiden. Hier sprengten Surrealismus und Dada den bürgerlichen Geschmack, das Kino fesselte in neuartiger Weise die Massen. Die Spezialität Benjamins, geistige Strömungen an Orten und deren Architektur phänomenologisch festzumachen bzw. umgekehrt, Bauweisen bis hin zu Bauteilen und Materialien als Metaphern für Denkmethoden zu setzen, gerät in den »Passagen« in eine Detailversessenheit, die ihm Adornos Kritik einbrachte, solche Fixierung auf die Phänomene dialektisch nicht bewältigen zu können. Gleichwohl blieb für Adorno, besserer Kenner der hegelianischen Geschichtsphilosophie, Benjamin der anregendere Denker. 47 Dabei ist das »Passagenwerk« eine Mischung von Eigenreflexionen und Fremdzitaten, so z. B. das fast trivial klingende Kapitel »Eisenkonstruktion« – danach folgen Beispiele aus Benjamins beliebten Sujets, der Bautechnik, der Kindheit und der Mode: 46 47

BGS VII, 1, S. 429 f. Vgl. Irving Wolfarth: Passagen, in: B. Lindner (Hg): Handbuch, S. 251–261.

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Theodor W. Adorno, aus: A) »Dialektik«

Dialektische Ableitung der Eisenkonstruktion; Sie wird gegen den griechischen Steinbau (Balkendecke) und den mittelalterlichen (Bogendecke) abgehoben. [Nun Zitat aus einer Festschrift 1906:] ›Eine andere Kunst, in der ein anderes statisches Prinzip den Grundton angibt, der noch viel herrlicher klingt, denn der jener beiden, wird sich aus dem Schoße der Zeit losringen und Leben gewinnen … sobald ein bis dahin … noch nicht als leitendes Prinzip genutztes Material beginnt Aufnahme zu finden, … das Eisen …‹ [Vergleiche:] Aufgabe der Kindheit: die neue Welt in den Symbolraum einzubringen … Jeder wahrhaft neuen Naturgestalt – und im Grunde ist auch die Technik eine solche, entsprechen neue ›Bilder‹. Jede Kindheit entdeckt diese neuen Bilder, um sie dem Bilderschatz der Menschheit einzuverleiben. [Ferner:] Was das Kind in den alten Kleidfalten findet … in die es, wenn es am Rockschoß der Mutter … sich drängte, das müssen diese Seiten enthalten. (Mode) 48

4.2 Theodor W. Adorno, aus: A) »Dialektik« – B) »Kulturindustrie« – C) »Minima Moralia« – D) »Negative Dialektik« Zu A) »Dialektik«: Die schon in 1.1 betonte Aufsatzsammlung »Dialektik der Aufklärung« entstand im kalifornischen Exil aus Gesprächen zwischen Horkheimer und Adorno, von Adornos Frau Margarete (»Gretel«) protokolliert. Auf Deutsch wurde sie nach sprachlichen Glättungen in Amsterdam 1947 veröffentlicht, in Deutschland dann, aufgrund ihres radikal kritischen Stoffs, offiziell erst 1969. Inhaltlich wird, angesichts von Faschismus und Monokapitalismus als gesellschaftlich geduldeter Herrschaftsformen, der Vernunftbegriff der Aufklärung einer radikalen Kritik unterzogen. In Form instrumenteller Vernunft, die vormals der Selbstbehauptung über eine bedrohliche Natur diente, habe sie Herrschaftscharakter mit Regression auf mythische und selbstzerstörerische Züge angenommen. Das erste Kapitel »Begriff der Aufklärung« schließt: »Angesichts solcher Möglichkeit [gemeint: des Übergangs von Wissen in Herrschaft] aber wandelt im Dienst der Gegenwart Aufklärung sich zum totalen Betrug der Massen um.« 49 Im vierten Kapitel zur »Kulturindustrie«

48 49

BGS V, 1, S. 211, 493 f. Horkheimer / Adorno: Dialektik, S. 49.

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Daten

wird dieser Scheincharakter weiter enthüllt. Es beginnt mit der wohl Horkheimer zuzuschreibenden Religions-Reflexion. 50 Im Vergleich mit anderen Schriften der Autoren oder aus Sekundärdokumenten wie z. B. Briefen wäre zu ermitteln, welche Teile mehr von wem stammen. Gedanken wie die folgenden scheinen Benjamins Züge zu tragen und daher eher von Adorno als von Horkheimer zu stammen: »Als Sein und Geschehen wird von der Aufklärung vorweg nur anerkannt, was durch Einheit sich erfassen läßt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt.« 51 Thematischen Ausgangspunkt nehmen die Reflexionen am menschlichen Weltzugang, daran, wie der Mensch seine Welt wahrnimmt und abbildet. Das Nachdenken über Kunst und Kultur steht in der »Dialektik« ähnlich zentral wie für Benjamin. Gedanken über Einzigartigkeit und Beschaulichkeit der Kunst wirken wie von ihm abgeschrieben. Für Adorno waren im mythologischen Zeitalter noch ohnegleichen die Mannigfaltigkeit und die Singularität der Erscheinungen gegeben, auf das die Aufklärung bereits mit dem griechischen Logos folgte: 52 Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt. Die mythologisierende Gleichsetzung der Ideen mit den Zahlen in Platons letzten Schriften spricht die Sehnsucht aller Entmythologisierung aus: Die Zahl wurde zum Kanon der Aufklärung. Dieselben Gleichungen beherrschen die bürgerliche Gerechtigkeit und den Warenaustausch … Die Riten des Schamanen wandten sich an den Wind, den Regen, die Schlange draußen oder den Dämon im Kranken … [Weiter wird ausgeführt, wie die Erkenntnis den ›mimetischen Zauber‹ tabuierte, sodann:] Mit der fortschreitenden Aufklärung haben es nur die authentischen Kunstwerke vermocht, der bloßen Imitation dessen, was ohnehin schon ist, sich zu entziehen. [Sowie:] Das Kunstwerk hat es noch mit der Zauberei gemeinsam, einen eigenen, in sich abgeschlossenen Bereich zu setzen, der dem Zusammenhang profanen Daseins entrückt ist. In ihm herrschen besondere Gesetze. Wie der Zauberer als erstes bei der Zeremonie den Ort, in dem die geheiligten Kräfte spielen sollen, gegen alle Umwelt eingrenzte, so zeichnet mit jedem Kunstwerk dessen Umkreis geschlossen vom Wirklichen sich ab. 53

Vgl. FN 26. Horkheimer / Adorno: Dialektik, S. 13. 52 Die Aufklärung hat also eine für Adorno sehr lange Tradition; bemerkenswerterweise wurde aber die Kritik daran von der zweiten Frankfurter Generation nicht wirklich aufgenommen. 53 Horkheimer / Adorno: Dialektik, S. 13, 20, 24 f. 50 51

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Theodor W. Adorno, aus: B) »Kulturindustrie«

Zu B) Kulturindustrie: Den Begriff »Kulturindustrie« äußerten Horkheimer und Adorno wohl erstmals in der »Dialektik«. Sie wollten mit ihm aufzeigen, dass Kultur in Form der modernen Massenkultur nicht mehr etwas selbständig aus dem menschlichen Lebensvollzug Hervorgehendes sei, sondern eine Ware, die der systematischen ökonomischen Verwertung unterliegt, gegenüber ihrem eigenen Sinn nun etwas Gemachtes und Aufgesetztes. Im Aufsatz »Resumée über Kulturindustrie« von 1947 vertieft und pointiert Adorno Gedanken aus dem vierten Kapitel der »Dialektik«, die im selben Jahr in Amsterdam erschien. Man beachte etwa eine fast zum Makabren hin überspitzte Äußerung – nach einem Krieg, dessen Bomben Millionen das Leben und Überlebenden die vertraute Umgebung nahmen: Das gemütliche alte Wirtshaus demoliert der Farbfilm mehr, als Bomben es vermochten; er rottet noch sein imago aus. Keine Heimat überlebt ihre Aufbereitung in den Filmen, die sie feiern und alles Unverwechselbare, wovon sie zehren, zum Verwechseln gleichmachen. 54

Zu C) »Minima Moralia«: Die »Minima Moralia« wurden wiederum im Exil verfasst und erschienen in Deutschland 1951. Nach Auschwitz konnte es für Adorno kein gutes Leben mehr geben. Seine »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« verstehen sich als ein Mindestmaß an Ethik, das insofern noch denkbar wäre. Die Sentenz: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« ist wohl das meistverwendete Adorno-Zitat überhaupt. Das falsche Leben liegt für Adorno genealogisch im Zustand der Entfremdung begriffen. Von Auschwitz her ist dies erhärtet, aber nunmehr noch tiefer dimensioniert gemeint. Soziokulturell ist es Symptomatik der modernen Massenkultur. In nur geringen Restbeständen originärer Kultur wäre noch etwas wie Echtheit zu finden: »Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.« Adorno teilte nicht Benjamins Ansicht über die »Chokwirkung« der Filmbetrachtung, sondern sah hierin eine psychisch-intellektuelle Herausforderung. Durchaus teilte er das Zerstreuende der neuen Kunst: »Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.« 55 AGS X, 1, S. 289, 337. Zitate bis hierher: AGS. IV, S. 43, 253 f. Zum Film vgl. Henri Lonitz (Hg): Adorno / Benjamin, Briefwechsel, S. 172. Das auch bei Adorno häufige Wort »Schock« wird hier wie stets bei Benjamin »Chok« geschrieben.

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In dem Zustand des nachfolgend ersten Zitats könnte man etwas »Passagenhaftes« erkennen, eine wimmelnde Kultur ohne Refugien. Mit Topoi wie denen der Dinglichkeit, der Kindheit und der Vertrautheit wirken zahlreiche Stellen der »Minima« geradezu »abgekupfert« aus Benjamins Passagenwerk. Der im Zitat verwendete Entfremdungs-Begriff ist bereits ideologiekritische Diagnose der »Dialektik der Aufklärung«, nämlich dort in der Bedeutung eingeführt, dass die Vermehrung der Macht über die Natur durch Entfremdung von dem mit Macht Behandelten bezahlt würde, letztlich, in der Massengesellschaft, mit Entfremdung der Menschen voneinander: 56 Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen wegfallen. Denn solange sie sich nicht mit Geben und Nehmen, Diskussion und Vollzug, Verfügung und Funktion immerzu auf den Leib rücken, bleibt Raum genug zwischen ihnen für das feinste Gefädel, das sie miteinander verbindet und in dessen Auswendigkeit das Inwendige erst sich kristallisiert. [Beachte ferner:] Die Technisierung macht einstweilen die Gesten roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie unterstellt sie den unversöhnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge. So wird etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür zu schließen. Die von Autos und Frigidaires muß man zuwerfen, andere haben die Tendenz, von selber einzuschnappen und so die Eintretenden zu der Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zu blicken, nicht das Hausinnere zu wahren, das sie aufnimmt. Man wird dem neuen Menschentypus nicht gerecht ohne das Bewußtsein davon, was ihm unablässig, bis in die geheimsten Innervationen hinein, von den Dingen der Umwelt widerfährt. Was bedeutet es fürs Subjekt, daß es keine Fensterflügel mehr gibt, die sich öffnen ließen, sondern nur noch grob aufzuschiebende Scheiben, keine sachten Türklinken, sondern drehbare Knöpfe, keinen Vorplatz, keine Schwelle gegen die Straße, keine Mauer um den Garten? 57

Zu D) »Negative Dialektik«: Das unter A) beschriebene Umschlagen der Vernunft in ihr Gegenteil expliziert Adorno hier methodologisch. An dem 1966 erschienenen Werk sah er selbst seine Hauptgedanken geäußert, etwa diesen: »Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in ihrer Dialektik [gemeint: aus der Natur hervorgegangen zu sein] sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion

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Vgl. Horkheimer / Adorno: Dialektik, z. B. S. 34. AGS IV, S. 43 f., 44.

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Walter Benjamin, aus: D) »Passagen«

wäre Vernunft Übernatur.« 58 [Diese Methodologik zeigt sich durchgehend, vgl. schon 1962:] »Nichts … heißt Dialektik, als auf der Vermittlung des scheinbar Unmittelbaren und der auf allen Stufen sich entfaltenden Wechselseitigkeit von Unmittelbarkeit und Vermittlung zu insistieren.« 59 Ideologiekritisch beachte man dies: Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll. Indem sie sich restaurierte nach dem, was in ihrer Landschaft ohne Widerstand sich zutrug, ist sie gänzlich zu der Ideologie geworden, die sie potentiell war, seitdem sie, in Opposition zur materiellen Existenz, dieser das Licht einzuhauchen sich anmaßte, das die Trennung des Geistes von körperlicher Arbeit ihr vorhielt. [Dazu vergleiche, wie der nach Auschwitz allernötigste kategorische Imperativ als rein ethischer für Adorno zweifelhaft wird:] Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist … auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt. [Ferner:] Dem Kind ist es selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung, eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen Abgezogene. 60

58 59 60

AGS VI, S. 285. AGS X, 2, S. 459. AGS VI, S. 358 f., 364.

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5 Datendiskussion

5.1 Erkenntniskritisch Benjamin-Interpretationen richten sich gewöhnlich am Marxismus aus. Tiefer noch, grundlegend, ginge es um Wahrnehmung, als phänomenologische, unmittelbare gemeint. Dass Begriffe, wie die Daten zeigen, nicht von der Erfahrung losgelöst geprägt werden bzw. zurückführbar sein sollen auf die nicht mehr reduzible Erfahrung, ist eine Forderung, die unverkennbar von Adorno aufgenommen wurde. 61 Fortwährend geht es in Benjamins Werk um die Unmittelbarkeit, Einmaligkeit und den Erfahrungskontext der Phänomene. Mimetisch werden so individuelle und tradierbare Welten gebildet. Adorno baut diese Auffassung aus zur Kulturtheorie, deren nichtoperationalistische Anknüpfungsfähigkeit besondere Stärke sein dürfte. Schon in der »Dialektik« wird der systemhafte Zugriff auf die Einzeldinge beklagt. Die Parallelen in beider Schriften (eingeschlossen die »Dialektik« mit Horkheimer in Kooperation) fallen nicht nur in Zügen und Topoi auf, sondern selbst in Formulierungen und Begriffen. Der Feinsinn für die Naturhaftigkeit der Welt und deren »Eingedenken« (Horkheimer / Adorno) durch die individuelle Leiblichkeit 62, das Gespür für Orte, die, soweit unter modernen Bedingungen erhalten, solche Apperzeptionen ermöglichen und damit Vertrautheit bilden, insofern das Prozesshafte der Kultur, immer wieder der Topos des Kindes und seiner Welt, die Entrüstung über das Warenhafte der Gegenwartskultur 63 und eben einzelne Begriffe wie der der Einheit in Relation zu den Phänomenen, die Vorstellung der In systematischer Auseinandersetzung, mit Hegel, Husserl, Heidegger sowie Marx vgl. besonders auch die »Negative Dialektik«, AGS VI, S. 86–92, 154 f. 62 Mit »Leib« ist hier im anticartesischen Sinne das erlebte Selbst des Menschen in seiner Beteiligung an der Konstitution aller Phänomene gemeint, vgl. Käte MeyerDrawe in: Helmuth Vetter (Hg.): Wörterbuch phänomenologisch, S. 336, Sp. 2. 63 »Mickey Mouse« u. Ä. als Ungestalten in beider Texte, um dies hier nachzutragen, 61

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Erkenntniskritisch

Aura bzw. des Imago (oder auch des »Modells« bei Adorno) und insbesondere der Mimesis-Begriff – die Gemeinsamkeiten lassen auf regen Gedankenaustausch schließen. Erkenntnisfindung solle dialektisch gelingen – auch hier sind sich beide einig – als ein Pendeln zwischen Konkretion und Idee (erinnere: Benjamin gegen »Haften« vs. »Gleichgültigkeit«, Adornos Äußerungen zur »Vermittlung«) gegen die Herrschaft der Standpunkte. Das Dialektik-Problem, wie es in 2.2 aufgeworfen wurde, erweist sich den Daten nach vor allem als Frage einer Erfahrungshaltung und damit eng an den dort vorgestellten Forschungspositionen liegend. 64 Die Wahrnehmung der Welt geht natürlicherweise vom Individuum aus bzw. wäre von ihm, wo sie durch gemachte Konstrukte verzerrt ist, wiederzugewinnen. Der Ruf »Sapere aude« der Aufklärung klingt durch bzw. hin zur Emanzipation, sich aufgrund der eigenen Urteilsfähigkeit, d. h. bereits Wahrnehmungsfähigkeit, nicht unterdrücken zu lassen, Entwicklungen vorherzusehen und möglichst zum Besseren zu gelangen. Schon bei Benjamin erklingt elementar der Ruf zur Urteilsfähigkeit anhand der ganz persönlichen Verhältnisse, etwa über den »Bilderschatz« der Kindheit, den die kapitalistische Macht demjenigen, der diese Einwirkung nicht erkennt und sich nicht dagegen wehrt, raubt. 65 Nach äußeren Gesichtspunkten sind also bei Benjamin die Kennzeichen einer Kritischen Theorie, wie sie in 2.2 dargestellt wurden, gegeben. Die Affinitäten zwischen Adorno und ihm bzw. die, wie es aussieht, Prägungen des Adornoschen Denkens und Werks durch das Benjaminsche lassen im Grunde keine Einwände dagegen erkennen, Benjamin zur Kritischen Theorie zu zählen. Im Gegenteil – Benjamins feine Analyse zur Veränderung der Apperzeption durch das technisch erstellte Kunstwerk in Richtung Zerstreuung verleiht der aufklärerischen Forderung nach selbständiger Kritikfähigkeit, die mit Aufmerksamkeit begönne, besonderen Nachdruck.

vgl. z. B. in BGS I, 2, S. 462; in »Dialektik« S. 147. Beide bewerteten Comicfiguren als psychische Kompensationsgestalten. 64 Vgl. FN 34, 35, Positionen, die nicht die Vernunft abschneiden, wohl aber ihren Begriff erweitern wollen. 65 Um noch etwas anzuführen: »Wachsein« sei nach Benjamin, wie er mehrfach in den »Passagen« betont, zur Ermittlung des an den Gegenständen liegenden »Interesses« notwendig; der Fortschritt bringe solches Reflektieren nicht mit sich, sondern nur eine Position, die über dem Geschichtlichen stehe, hier BGS V, 1, S. 494 f.

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Datendiskussion

Der äußeren Kooperation zwischen Benjamin und den »Frankfurtern« bzw. der Adornoschen Rezeption seines Werks könnte noch genauer nachgegangen werden, insofern hierzu mit authentischen Briefwechseln und Forschungstexten viel Literatur vorliegt. Danach ist die intensive Auseinandersetzung der engeren Frankfurter mit Benjamins Texten keine Frage, sondern liegt auf der Hand. Schließlich hat Benjamin seine Texte regelmäßig an das IfS zur Diskussion und möglichst zur Publikation geschickt. 66 Dabei hat Adorno den immerhin elf Jahre älteren Benjamin besonders in den zwanziger Jahren oft scharf kritisiert. Ob ihn die Position im Kollegenkreis dazu bestärkte und ob dies bei Benjamin zur Verweigerung der Emigration mit beitrug, muss offenbleiben. Später, aufgrund der geteilten politischen Schrecken und Bedrohungen, wurden die Töne in den Briefwechseln, besonders auf der persönlichen Ebene, sehr zärtlich. In Nachrufen äußert Adorno Bestürzung, Wertschätzung und Dankbarkeit angesichts des verlorenen Freundes und schier grenzenlos kreativen Denkers. Allein Adornos Mühe an der Herausgeberschaft des diffizilen Benjamin-Werks macht seine Betroffenheit an der Sache deutlich. Er selbst gesteht das Aufnehmen des Benjamin-Denkens immer wieder zu, ohne dessen Exklusivität brechen zu wollen oder gar zu können. 67 Woran störte man sich in der Anfangszeit? Der schon erwähnten »Detailversessenheit« Benjamins standen auf der anderen Seite des Erkenntnispendels weitgespannte Deutungen gegenüber, an beiden Enden bis ins Metaphysische und Magische reichend. Bereits der bedeutungsgeladene Sprachstil Benjamins, vielschichtig, wie er die Tradition von Talmud und Kabbalah spiegelte, missfiel. Doch auch Adornos Texte werden heute für ein philosophisches Denken als zu beladen befunden. 68 Insofern ist die Nicht-Weiterverfolgung Benjamins durch die zweite Generation historisch begründet. 67 Vgl. AGS X, 1, S. 238–251; XX, 1, S. 169 f. 68 In der Menge an Belegen zur Auseinandersetzung Adorno / Benjamin siehe z. B. Martin Jay: Dialektische Phantasie, S. 211 f., 247. [D. Verf., S. L. S.,] zu Adornos Stil: Zeitumstände und Betroffenheit könnten dazu beigetragen haben. Der Gehalt bleibt, vielleicht gerade auf diesem Hintergrund, eine andere Frage. – Als Benjamin-Leser ist man durchaus geneigt zu fragen, ob dies noch Philosophie sei. Wenn man mit Ernst Cassirers Werk eine Denkform als Beitrag versteht zur Philosophie als Wahrheit insgesamt, die sich komplementär, und zwar auch aus Formen der Kunst und Religion, zusammensetzt, so kann bei Benjamin gerade dieser Beitrag wertvoll sein, vgl. Cassirer: Versuch, S. 336–346. Benjamin hatte übrigens Cassirer als Student in Berlin gehört. 66

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Ideologiekritisch

Es bleibt wohl festzuhalten, dass ein später Adorno, der sich mit Fensterflügeln und Türschwellen befasste und (hoffnungslos) »insistierte« (erinnere in 4.2 zur »Negativen Dialektik«) auf einer prozesshaft verlaufenden Kulturgeschichte, 69 unverkennbar ab den »Minima Moralia« drei Jahrzehnte lang an Benjamin gezehrt und dabei immer mehr von ihm verstanden sowie übernommen hat. Benjamins Vorstellung des Kulturverlaufs aus der Geborgenheit der Eigenwelten nach Weise »mütterlicher Rockfalten« mag sehr verträumt klingen, aber Wahrnehmung und ihre symbolhafte Darstellung heißen im Gegensatz zum positivistischen Diktat gerade nicht, dass jeder das Gleiche sehen und deuten muss. 70 Worin im Wesentlichen Benjamins und Adornos Sicht recht haben dürften, darum soll es sogleich gehen.

5.2 Ideologiekritisch Gegen Benjamins und Adornos Wahrnehmungen könnte man durchaus Einwände vorbringen, etwa, dass die Eisenkonstruktion, die für Benjamin Architekturgeschichte in ihrem Verlauf als gewissermaßen Vertrautes erlebbar macht, nicht die Arbeitsbedingungen (und aus heutiger Position auch nicht die ökologischen Probleme) ihrer damaligen Herstellung berücksichtigt. Man könnte Adornos heimelige Ansicht der körperlichen Arbeit, die sich früher in Plackerei und Schmutz erging, für anmaßend halten. Der »Chok« der »Reizüberflutung«, wie man heute sagen würde, wurde schon von Adorno selbst in Frage gestellt. 71 Jetzt, im dritten Jahrtausend, beherrschen die Menschen Multitasking und benutzen – gegen Adorno – eher fein Das Prozesshafte entfaltet er besonders am Kunstwerk in seiner »Ästhetischen Theorie«, AGS VII, S. 262–266. 70 Die Spannbreite des »Erkenntnispendels«, wie es genannt wurde, erinnert abermals an Nietzsche, der vom »Bauch der Schlange vita« aus Philosophie schafft: KSA IV, S. 40, KSA XII, S. 348. 71 Den »Kunstwerksaufsatz«, wie unter 4.2 schon angedeutet, mochte Adorno nicht. Er fand einerseits den Aspekt der Suggestionswirkung bürgerlicher Kunst und andererseits den der Emanzipation gerade im reproduzierten Werk übergangen bzw. vermisste das dialektische Geschehen in Benjamins Kulturanalyse, so Burkhardt Lindner: Handbuch, S. 241. Später, in der »Ästhetischen Theorie«, formuliert er in fast Benjaminschem Wortlaut: »Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick … momentanes Innehalten des Prozesses, als der es dem beharrlichen Auge sich offenbart«, AGS VII, S. 17. Dieses gesamte Werk Adornos zeigt, wie sehr seine Denkentwicklung Benjamin speziell als Phänomenologen aufnahm. 69

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Datendiskussion

beschaffene Gebrauchsdinge. Überfordert bzw. in ihren Entfaltungsmöglichkeiten zum guten Leben eingeschränkt fühlen sie sich allerdings trotzdem noch. Hartmut Rosa hat dies durch Beobachtungen und Befragungen für seine Ideologiekritik ermittelt, 72 die er, wie eingangs erwähnt, phänomenologisch unter die Beschleunigungsmacht fasst. Ausgehend von der leiblichen Ökonomie, wie sie Benjamins und Adornos Kritik an der aufgeklärten Epoche zugrundeliegt, müsste man allerdings »Verkünstlichung« als deren herrschendes, Macht ausübendes Signum ansehen. Beschleunigung wäre dieser immanent, aber mit der instrumentellen Vernunft als treibende Kraft ginge es primär darum, überhaupt Anforderungen zu bewältigen. 73 Dazu an späterer Stelle mehr. Adorno und Benjamin – hier dürfte eine weitere wesentliche Übereinstimmung im Kontext der Frankfurter Schule liegen – zeichnen letztlich ein Geschichtsbild. Wer immer wieder wahrnimmt, was um sich herum vorgeht, wird aufs Ganze gesehen zustimmen können, dass Adornos (stilistisches) Insistieren 74 recht erfolglos bleibt. Denn so vollzieht sich moderne Erkenntnis gerade nicht, dass Neues aus einem Bestand gefolgert wird, und deshalb, nach Ansicht von Benjamin und Adorno (sowie auch Horkheimer), läuft Geschichte so nicht ab. Indem Experten und Konstrukteure die Massen durch künstliche, angenehm erscheinende (arbeitserleichternde, genussbringende etc.) Warenerzeugnisse von der wahrnehmenden Einverleibung der Welt abbringen sowie auch das Weltbild verzerren (erinnere: Benjamin zur Kunstphilosophie – heute die geschönte Welt, Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung, z. B. S. 90. Das dürfte seit Beginn der Kulturgeschichte gelten. Etwa Monolithen 500 km weit (wie man gerade weiß) nach Stonehenge zu schaffen, gelang auf Baumstämmen vielleicht nicht schneller, aber bequemer als mit reiner Muskelkraft. So zeigen auch Beispiele bei Rosa, dass Heutige nicht primär durch Zeitdruck überfordert sind, sondern in vielen Fällen zunächst durch die Bewältigung von Knowhow usw., was erst sekundär Zeitprobleme schafft; Hartmut Rosa: Beschleunigung, z. B. S. 135, »Eigentlich bin ich ganz anders«, d. h. würde lieber Mir-Gemäßes tun, wie Rosa selbst sagt unter Verweis auf eine Unterscheidung Walter Benjamins, nämlich zwischen Erfahrungen und, unpersönlich, Erlebnissen. Und doch muss auch der Zeitdruck, obwohl schon fast eine Plattitüde, angeprangert werden: Er macht nervös und aggressiv im Miteinander, Gemeinschaften zu Tretmühlen (d. Verf.). 74 Adorno »insistiert« oder »beharrt« öfter und wirkt damit normativ, was aber als stilistischer, untergeordneter Zug angesehen werden dürfte. Vgl. zum o. g. Inhalt passend: dass man »wie ein Kind auf dem beharrt, bei dem stehenbleibt, was man nun einmal gesehen hat, AGS IX, 1, S. 86. 72 73

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Ideologiekritisch

in der man Toxine, Strahlung, Tierquälerei, gar Kinderarbeit nicht sieht), delegieren Letztere fortlaufend weiter ihre Lebensvollzüge an Erstere. Benjamin und Horkheimer / Adorno benennen einvernehmlich den Zustand des Weltverlusts in solchen Vermarktungs- und Konsumstrukturen mit dem Marxschen, dort auf die Produktionsstrukturen bezogenen Begriff der Entfremdung. Man sieht: Erkenntniskritik ist sowohl bei Benjamin als auch bei Horkheimer / Adorno schon selbst Ideologiekritik, weil bereits die Delegation der Lebensvollzüge herrschende Weltanschauung der kapitalistischen Strukturen ist. Damit also bedauern sowohl Benjamin als auch Adorno beim Individuum einen Verlust an Eigenwelt, die vormals durch die Leibesökonomie konstituiert war – eben darin besteht die Entfremdung. 75 Wenn es der Kritischen Theorie nach Horkheimer / Adorno darum geht, an beispielhaften Feldern lediglich Züge der Gegenwart aufzuweisen, um Menschen in nicht bevormundender Weise Impulse zum Denken bzw. Reagieren zu geben, dürfte Benjamin ganz in ihrer Reihe stehen. Für Adorno besteht Entfremdung nicht zuletzt in der warenhaften Organisation der menschlichen Beziehungen (erinnere in 4.2 in »Minima« unter C)), der Gleichgültigkeit und Einsamkeit der Masse. 76 Was die negativen Seiten der Geschichte anbetrifft, also die »Plackerei«, den »Schmutz« und vor allem die herrschaftlichen Unterdrückungsformen durch maximale Manipulationen mangels selbständig denkender Massen, so ist bei Benjamins und Adornos Beispielen wohl kaum von einem Ignorieren auszugehen. Vielmehr scheint es ihnen

Hartmut Rosa übernimmt später diesen Begriff, zu Rosas Füllung s. den Schluss von FN 73. 76 Weitere Beispiele: Wenn die Schockwirkung der Reize laut Benjamin das verlorengegangene Verhältnis zur Welt kompensierte, so scheint der spätmoderne Mensch den Verlust der Aura z. B. durch Stilrichtungen wie »Vintage«, »Shabby« oder »Patina« zu kompensieren. Der Reiz an lebendigen Prozessen, Abnutzung / Verfall und neu sich synthetisierenden Formen wird deutlich. Doch es sind aufgesetzte »Moden«, im Eigentlichen nur als »Deko« verwendet, durchaus aber zum Gebrauch, z. B. abnutzungsfreie Hightech-Fußbodenbeläge in Gestalt des Abgenutzt-Seins. Der »Schock« indes ist zur Berieselung und spätestens mit Neill Postman zur »Verblödung« geworden – endlos könnte man Benjamin und Adorno zum Verlust der Eigenwelten bzw. zur Entfremdung stützen. Von der neuerlichen Weltvermittlung durch handliche Screens ganz zu schweigen – jetzt, bei Hartmut Rosa, betrifft daher der Verlust, in der Welt »sich zu verorten«, eklatant auch die menschlichen Beziehungen: vgl. Beschleunigung, S. 142. 75

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Datendiskussion

um die Enttäuschung an der Aufklärung zu gehen, die ihr Versprechen, alles dies zu überwinden, nicht eingelöst hat und stattdessen in einen Regress gefallen ist. »Faschismus« oder »Kapitalismus« erscheinen bei beiden nur als ein anderes Wort für die Totalität der neuen Herrschaft. Mit den technisch-kapitalistischen Möglichkeiten der Moderne ist Herrschaft zum Eingriff dergestalt in die Geschichte geworden, dass diese selbst nicht mehr als Gewachsenes, sondern als Gemachtes erscheint. Von dem Gesagten her wirkt es so, als ob auch Benjamin das »Dialektische« der Aufklärung klar erkannt hat, Dialektik nun von den Daten her zu sehen einerseits als Beschreibung sowohl der Intellektualität als auch des Geschichtslaufs zwischen Naturverlust, anderseits als Standortverlust, und möglicherweise hat er dies mit Horkheimer und Adorno diskutiert. 77 Festzustellen ist bis hierher jedenfalls ideologiekritisch eine deutliche Nähe oder sogar Übereinstimmung Benjamins zur Frankfurter Schule. Wo liegen Unterschiede, d. h. im Vergleich zu Adorno? Sie betreffen – in 2.2 wurde es eingeführt – den Ausgang der Geschichte und werden in der Fachdiskussion stets betont. Da sich Teil 4 feldmäßig auf »Ästhetik« und »Denken« richtete, soll dies nur skizziert werden. Gleichwohl muss das Geschichtliche aus Gründen der aufgezeigten Verbindung von Erkenntnis- und Ideologiekritik genannt werden. Nicht nur Benjamin, sondern auch Adorno hatte die Geschichte aufgegeben. 78 In einem Gedicht seines Freundes Gershom Scholem und in Paul Klees Skizze »Angelus Novus« erkennt Benjamin den Engel der Geschichte wieder, wie er auf die Vergangenheit zurückblickt und die Verwüstung heilen möchte, aber vom Sturm in die Zukunft geweht wird, der vom Paradies aus als Fortschritt weht. Nur Flügel kann er noch schützend aufstellen. Zwischen 1933–38 fasst Benjamin dies in eine seiner Geschichtsthesen. 79 Benjamins letztendliche Erlösung durch einen außergeschichtlichen Messias gibt es für Adorno nicht, doch besteht er, innergeschichtlich, auf sozusagen beschirmten Orten des »Eingedenkens«, wo noch vorhanden, und somit vor allem dem Ort des Bewusstseins über die Negativität

Zu einer Mitwirkung Benjamins an der »Dialektik der Aufklärung« wurden aus der Literatur, etwa den Briefen, im Rahmen dieser Untersuchung keine Hinweise gefunden. 78 Vgl. Stefan Müller-Doohm: Adorno, S. 429. Geschichte als Zielperspektive und Utopie wäre grundlegend für die etablierte politische Linke. 79 Vgl. BGS II, 2, S. 697 f. 77

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Ideologiekritisch

der Welt. Verbunden ist damit sein Selbsteinschluss in die Gesellschaft und das Verharren in der radikalen Selbstkritik. 80 Die Erfahrung lehrt, dass selbstkritisches Bewusstsein der Absorption durch ein System zumindest etwas wie Flügel entgegenstellen kann. Ohne solches Bewusstsein wäre auch die Kritik höchst gefährdet. Diese, innerhalb der Frankfurter Schule besonders Herbert Marcuse zuzuschreibende Einsicht wurde eingangs im Blick auf die Ambivalenz des Kritischen angedeutet. 81 Für Adorno ist das aus der Leiblichkeit in speziell ihrem Schmerz geschöpfte Bewusstsein die letzte Form von »Glück« 82, die er »das Hinzutretende« nennt, das also gegeben sein müsste, um Leben noch erträglich zu machen. Eine Überwindung entwickelt er in der »Utopie« des ganz Anderen. Diesen seit der »Dialektik« kursierenden Begriff benutzt er später immer öfter. 83 Im Blick aus dem Flugzeug träumt er von Sternen, die von Glücklicheren als den Menschen bewohnt sind. 84 Adorno argumentiert, dass ohne Begriff eines richtigen Lebens Philosophie sinnlos würde. 85 Metaphysisch sind beide, der Messias und »das Andere«, sprachlich gesehen Chiffren, wie eingangs ausgedrückt; die Unterschiede zwischen Benjamin und Adorno somit nur perspektivischer Art. Eine metaphysikfreie Kritische Theorie auf dem Boden eines radikalen Geschichtsbilds ist wahrscheinlich Illusion. Es sieht aus, als hätte Benjamin mit seinem Denken, dies vielleicht auch aufgrund der Erschütterungen, die er biografisch den Frankfurtern voraus hatte, bei Adorno Enormes zum kritischen Denken in einer eigentlich erledigten Welt beigetragen. Benjamin nicht zur Kritischen Theorie zu zählen, wäre im Rahmen der hier getätigten und doch als einschlägig erscheinenden Untersuchungen eine Art Vergehen.

»Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, daß er sich für besser hält und seine Kritik der Gesellschaft mißbraucht für sein privates Interesse … vor diesem [dem Verstrickten] hat er nichts voraus als die Einsicht seiner Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt«, AGS IV, S. 27. 81 Vgl. Herbert Marcuse: Eindimensionaler Mensch, zugespitzt S. 267. 82 Zu »Glück« vgl. FN 80. 83 »Utopie« in der »Dialektik« noch in Bedeutung von Illusion benutzt: z. B. S. 214. Positiver gefärbt z. B. in einem Gespräch mit Ernst Bloch 1964, in: Rainer Traub / Harald Wieser (Hg.): Etwas fehlt, S. 58–77. 84 Vgl. AGS XX, 2, S. 551. 85 Vgl. AGS IX, 1, S. 133. 80

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Datendiskussion

5.3 Binnenlösung – und auf heute bezogen: Walter Benjamins »bucklicht Männlein« Einst bildete ein Naturgut oder eine Sache eine vertraute Welt, in der man zu Hause war und sich entwickeln konnte, die in der kapitalistischen Epoche gerade noch das Kind mit seiner originären Wahrnehmung und Fähigkeit zur Phantasie erhalten kann. 86 So könnte man Benjamins und Adornos Kulturtheorie von deren Genese her zusammenfassen. Man muss daher als Erwachsener sehr intensiv wahrnehmen, was um einen herum vorgeht, um All-gemeinbegriffe wie z. B. Fortschritt, Wachstum, Globalisierung, Wohlstand, Energiewende oder Smart-Technologies in möglichst vielen Seiten zu erkennen und, insofern deren Programme fast jeder mitmacht oder duldet, als etwas Ideologisches zu entlarven. Über allem steht noch die NormalitätsIdeologie: »Das ist eben jetzt so«, und faktische Auswirkungen jeglicher Art sind zu »schlucken«. 87 Wer wirklich leidet und rebelliert, z. B. gegen Ma-schinenlärm, Lichtverschmutzung oder den Verlust der grünen und tierischen Natur, ja der gesamten Artenvielfalt, was in der Wohlstandsgesellschaft alles zunehmend direkt auch von Privaten ausgeht, wird zum Spielverderber. 88 Lässt sich die gesellschaftliche Verschleierung mit dem physiognomischen Blick brechen? Könnte solche Brechung mit Walter Benjamins »Wachsein« 89 gelingen – was dessen Stand als kritischer Theoretiker, als zeitgemäßer, nochmals bestärken würde?

Zur Kulturbildung als Einverleibung und Welten-Bildung, um dies nachzutragen, gäbe es kulturwissenschaftlich wertvolle Beiträge, vgl. Carl Wilczek: Symbol und Überlieferung als Hintergrund unserer Gartenkultur, Weihenstephan 2009. Ethnokulturell zur Sprache (FN 38 stützend) vgl. Wilhelm Grönbech: Germanen Bd. 1, S. 256 f. Philosophisch vgl. vor allem das Werk Michel Foucaults. 87 Ein »›freiwillig‹ und gegen unseren ›eigentlichen‹ Willen« erfolgendes Mitmachen beschreibt Hartmut Rosa anschaulich: vgl. Beschleunigung, S. 121. 88 Plötzlich, ausgelöst vor allem durch den Klimawandel-Aktivismus der FFF-Bewegung, ist Schutz der Ökosphäre zum politischen Programm geworden, das selbst schon ideologisch wirkt. Mit der anhaltenden Forcierung von Wohlstand und Wachstum und offenkundig wenig Bereitschaft zum wirklichen Verzicht bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung wohnt dem Ganzen eine Schizophrenie inne. Dazu mehr in Teil 6. 89 Zu »Wachsein« vgl. FN 65, vgl. auch BGS V, 1, S. 492 die Dialektik von Wachen und Schlafen nach der Rhythmik der Natur, zu Wachsein in kontemplativer Form, jenseits des Denkens, S. 595. 86

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Binnenlösung – und auf heute bezogen: Walter Benjamins »bucklicht Männlein«

Allerdings reichen bei Benjamin die Vertrautheit der Phänomene bis in Traum und Magie und seine Schlussfolgerungen ins Metaphysische. Etwas ratlos werden daher Gestalten wie sein Engel oder das bucklicht Männlein z. B. als »dialektisches Hilfspersonal« 90 abgetan. Irritationen durch Benjamins außerrationale Gedanken erwähnte auch diese Arbeit. Wie kann man damit umgehen? Hier wird vorgeschlagen, solche Gestalten, speziell das Männlein, wie es vom jüdisch-kabbalistischen Denken gedeckt wäre, symbolisch zu verstehen. Der Vorteil ist, dass Deutungen sowohl in die weltbezogene als auch in die metaphysische Richtung offen bleiben. Benjamin gibt hier die Deutung selbst vor, nämlich, dass es sich bei dem Männlein um ein Bild für das »Gesindel« der Alltagserfahrungen handelt, die im Traum nachwirken. Das ganze Gedicht wird damit eine Anleitung zum gesteigerten Wachsein, zur Achtsamkeit. 91 Das passt auch zur modernen »Lebensgefahr« gut (man denkt dabei wohl als Erstes an den Straßenverkehr), die Benjamin im Kunstwerksaufsatz erwähnt. 92 Ein kleiner Rückblick auf die Wesensmerkmale des Kunstwerks: Dessen Singularität, Echtheit und Andrängung einer Mimesis oder eines Eingedenkens wohnt noch ein weiterer Aspekt inne, nämlich der Gedanke des Scheiterns. Die Erfahrung authentischer Kunst ist nicht nur deshalb prickelnd, weil sie einmalig ist, sondern als Gelingende ist sie immer auch insofern einmalig und echt, als sie scheitern kann. 93 Authentische Kunst verweist auf die Kontingenzerfahrung des menschlichen Lebens, auf dessen Fragilität und Endlichkeit. Prototypisch dürfte in der Philosophie für das scheiternde Kunstwerk die Parabel vom Seiltänzer in Nietzsches Zarathustra stehen, ein auftretender Artist, den das Volk bereits für den »Übermenschen« hielt und der aufgrund jäher Ablenkung durch einen lächerlichen Possenreißer zu Tode stürzt. Nietzsches gesamte Anthropologie steht mit der Kontingenz, die er der Seiltänzer-Episode so voranstellt: »Der Mensch ist Interpretation siehe www.youtube.com/watch?v=OOW0Lq7GMbs, Teil 1. Lebhaft honoriert der späte Adorno, der sich 1964 zwecks Herausgabe mit dem bucklicht Männlein befasste, gegen einen landläufigen Eindruck von Benjamin als Träumer dessen außerordentlich vielbezügliches, an allen Dingen interessiertes Denken, vgl. AGS XX, 1, S. 170–171. 92 Zum Autoverkehr kommen auch die Schau- und Zeigelust auf das Derbe, Verletzte, Hässliche im Fall eines bemerkten Unfalls in den Sinn, die menschlich scheußlich ist, praktisch destruktiv und schon manchen Gaffer selbst vom Steuer gerissen hat. 93 Bei Benjamin wäre das im Umkehrschluss abzuleiten aus seinen Beschreibungen über die Aufgebote, die man der technischen Kunst für deren optimales Gelingen zukommen lässt, vgl. z. B. BGS I, 2, S. 452. 90 91

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Datendiskussion

ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.« 94 Die Parallele der Episode zum bucklicht Männlein ist verblüffend, denn auch im Possenreißer verschwimmen Realität und Traumsymbol. Beim bucklicht Männlein ist der wach erfahrbare Schauplatz eigentliches Thema. Dieser Schauplatz lässt erleben, wie schnell man fallen kann. Achtsamkeit wäre das Gegenstück zur Kontingenz, zumindest ein Schutz. »Geschick«, um den Benjaminschen / mütterlichen Ausdruck aus 4.2 C) positiv zu verwenden, wäre das Gleiche, den Handlungsraum schon mit im Blick. Man kann fallen wie das Gesindel, dessen erwerbsmäßig notwendige und überhaupt immerzu derbe Handlungen einen faszinierten und ablenkten. Beim Gesindel ginge es um alle Menschen in jeweils schwierigen Situationen, angefangen beim Possenreißer, z. B. einem ADHS-Kind in der Kita. Geschichtlich, die Marx-Benjamin-Spannung im Blick, könnte man sagen: Wo Geschichte nicht zum Erfolg der Revolution führt, bleibt es in der »stehenden Geschichte« dabei, dass das Proletariat ständig Klamauk betreibt. Man wird nicht tief fallen, wenn man an genetischen und soziokulturellen Bedingungen besser ausgestattet ist als im jeweiligen Fall Benachteiligte. Man wird aber im Wege der Achtsamkeit erkennen können, dass man hier lediglich mehr Glück gehabt hat 95 und so zu einem solidarischeren Menschenbild gelangen können. Das würde auch Adornos Werk sehr gerecht werden, das vehement die Vermarktung des Menschen aufspürt. 96 Vielleicht würde einem die Lage »moderner Sklaven«, die in anderen Kontinenten Wohlstandswaren fertigen, eingängiger werden sowie ähnlich die all der Lageristen, Lieferanten und Putzkräfte, die »unter Tage« das »Fassadenwerk« eines Schlaraffenlands herstellen. Und vielleicht – hoffentlich –, wenn man die Achtsamkeit einübt, kann man zu geschickteren Lebensformen gelangen, die mit der Foucaultschen »Sorge um sich« die Sorge um andere, nach heutigem Problembewusstsein auch Tiere und Pflanzen, einschließen. 97 Soviel soll hier als Antwort auf die im Eingangsteil skizzierten Problemlagen gegeben KSA IV, S. 16, 20–22. Dass man lediglich mehr Glück gehabt habe, ist antimoralistischer Tenor im Werk des Kirchen- und Gesellschaftskritikers Eugen Drewermann, vgl. etwa zu Suchtleidenden: Moral, S. 138 f. 96 Soziale Phänomenbezüge finden sich besonders reichlich in den »Minima«, vgl. AGS IV, z. B. S. 44–46. 97 Bei Foucault ist dies im Sinne Kantischer Verantwortlichkeit gemeint, vgl. Michel 94 95

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Binnenlösung – und auf heute bezogen: Walter Benjamins »bucklicht Männlein«

werden, von dem Sachzusammenhang ausgehend, dass der westliche Lebensstil für Zustände rund um den Globus erheblich mitverantwortlich ist, auch wenn der Hoffnung auf Linderung im Moment wie magisch entfachte Folgen entgegen stehen. 98 Jedenfalls die Gleichgültigkeit, die mit dem Schein des Wohlversorgt-Seins zu diesem Stil gehört, kann durch Achtsamkeit gebrochen werden, und so zeigt sich bei der hier angebotenen Benjamin-Aktualisierung wiederum der Übergang von Erkenntnis- zu Ideologiekritik. Es wäre eine Ideologiekritik zudem, die nicht an die ökonomischen und sonstigen Implikationen des orthodoxen Marxismus gebunden bliebe. Die bei Walter Benjamin vorgefundene Haltung der Achtsamkeit würde, wenn man an ihre Einübung denkt, vielleicht ein Mindestes an Programmatik implizieren, das im Rahmen einer Kritischen Theorie erlaubt wäre. Sie würde philosophisch besonders auch auf der Aristotelischen Einsichtnahme in die Dinge der Welt fußen, die dort in die kosmische Schau mündet. Um einen metaphysischen Umgang auszusparen, könnte man sich die letzte Zeile des alten Kindergedichts zu Eigen machen, die lautet, »Liebes Kindlein, ach ich bitt, bet fürs bucklicht Männlein mit«, und dabei das Wort »beten« etwa durch »gewahren« ersetzen. Die Unterschiede zwischen Vernunft und Glaube wären dann nur Nuancen der Übergänge in verschiedenen gleichwertigen Formen des Bewusstseins. 99 Die Achtsamkeit als zunächst rein anteilnehmende Haltung an den Mitmenschen kann interkulturelles Verstehen fördern, ähnlich wie sie bei christlicher Kulturprägung Positionen wie den Hang zur Selbsthinterfragung oder der Fähigkeit zum Reflektieren zwischen Extremen sinnvoll befördern kann. 100 Sie könnte als reine Haltung, um auch hier konkrete Programmatik zu verhindern, geschult werden, und zwar anhand authentischer Kunst, selbst dies nur beispielhaft zu verstehen. So könnFoucault: Sorge, z. B. Bd. 3, S. 26. – Ökologisch stünde heute »Leben« als »Anteilhabe« aller Lebensformen im Blick. 98 Man sieht hieran, wie schnell man an höhere Gewalten zu glauben neigt, wenn Zustände, von Menschen gerufene Geister, derart entfesselt auftreten. 99 Vgl. dazu Ernst Cassirer nach FN 68. 100 Der polnische Humanismus- (dabei auch Marx-) Forscher Leszek Kolakowski betrachtet den Verlust des Maßnehmens als Schlüssel westlicher Extrementwicklungen. Es sei einst u. a. mit den christlichen Lehren zwischen Antipoden etwa von Menschlichkeit und Göttlichkeit Christi, Gesetz und Liebe, sichtbarer und unsichtbarer Kirche usw. angelegt worden, vgl.: Moderne, S. 36–41. Beachte S. 45: »Wir haben nicht die Wahl zwischen totaler Perfektion und totaler Selbstzerstörung: Unser irdisches Schicksal ist vielmehr endlose Sorge, endlose Unvollkommenheit.«

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Datendiskussion

ten etwa philosophische Tagungen in sorgfältig sanierten Baudenkmälern stattfinden, die qua Denkmal, aufgrund ihrer Klassizität, etwas Überzeitliches und damit Kontemplatives ausstrahlen. 101 In solchen Gebäuden stünde, wahrnehmend erfahren, die Zeit still, dem gnadenlosen Druck der Außenwelt, der existentiellen Angst, nicht zu bestehen, wären Flügel vorgeschoben. Die stumme, nicht direktive Sprache der Denkmäler hätte etwas von der Stimme sanften Schweigens in 1 Könige 19, 11 f. des Alten Testaments, durch die der Prophet Elia vom Aktivisten zum Lauschenden wird. So schließt auch Hartmut Rosa seine Kritik der Beschleunigungsverhältnisse mit der Hoffnung auf Haltungen, die sich die Welt im Sinne der Mimesis oder des Eingedenkens wieder »anverwandeln« können, die »Responsibilität« der Welt erhalten. 102 Indes verlässt Rosa mit mehreren Konzeptschriften zum praktischen Zeitmanagement das Theoretische 103 – um die Grenze einer Kritischen Theorie nochmals zu klären. Vergleichsweise als hypermoderne Rationalität – die Achtsamkeit gilt danach als überholt – versteht sich das eingangs erwähnte Konzept »Transformationsdesign« des Soziologen Harald Welzer. Hinter dem sperrigen Wort verbirgt sich, als rigorose, sachlich sicher voll berechtigte Reaktion auf den westlichen Konsumismus, eine radikale Verzichtsethik, -ästhetik und -privathaushaltung: Verzicht als Entlastung, Gewinn. Die Darstellung liest sich höchst appellativ und sieht ein rein funktionell ausgerichtetes, sehr asketisches gutes Leben vor, das zu übergehen scheint, dass der Mensch auch ein Gemüt besitzt. 104 Die Haltung der Achtsamkeit dagegen hielte sich im Theoretischen und widerstünde dabei vorteilhaft dem, was eingangs besonders betont wurde: Formen der Normativität. Es gibt nach dem Gesagten gute Gründe, das bucklicht Männlein als Symbol für Achtsamkeit zu verstehen, die sodann in der globalen Welt eine kritisch-theoretische Haltung bilden könnte, besonders 101 Vgl. Benjamin zum Baudenkmal: BGS V, 1, S. 487. Dazu vgl. Adorno zum versachlichten Bauen im Passus, der mit »Es gibt kein richtiges Leben …« endet: AGS IV, S. 42 f. 102 Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung, S. 144, 147 f. 103 Zentral: Hartmut Rosa et al.: Zeitwohlstand, Hg. Konzeptwerk neue Ökonomie e. V., Leipzig 2014. 104 Beispielsweise wird an die Einfachheit der Zustände in der DDR angeknüpft, ohne zu erwähnen, dass diese politisch unfrei beschaffen waren, entbehrungsreich und vielfach sehr hässlich, vgl. Bernd Sommer / Harald Welzer: Transformationsdesign, S. 120 f. Der Co-Autor, Bernd Sommer, wirkt als Klima- und Nachhaltigkeitsforscher.

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aufgrund ihrer solidarischen Implementierung. Die philosophische Mystik-Forschung etwa über das Werk der Edith Stein, ähnlich auch die Lebensphilosophie französischer Prägung über das Denken der Simone Weil, befasst sich zur Zeit in ähnlicher Intention mit der mentalen Leere und inneren Aufmerksamkeit dieser Erfahrungen. 105 Von fast allen Mystikern ist ja bekannt, dass sie im Glauben wie im Denken und im Leben gleichermaßen fest standen, etwa Simone Weil als streitbare Sozialistin. Die Haltung der Achtsamkeit wäre überführbar sowohl in die Transzendenz als auch in die Kultur. In beider Hinsicht undogmatisch, hätte sie den Horizont, entsprechenden Ideologen bzw. Geschäftemachern auszuweichen und sich in andere kulturelle Vorstellungen einzufügen. »Das bucklicht Männlein« sollte, so Benjamins einzige Regieanweisung für seinen Werknachlass, an dessen Ende zu stehen kommen. 106 Die Achtsamkeit, im ästhetischen Feinsinn des Frühwerks schon angelegt, zuletzt sozial zugespitzt, erscheint somit wie ein Motto seines Werks in kulturphilosophischer Hinsicht. Zuletzt – wenn somit Walter Benjamin in die Kritische Theorie eingereiht wird, wirkt die mit dieser Arbeit gewagte Begriffs-Pointierung »kritische Ästhetik« als erlaubt und angebracht, wenn doch Benjamins Sprengkraft in einem besonderen ästhetischen Impetus ihre Evidenz zeigt.

105 Vgl. zu Simone Weil die Schrift Rolf Kühns: Leere, S. 34 auf heute bezogen. Geradezu mystisch spricht Adorno von der »Selbstpreisgabe« der Erfahrung als der einer Situation »Erliegende«, was er gemäß »Camus«-Absurdität mit »Glück« identifiziert: AGS IV, S. 228. Wiederum vgl. auch die Nähe zu Nietzsche, das Verhältnis von Selbstüberwindung zu »Untergang«, vgl. z. B. KSA IV, S. 83. 106 Das überliefert Adorno, vgl. AGS XX, 1, S. 171.

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6 Hauptfrage: Entfremdung durch Digitalisierung

6.1 »Entfremdung« gegen »Seele« Zur Rekapitulation: Die Binnenfrage der Hinzuziehung Walter Benjamins zur Kritischen Theorie gilt nun im Rahmen dieser Arbeit als geklärt. Die zerberstenden Themen der Zeit, Angst besonders in ökologischen Lebensgrundlagen, die Welle des Digitalen und vielseitiges Ringen (doch auch Verstummen) um Problemlösungen, lassen das Denken Benjamins abermals geeignet zum Anknüpfen erscheinen. Dabei wird einem Fachaufsatz von René Buchholz zugestimmt, dass die Beschäftigung mit Benjamins Ästhetik (gleichsam Adornos Sicht) im Zeitalter industriell geformter Produktions-Wahrnehmungsweisen angesichts der seit Jahrzehnten fortschreitenden Bestimmungsmächte eben dieser Massenkultur über nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche keineswegs »antiquiert« sein dürfe. 107 Nach Auffassung dieser Arbeit wird insbesondere eine Theorie gesucht, die sich jenseits eines ideologisch vermittelten Aktivismus, wie er beobachtbar den Zeitgeist beherrscht, zu einem grundlegenden Umdenken eignet. Beginnen wir mit historischen-ästhetischen Gedanken zum kulturellen Fortschritt. Eisengerüste, die das großstädtische 19. Jahrhundert emportrugen, was Benjamin in eigens »Passagen« genannten zwei Schlussabschnitten (heute BGS V, 2) zum reflexiven Höhepunkt führt, zeig107 Vgl. René Buchholz: Perte d’auréole, S. 1, a. a. O. auch: »Was Züge einer schicksalhaften Naturmacht angenommen hat, entzieht sich jeglicher Kontrolle und spottet der ohnmächtigen Theorie. Macht und Ohnmacht sind aber kein Wahrheitskriterium. Soweit Denken sich nicht resigniert vor der schäbigen Realität in eine scheinbar sturmfreie Zone zurückzieht oder umgekehrt seine Aufgabe nur noch darin sieht, die Wirklichkeit nachträglich zu rechtfertigen und sich in ihr einzurichten, bleibt das kritische Geschäft aktuell … Von den Anfängen bis heute ist der behauptete demokratische Charakter der Massenkultur, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung zutreffender ›Kulturindustrie‹ nannten, zweifelhaft.«

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ten als weithin gefeierte Bautechnik nicht nur Erfolge. Bekanntermaßen wohnten der Plackerei der Arbeiter in den Schmelz-, Gieß- und Walzwerken physische Belastungen inne sowie auch ein hohes Maß an Entfremdung 108, insofern diese industriellen Arbeitsprozesse übergeordneten Waren- und Arbeitsmärkten folgten. Wer heute ein Haus baut, könnte das von der Planung bis zur Einrichtung mit Mouseclicks in die Wege leiten und dann das fertige Zuhause über eine Software steuern, während man im Büro wie unterwegs täglich viele Stunden ähnlich bequem wirkende Handlungen des Berufs und der persönlichen Versorgung ausführt. Die harte und die smarte Welt, wie es scheint oder uns suggeriert wird. Auch baulich erwies sich die Eisentechnik nicht immer als bestens, insofern sie z. B. in billige, minderwertige Erzeugnisse ausuferte, die weit übers Land das Holzgebälk verdrängten. In Kuhställe der ab 1850 gebauten Bauernhäuser zog die »Preußische Kappendecke« ein, ein Ziegel-Tonnengewölbe unter Roheisenträgern, was die darüber liegenden Kammern des Dachgeschosses angenehm von Dunst und Geruch freihielt. Aber nur, solange die Eisen hielten. Wer heute solche Räume, etwa eines Denkmalhofes, saniert, sofern sie überhaupt noch stehen, tut gut daran, die in Rost zersetzte Statik nebst Deckenfläche durch Holz auszutauschen und dafür eine fünfstellige Summe zu investieren. Die Wiederherstellung der Preußischen Kappendecke bei einem Raum von 50 qm kostet mit hochwertigen Stahlträgern, die ähnlich schon im 19. Jahrhundert nur in wichtige Bauwerke verbaut wurden, zusammen mit der Gewölbemauerung ein Mehrfaches. Wenn Walter Benjamin im Kunstwerksaufsatz »Tradition« und die raumzeitliche Einmaligkeit der »Aura« als bestimmende Größen für ästhetische Qualität äußert, 109 würde er unsere heutige Wahl der Holzdecke (von Kosten abgesehen) dennoch kaum teilen. Während viele Jetzige den möglichst alten und natürlichen Stil zurückersehnen (bis zu Mode-Verfehlungen des »Shabby« oder »Vintage« wie schon angemerkt), war ihm als Geschichtsphilosoph Fortschritt wohl suspekt, aber unabdingbar. In dieser Divergenz ist sicherlich die jü108 Hier durchaus nach der klassischen Marxschen ökonomischen Definition, wonach die Beziehung zur Arbeit, zum hergestellten Werk und zur sozialen Umgebung aufgehoben wird. Benjamin verwendet den Begriff grundsätzlich-ästhetisch, vgl. nach dem Kunstwerksaufsatz FN 42. Kulturtechnisch ist anzumerken, dass es sich beim Eisenbau des 19. Jahrhunderts um die Revolution vom Schmiede- zum Gusseisen handelte; dazu später Weiteres. 109 Pointiert vgl. BGS I, S. 19, 21.

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dische Weltauffassung enthalten, die schon der frühe Benjamin in der Engels-Allegorie zuspitzt. Beides, Auffassung und Bild, folgt faktisch den Fiaskos des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, d. h. einer Linie gegen den Marxschen Idealismus, Geschichte als »Katastrophe« zu sehen, »die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm [dem Engel der Geschichte, d. Verf.] vor die Füße schleudert«. Fortschritt kann sich insofern für Benjamin nur in ethischer Qualität messen. 110 Allerdings sind Ästhetik und Ethik in Benjamins Philosophie vollkommen legiert. Technische Grenzen, Schwächen sowie soziale Folgen der großstädtischen Ära erlebte er mit wachen Sinnen und beschreibt das Miteinander von Größe und Armut als Milieu des Pariser Passagenlabyrinths, Häuserfluchten verwoben mit dem in ihnen sich ergehenden Leben aller Art. 111 Dabei wurde in dieser Arbeit am »bucklicht Männlein« Benjamins Sensorium für das Niedrige bzw. das in Hoch und Niedrig phänomenologisch gar nicht trennbare Leben schon thematisiert. Selbstverständlich geht es Benjamin um Naturverankerung, um Geschichte als sich äußernder Naturablauf, als Zeichenkette der »Urverwandtschaft« zu »Universum«, »Eiszeit«, »Farren« (d. h. Farnen, d. Verf.) oder »Mammuts« 112, erkenntnismäßig um die Ableitung moderner Phänomene aus ihren Vorbildern in Antike und Mittelalter. Im dichten Leben der Pariser Passagen macht er solche Ableitung an der Bautechnik dingfest, wie es das Diskussionszitat in Teil 4 dieser Arbeit hervorhob, an der durch Statik vorgegebenen Form der Gebäude, die zurückzuverfolgen ist auf die Bauphysik etwa der Basiliken und der griechischen Tempel. 113 Ähnlich dient ihm hierzu die Mode: Mehrmals greift er das Motiv der Rockfalten zum Beschreiben einer kindlichen Obhut auf, dem man hinzufügen möchte, dass bereits das Tier, wenn man etwa eine Katze hält, sich hautnah beim Menschen am liebsten in ein faltiges Kleidungsstück »kuschelt« – müsste man sagen. 114 Hier: BGS V, 1, Einleitung des Hg. S. 31 f., Zitat S. 32. Vgl. BGS V, 1, S. 222; V, 2, S. 993 f.; ähnlich S. 996 Beschreibungen über den »Charme von Paris«, die »Atmosphäre … eine weise abgewogene Mischung«. 112 BGS V, 2, S. 993. 113 Dazu als Grenze des technischen Fortschritts deutlich in BGS V, 1, S. 222, wie durch die Eisenkonstruktion bis ins 20. Jahrhundert die uralte Festschreibung auf die Längshalle vorgegeben war. 114 Biologisch schwingt bei diesem und ähnlichen Verhalten natürlich die Uterus- und Säuglingserfahrung mit. Vgl. BGS V, 2, S. 1015. Ein neueres Tanzmärchen, kom110 111

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Benjamins Bestehen auf der Ableitung soll an dieser Stelle in aktuell umgangssprachlicher, aber vielleicht deshalb gut verständlicher Weise als »Nachvollziehbarkeit« bezeichnet werden. Das ist aber nicht (wie wir das Wort oft einsetzen) im Sinne mentalen Verstehens gemeint, auch wenn sachbezogene Ahnungen, Erfahrungen oder Interessen begleitend bestehen können. Sondern es geht um eine erste (und sich immer wiederholende) ursprüngliche Regung der Seele angesichts einer gewissen Wiedererkennung von etwas zwar diffus, aber tief sitzendem Vertrautem. Wo die Welt nachvollziehbar ist, als Ausdruck von Leben in Verankerung und Vernetzung, 115 besitzt sie Vertrautheit und verleiht, würden wir wohl heute sagen, Geborgenheit. 116 Nach dem gängigen wissenschaftlichen Stand sollte man dazu die Archetypenlehre C. G. Jungs anführen bzw. das existenzielle Vakuum, das der Mensch aktuell durch das Aussterben vieler Kulturformen und erst recht der umgebenden Natur erfährt. Insofern ist in unserer hoch konstruierten Welt der neuerliche Hang etlicher Menschen zu einem einfacheren Leben, zur grünen Natur sowie zu kommerzialisierten Formen von »Shabby« oder geschlitzten (nicht immer billigen) Jeans nur verständlich. Bauästhetisch gesehen erfährt immerhin der größte Teil der Menschheit in seiner Umgebung etwa der »Schlafsiedlung«, der »Wohnanlage« oder erst recht der »Megacity« eben diese anonyme Umwelt mehr fassaden- als passagenhaft. Anhand der hier geäußerten Gedanken soll daher »Nachvollziehbarkeit« gegen »Entfremdung« gesetzt werden. Nachvollziehbare Orte oder Phänomene (die Benjamin als wesentlich ortsgebunden aufweist) lassen eine Art ewigen Geist durchschimmern (»ein ›innerstes Bild‹ steigt auf«), die den Ablauf mit dem innehaltend erfahrbar Verponiert von einer Bauchtanzlehrerin, weist den Symbolgehalt des wallenden Rockes tiefenpsychologisch auf: vgl. Christine Engel: Die Sonnentöchter, Verlag TD Textdesign, Erding 2010. 115 »Leben«, ein gewiss komplexer Begriff in diesem Rahmen. Die Naturphilosophin und Anthropologin Regine Kather, von Max Scheler, Helmuth Plessner und Hans Jonas geprägt, bringt »Leben« auf den Begriff der »Anteilhabe«, was weitestmögliche Facetten, bis ins Psychische und Tiefenpsychologische, einholen kann. Vgl. Regine Kather: Leben, S. 214–216 sowie: Wiederentdeckung, S. 251. 116 Dazu im letzten Abschnitts des Passagenwerks, der die flächendeckende Veränderung der Umwelt und Kultur durch das Gusseisen (vgl. FN 108) vor allem mit dem Eisenbahn- und Brückenbau beschreibt, dagegen der beliebte Rückgriff auf Altes und Einfaches bei denen, die stets noch eigene Welten schaffen konnten, die Künstler. Durch gusseiserne Luxuserzeugnisse wie Möbel und Pavillons erfuhr auch die soziale Schichtung tiefere Kerben. Vgl. BGS V, 2, S. 1062.

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trauten verschmelzen – Kontinuum gleich Jetzt – »Dialektik im Stillstand« 117. Mit der Eisenkonstruktion als Symbol gerade aber auch der konstruierten Welt klingt Benjamins Passagenwerk aus. Durchaus ist diese Technik von einem hohen Maß an Entfremdung gezeichnet, »einer ungeheuren Spannung geistiger Energie … Jedes der 12 000 Metallstücke [des Eifelturms, d. Verf.] ist auf Millimeter genau bestimmt, jede der 2 1/2 Million Nieten … Auf diesem Werkplatz ertönte kein Meißelschlag, der dem Stein die Form entringt.« 118 Man muss sich dazu den schon angedeuteten Eisenbahnbau vor Augen führen, der im 19. Jahrhundert Europa in Bezug auf Landschaftsbilder, Mobilität, Sozialverhalten usw. völlig verwandelte. 119 Das jetzige Aussterben der umgebenden Natur, d. h. den Verlust ihrer Erfahrung, bezeichnet ein Greenpeace-Aufsatz mit »Der Verlust der Seele«: Das Kind liebt sein Stofftier aufgrund einer inneren Ur-Korrespondenz. 120 Es wird an dieser Stelle vorgeschlagen, im Wortfeld von »Nachvollziehbarkeit« den Begriff der »Seele« einzuführen. Im ästhetischen Kontext dieser Arbeit wird dabei unter Seele unser gewachsenes Grundverständnis als ein Wahrnehmungs- und Empfindungs-Sensorium vorausgesetzt und übernommen, d. h. ein Sensorium, das die Bezüge zum Selbst sowie zur Umwelt spürbar macht und in Austausch bringt. Dies muss hier begrifflich weder weiter geschliffen noch in kultur- und religionswissenschaftliche (hier platzsprengende) Darstellungen differenziert werden, insofern philosophisch zu dem Aspekt sowie auch zum systemkritischen Ansatz dieser Arbeit die Lebensphänomenologie französischer Herkunft einen ausgereiften Wissenschaftsbestand bietet. Diese Phänomenologie ist wesenhaft Leibesphilosophie, indem sie radikale Tiefenschürfung in die Selbsterscheinungsweise des Individuums betreibt, das sich nur als individuierter »Leib« im organischen Verbund mit dem weiterhin wahrgenommenen Leben erfahren kann. »Seele« liegt dem Leibesbegriff immanent und eignet sich wie dieser, und zwar auf aktuellem philosophischen Wissenschaftsstand,

BGS V, 1, Einleitung S. 34. BGS V, 2, S. 1063. 119 In Anlehnung an den Geschichte-Klassiker Jürgen Osterhammels: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 120 Vgl. Andreas Weber: Die Letzten ihrer Art, Artikel in: Greenpeace Magazin Sept.Okt. 2014, S. 61. 117 118

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traditionelle Vorstellungen vormoderner Epochen in ihrem Gehalt zu bewerten und in ihren zeitlosen Vorstellungen zu bewahren. Phänomenologisch geht es um die genauere Ergründung und Beschreibung originärer Wahrnehmung, die üblicherweise bewussten Apperzeptionen zugrundeliegt. 121 Die stereotyp-konstatierte »westliche« Dichotomie von Leib und Seele zeigt sich dabei – nach einem eigentlich dialektischen Verhältnis in der Antike – markant erst ab Descartes, der den Körper zum Ding erklärte. Erlebensweisen von Subjektivität, Identitätsempfindung und Austausch mit der Umwelt gehören damit, verweisen wir auf Plessners perspektivische und gleichsam prägnant ausgedrückte Skizzierung, »Körper habe man, Leib sei man« 122, zur Leibessphäre (und insofern nicht zum »Körper«). 123 Federführend transportiert und erweitert heute in Deutschland Rolf Kühn die neueren Arbeiten des in Frankreich anerkannten Michel Henry, dessen Forschungslinie sich u. a. auf den psychologisch bis mystisch interessierten Philosophen Pierre Maine de Biran (geb. 1766) wie ähnlich auch auf den Psychiater Jacques Lacan (geb. 1901) gründet. Im Kontext dieser Arbeit zur Kritischen Theorie ist die Essenz der heute Kühnschen Arbeiten relevant, nämlich »mit der zentralen Stellung des phänomenologischen Lebens zu einem radikalen ›Subjektivismus‹ der Lebensaffektation … das subjektive Bedürfen gegen die Zusammenfassungs- und Verallgemeinerungsimperative der ökonomischen Systeme festzuhalten.« So kommentiert Peter Koslowski Kühn, und Koslowski sieht ebenfalls (wenn auch graduell milder), wie Systemwerte »die Subjektivität des Bedürfens und die Einzigartigkeit der Affektationen des Lebens über einer ›Systemkultur und Systemethik‹ zu vergessen drohen.« 124 Inzwischen gehöre es, so Rolf Kühn, in einem um wenige Jahre neueren Werk, »zu den ebenso dramatischen wie bereits trivial gewordenen Einsichten unserer Zeit, … dass das ökologisch-klimatische Gleichgewicht der Natur, wenn überhaupt, nur unter größten individuellen, politischen und

Die Verschränkung von Seelen- und Leibbegriff zeigt anschaulich die Arbeit von Markus Knaup auf: Leib und Seele oder mind and brain? Freiburg i. Br. / München 2013. 122 Zitiert hier bei Fuchs, Thomas: Leib und Körper, in: Hähnel, Martin / Knaup, Marcus: Leib und Leben. Perspektiven, S. 84. 123 Eine kurze Skizze vom Verfall des Leibesbegriffs findet sich bei Silja Luft-Steidl: Fitnessbewegung – Diätetik, S. 16–18. 124 Peter Koslowski im Geleitwort zu Rolf Kühn: Leben als Bedürfen, S. V., VI. 121

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ökonomisch-technischen Veränderungen wieder hergestellt werden kann.« 125 Trivialität und Dramatik scheinen sich dabei im Teufelskreis zu drehen. Eine erkenntniskritische und sachlich-ursachenbezogene Tiefenschürfung kann unter den Vorgaben der »freiheitlichen« wie ideologisch-kapitalistisch gebundenen Parteiendemokratie nicht gelingen. Dabei ginge es lebensphänomenologisch zuallererst um die Freiheit der individuellen Lebensempfindung, die als vor-bewusstes passibles Gegebensein des Ich, insofern besser als »Mich«, erlebt wird. 126 Die Schriften Kühns weisen in zahlreichen Facetten von Erlebens- und Ausdrucksweisen (Freude, Leid, Liebe, Kunst, Religion usw.) durch Tiefenbeobachtung ein solches Ur-Erleben als grundlegend für den Selbst- und Weltbezug auf. Sofern dies nicht gestört oder verhindert wird (inhaltlich durch Indoktrination seitens des modernen, cartesischen Menschenbilds als »Macher«; praktisch durch Ablenkung, gesteigert heute zur »Reizüberflutung«, möchte d. Verf. illustrieren), begründe es auch die Authentizität der Persönlichkeit und würde das bewusste Fühlen, Denken und Urteilen entscheidend mitbestimmen. In vormodernen Epochen formierte sich aus Beobachtung der »gegebenen« Welt mangels besseren Wissens über deren materielle Ursachen und Strukturen das ontologische, alles Sein verbindende Weltbild. Das Ahnen um eine gewachsene Welt mit der von Menschenhand unberührten Natur als ästhetisches Erscheinen hält sich dabei zeitlos, wie ausgerechnet unsere modernen, juristisch relevantesten Werte von Unverletzlichkeit und Würde des Lebens oder Selbstbestimmung der Person zeigen, die man im ökologischen Desaster zunehmend auf Tiere, Pflanzen und Landschaften überträgt. 127 Die Eigenständigkeit des kosmischen Geschehens über unseren KöpRolf Kühn am Beginn seiner Einleitung zu: Natur und Leben, S. 7. »Passibel« als Begriffsschöpfung der Phänomenologie für eine Passivität gegenüber etwas, das sich gegenüber sich selbst als passiv erlebt, vgl. Michel Henry: Inkarnation, S. 99. 127 Vgl. zum Wandel von Naturbegriff und Weltbild die philosophische Skizzierung bei Rolf Kühn: Natur und Leben, S. 7–37. Anzumerken zum vormodernen ontologischen Weltbild ist dort der Eintrag pseudorationaler Erklärungen, was in kirchlichen Dogmatismus und zu Herrschaft durch Aberglauben und Magie ausuferte – initiierend für Aufklärung und die Schriften Kants – vgl.: Silja Luft-Steidl: Fitnessbewegung – Diätetik, S. 80 f., 84, 92. Für die Moderne verweist Kühn auf Verzerrungen durch romantisch-vitalistische Werte, die politische Faschismen des 20. Jh. genährt haben: vgl. Natur und Leben, S. 19 f. Kants gesamtes Werk wiederum weise ein schwieriges Ringen auf um die Bewahrung transzendenter Bezüge und Verortungen, 125 126

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fen wird uns gerade »heiß« bewusst gemacht. Für den Lebensphänomenologen Kühn geht es über eine gegebene Welt (als immer schon landläufiges Synonym für Natur, Kosmos, Sein) um ihr »Hervorgehen« hinaus, das jeweils älter als die Natur selbst und als »Leben« erfahrbar ist. Es wäre die letzte Passibilität des Seins, wie sie in der Bibel etwa der Johannesprolog ausdrückt und sich insofern als etwas im weitesten Sinne (völlig undogmatisch) Göttliches zu einer ethischen Begründung eignen kann. 128 Die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Werte versagen hier total. Unter naturwissenschaftlich-technischer Dominanz hat man oft die Phänomenologie, zentral gegen Husserl, als naive Wissenschafts- und Fortschrittsablehnung angesehen. Angesichts der Ratlosigkeit gegen die aktuellen Desaster sollte man bescheidener werden. Für Denker wie Kühn liegt die Problematik der empirischen Vernunft bitterlich darin, dass sie sich nicht zu transzendieren vermag. 129 Es gäbe wohl aktuell kein schlimmeres Beispiel als den Klimawandel, das zeigt, wie Ansätze von Ethik lange abgewehrt und erst dann bemüht werden, wenn die Erde schon verbrannt ist. Ihrem Wesen nach kann diese Vernunft nur intrinsische Erkenntnisse und Maßnahmen erzeugen, die sodann Verkennungen und Widersprüche an den Tag bringen. Eklatantes Fehlverhalten dürfte zur Zeit die Einseitigkeit sein, an nur einer »Schraube« CO2 zu »drehen«, um komplex verzahnte, offenen Systeme des Weltklimageschehens retten zu wollen. Für Wirtschaft wie Privatpersonen werden dabei Auflagen aller Art vorgeschlagen, aber Grundüberzeugungen der liberalistischen Ökonomie von Massenproduktion und -konsum (wofür die Politik verzerrend den Begriff des »Wohlstands« benutzt) werden nicht angetastet. Offen zeigt sich die im letzten Absatz erwähnte Indoktrination durch die empirisch-materialistische Vernunft in ihrer Trivialform als Moral bei Alltagsgesprächen zum Thema Konsum: das nur wenige moderne und postmoderne Philosophien, darunter die Kritische Theorie, aufgegriffen hätten, vgl. ebd., S. 18. 128 Vgl. ebd., S. 36 f. 129 Vgl. ebd. S. 24, 37. Für Michel Henry ist es als Tenor seines Buches »Die Barbarei, Freiburg / München 2006« kein Wunder, dass Kultur, die eigentlich »Lebensselbststeigerung als Kunst, Religion und Ethik« bilde, als Lebensbereich »ausgeschlossen« werde, siehe Einbandtext. vgl. auch S. 35 und 108 zum Bruch von Wissenschaft und Kultur, ja Wissenschaft und Leben, weil die sinnlichen Qualitäten der Natur außer Kraft gesetzt seien. Es gäbe keine Warum-Gründe mehr, nur noch das »oberflächliche Wie«, S. 147; dazu vgl. bei Silja Luft-Steidl die moderne Zuspitzung der causa efficiens: Fitnessbewegung – Diätetik, S. 92 f.

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Originäre Gefühle (die durchaus Gesprächsteilnehmer äußern) wie z. B. Mitleid mit Massenzuchttieren reichen zur Änderung des Essverhaltens nicht aus, genauso wenig wie Freude am eigenen Sein und an geeigneten Lebensweisen den Drang zu immer schneller wechselnden modisch-technischen Trends abwehren kann. Die Einwirkung von Propaganda auf die Seele nutzt dabei üblicherweise unser aller Abhängigkeit von Anerkennung und Gruppendynamiken aus. So scheint Einzelpersonen Konsumreduktion besser zu gelingen als solchen, die andere Menschen, voran ihre Familie, nicht enttäuschen oder verlieren wollen. 130 Es geht mit der Kritik unter Stützung auf die Lebensphänomenologie keineswegs um Ablehnung empirischer Wissenschaft als Errungenschaft, besonders deren Erkenntnisse und Beiträge zum modernen Leben in humanitärer und sozialer Hinsicht. Das wäre Verlogenheit gegenüber sich selbst und Verrat an Generationen unserer Vorfahren, die in zähen Forschungsfortschritten gekämpft haben, ihr ontologisches Weltbild zu erweitern und ihre Erkenntnisse zu festigen. Immerhin gaben sich die Lebensbedingungen der meisten Menschen Europas noch vor etwas über hundert Jahren als bescheiden bis erbärmlich. Die Ontologie der Abhängigkeit war als Folge jämmerlichen Lebensgefühls sicher nicht nur ideale Weltbetrachtung, sondern auch Folge solcher Zustände. Sie konnte allerdings, was im Abschnitt 6.3 relevant sein wird, das Nicht-Perfekte besser akzeptieren und integrieren. Zu kämpfen ist heute gegen Absolutheitsanspruch und Herrschaft empirisch-rationalistischer Naturwissenschaft. Philosophisch gesehen bleibt das empirische Bild z. B. der Hirnforschung schlichtweg zu eng, »eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung« für das, was wir unter Seele verstehen. 131 Opponieren muss man faktisch gegen die Eigendynamik moderner Empirie, die sich als Technologie aufdrängt und Formen von Indoktrination wie Herrschaft, unter kapitalistischer Politik und Wirtschaft von Profit geleitet, über das natürliche Leben anstrebt und erlangt, also in die Dialektik ihrer Übertreibung destruktiv umschlägt. 132 Der selbstver130 So kann man Stimmen originärer Urteile hören, etwa: »Für mich bräuchte es das alles gar nicht geben, aber …« 131 Regine Kather: Leben, S. 216. 132 Simone Weil notierte zwischen 1933 und 1940: »Der Kapitalismus hat die Befreiung der menschlichen Gemeinschaft von der Natur verwirklicht … Aber diese Gemeinschaft hat gegenüber dem Individuum die Nachfolge der vorher von der Natur ausgeübten Unterdrückungsfunktionen angetreten. Dies stimmt sogar in materieller

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»Entfremdung« gegen »Seele«

ständlich gewordene Produktions-Konsum-Überfluss (mit schändlichem Wegwerfen) dürfte das gängigste Beispiel für die Übertreibung von »Wohlstand« sein, der eigentlich Auskommen und Lebensfreude gewähren sollte. 133 Dieses in sich verkrümmte Weltbild rein instrumenteller Vernunft eliminiert alles Andere, heute kaum mehr den alten Aberglauben 134, sondern unsere natürlicherweise essenziellen sowie nützlichen Ressourcen für Leben und Lebensqualität einschließlich unseres gesunden Menschenverstands und Gefühls. Es ignoriert diese Ressourcen, letztlich getrieben von Profitdrang, was der Hintergrund für überflüssige Perfektion gerade auch auf den humansten Gebieten wie der Medizin und der Pädagogik ist: An seriellen Gelenkoperationen lässt sich mehr verdienen als an ggf. dem normalen Verstand einleuchtenden Gewichtsreduktionen mit mehr Bewegungspraxis (hier schöpft aber der Fitnessmarkt mächtig ab). Sodann: Im digitalen Klassenzimmer tut sich ein Milliardenmarkt auf, in dem heute zahlreiche verhaltensauffällige Kinder lernen, die nach gesundem Gefühl pädagogisch-menschliche Nähe dringender bräuchten als Apparate. 135 Es gäbe uferlos Beispiele, denn der »Markt« ist unsere Realität; nur hier noch die Investitionsmaßnahmen der deutschen Energiewende, die momentan mehr Naturressourcen rauben als retten dürften. Mit dem politischen Hang zum ständigen (meist überstürzten) »Machen« 136 beschert uns die moderne Vernunft inzwischen eine rein

Hinsicht. Das Feuer, das Wasser etc., etc., etc., die Gemeinschaft hat all diese Naturkräfte, ›die die Kräfte des Menschen unendlich übertreffen‹, an sich gerissen«. Cahiers, Erster Bd. S. 81. 133 Der Begriff ist durchaus facettenreich, meinte aber stets im historischen Verlauf letztlich das immaterielle individuelle Glück und seit Adam Smith arbeitsökonomisch vor allem die Befreiung möglichst vieler Glieder einer Gesellschaft von Plackerei. 134 Man muss allerdings fragen, ob es bei der allgemein naiven Annahme des Wohlstandsdogmas nicht auf neue Weise magisch zugeht. Das wird in 6.2 behandelt werden. 135 Zur Pervertierung von Gesundheitsbemühungen unter dem Fitnessmarkt vgl. Silja Luft-Steidl: Fitnessbewegung – Diätetik, z. B. S. 317–321. Als Moderne-Beobachter haben schon früh, außer Künstler wie z. B. Goethe, Analytiker wie Kierkegaard und Kritiker wie Nietzsche epochal-gesellschaftliche Pathologien als Folge von Ur-Verlusten, etwa natürlich-sozialer Geborgenheit, beschrieben, die insofern durch Delegieren an Fachleute nicht mehr ursachenbezogen geheilt werden können; für Nietzsche ist Delegieren »das« Moderne-Problem, ebd. S. 142, 153, 174–190. 136 Zum Zusammenhang von Empirismus, Mechanismus und »Machen« (sprachlich von »Maschine«) vgl. Silja Luft-Steidl, Fitnessbewegung – Diätetik, S. 48, 353.

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konstruierte, künstliche Umgebung. Nicht einmal ein achtungsvolles Vermögen zum »Staunen«, das ja als Zündfunke europäischer Philosophie gilt, verbunden mit der Hochachtung vor einer Urheberschaft aller Phänomene, kann man dem modernen gigantischen Wissenschaftsstand abnehmen, denn Staunen gelingt eben nur aus der transzendierten Perspektive, die dieser Stand bekämpft. Was nützt es, wenn wir aufgrund von Evolutionstheorie und Darwinismus um unsere Verbundenheit mit den Tieren wissen, aber nicht genug Gefühl und innere Kraft aufbringen, Massentierhaltung und Massenfleischkonsum zu beseitigen? Als vielleicht einzig ethischen Gewinn könnte man besonders der Medizinforschung entnehmen, dass ihr mechanistisches Menschenbild der Pathologie geschuldet ist und die organische Verflechtung aller Lebensformen in individueller »Bedürftigkeit« höchst offensichtlich macht – für den, der es so sehen will. 137 Bei allen Dilemmata der Gegenwart kann man keinen Schuldigen für diese Entfesselungen aufweisen, weder Bacon noch Galilei noch Descartes, und für was – etwa für Klimawandel oder Bevölkerungsexplosion? – sollte man sie auch anklagen? 138 Es bestätigt sich insofern das Hegelsche Bild vom eigendynamisch sowie auch ursachenkomplexen, letztlich dialektischen Fortschreiten der Geschichte, destruktiv in ideologischen Übertreibungen, die wir sprachlich mit dem Suffix »-ismus« zu belegen versuchen. Kapitalwirtschaft und liberale Gesellschaft weisen sich aktuell in ihren Übersteigerungen von Kapitalismus und Liberalismus als Feuersbrünste aus. Im Zusammenhang mit der »Seele« sind diese aktuell-bezogenen erkenntnis- und ideologiekritisch verschränkten Ausführungen wichtig, weil es um Verlust oder Bewahrung eigentlich unantastbarer Lebensgüter geht. Dazu leitet die Leibesphilosophie grundlegend her,

137 Ein gelungenes Beispiel der Vermittlung moderner Naturwissenschaft und empathischer Humanität weisen zwei Bände von Eugen Drewermann auf: Atem des Lebens. Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott, Düsseldorf 2006. Unter anderem wird kompendienhaft der aktuelle empirische Stand zum Thema dargelegt, um dann, anhand der pathologischen wie generellen Bedürftigkeit des Menschseins aus dem Glauben an eine absolute Heilsmacht Gottes zu schöpfen. Der empirische Teil will das hermeneutische Vakuum füllen, das die vor allem katholische Kirchendogmatik vorlegt, indem sie bisher moderne Erkenntnisse weitgehend nicht verarbeitet hat und deren religiösen Gehalt nicht vermitteln kann. 138 Bezogen auf den »Cartesianismus« erklärt Silja Luft-Steidl, wie Strömungen mehr durch Rezeption ausgelöst werden als durch ihre Urheber, Fitnessbewegung – Diätetik, S. 18.

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»Entfremdung« gegen »Seele«

dass Güter wie »Leib« und »Leben« nicht objektivierbar sind 139 und insofern Umgang nur unter kulturellen Vorbehalten, auf möglichst förderliche Weise, verlangen. Im Kontext der Kulturkritik Walter Benjamins ist einerseits offensichtlich wie traurig, dass heutige Neurologie die Seele zum Apparat reduziert und komplexe Apperzeptionen wie z. B. Stimmungen nicht im jeweils subjektiv wichtigen Gehalt zulässt. Andererseits steht es so, dass Orte originärer, dem übrigen Leben verbundener Apperzeption inzwischen rar geworden sind. Es muss damit nicht nur die dramatisch aussterbende, äußere (»grüne«) Natur gemeint sein. Erinnern wir an die Eisenträger-Affinität des Stadtbürgers Benjamin, kann durchaus Technik den Menschen innerlich berühren (wie sachlich interessieren). Das dürfte deutlich bei »Freaks« von Motoren, Maschinen, Werkzeugen etc. der Fall sein, und hier dürften in der Regel Gegenstände mit nachvollziehbaren, traditionellen Zügen, mit Ausstrahlung und Prägnanz vorliegen. Betont sei nochmals die primäre seelische Anrührung, allem voraus Verstandesinteresse. Sie ereignet sich bei jedem Akt von Gewahren und Ausüben neu, womit Rolf Kühn von einer jeweiligen »Geburt« in der Seele spricht. 140 Interessant in dem Zusammenhang ist übrigens, dass bis heute die wenigsten Menschen wissen, wie etwa eine Steckdose aufgebaut ist, obwohl jeder Haushalt seit über hundert Jahren viele davon besitzt (auch den Lichtschalter könnte man nennen). Das hängt sicher mit der Nicht-Wahrnehmbarkeit des Stroms an sich zusammen, d. h. es gibt von Grund auf nichts für die Seele Anrührendes an ihm. Solange aber genügend andere Lebensgüter Menschen innerlich berührten und im Bild von Psalm 19 wie Choral von Georg Friedrich Händel die Ehre Gottes preisen ließen, war das vielleicht auch gar nicht nötig. 141 O2, CO2, Feinstaub, Stickoxide und Erfolgsbilanzen preisen Gott nicht. Die sachliche Welt braucht keinen Gott, das Vakuum hinter139 Vgl. Silja Luft-Steidl: Fitnessbewegung – Diätetik, S. 49, 382. Vgl. Rolf Kühn: Natur und Leben, S. 64. 140 Als »transzendentale Geburt« im »Augenblick« ähnlich vieler Formen der Mystik: Rolf Kühn: Leben als Bedürfen, S. 36. Dazu vgl. den Abschnitt »Religiöse Wiedergeburt« bei Rolf Kühn: Lebensreligion, S. 140–145. Hierzu dann Genaueres in 6.3.2. 141 Interessant in dem Zusammenhang auch, wie »hartnäckig« wir uns in der abstrakten Welt alte Bilder bewahren. So geht uns z. B. immer noch »die Sonne auf« und »unter«, obwohl wir doch schon längst von der Kreuzung ihrer Umlaufbahn mit dem und dem Meridian sprechen müssten – gewiss in griffige Abkürzungssprache gefasst.

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lässt die Suche nach dem »Anderen« (Adorno), siehe die spirituelle Leere, die im Zusammenhang mit Kirchenaustritten durchaus ertönt. Derweil bietet sie für das Andere ethisch wie ästhetisch immer weniger Anhaltspunkte. Man tut Walter Benjamin sicher recht, wenn man seinen Gegenständen mit »Aura« eine »Seele« zuspricht. Das ist metaphorisch und nicht animistisch gemeint, in dem besprochenen Sinn, dass Gegenstände den Menschen aufgrund ihres nachvollziehbaren Gepräges innerlich berühren und erfüllen können. In der Regel rührt uns die Ausstrahlung von Tradition an, als würde, nehmen wir ein altes Fachwerkhaus, es zu uns sprechen und all seine Geschichten erzählen, die Generationen von Menschen in ihm geprägt haben. Wir fühlen Vertrautheit auch unter dem Arbeitsgerät einer alten Werkstatt oder Scheune, von deren Einsatz wir mental gesehen weit, kaum noch »nachvollziehbar« entfernt sind. Aber wir hören innerlich Meißelschläge und können einstimmen in Jahrtausende alte Bilder von Arbeit und Tagwerk. Und wir sprechen sogar, aus ästhetischer Rührung über den »Flair« einer Sache, von »der guten alten Zeit«, in der wir doch lieber nicht gelebt hätten. Im antiken Griechenland galten mit Begriff der »technē« Kunst und Technik als eines. Hier war es normal, dass Menschen ihre lebendigen Eigenschaften wie Begabungen, Fleiß und Enthusiasmus in ihre Werke legten, und insofern kann auch die viel zitierte Aristotelische »Trennung« von »Natur« und »Nicht-Natur« nur als dialektisches Miteinander gewertet werden. 142 Zur Forschung um Rolf Kühn ist zu betonen, dass diese im Gegensatz zur alten Naturphilosophie sowie Husserl nicht teleologisch, intentional oder in anderer Weise final ausgerichtet ist. Originäre passible Selbsterfahrungen von Lebendigkeit wie etwa Widerständigkeit des Seins, Schwere – Leichte verweisen auf einen allem Leben gemeinsame, pathische (in Bedürftigkeit verknüpfte) allzeitliche Phänomenalität, die über jede kulturelle und historische Wirklichkeit hinausreicht. Es gleicht der Erfahrung eines Urgrunds mit einem immanenten Ethos, einer »Bleibe« 143 ohne Streben nach Zwecken wie in der Philosophie Meister Eckharts. Bei Husserl weise allerdings, so Kühn, der Begriff der »Lebenswelt« in Richtung einer überzeitlichen Verortung, 144 die auch Walter Benjamins Orten mit »Aura« bzw. 142 Zur Verschränkung von Natur und Kultur als »Eindrücke unserer ›Seele‹« in der Kunst siehe Rolf Kühn: Natur und Leben, S. 68. 143 Rolf Kühn: Leben als Bedürfen, S. 34. 144 Vgl. ebd. u. a. S. 51 f. sowie: Natur und Leben, S. 18, 84.

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Digitalisierung gegen »Seele« und »Leib«

»Seele« sehr nahestehen dürfte. Diese Gedanken werden für Abschnitt 6.1.2 relevant werden. Gemeinsam bleibt den Erwähnten das Aufschürfen und die Annahme einer seelisch apperzipierten Sphäre, die mit Zeichen originärer Lebendigkeit unentfremdet ist und ihrer Erfahrung nach Allgemeingültigkeit besitzt. Dies gleicht im Prinzip den alten Vorstellungen von der Seele als Atem des Lebens, als Brahman oder Atman sowie auch von der Verzahnung der Natur und Kultur in Mikro- und Makrokosmos. 145 Alle Individuen verbindet die Seele in der Bedürftigkeit des Stoffwechsels, deren biologisch primäres Element der Gasaustausch, bei Mensch und Tier das Atmen ist. Der erste Schöpfungsbericht des Alten Testaments prägte das Wort nephesh, das als Urphänomen Seele, Leben sowie Spüren (zu leben) gleichsam meint und ethymologisch dem »Schnaufen« nahesteht. 146 Solche Sphäre müsste sich umgekehrt zum individuell einübbaren Widersetzen gegen umgreifende Entfremdung eignen. Könnte dies Gegenimpulse in die künstliche, der Natur und dem Geistigen gleichermaßen entfremdete Welt einbringen, deren Lauf niemand zurückdrehen kann? Eine Umkehr müsste in der Tat, mehr als radikal, hinter die Gründe des Denkens zurückgehen. 147

6.2 Digitalisierung gegen »Seele« und »Leib« Bei »Digitalisierung« geht es im weitesten Sinne um Weltwahrnehmung und Weltzugang, so dass sich, nochmals, die Behandlung im Walter-Benjamin-Kontext nahelegt, die allgemein wie wissenschaftlich aufgrund gesellschaftlicher Umwälzungen plötzlich so notwendig wie »in« ist. Der Druck zum Angehen des Themas hat in Augen dieser Arbeit auch Berührungen mit dem Druck zu einem besseren öko-

145 Dazu vgl. Silja Luft-Steidl: Fitnessbewegung – Diätetik, S. 69, 96. Dazu Simone Weil: 1941: »Der Atman – die Seele eines Menschen – soll das ganze Universum zum Körper nehmen. Soll zum Universum das gleiche Verhältnis haben, wie die Seele eines Sammlers zur Sammlung …«, Cahiers, Erster Bd. S. 177. Es geht mit diesen Vorstellungen gerade nicht um die Auflösung des Individuums im Absoluten, dazu vgl. Michel Henry: Inkarnation, S. 286. 146 Vgl. schon 1902 Andrew B. Davidson: Theologie des AT, S. 200 f. Weitere Wortverwandtschaft: »Nepeta« ist der Gattungsname einer mentholhaltigen Wildpflanzengruppe. 147 Vgl. Rolf Kühn: Natur und Leben, S. 36. Es hieße das Aufgeben aller Äußerlichkeit, vgl. Leben als Bedürfen, S. 34.

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logischen Verständnis im Sinne einer geänderten Lebenswahrnehmung überhaupt, und das soll an den Begriffen von Seele und Leib entwickelt werden. Die Perspektive dazu ist eine andere als die empirische Sicht der gewohnten Vernunft. Das geht schon aus Definitionsfragen hervor. Der Begriff Digitalisierung zeigt sprachlich einen Veränderungsprozess an, ergibt bei Recherchen keine eindeutige Definition, während er aus der heute vorherrschenden Alltagserfahrung in seiner Bedeutung geläufig ist. Eigentlich ist mit Digitalisierung eine rein technische Sache gemeint, die Umwandlung von Daten in eine Form synchroner Darstellung. Sodann ist damit die Überführung dieser Technik in eine vielfältig verfügbare Nutzungsweise gemeint, was wirtschaftliche, soziale und private Strukturveränderungen mit sich bringt, die vor allem im Arbeits- und Privatleben erfahrbar sind. Der letztgenannte Aspekt trifft es, was wir beim Reden von Digitalisierung meinen, Technikfolgen in der Regel ausblendend. Es gab keine technische Revolution ohne kulturell-soziale Revolution, keine Errungenschaft ohne Gefahren, Probleme und Ängste. Die wesentliche Errungenschaft der Digitalisierung ist das Internet. Im Jahr 1969 gelangen erste Rechnertypus-unabhängige Datenübertragungen. Man konnte damals entwicklungstechnisch (in diesem nach Medienstimmung von der ersten Mondlandung überstrahlten Jahr) eine flächendeckende IT-Infrastruktur über komplexe Browser und dienstleistende Clouds kaum ahnen, die schließlich 2007 zur jedermann nutzbaren Miniatur-Technik des iPhone führten. Das Internet ist seitdem im Telefon bei uns zu tragen. Unter dem ästhetischen Anspruch einer omnipräsenten und doch unscheinbaren Technik sind Megakonzerne wie Google und Facebook aufgeblüht. 148 Überlokal organisierte Ausstattung eröffnet für Industriegewerbe, Dienstleister und Privatanwendungen die Nutzung von Daten in einer das menschliche Handeln umfassend ersetzenden Weise, womit wir von Künstlicher Intelligenz, kurz KI, sprechen. Der Galopp dieser Entwicklungen ließ so gut wie keine Reflexion, geschweige denn Technikfolgenabschätzung zu. Dabei bleibt die technische Steuerung durch den Algorithmus, der bewegten Bildern ebenso zugrunde liegt wie der Produktion

148 Vgl. als kurze Geschichte des Internet den Art.: Heute Alltag, vor 50 Jahren Sensation. Der 29. Oktober 1969 gilt als Geburtsstunde des Internet, in: NZ 29. 10. 2019, S. 3.

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von Autos oder der Sortierung und Logistik von Lagergütern, an der Nutzungsoberfläche völlig verborgen. 149 Mit als erste prominente Stimme warnte 2011 der früh verstorbene Publizist Frank Schirrmacher vor dem Verlust der Kontrolle über »Big Data«, der Manipulation durch ungefilterte Informationen und der Gefahr von sozialer Massenmobilisierung durch Agitation, worauf ihm wenig öffentliche Betroffenheit antwortete. Und das lag genau in der Linie von Ignoranz und Denkscheu, die Schirrmacher hervorhebt. 150 Jetzt, während Probleme grassieren, sind politisch weiterhin kaum Regeln ergangen, ertönt nur spärlich fundierte Auseinandersetzung, dieweil sich das Thema in seiner Brisanz aus Kanälen der Druckmedien und Talkshows aufbaut. Aus akademischer Feder, mit dem ethischen Impetus, ist das gründlich aufgestellte Werk des evangelischen Theologen Werner Thiede zu nennen, das seine zunächst fachspezifische Hermeneutik, Begriffe wie »Wahn«, »fanatisch«, »Zauber« oder »Böses«, aus den Detaildarstellungen plausibel macht. 151 Die ganze Thematik ist durchaus geisteswissenschaftlich, im engen Sinne philosophisch-ethisch, schwer greifbar. Wem sollte man, nach den Weberschen Rastern, eher Gesinnung oder eher Verantwortung zuschreiben, wenn Vorteile und Probleme, Beliebtheit und Belastungen durch Massenangebot und -akzeptanz verfließen? 152 Die kurzsichtige Win-win-Situation des Marktgeschehens, wie sie Schirrmacher in seinem letzten, summarisch mit »Ego, das Spiel des Lebens« betitelten Buch analysiert, wird uns abverlangt von ökonomischer Herrschaft, die auf bequemen Genuss zielt und Reflexion verhindert. Somit würde nach Schirrmacher Herrschaft im Sinne von Vorteilsstreben demokratisiert und zur Allgemeingesinnung gemacht werden, also massenpsychologische Auswirkungen, was Thiedes Diagnose des Magischen entspricht, ließen Risiken und Gefahren ignorieren oder kleinreden. Auf »Wahn« und »Monster« folgert dann Dazu vgl. Christiane Voss: Medienphilosophie, S. 252 f. Frank Schirrmacher: Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München 2009, s. bes. die Kapitel S. 75–120. 151 Vgl. Werner Thiede: Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, München 2015. 152 Problem aller marktvermittelten Massenphänomene, der willfährige bis frenetische Massenkonsum, der sich in Mode-bis-Normalitäts-Strömungen zeigt, vgl. dazu die Bewertung von Fitnesstreiben, in: Silja Luft-Steidl: Fitnessbewegung – Diätetik, bes. S. 356 f., 361. 149 150

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auch Schirrmacher im omnipräsenten Markt alias Computer, der mehr wisse als wir selbst, auf das Verlogene des Marktes, der seine Freiheitsversprechung pervertiert. 153 Erinnern wir dazu wie der »Weltverlust« durch Betörung und letztlich »Entfremdung« – so lauteten die Begriffe der Kritischen Theorie am Beginn hier von 5.2 – als dialektisch aufgefasst wurde. Methodisch scheint es also in dieser, erklärtermaßen dem menschlichen Besessenheits- und Suchtverhalten gleichkommenden Situation nur möglich zu sein, Bewertungen in ästhetisch-phänomenologischer Weise vorzunehmen, demzufolge, wie Digitalisierung auf Menschen nach ihrem Selbsterleben wirkt, soweit entsprechende Beobachtungen oder Äußerungen vorhanden sind. Solche Schritte sollen in diesem Kapitel zusammen mit empirischen Recherchen versucht werden. Das Internet wurde uns als Spitze eines neuzeitlichen Gedankens ausgegeben, den, schon der Erfindung des Buchdrucks immanent, der Bereich Information extrem stark auslöste, nämlich dass technischer Fortschritt auch sozialer Fortschritt sein sollte. Eine derartige Verbindung vermeintlich freier Menschen im privaten und professionellen Austausch rund um den Globus hat es noch nie gegeben. In bemerkenswerter Weise sind Dienste der Informationsplattformen, Austauschforen usw. für »dich und mich« kostenlos jederzeit nutzbar sowie oft auch erweiterbar. Mit der Erfindung der sozialen Netzwerke wurden Kommunikation und vor allem persönliche Kontaktmöglichkeiten im Prinzip für jeden Menschen schließlich schier grenzenlos. Das Internet galt daher unter Staunen als vierte Gewalt im Staat, als Wissensvermittler besonders auch im Gefolge der Aufklärung. Zweifellos lassen sich Fachwissen und Erfahrungen im Dienst von Bildung, Humanität sowie dringlich auch ökologischer Anstrengungen bis hin zu früher abgeschnittenen Adressaten tragen. Das Netz vermag neben Arbeitserleichterungen Freiheit und Gleichheit in jeden Winkel der Erde zu bringen, ein Ideal wurde real. Aber eben nicht nur der sachliche, sondern vor allem der persönliche Austausch wurde problemlos gemacht wie nie zuvor, Herrschafts-sprengend, indem sogar höchste Funktionsträger zu zivilen Darstellungen leicht (d. h. vor allem schnell) animiert werden. Die Vermischung von öffentlicher und Privatsphäre ist allerdings einer Demokratie nicht unbedingt förderlich. Visionär wollte Mark Zuckerberg mit Facebook 153 Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens, München 2013, vgl. bes. S. 270– 290, Zitat S. 285. Bei Werner Thiede: Digitaler Turmbau, vgl. bes. S. 82, 10–103.

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die menschliche Nähe fördern. Sein Vermögen fördert heute Wohltätigkeitsdienste und auch Projekte für Offline-Kontakte, damit die Menschheit nicht vereinsame. Bei Letzterem wird die Bilanzrechnung seines Unternehmens wichtiger sein. 154 Durch den Selbstgebrauch digitaler Medien kennen wir alltägliche Kehrseiten hinlänglich. Der unter 5.2 angesprochene Soziologe und Publizist Hartmut Rosa ist der digital belasteten Menschheit ein philosophischer Anwalt geworden (und wirkt, wie erwähnt, auch als Lebensberater therapeutisch), indem er grundlegend die Entfremdung analysiert, die durch regelmäßigen Gebrauch allein in der Anwendung (Zwangsbefehle, Wartezeiten, technische Standards bzw. laufende Neuerungen, ungewollte Fremdinformationen wie vor allem Werbung usw.) die Betroffenen überfordert, verwirrt, wütend gegen Unbekannt und schließlich einsam macht. Hinzu komme die Zeitdruck-Konkurrenz dieser auf Schnelligkeit gepolten Medien, was mit Aktualitätsdruck, Deadlines usw. totalitäre Formen von Macht ausübe. 155 Überlastung bis Fremdbestimmung für den individuellen Menschen und im Massenbetrieb auch die Gesellschaft werden bei Rosa, wie erwähnt, unter das Paradigma wie Protest-Thema »Beschleunigung« gefasst. 156 Für die Autorin dieser Arbeit stellt aber Beschleunigung nur einen, wenn auch seit der technischen Moderne eklatanten Zug der menschlichen Kultur dar. Aufs Ganze der Evolution gesehen zeigt sich Fortschritt, der stets technisch angeführt wurde (beachtlich schon die Sprünge in Sozialverhalten, Religion und Kunst aus der »Kulturzündung« durch gezielte Nutzung des Feuers vor 800.000 Jahren), auf der Linie einer »Verkünstlichung«. Der Einsatz künstlicher, »technischer« Mittel erleichterte seit Anbeginn der Menschwerdung die Zähmung und Nutzung der Natur. Mit der Industrialisierung begann ein Maß, das Lebensgrundlagen aller Art fortwährend 154 Vgl. www.Internet.org: Mark Zuckerbergs Traum vom Netz für alle, 14. 12. 2018, S. 3. 155 Deutlich die Passage bei Hartmut Rosa über das Totalitäre des Zeitdrucks beim Digitalgebrauch: Beschleunigung, S. 89–92. Therapeutisch-programmatisch vgl. Rosa et al.: Zeitwohlstand, vgl. FN 103. 156 Zur gehetzten Medialität treffend Rolf Kühn, dass inhaltlich nichts Wesentliches, Hilfreiches und Nachhaltiges herauskommen könne, siehe anteilnehmend erscheinende TV-Talkshows, bezeichnend im Vermischen von Fachhoheiten und den Benachteiligten der Welt, Betroffenheit, die doch nur für Minuten wirke: Leben als Bedürfen, S. 129.

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angreift, zerstört sowie irreversibel vernichtet. So hat Heidegger den Einfluss des Technischen im Ganzen existenziell gewertet und als den Menschen umgreifend, seiner selbst beraubend, auf den Begriff »Gestell« gebracht. Beschleunigung ist dieser Verkünstlichung insofern inbegriffen, als Fortschritt Folgefortschritte evoziert, durch Progressionsverlauf natürliche Rhythmen bzw. überhaupt das Rhythmische, Zyklische des natürlichen Lebens sprengt und dadurch auch passive Seiten wie Nuancen des Lebens ausmerzt. Speziell zur »Zeit« als Taktgeber wird ab dem 16. Jahrhundert die Verbreitung des mechanischen Federuhrwerks maßgeblich. Die Zeit nach Takt ermöglicht gemeinsame Planungen, aber auch Kontrolle und Druckausübung. Der Auswuchs heute allgemeiner 24-h-activity oder der üblich gewordener 7-Tage-Alltagshetze eines Individuums ist nicht nur Auswuchs einer beschleunigten, sondern grundlegend naturentfremdeten, de-rhythmisierten, künstlichen Lebensweise, zumal diese Hetze zum großen Teil mit der Bewältigung täglicher technischer Anforderungen an unsere Alltagsverrichtungen zu tun hat. 157 Es werden zu dieser Thematik Exkurs-Gedanken eingeschoben.

6.2.1 Exkurs und Kern: Fortschritt als Verkünstlichung Voran zwei Thesen: Kulturfortschritt ist Verkünstlichung. Verkünstlichung ist Entfremdung von den Ursprüngen des Lebens. Verkünstlichung setzte mit dem Werkzeuggebrauch der Jäger und Sammler ein, seit man etwa harte essbare Wurzeln regelmäßig mit scharfkantigen Steinen durchtrennte anstatt mit den Zähnen (was zahlreiche Primatenarten ähnlich ebenfalls können, aber nicht planmäßig tun). Der bisherige Gipfel davon ist die moderne Maschinisierung, erst eisern, dann smart sowie nun auch »KI«. Maschinisierung verringert nicht nur Qualen, sondern erhöht auch Quantitäten – im markanten Wettlauf mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung. 158 Beschleunigung ist zwangsläufiger Mit-Effekt von Verkünstlichung, die sich wesentlich in Maschinisierung abspielt. Verkünstlichung ist Vgl. speziell zur Alltagsbewältigung Hartmut Rosa: Beschleunigung, S. 135–140. Als Mengenzuwachs (betr. Handlungen und Erlebnisse) »pro Zeiteinheit« nach Rosa im Arbeitsdruck unter digitaler Beschleunigung extrem verlaufend: Beschleunigung, S. 27. 157 158

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Wider-Natürlichkeit, Denaturierung im Kampf des Menschen gegen die harten Seiten der Natur. Auch in der Natur gibt es atemberaubende Geschwindigkeiten. Die meisten Tiere können sich schneller fortbewegen als Menschen. Aber alles dies gelingt aus intrinsischen Eigenschaften und niemals künstlich vermittelt durch Geräte oder Maschinen. Die Allpräsenz des Künstlichen soll noch genauer vor Augen geführt werden. Von ökologischer Seite wird heute beklagt, dass moderne Landwirtschaft, mit industrieller Intensivbewirtschaftung, wesentlicher Zerstörer dieser Erde sei. 159 Die industrielle Landwirtschaft, in unserem Fall der EU-Staaten, ist Folge so gewollter staatlicher Gesetze. Der einzelne Landwirt hat die Wahl, wenn er biologisch wirtschaftet, sich selbst durch Überlastung kaputt zu machen oder, als konventioneller Intensivlandwirt, eher andere. Beklagt werden, um das (bedauerlicherweise) lange bekannte und politisch scheinbar handlungsresistente Beispiel aufzugreifen, Flächenfraß, Pestizide, Überdüngung, Bodenverdichtung usw. Auch die neuerlichen Artenschutzbemühungen haben hier faktisch noch keine Bremsen gezogen, was primär an nationalen Lobbyismen und dem Großapparat der EU liegen dürfte. Für den schlichten Beobachter (oder dem Ausgesetzten) zeigt sich diese Landwirtschaft im Takt einer unglaublichen Brutalität von Maschinen (Lärm, mechanische Kraft, Scheinwerferlicht usw.), was in Addition womöglich dem Erdbeben von Lissabon gleich kommt, für das Menschen einst Gott verließen. 160 Naturbezug im kleineren Stil geht indessen smart, mit Robotern etwa für die private 159 Greenpeace-Medien äußern dies immer wieder, speziell auch im Zusammenhang mit der globalen Industrie-Agrikultur und Urwaldrodung, die vor allem klimatisch verheerend wirkt, z. B. Greenpeace-Nachrichten 02 / 2019 Mai / Juni, S. 6. Aber auch die Sortenvielfalt der Kulturpflanzen wird planmäßig dezimiert nach KonkurrenzGesetzen der Saatenkonzerne; dazu fast ein ganzes Naturkost-Magazin: Kreo. Das Biomarkt Magazin, Hg. Dennree GmbH, 95183 Töpen, 01 / 2019. Bereits 94 % naturgemäßes Saatgut seien verschwunden, S. 24. Zur Biobranche, so nötig sie ist, muss allerdings deren Mitwirkung an »Verkünstlichung« durch reiches Fertigwarenangebot moniert werden. 160 Destruktion durch Großmaschinen zeigt sich allenthalben im Umgang mit der Natur, vor allem auch in der privatisierten Forstwirtschaft, deren Wegetrassen und Rangierplätze den Wald in seiner natürlichen Filigrangestalt angreift. Man hört entsprechende Klagen der Naturschutzverbände. Die Ent- wie Belastung des Menschen durch die Maschine ist ein altes Thema. Unsere Groß- und Urgroßeltern erlebten die Verdrängung ihrer natürlichen Heimat durch Eisenhochöfen. Arbeitsplätze waren damals das plausiblere Argument. Natur gab es »weiter draußen« noch genug.

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Gartenpflege. Die Vernichtung von Kleintieren ist dabei genauso weit weg wie die Ausbeutung fremder Völker für Batterierohstoffe. Das Harte befördert die menschliche Grobheit weiter, das Smarte die Ignoranz. Der Gipfel der Massenlandwirtschaft wiederum ist der Supermarkt. Das Kraftfutter der Turbokühe, das hormongesteuerte Eigelb malträtierter Legehennen usw., vermutlich auch Angsthormone sowie die menschliche Anspannung im Wege solcher Erzeugung, landen, für manche krank machend, in »Lebens«mitteln. 161 Doch jede Verkünstlichung der Dinge und Lebensgüter um uns herum ist uns so normal und unspektakulär geworden wie eben das täglich Brot. Unsere essenziellsten und wahrnehmbaren Verbindungen zur Natur sind das Atmen und das Essen. Dabei hat das Essen, weil es aktiv besorgt werden muss, die menschliche Kultur, wie schon erwähnt, gezündet und für alle Zeiten wesentlich bestimmt. Den markantesten Einschnitt zur Massenernährung gab es aber schon lange vor Flurbereinigung und Intensivierung der Landwirtschaft von Seiten der verarbeitenden Industrie. Nachdem im großstädtischen 19. Jahrhundert erstmals durch die Verfahren von Liebig und anderen Forschern Zucker wie Weißmehl massenhaft raffiniert werden konnten, etwas später auch Koch- und Backhilfsstoffe in großer Form synthetisiert wurden, war die Natürlichkeit des Essens auf den Tellern weitgehend verschwunden. Die Hausfrauen-Schule des 20. Jahrhunderts stilisierte eine entsprechende Kochkultur. Unsere Entfremdung von natürlicher Speise ist inzwischen so groß, dass z. B. Personen, die, gerade aus Überzeugung, etwa Kuchen oder Marmelade selber machen, bei Verwendung der gängigen Zutaten nicht wissen oder spüren, dass das Ergebnis so künstlich ist wie etwas Gekauftes. 162 In dem Zusammenhang kann angemerkt werden, dass das industriell-technische »Gestell« im Verbund mit dem technisch-materiellen Wohlstand des 20. Jahrhunderts besonders die originär-weiblichen Bestimmungen angriff. Auf den Punkt bringt es ein Bericht des Ethnobotanikers Wolf-Dieter Storl: »In den fünfziger Jahren, als ich Die sanfte Bequemlichkeit des Massenwohlstands geht üblicherweise mit der Brutalität von Maschinen einher. Man vergleiche im eigenen Alltag z. B. elegant verpackte Lebensmittelwaren mit dem Getöse von Müllabfuhr-LKWs. Selbst nach angestrebter Elektrifizierung unserer Maschinenantriebe wird Brutalität sich verlagern in die Ausbeutung von Batterierohstoffquellen usw. 162 Man könnte die Hingabe der Zubereitung entgegnen, jedoch hätte aufklärerisch nach Immanuel Kant nur das reflektierte Gefühl ethische Qualität. Dazu an späterer Stelle mehr. 161

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im amerikanischen Mittelwesten aufwuchs, schien es der weiblichen Seite der Schöpfung nicht gut zu gehen. Während die Männer in Büros oder in den Fabriken ihren Brotberufen nachgingen, blieben die Frauen zuhause. Apparaturen – Staubsauger, Kühlschränke, Spülmaschinen, elektrischer Grill, Waschmaschinen – verrichteten die meiste Arbeit. Tiefkühltruhen, Fast Food und das Warenüberangebot in den Supermärkten machten Gemüsegärten, Einmachen, Vorratshaltung und -pflege überflüssig. Mit Spinnen, Weben und Kleidungsherstellung war es sowieso vorbei. Krankenhäuser und Kliniken kümmerten sich nun um die Kranken, Schulen und Jugendeinrichtungen um die Kinder … Der moderne Fortschritt hatte den Bereich der weiblichen Tätigkeiten ausgehöhlt und überflüssig gemacht … Frauen wurden fernsehsüchtig, Soaps und das Glitzerleben schillernder Stars wurden zum Inhalt ihres Seelenlebens. Viele Frauen wurden alkoholkrank … [manch eine, d. Verf.] verwandelte sich im Laufe der Zeit zum neurotischen Putzteufel oder Hausdrachen … Besonders schlimm wurde es, wenn die Kinder das Haus verließen. Soziologen sprachen von den ›grünen Witwen‹ der Vorstadt.« 163 Gewiss ist das ein Paradigma mit viel Wahrheit, auch in Deutschland, wo es durch Nachkriegs- und Aufbaustimmungen überlagert wurde. »Heute«, schreibt Storl am Ende seiner kulturhistorischen Monografie, während »Maschinen und Roboter die Schwerstarbeit leisten und Männer und Frauen mit gleicher Effizienz nur noch Knöpfe und Tastaturen drücken müssen, versteht man diese einst gut funktionierende Arbeitsteilung nicht mehr.« Er zeichnet im Übergang von der bäuerlichen zur Industriekultur auch typisch moderne Zuspitzungen des Geschlechterkampfes nach. Storl ist ein eingängiger Autor, um die Dimensionen moderner Naturentfremdung plausibel zu machen, indem er anhand von seelischen Archetypen, Mythen, Märchen, Religionsinhalten, Sprachausdrücken, Sozialverhalten u. v. a. m. Originärprägungen aus der zehntausendjährigen kleinbäuerlichen Lebenskultur der Menschheit aufweist. 164 Soweit dieser Exkurs zum Wolf-Dieter Storl: Die alte Göttin, S. 12 f. Vgl. Ebd., S. 13, Zitat S. 260. Gern angenommene vorherrschende Matriarchate in Urgesellschaften zeigt aber historisch als Utopie auf, S. 14–17. – Allerdings, was die Wiederfindung zur Natur für die entfremdete, rationale Postmoderne angeht, bleiben Storls reiche Erzählungen mythologisch verhaftet, Märchenerzählungen. Auf insgesamt unterhaltsame Weise werden bei ihm die abergläubisch-inhumanen Seiten im Naturerleben von Urvölkern, ja die ganze äußere Natur im Grunde verklärt. Einerseits galt für Frühgesellschaften, pointiert: Natur = heilig, individueller Mensch = 163 164

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Verdeutlichen von Verkünstlichung. Dem Ernährungsthema braucht kaum hinzugefügt zu werden, dass medizinisch gesehen weißer Zucker (der in früheren Jahrhunderten kaum erhältlich war), Weißmehl (früher nur annähernd herstellbar) und Tiereiweiß-Übermaß, die geschätzt 75 Prozent der westlichen Ernährung ausmachen, als grundauslösend für unsere Zivilisationskrankheiten gelten. 165 Auf den gesundheitlichen Aspekt wird am Schluss des Teils 6 noch zurückgegriffen werden. Und im Übrigen werden speziell unsere importierten gewohnheitsmäßigen Luxusrohstoffe wie Zucker, Kaffee und Kakao durch Kartelle gehandelt, deren ausbeuterische Strukturen sich mit dem genüsslichen Schluck Kaffee gar nicht vertragen dürften.

6.2.2 Weiter zu Digitalisierung vs. »Seele« und »Leib« Nun soll es wieder um die seelisch-geistige Kost gehen. Philosophisch gesehen wäre Verkünstlichung ein ästhetischer Begriff, der die Abkehr der menschlichen Aufmerksamkeit bis hin zur Fremdheit in Bezug auf natürliche Lebensgrundlagen aller Art bezeichnen würde. Friedrich Nietzsche erkannte solche Fremdheit grundlegend auf den nichts. Andererseits könnte der Natursuchende heute zerbrechen, denn intakte Natur zeigt sich nur noch mikroinsulär, wobei das visuelle »Bild« bereits eine Insel ist, sind doch die urigsten Bilder unseres Landes, etwa ab der Holsteiner Seenplatte bis zum südsächsischen Muldetal, durchsetzt von technischen Geräuschen der Autotrassen, Linienflüge und Landwirtschaft, dunstigen Gerüchen sowie undefinierbaren Milieus wie Elektrosmog; »Lichtverschmutzung« in visueller Hinsicht noch zu ergänzen. Abermals: Die sind keine industriellen Kontaminationen mehr wie einst zu Zeiten Benjamins bis in den bundesdeutschen Wohlstands-Ausbruch, solche wurden inzwischen nach Asien abgeschoben, sondern die nachfolgenden Auswüchse eines Genusswohlstands. 165 Ernährungsmedizinisch bilden sie alle im Stoffwechselprozess Säure-Formen. Vgl. Michael Worlitschek: Säure-Basen-Haushalt, S. 67, 126. Menschheitsgeschichtlich gab es zwei einschneidende Paradigmen der »gesunden« Ernährung: Als das erste gilt der Wechsel zur Sesshaftwerdung, mit der physiologisch wichtige Stoffe der Wildgewächse wie Bitterstoffe, Polyphenole etc. aufgegeben oder Zucht-reduziert wurden; hinzu kamen Resorptions-Hemmer aus Zuchtgetreide und Rindermilch. Die heutige Gesundheitsgesellschaft irrt sich, wenn sie Traubenextrakt, Kakao etc. in Produktformen bewirbt, deren »Superstoffe« durch Zucker, Milch in denaturiertester Form oder Alkohol konterkariert werden. Doch einem Zurück zu etwas wie Palöokost stehen heute zumeist an »Komfort« gewöhnte Verdauungsorgane entgegen – das ist die Crux der Gegenwartsernährung; Lösung in vieler Hinsicht sicher das Selber-Zubereiten möglichst natürlicher, »einfacher« Kost. Vgl. z. B. Internet-Beiträge über Polyphenole wie www.primal-state.polyphenole, Stand 22. 12. 2019.

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eigenen Leib bezogen, den Verlust eines inneren Selbstbezugs für den ethischen Habitus, und setzte als Gegenbegriff den später schändlich missbrauchten der »Erde«. Heute, umgangssprachlich, in der extrem auf die mentale Leistung zielenden (»verkopften«) Gegenwart benutzen wir die Rede »sich erden« gerne, Nietzsche nahe, um ein einfaches Erleben, mit direktem Bezug »zu den Dingen« (Husserl), zu bezeichnen. Doch gerade dieses Bedürfnis einer an Managerkrankheit leidenden Masse evoziert wiederum die gemachten Formen des privaten Naturbezugs, siehe shabby Wohnaccessoires und Kaminholz, als Handgepäck aus dem Supermarkt erhältlich. Ästhetik, wie sie zum Trost Walter Benjamins die Kunst noch kannte, gemacht aber für die Salons der Reichen (die gekünstelte Aura ist also sozial geschichtet), ist jetzt Massenkonsumartikel aus künstlich gesteuerter und nicht mehr transparenter Quelle. Ein letzter Gedanke: Zum Sektor des Tourismus, der die urigsten Winkel der Erde für das BequemErleben ebenso erobert wie kontaminiert hat, wären Bände möglich im Blick auf seine Widersprüchlichkeit unter der Devise eines verlorenen Direktbezugs zu Welt, Land, Leuten und letztlich zum eigenen Selbst als erlebende, Erholung suchende Person. Tourismus hat weithin Show-Charakter. Aber auch im Inland hat etwa ein auf »Ego« (Schirrmacher) gerichtetes »Outdoor«-Erleben keinen wirklichen Sinn für Natur. 166 Um an die vorher erwähnte Steckdose anzuknüpfen: Wer heute einen PC oder viel öfter wohl ein Smartphone bedient, weiß, wenn er nicht Elektroniker und Informatiker ist, im Grunde überhaupt nichts von dessen technischer Apparatur geschweige denn von den Algorithmen, die inzwischen fast hundert Prozent der weltweiten Datenkapazität Milliarden Menschen zugänglich, persönlich anreicherungsfähig und austauschbar machen. Und das ist, wie schon die genannter Historie der Datentechnik implizierte, so gewollt. Aber Fremdbestimmung wird nicht nur spürbar, sondern zerstört einen ganzen Tagesablauf, raubt Schlaf und macht missgelaunt gegen sich und Mitmenschen, wenn etwas nicht funktioniert, Fehler zeigt oder durch unverhoffte Updates unterbrochen wird. Der gestiegene Leis166 Keksfolien und Coladosen wie vor 40 Jahren sind aus Böden und Gewässern verbannt mittels scharfer Strafgesetze. Neue Freizeitmöglichkeiten bräuchten immer wieder neue Gesetze, wie man am Beispiel der Mountainbikes sicher gehört hat. Die Haltung »Mir gehört die Welt« müssen mit ihrer ganzen Existenz vor allem bodenständige Berufe wie Schäfer beklagen, siehe im Art.: Ignoranz, die gefährlich werden kann. Schäfer klagt über rücksichtslose Passanten und Radler, in: NZ 24. 10. 2019, S. 9.

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tungs- wie Zeitdruck an Lern- und Arbeitsorten, der Stress, in bestimmter Zeit immer mehr bewältigen zu müssen aufgrund einer Digitalisierung, die doch Daten in Massen bequem verfügbar machen will, ist nun also Thema der Medien selbst. Die gesundheitlichen Wirkungen führen auch immer öfter zu Therapiegesuchen, während sich die Medizinbranche gerade selber digitalisiert: Man kann beim Arzt über digitalen Arbeitsdruck klagen und sich das Rezept für ein nervenstärkendes Tonikum aufs Smartphone schicken lassen. Apps bewahren vor dem Vergessen der Medikamenteneinnahme durch Klingelzeichen. Im Automobil warnt ja auch »das System« vor Vergessen, die Tür zu schließen. Beim Thema Schutzausstattung verflüssigen sich die Grenzen von Sinn und Banalität doch sehr. Man kann auch unter angstgesteuerten Herzstörungen leiden und seine Röntgenbilder in eine Onlinebank stellen lassen, wer sich diesbezüglich sicher fühlt. Die Mehrheit der Deutschen würde sich angeblich einen Chip mit Gesundheitsdaten in den Unterarm invadieren lassen. Kompatible Beratungssoftware für individuelle Sport- und Ernährungsprogramme ist im Aufschwung; Hersteller werben mit smarten Uhren oder Pulsmessern als Gratisgaben. 167 Wer noch zögert: Deutlich geht es bei alledem nicht nur um Überforderung, sondern um Fremdbestimmung. Auf der administrativen Ebene sind plötzlich die unter Schirrmacher noch abgewehrten Sicherheitsfragen betreffs persönlicher Daten, Patientendaten, Umgang mit Sprachassistenten (vor allem mit Kindern, Besuchern), Datennachlass etc. virulent geworden. Jüngeren Lebensaltern geht es erkennbar um den Werdegang, älteren mehr um Schutz des Erreichten und das Angewiesene des Alters: Wer kann mich bis wohin durchchecken, ablehnen, ausgrenzen? Wissen ist Macht wie kaum zuvor; von moderner Inquisition wird schon gesprochen. Zugleich werden laufend Daten preisgegeben und im Freundeskreis vertrauensvoll Passwörter sowie Intimitäten getauscht, über alle Ländergrenzen hinweg. Wie gehen wir phänomenologisch vor? Indem wir die Klagen hören. Das kann hier nur annähernd geschehen, weil wir keine Spezialstudie und kein Sprechzimmer wie etwa Hartmut Rosa und Kol167 Schon 2019 betonte dazu das zahnärztliche Organ IGZ – Die Alternative, dass die eigentlichen Expertisen, nämlich Geschick, Leistung, menschliche Zuwendung nur von fachkundig ausgebildetem Medizinpersonal im realen Kontakt mit Patienten erbracht werden könne: IGZ 2 / 2015, 20. Jg., S. 6, 7.

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legen betreiben. Allein das therapeutische Gespräch wäre im engeren Sinne phänomenologisch zu nennen, während faktisch bereits die menschliche Annäherung in Strukturen von Vorteil und Profit wertvoll, da rar geworden ist. 168 Wir erleben Digitalisierung als so normal wie sich heute Menschen geben, die sich gruppiert und vereinzelt auf eine »Fummelplatte« (müsste man phänomenologisch sagen) fixieren, als Individuen im Gehen nach unten blicken, als Kinder, deren Daumen und Wirbelsäulen frühzeitig verkrüppeln, mit Augen, die viel zu früh sehschwach werden, von Bewegungsmangel und dessen Folgen zu schweigen. Laut Lehrern ist oft die Klassenmehrzahl vor allem junger Schüler Brillenträger. Pädagogen, Ausbilder und Therapeuten beklagen den Verlust der Kindheit, der Gesundheit, der körperlichen Kräfte, der seelischen Kapazitäten, den Verlust der Kulturfertigkeiten mit Mängeln in der Aufmerksamkeit, im Verstehen, Lesen, Schreiben, Rechnen, der physischen Motorik und der Ausdauer – den Niedergang der Menschheit durch Vereinseitigung und »Verdummung«. 169 Solche Resümees erinnern an die nie ernst genommene Apokalypse des Neill Postman. Anteilnahmen aus zweiter Hand, aus Berufen, die Menschen begleiten und fördern, drängen auf den Buchmarkt. 170 Subjektiv Betroffene, wenn sie Leidensdruck verspüren, sprechen, noch so vieler »Follower« zum Trotz, von Einsamkeit und nicht selten auch von Sucht. 171 168 Die besondere Stellung Hartmut Rosas als Analyst und zugleich Therapeut ist hier noch einmal zu betonen, während Geisteswissenschaften im Ganzen mit der beginnenden Digitalisierung selber kritiklos blieben und sich organisatorisch in ihren bibliothekarischen wie auch didaktischen Systemen den neuen Techniken sang- und klanglos anschlossen. Das liegt auf einer Linie, nach der sich vor allem die UniversalFächer Philosophie und Theologie mit realen Dingen des Alltagserlebens, der Arbeitsplätze, der Familien und dem Seelenleben von Menschen kaum zu befassen scheinen. So wurde auch eine ganze auffällige Gesellschafts-Bewegung wie die Fitness- und Gesundheitsbewegung weitgehend ignoriert und kaum in ihrem geistigen Gehalt der Leibesphilosophie thematisiert, dazu Silja Luft-Steidl: Fitnessbewegung – Diätetik, S. 12 f. 169 Vgl. dazu populärwissenschaftliche Titel wie den des Psychiaters Michael Winterhoff: Deutschland verdummt, Gütersloh 2019. 170 Man kann menschliche Auswirkungen im Einzelnen nachlesen etwa bei Manfred Spitzers bekannt gewordenem Populär-Titel: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München 2012, auf den auch Thiedes detailierte Recherche eingeht: Digitaler Turmbau, z. B. S. 51 171 Vgl. im Art.: Medien dominieren die Freizeit, in: NZ 06. 09. 2018, S. 2. Deutlich zugenommen hat das suchthafte Geld-, Wett- und Lotteriespielverhalten durch das Internet, vgl. Art.: Klick, Klick, Klick ins Unglück, in: NZ 21. 08. 2019, S. 1, 3. – Be-

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Man beobachtet solches auch, in der Familie oder im Bekanntenkreis, etwa so: Ein Jugendlicher, der etwa mit kaputtem oder nur »veraltetem« Smartphone zwei Tage auf das bestellte neue warten muss (und in dieser Zeit gründlich seine Datenverwaltung vertraglich regeln sollte, sonst nützt das beste Handy nichts), ist an diesen Tagen fast lebensunfähig. Für den Direktkontakt zur Außenwelt ist man hilflos, verständlich, wenn auch andere ein Lächeln, eine Skizze oder eine Landkarte nicht mehr lesen können. Wer keine Apps schicken kann, hat Eintrittskarten zum Leben verwirkt, schlimmer als beim Verlust des Personalausweises. Der Personalausweis ist ein amtliches Papier mit Statusaussage, das Handy aber Imitator unserer fünf Sinne, unseres seelisch-geistigen Sensoriums, weitreichender Leibesfunktionen für den Vollzug unseres Selbst in der uns umgebenden Welt – technisch gesprochen das externe Gehirn – phänomenologisch das Alter Ego. Was ist von Betroffenen vernehmbar? Ende 2018 wurde eine Befragung von Kindern über Smartphone-Nutzung und Folgen veröffentlicht, der u. a. der Braunschweiger Neurobiologe und SchulenBerater Martin Korte beistand. Durchaus ist das empirische Antwortverhalten wiederum nicht im engen Sinne phänomenologisch zu nennen, aber es eignet sich nach den Tendenzen des Antwortverhaltens gut, Vorurteile zu widerlegen wie hier, die Sache wäre harmlos. 172 Ein Drittel der Kinder hielt selber die eigene Handynutzung für zu viel. 21 Prozent fühlten sich abgelenkt von anderen Aufgaben. 14 Prozent äußerten den Zwang, dauernd aufs Handy zu schauen. 14 Prozent schlafen später als geplant ein. 12 Prozent sprechen seltener direkt mit Mitmenschen. 11 Prozent äußerten Angst, offline etwas zu verpassen. 6 Prozent treffen Freunde seltener direkt. 4 Prozent haben Augenprobleme. 3 Prozent physische Schmerzen. 56 Prozent wachen nachts auf für den Blick auf das Phone. Der Tenor der denkenswert auch das neue Warnschild an Autobahnen »Tipp Tipp Tot«. – Zum bitteren Zugunglück von Bad Aibling im Februar 2016 mit 12 Toten und über 90 Verletzten, verursacht durch falsch gestellte Signale, verlautete Monate später, der verantwortliche und dann verurteilte Fahrdienstleiter hätte während der Arbeit mit dem Smartphone gespielt. Das löste aber derzeit noch kein Entsetzen über den Einfluss dieses Mediums aus. – Ähnliche Berichte von suchthaften Abhängigkeiten bündelte Ende 2018 das Stern-Magazin unter dem Leitthema »Einfach mal – Ausschalten«: Nr. 51, 13. 12. 2018, S. 42–53. 172 Zur Methodik für möglichst menschengerechte Untersuchungen vgl. Silja LuftSteidl: Fitnessbewegung – Diätetik, S. 19–21.

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Antworten läuft auf Überforderung, Freiheitsberaubung und Vereinzelung hinaus. Korte sieht das eigentlich anpassungsfähige Gehirn seit dem iPhone als stark Informationen-überlastet an. 173 Und noch einmal dies: In verzweifelte Einsamkeit führt Spielsucht, die durchs Smartphone leichter eingeleitet wird als durch frühere Spielorte. Ein Artikel berichtet über zerrüttete Existenzen. 174 Dem Fortschritt im Antrieb des Geldes sind Einzelschicksale egal. Beratungsdienste zum sinnvollen Online-Umgang werden immer wichtiger, zur digitalen Kompetenz: »Nur noch schnell 148 Mails checken …« 175 Allmählich zeigt sich Einsamkeit großflächig an Orts- und Stadtstrukturen. Um Adornos Wirtshaus-Beispiel aufzugreifen, der Farbfilm zerstöre es mehr als Bomben: Persönlich eine Zumutung gegen jene, die unter Bombennächten, Blut und Trümmern schwer gelitten haben sowie alle, die den Krieg fürchten (sollten), strukturell aber real, wenn wir außer verödeten Landstrichen plötzlich auch geschäfts- und menschenleere Innenstädte vorfinden. Einzelhandelssterben braucht nicht belegt zu werden, denn es wird fast wöchentlich in lokalen Medien beklagt. Organe aus Landkreis, Stadtteil oder Dorf lenken immerhin den Blick auf Einzelne. Onlinehandel hat die Erscheinung der Orte »upgedatet«. Oder »disruptiert«. Denn selbst solche Szenen sind in einer beschleunigten Zeit normal. Wir sprechen längst nicht mehr von Digitalisierung, was ja nur die technische Seite einer neuen Daten-Handhabung meinte, sondern in den gesellschaftlichen Folgen von »Digitaler Disruption«. 100.000 Arbeitsplätze sollen in Deutschland bis etwa 2030, binnen gut zehn Jahren, wegfallen und dafür über 100.000 neue, zum Teil in ganz neuen Berufen geschaffen werden. Schon jetzt sind wir täglich an Auswirkungen beteiligt, als Bürger an Online-Behördendiensten (die Verwaltung bedeutsamer Personaldaten, etwa der Steuer und der Krankenversicherungs-Abrechnung, erfolgt ja schon lange fast ganz digital), als Einkäufer im Internet, also als Bequeme (?) oder wohl eher Gehetzte, oder allein schon deshalb, weil es den gewohnten EinVgl. Art. »Wir tun unseren Gehirnen keinen Gefallen«. Neurobiologe sieht Smartphones kritisch, in: NZ 23. 07. 2019, S. 3. 174 Vgl. Art. »Ich konnte nicht mehr klar denken«. Ein Mittelfranke erzählt von seiner Spielsucht, in: NZ 21. 08. 2019, S. 3. Vgl. schon FN 171. Allein die Hand, die das Handy steuert, wird so zum House of Rising Sun (als Spielhalle in der Interpretation durch die Popgruppe Animals, 1964, Kommentar d. Verf. 175 Art. »Nur noch schnell …« Friedrich-Alexander-Universität bietet Medienkompetenztraining an, in: NZ 10. 09. 2019, S. 9. 173

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zelhändler in der Nähe nicht mehr gibt. Normal auch, dass Pflegedienste durch Roboter ersetzt werden und wir unser Essen morgen oder übermorgen per Drohne herbeiklicken. Schwinden und Kommen, Vereinseitigung und Multioptionalität reichen sich rasend die Hand. Digitalisierung gehört dazu, heißt es, und mache uns zu Weltbürgern. Sie grenzt aber auch aus, allein qua Technik, obwohl sie inhaltlich, bezogen auf Lebensführung, Kulturalität und Kontakte, für überflüssig gehalten werden kann. Die menschliche Nähe schwindet eindeutig. Nennen wir neben Einzelhändlern die größeren Geschäfte und Kaufhäuser in Städten: Etliche sind mit Onlinediensten vernetzt und, so oder so, personell unterbesetzt wie überstrapaziert. Das Personal muss neben dem üblichen Pensum die technischen Abläufe von Kunden-Käufen beherrschen und büßt als Ratgeber wie Ordnungshüter viel an Warenberatung und vor allem Freundlichkeit ein. 176 Viele Onlinedienste sind nur noch per Apps verfügbar, z. B. Geschäfte mancher Banken. Man wird damit zum Besitz des Smartphone gezwungen; es reicht noch nicht einmal der PC mit Internetanschluss und E-Mail-Funktion. 177 Und immer noch gibt es Menschen ohne Smartphone, mit subjektiv ausfüllenden Lebensinhalten, die keines brauchen und die allgemeinen Nachteile hinnehmen können. Sie wollen sich nicht ständig stören lassen von unnötigen Einblicken Fremder, Informationen, Werbung, technischen Hinweisen, Handlungszwängen und Geldausgaben. 178 Internet wie Handy brau176 Wenn der Soziologe Wilhelm Heitmeyer in seiner Monografie »Autoritäre Versuchungen« die These entfaltet, dass ein universeller Kapitalismus über DemokratieAushöhlungen zu repressiven Politikformen wie auch insbes. zu Rechtspopulismus führt (»unumschränkte Gültigkeit der Prinzipien gegenüber den Individuen sowie dem sozialen Gefüge der modernen Gesellschaft einerseits und der Demokratie andererseits«), so kann dem mit Verständnis für eine kaum moralisch böse gesinnte Wählerschaft begegnet werden, die bei etablierten Parteien keine Lösungen für das Weggleiten vertrauter Lebensformen und bes. des menschlichen Gegenübers findet. Bei Heitmeyer vgl. S. 34. 177 Die Antwort der Gegenseite ist stereotyp: »Ja, dann können Sie das nicht machen.« Bei vielen Handlungsmöglichkeiten ist allerdings die Frage, ob sie nicht überflüssig sind und ob nicht Allmacht nur suggeriert bzw. Ausgrenzung künstlich geschaffen wird. Anders sicherlich beim Telefon: Die Telekom-Gesellschaft verschickt nur noch Online-Rechnungen, Anträge für postalische Rechnungen müssen per EMail gestellt werden – von zumeist älteren Personen, die keines haben. Erst sehr umständlich erfährt man, wie notfalls ein Postantrag gelingt. 178 Als Inbegriff innerlich erfüllter Menschen stellen Rolf Kühn et al. (Hg.) den Künstler dar, hier einen Kunstmaler, der tagein, tagaus sowie lebenslang in der glei-

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chen Strom und Verträge. Man tut allgemein so, als ob das Nichts wäre. Zum Thema Stromnetz äußern immer mehr Menschen Angst vor groß angelegten Systemausfällen. Unüberschaubarkeit wird manchen unheimlich. Auch dazu passt die gesetzte Fußnote . Die Disruption ist da und erfordert dringende Reaktionen im Umgang. Die großen Themen, technische Datensicherheit, Meinungsmanipulation und Hass im Netz, sind politische. Man kann sie dabei diskutieren und unter Werteprämissen relativieren. Wenn Hass im Netz wie bei der Europawahl-Agitation gegen die CDU ab September 2019 zu deren Erdrutsch beiträgt, wäre das nicht gerechtes demokratisches Urteil gegen die Untätigkeit dieser Partei? Wenn im November 2019 Rassismus gegen das neu gekürte »Nürnberger Christkind« Scharen von Gegenstimmen erweckt, wäre das nicht gelungene Filterung menschlicher Werte in einer freiheitlichen Demokratie? Meinungskampf und Reaktionsbedarf sind allerdings stressig geworden. Und wer nicht im Rampenlicht steht, findet erst gar keine Lobby. Die Frage ist und bleibt: Was macht es mit den Menschen und mit dem, was wir unter Leben verstehen? Auf politischer Ebene wird stereotyp der Fortschritt angeführt, den Wirtschaftskraft und damit Wohlstand bräuchten, durch Errungenschaften wie den KI-Kühlschrank, das unfallarme Auto oder das digitale Klassenzimmer. 179 Wir lesen unter den Protagonisten das Zeitungsinterview zum Arbeitsmarkt mit Valerie Holsboer, bis September 2019 eine (zuletzt umstrittene) Vorständin der Bundesanstalt für Arbeit. Sie äußert hier ihre Vision von Freiheit und neuen Verwirklichungen für den Einzelnen in Beruf und Freizeit, nicht zuletzt durch Zeiteinsparungen. 180 Die Autorin dieser Arbeit schickte daraufhin folgenden Leserbrief an die Zeitung: »Man kann nur hoffen, dass Betroffene ihr disruptierendes (in Erschütterung, Umwälzung befindliches, d. Verf.) Leben so positiv chen Kleidung auftritt, dem Altern seines Leibes nichts entgegenstellt und sich, immun gegen Außeneinflüsse, versunken dem Fortschritt seines Werkes widmet: Marco A. Sorace: Zeitlichkeit, S. 126–131. Teil 6.3 wird näher auf solche Existenz eingehen. Die angestammte »Kluft« dürfte beste Rüstung gegen Modediktate sein und in der Einheit zum Träger (etwa: steht ihm perfekt) an Ausdruck die Raffinessen von activewear u. Ä. weit überbieten. 179 Exemplarischer Art.: Auf Tuchfühlung mit der Zukunft. Kanzlerin Merkel beim Nürnberger Digital-Gipfel, in: NZ 05. 12. 2018, S. 1 mit Zusatzbeiträgen S. 2, 3, 7. 180 Vgl. Art.: Viele Jobs fallen weg, aber genauso viele entstehen neu. Digitalisierung: Valerie Holsboer optimistisch, in: NZ 25. 04. 2019, S. 3.

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sehen wie Frau Holsboer. Umwälzungen waren stets mit Plagen für die Kleinen und Massen verbunden. Leibeigenschaft, Manufakturen, Hochöfen, Mietkasernen und Trabantenstädte wurden geschluckt. Die alten Krupps nannten es Fortschritt, jetzige nennen es ›smart‹. Die aktuellen Umwälzungen treffen Unzählige durch Beschleunigung, Multitasking, ständiger Verfügbarkeit, Stress, Wegfall von Gewohntem, Liebgewonnenem, Lernen abstrakter Abläufe, für die nicht jeder begabt ist. Für alle fallen weg: Kulturwerte wie Handwerk, Künste, Schreibkorrespondenz, dazu menschliche Werte wie der direkte Kontakt, die Zuwendung … Diese Disruption ist Überstülpen und Zwangsausübung vor allem zugunsten von Profit und Ruhm einzelner. Für den Privatkonsum suggeriert sie, dass wir unsere fünf Sinne und das direkte Erleben von Dingen, Mitmenschen und Natur nicht mehr bräuchten. Der Preis besteht neben Geldabzocke in Daten-Hergabe und Manipulierbarkeit für Werbung sowie Inhalte aller Art …«. 181 Ein weiteres großes, politisches Thema ist das ökologische Problem von Stromverbrauch und Emissionen. Wie alle lange gärenden Umweltprobleme wurde dies bis vor kurzem ignoriert und scheint mit dem speziell durch FFF ausgelösten Klima-Druck plötzlich brisant zu sein. Damit entpuppt sich natürlich auch die Schizophrenie der politisch forcierten Werte. Die jetzt bestehenden digitalen Medien belasten laut Internationaler Energieagentur den Globus so sehr wie grob gesagt 5 Millionen Autos (erheblich bereits im Standby-Modus), Verzehnfachung bei beiden steht bevor. 182 Dazu ein Elementarpunkt, der in den für diese Arbeit recherchierten Quellen gar nicht vorkam: Die Abhängigkeit vom Stromnetz überhaupt. Das betrifft den individuellen Menschen direkt sowie jedermann über die öffentliche und allgemeine digitale Infrastruktur. Wer empfindet nicht schon Freiheitsberaubung durch Computerabsturz? Hartmut Rosas Einstiegsthemen seien erinnert. Zu Emissionen sei an zahlreiche Menschen erinnert, die unter Sendemasten-Strahlung und Elektrosmog geEingesandt an die NZ am 26. 04. 2019, aber nur als Kurzmeinung abgedruckt. Auch an den »Kleinen« bei Unternehmern geht es wieder einmal aus: Firmen müssen neue Kapazitäten aufbringen, um vorgeschriebene Anforderungen wie z. B. Dokumentationen und Qualitätskontrollen auf digitalem Weg korrekt nachzuweisen, also Software anschaffen, Mitarbeiter schulen usw. 182 Vgl. dazu (erschreckende) Einzelheiten Werner Thiede: Digitaler Turmbau, S. 133–138. Thiede stellt konsequent die Frage nach der Ehrlichkeit der Energiewende im digitalen Zeitalter. 181

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sundheitlich leiden. Diese Problematik überhaupt, vor allem auch als Umweltproblematik für Tiere (besonders mit Verortungssystemen) und Pflanzen zu sehen, wird mit forciertem Ausbau digitaler Infrastruktur totgeschlagen, ähnlich wie die Ausmaße unseres Straßenbaus mit Begleitinfrastruktur (Brücken, Gräben, Brunnen etc.) wie sakrosankt gelten. Dagegen hört man etwa, zum Vergleich, allgemeine Aufschreie bei Plastikpartikeln in Babymilch und macht das Feinstaubthema groß, während technische Ausstattung, die der postmodernen Gesellschaft zum Lebenskorsett geworden ist, in ihren physisch-toxischen Folgen egal oder einfach hinzunehmen ist. Groteskerweise sind uns inzwischen fast alle Öko-Orientierungshilfen ins Netz gestellt. So kann z. B. eine Mutter ihr Baby wiegen und dabei mittels App ihren Einkaufszettel notieren, der frei sein solle von giftigen Verpackungen. Ein pervertierter verstellter Naturzugang, der heute so normal ist wie »Öko« als industrielles Produkt. Die neue Parallelität, ja scheinbare Beliebigkeit von Problembekundungen scheint übrigens mit dem pluralen Wesen des hier schon mehrmals gebrauchten (und dabei auch wichtigen) Begriffs der »Postmoderne« zusammenzuhängen, der eine wesentlich ästhetische Färbung besitzt, nämlich die Frage unserer Weltwahrnehmung. Hier wirkt natürlich das Verschwimmen von Realität und Virtualität, die ihrerseits Realitäten neu schafft, stark hinein. 183 Ein wiederum kaum behandeltes (grundsätzlich pädagogisches) Thema ist: die Inhalte des Internets und die Frage der Vorbilder. Wie ist das Verhältnis von Sinn und »Schrott« der Informationsflut zu bewerten? Ein Fall für eine extra Studie, den man hier lediglich streifen kann. Doch (nur) der kritische Internetnutzer wird zum einen wissen, dass unter sinnvollen Sachinformationen, Unterhaltung und einer Masse von meist banalen Tipps mit allerdings sich gravierend gebenden juridischen Implementen (»5 große Fehler beim Apfelessen«) stark zu selektieren ist. Zum anderen sind übermäßig viele In183 Zum Begriff »Postmoderne« wird später aus phänomenologischer Sicht Spezifisches angemerkt. In seiner komplexen Begriffsgeschichte wird er hier nicht diskutiert. Im Wesentlichen wird Lyotards Auseinandersetzung mit gescheiterten Erzählungen von Aufklärung, Idealismus, Historismus bzw. deren Publizierung 1979 als einschneidend übernommen, aber auch schon Arnold Gehlens Meilenstein, der in den bzw. bis zu den 1960er-Jahren von einer kulturellen Kristallisation sprach, d. h. alles ab dann Entstehende sei schon einmal dagewesen. Paul Feyerabends bekannt gewordener Slogan Anything goes von 1978 wäre die konsequente und faktisch beobachtbare Bühne hiervon.

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halte mit dem Konsumangebot der Internetshops verknüpft, menschliche Kontakte sowie komplette soziale Netze etwa über »Likes« und »Dislikes« der Produktbewertungen verwoben, womit das Internet schwerpunktmäßig zum Kaufhaus wird. Zudem kam mit ihm überhaupt das grassierende Phänomen des Bewertens und des Rankings auf (gerade in diesen Tagen erschrickt eine »Lehrer-BewertungsApp« die Öffentlichkeit). 184 Bei Produktangeboten geht es um Transparenz, die der ausufernde Markt in der anonymen Netzwelt offensichtlich braucht. Bei Menschen, die von ihren ins Netz gestellten Dingen, sei es als Händler, Schriftsteller oder Ideengeber, gar nicht zu trennen sind, ggf. um Urteile auf Leben und Tod. Das Internet wirkt schließlich als äußerste Steigerung von Film und Fernsehen, insofern sich (im Prinzip alle) Menschen selbst präsentieren können durch Infoseiten und Posts. Dabei kann man auch unbemerkt oder schweigend zustimmend durch andere eingestellt werden, die einen für ihre Zwecke nützlich finden. Beabsichtigte Personenbilder und -auftritte sind die des perfekten Menschen, gestylt nach den Regeln der aktuellen Outfit-Mode (kleiderlos inbegriffen), des Menschen als Ware, verleitet zur »Selbstaufblähung« 185. Bei dem gebotenen Styling ist zudem ein erhebliches Maß an Selbstentfremdung beteiligt. Leiden? Findet man in diesen Kategorien nur in Sensationsform. Anteilnahme? Entsprechend schrill und pauschal. Dass zu dem speziellen, aber menschlich höchst relevanten Punkt der distanzierten, verflachten Privatjustiz des Internets die christlichen Kirchen mit dem Evangelium vom Mitfühlen und Tiefenverstehen noch kein Machtwort gesprochen haben, während sie sonst gerne die Leistungsgesellschaft nivellieren, ist unverständlich. Schließlich kann sicherlich die Übermoralisierung des technisch-medialen Miteinanders (gipfelnd besonders auch in medialen Shitstorms) als Verhängnis der Aufklärung angesehen werden, deren selbstvergötterte Menschen einander zu Richtern werden. Dabei wirkt die Führung speziell der protestantischen Kirchen selbst schon lange wie auf den Menschen verabsolutierenden Zug aufgesprungen. Sodann zum Manipulativen: Nachdem die einst gefürchtete Ablenkung und Suggestion durch Fernsehen von einem Außenraum hervorging, wird nun der Internetnutzer ins Kommunikations184 Sagt es irgendetwas über die wirkliche Qualität eines Buches aus, wenn es im Amazon-Ranking auf Platz 377.541 liegt? 185 Werner Thiede: Digitaler Turmbau, S. 111.

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Digitalisierung gegen »Seele« und »Leib«

geschehen persönlich involviert, was die Suggestivkraft von Vorbildern und Werten extrem steigert. Es ist an dieser Stelle, im ästhetischen Zusammenhang, das Verfahrensmerkmal nachzutragen, dass menschlich wahrnehmende Schritte nach dem Wesen des Internets in ungeheurer Schnelligkeit erfolgen. Die überfordernde Befassung mit überhaupt stets konstruierten wie konkurrierenden Bildern und Botschaften kann insofern nur schemenhaft geschehen, während im Gegenzug Verstand und Sinne entwöhnt werden von der genauen Befassung mit der realen Welt. Hierauf geht im Einklang mit vielen Pädagogen Werner Thiede gründlich ein 186 (sowie ein interessanter Autor, der in 6.3 noch folgen wird). Hier ist nicht die Aufzählung aller Probleme beabsichtigt. Als eher technisch-organisatorisch und eher pädagogisch anzugehende könnte man sie in einem schwierig verschwimmenden Maßnahmenkatalog grob ordnen und wird den Druck auf das politische Handeln nur verstärken müssen. Und immer wieder könnte man menschlich wie ideell einwenden, dass ernsthafte sowie erfüllende Kontakte durch das Internet ermöglicht werden, besonders für Abgeschnittene und Einsame, dabei zunehmend gelingende Partnerschaften. Oder: Welchen Enthusiasmus für freie Wissensvermittlung es gibt, siehe etwa das Arbeiten und Spenden in Millionenhöhe für Wikipedia. Für Bildung und Wissenschaft käme man ohne Internet an Dokumente wie z. B. das besondere Spiegel-Horkheimer-Interview von 1971 – siehe 2.2 – nur mühsam heran, und manch Wertvolles wie Dokumentarfilme über Walter Benjamin wäre allgemein nicht zugänglich. Besonderer Einsatz für die Natur, schwindende Kulturformen, aussterbende Berufe, alles das kann sich digital verbreiten; so zeigte sich z. B. lange vor dem Twitter-Schäfer Sven de Vries keine Aufmerksamkeit mehr für den Beruf des Wanderschäfers. Der Umgang mit den Möglichkeiten des Lebens rührt an die Fragen der menschlichen Freiheit und der Eigenschaften des Subjekts. Durchaus, es hat schon immer Wettbewerb bis hin zu Heiratsmärkten gegeben. Auch gewöhnt sich der Mensch an vieles und kann fast alles zum Nutzen wie zum Schaden einsetzen. Auf dieser Schiene könnte man aber auch sagen, dass sich durch weltweit aktuell mehr als vier Milliarden Internetnutzer, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, die Friedenssituation auf der Erde nicht gebessert hat. Jedenfalls die zumeist vordergründig attraktive Art des 186

Vgl. ebd.: Digitaler Turmbau, S. 101–113.

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Hauptfrage: Entfremdung durch Digitalisierung

Internets mit Verleitung zur bequemen (»smarten«) Omnipräsenz des Nutzers, mit Informationsmasse, Grenzenlosigkeit, Schnelligkeit, Suggestivwirkung und Perfektionsfassaden das Subjekt zu überfordern und Problemspiralen in Gang zu setzen, liegt auf der Hand. 187 Gegen kriminelle Formen von Web-Austausch wie bei Rassismus / Extremismus oder Kinderpornografie, der schon anfällige, vor allem junge Menschen zu Todesschützen gemacht hat, wird nun zunehmend der Ruf nach »Medienkompetenz« laut, die Eltern und Pädagogen vermitteln sollten. Eine weitere, neue Last auf dem Markt der virtuellen (virulenten) Möglichkeiten. Die Kernfrage, wie man »Anfällige« frühzeitig aufspürt, führt in die »Abtauchung« hinter Bildschirme, die kaum ein Erzieher heute anzuzweifeln wagt und die als Privatraum bei Volljährigen sowieso unzugänglich ist. 188 Was steht menschlich und für das Wesen des Lebens überhaupt auf dem Spiel? Es ist nicht deshalb tragisch, dass das Handwerk ausstirbt, weil Kultur wegbricht 189, sondern weil Handwerker im Sinne der leibhaften Anschauung wissen, wovon sie reden, wenn sie Begriffe wie z. B. Sog, Anhaften oder Auswurf verwenden. Alles das ist konkret-räumlich verortet, während die digitale Welt primär das Zeitraster kennt, Ortsabstände überwunden und dabei auch ausgelöscht hat. 190 Menschen wie Handwerker, die noch die Dinge selbst 187 Nochmals dies: Als Selbstauslieferung bezeichnet Thiede den Prozess, der mit der leichten Bereitschaft zur Hergabe von persönlichen Daten verbunden ist, die für die Mehrzahl von Internetnutzungen nötig ist, vgl. Digitaler Turmbau, S. 99. Persönliche sorglose Euphorie ist sicherlich eine Folge des Zeitgeists durch opportunistische und dabei naive Politik. So werden in der BRD bis heute wichtigste Daten der staatlichen Sicherheit nicht eigens, sondern u. a. auf Clouds von Amazon verwaltet. Dies ist dringlichst zu ändern, vgl. im Art.: Heute Alltag, vor 50 Jahren Sensation. Der 29. Oktober 1969 gilt als Geburtsstunde des Internet, in: NZ 29. 10. 2019, S. 3. 188 Der mutmaßlich rechtsextremistisch motivierte Anschlag von Hanau am 19. Februar 2020 muss dazu dieser Arbeit nachgetragen werden. 189 Aber natürlich sind auch dies nicht nur Phrasen, sondern es leiden Unzählige darunter, dass vertraute Instanzen wegfallen, ebenso wie unter dem Verlust lauschiger Feldwege oder sorgfältiger Formen, sich auszudrücken in Sprache und Kunst. Das seelisch Stabilisierende in den Erfahrungen von Kultur und Natur wird von so Betroffenen oft betont, gerade auch von kranken und eher einsamen Menschen. D. Verf., aus früherer Berufserfahrung als Gesundheitsberaterin. 190 Wie der Mensch seine Habitualität ursprünglicher aus dem Ort als aus der Zeit bezieht, bildet die Phänomenologie des Hermann Schmitz ab: Der Leib, 1. Kapitel, S. 5–72. Bis vor dem allgemeinen Gebrauch der mechanischen Uhr kannte man die Zeit ja nur aus dem tages- und jahreszeitbedingten Wechsel der Naturerscheinungen und ihren Auswirkungen. Zeitfluss und Vergänglichkeit wurden eher religiös über-

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Digitalisierung gegen »Seele« und »Leib«

kennen, sind im Prinzip auch die ersten, die sich über bestimmte Medienmeldungen wie z. B. die Gefahren von Feinstaub und Stickoxiden äußern (und hier speziell kaputtlachen) können. Durch die Abkehr von den Lebensgrundlagen befindet sich der Mensch in einer überwiegend konstruierten und zu konstruierenden Welt. Die reale Welt ist ihm vielfach unbekannt und seelenlos geworden. Die schon mehrmals erwähnte offensichtliche Suche nach AuraCharakter beim Gestalten der persönlichen Umgebung – Shabby, Vintage – erscheint als deutliches Kompensationsverhalten. Aber es steht noch viel mehr auf dem Spiel mit dem Verlust des Direktbezugs zum Leben, nämlich der Verlust des Selbst, der Authentizität bis hin zur Selbstbestimmung im Denken und Handeln, der Erhalt der Macht und Kontrolle über das eigene Ich und Leben. Die Diskrepanz zwischen Hergabe persönlicher Daten und Angst um die Privatsphäre dürften hier das Augenscheinlichste sein. Über alles das sind sich Kommentatoren und Kritiker im Wesentlichen einig. Als Angriff auf unsere Freiheit wird es in den Auswirkungen oft resümiert. 191 Während hier auf leiblich-ursprüngliche Angriffe geachtet werden soll, muss noch, zur Vermeidung eines Missverständnisses, ein kleiner Exkurs über die Ästhetik unserer dinglichen Umgebung geäußert werden: Mit dem Schwinden des Auratischen wird oft die reine Funktionalität unserer konstruierten »Lebenswelt« ins Feld geführt. Wäre dem so, würden wir alle in Betonkasernen und gebrauchter Kleidung durchaus komfortabel leben können. Aber das tun wir nicht. Und im Angebot der Gebrauchsartikel muss man gute Funktion oft suchen wie die Stecknadel im Heuhaufen. Wiederum zu den Raffinessen dieser Zeit scheint eine besondere Liäson von Funktionalität und Aussehen zu gehören, die dann doch eher »Optik« ist, wie man jetzt sagt. Es wurde auch nach dem Bankencrash 2008 vielfach gefordert, die Märkte wieder auf den Boden realer Leistungs- und Nutzwerte zu höht, bes. im christlichen Heilsweg, vgl. Rolf Kühn: Gottes Selbstoffenbarung, S. 137. Mit dem Räumlichen ist eine innere Vertrautheit aus der Anschauung des Umgangs gemeint, die früher bis zur symbolischen Überhöhung ging: Die Eiche vor dem Tor, der eicherne Axt-Stiel, waren nicht nur hartes »Material« – krasser Gegensatz zu Descartes’ Abstandshaltung zur »res«. Vgl. Carl Wilczek: Symbol und Überlieferung als Hintergrund unserer Gartenkultur, Weihenstephan 2009; vgl. auch Rolf Kühn: Natur und Leben, S. 24. 191 Vgl. populär eine Kritik an der Warenmarkt-Dominanz überhaupt von Harald Welzer: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit, München 2017.

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stellen. Im postindustriellen Überflussmarkt, der Güter tauscht, die zum größten Teil gar nicht oder nicht in angebotener Weise benötigt werden, ist das Illusion. Vielmehr haftet allen kulturellen Gütern, um etwas wie das Lebensmittel, den Film, den Turnschuh, das Handy und die Immobilie zusammenzufassen, ein hohes Maß Immaterialität an. Man spricht in dieser Hinsicht von der »kognitiven Produktion« und dem »kulturellen Konsum«, wobei ein immenser Anteil Wirtschaftskraft in der kognitiven Arbeit steckt, »intangible assets« wie den ästhetischen und narrativen Appeal, das Design, feinste Differenzierungen innerhalb Modeschemen, Angebotsstrukturen wie »limited editions« usw. aufzubringen. 192 Die Konsumrevolution, die seit den 1970er Jahren eine Folge der Selbstverwirklichungs-Revolution ist, hat Subjekte hervorgebracht, die weit über ihre Lebensbedürfnisse hinaus Güter im Blick auf die immer wieder neu gefragte persönliche, kulturelle und soziale Identifikation, den Erlebniswert und ähnliche, zumeist emotionale Befriedigungen auswählen. 193 Nun setzen sich im Überflussmarkt nur Güter durch, die, unter höchstem Risiko der Gestehungs- und Marketingprozesse, eine hohe Reputation erzielen. Das macht zum einen die Gestehung derart aufwendig, dass Verkaufspreise nur noch wenig mit eigentlichen Wert- und Nutzengrößen zu tun haben können. Zum anderen wird die Reproduktion einmal durchgesetzter Güter blitzartig und mit Geringaufwand ablaufen, womit der hier zitierte Soziologe von zwei Effekten »The-winner-takes-it-all« (oder zumindest »the most«) und »Matthäus« (Wer hat, dem wird gegeben) spricht. Beides folgt einer immanent völlig rationalen Logik des kulturellen Kapitalismus. Es ist auch klar, dass diese Prozesse unter digitaler Steuerung eine Exorbitanz entwickeln, also zum einen die Tryand-Errors der Produktion exzessiv ausgereizt werden und zum anderen Reproduktionen durchgesetzter Güter billig(st)e Selbstläufer werden. Das Risiko, wie über Nacht abstürzen, ist aber auch letzteren gegeben, und zu Dauertypen schaffen es die wenigsten. Nicht zuletzt unterliegen besonders die digitalen »Tools« und entsprechende Vertragsabschlüsse erheblicher Erneuerungs-Faszination.

192 Vgl. beim Soziologen Andreas Reckwitz: Ende der Illusionen, S. 183 f. Die Forderung nach dem Bankencrash folgt Größen klassischer Ökonomie, mit denen Adam Smith, Karl Marx und andere noch fundamental arbeiten konnten, S. 192. 193 … und wegwerfen, möchte d. Verf. ergänzen. Zitierung vgl. ebd., S. 196.

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Digitalisierung gegen »Seele« und »Leib«

Der Appeal unserer Überflussgüter unterscheidet sich aufgrund dieser virulenten Prozesse und in ihrer Eigenschaft als Risikogüter 194 grundlegend von der beschriebenen »Aura«. Es ist nicht beabsichtigt, Kunden feste Verortungen in Form von Bezügen zu Kultur und Natur finden zu lassen, wenn sie schnellstmöglich weiter kaufen sollen (Haltbarkeits-Qualität wäre dabei noch anzufragen); für Benjamin die »Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura« 195. Man könnte höchstens den Dauertypen (wie wir sie hier nennen) etwas Klassiker-Artiges zugestehen 196, wenn nicht die Angst um ihre Marktverdrängung Erwerbern die Beziehung zu ihnen madig machen würde. So gelingt es kaum noch, bewusste persönliche Ausstattungen (Hausrat, Kleidung etc.) über Jahre hinweg anzuschaffen bzw. die Freude daran wird in den Mühen zur Beschaffung immer wieder unter Stress gestellt. Auch dies ist ein Angriff auf das leibliche Selbst, dass echte Selbstfindung unter dem Diktat äußerer und noch dazu laufend wechselnder Attribute nicht gelingen kann. Auf Käuferseite ist natürlich bei der Anpassung an äußere Animationen wiederum ein erhebliches Maß Selbstauslieferung beteiligt. Die leibliche Existenz des postindustriellen Menschen lässt sich in ihren Umgebungsverortungen mit der eines Schleudersitzes vergleichen. Diametral steht das der inneren Verbindung mit bleibenden Kulturformen entgegen, die Benjamin wie auch Adorno in der Aura fanden: »Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion … vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener.« 197 Schließen wir nun mit den Grundthemen dieses Kapitels: Selbstsein als Leib-Sein, was das Selbsterleben der eigenen Lebendigkeit meint, im weitesten Sinne als Lebewesen überhaupt sowie im enge-

Bis hierhin vgl. ebd. S. 191–193, Zitate S. 192. BGS, I, 2, S. 440. 196 BGS I, 2, S. 479. Dauertypen: Oft sind das gerade »Retro«-Artikel oder Designs wie z. B. die jetzt seit Jahren unter Haushaltswaren präsenten »Wesco«-Brotdosen und Treteimer. 197 BGS I, 2, S. 479. Dabei befürchtete Benjamin eine Einebnung (vgl. S. 479 f.), vergleichbar am Beginn des Exkurses geäußerter »Funktionalitäts«-Befürchtung, während sich die Erscheinung kultureller Güter mehr und mehr zu oberflächlicher Differenzierung entwickelte. Im Prinzip hat Benjamin recht (und Dialektik unterschätzt), wenn man z. B. an ca. 700 Brotsorten in Deutschland denkt, die in der Substanz aus mehrheitlich derselben Art industriellen Auszugsmehls bestehen, ungeachtet ihrer »Dekorationen«. 194 195

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Hauptfrage: Entfremdung durch Digitalisierung

ren in Affektionen, ist betroffen, wenn eine Maschine wie der digitale Algorithmus »verkünstlichend«, wie es genannt wurde, fast jeden erdenklichen persönlichen Weltumgang übernimmt und das äußere Welterleben brachial sowie in Details auch fortwährend wandelt. Außerdem zeigt sich beim digitalen Umgang, der sich zum Zugriff steigert, wie der menschliche Leib im engeren Sinn der Gesundheit leidet, die getroffen wird durch physische Leiden, Druck, Stress, Ängste und Zwänge. 198 Nochmals: Subjekt im phänomenologischen Sinne ist man durch Empfinden alles Erscheinenden und insofern ästhetisch-ursprünglich mit dem Leben selbst verbunden, was dem alten Begriff der Seele gleichkommt; Seele als Sensorium des Selbsterlebens und des Zusammengehörigkeits-Empfindens mit dem Phänomen des Lebens. 199 Es soll hier, unter allen derzeitigen wichtigen Bemühungen um Aufklärung und Klärung, die zum Verständnis der Sache beitragen, an den alten Begrifflichkeiten von Leib und Seele festgehalten werden, die im Letzten kognitiv, nur symbolisch, aber aus Sicht dieser Arbeit markant ausdrücken können 200, was auf dem Spiel steht und hier so resümiert werden soll: dass mit fast permanenter Durchkreuzung des Direktbezugs zum Leben, dessen naturgemäßer Analog-Struktur, wie man es noch hervorheben müsste, dem Ich der eigene Leib und zugleich diesem sowie dem wahrgenommenen Leben die Seele gestohlen werden.

198 Schon lange bekannt und vielleicht abgedroschen ist eine Skizze zur Evolution des »Computermenschen«, doch hier sehr treffend in der Stilisierung leiblicher Auswirkungen: Sie zeigt schematisch und kurvenartig erst vier Menschen, die sich zum aufrechten Gang entwickeln und dann drei weitere, die sich unter Werkzeuggebrauch und Mühen der Kultur wieder abwärts beugen bis zum sitzenden Computernutzer – die Auswirkungen von »Verkünstlichung«. 199 Dazu vgl. Rolf Kühn: Praxis, S. 22. Das betrifft sodann das Bewusstsein, das Subjekt-Sein aufgrund einer Stabilität des Bewusstseins im Bewusstseins-»Fluss« (Husserl); dazu vgl. Marco A. Sorace: Zeitlichkeit, S. 128 ff. 200 Nach Art einer transformativen Phänomenologie geht es um Hermeneutik, insbesondere dort, wo die empirisch-rationale Weltbetrachtung Phänomene absichtlich oder zwangsläufig ausblendet und auch dort, wo Anknüpfungen an religiöse und fremd-kulturelle Betrachtungen naheliegen, die sonst wissenschaftlich eliminiert würden (oder bereits sind), vgl. dazu Rolf Elberfeld: Hermeneutik und Phänomenologie, S. 40.

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Achtsamkeit als Therapeutik

6.3 Achtsamkeit als Therapeutik Wie kann man naiv werden bis zur Selbstauslieferung? In den 1940er Jahren umschrieben Horkheimer und Adorno mit der Dialektik der Aufklärung das Spielerische des Warenmarktes, das über den gebotenen Ernst wirtschaftlicher Vertrauens- und Vertragsverhältnisse hinwegtäusche. 201 Das Netz als Spielwiese war damit präadaptiert. Attraktion, Suggestion, Sucht oder Spielsucht, wie man es nennt, gebieten, wer würde das nicht auch so sehen, die Rückwendung zur realen Welt. So sind fast alle momentanen Sorgen und Kritiken mit den Einsichten verbunden, da es kein Zurück der Entwicklung gibt, die analoge Welt ebenso wie die digitale pflegen zu müssen und mit digitalen Anwendungen Maß zu halten. Ja, Ratschläge erfordern Bescheidenheit: Der Historismus »hat keine theoretische Armatur« schrieb Benjamin in der XVII. geschichtsphilosophischen These, die für seine Theorie einer »Dialektik im Stillstand« zentral ist, die Option, das »Kontinuum der Geschichte« aufzusprengen. Und: Ein »Engel« außen vor dem Paradies würde vom Fortschritt immer mehr zerzaust und in die Zukunft getrieben werden. Entwicklungen nicht totalitär werden zu lassen und die Trümmerhaufen der Geschichte möglichst klein zu halten, scheint die mindeste Hoffnung zu sein, die Benjamin der gejagten Welt noch zutraut. Es müsste aber das Jetzt als Weltzeit erfasst werden, »in welcher Splitter des Messianischen eingesprengt sind«. 202 An dieser Stelle soll ein derzeitiger Popular-Buchmarkt-Bestseller des israelischen vergleichenden Geschichtsforschers Yuval Noah Harari besprochen werden. Sein dichter Wissenstransport in erfrischender Sprache ist für diese Arbeit ebenso unwichtig wie Geschichte als momentanes Modethema. Interessanter erscheinen vielmehr bei empirisch-systematisch-quantitativen Betrachtungen Dispute mit geistig-kulturellen Fäden, während er im Hauptzug Kulturfortschritt, als rational-säkulare Sache, wesentlich positiv sieht. Nach Sichtung speziellerer Vorgänger-Werke 203 richtet sich hier der Blick auf Hararis Leitfaden der »21 Lektionen für das 21. Jahrhun-

Vgl. Horkheimer / Adorno: Dialektik, S. 218 f. BGS I, 2, S. 697 f., 701 f., 704. 203 Vgl. Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 2013: Der Mensch entwickelt mittels Digitaltechnik Selbst-schöpferische Fähigkeiten – eine Auseinandersetzung auch mit der Biotechnologie. 201 202

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dert«, ein Werk, das mit Programm-Skopus für Kritische-TheorieÜberlegungen bedenkenswert ist. Mehrschichtigkeit bei erkennbar großer Mühe um Klarheit in heutiger aus vor allem technologischen Gründen desorientierter Welt und Zukunft (»Wohin steuern wir?«) 204 erfordert einen Kurzdurchgang: Thematisch rastert Harari aktuelle Herausforderungen in Schwerpunkten wie Politik, Technologie, Religion u. a., die er ideell mit dem Faden der Geschichte als Aneinanderreihung von »Erzählungen« durchwebt. Er beginnt mit der Gegenwartsdiagnose einer gescheiterten liberalen Erzählung und zeigt Erzählungen insgesamt seine Skepsis an, 205 um primär zu den Technologie-Indikationen dieser Zeit zu kommen: Die Umorganisation der Arbeit, die Absicherung einer sogenannten nutzlosen Klasse, die Durchsetzung von Marktprinzipien und Rechtsstandards im schwer kontrollierbaren Internet, die Verselbständigung von ausführenden KI-Systemen bis zu Desastern, die Auslieferung des Menschen an Roboter bei gleichzeitig steigender Freiheit zur Selbstverantwortung (siehe Gesundheitspflege) – wiederum die typisch moderne, zunehmende Abhängigkeit von Expertenwissen. Derart universelle Herausforderungen stünden auf dem Boden etablierter global-rationaler Standards bevor, während einzelne Fehl-Einigungen (siehe Brexit) im Moment noch Folge unüberschaubarer äußerer Probleme seien. Es folgen Themenfelder wie Freiheit und die Gefahr des Kontroll- wie Privatsphären-Verlusts im Digitalbetrieb, Gemeinschaft und soziale Medien, persönliche Auswirkungen wie hier im Vorgänger-Kapitel gesammelt – dazu das Kapitel »Menschen haben Körper«, der wesentlich den im Englischen begrifflich fehlenden »Leib« meint nach Verständnis dieser Arbeit: Um Verlust der Aufmerksamkeit für die reale Umgebung geht es dort. Als Geschichtsbilanz wird die Reduzierung von Kriegen und Kriegstoten im Verhältnis zu Weltbevölkerung und Straßenverkehrsund Zivilisationskrankheiten-Toten genannt (die doch im Vergleich zum Impetus moderner Rationalität noch viel zu viele sind und überhaupt der numerischen Bewertung kaum angebracht). Die Klimakatastrophe (als wiederum transnationale Aufgabe) drohe uns phyVgl. ebd., Einleitung S. 11, 14 f., sodann I, 1, S. 26. Vgl. ebd. in I, 1: »Desillusionierung, S. 23–42, was widersprüchlich insofern ist, als er auf S. 37 schreibt, Extremismus erwachse aus fehlenden Sinnstiftungen. Ein Ringen mit ideellen Fragen schimmert an vielen Stellen durch. Erlaube: Desillusionierung und Skepsis sind momentan Moden. Rationalismus wird insofern nicht hinterfragt. 204 205

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Achtsamkeit als Therapeutik

sisch anzugreifen, während, im Vergleich, Technologien unser inneres Wesen verändern können. 206 Sodann: Religionen waren Sache der Priester und Heiler, auslegbar als Handlanger von Nationalismen, monotheistische voran, und gäben einer vernünftigen Welt nur Fassaden à la Marx ab. Rassismus als solchen fänden wir kaum noch, sondern Kulturressentiments. Ein säkularer Moralkodex sei international anerkannt, Religion dazu nicht nötig. Man spürt Ernst hinter bekanntem Verdruss: »Moral bedeutet nicht, sich an göttliche Gebote zu halten. Es bedeutet, Leid zu verringern«, denn Moral beruhe auf Verständnis von Leid. Demut sei wesentlicher Habitus, d. h. die Perspektiven zu achten. 207 Innere Verortung bestimmt die letzten Kapitel: Epen und Symbolwerte seien sinnlos – Opfer und Böses seien stets Folgen von Vakuum, während der Buddhist ins Passive gehe –, Liberalismus preise den starken Menschen bis zum Schöpfer-Sein. »Nachdem ich so viele Geschichten, Religionen und Ideologien kritisiert habe, ist es nur fair, dass ich mich selbst in die Schusslinie begebe und erkläre, wie es jemandem, der so skeptisch ist, trotzdem gelingen kann, morgens freudig aufzuwachen.« Forschungsgeschichte erlaubt persönliche Einträge, zumal hier des prototypisch Aufgeklärten. Harari findet zur buddhistischen Vipassana-Meditation, die in reiner Selbstbeobachtung der eigenen Körperregungen wie maßgeblich des Atmens besteht, der Erfahrung von Einheit von Empfindungen und äußeren Reaktionen. Es ist seine Empfehlung zum inneren Festwerden am Boden der Realität und als religionslose, der Mystik nahen Unterstützung für eine in sich selbst befriedete Existenzführung. In den letzten Sätzen des Buches klingt retrospektiv die »Verkünstlichung« (LuftSteidl) der Welt durch, ihrer Täuschung durch Höhlenmalereien bis Fernsehsendungen, parallel zur Realität: Ein Jäger und Sammler hat mehr vom praktischen Alltag verstanden als Unsereins; und wir hätten nur noch wenig Zeit zu erkennen, »wer wir wirklich sind«. 208 Der Mensch ist nicht Verstand allein. Aufklärung stellt wie Demokratie und alle anderen modernen Errungenschaften hohe kognitive Anforderungen der Aufmerksamkeit, Informationsbeschaffung, Beurteilung usw. an das Individuum. Im Gegenzug bleibt »Mensch« immer auch Fühlender sowie Ästhetiker und braucht hierbei offen206 207 208

Vgl. ebd. Im Durchgang der Teile I, II, III; »Körper« Teil II, S. 125–134. Vgl. ebd. II, ab Kap. 8, bis IV; Zitat S. 267; Moral: S. 273, 275. Vgl. ebd. IV, V, S. 290–417, Zitate S. 403, 417.

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Hauptfrage: Entfremdung durch Digitalisierung

sichtlich nicht Lektionen, sondern auch Mythen, möglichst klare, die Orientierung geben. Wiederum als »Aufgeklärter«, vernunftmäßig Suchender, braucht er, was im Wissenschaftsfortschritt 200 lang Jahre versäumt wurde, deren Übersetzung. Ihren Zauber müssen Mythen deshalb nicht einbüßen. Gerade in den Tagen, da diese Arbeit an ihre letzten Züge gelangt, werden in vielen Orten Deutschlands glitzernde Weihnachtsmärkte eröffnet, und als Christkind gekürte Teenagerinnen sprechen himmlische Prologe im Engelsgewand. Den Mythos des schirmenden Engels tragen Unzählige von jung bis alt durch ihr Leben. Es deutet auf das Potential hin, das wir selber sind in Kraft, Schwäche und Aufeinander-Angewiesen-Sein, des Lebens in seiner Bedürftigkeit. Wer die Attraktivität der Mythen von ihrem tief angelegten Sinngehalt her nicht versteht, versteht auch kaum, warum immer noch selbst Kirchenferne an Weihnachten, dem säkularisierten Massenkaufrausch, vor funkelnden Krippen verharren. In dem Maß der Verschränkung aus Gefühl und Bewusstsein, das im Lauf der Evolution sonst keine Tierart entwickelt hat, sucht »Mensch«, was der weise Autor Eugen Drewermann durch sein ganzes großes Werk hindurch betont, neben sachlichen Lösungen auch absolute Antworten zwischen seinen Konditionen aus Vermögen und Ohnmacht, Glück und Angst. 209 Die Entfremdung, an der sich Teil 6 dieser Arbeit festmacht, ertönt bei Harari vor allem in Form von Unsicherheit, unter der eine allgemeine wie individuelle Zukunft in gewohnten Gleisen nicht mehr gangbar ist. 210 Die Verselbständigung der KI-Systeme soll in diesem Zusammenhang kurz aufgegriffen werden: Die Angst, dass sie uns beherrschen von der Seelenauslotung bis hin zum Krieg, nicht nur auf Ebene der Agitation, sondern der Ausübung selbst, Panzer, die durch eine einzige Fehlermeldung losrollen, Drohnen, die Gift spritzen, wer weiß, wohin. KI mit digital gesteuerten Ausführungsmöglichkeiten zeigt, dass Digitalisierung, wie vor allem Akademiker 209 Das stets Relative und insofern Gefährdete menschlicher Beziehungen innigster Art verweise darauf bzw. könne umgekehrt so gelingend gelebt werden, vgl. Eugen Drewermann: Niemandsland, S. 53. 210 So spricht jetzt die Soziologie von »Zukünften«, sicher sei nur die Pluralität der Lebensformen; das gelte bes. auch individuell, vgl. Art.: Alles ist so offen, in: NZMagazin am Wochenende, 16./17. 11. 2019, S. 1. Nach Andreas Reckwitz geht das einher mit offener werdenden gesellschaftlichen Beziehungsgefügen; Unterschiede der Klassen, Geschlechter, Bildungsabschlüsse usw. werden immer transparenter: vgl. Ende der Illusionen, S. 110 f.

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Achtsamkeit als Therapeutik

es mit positiver Färbung gerne sehen, nicht nur in Folge des Buchdrucks steht. Buchdruck ermöglicht Kommunikation, wie sie ebenso das Steuerungssystem braucht, das darüber hinaus aber auch Ausführungsbefehle regelt. Ausführung steht im Kontext des Werkzeuggebrauchs und der gesamten Verkünstlichung menschlicher Kulturentwicklung, die mit dem vermittelten Kontakt ergo den Direktkontakt mit den zu gebrauchenden Dingen mehr und mehr verliert: »Alexa, schalt die Heizung ein!« In Zeiten vor »Alexa« stand zwischen Anweisung und Bedienung immer noch der Mensch mit Seele und Vernunft. Kaum noch diskutierenswert zwischen Gutenberg und Google ist das Verhältnis von Befreiung zu Abhängigkeitswirkung. Kommunikation im Internet, wie besprochen wurde, bleibt wesentlich gelenkter Austausch. Zwischen Buch und Roboter könnte sich Dialektik der Aufklärung kaum krasser zeigen. Es ist gut, wie ein Harari jede Erfahrung zum Mitdenken weiterzugeben. Denn der Historismus hat keine theoretische Armatur. Nach Ansicht dieser Arbeit gibt es keine säkulare Meditation, insofern Meditation hinter die Ratio zurückgeht und zwangsläufig den Tellerrand des Ego überschreitet. Natürlich ist »Religion« in diesem Kontext Begriffssache. Man hat längst gemerkt, dass Harari deren verfasster Form den Rücken kehrt, die mit modernen Werten und Aufgaben längst nicht mehr vereinbar ist, wenngleich diese Werte im Geschichtsverlauf mehr als reich durch Religion gespeist wurden. Dass die verfassten Formen mit besonderen verinnerlichten, erfüllten, tatkräftigen und friedensstiftenden Zirkeln sowie Individuen, zudem mit Begabungen und Errungenschaften die Welt bereichert haben, entgeht leicht dem historischen Blick hinter der schwierigen Religionsfassade. Durchaus waren viele Beitragende im religiösen Lager Verfolgte, die erst durch die weltliche Vernunft Anerkennung bekamen. Gerade die christliche Kultur gilt insofern als besonderes Amalgam aus Vernunft und Glauben, was später hier noch zur Sprache kommen soll. Indes ist es für den Rationalismus symptomatisch, dessen Pathos dem Mythos gleichkommt, 211 sich aus Bereichen Hilfe zu holen, die man vorher abgelehnt hat, und sie nur etwas anders zu verpacken. In der Redlichkeits-Frage ähnelt es zur Zeit Politikern, die 211 Bekannter Auftakt Horkheimers / Adornos, wonach die Aufklärung in den Mythos zurückschlägt, nachdem die Vernunft (paradigmatisch mit Platons Akademie 387 v. Chr.) ihre Aufgabe als Leitfaden eigentlich angetreten hatte: vgl. Dialektik, S. 12– 15.

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»grün« werden. In Zeiten apokalyptischer Hilflosigkeit sei jede Hilfe begrüßt. Der Redlichkeit halber muss man sich als Auswählender im »Selbstbedienungsladen Asien« zudem auch klar sein, dass die Verbreitung solcher Religionsformen nur aufgrund moderner freier Religionsausübung und postmoderner Globalität überhaupt möglich ist. Im Indien der Brahmanen vor ca. 3500 Jahren entstand das sozial undurchlässige Kastenwesen, das Zuschreibungen ritueller Reinheit anhand faktischer Möglichkeiten zum Studieren und Sinnieren vornahm. Letzteres war den um Brot arbeitenden Massen in keiner Gesellschaft wirklich möglich, auch wenn es, wie bei den Brahmanen, für Klosteraufnahmen ideelle Toleranzen gab. Im religiösen und familiären Rahmen wirkt das Kastenwesen noch heute in vor allem ländlichen asiatischen Gegenden bestimmend. Die Überschreitung der eigenen Kaste gilt seit Urzeiten nur im Glaubens-Tun-ErgehensZusammenhang von Wiedergeburt, Darma und Karma als denkbar. Meditation, wie wir sie heute schätzen, ist in ihren Zugangsvoraussetzungen ein Produkt der liberalen Welt, von der man sich doch ebenfalls gerne absetzen will. Man kann es auch, aber sollte sich der Hintergründe bewusst sein. Zum Vergleich heißt bei Eugen Drewermann, ein systemkritischer Hintergrund auch hier, die Antwort auf das unendliche Suchen des Menschen: Jesus. Mit Dogmatik, Moral und Historismus habe gerade dessen Gestalt überhaupt nichts zu tun. Das Erscheinen Jesu, wie er leibhaft unter Menschen wirkte, sei prototypisch, als Gestalt einer dem Leben abgelesenen Wahrheit, die eines im Grunde übermenschlichen Therapeuten. Dieser zeigt Menschen ihre Wunden, ihr echtes Wesen und den Weg zum inneren Frieden, indem er Vertrauen weckt in eine absolute Gründung des eigenen Selbst. 212 Praktiken wie Meditation und eine Fülle einzelner Erzählungen, die der Gang der Menschheit hervorgebracht hat, sind Übungsmittel, und, Harari recht gebend, auswählbar nach Diagnosen und Herausforderungen. Gäbe es für Heute und alle Zukunft eine Erzählung für alle Menschen? Wie wäre es mit der Erzählung vom absoluten Eigenwert alles Lebendigen 213 und dem Gebot des Nicht-Verletzens? Das Ahim212 Vgl. Eugen Drewermann: Jesus von Nazareth, insbes. S. 143 f. Es ist danach eben nicht selbstverständlich, sondern gesellschaftliches Gebot, morgens freudig aufzuwachen und zu funktionieren. Als Weise von Lebendigkeit gehe dies indes nur unter dem Zuspruch und im Glauben bzw. Gefühl absoluter individueller Wertschätzung. 213 Auch dies ist natürlich eine objektivierende Aussage, denn »Wert« bestimmen immer Andere. Es dürfte aber klar sein, was gemeint ist.

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sa-Gebot des altindischen Jainanismus leuchtet hier auf mit der Ansicht einer inneren Verbundenheit des Menschen mit allem StofflichSeienden. Und wie könnte es verinnerlicht werden, wenn solche Erzählung nicht zuletzt nur Erkenntnis-Folge einer Verinnerlichung sein kann? Um zu rekapitulieren: Unter technisch bedingter Entfremdung vom Leben, angesichts Verlust von Seele und Leib (und faktischen Ängsten um eine Zukunft mit drastischen Katastrophen), werden Wege zur Rückfindung in die Realität gesucht und damit verbunden auch zur Gründung des Selbst. Wir bleiben in dieser Arbeit bei Achtsamkeit als einer Haltung gesteigerter, konzentrierter Aufmerksamkeit. Das in 5.3 Gesagte ausführend, muss das nicht rein die soziale Umgebung betreffen, sondern alle Phänomene des Lebens sind zur Übung im Rückzug oder in der Alltagsbegleitung prinzipiell geeignet wie die eigenen Körperwahrnehmungen, Erscheinungen der äußeren Natur 214, der ruhige Takt gewohnter Alltagsverrichtungen, ein Kunstwerk oder auch ein technischer Gegenstand. Es sollte aber klar sein, dass die rein zwecklose Betrachtung gemeint ist, ohne Besitzund Benutzungsdenken. Wenn die Gedanken abschweifen, richte man wie nach dem Rat Hararis die Sinne direkt auf das Schweifen der Gedanken. Vor allem beträfe das gehegte Gefühle, wie z. B. Wut, die in der Ruhephase der Meditation leicht wieder aufkommen. 215 Während sich Hararis Meditations-Ausbildung gegen kognitive Schlüsse verwahrt (obwohl er vor allem rational sein will, aber das wurde bereits geklärt), ist eigentlich das buddhistische Meditieren als Übung zur »Einsicht« angelegt (dies sogar die gängige Übersetzung von »Vipassana«), nämlich in Daseinsformen, die als Leidhaftigkeit, Unbeständigkeit und Ungenügend-Sein beschrieben werden. Die offensive bis aggressive europäische Geschichte verschließt leicht den Blick dafür, dass auch originäre europäische Philosophie von tie214 Sehr angenehm wirkt auf manche das Meditieren über Wildpflanzen, das man mit überhaupt mehr Beziehung zur wilden Flora kombinieren kann, etwa in der Ernährung (bes. deren Genuss-Seite). Nehmen wir z. B. das essbare Gundermann-Kraut, auch Gundelrebe genannt, mit männlichen und weiblichen Zügen im Habitus, mit Knötchen im Stängel-Strang, die bei jeder günstigen Unterlage Wurzeln schlagen können; in fast jedem Rasen zuhause, genügsam, robust, winterhart, erobernd und dabei sich einfügend, schadlos und kraftvoll, im Geschmack von allem etwas, passend zum Brot, Eintopf wie zum Dessert – wie die geborene Harmonie, um sie sich einzuverleiben. 215 Vgl. Yuval Noah Harari: 21 Lektionen, S. 407.

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fem Einsichts-Denken begleitet war (wie ebenso immer wieder die christliche Geschichte, bei Jesus selbst angefangen). Platons gesamter »Phaidon« zielt auf die Einheit des Seins hinter der Vielheit der Erscheinungen, akribisch im Ausloten zwischen rationaler und emotional-pragmatischer Evidenz; modern fungiert etwa Whiteheads Prozesstheorie fortschreibend. Daher wird in dieser Arbeit mit dem Üben an der Achtsamkeit nicht unbedingt die alleinige Versenkung in Phänomene gemeint, sondern auch die sinnierende Erkenntnisfindung. Gemeint ist damit der Prototyp von »Theorie« im Sinne der Aristotelischen theoria, nach der scharfe Wahrnehmung, Vernunft und Erkenntnis ebenso korrelieren wie die Einsicht in das Wesen der Dinge als Wesen der Welt. So wird mit dieser Arbeit besonders auch die Aufmerksamkeit für die natürlichen Erscheinungen des Lebens angeregt, was, nur zum Beispiel, ganz alltäglich, in der Küche beim Brechen oder Schneiden von Brot, beim Zerteilen von Gemüse, im Wahrnehmen von Form-, Farb- und Duftspektren geschehen könnte … und dann beim Schmecken. Natürliche Lebensmittel sind komplexer beschaffen als hoch verarbeitete und teilen Achtsamen ihren Reichtum mit. Solche Phänomene wären besonders geeignet, begonnen beim Wahrnehmbaren des eigenen Körpers, gewiss aber auch als Kontrast einer technisch-gegenständliche Erscheinung, zum Erfahren der stets organisch zusammenhängenden lebendigen Strukturen, des »Leibhaften« von Ich und Leben, im Gegensatz zur mechanisch konstruierten technischen Ausstattung der Welt. Man darf nicht lenken, aber man braucht eine Therapie, wenn die Diagnose dramatisch wie klar ist. Einsichten wie die genannten sind bereits Folgen langer Beschäftigung, sonst könnte man nicht etwas wie Wissenschaftler sein. Es gehört auch dies zur Struktur originären Lebens, dass es Kausallinien von Wirkung und Effekt nicht gibt. So wie Vernunftgebrauch stets an die Wahrnehmung gekoppelt ist, so gibt es keine (menschliche) Wahrnehmung, die nicht von Vernunftbegriffen bespiegelt wäre. Es fungiert beides weder als Einheit noch getrennt, sondern im Miteinander gelangen sie jeweils zu ihren Möglichkeiten. Mit dieser Arbeit wird das Wesen des Seins überhaupt auf den Begriff der »Anteilhabe« gebracht. Hier zunächst noch Methodisch-Fundamentales: Das Nachzeichnen des Korrelats menschlicher Beziehungslinien zur Welt und das Schürfen nach dem möglichst apriorischen reinen Vernunftzugang ist die Leistung Immanuel Kants. Eine strikte Trennung von Wahrnehmung und Vernunft wird erst Theorem des Neu92 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

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kantianismus und später dann z. B. faktisches Kennzeichen technisch basierter Wahrnehmungssysteme. Die epochale Bedeutung Kants und seine Relevanz für eine Kritische Theorie liegen darin, dass er 150 Jahre nach Siegeszug von Rationalität und Wissenschaft in Deutschland dem Individuum Mut machte zur Aneignung von Wissen, das man gebrauchen kann, um sich nicht stets etwas vorschreiben zu lassen. Denn eineinhalb Jahrhunderte lang war das nur Privilegierten vergönnt, während – im 18. Jahrhundert durchaus gründliche – Alphabetisierung sich für Massen in Erbauungsliteratur erging. Immerhin ermöglichte dies eine gewisse religiöse Mündigkeit, verglichen mit vormodernen Zuständen, wie sie im Zusammenhang mit den Kastenwesen hier schon angedeutet wurden. Dem Individuum wird erst nun aber ein hoher allgemeiner Verantwortungsplatz zugeschrieben, nicht unbedingt gegen Instanzen, aber gegen die Kritiklosigkeit der Menschen. Seit Kant wird unterschieden zwischen »Verstand« mit sinnlich-gefühlhaften Eingaben und freier »Vernunft«-Ausübung, was gleichwohl beides aneinander überprüft werden muss. Die Welt des Sinnlichen war immer auch die Welt des Aberglaubens wie die erdachte Welt die der KZs war. 216 Wenngleich nur das abschließende Vernunfturteil verhandelbar ist, bleiben dennoch die Phänomene der lebendigen Welt dem rein Objektiven entzogen. Nach »Kritik der reinen« und der »praktischen Vernunft« setzt sich Kant im dritten Hauptwerk »Kritik der Urteilskraft« mit dem menschlichen Verhältnis zur Natur auseinander, das neben dem ästhetischen Urteil (lautend: Zwecklosigkeit, organischer Charakter und ständige Korrelationen, s. Teil I) auch von einem teleologischen (auf übergeordnete Strukturen zielenden) Urteil bestimmt werde (s. Teil II), qua Einsicht erkennbar. Brisant leitet Kant her, wie Natur hinter den Instrumenten der Physik keineswegs mechanisch veranlagt ist, sondern nach nie eindeutigen Grenzen des Denkens von übergeordneten Prinzipien gesteuert werde. Kant warnt ebenso vor Verwechslung der Zugänge und mithin Indoktrinationen wie vor Schmälerung der Erkenntnis durch Dogmatismus beiderlei Art. Der kritischste aller Denker steckt einerseits Raum zum Verhan-

216 Die Notwendigkeit derart mehrgleisig-reflektierter Erkenntnisfindung nach Kant wird von Horkheimer / Adorno betont als ein Dienst am Humanum. Dualismus aus Wesen und Erscheinung durchbricht erst die Phänomenologie, in philosophischer Konsequenz und nicht naiv: Vgl. Dialektik, S. 197 f.

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deln ab im andererseits letztlich unendlichen Fluidum von Materie und Geist. 217 Aufklärung, sofern man an ihr festhält, ist höchst anspruchsvoll und längst noch nicht eingelöst. An dieser Stelle wird es Zeit, nochmals auf die Haltungen der Kritischen Theorie zu achten und auf ihre Fortentwicklung, die sich in den letzten drei Jahren gezeigt hat.

6.3.1 »Resonanz« und das Wesen des Lebens Ein beachtenswertes Werk ist Hartmut Rosas Fortschreibung seiner Bemühungen gegen die Entfremdung moderner Menschen vom realen Leben durch das, was er »Resonanz«-Prinzip nennt. Rosa setzt sich mit dem gleichnamigen Buchtitel wahrnehmend-beschreibend mit unseren weltgerichteten Interaktionen auseinander, wie es in etwa nach Husserl dem Erfahren der »Lebenswelt« entspricht. Hier einige Einblicke: Gestützt u. a. auf die Phänomenologie MerleauPontys beschreibt Rosa verschiedene Weisen leiblicher Weltbezüge, die dem Individuum im kulturellen Lernprozess bereits prä-kognitiv vorweg gegeben seien, z. B. Geschlechter-spezifisches Bewegungsverhalten. 218 Weiterhin geht es um das Berührt-Werden etwa durch Musik, das sich subtil und auch momentabhängig über die körperliche Wahrnehmung von Schallwellen hinaus abspiele. Nur durch die innere Rührung mache Musik für den Hörenden überhaupt Sinn. Der Beziehungsverlust zum eigenen Leib wird erörtert, dessen moderne Instrumentalisierung zum Körper und pflichtgemäße Opferung im Arbeitsdruck. Resonanzen, die dem Kooperieren unter Kollegen eigentlich innewohnen (die Belegschaft als große »Familie«), ähnlich beim Lernen in der Schulklasse und beim Miteinander in der Familie, würden unter Druck- und Stressanforderungen zu bloßen Benutzungs- und erkalteten Nicht- oder Hassbeziehungen; Beziehungen werden jedenfalls einander entfremdet. Resonanz als Kulturmuster dagegen hieße das Erleben vom Aufgehoben-Sein des Einzelnen, das Aussenden von Impulsen zur »Berührung« des Anderen bis hin zur gegenseitigen Begeisterung z. B. an einem Lern- oder Aufgabenstoff, frei von Sollvorgaben. In Sport- und Konsumverhalten würde das

217 218

Vgl. Immanuel Kant, KdU II, § 78, S. 396–404, bes. S. 400, 402, 404. Vgl. Hartmut Rosa: Resonanz, Kap. »Körperliche Weltbeziehungen«, S. 124–143.

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Fehlen solcher »diagonalen« (vor allem sachlich bezogenen) Resonanzräume oft kompensiert. 219 Im Abschnitt »Religion« wird wesentlich u. a. mit Rekurs auf Gottfried Keller und Martin Buber deren emotionale und geistige Resonanzfunktion in Bezug auf Werte wie Liebe und Sinngebung beschrieben. Kulte und Riten dienten der Überführung der »vertikalen« Resonanz in den »horizontalen« (menschlich und symbolhaft interaktiven) Erfahrungsraum. Auch »Natur« als etwas uns Vorweggegebenes wird als »vertikaler« Resonanzraum beschrieben, dessen schwindende Erfahrung (außer als Ressourcenquelle) sich in vielerlei Kompensationsverhalten äußere. Der Aktivismus um den Klimawandel, für dessen rein oder überwiegend menschliche Verursachung es nach Rosas Ermessen keine hinreichenden Beweise gebe, scheine eher dem Wunsch zu folgen, Natur wieder »mit eigener Stimme sprechen« zu hören. So auch: Natur »möge zurückschlagen, damit wir sie wieder hören können« 220. Es wird hier eingeräumt, dass Rosa gegen Schluss des Werks dezidiert am Modernebegriff arbeitet, was im Einzelnen übergangen bleiben soll. Wesentlich erscheint daraus, dass sein Vorschlag der »Moderne« als »Dynamische Stabilisierung« etwas Sackgassen-Artiges beschreibt, zu dem die liberal-kapitalistische Steigerungslogik mit

219 Vgl. ebd., Kap. »Weltaneignung und Welterfahrung«, S. 163–179. Unter »Diagonale Resonanzachsen« (quasi gesellschaftliche, d. Verf.), S. 401–434. 220 Vgl. ebd., S. 435–514, Zitate S. 465. Diese Klimawandel-Ursachen-Bewertung ist auch Sicht d. Verf. (mit Plädoyer für mehr direkte Schutzmaßnahmen wie z. B. die Eindeichung von Küstenstädten); in den Folgen scheint es allerdings primär um faktische Ängste vor Katastrophen zu gehen, z. B. Dürresommer, Verwüstungen durch Stürme und Überschwemmungen, wie sie jetzt bereits die Ärmsten tödlich und die komplizierten Zivilisationen höchst empfindlich treffen können. Aktivismus und eingeleitete Maßnahmen wirken wie Panikreaktionen, um Leib, Leben und Sachwerte zu schützen, Sicht des Zurückschlagens eher wie faktische Einsicht, Naturzerstörung so weit getrieben zu haben, dass sie jetzt den Menschen bedroht. Wunsch nach Naturbeziehung scheint dem untergeordnet zu sein. Kommerziell macht es sich dieser Wunsch (der Menschen wesensmäßig durchaus antreibt) unter Etiketten (vgl. »Bio«-Fertigkost, »Bio«-Energien) und Sentimentalitäten (vgl. Bienen fördernde Produkte) recht bequem und zeigt sich wenig konsequent bzw. ist sogar neuer Marketingfaktor. Sicher gibt es originäre Ansätze wie z. B. Selbstversorgung, Wildpflanzen-Ernährung, handgesponnene und -gewebte Kleidung, Eselwanderungen etc. Es sind bisher Einzelne, und speziell manche ländlichen Bewohner setzen sich mit ihren Möglichkeiten sehr ein, um originäre Züge in ihrer Region zu bewahren und zu verbreiten. An späterer Stelle mehr dazu.

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vereinigender Kraft den Pluralismus aus vielerlei Staaten treibe. 221 Jenseits des Begrifflichen – was wünscht Rosa dieser Welt? »Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten« 222, schließt sein Buch. Die Welt als Raum wird mit diesem Buch aufgespannt – in welcher Größe? Dem Kritischen Theoretiker bleibt nur das Zitat übrig, von einem früheren, der ebenfalls gerungen hat. Als Präambel über eine ganze Buchseite liest man aus der Negativen Dialektik Adornos: »Die Erwägung, ob Metaphysik überhaupt noch möglich sei, muss die von der Endlichkeit erheischte Negation des Endlichen reflektieren … Der Begriff des intelligiblen Bereichs wäre der von etwas, was nicht ist und doch nicht nur nichts ist … Was von endlichen Wesen über Transzendenz gesagt wird, ist dessen Schein, jedoch, wie Kant wohl gewahrte, ein notwendiger.« 223 Man wird als Philosoph fragen, warum ausgereifte Philosophien des Leibes nach Merleau-Ponty oder auch Edith Stein, ähnlich wie die mit verständlichen Beispielen reich bestückte Merleau-Interpretation des heutigen Bochumers Bernhard Waldenfels, bisher so wenig Gehör fanden, dass nun eine Art Aufbereitung aus Soziologenhand erfolgt. Offensichtlich war das Gehör akademischer und Verantwortung tragender Gesellschaftsteile für die Fachgebiete und Themen des natürlichen Lebens bisher derart vom äußeren Getriebe betäubt worden, dass auch hier apokalyptische Zustände jetzt neue Ansätze von Hermeneutik evozieren, die insofern nur begrüßt werden können. Die Wesensbeschreibung des Weltgeschehens mit der Metapher der »Resonanz« eignet sich gewiss treffend, um phänomenologisch auf den akustischen Bereich und dessen vorab-gestellte Hörfunktion anzuspielen, wesentliches Beispiel für die Welt in ihrer zuvörderst pathischen Struktur. Im Einklang mit Kant und Adorno lassen sich Wesensbeschreibungen nur mit metaphorischen Sachbegriffen ausdrücken. Dies geschieht auf einer intelligiblen Stufe der Schlussfolgerungen, die noch verhandelbar sind und stets Domäne der Philosophie waren. Begriffe wie »Leib« und »Seele« stehen auf dieser Ebene. Ein weiterer Schritt wären gänzlich metaphysische Schlussfolgerungen wie die vom gött221 222 223

Vgl. Abschn. »Dynamische Stabilisierung«, S. 671–699. Ebd., S. 762. Ebd., S. 11.

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lichen oder ähnlich übergeordnet geistigen Wesen der Welt. Man befindet sich mit Kant und Adorno in guter Gemeinschaft, wenn man solche lediglich scheinhaft möglichen, also Symbolbegriffe, bei all ihrer Nicht-Verhandelbarkeit für notwendig hält, um Ehrfurcht vor gefundenen Wesensbeschreibungen sowie Rück-Konsequenzen daraus für den Umgang mit betreffenden Gütern zu erhöhen und zu vermitteln. Dass sich solche Vermittlung in den Historien der Religionen überwiegend mit Moralismus und Gewalt verband und vollzog, ist deren scheußliche Seite, die es jetzt und zukünftig abzulegen gilt. Der Auftrag an die intelligible Einsichtsarbeit gilt umso mehr, um daraus Religiosität mit Gefühlshaltungen und Erkenntnisinhalten zu füllen, die heilsam wirken. Egal, auf welcher Ebene: Es geht um Selbstüberschreitung. Im intelligiblen Zwischenbereich und aus ihm gezogenen Konsequenzen für das praktische Handeln (oder Unterlassen) hätte am Ende der Sackgasse technisch-rationaler Vernunft die heutige Kritische Theorie ihren notwendigen Platz, wie es Hartmut Rosa selbst vormacht. Man wird sich im Blick auf die Praxis, um Theoretiker zu bleiben, mit Fachleuten anderer Gebiete zusammenschließen müssen, sofern man nicht in einer Person entweder hier Theoretiker oder da Berater ist. Rosas neueres Engagement gibt unter dem Buchtitel »Unverfügbarkeit« ein Plädoyer ab zum Verzicht auf übliches Bemächtigungs-Handeln. Mit »Resonanzpädagogik« kümmert er sich um lebendige Bildungsprozesse. 224 Und man sollte solche Zusammenschlüsse wirklich tätigen, vor allem dabei den Übersprung zum Fachgebiet der Religion wagen, wenn doch diese originär, von anthropologischen Konstanten ausgehend, heilsam sein kann (betont geht es um inhaltlich Originäres und nicht Historisches, denn im historischen Ursprung kann man z. B. dem Islam Muhammads nicht von Gewaltpotential freisprechen). Die Erweiterung der Kritischen Theorie zu mehr praktisch und metaphysisch ausgerichteter fächerübergreifender Kooperationen wird aus Sicht dieser Arbeit, zumal auf der Diagnosebasis einer gescheiterten empirischen Rationalität, vehement vertreten. Speziell zum Religionsgebiet soll dies zum neueren Beitrag von Jürgen Habermas noch aufgegriffen werden. In dieser Arbeit wird aus eingehender Beschäftigung mit der Sache und dem Bestand des phänomenologischen Forschens anstelle 224 Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, München 2019. Hartmut Rosa et al.: Resonanzpädagogik: Wenn es im Klassenzimmer knistert, Weinheim 2016.

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des Resonanz-Begriffs an dem vorher schon ins Spiel gebrachten Begriff von Leben als »Anteilhabe« festgehalten, und das nicht nur gegen Hypertrophie auch unserer begrifflichen Welt. Mit »Leben« ist dabei nicht rein das biologische Leben gemeint, obwohl dies gewiss vom wahrnehmenden Subjekt her im Zentrum steht sowie heute unter technischen Zugriffen auch im Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit. Gemeint ist vielmehr das Interaktionsgefüge von möglichsten Wahrnehmungen (physiologisch wie seelisch-geistig erfahrend) in einer möglichsten Umgebung, wie sie Rosa als »Raum« beschreibt, unter belebten, natürlich-unbelebten sowie auch technischen Strukturen, den man landläufig (und so hier schlichtweg übernommen) als »Welt« bezeichnet (der von Husserl im Zuge ihrer vor-wissenschaftlichen Adaptionsweise als Lebenswelt beschrieben wurde). Man könnte insofern auch vom Wesen des »Seins« sprechen, wie es eben erfahrbar ist, wenn man »Wesen des Lebens« für zu getragen klingend hält, doch sollte solches Geschmacksurteil hier sekundär bleiben. 225 So liegt auch, äußerlich gesehen, der etwas antiquierte Klang von »Anteilhabe« (wie ähnlich von »Achtsamkeit«, wo er sich nicht für Meditationsangebote gerade als »in« zeigt) im Vergleich zum frischeren »Resonanz«-Begriff durchaus in Absicht dieser Arbeit, prinzipiell auf einen reichen Bestand an Wesensbeschreibungen zum Thema in der europäischen Geistesgeschichte verweisend. Der Begriff spiegelt sich inhaltlich bereits in der Platonischen methexis ebenso wie in der Plotinschen Materie-Geist-Einheit, dem »Streben« Spinozas, dem »Kampf« Darwins und in vielen anderen Facetten an Erkenntnissen. Rein inhaltlich drückt er außer einem ständigen Korrespondieren der Lebensformen allein syntaktisch wie semantisch etwas kategorial Hierarchisches unter einzelnen Lebensgefügen aus (z. B. das landläufige »Teil vom Ganzen«), was der alten Ansicht vom Mikro- und Makrokosmos entspricht und als Haltung letztlich etwas zu Achtendes impliziert. »Das Leben«, darunter außer dem gesamten natürlichen Bestand auch Artefakte zu sehen, die Menschen berühren können, ist habituell eben nicht einfach als Bausatz mit VersatzOptionen und Ersatzlagern zu verstehen. Betrachtet man kurz die spezifische Wesensdefinition biologischen Lebens, so lässt sich dessen

225 Zu den verschiedenen Sinnebenen von »Leben« vgl. Regine Kather: Leben, Einführung S. 11 f.

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Anteilsstruktur gut nachbuchstabieren: Jede biologische Lebensorganisation äußert sich – aus intrinsischen Antrieben – in: 1. 2. 3. 4.

Stoffwechsel – ein ständiger Austausch mit einer umgebenden Sphäre (an Nahrung, Gasen etc.) Selbstbewegung – die allein schon das Wachstum zeigt und mit der Umgebung Platz teilen muss Selbstreproduktion – ein Bestand vermehrt sich und bestimmt die Umgebung neu mit Mutagenität – neue Lebensformen wirken anders auf die Umgebung

Die drei ersten Formen beschrieb schon Aristoteles. Die vierte konnte er nicht kennen, weil Forschungsobjekte zum Ermitteln veränderlicher Artenmerkmale noch zu rar waren, die erst Darwin zukamen. 226 Das Stammwort »Teil« schließlich dürfte vor allem eines vermitteln, was der Beobachtung und Beschreibungstradition gemäß Leben wesentlich äußert, nämlich eine pathische Struktur: Lebensformen sind endlich. Allerdings spielt sich der Austausch von Lebens-Formen nicht numerisch-distributiv ab, sondern die Lebensformen durchdringen einander: Licht ist in der Pflanze, der Fisch ist im Wasser, wie auch das Wasser im Fisch ist, die Atemluft ist im Landwirbeltier, Nahrung und Trank machen dessen leibliches Vermögen aus wie es zudem Gene und Lebensumstände tun usw. Wenn Eines am Anderen Anteil hat, ist das nicht nur Begünstigung und Vermögen, sondern auch Mangel und Bemächtigung, Kampf und Leiden. Die Begriffsbeschreibung der »Anteilhabe« eignet sich insofern in Entsprechung zu dem, was existenzialphilosophisch sowie theologisch unter dem Begriff der »Bedürftigkeit« stets schon benannt wurde und klingt darin auch an das buddhistische Weltbild an. Hier bleibt inhaltlich ein Mangel an Rosas Beschreibungen vor allem der Natur zu verzeichnen, das Verschweigen ihrer Ambivalenz. »Natur« war nie (aus Kultursicht des Menschen erfahren) nur positiver Lebensquell. Hunger, Not und Tod gehen originär aus der Natur hervor; Hass, Kampf und 226 Vgl. ebd., S. 12. Vgl. auch die treffende phänomenologische Skizzierung von »Leben« anhand Vergleichen unter Tier, Pflanze und Mineral bei Hedwig ConradMartius: »Lebendiges ist sich selbst Erzeugendes. Nicht die Gestaltung, sondern die Selbstgestaltung macht das Leben aus.« In: Die ›Seele‹ der Pflanze, S. 60 f.

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Krieg sind kulturelle Folgen menschlich erlebter Mangels-Verfasstheit im Verbund mit dem heute so bezeichneten seelischen Menschen-Erbgut aus der Evolution. Auf der Bühne von Wohlstand ist allgemein ein sanfter Blick auf die Natur beliebt geworden, während man zugleich um viel mehr Schrecken sachlich etwas »weiß« – von der Mikrobe bis zum Meteoriten – als der hungrige Wildbeuter. Natur im Brennen der Sonne, im Ausbleiben von Regen, im Stich der Mücke, in Schmerz, Fieber, Tod, Verwesung und jeder Menge diametral dem Humanen zuwider stehenden Formen war zu allen Zeiten im zyklischen Bild von Werden und Vergehen anerkannt, gefürchtet und daher geachtet; »Achtsamkeit« im Wahrnehmen wie gleichsam als Lebenshaltung war geboten. Verkünstlichung ist die Formel, unter der die Entfremdung des Menschen vom natürlichen Leben qua Kulturfortschritt inzwischen zu einer radikalen Feindschaft gegen sich selbst und alle Umgebung eskaliert. Das ist die Oberfläche, auf der der Schmerz des Seins unter der Decke von Komfort in den begüterten Teilen der Erde jetzt spürbar wird. Wer stellt sich sinnierend dem offen Liegenden, sei es Hunger, Wut oder Ekliges, um die Bedürftigkeit des Lebens zu verstehen? Das Wissen um Bedürftigkeit hat die Religionen gespeist sowie das geistige Kapital der Menschheit und natürlich, vor allem im westlichen Kontext, den Fortschritt angetrieben. Religion auf Boden der Realität und mit besonderen ethischen Konsequenzen ist nicht nur buddhistisch verankert. Das Evangelium Jesu geht von der angsthaften Struktur des Menschseins aus und preist als Auftakt die Leidenden selig, weil sie das Leben selbst in sich tragen nach dessen Charakter der Bedürftigkeit. Simone Weil beschreibt es 1941 so: »In allen Erscheinungen Gott lesen. Nichts Geringeres.« Oder auch: »Sich mit dem Universum selbst identifizieren. Alles, was geringer ist als das Universum, ist dem Leiden unterworfen …« 227 Sie will damit sagen, das in Gott begriffene Leid bekäme existenziell eine andere Färbung, wenn man, wie nach üblicher Weise, nicht die Leidfreiheit verabsolutiert. Das soll also in einer zeitgemäßen und zukunftsweisenden Kul227 Simone Weil: Cahiers, Erster Bd., S. 177, 207. Mystisch zugespitzt geht es bei Weil um die inhabitatio, Gottes in allem Sein, vergleichbar der Mystik Meister Eckharts oder Giordano Brunos, was hier unter höchstem Respekt nur angedeutet werden kann. Es wird am Beginn des Kapitels 6.1.3 eine philosophisch-phänomenologische Skizzierung solcher Gedanken folgen. Rolf Kühn analysiert speziell das Leiden bis zur Unerträglichkeit des eigenen Selbst als radikales Phänomen der Lebens-Allheit: Bedürfen, S. 36 f.

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tur weder das Jammertal des Mittelalters heraufbeschwören noch mit Humanität, Caritas und Kultureinsatz brechen, die charakteristisch die christliche Zivilisation geprägt haben sowie habituell in allen Religionen auf verschiedene Weise zentral stehen. Einsicht in die Bedürftigkeitsstruktur des Lebens sollte aber die Illusion der menschlichen Übermacht zerbrechen lassen. Der Verlust der Natur und der Verlust der Religion sind die Katastrophen der Moderne, und beides gehört zusammen. Es ist der Verlust an vertrauter Pietät vor den Quellen und Wesensmerkmalen des Lebens und die Illusion, dass die Formen des Lebens unendlich sind. Solange Fortschritt in einer numerisch-linearen Kurve begriffen und ethischer Fortschritt ausgeblendet wird, hält sich diese Illusion. Sodann zu Neubeiträgen aus der Kritischen Theorie: Wie ein Alterswerk, jedenfalls als philosophisches Kabinettstück, ist gerade die opulente Geschichtsmonografie zu »Glaube und Wissen« von Jürgen Habermas erschienen, die das Verhältnis dieser Pole westlichen Geistes in historischen Paradigmen und Stationen aufleuchten lässt. 228 Es scheint die Selbsteinlösung von Habermas’ seit Friedenspreisrede 2001 geäußerten Auffassung zu sein, Religion und Vernunft – in der von ihm seither als »postsäkular« bezeichneten Gesellschaft – bedürften einander. 229 Bekanntermaßen hatte er sich zuvor mit Max Weber als religiös Unmusikalischer bezeichnet. International Aufsehen erregte dann vor allem 2004 der Dialog mit Kardinal Ratzinger in München, Hintergrund die 1998 erschienene Papst-Enzyklika Fides et Ratio des Johannes Paul II., federführend hier wohl wesentlich Ratzinger, der nur verhaltenes Echo beschieden war. Erst Ratzinger nach seiner Papstwahl 2005 hat das Thema zu einem Motto seiner Amtszeit gemacht, um Relativismus mit (katholischem) Wahrheitsbegriff zu entgegnen. Als Terminus aus der Habermas-Ratzinger-Diskussion ist »Dialektik der Säkularisierung« bekannt geworden, gemeint als Begrenzungsfunktion von Glaube und Vernunft füreinander, damit keines aus einer friedlichen Gesellschaftsordnung entgleise. 230 Soweit die aktuellere Bühne. 228 Vgl. Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glaube und Wissen. Frankfurt a. M. 2019. 229 Vgl. Jürgen Habermas: Glaube und Wissen. Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Laudatio: Jan Pilipp Reemtsma (Sonderdruck edition Suhrkamp), Frankfurt a. M. 2001. 230 Vgl. Jürgen Habermas / Josef Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Ver-

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Habermas’ Wendung zur Religion um die Jahrtausendwende kam für viele überraschend. Das Munkeln über den unbestreitbar demokratisch-sozialen Wert, aber dann auch einen faktischen Leerlauf der Habermasschen Diskurs-Philosophie, der diese Wende evoziert habe, ist aus heutiger Warte überholt-bestätigt 231, denn mittels digitaler Medien hat sich Kommunikation ins Heißlaufen begeben. Das zeigt sowohl die dauerhafte als auch zeitgebundene Seite einer Philosophie gut an. Weiter ausholend wird man neomarxistischen Rastern, den Habermas bekanntlich lange verbunden blieb, nicht die Zwickmühle absprechen können, nachdem »Religion« spätestens mit der Katastrophe von 11–09 Pflichtthema Gelehrter wurde. Die Renaissance folgte jedenfalls deutlich Lebenserfahrungen. Die neue Monografie ist gewiss nicht nur Geschichtswerk, sondern vielmehr abschreitende Recherche nach einem Gegenwarts-tauglichen Gehalt der Liäson von Vernunft und Glauben. Die Marken dieser Liäson, wie man es lesen kann, entsprangen einerseits ihrer Zeit und trugen andererseits Paradigmen zumeist weit in die folgende Geschichte hinaus. Immanuel Kant hat übrigens den Wahlspruch der Aufklärung, Sapere aude, vom Humanisten Philipp Melanchthon übernommen und steht so zumindest formell in einer Tradition der Verbindung zwischen beiden. Um hier ein (nicht unwesentliches) inhaltliches Beispiel bei Habermas zu nennen, markierte die christliche Spätantike den Übertritt frühchristlichen Gedankenguts ins gräkoromanische Denken. Der Platonische Heilsweg der Vernunfterkenntnis wird vor allem Augusnunft und Religion, Freiburg i. Br. / München 2011. Hier ist eine Klärung des Vernunft-Begriffes angebracht, wie er sich, in die Moderne tradiert, weitgehend an Kant anlehnt. Sprechen wir doch gerne vom »gesunden Menschenverstand«, erklärt Harald Seubert es so: »Während der Verstand sich auf die Messung dessen beschränkt, was messbar und in Raum und Zeit anschaubar ist, geht die Vernunft weiter. Sie ›vernimmt‹ und ›hört‹ – so wie der König Salomo um nichts mehr bat als ein ›hörendes Herz‹. Die Vernunft steht deshalb keineswegs im Widerspruch zum Glauben, sondern lässt sich von ihm inspirieren und erweitern.« In: Irrtümer, S. 29. 231 Für Adorno machte Diskursivität nur bei hinreichender demokratischer Mündigkeit Sinn, bei Identität des Einzelwesen-Bewusstseins mit Gesamtinteressen, eine Prämisse, die in Wirklichkeit der permanenten Repression von Subjekten unterliege. So sei unter positivistischen Dogmen bereits nicht die Freiheit für wesentliche Sachkenntnisse aus eigener Anschauung gegeben: vgl. Eva Maria Ziege (Hg.) / Theodor W. Adorno: Authoritarian Personality, S. 96–127. Es handelt sich bei diesem Aufsatz Adornos von 1948 um einen 2019 erstmals publizierten Text. Gegenwärtig passt die schon erwähnte App zur Lehrerbewertung zu dieser Frage: Wie kann es angehen, dass Auszubildende Ausbilder – anonym und öffentlich – bewerten?

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tin im Blick auf den Offenbarungsglauben, im Spagat zwischen Freiheit und Autoriät, zur Denkaufgabe. Freiheit wird leitend bleiben, jedoch, unter Überforderung des Ethos, wie ihn die Menschwerdung Jesu verabsolutierte, vom Menschen als Sünder und Gnadenempfänger nur als gebrochene Freiheit anwendbar bleiben. Der Begriff »Erbsünde« wird dazu aus der jüdischen Tradition implementiert. 232 Es sind Themen, die vor allem Kant noch intensiv beschäftigten, und Begrifflichkeiten, die bis heute als Stimme der Kirche dienen. Am Schluss von Habermas’ Monumentalwerk ergeht im Blick auf Gegenwartsorientierung folgende enttäuschte Fehlanzeige: »Die säkulare Moderne hat sich mit guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jedes Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern.« Unter Verweis vor allem auf Ekklesiologie, Kult und Ritus (gemeint als Ausdrucksformen von zugrundeliegender Dogmatik), die allesamt anachronistisch dastünden, weiter: »Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis … stützen kann, bleibt sie Pfahl im Fleisch einer Moderne … und so lange hält … die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische ›Gehalte‹ gibt, die noch einer Übersetzung ins Profane harren.« 233 Die spätantike »Achsenzeit« (ein von Habermas im ideengeschichtlichen Kontext, d. h. nach Jaspers, gebrauchter Begriff, der spezifisch historisch umstritten ist) in ihrer Bedeutung für die christliche Dogmengeschichte veranlasste schon viele Überlegungen im Sinne von »Verfälschung« einer Urbotschaft. Unter hermeneutischem Skopus soll das hier übergangen werden. In Sichtung der neueren Wissenschaft erscheint hermeneutisch wichtig, wie schon lange vor Habermas die Formung der christlichen Botschaft dieser Zeitphase artikuliert wurde durch Eugen Drewermann. Für Drewermann wurde zu jener Zeit paradigmatisch eine Botschaft eigentlich beziehungs- und gefühlsbezogener Aussagen in griechisches Kategorien-

Vgl. Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte, Bd. 1, S. 571–571. Ebd., Bd. 2, S. 807. Aus der Feder eines kritischen Theoretikers hätte der Schluss mehr veranschaulicht werden können. Es kann heute mit der Diskrepanz zur kirchlich-theologischen Dogmatik sicher nicht nur um naturwissenschaftlich begründete Absurditäten gehen (wie es Eugen Drewermann bes. für das katholische Lager thematisiert), sondern auch (in beiden Konfessionen), etwa im Sinne von Karl Jaspers, um die Selbstgefälligkeit des dogmatischen Hütens und, im Sinne bereits der Humanisten wie Luther, die Unterdrückung des persönlichen Gewissens. 232 233

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denken gegossen und dann amtskirchlich-dogmatisch fixiert. 234 Nun finden sich dogmatisierte Vorstellungen schon in der frühesten neutestamentlichen Redaktion, betrachte man z. B. die Folie der Parusienaherwartung, bekanntermaßen hochgradig dann in Auseinandersetzung des Paulus mit der jüdischen Heilstradition, ferner in der Evangelien-Redaktion z. B. bei Matthäus der Rekurs auf die jüdische Eschatologie mit Reich-Gottes-Statuierung, Drangsalszeit, Jesus als Messias usw. Man stößt in der Frage nach der Ur-Intension (unter Ausklammerung exegetischer Spezialarbeit) auf grundsätzlich-philologische Fragen anamnetischer Narration. Harald Seubert beschreibt in einem differenzierten Aufsatz von 1994, welche Gräben sich beim Schürfen auftun, wenn man doch Sprache immer wieder nur als Verpackung erkennen muss. 235 Ähnlich stellt der hier in Abschnitt 6.1.2 am Schluss zu besprechende Aufsatz von Raymund Geuss dar, wie Sprache in Bündelungsfunktion und Allgemeingerichtetheit per se Abstraktion darstellt. 236 Man sollte ergänzen, dass bei Äußerungen inneren Ergriffenseins der Hang zum Überhöhen allmenschlich ist. Und man muss Seubert recht geben, dass eine Lösung zur annähernden Deckungsgleichung geschichtlicher Orte nur im bestmöglichen Sich-Hineinversetzen in die Erzählsituation selbst bestehen kann. Phänomenologisch besteht der einzige Weg zur Deutung im Zurückgehen hinter die Sprache. Hier trifft man nun im Werk Eugen Drewermanns auf einen wahren Schatz exegetisch-hermeneutischer Anleitung zum Nachzeichnen des Gefühls als Ort von Selbst-Betroffenheit und Aussendung religiösen Sprechens. Philologisch-mythologisch entschlüsselt Drewermann typischerweise religiöses Sprechen in Metaphern und Symbolen vor allem auch mit Hilfe seiner tiefenpsychologischen Kenntnisse als vielfältige Botschaften zum Ausdrücken menschlicher Sehnsüchte und ihrer Erfüllung. Speziell in der christlichen Exegese würden komplexe, sperrige Begriffe wie der vom Reich Gottes über-zeitlich lebendig werden, in diesem Fall als Ort eines gefundenen und gelebten Friedens. Dies gelte vor allem anderen als Erfahrung für sich selbst, im Glauben an die umfassende Güte Gottes zum individuellen Menschen, und allein dadurch könne

Vgl. aktuell bei Eugen Drewermann: Geheimnis des Jesus, S. 17 f. Vgl. Harald Seubert: Geschichtlichkeit, in: Heinrich Assel et al. (Hg.): Zeitworte, S. 210–212. 236 Vgl. Raymund Geuss: Normativität, in: Ulf Bohmann et al. (Hg.): Kritische Theorie, S. 352–360. 234 235

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die soziale Beziehungsfähigkeit mit befriedet werden. In zahlreichen auch außer-christlichen Mythen- bzw. Religionsbotschaften, basal als Gefühlsbotschaften gelesen, fänden sich menschliche Existenzverfassungen, die Wege zur Heilung implizieren würden. Gelingende Homiletik könne bei allen Übersetzungsbemühungen letztlich selbst nur in Bildern und Situationsentsprechungen von Mensch zu Mensch reden. 237 Üblicherweise werden z. B. in der christlichen Verkündigung zum Weihnachtsfest rückblickend auf die Ereignisse des Jahres durchaus gefühlsbezogene Beziehungen hergestellt zur widrigen Allgemeinsituation bei der Geburt Jesu. So spiegeln unsere aktuellen Krisenthemen wie Migration und Umgang mit Fremden, Naturkatastrophen-Anbahnungen und dadurch bedingte Überlebensfragen historisch wiederkehrende Sorgen, Ängste und zerbrechende Sehnsüchte wider, die auch interkulturell nicht nur mitfühlbar, sondern heute sogar bestimmend sind. Die desolate Lage wirkt wie geschaffen zur Botschaft. Doch trotz allgemeiner Krisis werden z. B. im reichen Deutschland noch sehr viele sagen, dass sie mit Gefühlen der Sehnenden, Fragenden, Leidenden und Zerschlagenen nichts am Hut hätten. Man könne die Lage sowieso nicht ändern, die Zukunft nicht bannen, sollte positiv bleiben und die Sonnenseiten des Lebens, Früchte des eigenen Erfolgs, wie etwa oft argumentiert wird, bestmöglich genießen. Glück und Erfolg bescheren sich aber nicht isoliert. Der Kapitalismus hat alle in der Zange. »Winner« wird man gegen hohe Preiszahlungen und bleibt angefochten. Die im neoliberalen System angeheizten Differenzierungen auch der Lebensstile, nicht ruhender Druck zum Aufspüren der Nuancen zur Selbstinszenierung, fehlender Antrieb zur Selbstbehauptung gegen überall klaffende Kontingenz, Gieren nach den cultural assets – ist das Lebensqualität und definiert es das zufriedene Selbst? Das Evangelium Jesu hat sehr viel mit Freiheit zu tun aufgrund der Einsicht, dass sich der Mensch immer von etwas abhängig macht. Und vielleicht auch mit dem, was man philosophisch unter dem guten Leben versteht. Die psychologisch-existenzielle Religionsdeutung eines Eugen

237 Speziell vgl. ebd., S. 72 f. Allgemein und auch religionswissenschaftlich grundlegend vgl. Eugen Drewermanns Frühwerk: Tiefenpsychologie und Exegese Bd. 1, Die Wahrheit der Formen – Traum, Mythos, Sage und Legende; Bd. 2, Wunder, Vision, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis; Olten 1990. Aktueller vgl. Geheimnis des Jesus, z. B. S. 35.

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Drewermann erweist ihre Plausibilität im Leben selbst, 238 und wenn manche Wissenschaftler einerseits transparente theologische Kommunikation fordern und andererseits das bis auf den Popularmarkt ausstrahlende Œuvre Drewermanns skeptisch beäugen, ist das widersprüchlich (oder zeigt Menschen-Abgewandtheit). Es muss und kann dazu noch auf Drewermanns umfangreiche Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften im Vergleich mit religiösen Gehalten hier nur hingewiesen werden. Dabei würden sich gerade auch religiöse Gedanken originär unserer qua Natur mitgegebenen seelisch-geistigen Strukturen verdanken. 239 Habermas’ Wendung zur Religion hat (uneingestanden) darin recht: Im überstrapazierten Markt auch der Kommunikation muss der Weg Richtung Innen gehen. Am Rand zum Inneren darf sie aber nicht, wie nach jetzigem Stand, verharren. Gesellschaft, um die sich Habermas reich verdient gemacht hat, fängt im Kleinen an. Partnerschaften, Familien, Belegschaften und sodann öffentliche Diskurse versagen nicht nur mangels humaner Regeln, sondern auch daran, dass Menschen in ihrer Psyche nicht aufgeräumt sind. Es ist schade, dass sich Habermas offensichtlich nicht mit der humanwissenschaftlichen Freundschaft aus Theologie und Psychologie befasst hat sowie an diesem Beispiel nicht erfahren hat, dass Theologie sich existenziell bezogen mit dem Menschen befassen kann. Der Verdruss am Bestands-Christentum, wie ihn Habermas äußert, ist selbst schon akademisch etabliert, denn er kann sich jedem Denkenden nur aufdrängen. Aber es gibt (seit Jahrzehnten) Engagierte in Gegenarbeit, die zu würdigen ist. In der evangelischen Dogmatik ist auf die Erlanger Tradition der Offenheit zur feministischen Theologie zu verweisen, die Reformen von abstrakten, vor allem Frauen ungelegenen Sprachmustern hin zu fühlbarer Sprache in der Verkündigung geleistet hat. 240 Kritiker der Kirche und nicht an ihr Verzagen238 Man muss dabei betonen, dass Drewermann C. G. Jung und S. Freud gleichermaßen fruchtbar macht, während z. B. Wolf-Dieter Storl in den mythischen Urgesellschaften Freudsche Muster nicht gelten lässt, was angesichts deren Themen wie Triebgeschehen, Inzest, Konkurrenz, Neid etc. nicht eingängig sein kann, vgl. bei ihm: Die alte Göttin, S. 11, 156. Dabei weisen schon höhere Tiere beobachtbare und beschriebene Zusammenhänge in Gefühls-, Moralmustern, individuellen Störungen und somit Konflikt-Labilität auf, vgl. Drewermanns Verweis auf die Paläoanthropologie, hier zit. in Silja Luft-Steidl: Das Böse, S. 124. 239 Vgl. Eugen Drewermann: Wozu Religion? S. 108. 240 Dazu vgl. Elisa Lüneburg-Heckmann / Friedrich Heckmann: Kirche in Solidarität mit den Frauen. Anmerkungen zu Römer 16, 1–16, in: Heinrich Assel et al. (Hg.):

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de wie z. B. Paul Bernhard Rothen 241 oder Harald Seubert 242 können, stellvertretend für andere Akademiker, mit ihrer Literatur genannt werden und ferner alle, die sich ernsthaft für Wege der Mystik, im weitesten Sinne als Innewerdung und Selbstüberschreitung, einsetzen. Philologen sind darunter mit Interpretationen des christlichen Kirchen- bzw. Volksliedgutes (strukturell ähnlich den Märcheninterpretationen Drewermanns), Streitbare sind unter ihnen wie eine Dorothee Sölle, die über poetische Sprache Leidenschaften in der sozialen, Frauen- und Umweltarbeit vermittelt hat. Die Vision Karl Rahners von der allein mystisch möglichen Zukunft des Christentums, deren flache Wiederkäuung die These nun schon abdrischt, steht eigentlich sprachphilosophisch auf Boden der Wittgenstein-Tradition mit fundamentalen Einsichten in die Grenzen objektiver Sprache und verweist auf Möglichkeiten des Intelligiblen wie ähnlich hier geäußert. Es wirkt jedenfalls schade, dass ein Habermas zu konkreteren Religionsbeiträgen offensichtlich keine Kontakte geknüpft hat, zumal seit 11–09 Aporien und Sinnvolles der Religion vielfältig artikuliert wurden. 243 Es wirkt schade, dass Habermas mit seinen Dialogabsichten bisher rein im Theoretischen verhaftet und im Religionsdialog bei einem päpstlichen Prestigeträger stehen blieb, der als großer, aber rein theoretischer Denker in die Gegenwartsgeschichte einging. Zudem zeigte (wieder einmal) schon die Enzyklika von 1998, wie der Vatikan geneigt ist, Wahrheit vorzuschreiben. Es geht aus dieser Enzyklika außer einer Kritikäußerung an der instrumentellen Vernunft substanziell nichts gesellschaftlich Zukunftsweisendes hervor. 244 Eine von Zeitworte. Der Auftrag der Kirche im Gespräch mit der Schrift. Friedrich Mildenberger zum 65. Geburtstag, S. 112–120. 241 Vgl. Paul Bernhard Rothen: Auf Sand gebaut. Warum die evangelischen Kirchen zerfallen, Münster 2015. 242 Vgl. Harald Seubert: Irrtümer in der Gemeinde Gottes. Wie der Zeitgeist den evangelischen Glauben verfremdet, Gräfelfing 2017. Eine greifbare Analyse von Gegenwarts-Vernunft und Glaube, die auch am Opportunismus der Kirchenleitung artikuliert wird. 243 Vgl. auch Eugen Drewermann: Wozu Religion? Sinnfindung in Zeiten der Gier nach Macht und Geld. Im Gespräch mit Jürgen Hoeren, Freiburg i. Br. / Basel / Wien 92012. 244 Im Kern wird eine Verfallsgeschichte der Vernunft ab Beginn der Neuzeit beschrieben, die im Pluralismus münde, ohne Anknüpfungen des Respekts zu suchen, vgl. dazu Papst Johannes Paul II.: Fides et Ratio, Kap. IV, V, S. 48–66. Die Synthese von Vernunft und Glaube gemäß Thomas von Aquin solle als »bleibende Neuheit«

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Habermas postulierte Komplementarität von Vernunft und Religion bleibt im Formalen, wenn beide Seiten unergiebig geworden sind. Es ist nur zu raten, dass Kritische Theorie und ihre Vertreter sich mit gegenwärtigen religiösen Reformansätzen befassen sowie auf solche verweisen, die Religion für die »postsäkulare« Gesellschaft anwendbar machen. Zur Künstlichen Intelligenz macht dieser Tage Pater Anselm Grün von sich reden mit Konstatierung ihres seelenlosen Wesens. 245 Konkrete Themen drängen, Partner gäbe es. Prestigepflichten zur Eröffnung eines neuen Terrains sind jetzt hinreichend abgeleistet worden. Dabei könnte bereits das »Theorie«-Verständnis erweitert werden – nicht verwässernd zu Lasten denkerischer Qualität, sondern betont im Kommunikationszeitalter synergetisch zugunsten von Orientierungsfindungen in desolaten, Hilfen ersuchenden Situationen. Zum Ende dieses Kapitels wird nochmals die aktuelle Literatur zum Thema gesichtet, eine Aufsatzedition kommt in den Blick und mit ihm der Beitrag des in- und ausländisch wirkenden Kollegen Raymund Geuss zur Frage »Normativität«. 246 Nach Geuss ist die Abstufung einer normativen Vorgabe Kriterium ihrer Zulässigkeit, ob sie sich also auf einer abstrakt-weiträumigen Ebene äußert oder als ziemlich konkrete (Befehls-)Vorgabe. Der letztere, »reinnormative« Ansatz sei heute der »große Gegner« der Kritischen Theorie, »nicht so sehr die traditionelle Theorie« (zu dieser gleich folgend, d. Verf.). 247 Das klingt gemäß Kant-Idee, Menschen zur Selbstbestimmung zu bringen, also in eine existenzielle Position des Mutes, selbst zu denken, plausibel, zumal faktisch unter heutigem Überall-Zeitdruck, auch in der Politik, »Oberkluge« vorschnell eine Richtung diktieren. Insofern wird man mit den durch diese Arbeit vorgestellten Weltsichten von der Anteilhabe oder letztlich dem angestrebten sogenannten kosmozentrischen Weltbild, inhaltlich Gegenstück offenbewahrt werden, ohne dies auf Stimmigkeit mit der neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Vernunft zu prüfen, vgl. S. 46–48. Zur instrumentellen Vernunft vgl. S. 41. 245 Vgl. den Art. von Raimund Kirch: Künstliche Intelligenz – Ein Wesen ohne Seele. Pater Anselm Grün im Dialog mit einem Datenexperten, in: NZ 04. 11. 19, S. 10, endend: »Bleibt die Frage, ob man der Künstlichen Intelligenz auch eine Seele einhauchen kann. Sie blieb unbeantwortet. Weil der Seelenbegriff für einen Naturwissenschaftler nun mal keine messbare Größe ist.« Anm.: Kirch war acht Jahre NZ-Chef und steht weiter mit religiösen Reflexionen in der Öffentlichkeit – Beispiel für das Interesse daran. 246 Vgl. Raymund Geuss: Normativität in der Kritischen Theorie der Politik, in: Ulf Bohmann et al. (Hg.): Kritische Theorie der Politik, (stw 2263), Frankfurt a. M. 2019. 247 Vgl. ebd., S. 358 f., Zitat S. 359.

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sichtlich gescheiterter Menschen-Hegemonie, kein Problem haben. Dabei lautete ja hier die eigentliche Weisung »Achtsamkeit« als Übung und Haltung. In Haltung von Achtsamkeit wird es zwangsläufig zur neuen Weltsicht kommen, die man auch anders nennen könnte, und wer dabei »nur« die Selbstwahrnehmung betreibt, wird sich selbst erkennen, worin schon nach antiker Erfahrung eine Welt aufging. Das wird bis heute niemand abweisen. Es geht hier aber nicht um Selbstüberprüfung, sondern um einige Auffälligkeiten. Die Vorgabe der Nicht-Normativität in der Kritischen Theorie ist aber nicht unbedingt ideell bei Kant verortet, sondern literargeschichtlich in einem Aufsatz Horkheimers aus dem Jahr 1937. Dort unterscheidet dieser, grob gesagt, Geschichtseinflüsse ignorierende Forschung und als sicher geltende Sachkenntnis – so die traditionelle »Theorie«vorstellung, eingeleitet einst, wie auch von Geuss betont, durch die theoria – von Kritischer Theorie, die möglichst Geschichtseinflusslos generiert würde. 248 Ideengeschichtlich wird aus Sicht dieser Arbeit dem widersprochen, schon das antike Forschen dem Positivismus zuzuschreiben (der Begriff fällt bei Geuss nicht, stützt aber den Aufsatz Horkheimers). Nach Antike-Verständnis dieser Arbeit zielen prototypisch Platons Ideenphilosophie wie auch Aristoteles’ theoria unter deren Ausschöpfung möglichster Sachforschung auf den intelligiblen Zwischenbereich. Dabei waren der Sachforschung damals enge Horizonte gesetzt; Beobachtung erging sich vermutlich (wenn man die Naturbeschreibungen Aristoteles’ liest) minutiös. Zahlreichen Erkenntnissen auf der intelligiblen Ebene entsprechen Beschreibungen heutiger Naturwissenschaft, vergleicht man z. B. die Aristotelische Koppelung von Raum und Zeit mit der Relativitätstheorie. Jedenfalls wird hier die positivistische Einstufung antiker Theoriebildung für absurd gehalten, denn das alte Athen lag bei aller intellektuellen Dichte der sogenannten Achsenzeit des Altertums noch im Übergang vom Mythos zum Logos. 249 Mit dieser Arbeit wird umDas ist gewiss nie möglich, aber das Problem wird zumindest bei der Kritischen Theorie mit reflektiert. Im Aufsatz vgl. ebd., S. 348–350. 249 Vgl. in diesem Sinne Habermas zur antiken Achsenzeit: Auch eine Geschichte, Bd. 1, S. 473. Vgl. inhaltlich eingehend zur Platonischen Philosophie, deren Charakteristikum der Verbindung aus Geschichte, Metaphysik und Kosmologie, deren Forschen von der Fiktion bis zur Schau der Idee und deren dialektischer Anlage (im Sinne des Einen-aufs-Andere-Bezogene): Harald Seubert: Platon, Kap. 5, III-V, S. 250–328 und Kap. 6, IV, S. 468–489. 248

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gekehrt der zeitlose Wert wahrnehmender Forschung vertreten, die jedermann mit eigener Leibesausstattung frei von und gegen alle Technik möglich ist. Es wird abgelehnt, was schon formell ein Widerspruch ist, wenn Geuss am Ende für eine heutige Kritische Theorie schreibt: »Zum angemessenen Freundeskreis … gehören aber nicht Platon, Descartes, Kant und Frege, sondern Hegel, Marx, der späte Wittgenstein und Foucault.« Zuzustimmen ist einerseits, dass es keine Überväter wie z. B. Habermas geben darf, denn sie alle waren in Genese und Impetus einer Zeit verhaftet, 250 jedoch dürfen andererseits zeitlose Erkenntnisgehalte nicht von vornherein ausgeblendet werden. Kritische Theorie, die sich dem Wahrnehmen, im treffenden Bild: dem Hören stellt, sollte besonders auch die Zwischentöne hören und solche beachten, die sich für Zwischentöne stark machten. Es geht um Selbstüberschreitung, wiederum, bzw. um die Bedingungen dazu.

6.3.2 Achtsamkeit: Praxis der Nicht-Normativität Was soll jetzt noch gewusst, gedacht und diskutiert werden? Die Ausbeutungs-Maschinerie läuft weiter, und man schachert um Quäntchen an Änderungen im Lebensstil. Wie kann man im Getriebe zur Besinnung kommen? Auch so könnte die Fragestellung lauten. Man weiß durchaus um Ratschläge, die selten so einstimmig klangen wie beim digitalen Hype. Maßhalten, und vor allem: die analoge Welt mindestens gleichermaßen wie die digitale pflegen. Es bleibt dabei auf der moralischen Ebene, vergleichbar »Flugscham«, das zum Unwort des Jahres werden könnte 251, was impliziert, wie sehr (oder wie stark) beim Moralismus von vornherein Bauchweh mit erklingt. Faktisch wird sich das Subjekt in Schachern ergehen, was es darf und was nicht, oder, schlimmer noch: Wer etwas darf. Darf der Lehrer länger online sein als der Schüler, weil er es zwecks beruflicher Pflichten muss? Und schnell noch 25 Privatmails checkt (darunter allein acht über den Bestellverlauf zweier Onlineshop-Artikel)? Dualen MoraVgl. ebd., S. 362, Zitat S. 363. »Unwort« 2019 wurde dann »Klimahysterie«, ein Affront gegen die AfD, aber doch auch ein pauschales Brandmarken persönlicher Gesinnung, die unterschiedlich motiviert sein kann, z. B. durch Not materiell Betroffener, wenn Vaters solides Häuschen jetzt als »Schweinestall« gilt. Dieses Unwort wirkt wie typisch für medialen Spachgrobianismus. 250 251

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lismus erlebt Deutschland gerade durch die Klimapolitik. Fanatiker spalten das Land in Grün oder Schwein. Das ist barbarisch und einer Gesellschaft, deren Barrieren zwischen Klassen, Ethnien und Geschlechtern fallen, weit hinterher. Das Schlimmste am Moralismus ist, dass er faktisch nichts bewirkt. Man wird immer wieder zum Schachern getrieben zwischen Gewissensbissen und vordergründigen Vorteilen, diese quasi unter der Bettdecke verbergen, und die Augen oder der Stress werden nur übler werden. Beim Klimaschutz, der mit zahlreichen Verzichtsforderungen auf gleicher Linie liegt, ist es politisch so, dass Grundüberzeugungen vom Wohlstandsluxus und Wachstum nicht angetastet werden. Produktion und Konsum sollen weiterlaufen wie bisher (oder sich durch Klimaschutzinvestitionen sogar erhöhen), und es soll technisch gelöst werden, was technisch kaputtgemacht wurde und Eigendynamiken entwickelt hat – ein Extremauftrag. Digitalisierung mit all ihren Kollateralschäden wird nach politischem Programm in Größe XXL ausgebaut werden, aber wir sollen doch bitteschön gemäßigt mit ihr umgehen. Zugleich werden Smartphones und Tablets mit zu den schlimmsten Ressourcenkillern und Emissionsschleudern aufsteigen. In Wahrheit müsste für beide Fälle das gebotene Verzichtsmaß erheblich ausfallen. Erinnert man etwa Harari: Warum müssen wir immerzu etwa »tun«? Würde es nicht schon reichen, nicht mehr zu verletzen? Warum ergehen sich speziell auch Kirchen in Diskursen, Aktivismus und Sozialpopulismus; was hat sich durch evangelische Vesperkirchen wesentlich geändert, außer zusätzlichem Aufstemmen hoher Geldbudgets und weiteren Getriebes? Wann kommt die Schweigekirche, die Abstinenzkirche, die Kirche, die sich, anstatt aufzuregen über Biotechnologie und Big Data, mit dem Popo ins Gras setzt, Gefühl entwickelt für das Leben um sich herum und ihren ganzen Apparat einfach sausen lässt? 252 In Wahrheit ist es unerlässlich, das Wirtschaften und Handeln von Milliarden Menschen weiträumig auf vormoderne Muster zurückzusetzen. Es gibt Anfänge: Gemeinwirtschaft, Allmenden, Solidarische Landwirtschaft, Frugalismus, Tinyhouse-Bewegung, Einrichtung aus Wohnungsauflösungen, Tauschringe, Carsharing, Gemeinschaftsgärten, private Selbstversorgung, Selbermachen, Reparieren. Aber es sind Einzelfälle, die sich schleunigst ausbreiten müssten, da252 Beachte: Vielfach sind es gerade spirituelle Menschen, die eine Getriebe-Kirche nicht mehr mit Steuern unterstützen wollen.

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runter vor allem auch der Vegetarismus – das muss gesagt werden wegen nicht länger hinnehmbarer maßloser Tierquälerei und wirtschaftlicher Über-Aufwendungen durch Fleischerzeugung. 253 Den Spurhaltern zufolge solle man würdigen, dass Liberalismus und Globalisierung viel vorangebracht hätten in der materiellen Stellung sowie in den rechtlichen und wertehaften Standards der Menschheit. Aber die ökologische Katastrophe, den Klimawandel, die technologische Disruption, die Migration, die klaffenden Ungerechtigkeiten, den Terrorismus und die Kriegsgefahr können sie nicht aufhalten. Leider hat es sich auch in der Psychologie weithin so entwickelt, dass Formen von Selbstbeschränkung, Disziplin, Haushaltung und Kontrolle als neurotisch gelten, ohne nach äußeren oder inneren Antrieben zu fragen. Es ist unverzichtbar, wieder zu Wirtschaftsformen des Naheliegenden, Leihens, Teilens und Tauschens zu finden. Doch könnten aber gerade hierbei Smartphone und Co. einen besonders hohen Stellenwert als Kommunikationsmittel bekommen und das sinnvolle Maß verschieben, wenn neue Formen nicht tiefgründig mit Gefühl zum Natürlichen und Lebendigen einhergehen. 254 Interessant: In der indonesischen Stadt Bandung erhielten Schüler von der Verwaltung Küken geschenkt, um Tierpflege und Verantwortung zu lernen und dadurch von Handys wegzukommen. 255 Wie kommt man zur unverstellten Freundschaft mit der Welt und zu dem innerseelisch-geistigen Tabu, sie nicht ständig zu verletzen? Rolf Kühn schreibt: »Die künftige Kultur wird daher eine Kultur des Gefühls sein, nicht irgendeines besonderen Gefühls: der Gerechtigkeit, des Reichtums oder des Fortschritts, sondern des Gefühls oder der transzendentalen Subjektivität als Selbstwissen des Lebens in all 253 »Vormoderne Muster« sind nicht mit selbstzweckhaft übernommenen (vermarkteten) »Traditionen« zu verwechseln, sondern deren Züge sind an heutigen Anforderungen des möglichst überall Verträglichen – kreativ – zu messen. So z. B. in der Ernährung: Wildkräuterdip auf Spanferkel ist ganz anders zu bewerten als auf Haselnuss-Braten. Solche Differenzierungen findet man besonders bei öffentlichen Propagandisten des Regionalen, des Althergebrachten, des Natürlichen etc. schwer. Im Wesentlichen scheint es so zu sein: Nur nicht an den menschlichen Gewohnheiten rütteln! 254 Man muss in dem Zusammenhang auch kritisch sein gegen mediale Klischees. Die »Generation Smartphone« kann nur partiell »aussteigen«, vgl. nochmals Jan de Vries in der Behausung eines Bauwagens, was Strom- (wie Wasser-) Nutzung dann doch nötig macht, nämlich in den Haushalten von Freunden. 255 Vgl. Art.: Küken statt Handys. Gegen zu viel Internetsurfen, in: NZ 23./ 24. 11. 2019, S. 1.

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seinem Tun, weil es in jedem Empfinden und leiblich-geistigen Können die Selbstoffenbarung seines absoluten Ursprungs und immanenten Geschicks mit vollziehen kann. Die Herausbildung neuer, umfassender Ästhetiken würde diese neue Kultur begleiten, und sofern das »Leben« der einzige Gegenstand dieser Kultur ist, wird sie auch jenes unmittelbare und somit erste Wissen darum, welches immer »Religion« geheißen hat, zu ihrem eigentlich individuell-gemeinschaftlichen Mittelpunkt besitzen.« 256 Vergleicht man diese phänomenologische Fundamentalsicht mit der auf Konkretion gerichteten psychologischen Analyse, so muss man durchaus spezifische Gefühle menschlichen Strebens und Irrens benennen, die man auf einer existenziellen »Gefühl-von-Etwas«-Folie subsummieren kann, welche Eugen Drewermann als »Angst« beschreibt: Angst der individuellen Daseinsberechtigung als einerseits belangloses Zufallsprodukt, das man in einer heimatlosen Welt ist, und andererseits konkreter Leistungsappell-Empfänger in einer Kultur. Das Gefühl, das die Angst beruhigt, kann hier nur eines sein: sich zurückgegeben fühlen in eine absolute Güte, die »mich« bedingungslos meint; es gleicht dem Stand inniglicher Wesensidentität mit dieser Lebensquelle, die man als Gott chiffriert und ästhetisch als Bild des Umfangen-Seins von Gott oder auch als Gottes-Kind-Sein sich vor Augen führen kann. Im Übrigen lernt man an Drewermann hermeneutisch immer auch Entsprechungen bei den Beschreibungen von Grund-Angst und reiner Lebendigkeit in den Mythen anderer Kulturen kennen. 257 Es kann perspektivisch nur eine Angleichung von Deduktion und Induktion ergeben, wenn in beiden Fällen, radikal-phänomenologisch und psychoanalytisch, Gott als absolute Selbstvergewisserung oder gefühlte Wesensidentität mit dem Leben selbst gefunden wird, die den Vollzug des individuellen Lebensauftrags fortan diametral anders steuern wird. Der Erlöser sei »kein Typus, er ist die Erfahrung zu 256 Rolf Kühn: Gottes Selbstoffenbarung, S. 40. Vgl. auch: »Dass wir Gefühle in ihrem Sosein unhintergehbar ›erleiden‹ müssen, ist daher keiner psychologischen Kontingenz als Endlichkeit oder einer organischen (genvernetzten, neuronalen) Körperunterworfenheit zu verdanken, sondern in der reinen Passibilitätsimmanenz eines jeden Gefühls ›spricht‹ unmittelbar das Absolute selbst …«, Gottes Selbstoffenbarung, S. 74. Es versteht sich von selbst, dass eine solche »absolute Konkretion« mit oberflächlich-pathetischen Tradierungen der Romantik sowie eines F. D. E. Schleiermacher nichts gemein haben. Von solchen halbherzigen Tradierungen zeigen sich die dünnen Reste säkularer Religiosität neben anderen Verformungen als stark geprägt. 257 Vgl. Eugen Drewermann: Geheimnis des Jesus, S. 45 f.

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existieren« 258, zitiert Rolf Kühn den neueren Jean-Luc Nancy. Es geht dementsprechend philosophisch nicht um Konfliktformen und deren Behebungen, sondern um die transzendentale Selbstbesinnung betreffs der Muster von Lebenstrieben, die als Freiheit und Verhinderung von »Kierkegaardscher« Möglichkeit schlechthin der Lebenspassibilität (als Potenzialität jeglichen Lebendigseins) selbst geschuldet sind. 259 In der praktischen Realität wirkt es von daher geradezu schändlich, wenn in einem als Zweiklassengesellschaft mit kaputtem Generationenvertrag zu benennenden Volk die Betuchten von Marktsuggestion zur Verschwendung ihrer Ressourcen an den Konsum von Waren und Freizeitgenuss manipuliert werden 260, anstatt zwischen den Maschen des sozialen Netzes, wie bei vormodernen Fürsorgeformen, sich Aufgaben anzunehmen, sei es heute die Nachhilfe für Migrationskinder oder die Unterstützung verarmender Senioren. Speziell nun die »berühmte« Reiselust der Deutschen, besonders auch durch solvente Senioren und vor allem als Kurztrips, per Auto, Flieger oder Kreuzfahrtdampfer, ist trotz Greta Thunberg nach neuesten Rolf Kühn: Postmoderne, S. 424. Vgl. Rolf Kühn: Was leiden kann, S. 161–163 auch mit Ausführungen zu Meister Eckharts »Gott-Erleiden«, »Schmecken Gottes«, »Geburt in Gott«. Es wird hier außerdem der Bezug zur Gesundheit angedeutet, der sich durch »Selbstverlebendigung« in reiner Lebensaffektion verändern kann. Vgl. zum Komplex Selbst- / Gottesbezug als Kurzanalyse des Drewermann-Fundamentalwerks »Strukturen des Bösen«, 1978 das In-Eins-Fallen von Selbst-Entfremdung und Gottes-Ferne gleich dem Zustand einer suchenden und verfehlenden Spirale an »Verzweiflung« (Kierkegaard), das theologisch-dogmatisch als »Sünde« mit der gängigen moralischen Bedeutung ebenso ins Leere wie ins Fatale greift: vgl. Silja Luft-Steidl: Woher das Böse? Die Lösung einer Menschheitsfrage bei Eugen Drewermann, Freiburg i. Br. … 260 René Buchholz zeichnet in einer schon eingangs zu Teil 6 erwähnten Walter-Benjamin-Kurzmonografie zum Sog der kapitalistischen Bestimmung über die Städte als neuere Zuspitzung »das Transitorischen der Einkaufspassagen« nach, die ab den 1980er Jahren ein wie traumhaftes Gleiten im Warenrausch provozierten: vgl. Perte d’auréole, S. 3. Man muss hinzufügen, dass schon damals Urbanität eine gesamtgeografische Erscheinung war, die vor allem mit Pendlertrassen Landschaften vereinnahmte und Autokolonnen im Takt mit Geldströmen fließen ließ, zum Verdienen wie zum Ausgeben. Welch ein Aufschwung der Mobilität dann noch nach Fallen des Eisernen Vorhangs, Migrationsarbeiter hierher, Zigaretten-Tourismus dorthin, welche Verwandlung der Grenzlandschaften – und heute: Welches Aufgebot an Flächenbedarf, Erdbewegung, Asphalt und Begleit-Perfektionismus (des Abwassers, der Beschilderung etc. bis hin zur ständigen amtlich-digitalen Neukartierung), um mit Umgehungstrassen Bewohner kleinster Dörfer vor Mobilität zu schützen, die zum Geld-gesteuerten Gleiten durch die ganze Welt als Markt normal gilt. 258 259

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Meldungen nochmals gestiegen und wirkt wie sinnbildlich für die verhängte Flucht vor sich selbst in diesem System. Wenn zum Spielverderber wird, wer anderen den Genuss nicht gönnt, muss auch dies gelten: Die Unverfrorenheit, mit der soziale Klagen über Fluglärm durch Airports, »Vergrollung« der Gärten durch Höhenflüge, Autoabgase und verstopfte Ortschaften ignoriert werden, erinnert an das Sakrosankte der Gladiatorenspiele im alten Rom oder an »Nach mir die Sintflut« im Deutschland von 1870, 1914 sowie 1933. 261 Daher nochmals: Wie kann man im Getriebe zur Besinnung kommen? In einem Gesellschaftssystem (einschließlich Kirchen), das Besinnungs-Möglichkeiten weithin zerstört, braucht es Übung, durchaus die Meditation. Es bleibt dazu in dieser Arbeit bei »Achtsamkeit«, um konkrete Formen der Ausübung frei zu stellen und auch Übergänge zum schlichten Achtsam-Sein im üblichen Lebensvollzug zuzulassen, etwa bei Alltagsverrichtungen. Solche Formen sind ästhetische Raster, die auch besonders mit räumlichen Orten zu tun haben können, zu denen jedenfalls hier, nur vorschlagshalber und per se niemals erschöpfend, etwas gesagt werden soll. Wenn Selbstvergewisserung und Lebensvergewisserung in eins fallen werden, dienen zur Meditation, wie schon zu Harari kommentiert wurde, alle »Gegenstände«, die erfahrbar sind und innerlich berühren, angefangen bei der eigenen Körperwahrnehmung. Man wird den Widerfahrnis-Charakter allen Lebens daran kennenlernen, das Prinzipiell-Pas-

261 Richard David Precht brachte 2018 eine Vorstellung der digitalen Gesellschaft mit historischer Tuchfühlung heraus, »Jäger, Hirten, Kritiker« und schreibt auf S. 46, »dass wir vor allem mehr Zeit brauchen statt immer mehr Zeug«. Auch er äußert sich einerseits über den Luxus äußerer Animationen in einer liquiden Schicht (der wiederum mehr von Verkünstlichung als von Zeitnot zeugt) wie über verwirkte Selbstbestimmungsrechte durch Niedriglohnstrukturen und die ungelöste Frage der Lebensqualitäten bei zunehmenden Roboter-Leistungen: vgl. S. 46 f. Insgesamt und unter dem idyllischem Rousseau-Umschlagmotiv seines Buches erweckt sich das Vorurteil, dass frühere Gesellschaften gelassener mit Zeit umgehen konnten, jedoch ging das im Muster von Subsistenzwirtschaft nicht, als Naturbedingungen enges Maßhalten mit allen Ressourcen geboten, allerdings auch »No-go«-Zeiten verhängten. So werden etwa von Wolf-Dieter Storl und anderen Kulturabbildungen (etwa Museums-Darstellungen, die fast jeder kennt) ausfüllende Verrichtungen und organisierte Arbeitsteilungen beschrieben, die sich heute denen aufdrängen, die selbst, wie besprochen, aus der materiellen Gesellschaft Ausbrüche wagen. Man kennt es etwa auch im Konflikt zwischen Kochen und Fertignahrung. Jedenfalls kann es zum wirklichen Entkommen aus dem materiellen Sog immer nur um die Frage authentischer Umgangsformen mit der Zeit gehen.

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sible, wie hier schon ausgeführt. An Formen der äußeren Natur kann man des Komplexhaften einsichtig werden, des Lebens als »Anteilhabe«, wie schon beschrieben. Wer etwa einen vermodernden Ast als Gegenstand wählt, wird eines Kosmos aus Werden und Vergehen einsichtig, der alles Leben ist, speziell auch der menschlich so beurteilten Grausamkeit der Nahrungsketten, in der Tat. Leben ist Kampf, wie der Irrationalist sagt, Leiden, wie der Buddhismus lehrt, Geben und Nehmen der neutrale Sprecher; man wird in der großen, äußeren Natur jede Menge Grausamkeiten finden. Dass Leben alles andere als grenzenlose Expansion ist, beruhend auf angeheizter Raffgier wie auch Tretmühlenstruktur, wird, wie schon besprochen, mehr als einsichtig. Und gewiss, in all der Irrationalität individueller Existenz, wenn man sie ins Positive dreht, kann die Konsequenz aufleuchten, dass es eine individuell meinende Güte geben muss und diese als Ethos zu leben wäre, wenn alles überhaupt noch Sinn machen soll. Wie hier schon erwähnt, ist die ethische Einsicht interreligiös vergleichbar, wenn sonst auch nicht Haupt-Kerygma wie in der Jesusbotschaft. Dabei wird es auch im sachlichen Vergleich an so lebendigen Kulturformen wie den Religionen nur um Transparent-Machen gehen können. Einsichten wie diese sollten dazu beitragen (ohne dass sie unbedingt vom Individuum sachlich artikuliert werden müssen, wenn schon das intelligible Gefühl zum Erfahren reicht), die Realität anzunehmen, getragen zu werden durch das Spüren des Wesens von Leben in sich selber, angefragt zu werden nach dem Sinn des Strebens, was im westlichen Kontext allein schon heilsam wäre zum Aufgeben von Ansprüchen und Standards. Das könnte individuelles Leiden mehr auf den Boden der Realität stellen und zum Annehmen oder Loslassen verhelfen, wo keine Abhilfe möglich ist, ohne den humanen Trost als Prinzip oder den individuellen Hilferuf aufzugeben, sondern ihn sogar verstärkt zu evozieren. Das kapitalistische Wohlfahrtsstreben verzerrt das Leiden durch hohe Leistungs- und Perfektionsniveaus. Das System versorgt einerseits und pflegt andererseits auch zahlreiche seiner Kollateralschäden wie z. B. deutlich durch das Ernährungsangebot bedingte Krankheiten, aber indem es Druck, Neid, Konkurrenz und Kampf verschärft, erklärt es das stille, verzweifelte Leiden für unerwünscht und stellt es rigoros ins Abseits. Erwünscht sind Menschen als Systemtreue, gerne auch mit Gelenkprothesen, zumal Senioren bald das Gros der Gesellschaft stellen. »Alter« ist längst kein Problem mehr, wenn Chirurgie, Kosmetik 116 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

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und die ganze Welt zur App-Bedienung der gängigen Infrastruktur angehören. Wenn man innerlich ein Selbstvergewisserter und Erschreckender über die Aporie der offiziellen Erzählung wird, sollte man ihre Verlockungen anders einordnen können und, im besonderen Kontext, digitale Medien als schlichte, ggf. notwendige Werkzeuge ansehen, aber nicht verabsolutieren, als Hilfsmittel, aber keine Güter zur wesentlichen Erhöhung der Lebensqualität, wenn sie die Lebens-Accessoires nur aufblähen. Man wird mit dem klareren Gefühl für die Welt Angenehmes und Schönes wirklich genießen können, ohne es mit Erfolgsdruck und Enttäuschungen zu verbinden. Speziell wird es sich auch ergeben, den Weg zum Selbst zu gehen im Sinne der besonderen eigenen Persönlichkeit, Begabungen zu entfalten, ggf. mit dem hierfür notwendigen Maß an Ausstattung, aber frei vom Druck der Äußerlichkeiten, wie sie für die erfolgreiche Person gesellschaftlich vorgesehen werden. Alter und Verfall sind an sich kein »Problem« mehr, wenn der Mensch innerlich erfüllt ist und vor Leben sprüht. Es darf die Haut faltig werden und die Kleidung abgenutzt – das wird Nebensache und fällt eigentlich niemandem an solch einer Persönlichkeit mehr auf. In einem Sammelband von Rolf Kühn wird die Persönlichkeit eines Malers beschrieben, der sich so ganz bewusst dem Fluss des Lebens fügt und hier immerzu nur sein besonderes Werk einbringt, ohne Ablenkung, gesellschaftlich sozusagen immun. 262 Ein gelungenes Buch zum Bedenken der Künstler-Selbst-Werdung liegt auch von Eugen Drewermann vor, über tief errungene biografisch-literarische Einsichten Hermann Hesses, die viele Leser ansprechen könnten. Hesse als Autor mit seinen Gegenspielern der gebildet-erzogenen und der naturhaft-rebellischen Kinder dürfte man gerade heute angesichts des schulischen Hochleistungsdrucks und Naturentzugs wieder neu entdecken können. Das Buch Drewermanns ist Ermutigung zur Selbst-Werdung auf dem Lebensweg eines jeden Menschen im absoluten Vertrauen auf den eigenen Wert, in die eigenen Neigungen und Begabungen, und dies sei unwillkürlich begleitet von »Achtsamkeit und Wachsamkeit« zu sich und dem Leben, einer inneren Liebe jenseits des veräußerlichten Ethos. 263 Nicht von Vgl. hier FN 178. Vgl. Eugen Drewermann: Hermann Hesse: Der lange Weg zu sich selbst. Zu Sprengkraft eines literarischen Denkers, Ostfildern 2019. Beachte z. B. S. 64 f., 69 zur Absolutheit des individualbezogenen Ethos gegen den gesellschaftlichen. Das genann262 263

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ungefähr bekam Eugen Drewermann im Mai 2019 den Preis der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft verliehen, weil sein psychoanalytisches und publizistisches Werk insgesamt sowie mit direkten Bezügen dem Geist Hesses entspricht, Persönlichkeiten aufleben zu lassen gegen äußere Verfremdungseinflüsse. Angesichts der aktuellen globalen Politik muss man den Wert solcher Individuation in pazifistischer Hinsicht stark betonen. 264 Wohl jeder hat schon erfahren, wie eigenkreatives Tun in Konzentration innerlich beruhigt, erfüllt, begeistert und den vermeintlichen Reiz oder Druck der Außenwelt entschärft sowie verblassen lässt. Hervorzuheben ist natürlich auch die Hingabe an Musik oder Tanz und deren Ausüben. Klänge, Rhythmen und Vibrationen öffnen das Selbst für die Sprache des Kosmos und machen individuell feinfühlig für die Schwelle zur Verhunzung im elektronisch-kommerziell betriebenen Studio. 265 Der österreichische Maler und Bildhauer Rainer A. Riepl geht den Tiefengründen der gestaltenden Kunstausübung nach: Aus welcher Quelle speist sich der schöpferische Prozess? Niemals sei ein konstruierendes Bewusstsein auslösend für den schöpferischen Akt, sondern immer eine tiefe Bewegtheit, ein Empfinden-Können für die Erscheinungsweisen des Lebens. 266 Ganz te Buch ist formell eine Zusammenfassung wichtiger Arbeiten und der mit der Preisverleihung verbundenen Würdigungen. Vgl.: Wie ideologisch dagegen tritt aktuell die Klimabewegung auf, indem sie nicht Gefühle und Überzeugungen wachsen lässt, sondern durch Anklagen ohne Gnadenbotschaft einen Moralismus, der Menschen spaltet und gegeneinanderhetzt. 264 Vgl. ebd., S. 87–91. 265 Speziell eignet sich auch die Klang-Meditation zur inneren Einkehr, wie sie in asiatischen Klöstern z. B. mit Klangschalen etabliert ist, aber auch in der christlichen Spiritualität mit der Meditation über einem Ton einer Kirchentonleiter. Heute gibt es Anleitungen z. B. für den Einsatz einer Stimmgabel als Therapeutikum: Titel, die ungeachtet ihres esoterischen Anklangs auf strengen mathematisch-musikwissenschaftlichen Forschungen beruhen, vgl. Hans Cousto / Thomas Künne: Heilsame Frequenzen. Wie kosmische Schwingungen unser Wohlbefinden fördern, Murnau am Staffelsee 2016. Der Schweizer Cousto wies 1984 physikalische Zusammenhänge der Hertzfrequenzen in Astronomie und Musik auf, mit denen bereits antike Kulturen operierten und Größen wie Johannes Kepler rechneten: Die Kosmische Oktave. Planeten, Klänge, Farben, Essen 1984. In diesen Beschreibungen finden sich die physikalisch grundlegendsten Formen von »Resonanz« (vgl. Rosa im Soziologischen). Sie verdeutlichen die organische Ordnung und strukturelle Einheit der Natur. 266 Vgl. Rainer A. Riepl: Kreatives Tun, zugespitzt S. 65 die Aporie der Objektivität für das subjektive Sein, dessen Erstzugang und Weltsicht immer das innere Erleben sei, vgl. den Kontrast zwischen kalendarischem und empfundenem Lebensalter. Das Buch mit der Herausstellung der passiblen Seite gerade im schöpferischen Tun ist

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ähnlich ist es bei der engen Beschäftigung mit Tieren oder Pflanzen. Man wird, auf jeden Fall, erkennen, dass sie viel mehr sind als nur Kontaktpartner, indem man konfrontiert wie animiert wird durch ihre oft gar nicht gelegenen Eigenheiten und indem man Verpflichtungen eingehen muss in eine als achtsamste gebotene Pflege. Es sind Züge, die auf die große, geheimnisvolle Folie »Leben« verweisen und die Tierliebe beim Tierhalter in der Regel nur bestärken. Und doch sind uns ihre Wesen gleich, auch seelisch-geistig, in ihrer Bedürftigkeit nach Zuwendung und Güte, im Artikulieren von Leid und Freude, selbst wenn wir ihre Sprache (noch) nicht immer gut verstehen, aber in den Hauptfragen von Zuwendung und Liebe eben doch. 267 So geht es bei der Rückkehr zu allen selbstgewählten natürlicheren Lebensformen oder -nischen kaum abermals um äußeres Erleben, sondern gegen alle Verfremdung durch Außenbestimmungen um die Welt als affektiven Interaktionspartner.

sicher eine lesenswerte Zustimmung an alle, denen die herkömmliche »Meditation« zu eintönig ist. Es evoziert Ergänzungen: Beim gestaltenden Künstler sind auch motorische Fertigkeiten (Fingerfertigkeit, ggf. Muskelkraft etc.) notwendig. Sind besonders feine Empfindungen eher Folge oder eher Wirkung z. B. feiner Fingerfertigkeit? Es gibt auch das Eine ohne das Andere: Menschen mit feinem ästhetischen Gefühl und Neigung zur schöpferischen Umsetzung, die aber behaupten müssen »zwei linke Hände« zu haben; oder motorisch sehr geschickte Künstler, deren Werke doch simpel bleiben: Wunder des Menschseins jenseits wissenschaftlicher Erklärungen. Ferner: Intuitiv zupackende Problemlösungen bei Bauarbeitern, die Riepl S. 104 f. im Zusammenhang seiner privaten Sanierung eines historischen Hauses lobt, gibt es leider im Deutschland der Arbeitseffizienz und der technischen wie ästhetischen Standards durch Energiewende und Bauboom nicht mehr. Wie schnell prägen sich Vorgaben ästhetisch! Zupacken besteht i. d. R. im Wegreißen. Wie viel an vernünftigem, sensiblem Gesprächsaufwand ist seitens Bauherren notwendig, dazu Bereitschaft, für mehr Arbeitsstunden mehr zu zahlen. Dann aber kann man Intuition und Freude am Besonderen aufleben sehen und zur »Lieblingsbaustelle« werden. 267 Ein klassisches eingehendes Beispiel für ein kosmologisch verankertes Verständnis für Pflanzen und vor allem auch deren Ernstnahme ist die Schrift der einstigen Husserl-Schülerin Hedwig Conrad-Martius: Die ›Seele‹ der Pflanze, 1943, mit dem sie deren Mitteilung von Lebendigkeit weit über das Biologische hinaus beschreibt, vgl. S. 31 f. Es ist zudem eine markante Schrift für die Abwendung vom transzendentalidealistischen Verlauf des Husserlschen Arbeitens. – Aktuell interessant vom italienischen Philosophen Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, München 52018. Coccia legt dar, wie ein erwünschtes »kosmozentrisches« Weltbild doch durch und durch ein zoozentrisches bleibt, insofern Pflanzen i. d. R. nur als Nahrungsgeber ernst genommen werden. Das außerordentliche Wesen der Pflanze besteht u. a. darin, dass sie als Ortsfeste mit sämtlichen Möglichkeiten der Selbstmetamorphose in Bewegung zur Welt steht. Vgl. S. 15–36, 125.

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Warum fehlt so viel Mut zu mehr Lebens-nahen Beobachtungen bzw. Beschäftigungen (das ist eben in der Tierliebe wie auch in der Kunst und vielem anderen gar nicht voneinander trennbar), die doch ganz einfach und beglückend klingen? Die Antwort ist relativ leicht: Weil etliche von ihnen im kapitalistischen System in Geld-Werten nicht viel taugen 268 und schon Kleinkinder entsprechend erzogen werden. Noch stecken Staaten mehr Geld in digitale Klassenzimmer als in tierische Freunde. Und ihre Investitionen sind keine sozialen Wohltaten, sondern Einsätze zum Erhalt internationaler Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft wie bereits des Leistungsstands der Schüler. Primär betrifft »Verkünstlichung« damit den Zugang zum Gefühl in diesem System, das grassierende Psychologismen unter dem Schwergewicht von Leistungs-Materialismus begräbt, womit selbstbestimmte Glücksfindung stets konterkariert wird. Nicht umsonst analysierte einst Kierkegaard im Aufschwung der bürgerlichen Industriegesellschaft deren innere Verzerrung, Existenz- wie Religionsleere. »Hier in Deutschland sehe ich … Menschen leiden an ihrem Reichtum, an ihrer inneren Verarmung« 269, resümiert der Seelsorger. Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Wie kann man heute noch ein Selbst werden, wenn man um Bestimmungen allseitiger digitaler Anforderungen nicht mehr herumkommt? Man könnte als digital Desinteressierter (vergleichen wir etwa Hesses bekannten Entschluss »Ich werde Dichter und sonst gar nichts«) an kaum einer Ausbildung oder Hochschulbildung teilnehmen, allein wenn man deren Administration nicht teilt. Indes gibt es kaum mehr Desinteressierte. Junge Menschen wachsen in die digitale Infrastruktur und Weltsicht hinein, durchaus mit ihren Interessen, Begabungen sowie Berufswünschen und machen es vor, um prototypisch Jan de Vries zu wiederholen, dass man Extreme wie NaturPurismus und Medialität gelingend verbinden kann. Vermutlich erweisen sich in jeder historischen Wirklichkeit etwas wie die KünstlerOase und das reine Selbst als nie eingeholte Ideale. Wenn Hermann Hesses Werdegang von politischen Ängsten und profanen Erschütterungen durchsetzt ist, so verschwimmen heute dem Smartphone268 Es liegt allerdings für die Tierliebe extrem hohe Markt-Besetzung vor, wenn man an den Haustierfutter- und Zubehör-Markt denkt, der vom Nutzer achtsame Selektion verlangt. 269 Drewermann, Eugen: Geheimnis des Jesus, S. 102, vgl. S. 80. Symptomatisch dazu der Gefühlsausdruck, dass Tränen im wahren Wortsinn der Bergpredigt nicht zum Fluss kommen dürfen: vgl. S. 60 f.

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nutzer praktisch alle Lebensbezüge zum Kaleidoskop. Und doch sehnt man sich nach Abstand: In Ruhe an einem Sonntagnachmittag den Home-PC aufräumen, überflüssige Ordner entfernen, Reinigung und Virenschutz ablaufen lassen, und dann soll’s gut sein – geht selten, denn alle Bedienung ist fremdbestimmt. Man wird in der Regel noch lange sitzen (um abermals Hartmut Rosas Einstieg und unserer fast aller Realität zu rekapitulieren), um Passwörter neu zu vergeben (wegen ständiger Hacker-Angriffe im ausufernden Netz eine fast monatliche Pflichtarbeit) 270, Ansichten wie gewünscht wiederherzustellen und andere vertraute Einstellungen nach plötzlich neu gebotenen Konfigurationen sich wieder gefügig zu machen. Unter Digitalisierung ist man Außenwelt-vernetzt, durch und durch, auch wenn man schläft, und es ist Illusion zu meinen, sich mit alledem identifizieren zu können. Man wird es bedingt können – »das ist mein PC mit meinen Bedienungen und gespeicherten Werken« – aber man bleibt »Ich« immer nur als Abhängiger von Algorithmen und ihren unbekannten Erstellern – in einem buchstäblichen »Gestell« nach den Worten Heideggers. Man muss sich darüber klar werden, dass es so ist und dass hierin die Totalität der Sache liegt. Auch Befürworter erleben eine weite Spanne zwischen Möglichkeiten und Faszinationen einerseits und Realität mit Frustrationen andererseits. Und dennoch muss das Selbst dominieren, ja triumphieren, wenn es frei bleiben will, und sollte sich – eine Bewusstseins- wie Gefühlsfrage – den Apparat allenfalls zu Nutze machen. Die Differenzierung zwischen inneren und äußeren Antrieben wird höchst wichtig werden, auf allen Gebieten, vergleiche man auch noch einmal, wie leicht die Grenzen verfließen bzw. von Marketing verflüssigt werden in der Frage der Lebensgestaltungen, was meines ist und was Kulturdruck oder im engeren Sinne Mode. Hermann Hesse war unter Verarbeitung gerade seiner äußeren und inneren Verwerfungen eben doch Dichter – ja was für einer – und Jan de Vries, der extra die ITBranche verließ, ist seiner Passion nach Schäfer geworden und nur instrumentell Twitterer. Dass es einerseits keine »Oasen« gibt, kann als sozialer Gewinn Schutz vor Eigenbrötelei sein. 271 Wenn anderer-

270 Ad »Passwörter«: Im Letzten kommt man um eine Handliste nicht herum, und im Allerletzten sollte man sie seinen Nachlass-Besorgern rechtzeitig kundig machen. 271 Das ist mit gesunder Selbstwerdung auch nicht gemeint, dass unter rigiden SelbstInteressen etwa Alltagspflichten auf Andere abgewälzt werden, findet man aber bei außerordentlich begabten Menschen häufig.

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seits die Passion »Realität« lautet, wäre das insbesondere ein kritischer Basis-Schutz vor der Dauerform eines Alltagsbewältigungsmodus, der heute Massen von Individuen, in gleich welcher wirtschaftlichen Existenzform sie stehen, absorbiert und zur Maschine degradiert (im Jargon bereits »der alltägliche Wahnsinn« genannt). Sodann muss (nochmals) geäußert werden, dass gerade das Ich sich selbst gegenüber alles andere als souverän ist, womit die Lebensphänomenologie im Einklang mit der Psychologie lieber vom »Selbst« spricht und nach ihrem Zuschnitt dieses als »Leib« in die natürlichkosmologische Einbindung stellt. Da existenziell der Mensch den personalen Bezug sucht, sprechen die Religionen hier in Gottesbildern, die dem Individuum sowie der Gemeinschaft eine letzte Unverfügbarkeit gegenüber strukturbedingten Entwertungen verleihen. Im Christentum gilt dies betont bis zum schwersten Scheitern. Vergleiche zu alledem die Metaphern vom »Geschöpf«-Sein, zum Taufritual mit Namensgebung, zu Jesu Versuchung, Jesu »Messias«-Herrschaft als Erlösungsbild usw. 272 Um fortzufahren: Einsicht in das Leben, »Mimesis« seiner Ausstrahlung (Adorno), das Leben sich anverwandeln (Rosa) – was könnte sich, bestimmt für viele geltend, besser eignen als Kunstwerke? Bei ihrer meditativen Betrachtung geht es nicht um die übliche, letztlich kognitive Kunstbetrachtung, sondern um die Beobachtung, wie 272 Das Wider-Strukturelle dieser Bilder (und sodann: das Versöhnung-Suchende), Naturhaftes, Reales wie Geistiges (Gut und Böse) betreffend und insofern ihre tief aussagende Erlösungskraft wird hervorragend bei Eugen Drewermann von seinem Anfangswerk an entwickelt, vgl. dazu: Eugen Drewermann: Markus-Evangelium. Bilder von Erlösung Bd. 1, z. B. S. 127–161 zur Taufe durch Johannes; Jesus in der Wüste. Sätze aus dem Erscheinungsjahr 1987 könnten von heute stammen: »Und trotzdem müssen viele jenseits der Verspießerung ihres Lebens bei der Predigt des Johannes jene Hoffnung wiederentdeckt haben, die als Sehnsucht in uns allen ruht. Wenn wir uns nichts vormachen, gibt es ein größeres Glück, als woran zu glauben wir hastend und rennend tagaus, tagein uns immer wieder selber einzureden versuchen. Vermutlich ist dies die wichtigste Frage unserer Zeit, wie wir der kommenden Generation, und uns selber miteinbegriffen, den Mut zu höheren Zielen, den Glauben an die Sterne, die Sehnsucht, es den Wolken nachzutun, noch einmal neu vermitteln können. Wenn wir den Durst von Verdurstenden, den Hunger von Verhungernden wieder zu fühlen beginnen inmitten einer Welt, die uns nicht sättigen kann, ist der erste Schritt schon getan, daß Gott wieder wahr wird in unserem Herzen und wir Gottes gewahr werden in unserem Leben«, S. 135. Aktuell zeichnet der Autor Jesu Person selbst als Gleichnis der Antistruktur und Versöhnung: »Alles, was Jesus verkörperte, ist das genaue Gegenprogramm zu dem, was wir in der Geschichte feiern als groß, als nachahmenswert, als normal«, in: Geheimnis des Jesus, S. 22, vgl. auch S. 45.

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Kunst in ihrer chiffrierten Sprache der Formen, Farben und Strukturen auf mich wirkt, mich berührt und was sie in mir anregt. Auf »Orte« sollte in diesem Kontext noch eingegangen werden, in dem, was sie ausstrahlen in ihrem Zusammenhang mit der Umgebung. Es sind in der Regel die gewachsenen Strukturen, die uns berühren, gefügte Bilder, die wir mitnehmen von Ausflügen oder Reisen, immer noch, an der Kitsch-Industrie vorbei und – solange es sie noch gibt. Gewachsene Strukturen werden rar; besonders bei den Strukturen der für die meisten Menschen innigsten Umgebung, des Haus-HofBereichs, zeigt sich in Deutschland durch Energiewende und Bauboom eine ästhetische Verwerfung an, die, nach Adorno, an Bomben und Wieder-Aufstemmen erinnern kann, ganz unabhängig vom Geschmacksurteil im Engeren. Gewachsenes – und das betrifft den Zeiteinfluss auf Natur wie Kultur – wird zerrissen. Durchaus können bauliche Isolierungen gegen Natureinflüsse sinnvoll sein; sie sind es aber nicht immer und oft sogar technisch schädlich. Eine »atmende« Wand oder Fensterleibung ist oft besser und für den Bewohner gesünder, solange niemand friert, Wasser eindringt etc. Der Obstbaum als Wandspalier ist schon gänzlich unerwünscht, dort zeigt sich »Verzweckung« drastisch; man will keine Arbeit haben mit Schutz- und Pflegemaßnahmen und büßt doch Lebendiges ein, bis dass es einsam machen kann. Hier interessiert, wie das Gewachsene berührt, und das gilt besonders, wenn ein »Objekt« wie das Haus den Menschen an sich schon berührt. Kaum etwas besitzt in den Sprachen der Welt ein solch großes Wortfeld, Abzeichen seiner Bedeutungen, wie das »Haus«. Mit zum beliebtesten Spiel von Kindern, wenn Eltern es zulassen, gehört das Höhle-Bauen. Man muss es hier nicht großartig deuten. Für Walter Benjamin waren Gebäude Prototypen der Kunst. Alle andere Kunst fungiere als ihre Ausschmückung und Ausstattung für Kult und Komfort. 273 Gegen brachialen Wandel, permanentes Rasen und schwere Verlustanzeigen berührt viele Menschen »Antikes« mit seiner Aura aus Lange-Dagewesenem und Gewachsenem tief. Das gilt vor allem auch für das alte Haus. Um kulturtypische Arten kümmert sich der »Denkmalschutz«, der eigentlich Menschen schützt vor dem Verlust solcher Ästhetik. Zerfurchtes Holz, durch Schmutz des Viehs zersetzte Mauerstruktur – man tendiert heute ästhetisch (unter 273 Vgl. BGS I, 2, S. 504: »Bauten begleiten die Menschheit seit ihrer Urgeschichte.« Dem Kontext nach geht es um dreidimensionale Gebäude, »Unterkunft«.

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bester Erfüllung technischer Notwendigkeiten) zur nicht »perfekten« Sanierung, um Abbilder des Lebens zu erhalten, nach denen Erfahrende sich sehnen, wobei man »rustikale« Übertreibungen deutlich ablehnt. Gesamtästhetisch sprechen alte Gebäude auch den Ursinn des Riechens an, werden sie doch ein typisches Geruchsspektrum niemals los, auch wenn »Gestank« schon lange weggeputzt ist. Und alles gilt je »urälter«, umso besser. Am Rand eines mittelfränkischen Dörfchens gibt es ein Freilichtmuseum, das aus nur drei frühhistorischen Hütten besteht. Wer hier verweilt und sinniert, wird in eine Atmosphäre quasi ewiger Formen der Statik und der Gestaltung (der pragmatischen wie der schönen) hineingezogen, die man nur mystisch nennen kann, ohne dass hier eine offiziell beabsichtigte Stätte zur Meditation eingerichtet wäre. 274 Es ist sehr zu hoffen und teilzunehmen an Bemühungen dahingehend, dass mehr Sinn aufkommt für eine auf Formen des Lebens gerichtete und damit das Gefühl anrührende Ästhetik. Der Einsatz der Naturschutzverbände um Erhalt biologisch-naturnaher Flächen hat immer auch die ästhetische wie pädagogische Seite, nachdem man allerorts Verbauung, Verlärmung und Licht-Überflutung einst stiller grüner Plätze erlebt. So ist zu suchen nach Möglichkeiten der eingehenden, berührenden Betrachtung bis möglicherweise Versenkung, die als mystisch erfahren wird, was hier insgesamt als »Achtsamkeit« verstanden wird und in dezidierter Form der Meditation gleicht. Es ist durchaus denkbar, zur Übung einer solchen Haltung eine Struktur aus Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, hier alles nur in Vorschlagsform gesprochen. Ein primär wichtiger wie zukunftsweisender Schritt wäre es sicher, das Meditations-Üben gegen alle kognitive Überlast der Lehrpläne als Schulkurse anzubieten (und darin »Medienkompetenz« gleich aufgehen zu lassen); etwa an den Ethikunterricht könnte man es anlehnen. Ferner könnten Baudenkmäler (oder ihnen charaktermäßig nahe Gebäude) ihre Türen für entsprechende Meditationen öffnen ähnlich wie auch Naturschutzverbände oder andere über naturnahe Flächen Verfügende. Manche christlichen Klöster mit einem weiten Sinn für Spiritualität tun es schon seit längerem, in verschiedensten inhaltlichen Ausprägungen. Netzwerke aus Meditations-Anbietenden und solchen Stätten könnten sich bilden, ein Aufblühen wie vergleichbar bei der Fitness- und Gesundheitsbewegung, die in Deutschland heute in nahezu allen Sek274

Mit Adresse: Geschichtsdorf Landersdorf, 91177 Thalmässing.

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Achtsamkeit als Therapeutik

toren präsent ist – warum sollte das nicht gelingen? Es wäre allerdings mehr als wichtig, dass solche Einrichtungen Kommerz-frei betrieben werden, in manchen Fällen vielleicht auf Freiwilligen-, auf Spendenbasis; eine Frage, die nicht stark ins Gewicht fallen dürfte bei sowieso schon bestehenden Stätten. Rein wirtschaftlich dürfte der Aufwands-Faktor bei einem Meditations-Angebot nicht sehr hoch sein, aber solches darf auch nicht als Marketing-Köder für die Gesamt-Bilanz einer Einrichtung herhalten. Und natürlich kämen Stätten in Frage, an denen Menschen Erholung wie Heilung suchen und ahnen, dass dies mit der Heilung der Welt zusammenhängt in dem Sinne, dass das, was mir wirklich gut tut, immer auch anderem Leben gut tun muss. In diesem Zusammenhang sollte der Tourismus erwähnt werden, dem wir idyllische Pfade, gepflegte Gebäudekulissen und viel Bewahrung an Kultur und Geschichtskulissen verdanken. Mit alledem ist Tourismus Marktsektor, dem unter Zauberwort »Besucher- / Übernachtungszahl« die tiefere Erfahrung solcher Szenen egal ist. Damit »der Gast« (der eine Melkkuh ist wie jede Form eines Kunden) wiederkommt oder andere mitzieht, ist, nach Einteilung des Soziologen Gerhard Schulze, das oberflächliche »Erlebnis« ausreichend, und verständlicherweise etwas wie Kritik am kommerziellen System völlig deplatziert. Es gibt aber inzwischen nachhaltige (und damit auch systemkritische) Formen, die für Meditation offen sind und hier durchaus einen festeren Stand bekommen könnten. Manche Herbergen des »sanften Reisens« gehören eher zur oberen Preisklasse des Urlaubs, aber auch am »einfachen Leben« orientierte und damit preiswerte Formen werden angeboten. Letztlich wäre ebenso hierin ein allgemeiner Bewusstseinswandel angesagt, gegen die Qualitätsnivellierungen des Billig-Kommerzes das Wertvolle gebührend zu entlohnen, das Überflüssige zu lassen und solidarische Weisen für die Beteiligung schwächer Betuchter zu finden. Eine im weitesten Sinne Gefühls- oder mystische Zukunft der Menschheit, in der die überwiegende Habitualität von Gefühl geleitet ist, 275 wäre denkbar und zu ersehnen wie ein Nachhause-Kommen aus der entfremdeten Welt zu einem direkten Erleben. Für Rolf Kühn ist die Findung des primären »Lebens«-Gefühls mit Wendung in die Habitualität eine (stetige) Wiedergeburt, strukturell buddhistisch, 275 Die Korrelation von reiner und habitueller Wahrnehmung wurde schon mehrfach erwähnt; dezidiert dazu Rolf Kühn unter Verweis auf Maine de Biran: Praxis, S. 68 f.

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Hauptfrage: Entfremdung durch Digitalisierung

aber in weltgerichteter Richtung »westlich« anzusehen. 276 Es wäre die Pflege und »Ehelichung«, wenn man so sagen will, von Lebensformen, die eine Seele haben und die, wer es so sehen will, als Offenbarung des Wesens Gottes betrachtet werden können. Individuell ginge es um wirkliche Selbst-Findung – das zu leben, was einem mitgegeben wurde – anstatt »-Verwirklichung«, die immer nur mit kommerziellen Attributen lockt sowie anheizt, und um ein Immun-Werden gegen solche Verdrehung von Leben, wie sie massiv heute mit der Digitalisierung vorgegaukelt wird. Noch immer erzeugt der materielle Wohlstand bei allem Sich-Ereifern zu wenig Leidensdruck für wirkliche Veränderungen. In Bildung und Wissenschaft ginge es allein darum, Fächer mit Einsichten in Verfasstheit des Lebens sowie den Umgang damit, die man bisher allenfalls zu »soft skills« degradierte, obenan auf die Lehrpläne zu setzen. 277 Und keinesfalls darf in dem Zusammenhang das Geschichtsgedenken verstummen, mit der Frage nach den menschlichen Tiefenursachen der Leichenberge. Man hat es dabei mit Ursachenkomplexen zu tun, die heute wiederum auch die digitalen Möglichkeiten und ihre Gefolgschaft betreffen, womit, wie man sich nicht genug klarmachen kann, letzte Befehle nur in einem smarten Antippen bestehen. 278 Tradition nach Walter Benjamin meint das Gedenken an das Lebenswerte wie das zu Verabscheuende gleichermaßen. Zukunft kommt ihm zufolge ohne Gedächtnis nicht aus; Bewusstheit und Schmerz sind gemeint, ähnlich wie später Vgl. Rolf Kühn: Lebensreligion, S. 152; vgl. Leben als Bedürfen, S. 36. Optimismus mit Vorsicht ist angebracht: Mythologische oder religiös-kontemplative Weltbetrachtung bleibt überholt, insofern: »Die Rückkehr muss in gewisser Weise sogar noch grundlegender sein, nämlich hin zu einem ›Voraus‹ des Denkens, welches die Natur eindeutig ist, um in einem letzten immemorialen Voraus mit dem absoluten phänomenologischen Leben selbst identisch zu sein, aus dem sie hervorgeht … Letztere ist uns nicht nur in einem naturphilosophischen Sinne ›voraus gegangen‹, sondern als physis / natura ist sie selbst ein originäres ›Hervorgehen‹, welches eine gemeinsame Wesensbestimmung mit unserem phänomenologischen Leben als solchem darstellt … In diesem Sinne ist ›die Natur‹ eine der stärksten philosophischen Motivationen innerhalb einer Selbstbestimmung, welche sich aus den Vorgaben der eigenen ratio als Evidenz oder Intuition zu befreien vermag, um in die genannte reine Passibilität einzutauchen, welche unseren Ursprung als Grund birgt.« Rolf Kühn: Natur und Leben, S. 36. 278 Wesen der Technik sei, dass Handeln auf Auslösen reduziert würde, erklärt Norbert Bolz: vgl. Das Gestell, S. 43. Die Qualitätsunterschiede im Erleben zwischen dem Betätigen von Hebeln, Knüppeln, Zündschlössern usw. gegenüber dem Streicheln winziger Touchscreens wären ein extra Thema zur Nachvollziehbarkeit oder Entfremdung zwischen Ursache und Wirkung. 276 277

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Achtsamkeit als Therapeutik

Ricœur eine Geschichtsphilosophie als l’oublier préservée resümiert, das Schlimme, das man zur Bestreitung des Alltags ablegen muss, aber nicht weglegen darf. Tradition begnügt sich dazu nicht äußerlich mit patinierten Bildern vom Markt prozessierter Massen- und Wegwurfwaren, sondern lässt innere Bilder wachsen, als Vergleichsebenen zur wachen Wahrnehmung alles Gegenwärtigen und sich Anbahnenden. Durchaus könnte sich für den Einen oder Anderen das Leben und Arbeiten etwa mit alten Möbelstücken oder Gebrauchsgegenständen zum meditativen Erfahren eignen – eben nicht nur als Deko eingesetzt –, womit kulturgeschichtliche Vertrautheit sich einstellen kann bis zu generellen Interessen an den conditions humaine. Es gibt heute Rückkehrer zum Selbstgemachten, etwa der Kleidung, die bis zum Wolle-Spinnen zurückgehen; es gibt technisch Interessierte an alten Gerätschaften, zumeist Männer, die hieran Beschäftigungen, Leidenschaften und Lebens-Kenntnisse finden. Ideengeschichtlich entspräche das in etwa dem Rousseauschen Entwurf gegen die Entfremdung von natürlichen Urzuständen. Im phänomenologischen Sinne wären damit Interaktionen affektiver Selbsterprobung verbunden, die für authentisch gelebtes Ich-Sein sowie soziale Gegenseitigkeit eigentlich grundlegend sind. 279 Die Lasten allseitiger Artifizierung und dabei durchaus das stets verstellte Erleben sind für Manche heute der wesentliche Grund, zu solchen naturnahen Lebensformen zurückzukehren und äußerliche Mühen in Kauf zu nehmen, die sie als beglückend empfinden, als einbindend in den Kreislauf des Lebens. 280 Die »Tun«-Meditation, wie schon angedeutet, 279 Zu phänomenologischen Grundlegungen in Bezug auf das Ich- und Umwelterleben in der Postmoderne vgl. das neueste Werk von Rolf Kühn: Postmoderne und Lebensphänomenologie, z. B. in der Einleitung S. 26–33. Anhand der Arbeiten u. a. von Deleuze, Lacan, Levinas und Derrida wird darin erlebenshaft die Postmoderne als Epoche erstmals aufgewiesen, d. h. Formen von Lebendig-Sein nach den genannten Forschungen, apriorisch und nicht metaphysisch oder ideologisch, zerlaufen sich nunmehr angesichts der epochalen Austauschbarkeit von Gegensätzen, des aufgehobenen Widerspruchs von Real und Imaginär, Wahr und Falsch, des Simultanen, der fließenden Wertezuschreibungen rein durch den Tauschwert des Marktes, des insgesamt Chaotischen, verursacht durch die Hyperrealität des Marktes; und dies könne nur noch durch eine Generosität jenseits der Warenäquivalente abgemildert werden. Es ginge hierbei immer um Bedingungen für subjektives Fühlen und nicht um Allgemeinheitsansprüche, die auch Sujets wie die »Lebenskunst« längst beschlagnahmt haben, vgl. S. 14. 280 Auf eine »Ironie der Geschichte« im Sinne Hegels weist Norbert Bolz’ Buch »Das Gestell« hin: Gerade die amerikanische 1960er-Jahre-Hippie-Bewegung gegen das or-

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Hauptfrage: Entfremdung durch Digitalisierung

könnte sich von daher heute wie zu allen Zeiten und an allen Orten an ganz profanen, zumeist rhythmischen Handlungen orientieren: Am Sägen von Kleinholz, Kneten von Teig, Abharken einer Wiese usw. Wieder aus sich herausgehend, jedoch bleibend in der affizierten Korrespondenz, könnte man auch im Takt einer Arbeit oder z. B. des Gehens singen (wie würde das wirken unter der neuen Sitte des Smartphone-berieselten Ohrstöpsel-Tragens während anderen Tuns?). Es fänden sich sicher viele Möglichkeiten oder kämen in Erinnerung. Wenn man die Affektion des Lebens in Tätigkeit oder Ruhe als Ur-Erfahrungsweise und die affektive Anregung von Leben als UrGrund versteht, wäre das im weiten Sinne mystisch zu nennen und eine Weise undogmatischer, überreligiöser Erfahrung. Es wäre die Verschmelzung der Polarität eines »Bete und Arbeite« hier nun von der Tat-Seite her, einer selbst gewählten Habitualität, die zur Einheit führt. Der Vorstellung von Karl Rahners Ausspruch im jetzigen, seinerseits noch gar nicht zu ahnenden Ausmaß an kultureller Globalität wird sie sicherlich gerecht. Darin läge auch eine Verbindung in der Tradition von Ost und West, die das häufige und meist nur oberflächlich erfüllte Schielen nach Asien bzw. Konkurrenzbefürchtungen wirklich einholt. 281 Wann geht es uns am schlechtesten? Zum Beispiel die Bibel, die heute als Buch archaischer Grausamkeiten oft abgelehnt wird, bleibt Quelle menschlicher Wahrheiten und gibt Antwort: Wenn es uns an den Leib geht. Prototypisch zeigt das Alte Testament an Hiob und zeigen die Evangelien an den Heilungsgeschichten Jesu, wie Krankheit und Einschnitte in die äußeren Kontakte das individuelle Leben unerträglich machen. Eine von vielen Zeitbomben tickt in westlichen Gesellschaften in der gesundheitlichen Verfassung vor allem junger ganisierte Leben habe die private Beschäftigung mit Computerprogrammen deutlich ausgelöst, vgl. S. 76. 281 Einen Meilenstein in der Meister-Eckhart-Forschung legte nach Grundlegungen seines Lehrers Keiji Nishitani dann 1965 der (2019 verstorbene) japanische Religionsphilosoph Shizutera Ueda. Er stützt sich u. a. auf Eckharts bekannte Auslegung von Jesu mit Martha und Maria; dieser zieht, anders als der Bibeltext, die arbeitende Martha vor, als eine in sich selbst durch Tätigkeit für den anderen aufgehende Person (Ueda: »der so arbeitet, … ist er selbst, von nichts abhängig«). Ueda diskutiert das im Zusammenhang mit der Negativen Theologie Eckharts und zeichnet Parallelen zum Nichts-Sein-Üben im Zen-Buddhismus; in unorthodoxer Weise ginge es um »Gottesgeburt in der Seele« (so der Titel): S. 183–212, 186. Vgl. dazu bei Nishitani: Was ist Religion, z. B. S. 74 f., 183 f. Für Nishitani war es im Nietzscheschen Sinne wichtig, Glauben zu konkreter Erfahrung zu bringen, vgl. Vorwort S. 28.

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Achtsamkeit als Therapeutik

Menschen. Politisch Verantwortliche scheinen die Gefahren für die beste, die menschliche »Ressource« ihrer Gesellschaft zu sehen, wenn sie zunehmend gesunde Ernährung für Schüler fördern. Bewusste Ernährung ist natürlich nur eine Schiene der Gesundheit, aber eine, die am eigenen Leib zur Selbstwahrnehmung sowie genaueren Beschäftigung mit Naturgütern und wirtschaftlich-sozialen Zusammenhängen führen kann. Das könnte vor allem das Gefühl mit beteiligen und anregen, möglichst wenig Leid anzutun. 282 Global gesehen ist die Menschheit einerseits weithin noch viel zu elendig dran, andererseits viel zu wuchsfreudig, und Letzteres ist sicherlich, als Entgleisung aus naturgemäßen Balancen, die schwerste Form von Widernatürlichkeit, die heute den Globus bedroht. Der Kampf um die Ressourcen der Erde könnte, an sich gesehen, härter ausfallen als der Klimawandel. Shall we overcome? So let’s believe: Man darf nicht nur hoffen, nein – man muss sich auf achtsamste Weise daran beteiligen, dass es, so oder so, nicht zu schlimm kommt, weder durch leibliche Pein, die dann Einsicht bringt, noch durch Katastrophen, für deren Verhinderung es zu spät ist. 283 282 Hingegen konnte eine öffentliche Motivierung von »Fitness«, die ab den 1970er / 80er Jahren mit Trimm-Dich- und anderen Körperbewegungs-Maßnahmen dann die kommerzielle Fitness-Ära auslöste, recht wenig zur Gesundheit beisteuern, weil sie u. a. von zunehmender Sitztätigkeit am Computer und Lenkrad eingeholt wurde, vgl.: Silja Luft-Steidl: Fitnessbewegung – Diätetik, S. 11, 280 u. ö. – Schulkost: Man hört solches immer öfter, vgl. den Art.: Wie Gemüsepommes in die Schulkantine kommen. Neues Netzwerk …« in: NZ 12. 07. 2019, S. 11. Umgekehrt muss man deutlich fragen, wie gesund kann das Essen gequälter, kaum als Tier gelebter Wesen sein sowie auf Masse getrimmter Pflanzen aus Profit-getriebener Erzeugerfabrik, die maschinelle Prozessierung natürlicher Nahrung bzw. die innere Verdrängung dieser brutal-pervertierten Art »Lebens«mittelerzeugung? 283 Dazu Horkheimer / Adorno gegen Ende der Dialektik der Aufklärung: »Quand Même« (Übersetzungshilfe: Trotzdem, d. Verf.). Der Schluß, dass Schrecken und Zivilisation untrennbar sind, den die Konservativen gezogen haben, ist wohl begründet. Was könnte die Menschen dazu bringen, sich so zu entfalten, daß sie komplizierte Reize positiv zu bewältigen vermögen, wenn nicht die eigene mit Anstrengung durchgesetzte Entwicklung, die am äußersten Widerstand sich entzünden muß? Zunächst ist der antreibende Widerstand im Vater inkarniert, später wachsen ihm tausend Köpfe: der Lehrer, der Vorgesetzte, Kunde, Konkurrent, die Vertreter staatlicher und sozialer Mächte. Ihre Brutalität stimuliert die individuelle Spontaneität. Daß in der Zukunft die Strenge dosiert werden könnte, daß man die blutigen Strafen, durch welche die Menschheit im Laufe der Jahrtausende gezähmt worden ist, durch Errichtung von Sanatorien abzulösen vermöchte, scheint ein Traum zu sein … Im Zeichen des Henkers vollzog sich die Entwicklung der Kultur … Im Zeichen des Henkers stehen Arbeit

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7 Rückblick und Fazit

Um zunächst zurückzublicken: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Kritischen Theorie, im Hintergrund globale Problemfelder und speziell die Digitalisierungswelle, wirkten eine Neu-Bemühung der Frankfurter wie auch das Denken Walter Benjamins vielversprechend. Benjamins Zugehörigkeit zur Kritischen Theorie, historisch und vor allem ideologisch, galt es aber erst einmal nachzuweisen. Insbesondere schien die Philosophie Theodor W. Adornos im Kontext der Frankfurter Schule von Benjamin geprägt worden zu sein. Es galt daher, Adornos Texte auf eine Ähnlichkeit zu den Benjaminschen zu überprüfen sowie dabei auch auf wichtige Kriterien einer Kritischen Theorie Frankfurter Schule. In dem betont knappen Rahmen dieser »Binnen«-Untersuchung stellten sich als Kriterien der Ruf der Aufklärung zur Mündigkeit des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen dar, die ein gutes, selbstbestimmtes Leben im Aristotelischen Sinne verhindern. Sie halten nämlich im Marxschen Sinne aufgrund der bestehenden Herrschaftsformen ideologiehaft gerade ihre kritikwürdigen Seiten vor den Massen verschleiert. Eine Kritische Theorie darf sich daher keinesfalls normativ geben ähnlich wie sie Metaphysisches aussparen sollte. Benjamins Denken allerdings ist metaphysisch gefärbt. Aus dem jeweils umfangreichen Werk Benjamins und Adornos wurde in der Datensammlung der Schwerpunkt auf die Problemfelder »Denken« und »Ästhetik« gelegt. Dem Vortrag von jeweils vier Textstellen, die zur Themenstellung geeignet wirkten und sich auf die und Genuß. Dem widersprechen heißt, aller Wissenschaft, aller Logik ins Gesicht schlagen. Man kann nicht den Schrecken abschaffen und die Zivilisation übrigbehalten … Verschiedenste Konsequenzen können daraus gezogen werden … Es gibt noch eine weitere: der Logik spotten, wenn sie gegen die Menschheit ist.« S. 227. Im Sinne des gesamten Werks und des dialektisch-destruktiven Leerlaufs der Geschichte muss dabei betont werden, dass man nicht nur Licht setzen darf, sondern es muss auch brennen; dass man vor allem Sanatorien bauen muss, die ursachenbezogen heilen.

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Rückblick und Fazit

Zeitachsen beider Gesamtwerke erstreckten, folgte die Untersuchung im engeren Sinne einer Diskussion. Dabei konnten ähnliche Gedanken, Themen, Topoi und Begriffe bekräftigt werden. Das Ganze wurde erkenntnis- und ideologiekritisch betrachtet, »Ideologie« in ihrem die Gesellschaft verschleiernden Charakter zu verstehen. So richten sich die ästhetischen Theo-rien Benjamins und auch Adornos beiderseits an authentischen, nicht technisch verarbeiteten Kunstwerken aus wie auch an unverfälschten, gewachsenen Orten der Geschichte und des persönlichen Lebens. Der Mensch bilde sich hieran wahrnehmend im Wechselverhältnis mit der Umgebung, mimetisch, auratische Welten des Vertrautseins, wie beide derart feinsinnig, phänomenologisch vorgehend, dabei zum Teil mit ähnlichen Worten, aufweisen, so dass eine Prägung des jüngeren Adorno-Werks durch Benjamin offensichtlich erschien. Selbst das von Adorno / Horkheimer verfasste Hauptwerk der Kritischen Theorie, die »Dialektik der Aufklärung«, ist grundlegend von diesen Gedanken bestimmt. Erkenntniskritisch weisen sowohl Benjamin als auch Adorno auf, dass Allgemeinbegriffe normalerweise von Erfahrungen her deduziert werden bzw. dass sich natürliches kritisches Denken aus dem wechselseitigen Pendeln zwischen Erfahrung und Abstraktion ergibt. Adorno übernimmt bis ins Spätwerk Schlüsselbegriffe Benjamins, nämlich den der »Mimesis«, auch als »Ein-gedenken« bezeichnet, der »Aura« bzw. bei Adorno »imago« genannt sowie der Mittelbarund Unmittelbarkeit. Als Gegenargumente gegen das der Prägung Adornos durch Benjamin wurden kollegenhafte Konflikte zwischen beiden erwogen, jedoch für untergeordnet wieder verworfen. Wo die Erfahrung abgezogen wird und Menschen nicht dagegen opponieren, ergibt sich ideologiehaft deren »Entfremdung«. Auch diesen, aus der Marxschen Theorie der Produktionsverhältnisse übernommenen Begriff weisen beide, mit jeweils eigenen Beispielen, schlüssig und zentral nunmehr in den Konsumverhältissen nach. Der Mensch lebt in einer Welt, die ihm kein Zuhause, sondern Ware geworden ist. Letztlich betrifft diese Entfremdung die menschlichen Beziehungen selber, wie besonders Adorno es weiter ausführt. Beiderseits zeigte sich, wiederum übereinstimmend, die Verschmelzung von Erkenntnis- und Ideologiekritik, insofern in den kapitalistischen Angebots-Konsum-Strukturen der Verlust der Wahrnehmung selbst der Ideologie unterliegt, die eigenen Belange an die Bereitsteller dieser Strukturen zu delegieren. Einen möglichen Einwand des Subjektiven der Beispiele widerlegte eine insgesamt offenkundige Gesamtsymp131 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Rückblick und Fazit

tomatik. Allein methodisch, im Beispiel- und Impulscharakter des Denkens schon bei Benjamin, leuchtete eine Kritische Theorie auf. Das »Dialektische« der Aufklärung, Horkheimer / Adornos Hauptthema, erschien bereits in seinem Denken thematisch als angelegt. Ein Quellenblick auf das bei Benjamin / Adorno mit Erkenntnis- und Ideologiekritik verknüpfte Geschichtsbild ergab, dass vermutete Abweichungen nur in perspektivischer, nuancierter Art gegeben sind. Adornos »gutes Leben« als gedachte »Utopie« offenbarte einen der Kritischen Theorie eigentlich nicht gemäßen metaphysischen Zug. Die Färbung durch Benjamin lag einerseits auf der Hand so wie andererseits damit kein Grund mehr für dessen Disqualifizierung vorlag. Zuletzt in diesem Binnen-Rahmen wurde, zugunsten eines heutigen Gewinns aus dem Benjaminschen Denken, am Beispiel seiner Kindheitserfahrung mit dem »bucklicht Männlein« vorgeschlagen, metaphysische Gestalten seines Werks symbolisch zu deuten. An dem Männlein als Bild einer gesteigerten Wahrnehmung, d. h. Achtsamkeit, konnten bestimmte Kriterien einer Kritischen Theorie bevorzugt eingeholt werden, nämlich deren Normativitäts-Freiheit und auch, wie mehr die Daten als die Sekundärtexte es aufwiesen, deren solidarisches Gepräge. Das passivische, fast mystische Weltverhältnis der Achtsamkeit wäre zur Transzendenz ähnlich wie auch zur Interkulturalität hin offen, dies aber gerade in undogmatischer Weise. Die Benjamin- / Adornosche Verschmelzung von Erkenntnis- und Ideologiekritik wäre der Achtsamkeit in besonderer Weise immanent, d. h. könnte heute ideologiekritisch auf globale Missstände bezogen werden, die sich normalerweise hinter systembedingter Gleichgültigkeit verbergen. Die Binnen-Hypothesen dieser Arbeit, d. h. ob Benjamins Denken zur Kritischen Theorie zu zählen und als solche heute anwendbar sei, erhalten so eine letzte Bekräftigung. Wesentliche Kriterien der Kritischen Theorie, in nicht normativer Weise Anstöße zur Emanzipation gegen ideologisch verschleiernde Verhältnisse zu geben, finden sich bei Benjamin grundlegend vom phänomenologischen Weltzugang her und wirkten offensichtlich stark prägend auf Adornos Denken. Dessen Analogien in Anschauungen, Erkenntnissen, Themen, Topoi, Formulierungen und nicht zuletzt Schlüsselbegriffen machen das überdeutlich. Schließlich, wenn man Benjamins metaphysische Züge symboldeutend allgemein verständlich machen kann und als Grundbotschaft seines Werks die Haltung der Achtsamkeit herausliest, eignet sich dieses Denken als probate aktuelle Kritische 132 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Rückblick und Fazit

Theorie in sogar interkultureller Hinsicht. Dem symboldeutenden Zugang zu Benjamins Werk sollten sich allerdings weitere Forschungen widmen, insofern ein solcher Zugang im Rahmen dieser Arbeit dezidiert nur an der einen Gestalt des bucklicht Männlein vorgenommen wurde. Ungeachtet dessen wird hier eine Eignung des Benjaminschen Denkens als zeitgemäße Kritische Theorie bejaht. Schließlich wurde die Begriffs-Pointierung als »kritische Ästhetik« Benjamins als sein besonderer Beitrag zur Kritischen Theorie befürwortet. Wenn sich inzwischen die aktuellen digitalen Umwälzungen kulturell und endlich auch wissenschaftlich-themenbestimmend zeigen, erscheint eine Anknüpfung an das Benjaminsche Denken so naheliegend wie geboten (Hauptuntersuchung). Unter der Vorstellung von »Entfremdung« wurde zunächst ein tieferer Blick in die Benjaminsche Ästhetik dahingehend geworfen, was ihn an den eisernen Baukonstruktionen des 19. Jahrhunderts so beeindruckte, dass er sie im Passagenwerk immer wieder thematisierte. Das ergab, dass es sich um innere Berührung von »Nachvollziehbarkeit« handelte, spiegelten sich doch hier wahrnehmbar ewige Gesetze der Statik, also Kulturtradition wie Naturbezug, auch wenn ihre Erzeugung durch moderne Schwerindustrie sozio-geostrukturell drastisch mit Vertrautem brach. Unter Rekurs auf Lebensphänomenologie bzw. Leibesphilosophie wurde Benjamins Berührt-Werden oder umgekehrt das Auratische an bestimmten Gegenständen mit dem Begriff »Seele« verbunden. Dieser Begriff ist so zu sehen, wie er vor-wissenschaftlich und auch interkulturell Vorstellungen bestimmt, nämlich als Sensorium alias »Atem des Lebens« bei der sich selbst und die Umwelt wahrnehmenden Person. Bei Benjamin geht die Vorstellung von »Dialektik im Stillstand« und seine metaphysische Hoffnung mit entsprechendem Erfahren einher. Gerade im Zusammenhang mit der Kritischen Theorie ergaben sich die Arbeiten Rolf Kühns mit Hinwendung zum radikalen Subjektivismus der Lebensaffektation gegen ökonomische System-Imperative als erhellend. Vom vor-bewussten Fühlen bis zum bewussten Denken und Urteilen zeige sich leibliche Subjektivität in der Passibilität des Gegebenseins und stünde diametral dem cartesianischen »Macher«-Bild entgegen. Es ging um seelisch-geistige Ur-Strukturen, die grundlegend und dringend zu pflegen wären im Blick auf die verzweifelte Situation der Ökologie mit all ihren Folgen, während die Oberfläche instrumentellen Absolutheitsdenkens hier im Grunde nichts mehr retten könne. Diese dominante Vernunft bringt eine 133 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Rückblick und Fazit

Trennnung von Originärwahrnehmungen mit sich, die einer Entfremdung von lebendigen Formen gleichkommt und insofern gegen die Seele der Welt steht sowie auch mit Sinnleere oder Begeisterungslosigkeit einhergeht, beispielhaft an routiniert gebrauchten Alltagsgeräten zu sehen. Der eigentliche Abschnitt zur Digitalisierung wurde eingeleitet mit ihrer historischen Skizzierung, wobei Kritiklosigkeit der MassenÖffentlichkeit versus umgreifende Nutzung vor allem sozialer Digitalmedien mit Aufkommen des iPhone 2007 einen Meilenstein setzte. Gesamtstrukturell schritt die Entwicklung auch der »KI« fort mit komplexen Umwälzungen der Arbeit und des Sozialen, die seit etwa 2018 als Digitale Disruption bezeichnet werden und für die individuelle wie soziale Zukunft große Fragen wie Ängste aufwerfen. Plötzlich weithin, bis hin zur Tagespresse virulent werdende Äußerungen, Kritiken, Ängste und Hilfestellungen wurden hier anhand einschlägiger Literatur (wie Frank Schirrmacher, Werner Thiede) abgeschritten, wobei die Probleme unter der akuten Lage bekannt sind, aber durch Autoren ernsthafte Deutungen wie Freiheitsverlust (»Big Data«), Privatsphäre-Verlust, »Suchtverhalten« oder »Wahn« erhalten. Eine Beurteilung dieser marktökonomisch angetriebenen Phänomene kann sodann nur phänomenologisch am Individuum gelingen. Zunächst unter Rekurs auf Hartmut Rosa wurde eine Tyrannei der Handhabungen nachvollzogen, wie sie Individuen in Form technisch-instrumenteller sowie auch Zeit raubender Überforderung erleben. Bei Rosa sind solche vom Menschen erlebten Belastungen unter das Paradigma (moderne) »Beschleunigung« gefasst, die in ihrer Totalität Menschen vom eigentlichen Sein abhalte und insofern entfremde. In dieser Arbeit wurde, zugespitzt mit einem Exkurs, »Verkünstlichung« als Leitfaden des gesamten Kulturfortschritts angesehen, der Beschleunigung aufgrund Eigendynamik des Fortschritts immanent ist. Die Abkehr von natürlichen Stoffen (Ernährung) und Gegenständen gehört dazu wie vor allem, zeitlich, die Sprengung des Rhythmischen der Natur. Künstliches (Technik) galt einst der Naturbeherrschung und wendet sich mit Masse-Mitteln der industrialisierten Moderne gegen alle Lebensgrundlagen, darunter auch Leib und Seele. Menschen verlieren die Bezüge zur äußeren Natur, zu sich selbst, zur realen Welt, wie es bei den digitalen Umgängen offensichtlich ist. Hierzu wurden Äußerungen Betroffener wie Kinder, Spielsucht134 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Rückblick und Fazit

Opfer oder Zweitbetroffener wie Lehrer eingeholt. Zum »Leib« im Engeren der Gesundheit zeigten sich Klagen über beschädigte Augen, Motorik, Schlafmangel usw. Seelisch ging es vor allem um den Zwang, online auf dem Laufenden zu sein. Manipulation durch Inhaltstendenz des Internets wurde angesprochen ebenso wie Selbstinszenierung, Perfektions- und Leistungszwang nach Mainstream. Bei alledem gleicht die postmoderne Existenz einem Schleudersitz, denn sie macht sich in der Überflussgesellschaft kaum nur an Funktionellem fest, sondern an jeder Menge cultural assets mit wirtschaftlich evozierter Extrem-Fluktuation (Andreas Reckwitz). Innere Verortungen verlieren sich, Direktbezüge zur Welt (analoges Erleben) wird rar, die Welt wird dem Menschen unbekannt, zunehmend beraubt an Seele und Leib. In einem weiteren Abschnitt ging es im Rückgriff auf die »Achtsamkeit« um Abwendung digitaler Totalität. Notwendig braucht es eine innere Haltung, um, im Einklang mit Rolf Kühn, die instrumentelle Vernunft zu hintergehen, zumal sich engagierte Ratschläge vor allem des Maßhaltens ungünstig moralisch bewegen. An dieser Stelle wurde dann, nach den vorgenannten Engagements, der Geschichtsforscher Yuval Noah Harari im Blick auf die u. a. digitale Zukunft der Menschheit zitiert. Zwischen rationalistischer Hoffnung und Benjaminscher Erschütterung über die Destruktivgewalt der Geschichte ringt er, religiöse »Erzählungen« ablehnend, mit gängigen Mitteln und mündet dann in der reinen Einsichtsmeditation, die das individuelle Selbst zur befestigten und friedlichen Existenz führe. Meditation als Selbstüberschreitung im Sinne dieser Arbeit ist durchaus Religion, aber undogmatische. Mit Eugen Drewermann, ebenfalls systemkritisch, wurde verglichen, der die Erzählung von Jesus existenziell deutet zur Heilung des Einzelnen wie sozialen, besonders auch unter der hermeneutischen Frage. Religiöse Symbolsprache gibt offensichtlich noch heute vielen Halt. Auf »Achtsamkeit« als Meditationshaltung wurde wiederum gefolgert, weil sie Freiraum lasse für den Gegenstand (eigener Körper, Natur o. a.) und auch den Übergang in die kognitive Schlussfolgerungs-Einsicht ermögliche. Sie zielt auf wertvolle Wesensbegriffe, die Kant an der Schwelle zwischen reiner Vernunft und Metaphysik als verhandlungsfähig aufwies. Es folgte die Überprüfung neuer Beiträge zu Kritischen Theorie, beginnend mit Rosas Weltbeschreibung als »Resonanz«. In inhaltlicher Entsprechung wurde hier als Wesens-Ansicht des erfahrbaren Lebens der etabliertere Begriff »Anteilhabe« vorgeführt, der beson135 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Rückblick und Fazit

ders die pathische Struktur wie durchaus auch die empirischen Beschreibungen biologischen Lebens spiegele, zugespitzt in Leidhaftigkeit. Die als leidvoll erfahrene Natur sowie das Bewusstsein um individuelle Bedürftigkeit sind für den Menschen die zwei Bindeglieder zum Religiösen, die sich, anders ausgedrückt, in der Endlichkeit der Lebensformen zeigen, was der moderne Mensch prinzipiell (Fortschritt und Wachstum) ignoriert. So gehören auch existenziell diese beiden Verlustanzeigen zusammen. Hermeneutisch ist Rosas Rat des »Hörens« auf die Welt als wesentlich anzusehen. Jürgen Habermas mit seiner seit etwa 2000 gründlichen Besetzung des Religiösen hat gerade zwei opulente Geschichtsbände zu »Vernunft und Glauben« vorgelegt, thematisch eingeleitet einst durch Begegnung mit Ratzinger 2004, im Hintergrund das Desaster 11–09. »Religion« als Thema und Anfrage drängte sich seither auf. Nun äußert er nach Durchgang durch die Stationen von VernunftGlaubens-Liäsonen gegenwärtig-zukünftig inhaltliche Fehlanzeige, ein Verharren des verfassten Christentums in veralteten Formen. Erhellend – im Kontrast – bei Eugen Drewermann, wie das Verständnis des christlichen Kerygma schon mit spätantiken Kulturfusionen dogmatisch erschwert wurde. Der Rekurs aber auf das Gefühl (dezidiert bei Drewermann tiefenpsychologisch) als Ort religiöser Betroffenheit entspricht in dieser Arbeit der phänomenologischen Folie, der Suche nach einer Meta-Vernunft und dem intelligiblen Zwischenbereich der Meditation oder im weitesten Sinne Mystik. Karl Rahners WunschVision von der mystischen Zukunft ist hier inbegriffen. Abschließend zu diesem Kapitel wurde ein aktueller Aufsatz des Kritischen Theoretikers Raymund Geuss angesprochen, der gerade diesen Bereich ablehnt und Denker der Schwellenzeiten wie z. B. Platon aus dem kritischen Kanon streicht. Das wird hier für schade gehalten wie insbesondere auch die verharrende Theorie-Stellung eines Habermas. Reformansätzen, die es gibt, sollte sich Kritische Theorie dialogisch öffnen, auch bereits an ihrer Theorie-Stellung modellieren. »Achtsamkeit« nicht normativ gemeint, mit praktischen Ideen, auf die Philosophie zumindest verweisen könnte, wurde am Schluss der Arbeit besprochen. »Getriebe« und Zweckratio laufen nur noch leer. Die meditative Rückkehr zu Ur-Gefühlen des absoluten »Mich« (Kühn), die in Gegenverfassung zur Welt sich humanerweise glaubhaft machende absolute Güte Gottes zum Individuum (Drewermann) – in jeder Hinsicht eine absolute Selbstvergewisserung oder Wesensidentität mit dem Leben, verwandelt das Individuum habituell. Nicht 136 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Rückblick und Fazit

Verletzen statt Tun (so bereits Harari), vorindustrielle Lebens- und Wirtschaftsmuster, die Verbreitung meditativer Übungen, neuer (altvertrauter) Ästhetik – solches könnte noch helfen. Hinweisende Vorschläge zum Einüben der Meditation und Installieren solcher Stellen wurden gemacht – primär im Schul-Curriculum, ferner an »Orten« mit »Aura«, im Erholungs- und Gesundheitsbereich – unkommerziell gewiss, zum Einüben in die Verbundenheit mit der Welt, zu ihrer achtsamen Behandlung und zum Selbst-Immunwerden besonders auch gegen die Aggressivität des Digitalen. Phlegmatischer Wohlstand, drastische Bevölkerungsexplosionen, Ängste und HandlungsÜberstürzungen – wohl nur die veränderte Einstellung aufgrund intensiv gepflegten Gefühls-Erlebens wie geänderter, echter Wahrnehmungen und mithin wachsendes Solidargefühl allem Leben gegenüber können noch retten.

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Literaturverzeichnis

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Personenregister

Adorno, T. W. 12, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 25, 26, 27, 28, 29, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 42, 46, 58, 73, 83, 85, 96, 97, 122, 123, 130, 131, 132 Aristoteles 99, 109

Huntington, S. 9 Husserl, E. 53, 58, 69, 94, 98

Bloch, E. 14 Brecht, B. 14, 18 Buber, M. 95

Kant, I. 21, 92, 93, 96, 97, 102, 103, 108, 109, 110, 135 Keller, G. 95 Kierkegaard, S. 114, 120 Kissler, A. 13 Klee, P. 17, 38 Koslowski, P. 51 Kühn, R. 51, 52, 53, 57, 58, 112, 114, 117, 125, 133, 136

Darwin. C. R. 99 De Vries, J. 121 Drewermann, E. 8, 90, 103, 104, 106, 107, 113, 117, 118, 135, 136 Descartes, R. 110

Jay, M. 17 Jesus (von Nazareth) 90, 92, 116, 135 Jung, C. G. 49

Lacan, J. 51 Luhman, N. 11

Foucault, M. 110 Frege, G. 110 Geuss, R. 104 Habermas, J. 16, 97, 101, 102, 103, 106, 107, 108, 110, 136 Harari, Y. N. 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 111, 135, 137 Hegel, G. W. F. 17, 19, 26, 56, 110 Heidegger, M. 64, 121 Hesse, H. 117, 118, 120, 121 Hessell, S. 10 Holsboer, V. 75, 76 Honneth, A. 11 Horkheimer, M. 14, 15, 16, 17, 19, 24, 27, 28, 29, 32, 36, 37, 38, 79, 85, 109, 131, 133

Maine de Biran, F.-P.-G. 51 Marcuse, H. 16, 39 Marx, K. 19, 21, 24, 37, 42, 43, 48, 87, 110, 130, 131 Melanchthon, P. 102 Merleau-Ponty, M. 94, 96 Nietzsche, Friedrich 19, 41, 68, 69 Nancy, J.-L. 114 Nussbaum, M. C. 11 Papst Johannes Paul II. 101 Platon 28, 92, 98, 109, 110, 136 Plessner, H. 51 Plotin 98 Postman, N. 71

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Personenregister Rahner, K. 107 Ratzinger, J. 101, 136 Reckwitz, A. 82, 88 Riepl, R. A. 118 Rosa, H. 11, 12, 36, 44, 63, 70, 76, 77, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 115, 121, 122, 134, 135, 136 Rousseau, J.-J. 127 Seubert, H. 17, 104, 107 Schirrmacher, F. 61, 62, 69, 70, 134 Scholem, G. 14, 28 Scholl-Latour, P. 10 Schulze, G. 125 Sölle, D. 107 Spinoza, B. de 98 Spitzer, M. 10 Stein, E. 45, 96

Storl, W.-D. 66, 67 The Club of Rome 10 Thiede, W. 61, 79, 134 Thunberg, G. 114 Thyen, A. 20 Waldenfels, B. 96 Walter-Busch, E. 11 Weil, F. 14 Weil, S. 45, 100 Welzer, H. 11, 44 Whitehead, A. N. 92 Wittgenstein, L. 110 Ziegler, J. 10 Zuckerberg, M. 62

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Sachregister

Achsenzeit 103, 109 Achtsamkeit 41, 42, 43, 44, 45, 85, 91, 92, 98, 100, 109, 110, 115, 117, 124, 132, 135, 136 Affektation 51, 133 Ahimsa 90, 91 aisthesis 24 Algorithmus 60, 84 Angelus Novus 17, 38 Angst 44, 46, 60, 72, 75, 81, 83, 84, 88, 91, 100, 105, 113, 120, 134, 137 Anteilhabe 92, 98, 99, 108, 116, 135 Antisemitismus 15, 16 Apperzeption 25, 32, 33, 51, 57 Architektur 26, 35 Aristoteles, Aristotelisch 11, 19, 43, 58, 92, 99, 109, 130 Ästhetik 12, 22, 38, 44, 45, 46, 48, 69, 81, 87, 113, 123, 124, 130, 133, 137 Aufklärung, aufgeklärt 9, 12 Aufmerksamkeit 33, 45, 68, 71, 86, 87, 91, 92 Aura 24, 33, 47, 58, 69, 81, 83, 131, 133, 137 Bedürftigkeit 56, 58, 59, 88, 99, 100, 101, 119, 136 Beschleunigung 36, 44, 63, 64, 76, 134 Big Data 111, 134 bucklicht Männlein 25, 26, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 48, 132, 133 Buddhismus, Buddhist 87, 91, 99, 100, 116, 125

Capability 11 Chok 24, 29, 35 Christentum, christlich 43, 78, 89, 92, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 122, 124, 136 cultural assets 105, 135 Denkmal, Baudenkmal 44, 47, 123, 124 Dialektik der Aufklärung 15, 20, 27, 30, 38, 85, 89, 132 Dialektik im Stillstand 50, 133 Dialektik, dialektisch 17, 19, 20, 26, 27, 28, 29, 31, 32, 33, 39, 41, 51, 54, 56, 58, 62, 101, 131 dialektischer Materialismus 17 Diskurs-Philosophie 102 Dogmatik 90, 103, 106 Eingedenken 20, 32, 38, 41, 44 Emanzipation 17, 19, 33, 132 empirisch 53, 54, 60, 62, 72, 85, 97, 136 empirische Vernunft 53 Erkenntniskritik, erkenntniskritisch 21, 22, 23, 28, 32, 37, 38, 43, 56, 131, 132 Erkenntnistheorie, erkenntnistheoretisch 20, 21, 22, 23, 52 Ethik 48, 53, 124 Ethos 58, 103, 116, 117 existenziell 17, 49, 64, 100, 105, 106, 108, 113, 122, 135, 136 Faschismus 15, 25, 27, 38 Fides et Ratio 101

149 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Sachregister Fortschritt 38, 40,46, 47, 48, 53, 54, 62, 63, 64, 73, 75, 76, 85, 100, 101, 112, 134, 136 Frankfurter, Frankfurter Schule 10, 21, 34, 36, 38, 39, 130 Freiheit 10, 11, 12, 17, 25, 52, 62, 73, 75, 76, 79, 81, 86, 103, 105, 114, 134 Fremdbestimmung 63, 69, 70 Geschichtsgedenken 126 Geschichtsphilosophie 15, 26, 127 Gestell (nach Heidegger) 121 Glaube, Glauben 43, 45, 136, 89, 90, 101, 102, 104, 136 Globalisierung 9, 40, 112 Gott 17, 113, 126, 136 das gute Leben 19, 36 hegelianisch 19, 26 Heilung 105, 125, 128, 135 Hermeneutik 61, 96 Hirnforschung 54 Historie, historisch 18 Historismus 77, 85, 90 Idealismus 46 Ideologiekritik, ideologiekritisch 21, 22, 30, 31, 35, 37, 38, 43, 56, 131, 132 IfS, Institut für Sozialforschung 14, 15, 34 Imago 25, 29, 33, 131 instrumentelle Vernunft 36, 55, 107 intelligibel 136, 96 interkulturell 12, 16, 43, 105, 133 jüdisch 12, 18, 103, 104 Kabbalah 34 Kapitalismus, kapitalistisch 10, 13, 14, 16, 27, 38, 40, 52, 54, 56, 82, 95, 116, 120, 131 Kastenwesen 90, 93 Katastrophe 48, 91, 101, 102, 112, 129 Klimaschutz 111

Klimawandel 112, 129 Konsum 37, 53, 54, 55, 56, 69, 76, 78, 82, 94, 111, 114, 131 Kontingenz 41, 42 Kontinuum, Kontinuum der Geschichte 50, 85 kritisch, Kritische Theorie 12, 37, 39, 40, 43, 44, 45, 46, 50, 62, 77, 86, 93, 94, 96, 97, 101, 108, 109, 110, 125, 130, 131, 132, 133, 135, 136 Kulturindustrie 24, 27, 29 Kulturtheorie 32, 40 Künstler 117, 120 Künstliche Intelligenz, KI 60, 64, 88, 108 Kunstwerk, Kunstwerksaufsatz 41, 47, 91, 122, 131 Leben (begrifflich) 98, 99 Lebenswelt 58, 81, 94 98 Leib, leibhaft, leiblich 80, 81, 83, 84, 86, 90, 91, 92, 94, 96, 97, 99, 113, 122, 128, 129 Leibesphilosophie 50, 56 Leiblichkeit 32, 39 Liberalismus, liberal, liberalistisch 53, 56, 86, 87, 90, 95, 105, 112 Logos 28, 109 Marketing 121, 125 Markt 55, 61, 125, 127, 134, Marxismus, marxistisch 11, 14, 16, 102, 18, 19, 20, 22, 43 Massenkultur 29, 46 Maßhalten 110, 135 Medienkritik 22 medientheoretisch 24 Meditation 78, 89, 90, 91, 98, 115, 124, 125, 127, 135 Messias 19, 20, 38, 39, 104, 122 Metaphysik, metaphysisch 16, 18, 96, 135 metaphysikfrei 12, 39 Mimesis 24, 33, 41, 44, 122, 131 Minima Moralia 25, 27, 29, 35, 37 Moderne, modern 9, 10, 12, 16, 29, 32, 36, 41, 42, 44, 48, 52, 54, 55, 56,

150 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Sachregister 63, 64, 67, 77, 86, 87, 89, 90,92, 94, 95, 101, 134, 136 Modernisierung 16 Mündigkeit, mündig 19, 93, 130 Mystik, mystisch 7, 45, 51, 87, 107, 124, 125, 128, 132, 136 Mythos, mythisch, mythologisch 27, 28, 67, 88, 89, 104, 105, 109, 113

Religionsphilosophie 17 religiös Unmusikalischer 101 Religiosität 13, 17, 97

Nationalsozialisten 15 Naturverlust 19 Negation 96 Negative Dialektik 27, 30, 35, 37, 96 nephesh 59 Normativität, normativ 19, 108, 109, 110, 130

Seele 46, 49, 50, 51, 54, 56, 57, 58, 60, 67, 68, 84, 88, 91, 96, 126, 133, 134, 135 Selbstbezug 69 Selbstfindung 83 Selbstüberschreitung 107, 110, 135 Shabby, shabby 47, 49, 69, 81 Sozialphilosophie 16 Spiegel (Zeitschrift) 17, 79 Spielsucht 73, 85, 135 Spiritualität, spirituell 58, 124, Sprachphilosophie, sprachphilosophisch 15, 23, 107 Stress 11, 70, 75, 76, 83, 84, 94, 111 Surrealismus 26 Symbol 27, 35, 41, 42, 44, 50, 84, 95, 97, 104, 132, 133, 135

Ökologie, ökologisch 10, 35, 133, 51, 52, 62, 65, 76, 112, 133 originär 12, 15, 19, 21, 24, 29, 40, 51, 54, 57, 58, 59, 66, 67, 91, 95, 97, 99, 106, 134 Paradies 38, 85 Passagen, Passagenwerk 15, 23, 26, 30, 46, 48, 49, 50, 133 Passibilität, passibel 52, 53, 114, 133 Phänomenologie, phänomenologisch 12, 20, 26, 36, 48, 50, 51, 52, 53, 62, 70, 71, 72, 84, 94, 96, 97, 104, 113, 132, 133, 134, 136 Platon, Platonisch 20, 28, 89, 92, 98, 102, 109, 110, 136 positivistisch 18, 35, 109 postindustriell 82, 83 Postmoderne, postmodern 90, 135 Psychologie, psychologisch 104, 105, 112, 113, 122, 136 radikal 59 Reizüberflutung 35, 52 Relativismus 111 Religion 17, 28, 52, 56, 57, 59, 63, 67, 90, 97, 100, 101, 102, 103, 105, 106, 107, 108, 113, 116, 120, 122, 135, 136

Resonanz 94, 95, 96, 98, 135 Resonanzpädagogik 97 säkular 85, 87, 88, 89, 101, 103, 108 Sapere aude 33,102

Talmud 34 Technikfolgen 60 Theologie 17, 71, 106 theoria 92, 109 Totalitarismus, totalitär 15, 19, 63, 85 Totalität 38, 121, 134, 135 Transformationsdesign 11, 44 transzendental 57, 112, 114, 119 Transzendenz, transzendent 17, 96, 103, 132 Traum 26, 41 Trümmer(haufen) der Geschichte 19, 85 Überbau 21, 24 Umwelt 28, 30, 49, 50, 51, 76, 77, 107, 123 Unmittelbarkeit 23, 31, 131 Unterbau 21 Utopie 39, 132

151 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .

Sachregister Verkünstlichung 36, 63, 120 Vermarktung 37, 42 Vernunft 9, 10, 19, 20, 27, 30, 31, 43, 53, 55, 60, 89, 97, 101, 102, 103, 107, 108, 133, 135, 136 Versöhnung 20 Vintage, vintage 47, 81 Vipassana 87, 91 Virtualität 77

Wahrnehmung 24, 25, 32, 33, 35, 46, 50, 51, 77, 91, 92, 95, 109, 115, 127, 129, 131, 134 warenhaft 32, 37 Weltverlust 37 Werkzeuggebrauch 64 Wettbewerb 10,79 Zeitdruck 63 Zweiklassengesellschaft 114

152 https://doi.org/10.5771/9783495823972 .